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German Pages 289 Year 2010
Fontane als Biograph
Schriften der Theodor Fontane Gesellschaft Herausgegeben von der
Theodor Fontane Gesellschaft e.V. Wissenschaftlicher Beirat
Hugo Aust Helen Chambers
Band 7
De Gruyter
Fontane als Biograph Herausgegeben von
Roland Berbig
De Gruyter
Redaktionelle Mitarbeit: Vanessa Brandes
ISBN 978-3-11-022478-8 ISSN 1861-4396 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data Fontane als Biograph / edited by Roland Berbig. p. cm. ⫺ (Schriften der Theodor Fontane Gesellschaft ; 7) Includes bibliographical references. ISBN 978-3-11-022478-8 (alk. paper) 1. Fontane, Theodor, 1819⫺1898 ⫺ Criticism and interpretation. I. Berbig, Roland, 1954⫺ PT1863.Z7F573 2010 8331.7⫺dc22 2010013659
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2010 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/New York Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ⬁ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Inhalt Siglen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Hugo Aust Fontanes lyrische Biographie – ein Versuch . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Roland Berbig York, Havelock, Scherenberg und Schulze. Beobachtungen zum Biographen Fontane . . . . . . . . . . . . . . . . . .
19
Jrgen Lehmann „Was man nicht alles erleben kann!“. Biographisches und autobiographisches Erzhlen bei Theodor Fontane . . . . . . . . . . .
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Wulf Wlfing „Immer das eigentlich Menschliche“. Zum Anekdotischen bei Theodor Fontane . . . . . . . . . . . . . . . . . .
59
Wolfgang Rasch Schnurren, Lgen und Legenden. Theodor Fontane in der Anekdote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
77
Michael Ewert Lebenswege. Formen biographischen Erzhlens in Fontanes Wanderungen durch die Mark Brandenburg . . . . . . . .
95
Helmuth Nrnberger An Bord der Sphinx oder ,Der Fischer von Kahniswall‘. Verdeckt autobiographisches Erzhlen in Fontanes Wanderungen .
115
Heide Streiter-Buscher Die nichtvollendete Biographie. Theodor Fontanes Karl Blechen-Fragment . . . . . . . . . . . . . . . . . .
133
Walter Hettche Das zurckgehaltene Ich. Biographik und Autobiographik in Fontanes Von vor und nach der Reise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
173
VI
Inhalt
Hubertus Fischer „Mnner der Zeit“. Fontanes biographische Artikel fr Carl B. Lorck . . . . . . . . . . . . .
187
Josefine Kitzbichler „Die Macht des Stils“. Beobachtungen zu Fontanes biographischen Lektren . . . . . . . . .
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Regina Dieterle The making of Fontane. Neue Wege der Biographik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Annett Grçschner ber die Ostbahn. Eine Eisenbahnfahrt mit Theodor Fontane und polnischen Putzfrauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Erdmut Wizisla Keine grndende Dichterbiographie. Walter Benjamin ber Max Brod: Franz Kafka. Eine Biographie (1937) . . . . . . . . .
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Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Siglen AFA (Aufbau Fontane-Ausgabe) Hg. v. Peter Goldammer, Gotthard Erler u. a. Berlin 1969 – 1993. GBA (Große Brandenburger Ausgabe) Hg. v. Gotthard Erler. Berlin 1994 ff. HBV (Hanser Briefeverzeichnis) Die Briefe Theodor Fontanes. Verzeichnis u. Register. Hg. v. Charlotte Jolles u. Walter Mller-Seidel. Mnchen 1987. HFA (Hanser Fontane-Ausgabe) Werke, Schriften und Briefe [zuerst unter dem Titel: Smtliche Werke]. Hg. v. Walter Keitel u. Helmuth Nrnberger. Mnchen 1962 – 1997. NFA (Nymphenburger Fontane-Ausgabe) Smtliche Werke. Hg. v. Edgar Groß, Kurt Schreinert u. a. Mnchen 1959 – 1975. TFA Theodor-Fontane-Archiv, Potsdam
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Einleitung Als Heinrich Heine sich 1831 die Pariser Gemldeausstellung besah und vor Paul Delaroches Gemlde Cromwell stand, verglich er es mit Louis Lopold Roberts Schnitter kennen keine Snde. Sie sind versçhnt ohne Opfer und hielt jene heilige, seelentrçstende Geschichte, „die der Dichter beschreibt und deren Archiv in jedem Menschenherzen zu finden ist“ gegen den „mißtçnenden Lrm der Weltgeschichte“1. Und das Schlachtfeld von Marengo, das die Handschrift des großen Napoleons trug, fhrte in eine Nachdenklichkeit, die ihn nicht mehr verließ: „Ist das Leben des Individuums nicht vielleicht ebensoviel wert wie das des ganzen Geschlechtes? Denn jeder einzelne Mensch ist schon eine Welt, die mit ihm geboren wird und mit ihm stirbt, unter jedem Grabstein liegt eine Weltgeschichte […]“.2 Klingt hier eine kopernikanische Wende im Geschft der Dichtkunst an? Muss sie, folgt man Heine, ihre großen Geschichten nicht auf die kleine des Einzelnen verlegen, der, ganz gleich ob namhaft oder namenlos, Anfang und Ende aller Geschichte in sich trgt? Bchners Lenz und sein Woyzeck klopfen an die Tr der Literaturgeschichte, doch der Schlag verhallt. Nicht die im angebrochenen Zeitalter der Moderne ins Blickfeld gerckte scharfe Schnittstelle zwischen dem Leben des Einzelnen und dem Gang eines Ganzen beanspruchte die Aufmerksamkeit von Historiographie und Literatur sowie Kunst, sondern deren Vermittlungen und Verbindlichkeiten. Und es waren die Formen der Biographik und des biographischen Erzhlens, mit denen sie der drohenden Orientierungslosigkeit begegneten. Bei Theodor Fontane lag das kaum anders. Fr ihn gehçrte das Geschft des Biographen zur Selbstverstndlichkeit seiner schriftstellerischen Arbeit – nicht zeitlebens, aber in wechselnden Phasen und unterschiedlich intendiert wie motiviert. Zeitweilig hatte es Anteil am eigenen beruflichen Selbstverstndnis, und immer war dem Dichter ntzlich und verwertbar, was der Biograph aufbereitete. Sich Lebenslufe von Feldherrn, Dichtern oder mrkischen Adligen aus Quellen aller Art zu erschließen, das gefundene 1 2
Heinrich Heine: Franzçsische Maler. Zit. n. Heinrich Heine. Smtliche Schriften. Hg. von Klaus Briegleb. Dritter Band. 3., durchgesehene u. ergnzte Auflage. Mnchen, Wien 1995. S. 68 u. 69. Heinrich Heine: Reise von Mnchen nach Genua, XXX. Kapitel. Zit. n. Heinrich Heine. Smtliche Schriften (wie Anm. 1) Zweiter Band, S. 378.
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Einleitung
Material zu ordnen und zu biographischen Texten – wiederum: aller Art – zu verarbeiten, war ihm ber Jahrzehnte nachgerade Tagesgeschft. Da ist es merkwrdig genug, dass dieser Teil seines literarischen Werkes bislang eher sporadisch und beilufig, aber noch nie umfassend und detailliert untersucht worden ist. Wer es unternehmen will, sieht sich allerdings einer besonderen Herausforderung gegenber. Er kann sich nicht beschrnken auf den genuin literarischen Teil des Werkes, die Romane und Erzhlungen also und die Lyrik, er muss die gesamte schriftstellerische Arbeit Fontanes unter die Lupe nehmen, also auch die journalistische. Die Spuren, auf die er dabei stçßt, erschweren ihm dann noch um ein Weiteres das analytische und auf Schlussfolgerungen zielende Bemhen. Die Heterogenitt der Textsorten, die Elemente biographischen Arbeitens, manchmal auch nur Partikel davon, beinhalten, droht den Suchenden zu berfordern. Ganz zu schweigen von dem, der auf grundlegende Schlsse und Schlussfolgerungen aus ist! Dabei gibt es Hilfestellungen. Hat sich auch die Fontane-Forschung erst in kleineren Schritten dem Biographen Theodor Fontane genhert, steht ihr doch eine umfangreiche Spezialliteratur zur Seite, in die sich die Literaturwissenschaft einfgen kann. Diese Spezialliteratur rekurriert sich aus unterschiedlichen Fachdisziplinen und stellt mithin methodische Zugangsmçglichkeiten bereit, die den Erschließungshorizont erweitern. Sie reicht von der Geschichtswissenschaft ber die Soziologie bis zu den kulturwissenschaftlichen Disziplinen mit ihren sehr verschiedenartigen Erkenntnisinteressen. Der Biograph widmet sich der subjektiven Ausformung eines Lebensverlaufes und, indem er rekonstruierend Daten und Fakten ermittelt, konstruiert er eine kohrente Lebensgeschichte. Diese, die mit dem wahrhaften Geschehen nicht mehr in eins zu setzen ist, stiftet Sinn durch die vorgenommene Stoffauswahl aus der Daten- und Faktenwelt jenes gewesenen Lebens. Die Sinnstiftung, bei der sich der Biograph einer „Flle persuasiver Techniken“ bedient, die den Argumentationsmustern der klassischen Rede entsprechen“, lsst sich deshalb mit Mitteln der Rhetorik beschreiben.3 Dem Umstand, dass historische Fakten zu biographischen Fiktionen zusammengefgt werden, liegen selektive und kombinierende Verfahren zugrunde. Christian von Zimmermann spricht von Fiktionalisierungsstrategien in der Biographik, bei denen der Gegenstand – das lebensgeschichtliche Material also – in ein intendiertes Umfeld eingebettet werde. Im Rahmen der „biographischen inventio“ wrden an das ausge3
Helmut Scheuer: Art. „Biographie“. In: Historisches Wçrterbuch der Rhetorik. Hg. von Gert Ueding. Redaktion: Gregor Kalivoda, Heike Mayer, Franz-Hubert Robling. Band 2: Bie – Eul. Tbingen 1994. Sp. 30 – 43 (hier: 31).
Einleitung 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40
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whlte Material bereits andere Fragen gestellt, die einen Prozess der „Stilisierung der Biographie auf ein Darstellungsmuster und -ziel hin“ in Gang setzen. „Der Biograph findet, was er sucht.“4 Die Faktualisierung richte sich auf die Beglaubigung der anvisierten Fiktionen und verfolge keine (ohnedies unmçgliche) „Rekonstruktion des Unwiederbringlichen“. Erst auf diese Weise erhalten die lebensgeschichtlichen Fakten ihre Bedeutung als Erprobungsformen anthropologischer Annahmen, als Symbole ethischer, sozialer etc. Normen und Identifikationsbedrfnisse oder politischer, nationaler Prozesse, Projektionen und Prognostiken, als Vehikel didaktischer oder propagandistischer Vermittlungsabsichten.5
Das Feld der Biographik-Forschung ist gut bestellt, und mit Blick auf Fontanes biographisch umfangreiche und intensive Arbeit darf man darber erleichtert sein. Dies betrifft nicht nur die theoretisch strukturelle Verortung in sich vernetzenden Wissenschaftsdisziplinen, sondern auch die literaturhistorische Aufbereitung. Fontane stand weder allein noch isoliert mit seiner Affinitt zur Biographik und ihren breitgefcherten Mçglichkeiten, deren Wurzeln bis in die Antike mit ihren Lob- und Preisreden reichten und in Plutarch und Tacitus ihre Urvter sahen. Fr Fontane interessanter und einflussreicher war indes, was seine Zeitgenossen an Biographischem verçffentlichten. Er war Zeuge, wie „die große, umfassende Individualbiographie“ zum Durchbruch kam, in der sich der Gedanke manifestiert hatte, dass – wie es Treitschke formulieren wird – die großen Mnner die Geschichte machten.6 Aber nachhaltiger als der Blick in eine Bildungslandschaft, die sich Fontane zuerst nur sehr fragmentarisch aneignen konnte (und dann wollte), musste auf ihn wirken, was ihm seine regelmßige Zeitungsund Zeitschriftenlektre offerierte. Hier stieß er auf biographische Studien in einer Vielgestalt, die noch heute frappiert und fr die Forschung eine Herausforderung ist. In seinen jungen Jahren galten die biographisch oder als Portrait verfassten „Charakteristiken“, wie Heinrich Laube in einem zeitgençssischen Fazit festgestellt hat, als „Lieblingsform der jungen Literatur“7. Laube selbst hatte bereits 1835 eine zweibndige Sammlung Moderne Charakteristiken verçffentlicht, und im selben Jahr legte auch Karl Gutzkow, 4 5 6 7
Christian von Zimmermann: Biographische Anthropologie. Menschenbilder in lebensgeschichtlicher Darstellung (1830 – 1940). Berlin, New York 2006 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte; 41 (275)). S. 47. Zimmermann: Biographische Anthropologie (wie Anm. 4), S. 46 u. 47. Scheuer: Art. „Biographie“ (wie Anm. 3), Sp. 40. Heinrich Laube: Geschichte der Deutschen Literatur. 4 Bnde in 2 Bchern. Stuttgart 1839/40. Bd. 4, S. 212.
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Einleitung
dessen umfangreicher Beitrag zur jungdeutschen Biographik nicht zu bersehen ist, bei Hoffmann & Campe in Hamburg den Band Charaktere vor, der Mitte der vierziger Jahre unter dem Titel Oeffentliche Charaktere in einer vollstndig umgearbeiteten Ausgabe erneut erschien.8 Mit ihnen distanzierte sich Gutzkow von einem anderen Biographen seiner Zeit, der sie aber auf ganz andere Weise berdauern sollte als er selbst und auf den Fontane verschiedentlich Bezug nahm: Karl August Varnhagen von Ense. Nach der Hegelschen ra, die den Einzelnen den großen geschichtlichen Bewegungen unterordnete, vereinte die drei Genannten in ihrer Biographik die Intention, gerade das Maß individueller und moralischer Leistungskraft zu bestimmen.9 Neben diese sogenannte ,biedermeierliche Biographik‘ (ein missverstndlicher Terminus)10 trat ein biographisches Schreiben, das sich innerhalb der Geschichtswissenschaft konturierte und profilierte. Fontane verfolgte auch diese aus dem Historismus erwachsene Entwicklung und wog wiederholt und bis ins hohe Alterderen Potential. Fiel sein Urteil auch in der Regel reserviert aus, ist ber seine Polemik (beispielsweise dem exzessiven Quellenstudium gegenber) nicht zu verkennen, wie er seine eigenen historischen und biographischen Arbeiten mit den dominierenden Modellen der Fachdisziplin abwog.11 Fr den schriftstellerischen Autodidakten Fontane, dessen Bildungsschiff ohne akademische Segel in See stechen musste, war es – jenseits des Sozialmankos, unter dem er litt – Teil der berlebensstrategie, mit weitgehender Unbekmmertheit zu prfen, was ihm half und was ihn hinderte. So bewegte er sich einigermaßen frei in der Wahl der Gattungen und Formen, die ihm bei seinem biographischen Schreiben zur Verfgung standen. Indem er sich im biographischen Essay ebenso bte wie in literarischen Portraits und sich an patriotischen Sammelbiographien beteiligte, ja selbst seriell Lexikonartikel fr in Mode kommende biographische Nachschlagewerke verfasste, zeigte er in dieser 8 Zuerst waren diese Arbeiten in der Allgemeinen Zeitung (Augsburg) verçffentlicht worden. Vgl. Zimmermann: Biographische Anthropologie (wie Anm. 4), S. 101 – 192. 9 Vgl. und siehe Zimmermann: Biographische Anthropologie (wie Anm. 4), S. 104 – 105. 10 Zimmermann: Biographische Anthropologie (wie Anm. 4), Kapitel 2.3., S. 54 – 108. Zimmermann teilt die Skepsis diesem Begriff gegenber. 11 Oelkers spricht von Rankes episch-dokumentarischer, von Droysens politischpdagogischer und von Diltheys sthetisierender Biographik. Jrgen Oelkers: Biographik – berlegungen zu einer unschuldigen Gattung. In: Neue Politische Literatur. Berichte ber das internationale Schrifttum. XIX (1974). Wiesbaden 1974. S. 300.
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Disziplin eine auffllige Beweglichkeit.12 Und in bermtigen Augenblicken verstand er das Wanderungen-Projekt sogar als eine von ihm ins Leben gerufene variable Form, in der auch die Biographik ihren neuartigen Platz finden konnte. Vorstellbar blieb ihm beim Umgang mit dem lebensgeschichtlichen Schreiben vieles: die „wahrheitsvolle Lebensschilderung“, in der „jeder einzelne Zug durch Briefstellen oder hnliches kurz belegt“13 wird, ebenso, wie die aufs Anekdotische hin angelegte Form, der er besonders dann im argumentativen Diskurs den Vorzug gab, wenn er sein Unbehagen gegen jenes „vornehme Herunterblicken auf Alles, was nicht in Akten und Staatspapieren“14 stehe, Ausdruck verleihen wollte. berblickt man Fontanes schriftstellerische Arbeit im Historischen wie im Biographischen, wird es wohl auf jenes von ihm selbst gerne benutzte „Sowohl aus auch“ hinauslaufen. Aber diese Einleitung will sich hten, den Beitrgen, die hier versammelt sind, vorzugreifen. Das Spektrum ist weitgesteckt, die Anstze sind vielgestaltig. Ein erster Schritt, sich dieses umfangreichen und komplexen Themas anzunehmen, ist getan – und allen Beitrgerinnen und Beitrgern fr ihre Beteiligung sehr zu danken. Die Gelegenheit, ihre Themen erst einmal im çffentlichen Vortrag zur Diskussion zu stellen, geht zurck in das Jahr 2007. Der Anlass war festlich. Es galt die Vollendung des 75. Lebensjahres von Peter Wruck an dem Ort zu feiern, der ber Jahrzehnte seine Wirkungssttte gewesen war: die Humboldt-Universitt zu Berlin. Wruck hatte, im Rahmen der von ihm ins Leben gerufenen „Fontane-Tage“ des Instituts fr deutsche Literatur, schon vor Jahr und Tag das Thema „Fontane als Biograph“ angeregt und durfte sich nun freuen, dass es ihm zu Ehren Gegenstand einer aufmerksam wahrgenommenen wissenschaftlichen Ta12 Vgl. zu diesem Begriff Scheuer: Art. „Biographie“ (wie Anm. 3), Sp. 34. 13 Theodor Fontane an Wilhelm Hertz, 11. Juni 1894. In: HFA IV/4, S. 367. 14 Theodor Fontane an Hermann Wichmann, 2. Juni 1881. In: HFA IV/3, S. 135. Wie heikel solche ußerungen und ihre Bewertung bleiben, zeigt die Behauptung Fontanes, er glaube nicht, „dass man aus Archiven das Material zur Geschichtsschreibung holen“ msse und die in dem AperÅu gipfelte, dass in „6 altenfritzischen Anekdoten […] mehr vom alten Fritz“stecke, „als in den Staatspapieren seiner Zeit.“ (ebd.). Dass jene Wendung, er „habe von sogenannten ,grndlicheren Studien‘ gar nichts gehabt“ und schiebe sein „leidliches Zuhausesein in Welt, Leben und Geschichte darauf“, dass er sich „nur vom unterhaltlichen Stoff, von Anekdote, Memoiren und Briefchen genhrt habe“, denselben Adressaten (Wichmann) hatte, ist gewiss nicht zufllig. Theodor Fontane an Hermann Wichmann, 7. Juli 1894. In: HFA IV/4, S. 373. Einen Begriff von Fontanes argumentativer Pendelbewegung vermittelt sein Schreiben an Moritz Lazarus vom 12. September 1891 (HFA IV/4, S. 156).
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Einleitung
gung wurde. Zu den Referentinnen und Referenten, deren Texte nun gedruckt vorliegen, gehçrten langjhrige Fachkolleginnen und -kollegen, aber auch nicht wenige, die sich bis auf diesen Tag als seine Schler verstehen. So haben sich zu den enger auf Fontane zugeschnitten Vortrgen auch solche gesellt, die diesen Rahmen berschreiten. Der Plan, die Beitrge in einer Festschrift zu vereinen, stand von Beginn an, und der Verlag Walter de Gruyter – mittlerweile tatschlich zum Fontane-Verlag geworden hatte bereits damals freundliches Entgegenkommen signalisiert. Aus der Festschrift ist eine Gedenkschrift geworden. Peter Wruck starb, wenige Monate spter, am 2. Dezember 2007. Das schçne Bild, wie er sich am Ende der Tagung vor einem Auditorium verbeugte, das ihm in Verehrung, Respekt und Herzlichkeit zugetan war, wurde berschattet von dem des letzten Abschieds. Es war der Abschied von einer Person, die durch Kompetenz, Feinsinn und Gutherzigkeit jeden fr sich einnahm. Der Hochschullehrer, an den es hier zu erinnern gilt, schrieb durch seine berufliche Biographie mit an einem bemerkenswerten Kapitel Fontane-Forschung an der Berliner Linden-Universitt, wie Wruck seine Alma Mater gerne nannte. Dieses Kapitel, mit dessen Aufarbeitung begonnen ist, wird die unglckliche und folgenreiche Geschichte seiner Dissertationsschrift Preußentum und Nationalschicksal bei Theodor Fontane, deren Druck unter anderem durch ein fragwrdiges und folgenreiches Verlagsgutachten (verfasst von Gotthard Erler) verhindert wurde, ebenso zu bedenken haben, wie Wrucks glckliche und erfolgreiche Rckkehr in die Fontane-Forschung Anfang der achtziger Jahre und nach 1989/90.15 Da es Peter Wruck lieb gewesen wre, steht am Ende dieser Einleitung nicht sein, sondern – er htte gesagt: „wie es sich gehçrt“ natrlich Fontanes Name. Die versammelten Beitrge nhern sich dem Biographen auf sehr verschiedenartigen Pfaden, sie sind sich aber wohl darin einig, dass Fontane, angekommen im schriftstellerischen Zenit, nicht mehr recht willens war, sich lebensgeschichtliche Wunschbilder durch welche Instanz auch immer in die Feder diktieren zu lassen. Wie selbstbewusst er auftrat, wenn er sein eigener Auftraggeber war, bezeugt die Korrespondenz mit der Familie Scherenberg und kaum ein Brief besser, als der, den Fontane am 19. November 1881 an Hermann Scherenberg schickte: Ihre Zustimmung und zugleich auch die des gesamten Familienbestandes vorausgesetzt, schreib’ ich also den Aufsatz ber Christian Friedrich Scherenberg. Ich rechne dabei ferner noch auf eine mir in jedem Anbetracht zuge15 Es steht in Verbindung mit einer grundlegenden Studie zur Fontane-Forschung und -Edition in der DDR.
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standene Freiheit, Freiheit ebenso sehr im Hinblick auf die Zeit (heut oder in einem halben Jahr) wie im Hinblick auf mein abzugebendes Urteil. Denn so sehr ich nach allen Seiten hin von ihm eingenommen war, so hab ich doch seine Schwchen und Fehler auch jederzeit herausgefhlt. […] Sind Sie mit diesem allem einverstanden, so mçchte ich freundlichst bitten, mir alles zuzustellen, was an Material da ist, auch das Geringste, da gerade das Geringste mitunter das Beste ist. […]16
Berlin, Dezember 2009
Roland Berbig
16 Theodor Fontane an Hermann Scherenberg, 19. November 1881. In: HFA IV/3, S. 165.
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Fontanes lyrische Biographie – ein Versuch Hugo Aust Lyrische Biographie – was kann das heißen jenseits der beliebten Metaphorik, die Filme, Dramen, ja Kçrper erzhlen lsst, und unabhngig von den vertrauten Gattungsverschrnkungen, in denen Erzhlungen als inszenierte Gebilde erscheinen? Kann ,lyrische Biographie‘ selbst im metaphorischen Sinn etwas bedeuten? Wenn Filme und Dinge etwas erzhlen, dann heißt das, dass sie eine Geschichte haben; wenn Biographien narrativ angelegt sind, dann folgen sie einer besonderen Ordnung des Erzhlens, die sich von anderen Darstellungsregeln, z. B. systemanalytischen, unterscheidet. Was aber kçnnen Biographien ,haben‘, wenn sie – ja wie heißt dann berhaupt das analoge Wort – wenn sie lyrisieren bzw. verdichten? Welcher ,Ordnung‘folgen Biographien, wenn sie lyrisch (hier liegt das entsprechende Wort nahe) angelegt sind? Gewiss, lyrische Dramen sind seit langem vertraut, noch hufiger begegnen lyrische Erzhlformen, wenn man sie bei ihrem epischen bzw. ACHTUNGREversepischen Namen nennt. Diese wrden unter ,lyrisch‘ die metrische Form, jene den Gefhlsgehalt meinen. Selbst Gebrauchsformen wie Lobreden auf eine bestimmte Person, deren Leben prgnant umrissen wird, kçnnen seit alters lyrisch ausfallen, wenn sie sich panegyrisch zu einem Enkomion aufschwingen. Und so kçnnte ,lyrische Biographie‘ eine versifizierte, berschwengliche Vergegenwrtigung eines Lebenslaufs vom „Standpunkt der empfindenden [Phantasie]“ anzeigen, einen Bericht voll „Herz“ und „Gemt“, aber ohne biographische „Umstndlichkeit“, kurz, etwas intensiv ,Zusammengegorenes‘.1 Hlt man sich an die blichen Ausknfte ber ,lyrisch‘, so msste die ,Ordnung des Lyrischen‘ etwas definieren, das mçglicherweise dem Ordnungsbegriff zuwiderluft, nmlich jene „schçne Unordnung“2, die an die Stelle deutlicher Trennung schraffierte bergnge, an die Stelle objek1 2
Friedrich Theodor Vischer: sthetik oder Wissenschaft des Schçnen. 2. Aufl. Hg. von Robert Vischer. Repr. Olms 1996, § 884, S. 197 und 199 f. Boileau bezieht den Begriff „beau dsordre“ auf die Ode. In: Nicolas Boileau: L’Art potique. Die Dichtkunst. bersetzt und hg. von Ute u. Heinz Ludwig Arnold. Stuttgart 1967, S. 26.
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Hugo Aust
tiver Verußerung eine subjektive Verinnerung setzt. Was also die gewçhnliche Biographie unterscheidet, Individuum und Welt, Zeit und Raum, Ursache und Wirkung, wrde die lyrische Biographie ineinsfließen lassen; ihre Darstellungsweise, besser ihre Ausdrucksweise (denn im Lyrischen tritt das Darstellen zurck) htte etwas mit jenen Unschrfen zu tun, die einen eigenen sthetischen Wert besitzen und z. B. viele Kunstwerke Gerhard Richters auszeichnen.3 Eine produktiv angewandte Unschrferelation der lyrischen Biographie lge in der Auflçsung der sonst starren Polaritten zwischen historischer (wissenschaftlicher) und literarischer (fiktionaler) Biographie; weitere Verwischungen und Verwackelungen kmen hinzu: zwischen Subjekt und Objekt, Selbst und Anderem, Ich und Umwelt, Aktion und Reaktion, Erkenntnis, Ahnung und Wahn. Ist so etwas denkbar, bzw. kommt so etwas bei Fontane vor? Fr einen ersten Versuch sei der Blick eingegrenzt auf Biographisches in der Lyrik und Biographisches als Leistung der Lyrik. Und selbst hier gelte die Beschrnkung auf die Gedicht-Ausgabe letzter Hand (1898). Die Erweiterung der Perspektive auf das gesamte lyrische Werk und auf lyrische Gestaltungsformen des Biographischen außerhalb der Lyrik bleibe einem zweiten, spteren Schritt vorbehalten. Fr die Erkundung lyrisch biographischer Phnomene wird kein spezifischer Begriff des Biographischen vorausgesetzt, doch bilden Eingangs-Formulierungen aus Biographien (vorzugsweise aus dem 19. Jahrhundert) zuweilen den Horizont oder Maßstab fr Vergleiche, die dem Gesuchten schrfere Kontur geben mçgen. Um mit einem unvergleichlichen, abwegigen Lebenslauf zu beginnen, der aber doch auf Fontanes Arbeitsweg als lyrischer Biograph liegt und hier schon frh begegnet: Ohne Zweifel, Treu-Lischen, die Heldin des gleichnamigen Gedichts (1845/51) am Anfang der Gedichte-Abteilung, die „Deutsches. Mrkisch-Preußisches“ bietet, ist ein anderer Name als Alexander, der Held von Droysens Geschichte Alexanders des Großen (1833) und anders fllt demnach ihre ,Geschichte‘ aus. Auch beginnt sie nicht mit der Geburt, und schon gar nicht mit der Verlautbarung einer „hçhere[n] Bestimmung“.4 Was zum Beginn ihrer Geschichte einleitend verlautet, ist die Stimme irgendeines Burschen, und der verabschiedet sich gerade auf Nimmerwiedersehen. Freilich hat dessen Stimme doch etwas mit einem 3 4
Vgl. Wolfgang Ullrich: Die Geschichte der Unschrfe. Berlin 2002. Johann Gustav Droysen: Geschichte Alexanders des Großen. Neudruck der Urausgabe [1833]. Hg. von Helmut Berve. Oslo 1943, S. 1 (= Krçners Taschenausgabe, Band 87).
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„Leben“ zu tun, das „ber die çde Dmmerung der Zeitlichkeit emporsteigt“5 ; und jener Liebenden, die den Abschiedsgruß hçrt, mag gleichfalls „der Friede des Lebens und der Genuss der Gegenwart versagt“6 bleiben. Treu-Lischen wird keine Feldzge fhren, keine Werke schaffen. Strophe fr Strophe tut sie nichts anderes als warten, ein Leben lang, und sie scheint lange zu leben. Was ihr lyrischer Biograph an ,Leistungen‘ verzeichnet, sind „Trnen“, Hoffnung“, „Frhling“, „Herbst“, allerlei Regungen des Herzens, endlich „Alter“und „Tod“ (AFA I, 172 f.). Weitere Krisen bleiben ihr erspart, Epochen bilden sich nicht heraus. In ihrer „Stetigkeit“ des Wartens liegt ihre individuelle „Flle des Lebens“.7 Das alles aber bleibt angedeutet, wirkt sogar abstrakt und allgemein, und bildet nun doch eine Geschichte, lckenlos mit bedeutendem Anfang und großem Ende, ber Jahrzehnte hinweg springend und doch gleichmßig dauerhaft in Treue und Liebe (das genaue Gegenteil von „Und alles ohne Liebe“), so dass die Wiederbegegnung am Ende das lange Leben als Lebenswerk besttigt und die Trennung am Anfang im Nu aufzuheben scheint. Freilich, der Bursche, der schließlich kommt, ist nicht der Liebste von frher, sondern der Tod. Der jedoch ist ein anderer „Gesell“ (AFA I, 174) als der in der Sylvester-Nacht, nicht „glh“ und „blaß“, sondern lebendig genug, so dass er, von solchen Herzschlgen gerhrt, „mit des Liebsten Mienen“ vor ihr erscheint und ihr „Ziel“, ihren lebenslangen Wartenswahn, eben auch erst im „Tod erfllt“.8 In diesem Leben zhlt außer dem Einen nichts: keine Arbeit, kein Wirken, keine Bewegung in „Zeitverhltnissen“, und was diesem Leben „widerstrebt“, ist nicht „das Ganze“, und was sich daraus „gebildet“ hat, ist keine „Welt- und Menschenansicht“, sondern nur die ganz persçnliche Ansicht des Todes als Geliebter. Darin freilich erweist sich Treu-Lischen als „Individuum“, das „unter allen Umstnden dasselbe geblieben“ ist.9 Freilich, das Eine, das zhlt, entwickelt sich nicht in der „Dmmerung des ewigen Werdens“,10 sondern ist einfach da, wird ohne Vorher und Warum vorausgesetzt, lsst sich nicht aus dem „Jahrhundert“11 ableiten, schert sich 5 Droysen: Geschichte Alexanders des Großen (wie Anm. 4), S. 1. 6 Droysen: Geschichte Alexanders des Großen (wie Anm. 4), S. 1. 7 Wilhelm Dilthey: Leben Schleiermachers. Auf Grund des Textes der 1. Aufl. von 1870 und der Zustze aus dem Nachlaß hg. von Martin Redeker (= Wilhelm Dilthey: Gesammelte Schriften. Bd. 13). Gçttingen 1970, Erster Halbband, S. 34. 8 Droysen: Geschichte Alexanders des Großen (wie Anm. 4), S. 1. 9 Johann Wolfgang von Goethe: Dichtung und Wahrheit (= Goethes Smtliche Werke. Jubilumsausgabe. Bd. 22). Stuttgart o. J., S. 6. 10 Droysen: Geschichte Alexanders des Großen (wie Anm. 4), S.1. 11 Goethe: Dichtung und Wahrheit (wie Anm. 9), S. 6.
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nicht drum und ergibt in dieser Form die Geschichte einer ,Namenlosen‘, dem zugewiesenen Namen zum Trotz. Es gehçrt vielleicht zur poetischen Freiheit der lyrischen Biographie, ihre verdichtete Lebensminiatur durch Variationen zu vermehren, durch Kontraste zu verschrfen. In diesem Sinne bilden Treu-Lischen, Sylvester-Nacht, „Und alles ohne Liebe“ und „Denkst du verschwundener Tage, Marie?“ eine biographische Tetralogie vergleichbarer, aber entgegengesetzter weiblicher Lebenslufe. Auf die Verherrlichung der lebenslnglichen Treue folgen drei Ernchterungen, die erste in novellistischer Zuspitzung, die beiden anderen wieder in biographischer Breite: zuerst die Leistung der Sehnsucht, die nach Brgers Lenore-Muster prompt tçdlich wirkt, dann die LeisACHTUNGREtung des lieblosen Handelns, die lebenslnglich abtçtet, und schließlich die Leistung der Erinnerung an Verlorenes, die den Blick erstarren lsst. Als lyrischer Biograph tritt Fontane am volkstmlichsten in der frhen Sammlung seiner „Acht Preußenlieder“ Mnner und Helden (1850) in Erscheinung, die er mit einer Ausnahme in alle seine Gedichtausgaben aufgenommen hat. Diese Lieder besingen Generle und Feldmarschalle der Friderizianischen Armee und verherrlichen – wie schon die Tageskritik lobend hervorhob – „ihr Leben und ihre Taten“ in „edle[r] Begeisterung“ (AFA I, 442). Es sind ,epische Lobeshymnen‘12 auf der Basis eines volkstmlichen Wissens13, d. h. nicht quellenkritisch besiegelter Fakten, sondern kollektiver Erinnerung. Der ganze Lebenslauf und Ttigkeitskreis wird auf die Pointe eines einzigen Merkmals gestellt: das Heldenschwert in Schneidershand, der Mann unterm Zopf oder berm Sporn, der Reiter aus dem Busch und der Spieler auf der Bhne. Was diese Lyrik ber das Balladeske, Volks- und Preisliedhafte14 hinaus speziell zum Biographischen beitrgt, ist die perspektivische Einstellung auf das „schçn-menschliche“, genauer: seine nach metrisch-mechanischem Rhythmus angelegte Verlebendigung im Kontext todbringender Werke.15 So entstehen bipolare „Charakterzeichnungen historischer Personen“16, 12 Helmut Scheuer: „Mnner und Helden“ – Geschichte aus dem Geist der Anekdote. In: Interpretationen. Gedichte von Theodor Fontane. Hg. von Helmut Scheuer. Stuttgart 2001, S. 14 – 34, hier S. 19. 13 Vgl. Theodor Fontane an Hermann Hauff, 18. Mai 1847. In: HFA IV/1, 34. 14 Scheuer: „Mnner und Helden“ (wie Anm. 12), S. 21 ff. 15 Theodor Fontane an Wilhelm Hertz, 31. Oktober 1861. In: Theodor Fontane: Briefe an Wilhelm und Hans Hertz 1859 – 1898. Hg. von Kurt Schreinert u. Gerhard Hay. Stuttgart 1972, S. 51. 16 Theodor Fontane an Wilhelm Wolfsohn, 10. November 1847. In: HFA IV/1, 38.
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zwar durchaus einheitliche „Geschichten zum Tode“, aber eigentlich Bekenntnisse zum zwiespltigen „Leben selbst“.17 Diese „Mnner und Helden“ sind einerseits historische Individuen, andererseits wirken sie wie moderne Allegorien fr brgerliche, familire und altpreußische Tugenden18, sie stehen kçrperlich konkret wie „Zieten aus dem Busch“ fr die Universalitt des huslichen Waschens und Auskehrens, fr die behaglichen Menschenrechte des Durchplauderns und Schlafens nach getaner Tat und fr die ewige, todbringende Dialektik des Nehmens und Genommen-Werdens. Sie bilden den schillernden Stoff fr zeitgemße Mythen, fr bequeme Legenden und doch auch kritische Utopien. Biographien handeln fr gewçhnlich von Menschen. Doch sind Biographien ber Stdte, Flsse, Landschaften und Epochen lngst nichts Unvertrautes mehr. Inwiefern solche Lebensbeschreibungen ihre Aufgabe nur metaphorisch betreiben, mag angesichts der Weite des Lebensbegriffs hier nicht ausgemessen werden, zumal auch das Metaphorische, wenn es sich allegorisch als Figur konkretisiert, dem biographischen Zugriff eine individuelle Person bietet. Eine Biographie in diesem erweiterten Sinne, lyrisch abgewandelt, begegnet in Fontanes Junker Dampf (1843/45/51). Sie beginnt pflichtgemß bei des Junkers Herkunft aus „einem edlen Stamme“ (AFA I, 176), weist auf die ,elementare‘ Bedeutung der Eltern hin („Wasser“ – „Flamme“), schildert die Zeugung des Junkers als „Kampf“ (als ob es auch hier auf eine „Vereinigung der ussersten Gegenstze“ ankme19), leitet zu den kurz angedeuteten Taugenichtsjahren ber und stellt dann ausfhrlich die Erfllung in der Manneszeit dar. Es ist eine invertierte Adoleszenz- und Emanzipationsgeschichte, die „dem lockere[n] Fant“ (AFA I, 177), einem „Spielball jedem Wind“ (176), ausgerechnet „hinter Kerkerwnden“ (177) die Mannwerdung ermçglicht, ja den Aufstieg zum „Gigant[en]“ bescheinigt. „Haft“, „Zelle“ und „Fesseln“ sind die Bedingungen seiner lebenslnglichen „Riesenkraft“, die je nachdem alles zertrmmert oder trgt oder treibt, denn der Junker heißt nicht nur Dampf, sondern er ist die Kraft des Dampfes und in dieser ,Gestalt‘ der Gegenstand dieser physikalischen Lebensbeschreibung. Verkehrt fllt dann auch das Ende dieser Technik-Biographie aus, insofern sie den Tod ihres Helden nicht als Folge des Alters oder einer vorzeitigen Schdigung verzeichnet, sondern als Rckentwicklung zum 17 Scheuer: „Mnner und Helden“ (wie Anm. 12), S. 24 und 26. 18 Scheuer: „Mnner und Helden“ (wie Anm. 12), S. 28. 19 Droysen: Geschichte Alexanders des Großen (wie Anm. 4), S. 49.
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„Kind“, das wieder spielt, sobald man ihm die Freiheit lsst. So entpuppt sich der „Gigant“ von seinem Ende her doch nur als ,mittelmßige Natur‘.20 Anstze zu einer lyrischen Biographie des Landes begegnen in Fontanes „Preußenlied zum 13. Mai 1861“ „Du Adlerland“ (1861). Ausgehend von der heraldischen Metaphorik, dem Adler als preußischem Wappentier, werden Art, Grçße, Entwicklung und Handeln des Landes allegorisch interpretiert. Hinweise auf Herkunft, „Anfang“ (AFA I, 260), Aufstieg, Gaben entsprechen in lyrischer Abbreviatur den Eckwerten einer positivistischen Biographie (Erbe, Erziehung, Erfahrung) und legen den Boden fr eine Feldzuggeschichte, die im Zeichen von „Eintracht“, „Freiheit“ und „Treue“ zum Siege fhren wird. Diese ,Biographie‘ ist zwar nicht zu Ende geschrieben; das Eigentliche, ihre ,Erfllung‘, verheißt sie nur, und den Tod ihres ,Helden‘ spart sie aus. Und dennoch weiß sie von seinem Abgang, insofern sie schon jetzt sein Vermchtnis an das „kommende(n) Geschlecht“ (AFA I, 261) einbezieht und diesen Nachlass als Ziel der eigenen Bildung und Bewusstwerdung setzt. Biographien, wçrtlich genommen als Schreibungen des Lebens (Dilthey: „Ich schreibe das Leben“21), fassen das Leben, wenn sie buchstabierend ins Einzelne vordringen, oft als Weg auf, nicht nur metaphorisch als Weg der Entwicklung, sondern auch konkret als Weg von Ort zu Ort, als Bewegung, die, wenn sie zum Lauf beschleunigt und Karriere heißt, dann doch wieder den Entwicklungs- und Aufstiegsweg meint. Lebenswege – das kçnnen die Stationen eines Feldzugs von Kleinasien bis Indien (Droysens Alexander) oder eines Umzugs von Sachsen ber Berlin bis Wolfenbttel (Erich Schmidts Lessing22) sein. Biographien stellen in diesem Sinn durchaus Bewegungsprofile her, zeichnen Mobilittsphysiognomien mit Tiefenschrfe. Eine lyrische Biographie dieser Art begegnet in Lebenswege (1889), hier sogar erweitert um einen ,parallelbiographischen‘ Zug. Es geht um eine fnfzigjhrige Strecke, vielmehr um mindestens zwei Strecken, die ihren Anfang bei „Blutjunge[r] Ware“ (AFA I, 30) nahmen, in ihrem weiteren Verlauf aber auseinander traten, um sich schließlich doch – „auf stillem Tiergartenpfade“ – wieder zu kreuzen. Das klingt fast (entwicklungs)romanhaft und erinnert in der kontrastiven Parallelfhrung an Freytags Soll und Haben, Raabes Der Hungerpastor oder Kellers Der grne Heinrich, nur schreitet diese Biographie ihre Lebensstrecke mit den Sieben-Meilen-Stie20 Dilthey: Leben Schleiermachers (wie Anm. 7), S. 37. 21 Dilthey: Leben Schleiermachers (wie Anm. 7), S. XXXV. 22 Erich Schmidt: Lessing. Geschichte seines Lebens und seiner Schriften. 4. Aufl., 2 Bde., Berlin 1923.
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feln des Lyrischen ab und braucht fr fnfzig Jahre nur drei Strophen, d. h. die dritte Strophe wird gegenber den beiden vorausgehenden merklich ,verlangsamt‘, insofern sie die Sechs-Zeiligkeit der ,schnellen‘ Strophen verzçgert und den dort angelegten Paarreim jetzt zur,Emanzipation‘von drei Couplets nutzt. Gerade diese drei letzten Paare fhren zusammen und verdichten, was Lebenswege blicherweise zu trennen scheinen: das „Kirchenlicht“ von der „Sonne“, „de[n]selben Altar“ vom neuen Denkmal „Kçn’gin Luise“, den „ersten ,Verein‘“ von spteren Treffen, den exzellenten Weg von seinem „noch immer bei Wege“ sich haltenden Fußgnger. Biographien pflegen vom ganzen Leben zu handeln, auch wenn dieses nur kurz gedauert haben sollte. Ob es freilich Biographien eines einzelnen Tages geben kann, mag doch eher fraglich bleiben. Den Tagesablauf verzeichnen fr gewçhnlich Chroniken ,von Tag zu Tag‘, Tagebcher von morgens frh bis abends spt oder Protokolle Stunde fr Stunde. Dennoch ist der Tag als Lebensgrçße die Bauzelle einer jeden Biographie. „[…] the history of a day is the history of a life“, heißt es im 20. Kapitel von H. Melvilles Typee. Was wre die Biographie eines Feldherrn ohne die Schilderung seines Schlachttages, die Biographie jeder Person ohne den oft innerhalb der Tageseinheit eintretenden Wendepunkt ihres Lebens? Bestimmte Tage also fehlen in keiner Biographie, auch wenn sie viele Tage bergeht. Doch mit welchem Recht? Das Leben besteht doch nicht nur aus Schlachten und Wendepunkten, sondern aus allen Tagen in sicherer Aufeinanderfolge. Das wird auch keine Biographie bestreiten, die gewisse Tage fr verlorene hlt. Es mag das Vorrecht der lyrischen Biographie sein, abseits der Haupt- und Staatsaktionen und ihrer Rechtfertigungsmuster einen einzelnen, fr sich unaufflligen, aber eben aus dem Leben geschnittenen Tag zu prsentieren und ihn in Frage zu stellen. Ein solcher in Frage gestellter Tag begegnet in Fontanes Gedicht Wrd es mir fehlen, wrd ich’s vermissen? (1889). Nochmals zugegeben, es ist kein besonderer Tag, sondern hçchstwahrscheinlich ein Tag wie jeder andere – aber in dieser zur Alltagsreihe vervielfachten Ausdehnung bezeichnet er nun doch eine breite Lebensphase und zhlt deshalb sogar als einzelner wiederum zu den wesentlichen, gewichtigen, ja guten Tagen, und die Stationen dieses guten Tages, die Glieder in der Darstellungseiner „gesamte[n] Gestalt“23 heißen dann: durchschlafen, aufwachen, frhstcken, schmecken, lesen, beobachten, erfahren – weiterschlafen. Eine lyrische Biographie braucht sich ber den Seitenumfang eines solchen Lebensberichts keine Gedanken zu machen; sie kommt mit wenigen Versen aus, um Lebensziele („Avancements“, 23 Friedrich Gundolf: Goethe. 8., unvernderte Aufl. Berlin 1920, S. 1.
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„Schrze (beim Schlchter)“, „Mdchen“) zu markieren. Immerhin aber macht sie auf etwas aufmerksam, das ausformuliert doch mehr Seitenraum in Anspruch nehmen kçnnte. Nach impliziter Auskunft dieser,Biographie‘ (dass sie einer Autobiographie gleicht, spielt gegenwrtig keine besondere Rolle) gibt es nmlich jenseits solcher Tage ein Bewusstsein, das sich fragen kann, ob es diesen Tag „vermissen“wrde, wenner ausgefallen wre. Dieses nichtan den Tag gebundene Bewusstsein msste entweder Brger anderer Tage oder Protagonist des Weiterschlafens sein, beides Lebensphasen, die je eigene Biographien verdienten. So zeichnen sich auf dem Hintergrund der nicht beantworteten Frage nach dem notwendigen und dem berflssigen Tag mehrere biographische Mçglichkeiten ab: Biographien auf der Basis des regelmßigen Erwachens an jedem Tag des Lebens, Biographien aus dem zensierten Lebensraum selektiver Tagesentscheidungen und Biographien „gut durchschlafener Nacht“ (AFA I, 28). In welchem Lichte letztere wohl erscheinen msste? Biographien fallen nicht vom Himmel, sondern werden gemacht. Als Werk von Menschenhand haben solche Taten Anlsse, Grnde und Zwecke; sie geben Antworten auf den Fragentypus „Wer ist …?“, zum Beispiel „Wer ist John Maynard?“oder „Wer ist Menzel?“ Manchmal erklren sie nicht nur, weshalb es zu einer solchen Frage kommt und warum sie berhaupt gestellt wird, sondern schildern – wie in Biographien des spten zwanzigsten Jahrhunderts – den Weg dahin, die Reise von „Kçln nach Wolkenstein“ zum Beispiel.24 Eine Miniatur dieses komplexen Gebrauchszusammenhangs – einschließlich der Wirkungs- bzw. Belohnungsgeschichte, an die jeder Biograph wohl einmal denkt25 – begegnet in Fontanes Huldigungsgedicht Auf der Treppe von Sanssouci. 7./8. Dezember 1885 (Zu Menzels 70. Geburtstag). Auf diesen langen Titel folgt nicht nur ein komprimiertes Muster des Biographischen (noch zu Lebzeiten seines ,Helden‘) mitsamt seiner Ironisierung oder gar Konterkarierung26, sondern zugleich seine Einbettung im Treppenaufgang zu dem, der schon seit geraumer Zeit ,oben‘ lebt, und darber hinaus die Funktionalisierung, eigentlich Umfunktionalisierung 24 Dieter Khn: Ich Wolkenstein. Eine Biographie. Frankfurt am Main 1978, S. 3. 25 Vgl. Theodor Fontane an Georg Friedlaender, 6. Januar 1886. In: Theodor Fontane: Briefe an Georg Friedlaender. Hg. von Kurt Schreinert. Heidelberg 1954, S. 27 f. 26 Vgl. Bettina Plett: „… entweder ganz im großen historischen Stil, oder aber mit Humor“. Huldigung ohne Sinn fr Feierlichkeit und die allmhliche Verfertigung von Kritik beim Dichten in Fontanes Auf der Treppe von Sanssouci. In: Interpretationen. Gedichte von Theodor Fontane. Hg. von Helmut Scheuer. Stuttgart 2001, S. 137 – 151.
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der Biographie zu autobiographischen Zwecken. Das sind die alternativen Mçglichkeiten der lyrischen Biographie, die sich um Scheidungen wenig schert und mannigfaltige bergnge ausprobiert: zwischen Personen („ich“ – „Er“ – „Menzel“), abgeschlossenem und laufendem Leben, Textsorten und Verfahrenswegen, auf Treppen, die nach oben wie nach unten, hin und zurck fhren. Der Streit der Biographen, wie viel Werk eine Lebensbeschreibung enthalten darf, wird auf engstem Raum zugunsten des Werkes entschieden, aber doch so, dass das Leben daneben nicht verschwindet, sondern dank des Werkes erst recht hervortritt, und zwar nicht nur als Leben dieses einen Individuums (es sind ja ohnehin drei), sondern als Welt, als „alles“, als die „ganze Arche Noh“ (AFA I, 273): Tier und Mensch, Geschichte und Gegenwart, Heroen und Ammen, Gebude und Pltze, Hummer-Majonnaise und Schuhschnallen. Das Werk also, das Schrift- wie das Malwerk, ist ein rettender, bewahrender Spiegel der Welt, und sein ,Autor‘ der reiche Geber, der das alles, alles ,Fortgesplte‘ „wieder“ gibt. Das lyrische Ich, das diese ,biographische‘ Auskunft gibt, ist seinerseits kein unbeschriebenes Blatt; als „Schriftsteller“ kommt er von „Marly“, das an „Lustschloß“ denken lsst, passiert die „Friedenskirche“, die an eine „Begrbnissttte“ erinnert27, und das „Bassin“, das vielleicht etwas mit Vergessenswasser zu tun hat, wobei nun „kein Springstrahl“ „pltscherte“, und steigt danach „treppan“, vorbei an „Schatten nur von Schatten“, um endlich „ihm“ zu begegnen, dem er auf die Frage „Wer ist Menzel“ solchen Bescheid erteilt. Es zeigt sich bald, dass die biographische Nachfrage nur eine Prfung war28, die der Treppensteiger „so lala“ besteht. Das heißt, er wird noch einmal umkehren mssen oder drfen, das ist angesichts seines Weges nicht eindeutig zu entscheiden. Als einigermaßen bewhrter Biograph hat er ja einen Auftrag, und das scheint ihn unter all den „Schatten“ doch wohl auszuzeichnen. Das Besondere der Biographen-Prfung liegt freilich darin, dass ihre Prfungskommission gerade von jener Person besetzt ist, die als „Fritzen-Welt“zu dem gehçrt, was der Maler „Am liebsten“ (274) wiedergibt. Und so wird ihm – vermittelt durch das lyrische Ich als Stegreif-Biographen – auch seinerseits etwas ,wiedergegeben‘, ein freier „Platz“, den er – „Ein Jahrer zehne“ spter – dann belegen kann. Im reinen Vers vereinen sich der Knstler, sein Modell und Biograph zur distanzierten, distinguierten Trinitt. 27 Vgl. Anm. in AFA I, 617. 28 Vgl. Plett: „… entweder ganz im großen historischen Stil, oder aber mit Humor“ (wie Anm. 26), S. 140 und 143.
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Das Alternative dieser lyrischen Biographie liegt in ihrer Vermittlungsleistung: Der biographische Abriss wird zur Bewhrung des lyrischen Ichs in Hinblick auf seine Fhigkeit, etwas wiederzugeben, was von Wiedergabe handelt und weitere Wiedergabe eintrgt – auch dies ein Mise en abyme, dessen Verspiegelungen auf eine Verkettung „gnd’ger“ Gaben hinweist. Die biographischen ,Daten‘ enthalten eigentlich nur eine „berwltigende Kaskade von Bilderstoffen“29, nichts von knstlerischer Verklrung oder sonstiger Arbeit am Material, um es sthetisch zu lutern. Stattdessen folgt ein Hinweis aufs „Elysium“ und mit der angesprochenen „Tafelrunde“ vielleicht sogar ein Anklang an die testamentlichen, erneut bezeugten Freuden des gemeinsamen Zu-Tische-Sitzens. Biographien sind Lebenserweckungsschriften, die lebensstiftende Leistungen schildern, auch wenn sie oft von Tod und Tçten handeln, und ewiges Leben als kollektive Erinnerungsleistung im Diesseits inszenieren. Fontanes Treppen-Gedicht gibt diesem Biographischen eine weitere Drehung: Biographie, also ein Leben-Schreiben, wird zum Bewhrungsakt im Treppenaufgang, einer heiklen Zwischenwelt unter Schatten, deren ,sorgenloses‘ Leben oben, am Ende der Treppe, wo sich Sanssouci erhebt, von jenen Schreibern und Malern unten abhngt, deren Lebensschriften die Schatten wieder ins Licht rcken. Menzel, aber eben nicht nur er, wre dann gleichfalls eine „Werkstatt des einzelnen Geistes“, der nicht nur „alles“ verarbeitet, sondern mit seinem Werk „wiederum schçpferisch in das Leben der Gemeinschaft eingreift“.30 Was als „Versuch“ begonnen wurde, hat die Lizenz, als Irrtum oder Fragment zu enden. Experimentiert wurde mit der Mçglichkeit, zwei unterschiedliche, vielleicht sogar unvertrgliche Elemente, das Lyrische und das Biographische, zusammenzubringen und die dabei auftretenden Reaktionen zu beobachten. Was ergab sich dabei? Zuweilen entstanden parodistische Effekte (Treu-Lischen), daneben zeichneten sich Bewegungsprofile (Lebenswege) und Rechenschaftsberichte (Wrd es mir fehlen) ab; auch çffneten sich metaphorische Dimensionen (Mnner und Helden, Junker Dampf ), und schließlich begegneten Formen der reflexiven Lebensbeschreibung (Auf der Treppe von Sanssouci). Ob diese Beobachtungen zuverlssig sind und weiter tragen, ja ob sie berhaupt ,Beobachtungen‘ sind oder bloß ,Lesarten‘, das sollte wohl noch genauer und umfassender berprft werden. 29 Claude Keisch: „Ja, wer ist Menzel?“ In: Fontane und die bildende Kunst. Hg. von Claude Keisch u. a. Berlin 1998, S. 201. 30 Dilthey: Leben Schleiermachers (wie Anm. 7), S. XXXIII.
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York, Havelock, Scherenberg und Schulze Beobachtungen zum Biographen Fontane
Roland Berbig „Am meisten Einfluß auf mich bten historische und biographische Sachen: Memoiren des General v. d. Marwitz (dies Buch ganz obenan), Droysen, Leben Yorcks, Macaulay (Geschichte u. Essays), Holbergs dnische Geschichte, Bchsels ,Erinnerungen eines Landgeistlichen‘ und allerlei kleine von Pastoren und Dorfschulmeistern geschriebene Chroniken oder Auszge daraus.“1 „Das moderne Berlin hat einen Gçtzen aus mir gemacht, aber das alte Preußen, das ich, durch mehr als 40 Jahre hin, in Kriegsbchern, Biographien, Land- und Leute-Schilderungen und volkstmlichen Gedichten verherrlicht habe, dies ,alte Preußen‘ hat sich kaum gerhrt […]“2
1 Um dem Biographen Fontane nher zu kommen, nhert man sich ihm am besten biographisch. Die Rekonstruktion von Lebenswegen konstruiert Haltpunkte, die sich, werden sie zutreffend gedeutet, in Anhaltspunkte verwandeln. Sie bieten Orientierung und suggerieren Ordnung: fr das beschriebene Leben und fr das Leben dessen, der beschreibt. Dieser Weg fhrt in die Mikrostruktur. Die Linie biographischer Arbeiten Fontanes und deren Motive wie Verfahren, ber die wir uns unterrichtet glauben, lçst sich dabei auf in Momentaufnahmen. Ob diese sich wieder zusammenfgen lassen und ob die dann erneut sich abzeichnende Linie der alten gleicht, ist ungewiss. Im Nachstehenden werden Stichproben eines solchen Vorgehens vorgenommen. Sie widmen sich dabei nicht ,dem Biographen‘ Fontane schlechthin, den es bei einem derart heterogenen Werk nicht geben kann. Eher lassen sich diese Proben mit Sonden vergleichen, die ausgesandt werden, um sich des Terrains zu vergewissern, das es zu erforschen gilt: im Einzelnen und aufs Ganze gesehen. Dass dabei der historischen Disziplin der 1 2
Theodor Fontane an Theodor Hermann Panthenius, 14. August 1893. In: HFA IV/ 4, S. 274. Theodor Fontane an Heinrich Jacobi, 23. Januar 1890. In: HFA IV/4, S. 18.
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Biographik, zumindest punktuell, Rechnung zu tragen ist, darf bei einem Autor von Fontanes Profil – bei allen Risiken, die es birgt – nicht wundern. Denn der nicht mde wurde, im Bewusstsein der Reife seiner schriftstellerischen Arbeit sich ber die Fachwissenschaft abfllig zu ußern,3 wusste, deren Ertrag ausgiebig nutzend, sich mit Blick auf sie zu platzieren. Noch einmal beansprucht dabei der sogenannte ,mittlere‘ Fontane einige Aufmerksamkeit – ein Umstand, der der Sache wie dem Stichwortgeber dieses Bandes, Peter Wruck, entspricht. Beginnen wir mit einer Momentaufnahme. Sie bindet Biographik mit Historik und wurzelt im Literarischen. Mitte Juni 1850 mobilisierte Fontane seinen Freundeskreis und ging mit Energie daran, endlich seine bislang verstreut oder gar nicht publizierten Gedichte zwischen zwei Buchdeckel zu bringen, die ihrer wrdig waren. Noch ehe die Verhandlungen mit dem Verleger Alexander Duncker scheiterten, bot ihm Fontane an, „die vaterlndischen Gedichte durch York, Scharnhorst, Gneisenau, Blow-Dennewitz und Stein [zu] vervollstndigen.“4 Gemeint waren jene Preußenlieder, mit denen sich Fontane nicht nur im Tunnel ber der Spree, sondern auch in den Leserkreisen des Cottaschen Morgenblatts oder des Soldatenfreunds ersten Ruhm erworben hatte. Dieser Beifall einer so gemischten Leserschaft, deren Verschiedenartigkeit grçßer nicht zu denken ist, war ihm Ermunterung. Sptestens seit Heines Buch der Lieder war die serielle Produktion von Lyrik legitimiert, wenn nicht legalisiert, so dass Fontane unbekmmert daranging, diese moderne poetische Verwertungspraxis auf seine FeldherrnGedichte zu bertragen. Wie seit Mitte der vierziger Jahre immer, whlte er den Tunnel als Testauditorium. Auf der Sitzung am 1. Dezember 1850 zckte er sein „General York“ getiteltes Versblatt und verwandelte es, so der Vereinsjargon, in einen vorzutragenden ,Span‘. Der Himmel hat gerichtet, Das Kaiserglck ist aus, In Flammen ward’s vernichtet Und Beresina-Graus; Nun Preußenvolk, inbrnstig Erfleh den rechten Mann, 3
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Vgl. neben einer Reihe hnlich lautender ußerungen nur Fontanes Briefe an Wilhelm Hertz vom 18. Februar 1862 und an Hermann Wichmann vom 3.–6. Juni 1881. Hier wie grundstzlich ist bei solchen Aussagen Fontanes Vorsicht geraten. In der Regel verfolgte er mit ihnen jeweils konkrete Absichten – und nicht selten galt es, eine ,falsche Spur‘ zu legen. Theodor Fontane an Alexander Duncker, 26. Juni 1850. In: HFA IV/1, S. 124.
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Der Augenblick ist gnstig, Ergreif ihn, wer da kann.5
Der rechte Mann war natrlich General Hans David York von Wartenburg, der nach der Niederlage des napoleonischen Heeres beim Beresinabergang im November 1812 einen Monat spter mit den Russen die Konvention von Tauroggen unterzeichnete: auf eigene Faust, eigenmchtig, ohne ein Plazet seines Kçnigs Friedrich Wilhelm III. Das Abkommen verpflichtete die Preußen, die immerhin wie York als Befehlshaber eines Hilfscorps selbst noch an der Seite Napoleons fochten, zur Neutralitt gegenber den russischen Truppen. Da sich die Handschrift jener Gedicht-Fassung Fontanes nicht erhalten hat, ist der Wortlaut der tatschlich vorgetragenen Verse unsicher. Sicher indes ist das Urteil: „Gut“6. Der Protokollant, identisch mit dem Verfasser, hat es notiert. „Carnot und Claudius“, so ist vermerkt, „machten“ zum Gedicht „einige faktische Berichtigungen“7. Hinter Carnot verbarg sich Johann Ludwig Blesson, der nicht nur Militrschriftsteller war, sondern, was in dieser Angelegenheit schwerer ins Gewicht fiel, auch ehemaliger Adjutant General Blchers und 1848 glckloser Kommandant der Brgerwehr. Und als Claudius firmierte George Hesekiel, der im Dienst der Kreuzzeitung stand und unumstrittener Kenner preußischer Adels- und Hofgeschichte war. Statt des sthetischen Disputs, der erwartet werden durfte, kleidete sich die Tunnel-Kritik in das Gewand eines historischen Fachdiskurses. Ob die Sachkorrekturen dem Verfasser sein mittlerweile gewohntes „Sehr gut“, wenn nicht gar „mit Acclamation“ kosteten, lsst sich so wenig belegen, wie sich die von Sohn Friedrich kopierte Notiz seines Vaters auf der verschollenen Gedichthandschrift beglaubigen lsst: „1847 in der liberalen Schwabbel-Periode geschrieben. 26. IX. 72.“8 Fontane hat die York-Verse in keine seiner Gedichtausgaben aufgenommen, erstmalig verçffentlicht wurden sie von Wolfgang Rost 1932.9 Aber trotz dieser eher kmmerlichen Karriere des Gedichtes verdient 5 6 7 8
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Theodor Fontane: York. In: AFA Gedichte 1995, 2, S. 401. Das Protokoll nennt den militrischen Rang im Gedichttitel. AFA Autobiographische Schriften III/1, S. 221. AFA Autobiographische Schriften III/1, S. 221. Zitiert nach AFA Gedichte 1995, 2, S. 631. Beilufig: Auch Droysen begann 1847 mit seiner Materialsammlung zu York. Vgl. Johann Gustav Droysen an Major Gerwin, 21. September 1847. In: Johann Gustav Droysen. Briefwechsel. Hg. von Rudolf Hbner. Berlin, Leipzig 1929. (Deutsche Geschichtsquellen des 19. Jahrhunderts; Band 25), 1, S. 360. Wolfgang Rost: Allerlei Gereimtes von Theodor Fontane. Dresden 1932. S. 92.
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es Aufmerksamkeit, greift es doch jenen geschichtlichen Stoff auf, mit dem wenige Monate spter ein Historiker als Biograph ressieren und provozieren sollte: 1851 nmlich erschien im Berliner Verlag Veit der erste Band der auf eine Trilogie angelegten Lebensgeschichte des Feldmarschalls Grafen York von Wartenburg, verfasst von dem 1808 in Treptow an der Rega geborenen Johann Gustav Droysen.10 Ein Zufall, nicht mehr. Allein, dabei blieb es nicht. Diese York-Darstellung hielt Fontane fr beispielhaft. Noch 1893 wird er von ihr sagen, dass sie zu jenen biographischen Bchern gehçrt habe, die „am meisten Einfluß auf mich bten“11.
2 Was hatte es mit dem Buch auf sich? Droysens York gilt heute als „das bekannteste Beispiel fr die biographische Option der borussischen Schule“12. Es markiert den Beginn jener Geschichtsschreibung, die nach 1848 Raum griff und „die durch ihre politische Wirkungsabsicht im Sinne von ,Preußens deutschem Beruf‘ hervorsticht.“13 Im Vordergrund biographischer Darstellung sollte nun nicht mehr individuelle Seelenerkundung stehen, sondern die weltgeschichtliche Perspektivik, die die historische Bedeutung einer Persçnlichkeit klrte. Nicht lnger sollte die Entwicklungsgeschichte eines Individuums Sinn und Zweck von Biographik sein. An ihre Stelle rckte „die Ausprgungsgeschichte eines historischen Gedankens“14, der mit der gestalteten Figur Wirklichkeit gewann. Droysens York verwirklichte historische Ideen und nicht sich selbst. Das Vergangene ist in seiner Person als „Latenz der Gegenwart“15 gesetzt. In ihm verkçrperte sich, nach dem Willen seines Biographen, der moralische Anspruch Preußens „auf seinen deutschen Beruf“16. Als biographische Gestalt stand dieser York nicht wie etwa 10 Ihr genauer Titel lautet: Das Leben des Feldmarschalls Grafen York von Wartenburg. Droysen lehrte seit 1840 in Kiel, wurde 1851 nach Jena berufen und erhielt 1859 eine Professur an der Berliner Universitt. 11 Theodor Fontane an Theodor Hermann Pantenius, 14. August 1893. In: HFA IV/4, S. 274. 12 Olaf Hhner: Historische Biographik. Die Entwicklung einer geschichtswissenschaftlichen Darstellungsform von der Antike bis ins 20. Jahrhundert. Frankfurt am Main, Berlin u. a. 1999, S. 151. 13 Hhner: Historische Biographik (wie Anm. 12), S. 106 f. 14 Hhner: Historische Biographik (wie Anm. 12), S. 115. 15 Vgl. hierzu Uwe Hebekus: Klios Medien. Die Geschichtskultur des 19. Jahrhunderts in der historischen Historie und bei Theodor Fontane. Tbingen 2003, S. 99 ff. 16 Hhner: Historische Biographik (wie Anm. 12), S. 156.
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Friedrich der Große im Dienst geschichtlicher Notwendigkeit, der er sich unterwarf, sondern war entworfenes „Charakterbild eines preußischen Helden“17, mit dem Geschichte gemacht werden sollte. Aus parteilichem, politisch-pdagogisch motiviertem Blickwinkel bot eine solche historische Lebensbeschreibung, wie Jrgen Oelkers formuliert, „Lçsungsmuster fr Gegenwartsprobleme.“18 Man hat von einer kopernikanischen Wende der Biographik gesprochen, die mit der borussischen Schule, zu der neben dem maßgeblichen Droysen Historiker wie Heinrich von Sybel, Ludwig Husser, Gustav Freytag und spter Heinrich von Treitschke zhlten, vollzogen wurde. Biographische Historiographie mutierte zur ,Futurgraphie‘, deren Herzstck die Vision eines kleindeutsch-borussischen Staatengebildes war.19 York von Wartenburg in der Gestaltung Droysens war als eine solche individuelle Kraft konzipiert, die „als ,ethisches Individuum‘ die Verkçrperung des moralischen Anspruchs Preußens auf seinen deutschen Beruf“20 demonstrieren sollte.21 Ein- und Widerspruch blieb nicht aus. Er setzte an, wo sich Fontane und Droysen trafen: in der Heldenwahl. War nicht, so fragte beispielsweise Theodor von Schçn, der altkonservative General York zum „Idealpreußen“22 gnzlich ungeeignet? Wie konnte ein Mann diesen Zuschnitts, dem die Steinschen Reformen gegen den Strich gegangen waren und der sich gegen 17 Hhner: Historische Biographik (wie Anm. 12), S. 160. 18 Jrgen Oelkers: Biographik berlegungen zu einer unschuldigen Gattung. In: Neue Politische Literatur. Berichte ber das internationale Schrifttum. XIX. Jg. Wiesbaden 1974, S. 301. „Die Gegenwart“, schreibt Oelkers, „gibt der Geschichtsschreibung Fragen auf, mit denen die Vergangenheit bearbeitet wird.“ (S. 301). 19 Hhner: Historische Biographik (wie Anm. 12), S. 148. 20 Hhner: Historische Biographik (wie Anm. 12), S. 156. 21 Droysens programmatischste Stze kommen im Zusammenhang mit dem entscheidenden Abschnitt ber die Ereignisse der Konvention von Tauroggen aufs Papier: „Es hat etwas ungemein Peinliches, eine That, deren Grçße und entscheidende Bedeutung man in der Macht ihrer durchschlagenden Persçnlichkeit zu bewundern gewohnt ist, in die unzhligen Fden, aus denen sie sich zusammen geschrzt zeigt, zerlegt und damit gleichsam aufgelçst zu sehen. Aber wenn man nicht in den Wirkungen allein den Maßstab der Grçße findet, sondern zugleich in der Voraussicht, daß sie und wie sie zu erzielen sind, und in der moralischen Kraft, sie mit dem vollen Bewußtsein auch der eigenen Gefahr, die sie bringen, doch zu wollen, dann gewinnt jene immerhin auslçsende Betrachtung den hçheren Reiz, in den Umhllungen von Zuflligkeiten und Aeußerlichkeiten den eigentlichen Lebenspunkt der g r o ß e n Thatsache, den des Willens zu erkennen.“ Johann Gustav Droysen: Das Leben des Feldmarschalls Grafen von Wartenburg. Sechste StereotypAuflage. Erster Band. Leipzig: Veit 1871. S. 285 f. 22 Hhner: Historische Biographik (wie Anm. 12), S. 152.
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Helden der antinapoleonischen Kriege wie Gneisenau und Blcher gestellt hatte, Gegenwarts-, ja Zukunftswert beanspruchen?23 Sahen so Leitfiguren fr ein Preußen aus, das jene deutsche Einheit stiften konnte, die aus Ethos und Macht erwuchs? Doch die Frsprecher Droysens ließen sich nicht beirren. Sie mnzten dessen York, ganz nach Wunsch seines Schçpfers, auf die unmittelbare politische Gegenwart. Und auf dieser Gegenwart lastete, damit sind wir wieder im Sptherbst 1850, das, was Preußens eifernde Patrioten „die Schmach von Olmtz“ nannten. Mit der „Olmtzer Punktation“ hatte Preußen am 29. November 1850 seine Unionspolitik aufgeben und sich unter çsterreichischer Federfhrung wieder dem Deutschen Bund anbequemen mssen.24 Wer das erniedrigend oder demtigend fand, es waren nicht wenige, der fand in Droysens York mit seinem eigenverantwortlichen Willen Halt und Zurstung. Jahrzehnte spter resmierte Rudolf Gottschall: Die York-Biographie „fhrt uns […] einen echt preußischen Helden vor, in welchem die Kraft der geschichtlichen Initiative lebendig war, wie sie fr Preußens Fhrerschaft in Deutschland auch jetzt noch unerlßlich ist.“25
3 Die Unterzeichnung der „Olmtzer Punktation“ war, als Fontane am 1. Dezember 1850 seinen „York“ dem Tunnel prsentierte und der historischen Biographie Droysens nichts ahnend seine poetische voranschickte, Tagesereignis. Sie bewegte die Gemter. Fontanes Verse trugen dem ganz und gar Rechnung. Auf bewhrte Weise hat er fr sein Gedicht den ent23 Schçn warf Droysen in einer Reihe von Briefen vor, er habe Yorks Position gegen die preußischen Reformen unterschlagen, dessen Agieren in Tauroggen sei nicht selbstndig gewesen, sondern von ihm erwartet worden, und die gesamte Charakterisierung leide unter mangelnder kritischer Distanz. Vgl. seine Briefe an Droysen vom 16. Mrz 1851 (1, S. 721 – 723) und vom 22. u. 23. Mrz 1851 (1, S. 725 – 730). In: Johann Gustav Droysen. Briefwechsel (wie Anm. 8). 24 Vgl. hierzu die Darstellung von Christopher Clark: Preußen. Aufstieg und Niedergang. 1600 1947. Aus dem Englischen von Richard Barth, Norbert Juraschitz u. Thomas Pfeiffer. Mnchen 2006, S. 568 – 573. 25 Rudolf Gottschall: Die deutsche Nationalliteratur des neunzehnten Jahrhunderts. Litterarhistorisch und kritisch dargestellt. 2 Bde. Zitiert nach: 7. Auflage. Breslau 1901, S. 358 f. Am meisten sei ihm darum zu tun, so Droysen selbst am 7. Mrz 1851, „einmal einen preußischen Ton anzuschlagen, welcher leider gar sehr in Vergessenheit geraten ist.“ In: Johann Gustav Droysen. Briefwechsel (wie Anm. 8) 1, S. 720.
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scheidenden historischen Moment ausgewhlt die franzçsische Niederlage an der Beresina und Yorks Schicksalsentscheidung und mit krftigen Strichen einen Mann skizziert, der, selbst wenn es gegen seinen Frsten gehen muss, aus preußischem Herzen ein „Frei soll’n die Lande sein“ schmettert. Und wie in den Versen vom „alten Derffling“ oder dem „alten Dessauer“, den Peter Wruck mustergltig gedeutet hat,26 bezieht auch das „York“-Gedicht seine Kraft aus der Spannung zwischen einem ,Heute‘ und jenem ,Damals‘, das solche Kerle hervorgebracht hatte: Wer heute lçst die Drhte? Wer heute hebt den Kork? Wir haben Rat und Rte, Doch keinen Genral Yorck.27
Aber anders als die bewusst auf Deutungsambivalenz angelegten VormrzPreußenlieder zielen diese Verse auf den unmittelbaren Tag. Wo das vormrzlich eingefrbte Pldoyer fr die Tat aus redlich-ungebildetem Herzen der Phraseologie leer-lauter Wunschformeln entgegengehalten wurde, steht der aus eigenem Willen frei Handelnde nun als Wirklichkeitsstifter preußischer Bestimmung. Die Verse verhehlen den beinahe propagandistischen Zug, der ihnen eignet, nicht. Fontane stand nicht an, sein Gedicht im Protokoll entschlossen und freiweg als „ein halb politisches, aber ganz patriotisches“28 zu bezeichnen, und hatte besten Grund dazu. So wenig wie die politische ffentlichkeit Preußens in ihrer Haltung zu Olmtz ungeteilt war, so wenig war es der literarische Verein Tunnel im Urteil ber seinen Dichter-Biographen preußischer Heroen. Dass jene Gesellschaft Zeuge eines literarisch-biographischen Paradigmenwechsels gewesen war, wie ihn Droysen wenige Monate spter als historischer Biograph vollzog, ist dem Tunnel entgangen. Es htte ihn ohnedies nicht weiter beschftigt. Fontane, um aus dem Zufall herauszutreten, der seinen Reiz, aber gleichermaßen seine Grenze hat, hatte Droysen frh im Blick – und eben genau in den fnfziger Jahren, die fr seine Lebens- und, zeitversetzt, seine Werkgeschichte wesentlich waren. Dass diese Werkgeschichte, um es vorwegzunehmen, als markantestes Strukturelement das Biographische hat, wurde in den Jahren zwischen Manteuffel und Bismarck auch historiographisch grundiert. Kaum fllt der Umstand ins Auge, dass Fontane im August 1850 auf seinem Ausflug in das schleswig-holsteinische Krisengebiet, auch 26 Peter Wruck: Der Zopf des Alten Dessauers. Bemerkungen zum Fontane der Preußenlieder. In: Fontane Bltter 5, 1983, Heft 3. S. 347 – 360. 27 AFA Gedichte 1995, 2, S. 401. 28 AFA Autobiographische Schriften III/1, S. 221.
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vorhatte, mit seinem Freund Lepel in Kiel die „2 Professoren: Droysen und Karsten“29 zu besuchen, stimmt er auch hellhçrig. Von anderem Gewicht ist der im Tagebuch unter dem 25. November 1856 dokumentierte Besitz von Droysens York30, dem sich Fontane freilich nachdem er erst einmal acht Stunden in dem im Rtli-hausgemachten Jahrbuch Argo geblttert hatte bald angeregt widmete. Schon zwei Tage spter verzeichnete er eine intensive Lektre, „[s]ehr amsirt“31, die bis zu seinem Geburtstag am 30. Dezember fortgefhrt wurde. Droysen war prsent – und er war es als Biograph, wie Fontanes Notiz vom 18. Mai 1857 bezeugt, die dessen gattungsstiftende „Geschichte Alexander des Großen“ gegen George Grotes Geschichte Griechenlands abhob.32 Als dann am 12. Januar 1858 die Weihnachtskiste vom immer hilfreichen Ehepaar Merckel neben anderen Bchern Droysens Geschichte der preußischen Politik ber den Kanal brachte, war der Grundstein zu einem ebenso kurzen wie prgnanten historisch-biographischen Diskurs zwischen den Freunden gelegt.33 Merckel gab aus Berlin am 13. Januar 1858 die Vorlage. In Droysens Geschichte der preußischen Politik hatte er nur geblttert, dafr aber die kritische Abfuhr gelesen, die die Kreuzzeitung am 6. Januar 1858 Verfasser und Buch erteilt hatte. Ihr Kern: Droysen und mit ihm die Zunft seiner jngeren Fachkollegen seien mit der Geschichte noch nicht fertig, deshalb kritisierten und polemisierten sie, statt Historie zu schreiben „was eben nichts andres ist als Geschichte machen, welches den Heroen und Genies anheimfllt als Folge und Resultat ihrer Taten. Heroen und Genies“, so 29 Theodor Fontane an Bernhard von Lepel, 1. August 1850. In: HFA IV/1, S. 128. Franz Kugler, den Fontane im Tunnel kennen gelernt hatte, hatte mit Droysen in Stettin die Schulbank gedrckt und war mit ihm in Verbindung geblieben. Der persçnliche Umgang Droysens mit dem Kuglerschen Kreise ist auch bezeugt durch Notizen in Paul Heyses Tagebuch (u. a. 1858). Rainer Hillenbrand (Hg.): Franz Kuglers Briefe an Emanuel Geibel. Frankfurt am Main, Berlin u. a. 2001, S. 8, 262 u. 420). 30 Eintrag: 25. November 1856. In: Theodor Fontane. Tagebcher 1852/1855 – 1858. Hg. von Charlotte Jolles unter Mitarbeit von Rudolf Muhs. Berlin 1994, S. 201. 31 Eintrag: 25. November 1856. In: Theodor Fontane. Tagebcher 1852/1855 – 1858 (wie Anm. 30), S. 201. 32 Eintrag: 18. Mai 1857. In: Theodor Fontane. Tagebcher 1852/1855 – 1858 (wie Anm. 30), S. 247. 33 Merckels Andeutung (12. Januar 1858), er habe im Droysen „natrlich nur herumblttern“ kçnnen, tut dabei nichts zur Sache. Fontane hatte sich Droysen erbeten und Merckel kommentierte das, worber er als Zeitungsleser verfgte. In: Die Fontanes und die Merckels. Ein Familienbriefwechsel 1850 – 1870. 2 Bde. Hg. von Gotthard Erler. Berlin, Weimar 1987, 1, S. 201, 229 u. 252.
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folgerte Merckel, die Kreuzzeitung sichtlich zustimmend referierend, „sind nie Partei, sondern das Fatum ihrer Zeit.“34 Droysen und die Seinen aber blieben Partei: was die Rçmer fr Mommsen, seien die Hohenzollern fr Droysen.35 Das kçnne, so Merckel endlich, als politische Bildung durchaus von großem Nutzen „fr die Klrung der Ideen und Zwecke“ sein, Geschichtsschreibung indes sei das nicht!36 Fontane nahm Merckels Vorlage auf, und er nahm sie als Steilvorlage: Das Gegenwrtige wie das weit Zurckliegende werde beinahe immer „parteiisch dargestellt“, erklrte er. Immer sei es „von Priestern und Parteien ausgenutzt worden.“ Phantasie oder Betrug seien zur Hand, wo die Sache selbst sich entziehe „und unkontrolliert“, so hielt Fontane dagegen, „wie wir uns fhlen, werden wir unsren Wnschen und Neigungen nachgeben und das halb Unsichtbare so sehen, wie wir es zu sehen wnschen.“37 Dem Biographen wird Deutungshoheit zugebilligt, er hat, von Ausnahmen abgesehen, freie Hand und die Gewissheit auf seiner Seite: „Zuletzt, und das ist die Hauptsache, berlebt die Darstellung des Geschehenen das Geschehene selbst und die kleinste Erinnerung daran so vollstndig, daß niemand mehr widersprechen kann […]“.38 Unaufgeregt, gelassen, als wre er der abgeklrte ltere, votiert Fontane damit fr eine historische Biographik, die bei der Profilierung ihres GegenACHTUNGREstands in die Vergangenheit sieht, sie aber nach der Gegenwart modelliert. Und koste es die Wahrheit, wenigstens die historischer Fakten … Von jenem Diktum Goethes, nach dem die Hauptaufgabe einer Biographie sei, 34 Wilhelm von Merckel an Theodor Fontane, 13. Januar 1858. In: Die Fontanes und die Merckels (wie Anm. 33), S. 252. 35 Wçrtlich schreibt Merckel: „Und wenn Mommsen den alten Rçmern im Grabe das Ohr auf die Stirn legt und ihre Gedanken heraushaspelt, wieviel leichter wird das Droysen bei den Hohenzollern geworden sein.“ Wilhelm von Merckel an Theodor Fontane, 13. Januar 1858. In: Die Fontanes und die Merckels (wie Anm. 33), 1, S. 253. 36 Vgl. Wilhelm von Merckel an Theodor Fontane, 13. Januar 1858. In: Die Fontanes und die Merckels (wie Anm. 33), 1, S. 253. Wenn Merckel moniert, das sei Geschichtenschreibung statt Geschichtsschreibung, korrespondiert das auf charakteristische Weise mit Fontanes Vorhaben zu Beginn der achtziger Jahre, einen Band „Geschichten aus Mark Brandenburg“ zu verçffentlichen, in den er u. a. seine biographischen Portraits der mrkischen Kriegsobersten zur Zeit des 30jhrigen Krieges aufzunehmen gedachte. Vgl. GBA Wanderungen. Bd. 6. Dçrfer und Flecken im Lande Ruppin. 1997, S. 689. 37 Theodor Fontane an Wilhelm von Merckel, 18. Februar 1858. In: Die Fontanes und die Merckels (wie Anm. 33), 1, S. 284 f. 38 Theodor Fontane an Wilhelm von Merckel, 18. Februar 1858. In: Die Fontanes und die Merckels (wie Anm. 33), 1, S. 284 f.
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„den Menschen in seinen Zeitverhltnissen darzustellen, und zu zeigen, in wiefern ihm das Ganze widerstrebt, inwiefern es ihn begnstigt, wie er sich eine Welt- und Menschenansicht daraus gebildet“39, hatte diese Auffassung sich weit entfernt. Wo war sie angekommen, und fr unseren Fall: Wo war Fontane mit ihr angekommen?
4 Ein Perspektivwechsel ist nçtig. Mit ihm rcken Fontanes biographische Projekte Anfang der sechziger Jahre, von denen zu sprechen ist, ins Blickfeld. Eine erste These: Der ,mittlere‘ Fontane, dem durch Wruck der literaturhistorische Standort, der ihm zukommt, gesichert wurde, vollzieht seine maßgebliche schriftstellerische Wende unter verdeckter Adjutanz einer durch Droysens Schule beeinflussten Biographik. Eine zweite, sich anschließende These: Das Biographische wird zu einem wesentlichen Strukturelement des literarischen Werks, das der ,vaterlndische Schriftsteller‘ Fontane nun in Angriff nimmt.40 Und eine dritte These: Dieses biographische Element fungiert als Bindeglied zwischen den literarischen und den journalistischen Arbeiten. In ihm kreuzt sich persçnliches Interesse des Schriftstellers und Poeten mit einem dezidierten Verwertungsinteresse gesellschaftlicher Institutionen, denen es sich verband. Die Institution, die Fontane vermutlich die erste biographische Arbeit in Auftrag gab, war deckungsgleich mit einer Person: Auguste Fournier, Prediger der franzçsisch-reformierten Gemeinde in Berlin. Im Februar 1858, parallel zu Fontanes brieflichem Droysen-Gesprch mit Merckel, bat Auguste Fournier41 Fontane, ber „das Leben des General Havelock zu 39 Johann Wolfgang Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Erster Teil. In: Johann Wolfgang Goethe Smtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Mnchner Ausgabe. Hg. von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Gçpfert, Norbert Miller u. Gerhard Sauder. Bd. 16. Hg. von Peter Sprengel. Textredaktion: Andreas Hamburger. Mnchen, Wien: Hanser 1985. S. 11. Das Zitat bricht gewçhnlich hier ab, sein Fortgang ist indes aufschlussreich. Goethe schreibt weiter: „Hiezu wird aber ein kaum Erreichbares gefordert, daß nmlich das Individuum sich und sein Jahrhundert kenne […].“ 40 Vgl. dazu grundlegend Peter Wruck: Theodor Fontane in der Rolle des vaterlndischen Schriftstellers. Bemerkungen zum schriftstellerischen Sozialverhalten. In: Fontane Bltter 1987/2 (Heft 44 der Gesamtreihe), S. 644 – 667. 41 Theodor Fontane an Wilhelm von Merckel, 18. Februar 1858. In: Die Fontanes und die Merckels (wie Anm. 33), 1, S. 287.
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schreiben“42. Zwei Umstnde bestimmten Fontane zur selbstverstndlichen bernahme des Auftrags: Erstens hatte Fournier ihn nicht nur 1836 konfirmiert, sondern auch seine Ehe mit Emilie getraut, er war ihm gewissermaßen persçnlich verpflichtet. Und zweitens signalisierte der ihn mit internen politischen und privaten Nachrichten versorgende Wilhelm von Merckel, dass „unsre hiesigen Frommen dahinter her“ seien, General Sir Henry Havelock „gebhrend vor dem Volke ins Licht zu stellen.“43 Jener „extrafromme[-]“ englische Militr war zuletzt 1857 als Brigadegeneral an dem brutal gefhrten Feldzug gegen die indischen Aufstndischen beteiligt gewesen und dafr kurz vor seinem Tod in Alum Bagh bei Lakhnau zum Generalmajor befçrdert worden.44 Und stellvertretend fr die „hiesigen Frommen“, von denen Merckel sprach, ist Heinrich von Mhler zu nennen, der frhere Tunnel-Kamerad Fontanes Cocceji, der seit 1849 in der Abteilung fr die inneren evangelischen Kirchensachen einflussreich ttig war und in der Sache auch kontaktiert wurde. Dass die Aufzeichnungen Havelocks in Berlin vorerst ungedruckt blieben und damit nicht ihre propagandistische Wirkung erzielten, lag nicht an Fontane, der seine bersetzung fristgerecht abgeliefert hatte: Die Tatsache, dass Havelock Baptist war, versalzte den ,Frommen‘ die Heldengeschichte frs Volk. Man ließ ihn fallen. Fontane nahm die Erfahrung einer zweckgerichteten biographischen Auftragsarbeit mit, bekam einen sanft nachdrcklichen Begriff von den Risiken, die sie barg45, und von den institutionellen und persçnlichen Krften, die dabei mit- und gegeneinander wirkten. Der verunglckte Ausgang indes verdarb ihm nicht das Interesse an der Sache46 und noch weniger an der Mache selbst.
42 Wilhelm von Merckel an Theodor Fontane, 30. Januar 1858. In: Die Fontanes und die Merckels (wie Anm. 33), 1, S. 266. Merckel hatte Fournier die Anschrift Fontanes in England mitgeteilt und dabei von dessen Bitte erfahren. 43 Wilhelm von Merckel an Theodor Fontane, 30. Januar 1858. In: Die Fontanes und die Merckels (wie Anm. 33), 1, S. 266. 44 Fontane hat ber den Sepoy-Aufstand, der Europa beschftigte, wiederholt als Korrespondent berichtet und auch mit Merckel, der die Aufstndischen schrfer verurteilte als er, darber debattiert. 45 Auch fr ihn: Dass das Gercht in Berlin die Runde machen kçnnte, er bersetze in London Baptistengeschichten, behagte ihm keineswegs. Damit reagierte er auf Fourniers gutgemeintes Bemhen, sein Havelock-Manuskript im Verlag von Wilhelm Hertz oder F. Schneider unterzubringen. Vgl. Theodor Fontane an Wilhelm von Merckel, 3. Juni 1858. In: Die Fontanes und die Merckels (wie Anm. 33), 2, S. 66. 46 Gegenber Merckel (3. Juni 1858) heißt es: „wenn Sie hineinblicken [in das Manuskript – R. B.], werden Sie sehn, daß die Sache ganz interessant ist, nicht gerade
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Mache, um bei diesem Wort fr einen Moment zu bleiben, stand im Mittelpunkt einer bislang weitgehend vernachlssigten Arbeit Fontanes,47 die als reiner Broterwerb angesehen wird: Dank der Vermittlung Wilhelm Wolfsohns war Fontane Ende 1859 in Verbindung zu dem Leipziger Verleger Carl Berend Lorck getreten, dessen Verlag begonnen hatte, die Idee eines biographischen Sammelwerks unter dem Titel Mnner der Zeit zu verwirklichen. Eine solche Idee lag in der Luft. Fontanes Aufmerksamkeit fr derartige zeitgençssische biographische Lexika, die durch seine Pressearbeit schon berufsbedingt war, ist bezeugt durch seinen (vergeblichen) Versuch, 1857 in London das Nachschlagewerk The Men of the Time. Biographical Sketches of Eminent Living Characters zu erwerben.48 Die Lorcksche ans Lexikographische angelehnte Arbeit nun, die jenseits der Beschaffenheit der Einzelbeitrge zwar eine Gattung bedient, deren Grenzen aber scharf touchiert und ber die grndlich zu befinden wre,49 lçste geradezu einen eruptiven Schub biographischer Recherchen aus. Sie reichten von Presseund Archivstudien ber briefliche Erkundung50 bis hin zur oral history, fr deren selbstverstndliche Legitimitt Fontane Droysens York stehen mochte.51 Der Schub bestimmte Fontanes Tagesarbeit nicht nur die nchsten Monate, sondern die sich anschließenden Jahre.52 Das scheinbar zufllige Sammelsurium von Namen ist ein Spiegel der beruflichen Arbeitsfelder Fontanes vornehmlich der fnfziger Jahre: die preußische Literaturszene mit Artikeln ber Christian Friedrich Scherenberg oder Paul Heyse, die preußische, deutsche Malerei mit Adolf Menzel und Wilhelm Camphausen, die englische mit Eintrgen ber David Roberts, Edward Matthew Ward und Thomas Webster. Dazu tritt, vereinzelt, die preußische Politik mit dem Artikel zu Albrecht Graf von Bernstorff, whrend Fontanes
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Havelock, aber die ganze anglo-indische Geschichte.“ In: Die Fontanes und die Merckels (wie Anm. 33), 2, S. 66. Vgl. Hubertus Fischers Beitrag und den fundierten Artikel auf der Webseite der digitalen Gutzkow-Edition von Christiane Haug. Eintrag: 3. September 1857. In: Theodor Fontane. Tagebcher 1852/1855 – 1858 (wie Anm. 31), S. 269. Ihr standen Modelle sowohl innerhalb des deutschen, aber auch des außerdeutschen Sprachraums zur Seite. Ein Zeitbedrfnis wurde befriedigt, das die Bandbreite biographischen Schreibens aus- und ihre vordem stabilen Grenzen berschritt. Das konnte, wie im Falle von Albrecht von Bernstorff, dazu fhren, dass die Angefragten nderungswnsche an den Artikeln anmeldeten. In: Johann Gustav Droysen. Briefwechsel (wie Anm. 8), 1, S. 362. Vgl. hierzu auch Hhner: Historische Biographik (wie Anm. 12), S. 158. Die im Entstehen begriffene und demnchst erscheinende Fontane-Chronik lsst eine deutliche Eintragsspur dieser Auftragsarbeiten sichtbar werden.
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London-Jahre dort Gesandter Preußens.53 Der englisch-preußische Akzent ist so wenig zu bersehen wie der persçnlicher Bekanntschaft, den geltend zu machen Fontanes biographische Minimalkonstruktionen nicht scheuten. Dass Zeitgenossen, zum Teil aus dem persçnlichen Umfeld, lebensgeschichtlich behandelt wurden, als wren sie schon historisch, mithin so gut wie nicht mehr am Leben, forcierte einen Wertungsdruck und Beglaubigungsstrategien. Das Prinzip, in der Person ein konstituierendes, berpersonelles Bewegungsmoment kenntlich zu halten, zeigt sich auch hier – der Menzel-Eintrag ist dafr ein bndiger Beleg. Wie einer neben der Bahn, die ihm gewiesen schien, dem eigenen Sinn vertraut und dadurch genau auf jene gert, die seine Person und ihre originelle Leistungskraft in den Dienst einer Ganzheit zu stellen vermag, wird modellhaft skizziert. Dass diese Ganzheit das Preußen Friedrichs II. ist, gibt dem Modell die charakteristische Note, auf die es dem Biographen ankommt: […] als […] im Jahre 1842 das Friedrichs-Buch vor der Welt und vor ihm selbst dalag, hatte er das Terrain gefunden, nach dem er von Anfang an in dunklem Drange gesucht hatte. […] Diejenigen seiner Arbeiten, die andere Wege einschlagen und nicht anklingen an „Fridericus Rex, unser Kçnig und Herr“, sind etwas Fremdes und erscheinen fast wie Hindernisse […] in seinem Entwicklungsgange […].
Und Fontane steht nicht an, bei Menzels Bewltigung des Friedrich-Stoffs das biographische Verfahren herauszustreichen. Von „Seite zu Seite“ sei es mçglich, den großen Kçnig „durch alle Stadien des Alters und der Erscheinung zu verfolgen, vom vierten Lebensjahre an bis zu den letzten Greisentagen.“54 Menzel habe den Großtaten preußischer Geschichte erst das bleibende Bild gegeben und zwar mit den Mitteln moderner Malerei, deren realistisches Potential der Historiographie wie der Kunst diene. 53 Die von Wolfgang Rasch erarbeitete Fontane-Bibliographie (Berlin, New York 2007, Eintrge: 4424 bis 4463) listet Artikel ber Andreas und Oswald von Achenbach, Albrecht Graf von Bernstorff, Sir Charles Barry, William und Robert Chambers, Wilhelm Camphausen, John Payne Collier, George Cruikshank, John Cumming, Heinrich Wilhelm Dove, Sir Charles Eastlake, Bogumil Goltz, Hans Gude, Paul Heyse, Eduard Hildebrandt, Theodor Hildebrandt, Botho von Hlsen, Sir Edwin Landseer, Daniel Maclise, Adolf Menzel, Alexander von Minutoli, Theodor Mgge, Williams Mulready, David Roberts, Otto Roquette, Gustav und Wilhelm Rose, Christian Friedrich Scherenberg, Caspar Scheuren, Teutwart Schmitson, Wilhelm Schott, Gilbert Scott, Hermann Stilke, Alfred Tennyson, Adolf Tidemand, Edward Matthew Ward, Thomas Webster, Ludwig Wichmann, Friedrich Wilhelm Wolff auf (in: C. B. Lorcks: Mnner der Zeit. Biographisches Lexikon der Gegenwart, Band 2, Leipzig: Lorck 1862). 54 NFA XXIII/1, S. 429 – 433, beide Zitate hier: S. 430.
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Da mag das eine oder andere eilig aufs Papier gekommen sein, nichts desto trotz fgte sich diese Arbeit in den Kontext einer entschieden biographisch ausgerichteten Arbeit Fontanes zu Beginn der sechziger Jahre. In ihr entfaltete sich eine Zentrifugalkraft, die vom journalistisch-handwerklichen Tagesgeschft ins Literarische berleitete. Sie ist so auffllig wie in der Forschung vernachlssigt. Ihre elementare Bindekraft hatte sie in dem mrkischen Großprojekt der Wanderungen,55 welches Fontane seit 1859 betrieb, das ihn bis zum Lebensende nicht losließ und dessen erste Ideenskizze sich als ein znftiger Beleg fr das hier umrissene Konzept liest: „Einen Plan gemacht. ,Die Marken, ihre Mnner u. ihre Geschichte. Um Vaterlands- u. knftiger Dichtung willen gesammelt u. herausgegeben von Th. Fontane‘“56 Programmatisch wird die zweckgerichtete Biographik integriert in ein Vorhaben, bei dem sich der Verfasser nicht als Autor, sondern als Sammler und Herausgeber bestimmt: im Dienst einer Sache und nicht seiner selbst stehend. Im Frhherbst 1861 kndigte Fontane, und damit durchaus noch in direkter Korrespondenz zum Ursprungsplan, seinem Verleger Wilhelm Hertz „mrkische Biographieen“ an, die er „ohne Betonung der Lokalitt“57 zu schreiben gedchte. In diesen Kontext gehçrt auch der parallele Auftakt von Fontanes „Lewin“-Roman, der die dritte These (dem Brckenschlag zum Literarischen) belegt. Diese Erzhlung wandte sich eben nicht nur einer Zeit zu, von der Droysen meinte, kein Volk habe „schçnere Jahre als die Preußens von 1806 bis 1815“58, in denen „der deutsche Beruf Preußens in seiner doppelten Funktion von Einheit und Freiheit zum ersten Male realgeschichtlich hervorgetreten“59 sei, sondern sie tut dies in einer signifikanten Verquickung von historischer und literarischer Biographik. Das ist besonders augenfllig in frhen Kapiteln und Entwrfen samt der Quellenerschließung und 55 Vgl. die Beitrge von Michael Ewert und Helmuth Nrnberger. 56 Eintrag: 19. August 1856. In: Theodor Fontane. Tagebcher 1852/1855 – 1858 (wie Anm. 30), S. 161. 57 Theodor Fontane an Wilhelm Hertz, [19. September 1861]. In: Theodor Fontane. Briefe an Wilhelm und Hans Hertz. 1859 – 1898. Hg. von Kurt Schreinert, vollendet und mit einer Einfhrung versehen von Gerhard Hay. Stuttgart 1972, S. 47. Bei den mrkischen Biographien handelte es sich um die Lebensbilder von Karl Friedrich von Kloeden, Karl Blechen und Julius Voß. Fontane hatte im brigen keinen Zweifel, dass er Varnhagens biographische Portraits sogar bertrumpfe: „ich mach’ es“, schreibt er, „in 2 Beziehungen doch besser, erstens wrmer, belebter, farbenreicher, dann zweitens stylistisch ungeschraubter, freier, natrlicher im Ausdruck.“ 58 Johann Gustav Droysen an Johannes Schulze, 1. November 1847. In: Johann Gustav Droysen. Briefwechsel (wie Anm. 8), 1, S. 364. 59 Olaf Hhner: Historische Biographik (wie Anm. 12), S. 147.
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-integration, die Fontane konzeptionell betrieb. Ablesen lsst sich der lebensgeschichtlich intendierte Zug vom auslçsenden Interesse am Schicksal Ferdinand von Schills bis zum tiefgreifenden und alles einfrbenden Marwitz-Bezug. „An ernstem Streben, an Ringen nach der Wahrheit“, schreibt Fontane in den Wanderungen, „an selbstsuchtsloser Vaterlandsliebe sei er [F. A. L. v. d. Marwitz – R. B.] Vorbild und Muster auch uns.“60 Erst jenes biographisch-historische Verquicken fundamentiert den ursprnglichen Anspruch auf vaterlndisch-preußische Reprsentativitt, und erst in diesem Licht scheint der Schriftsteller auf, der Fontane in den fnfziger Jahren gleichsam ,in der Stille‘ geworden war. Selbst Ende der siebziger Jahre, als Vor dem Sturm schon ein besiegeltes und abgeschlossenes Arbeitskapitel war, erfreute es Fontane, dass er gerade im „Urtheil solcher Mnner“ wie Droysen und Treitschke „am besten abgeschlossen“61 habe. Fast scheint es, als sei ihm bewusst gewesen, in welchem Maße diese Korrespondenz in den eigenen literarischen Werdegang hineingewirkt hatte. Und noch eine weitere, zeitparallel in Angriff genommene Arbeit findet sich in dem kompakten Paket lebensgeschichtlicher Darstellungen, das Fontane Anfang der sechziger Jahre schnrte: Vor dem evangelisch-karitativen Gustav-Adolfs-Verein hielt Fontane am 17. Februar 1862 den Vortrag Die Mark und mrkische Kriegsobersten zur Zeit des dreißigjhrigen Krieges. Mit den Portraits der Kriegsobersten aus einer Zeit, als die Mark Brandenburg „zum erstenmal auf den allgemeinen Ringplatz“ hinaustrat, gedachte Fontane die historische These zu verfechten, wie im Gegensatz zur Mark im Allgemeinen, „die Individuen, zumal der Adel, jene Schlagfertigkeit […] zeigen, die seitdem ein so hervortretender Zug unsres Volksstammes geworden ist.“62 Den Lesern des Morgenblattes, wo der Vortrag im Mai 1862 zuerst und ber drei Nummern verteilt im Druck erschien, prsentierte sich der Preuße Fontane als historischer Biograph, der jene mrkischen Namen, „die bewußt und unbewußt die Fundamente legten, auf denen der neue Bau glnzend emporsteigen konnte!“, in das Gedchtnis seiner Gegenwart verankerte.63 Das Jetzt, das Gewordene und das Im-Werden-begriffen-Sein 60 Theodor Fontane: Friedrich August Ludwig von der Marwitz. In: GBAWanderungen. Bd. 2. Das Oderland. 1997, S. 251. 61 Theodor Fontane an Theodor Fontane jun., 11. Mai 1879. In: HFA IV/3, S. 21. 62 In: GBAWanderungen. Bd. 6. Dçrfer und Flecken im Lande Ruppin. 1997, S. [382] u. 383. 63 Theodor Fontane: Die Mark und die mrkischen Kriegsobersten zur Zeit des dreißigjhrigen Kriegs. (Schluß.) In: Morgenblatt fr gebildete Leser 56 (1862), Nr. 21 vom 21. Mai 1862, S. 491. Vgl. hierzu Roland Berbig: Fontane als literarischer Botschafter der brandenburgisch-preußischen Mark. Die „Wanderungen“-Aufstze im „Morgen-
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Preußens spendeten das Licht, das ein biographisches Interesse erst den Wert jener mrkischen Kriegsobersten aus dem dunklen 17. Jahrhundert erkennen ließ. Als Beleg kann stellvertretend das Auftaktportrait zu Otto Christoph von Sparr stehen: „An Sparrs Namen und Auftreten“, heißt es, „knpft sich berhaupt all das Interesse, das wir immer da empfinden, wo wir einem Neuen, einem eben Gewordenen begegnen, wo einer als erster etwas tut oder auch nur wieder tut.“64 Mit jenem mrkischen Oberst begann also nach Fontane eine neue Entwicklung, die in das Jetzt fhrte und den Standort des Biographen markierte.
5 Dieser entschlossene, beinahe fulminante biographische Ein- und Ansatz Fontanes ließ nahezu kein Arbeitsfeld unberhrt. Fontane, mit wie viel Vergngen oder Verdruss auch immer, bestellte dieses Feld und agierte als vaterlndischer Schriftsteller im Hauptfach des Biographen. Es vereinte, was die Editionsgeschichte, die auf die Trennung von Literarischem und Journalistischem bestand, spter sorglich schied. In ihm vertrug sich der HofberichtsACHTUNGREton, den Fontane in seinen Begleittexten zum Denkmal Albrecht Thaers zu Berlin65 (ebenfalls 1862) anschlug, ohne weiteres mit dem des Lexikographen oder Nekrologen, wie im Falle des Vorworts zur Textsammlung des am 27. Dezember 1861 verstorbenen Wilhelm von Merckel.66 In beiden Fllen, wie in der Tendenz grundstzlich, galt in dieser Phase als biographisch legitimiert, „wo es sich um lebensvolle und doch erhçhte, blatt fr gebildete Leser“. In: „Geschichte und Geschichten aus Mark Brandenburg“. Fontanes „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ im Kontext der europischen Reiseliteratur. Hg. von Hanna Delf von Wolzogen. Wrzburg 2003, S. 325 – 350. 64 Hier zitiert nach: Theodor Fontane: Mrkische Kriegsobersten whrend des Dreißigjhrigen Krieges. In: GBA Wanderungen. Bd. 6. Dçrfer und Flecken im Lande Ruppin. 1997, S. 386. 65 Denkmal Albrecht Thaers zu Berlin. Nach den Photographien von L. Ahrends gezeichnet von Professor Holbein und in Holz geschnitten von C. Glantz. Mit Text von Th. Fontane. Berlin: Gustav Bosselmann 1862. Jenes Denkmal war „dem Manne“ gewidmet, schreibt Fontane, „welcher in seiner besten Kraft fr und in Preußen mit voller Hingebung gewirkt hatte“, und er schildert nicht nur das Denkmal, sondern auch die hochrangige Festgesellschaft, die sich am 5. November 1860 bei der Enthllungsfeierlichkeit auf dem Platz der Bauakademie zusammengefunden hatte. In: GBA Wanderungen. Bd. 6. Dçrfer und Flecken im Lande Ruppin. 1997, S. [290]–293, hier: S. 292. 66 Theodor Fontane: Vorwort zu den „Kleinen Studien“ (1862). In: Die Fontanes und die Merckels (wie Anm. 33), 2, S. 281 – 284.
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das heißt ideale Auffassung historisch bestimmter Persçnlichkeiten handelt.“67 Fontane positionierte sein historisches und zeitgençssisches Personal, ber das er literarisch vielfltig verfgen wollte, biographisch – es war ihm Arbeitsgegenstand, Arbeitsmaterial und Arbeitszweck. „So wchst man sich“, schreibt er seinem Verleger Hertz Winter 1861 in Anspielung auf die Biographischen Denkmale, „in Varnhagen hinein“68. Dieser biographisch-orientierte, gattungsbergreifende Zugang Fontanes blieb virulent bis in die siebziger Jahre. Gnzlich außer Kraft gesetzt wurde er nie, und aus finanzieller Notlage allein ist er nicht zu erklren. Mit dieser biographisch aufbereiteten Personage war ein Bild Preußens zu entwerfen und, kam es gut, zu befestigen. Mit ihm war auch, als die Preußen-Skepsis Fontanes Raum griff und tglich aufmunitioniert wurde, die Demontage zu betreiben. Gerade weil Fontane derart prpariert war und gerade weil er sich eine solche literarische Portraitsammlung angelegt hatte, fiel der Bildersturm, so dezent und vornehm er sich auch dem çffentlichen Auge zu Lebzeiten bot, besonders wirkungsstark aus. Denn der Schnitt blieb nicht aus. In dem Maße nmlich, wie zweckgerichtetes, intentionales Schreiben fr Fontane durch die Reichseinigung 1871/72 unter preußischer Federfhrung an Verbindlichkeit und sich sein enttuschtes Selbstverstndnis als vaterlndischer Dichter verlor, in dem Maße erfuhr das werkstrukturierende Biographische eine Metamorphose. Die Langweile, mit der Fontane im Frhjahr 1879 das Auftragswerk bernahm, zu den Vaterlndischen Reiterbildern aus drei Jahrhunderten von Wilhelm Camphausen Begleittexte zu schreiben, ist bezeichnend. Der, dem diese Arbeit, wie Emilie nicht ohne Stolz vermerkte, „seines Namens wegen bertragen“69 wurde, kam ber ein „mßiges Vergngen“70 nicht hinaus. Er habe „diese[m] traurige[n] Artikel-Fabrizieren“ von „Prinzen- und Generalstexten“ eigentlich „ein fr allemal abgeschworen“71, schreibt er Wilhelm Hertz am 16. Mrz 1879. Obwohl sich eine biographische Textlinie 67 Fontane: Denkmal Albrecht Thaers zu Berlin (wie Anm. 65), S. 299. 68 Theodor Fontane an Wilhelm Hertz, [19. September 1861] (wie Anm. 57), S. 47. 69 Emilie Fontane an Clara Stockhausen, 18. April 1879. Zitiert nach Fontane: Dçrfer und Flecken im Lande Ruppin (wie Anm. 36), S. 720. 70 Theodor Fontane an Emilie Fontane, 26. Mai 1879. In: GBA Der Ehebriefwechsel 1873 – 1898. 1998, S. 157. 71 HFA IV/3, S. 17 f. Zur Lustlosigkeit wird beigetragen haben, dass die Arbeit erst in den Hnden von Emil Brachvogel gelegen hatte, der im November 1878 gestorben war und dessen Vorarbeiten Fontane kaum halfen, aber nicht gnzlich zu verwerfen waren. Vgl. seinen Brief an Emilie Fontane vom 26. Mai 1879. In: GBA Der Ehebriefwechsel 1873 – 1898. 1998, S. 157.
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von den Preußenliedern ber die Wanderungs-Texte bis zu diesen opulent verpackten Bildkommentaren zieht, gengte Fontane der bernommenen Pflicht, ambitionslos indes in jeder Hinsicht. Die altpreußischen Heroen von Zieten ber Seydlitz bis zu Leopold von Dessau, denen er ein Vierteljahrhundert zuvor den poetischen Steigbgel gehalten hatte, saßen ihm nun zu fest im Ruhmessattel, um ihnen mit Emotionalitt zu huldigen. Eine derartige Textlinie ber mehrere Werkstationen das Phnomen wre einer Spezialuntersuchung wert stellt auch die letzte hier notwendig zu erwhnende biographische Arbeit Fontanes dar. Seit den fnfziger Jahren hatte sich Fontane wiederholt biographisch und literaturkritisch mit seinem Tunnel-Kollegen Christian Friedrich Scherenberg befasst. Damals war sein Interesse geweckt worden, weil Scherenberg auf vertrackte Weise dasselbe preußisch-literarische Feld beackerte, dem sich Fontane zu widmen begonnen hatte – vorerst sogar erfolgreicher als er. Whrend Scherenbergs Ruhm bald verblasste, hatte sich der Fontanes stetig, wenn auch langsam entwickelt: endgltig und nachhaltig mit den Wanderungen. Mit seiner lebensgeschichtlichen Studie Christian Friedrich Scherenberg und das literarische Berlin von 1840 bis 1860, die 1884 bei Hertz erschien, legte er sein erstes und letztes Buch vor, das sich genuin als Biographie72 gab: „Christian Friedrich Scherenberg wurde den 5. Mai 1798 zu Stettin geboren“73 beginnt der erste Satz. Thesenartig zugespitzt ließe sich feststellen: Mit dieser Biographie verabschiedete Fontane jene von ihm selbst mit vollzogene Wende in der Biographik Mitte der fnfziger und Anfang der sechziger Jahre. Die Indienstnahme von darzustellendem Leben und dessen literarischer Lebensleistung, fr die er Autonomie beanspruchte, wurde aufgekndigt, indem sie an einem ihrer,Opfer‘, nmlich Scherenberg, demonstriert wurde. Das biographische Aufhebungsverfahren zu realisieren, bedurfte es komplexer literarischer Techniken, ber die der routinierte Biograph Fontane souvern verfgte. Dass er dabei auch auf gestalterische Mittel zurckgriff, die zur Krise und Wende in der Biographik im frhen 19. Jahrhundert gefhrt hatten, bekam seinem Buch, das er als „Aufsatz“74 klassifizierte (bei immerhin 290 Druckseiten!), nicht unbedingt gut – dessen Rang indes bleibt davon unbeschadet. Scherenberg war gerade nicht das, was die (literACHTUNGRE ar-)historische Biographik zeitweilig aus ihm machen wollte. Das Ich, das diese Biographie literarisch einrichtet, bewegt sich zwischen einem beinahe 72 Dass der relativierende Zusatz im Titel „und das literarische Berlin von 1840 bis 1860“dabei nicht zu ignorieren ist, versteht sich, soll hier aber vernachlssigt werden. 73 AFA Autobiographische Schriften III/1, S. 7. 74 Theodor Fontane an Martha Fontane, 16. Mrz 1884. In: HFA IV/3, S. 303.
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positivistischen Verfahren und einer abstrahierenden Metaebene. Es breitet Quellen im bermaß aus, setzt auf Authentizitt75 und historische Stimmigkeit – und berfhrt dieses Verfahren in eine Art Patchwork, eine Collage aus unterschiedlichen Textsorten (von der Zeitungskorrespondenz ber den Privatbrief bis zum Essay mit reflexiven Elementen und Exkursen). Die Gattung zerbrçselt, nicht aus Nachlssigkeit, sondern mit Methode. In jedem Punkt bekennt sich der, der das Ganze arrangiert, zum Arrangement und steht nicht an, den Wert des biographischen Arrangements zu relativieren wenn nicht zu demontieren: „So der Brief“, heißt es nach Prsentation eines Dokuments, „bei dessen Zitierung ich eingedenk vieler persçnlicher Erlebnisse hier einschalten mçchte, daß man sich damals, also um die Wende der dreißiger und vierziger Jahre ganz allgemein in derartigen Phantasien bewegte.“76 Der biographisch Konstruierende çffnet, vorgeblich rekonstruktiv operierend, die Tr zu Dekonstruktionsarbeiten, indem er seinem Leser gewhrt, ihm auf die Finger zu schauen – nein, ihn nachgerade dazu ermuntert. Eine Zerreißprobe, die durch die Gelassenheit, mit der Fontane sie durchsteht und vorfhrt, um nichts gemildert wird. Jene dekonstruierenden Verfahren endlich, sie werden besorgt vom Sptwerk des Erzhlers. Der experimentiert bio-graphistisch mit zumindest zwei Konzepten. In Effi Briest, 1888/89 begonnen, 1894 abgeschlossen, segmentierte er rudimentr Lebenslufe in Preußen, um den durch soziale, historische und politische Setzungen verursachten Beschdigungsgrad des Einzelnen zu bestimmen. Und im Fragment Die preußische Idee, ebenfalls 1894 und konzeptionell Vorlufer des Stechlin, testete Fontane an einem fabelbildenden Lebenslauf modellhaft die Umkehrung von Droysens Biographikkonzept: Nicht mehr die Idee Preußen realisiert sich in der individuellen Bewegungskraft des Einzelnen, sondern die ,preußische Idee‘ ist „Bestandteil des Denk- und Verhaltensmusters“ Adolph Schulzes, des Helden, der gezwungen ist, „sich seine Idee ein ums andere Mal zurechtzulegen.“77 Mit der Rehabilitierung des Psychologen im biographischgeschichtlichen Diskurs des Briest-Romans verwandeln sich die historischen Gestalten in literarische Figuren. Aus dem Biographen ist dann ein Erzhler geworden, der mit Innstetten leidet und um Effi weint. Dass die Forschung 75 „Selbst ein paar orthographische Schnitzer laß ich stehen“, heißt es beispielsweise, „weil sie charakteristisch sind.“ In: HFA III/1, S. 585. 76 HFA III/1, S. 634. 77 Peter Wruck: Fontanes Entwurf „Die Preußische Idee“. In: Fontane Bltter 1982, Band 5, Heft 2 (Heft 34 der Gesamtreihe), S. 174. Weiter heißt es: „Denn der preußische Staat […] macht keine Ideenpolitik, er treibt Realpolitik.“
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Roland Berbig
bis in die Gegenwart hinein nicht widerstehen kann, auf die biographische Pirsch zu gehen, verwundert nicht. Es kann als Zeugnis gelten, in welchem Maße der Erzhler auf den Schultern des Biographen steht oder sich doch von Mal zu Mal dessen Umhang leiht.78
6 „Das Beste des Lebens“, toastet der alte Prokurist in L’Adultera, „[…] sei das Inkognito. Alles, was sich auf den Markt oder auf die Straße stelle, das tauge nichts oder habe doch nur Alltagswert; das, was wirklich Wert habe, das ziehe sich zurck, das berge sich in Stille, das verstecke sich.“79 Im spten Erzhlwerk weit nach Vor dem Sturm angekommen, will es ratsam sein, einen Punkt zu setzen. Das Verhltnis der fiktionalen Biographie zur non-fiktionalen und das der Fiktionalisierung des Biographischen zur Biographisierung im Fiktionalen fhren auf ein Terrain, das dem eiligen Fuß zum Sumpf wird. Das bis jetzt Wahrgenommene ist zu sondieren, noch zu Vermutendes zu fixieren, thesenartig. Mit der Segmentierung biographischer Details zur Poetisierung von geschichtlichen Gestalten hatte sich Fontane in den „Preußenliedern“ eine Basis geschaffen, in der Historie und deren literarischer Verwertung auf eine politische Gegenwart abhoben. Das Verfahren berstand jenen Gegenwartswandel und suggerierte eine Kontinuitt genau dort, wo sie bei Fontane fehlte. Die borussische Schule um Droysen lieferte historische Orientierungs- und Organisationsverfahren, von denen Fontanes literarische Biographik profitierte, mit der er seinen Weg zum ,vaterlndischen Schriftsteller‘, der Preußens deutsche Bestimmung historisch wie poetisch propagierte, beschritt. Seine massive, gattungsberschreitende biographische Arbeit nach 1859/60 integrierte literarische mit journalistischen Intentionen und hatte Anteil daran, ein historisches und zeitgençssisches Personal mit mythen- und legendenbildendem Potential zu rekrutieren. Auf diese Weise leistete Fontane einen literarischen Beitrag zur Historik und einen historischen Beitrag zur Literatur. So weit gekommen, ist die Versuchung, einen Schritt weiterzugehen, bermchtig: Es ist der riskanteste. Wieder als These formuliert: Fontanes 78 Wundern kann im besten Falle, wie weit einzelne Interpreten bereit waren und sind, den biographischen Subtext auszudeuten und Fontanes Bekenntnis zum Reiz des Verborgenen als ein Entrebillet zu einer Welt khnster Mutmaßungen anzusehen. 79 Theodor Fontane: L’Adultera. AFA 3, S. 223.
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anhaltende und ungebrochene Faszination gegenber allem Biographischen zielte auf die eigene Existenz. Ihr letzter Bezug ist die eigene Person. Alle Fixierung von Historie im Makrokosmos von Politik und Kunst80 hatte ihren letzten Grund im Mikrokosmos eigener Lebensbefestigung. Jede biographische Notierung war immer auch autobiographische SelbstbeACHTUNGREstimmung. An dieser Stelle wre ausfhrlich ber Fontanes Vorgehen in seinem Buch Von Zwanzig bis Dreißig zu sprechen, das wesentliche Stationen der eigenen Lebensgeschichte mit einem biographischen Kosmos umgibt, der das uneingelçst bleibende autobiographische Versprechen vergessen macht. Ein Facettenreichtum fremder Lebenslufe wirft sein Licht, in dem der eigene sich nur als Schatten zu erkennen gibt. Die Urteilsentschiedenheit, ob ein Leben geglckt war oder missraten, die Fontane selbst bei engsten (ehemaligen) Freunden wie Bernhard von Lepel nicht scheute, bedeutete gleichermaßen eine Selbstbe- und Verurteilung. Indem Fontane andere Lebenslufe in Biographien verwandelte, ihnen Form und Gestalt gab, fixierte er die eigene Existenz, die bei hohem individuellen Selbstwertgefhl ber lange Jahre sozial angreifbar geblieben war. Fontanes Biographik wies nicht nur anderen ihren Platz zu, sondern war Teil schriftstellerischer Selbstverortung. Der, dem die eigene Existenz beinahe bis ins fnfte Lebensjahrzehnt zu zersplittern drohte, bediente sich fremder Leben, die er in ihrer Modellhaftigkeit wahrnahm und in Wortbilder verwandelte, um zuerst seine Lebenspraxis und dann seine gesamte Persçnlichkeit zu stabilisieren. Wer den Biographen Fontane analysiert, sieht sich unversehens in den engsten Zirkel codierter Selbstbilder versetzt. Ja, mehr noch: Er nhert sich jenem Schlssel, der die Tr fr das Verstndnis çffnet, wie Fontane sich einerseits in den hermetischen Raum seiner DreiZimmer-Wohnung in der Potsdamer Straße 134c unterbringen konnte, um sich andererseits in die Weite des historischen Raumes seines preußischdeutschen Jahrhunderts zu begeben und an dessen Prgung teilzuhaben: als, um mit Peter Wruck zu sprechen, eine Art Achsengestalt.81
80 Die Knstlerbiographien mussten – wie vieles – beiseitegelassen werden. Vgl. Stefan Greif: Tunnelfahrt mit Lichtblick. Fontanes anekdotische Knstlerbiographien. In: Fontane Bltter 65/66 (1998), S. 285 – 299. 81 So in seinem Vortrag anlsslich des letzten von der Humboldt-Universitt zu Berlin (Institut fr deutsche Literatur) veranstalteten „Fontane-Tages“, der, von Wruck 1988 initiiert, im Juni 1997 stattfand, seiner Verabschiedung gewidmet war und danach nicht weiter fortgesetzt werden konnte.
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„Was man nicht alles erleben kann!“ Biographisches und autobiographisches Erzhlen bei Theodor Fontane
Jrgen Lehmann „Was? wie? ’ne Biographie? Und Gott bewahre, Bloß bis zum zwçlften Jahre. Was man nicht alles erleben kann!“ Nehmen Sie’s trotzdem freundlich an.1
Mit diesen Versen bermittelt Theodor Fontane am 1. Dezember 1893 dem befreundeten Regisseur und Kritiker Otto Brahm seine kurz zuvor fertiggestellte Autobiographie Meine Kinderjahre, mit der er – ebenso wie mit den fnf Jahre spter vollendeten Erinnerungen Von Zwanzig bis Dreißig – am Beispiel von Kindheit und Jugend das eigene Leben erzhlend zu berblicken und zu bilanzieren gedenkt. Die wenigen Verse sind nicht nur Dedikation und Ankndigung; vielmehr artikulieren sie eine gewisse Skepsis gegenber der Gattung Autobiographie, und sie antizipieren die zçgerliche Rezeption dieser lebensgeschichtlichen Schriften, denn Fontanes anschließende Bitte um freundliche Aufnahme erweist sich in der Rckschau als nicht ganz unberechtigt, ist doch die Darstellung von Erlebtem in Gestalt von Biographien und Autobiographien von seinen Lesern, auch von den Literaturwissenschaftlern, wenn nicht ignoriert, so doch eher beilufig wahrgenommen worden. Das reduzierte Interesse muss erstaunen, denn die Darstellung von Lebenslufen macht einen nicht geringen Teil des Fontaneschen Werkes aus. Fontane hat umfassend und kenntnisreich ber sich und andere geschrieben, in den vielen Briefen, in den England und Frankreich betreffenden Reisebeschreibungen und Kriegsberichten wie Jenseits des Tweed, Kriegsgefangen oder Erlebtes, in den berhmten Wanderungen durch die Mark Brandenburg. Die fr Fontanes Erzhlprosa so wichtige individualisierende Charakterisierung von rumlichen und zeitlichen Segmenten, von Regionen und 1
Zit. nach: Theodor Fontane. Autobiographische Schriften. Band I. Meine Kinderjahre. Berlin und Weimar 1982, S. 213.
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Epochen, geschieht nicht selten mit Hilfe von lebensgeschichtlichen Darstellungen, beispielhaft demonstriert in den Wanderungen, wo die Profilierung einer Region und ihrer Geschichte im Rahmen eines vielstimmigen, verschiedenste Gattungen und Sprachformen kunstvoll miteinander verbindenden Erzhlens geschieht, eines Erzhlens, das eben auch dem Portrt und der Biographie breiten Raum gibt. Am deutlichsten und umfassendsten zeigt sich diese Vorliebe fr das lebensgeschichtliche Erzhlen natrlich in den biographischen und autobiographischen Schriften der letzten Lebensjahre, die nicht nur Lebenslufe wiedergeben, sondern diese aus der Perspektive des Alters zu deuten versuchen. Das betrifft kleinere Schriften wie Kritische Jahre – Kritikerjahre oder das sog. Wangenheimkapitel, insbesondre aber die 1892/93 bzw. 1894 – 96 entstandenen Autobiographien Meine Kinderjahre und Von Zwanzig bis Dreißig. Beide Autobiographien sind in mehrfacher Hinsicht von Interesse, und zwar biographisch, historisch, gattungsgeschichtlich: Sie erlauben umfassende Einblicke in Fontanes Lebensgeschichte, vermitteln detaillierte Informationen ber das gesellschaftliche und literarische Leben in Deutschland um die Mitte des 19. Jahrhunderts und sie demonstrieren Spezifika der Gattungsentwicklung im 19. Jahrhundert. Ausgangspunkt dieses autobiographischen Schreibens whrend der 90er Jahre ist wie so oft in der Geschichte der Autobiographie eine existenziell bedeutsame Lebenssituation. Gerade genesen von schwerer Krankheit und doch nicht frei von Todesahnungen fhlt sich der 73-jhrige Fontane 1892 bemßigt, erinnernd Bilanz zu ziehen und der Nachwelt sein Leben so zu prsentieren, wie er es am Ende seiner Tage sieht bzw. sehen will – ein Unterfangen, das dem „total gebrochenen Mann“ (so im Brief an Georg Friedlaender vom 1. November 1892)2 noch einmal Kraft und Lebensmut gibt, laut Tagebuchnotiz von 1892: […] aber allmhlich begann ich mich zu erholen und war Anfang November so weit wiederhergestellt, daß ich mit dem Niederschreiben einer „Biographie“von mir, oder doch eines Bruchstckes, beginnen konnte. Ich whlte „meine Kinderjahre“ (bis 1832) und darf sagen, mich an diesem Buch wieder gesund geschrieben zu haben. Ob es den Leuten gefallen wird, muß ich abwarten, mir selbst habe ich damit einen großen Dienst getan.3
Was im November 1892 mit den Kinderjahre(n) beginnt und mit der Verçffentlichung der zweiten Autobiographie Von Zwanzig bis Dreißig am 2 3
Theodor Fontane: Briefe an Georg Friedlaender. Hg. und erlutert von Kurt Schreinert. Heidelberg 1954, S. 195. GBA Tagebcher. 1866 – 1882. 1884 – 1898. 1995, S. 258.
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10. Juni 1898 seinen Abschluss findet, ist im 19. Jahrhundert nichts Ungewçhnliches, hat doch das Schreiben von Autobiographien das literarische Leben in dieser Zeit maßgeblich mitbestimmt, und zwar in viel strkerem Maße als die Literaturwissenschaft lange angenommen hat. Nicht zuletzt auf Grund einer intensiven Rezeption von Goethes Autobiographie Dichtung und Wahrheit, die ja erstmals intensiv und umfassend die Geschichte eines Ich im Spannungsfeld von individueller Anlage und geschichtlicher Entwicklung gestaltet hatte, entsteht seit den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts eine Flle von Selbstdarstellungen, die das eigene Leben im Kontext dieses Verhltnisses von Ich und Welt als sinnhaftes Ganzes zu deuten versuchen.4 Dabei sind zwei Schwerpunktbildungen erkennbar, die im Hinblick auf die beiden Fontane-Autobiographien von besonderem Interesse sind. Das ist zum einen die bevorzugte Darstellung der eigenen Kindheit, z. B. bei Autoren wie Justinus Kerner (Das Bilderbuch aus meiner Knabenzeit), Bogumil Goltz (Buch der Kindheit), Karl Gutzkow (Aus der Knabenzeit) oder Friedrich Hebbel (Aufzeichnungen aus meinem Leben), deren berhandnehmen u. a. Gottfried Keller zu einer harschen Kritik an der „Mode der Knabengeschichten“ veranlasst hat5. In solchen Texten erscheint die Kindheit zum einen als eine entscheidende, auf das gesamte Leben vorausweisende Entwicklungs- und Sozialisationsphase und zum anderen als positive Alternative zur negativ gesehenen Erwachsenenwelt. Im Vordergrund steht die beschreibende Darstellung von Zustnden und Eigenschaften des Ich und seiner unmittelbaren Umgebung, die historiographische Komponente ist eher angedeutet. Der andere Typus ist der der historiographisch orientierten Autobiographie, reprsentiert durch Texte von Karl Immermann (Memorabilien), Joseph von Eichendorff (Erlebtes), Georg Gottfried Gervinus (G. G. Gervinus Leben. Von ihm selbst) u. a. Texte wie diese gestalten das eigene Leben vornehmlich als Schnittpunkt verschiedener Zeitstrçmungen; ihre Autoren wollen, wie Karl Immermann im Vorwort zu seiner Autobiographie ankndigt, „nur erzhlen, wo die Geschichte ihren Durchzug durch mich hielt.“6 Zu den besonderen Merkmalen dieses zweiten Typus gehçrt das erklrte Streben nach objektiver Darstellung der Lebenswelt – m. a. W. im Vordergrund steht nicht unbedingt das au4 5 6
Vgl. dazu: Jrgen Lehmann: Bekennen – Erzhlen – Berichten. Studien zu Theorie und Geschichte der Autobiographie. Tbingen 1988, S. 184 ff. Gottfried Keller: Gesammelte Briefe in vier Bnden. Hg. von Carl Helbling. Bd. 1. Bern 1950, S. 374 – 375. Karl Immermann: Werke in fnf Bnden. Hg. von Benno v. Wiese. Band 4. Frankfurt am Main 1973, S. 374.
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tobiographische Subjekt, sondern das dessen Lebensweg bestimmende soziale und historische Umfeld, u. a. die diesen Lebensweg prgenden Personen. Fontanes Autobiographien sind beiden Typen verpflichtet, wobei das Verhltnis von Selbstbekenntnis und Historiographie jeweils verschieden ausgeprgt ist. In den Kinderjahre(n) konzentriert sich Fontane auf das eigene Ich sowie auf dessen unmittelbare rumliche und soziale Umgebung, also auf das Elternhaus, auf Eltern und Bedienstete, auf die Kleinstadt Swinemnde und ihre Bewohner etc. In Von Zwanzig bis Dreißig hingegen dominiert die historiographische Komponente, der dargestellte geographische und soziale Raum erfhrt eine betrchtliche Erweiterung (Berlin, Dresden, Leipzig, England). Die Lebensgeschichte ist nun auch Sozial- und Literaturgeschichte, insbesondere im Rahmen der umfnglichen Darstellung der Berliner literarischen Gesellschaft „Tunnel ber der Spree“, der Fontane seit dem 29. September 1844 als Mitglied angehçrte. Zugleich ist aber auch diese Autobiographie in hohem Maße Bekenntnis und Selbststilisierung. Trotz dieser unterschiedlichen Akzentuierung des Verhltnisses von Ich und Welt nehmen beide Autobiographien das ganze Leben in den Blick, weder in den Kinderjahre(n) noch in Von Zwanzig bis Dreißig geht es allein um die Wiedergabe eines begrenzten Lebensabschnittes. Vielmehr unternimmt Fontane mit diesen zwei spten Schriften den Versuch, das eigene Leben fr sich und andere als ein Ganzes erfahrbar zu machen, am Beispiel ausgewhlter Entwicklungsphasen die fr dieses Lebensganze bestimmenden Voraussetzungen und Gesetzmßigkeiten deutend zu artikulieren. Wie wichtig diese Intention fr ihn war, bezeugen die jeweiligen Vorreden, die – wenn auch verschieden argumentierend – darauf verweisen, dass sowohl die Kinderjahre als auch Von Zwanzig bis Dreißig auf das Ganze des Lebens bezogen sind.7
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So schreibt Fontane im Vorwort zu den Kinderjahre(n): „Ein verstorbener Freund von mir (noch dazu Schulrat) pflegte jungverheirateten Damen seiner Bekanntschaft den Rat zu geben, Aufzeichnungen ber das erste Lebensjahr ihrer Kinder zu machen, in diesem ersten Lebensjahre ,stecke der ganze Mensch‘. Ich habe diesen Satz besttigt gefunden und wenn er mehr oder weniger auf Allgemeingltigkeit Anspruch hat, so darf vielleicht auch diese meine Kindheitsgeschichte als eine Lebensgeschichte gelten.“ In: HFA III/4, S. 9.
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Das aber bedeutet, dass diese Texte nicht plane Abschilderungen von Lebenslufen, sondern literarische Konstruktionen sind8, dass nicht kontinuierlich erzhlt wird, sondern dass die zeitliche Abfolge der erinnerten Sachverhalte immer wieder aufgebrochen bzw. umgestellt wird. Wie in jeder anspruchsvollen Autobiographie bringt also auch Fontane sein vergangenes Leben in die Ordnung einer Geschichte, deren Gestaltung nicht allein dem Erinnerungsvermçgen des Autobiographen, sondern auch seinen Deutungen, seinen kommunikativen Intentionen und sprachknstlerischen Zwngen verpflichtet ist. Diese Tendenz zur deutenden Gestaltung des eigenen Lebens will ich im Folgenden am Beispiel der bereits genannten Autobiographie Von Zwanzig bis Dreißig aufzeigen. Dabei soll erkennbar werden, dass sie sich in hohem Maße einem ausgeprgten Willen zur Selbststilisierung verdankt, in deren Rahmen das dargestellte Leben als Schriftstellerleben legitimiert werden soll, fr den Autobiographen ebenso wie fr eine in diesem Text unbersehbar prsente literarische ffentlichkeit. Bestimmend fr eine solche deutende Rekonstruktion des eigenen Lebens ist neben den genannten Aspekten ein spezifisches Verhltnis von Teil und Ganzem, das erinnerte und erzhlte einzelne Faktum steht nicht fr sich, sondern erscheint im Rahmen von Symbolisierungen immer wieder als bedeutungsgeladenes, das vergangene Leben reprsentierendes und strukturierendes Erlebnis. Fontane hat gerade dieses Prinzip autobiographischen Schreibens zum prgenden Konstruktionsfaktor gemacht, wesentliche fr seine Autobiographien charakteristische Erzhlverfahren haben hier ihren Ursprung: die oft, vor allem in Bezug auf die Kinderjahre, von der Literaturkritik monierte Detailmalerei, die Anekdote, das Gesprch, die Biographie in der Autobiographie, die reflektierende Abschweifung. Von Zwanzig bis Dreißig ist zwischen dem November 1894 und dem Frhjahr 1896 entstanden; erstmals als Ganzes erschien die Autobiographie am 10. Juni 1898. Einzelne Kapitel waren bereits zuvor in Zeitschriften bzw. Zeitungen verçffentlicht worden, u. a. das „Tunnel“-, das Lepel- und das Leipzig-Kapitel, allerdings in vernderter und verkrzter Form (z. B. das „Tunnel“-Kapitel in der Deutsche(n) Rundschau). Die Autobiographie ist Selbstportrt, Bekenntnis, Rckschau und – wie die erwhnte Einleitung ankndigt – auch Bilanz eines ganzen Lebens, selbst wenn die Darstellung nur einer bestimmten Phase dieses Lebens gewidmet 8
Darauf verweist Fontane ebenfalls im Vorwort zu den Kinderjahren(n), und zwar mit der Bemerkung, dass diese Autobiographie auch als Roman betrachtet werden kçnne. Vgl. HFA III/4, S. 9.
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ist. Wie der Titel schon andeutet, erzhlt die Autobiographie Fontanes Entwicklung vom Ende der Apothekerlehre 1839 bis zur Verheiratung am 16. Oktober 1850. Der umfangreiche Text besteht aus acht Teilen, die ihrerseits wiederum in einzelne Kapitel untergliedert sind. Fontane beschreibt die wichtigsten Stationen seiner Entwicklung whrend dieser Zeit, seine Ttigkeit als Apotheker in Berlin, Leipzig und Dresden, die erste Englandreise, den Militrdienst, das Wirken in verschiedenen literarischen Vereinigungen, vor allem im bereits genannten Berliner „Tunnel ber der Spree“, die nicht gerade ruhmvolle Teilnahme an der Revolution von 1848, den Aufenthalt als Apotheker im Diakonissenstift Bethanien. Von Zwanzig bis Dreißig endet genau an dem Punkt des Lebens, der fr Fontanes weitere Existenz von entscheidender Bedeutung sein wird, nmlich mit dem Entschluss zu heiraten und knftig nicht mehr als Apotheker, sondern als Schriftsteller ttig zu sein. Den Willen zur deutenden Gestaltung dieser Lebensphase realisiert Fontane mit erstaunlicher Konsequenz, erkennbar zum einen an der hohen Selbstreflexivitt des Textes und zum anderen an seiner kunstvollen Strukturierung, auf deren leitende Prinzipien – Selektion, Kombination, Relationierung, Rckblick und Vorausdeutung – der Autobiograph stndig selbst aufmerksam macht, mit Formulierungen wie „[darber] sprche ich gern, versage mir’s aber“9, „ich werde weiterhin darber zu berichten haben, unterbreche mich hier aber, um hier zunchst das einzuschieben“10, „[e]s schien mir wnschenswert dies vorauszuschicken“11 usw. Fontane reflektiert stndig und ungewçhnlich intensiv Voraussetzungen, Ordnungsverfahren und Formen seines autobiographischen Schreibens, bis hin zur Rechtfertigung von stilistischen Abweichungen und Variationen, z. B. den bergang vom Erzhlen zum ,prosaischen Berichten‘ bei der Wiedergabe der Mrzrevolution von 1848 oder bei der Begrndung des anekdotischen Erzhlens innerhalb der Autobiographie. M. a. W. der Autobiograph Fontane stellt sich auch mit diesem Text als Schriftsteller vor, der damit demonstrieren will, dass er nicht nur weiß, wovon er spricht, sondern auch, wie darber zu schreiben ist. Fontane gestaltet auf diese Weise geradezu virtuos das fr die Gattung Autobiographie konstituente, zwischen Distanz und Identifizierung changierende Verhltnis von erinnertem und sich erinnerndem Ich, artikuliert reflektierend immer wieder die Spannung zwischen Einzelfaktum und dessen Bedeutung fr das Lebensganze, eine Spannung, welche die 9 HFA III/4, S. 529. 10 HFA III/4, S. 496. 11 HFA III/4, S. 488.
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Einzelerfahrung in der erinnernden Rckschau zum fr das ganze Leben bedeutsamen Ereignis macht. Der Wille zur Selbststilisierung als Schriftsteller bestimmt nun auch die erzhlende Darstellung des eigenen Lebens, auf die Vielfalt der dabei verwendeten Verfahren und auf die Differenziertheit ihrer Anwendung kann ich hier nur ansatzweise aufmerksam machen. Orientiert am Thema des Bandes werde ich mich ausfhrlicher nur zum Aspekt Biographie in der Autobiographie ußern. Erkennbar ist der knstlerische Gestaltungswille bereits an der oben skizzierten Makrostruktur. Von Zwanzig bis Dreißig beginnt mit Hinweisen auf das literarische Debut des gerade dem Lehrlingsstatus entronnenen Apothekers Fontane und endet mit dem Entschluss des frisch verheirateten Dreißigjhrigen, sich ganz der Schriftstellerei zu widmen. Der Schluss der Autobiographie erfhrt dabei insofern eine besondere Markierung als er mit der Darstellung eines Festes, also eines aus dem Alltagsleben herausgehobenen, besonderen Ereignisses verbunden wird. Anfangs- und Endpunkte des erzhlten Lebens sind also identisch mit Schwellensituationen, von denen die letzte lebensentscheidend sein wird – eine gestalterische Akzentuierung, die in der deutschen Autobiographik des 19. Jahrhunderts immer wieder begegnet (u. a. bei Goethe, dessen Autobiographie Dichtung und Wahrheit mit dem Aufbruch nach Weimar endet, oder bei Gervinus, der seine Lebensbeschreibung mit der Eheschließung und mit der fr ihn folgenreichen Berufung auf eine Professur in Gçttingen ausklingen lsst). Insbesondere von diesem Endpunkt her gestaltet der alte Fontane seine Jugendgeschichte: Bestimmend ist die Intention, die Grundlagen und Voraussetzungen der eigenen Entwicklung zum Schriftsteller aufzuzeigen. Das erklrt die umfngliche Prsentation eigener und fremder literarischer Werke, deren detaillierte Charakterisierung und deren differenzierte Wertung. Es erklrt auch, dass der Autobiograph dem literarischen Leben, den dadurch bedingten bzw. motivierten Begegnungen mit Literaten, Verlegern, Kritikern ungewçhnlich breiten Raum gibt. Und es erklrt schließlich, dass der in Von Zwanzig bis Dreißig vorgestellte Lebensabschnitt als die Zeit der Suche nach Orientierung, als die Zeit des Fragens nach der eigentlichen Bestimmung erscheint, geprgt von der Ungewissheit, ob die brgerliche Laufbahn als Apotheker oder die ungesicherte Existenz als Knstler das fernere Leben bestimmen soll – eine Problematik, die in der die Autobiographie beschließenden Darstellung des Hochzeitstages mit ungewçhnlicher Intensitt akzentuiert wird:
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Am 15. Oktober war Polterabend gewesen, am 16. war Hochzeit. Ich habe viele hbsche Hochzeiten mitgemacht, aber keine hbschere als meine eigne. Da wir nur wenig Personen waren, etwa zwanzig, so hatten wir uns auch ein ganz kleines Hochzeitslokal ausgesucht und zwar ein Lokal in der Bellevuestraße – schrg gegenber dem jetzigen Wilhelmsgymnasium –, das „Bei Georges“ hieß und sich wegen seiner „Spargel und Kalbkoteletts“ bei dem vormrzlichen Berliner eines großen Ansehens erfreute. Dem Gastmahl voraus ging natrlich die Trauung, die zu 2 Uhr in der Fournierschen Kirche, Klosterstraße, festgesetzt worden war. Alles hatte sich rechtzeitig in der Sakristei versammelt, nur mein Vater fehlte noch und kam auch wirklich um eine halbe Stunde zu spt. Wir waren, um Fourniers willen, in einer tçdlichen Verlegenheit. Er aber, ganz feiner Mann, blieb durchaus ruhig und heiter und sagte nur zu meiner Braut: „Es ist vielleicht von Vorbedeutung, – Sie sollen warten lernen.“ Und nun waren wir getraut und fuhren in unsrer Kutsche zu „Georges“, wo in einem kleinen Hintersaal, der den Blick auf einen Garten hatte, gedeckt war. […] Schultz brachte sehr reizend den Toast auf das Brautpaar aus und was das Reizendste fr mich war, war, daß ein Brutigam nicht zu antworten braucht. Ich beschrnkte mich auf Kuß und Hndedruck und aß ruhig und ausgiebig weiter, was, wie ich gern glaube, einen ziemlich prosaischen Eindruck gemacht haben soll. Als mir Schultz eine Weile schmunzelnd zugesehen hatte, sagte er zu meiner Frau: „Liebe Emilie, wenn der so fort fhrt, so wird seine Verpflegung Ihnen allerhand Schwierigkeiten machen.“ Diese Schwierigkeiten waren denn auch bald da: schon nach anderthalb Monaten flog meine ganze wirtschaftliche Grundlage, das „Literarische Bureau“, in die Luft. Ich hatte, wie schon angedeutet, geglaubt im Hafen zu sein und war nun wieder auf strmischer See.12
Das Zitat demonstriert eindrucksvoll Fontanes Bemhen, das Einzelerlebnis zum bedeutungsgeladenen Ereignis zu verdichten. Die Passage ist nicht nur launiger Festbericht, sondern ein erzhlerisch besonders markierter Schlusspunkt, der Vergangenes und Zuknftiges berschauend miteinander verschrnkt, wobei insbesondre der Hinweis auf Letzteres auf Grund seiner Vielstimmigkeit eine kunstvolle Akzentuierung erfhrt. Vorbereitet durch das Motiv des Zusptkommens verweist der Autobiograph gleich dreimal und verteilt auf drei Sprecherinstanzen auf Erwartbares: in der Bemerkung des Pfarrers Fournier ber das Warten-Lernen, im scherzhaften Kommentar des Freundes Schulz zum Problem der Sttigung und schließlich in der das Ganze beschließenden Vorausdeutung des Autobiographen auf das weitere, auch durch Umwege, Irrtmer und Fehlschlge geprgte Knstlerleben. Solcherart differenzierter Markierung von Anfang und Schluss korrespondiert die sorgfltige Gestaltung der beide Pole verbindenden 12 HFA III/4, S. 537 – 539.
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lebensgeschichtlichen Ablufe. Auch diese, die sie bestimmenden Erlebnisse, Sachverhalte und Begegnungen, werden deutend gestaltet, wobei diese Gestaltung nicht der Konstruktion, sondern der Rekonstruktion eines sinnhaften Lebens, nicht der Sinnstiftung, sondern der Sinnfindung dient, fr den Autobiographen ebenso wie fr seine Leser. Strukturbildend sind dabei u. a. das anekdotische und das bildhaft verdichtende Erzhlen. Beispielhaft demonstrieren letzteres z. B. Passagen aus dem der Mrzrevolution gewidmeten Kapitel, die ironisch und kritisch von Waffenbeschaffung und Barrikadenbau berichten: Es ging ber den Alexanderplatz weg auf das Kçnigsstdter Theater zu, das alsbald wie im Sturm genommen wurde. Man brach aber nicht von der Front, sondern von der Seite her ein und besetzte hier, whrend einige, die Bescheid wußten, bis in die Garderoben und Requisitenkammern vordrangen, einen Vorraum […]. Mittlerweile hatten die weiter in den Innenraum Eingedrungenen all das gefunden, wonach sie suchten und in derselben Weise wie sich beim Hausbau die Steintrger die Steine zuwerfen, wurde nun, von hinten her, alles zu uns herber gereicht: Degen, Speere, Partisanen und vor allem kleine Gewehre, wohl mehrere Dutzend. Wahrscheinlich – denn es gibt nicht viele Stcke, drin moderne Schußwaffen massenhaft zur Verwendung kommen – waren es Karabiner, die man fnfzehn Jahre frher in dem beliebten Lustspiele: „Sieben Mdchen in Uniform“ verwandt hatte, hbsche kleine Gewehre mit Bajonett und Lederriemen, die, nachdem sie den theaterfreundlichen, guten alten Kçnig Friedrich Wilhelm III. manch liebes mal erheitert hatten, jetzt, statt bei Lampenlicht, bei vollem Tageslicht in der Welt erschienen, um nun gegen ein total unmodisch gewordenes und dabei, ganz wie ein „altes Stck“, ausschließlich langweilig wirkendes Regiment ins Feld gefhrt zu werden. […] Und so trat ich denn auch wirklich an unsere Barrikade heran, die sich mittlerweile zwar nicht nach der fortifikatorischen, aber desto mehr nach der pittoresken Seite hin entwickelt hatte. Riesige Kulissen waren aus den Theaterbestnden herangeschleppt worden und zwei große Berg- und Waldlandschaften […].13
Im Bild der mit Theaterrequisiten bewaffneten Kmpfer und der aus Theaterkulissen gebauten Barrikaden wird die Revolution als unbedachtes Spiel, als Inszenierung von illusionren Vorstellungen gedeutet, erscheint das eigene revolutionre Engagement als Scheinhandlung eines unfertigen, impulsiv reagierenden jungen Mannes. Die Passage belegt darber hinaus einmal mehr, dass Fontane in Von Zwanzig bis Dreißig historische Ereignisse zugunsten einer umfassenden Selbstdeutung und Selbstprofilierung gestaltend wiedergibt.14 13 HFA III/4, S. 492ACHTUNGRE–493. 14 Vgl. dazu: Hubertus Fischer: Theodor Fontanes Achtzehnter Mrz. Neues zu einem alten Thema. In: Fontane Bltter 65 – 66 (1998), S. 163 – 187.
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Das zweite der genannten Verfahren betrifft die Verwendung der Anekdote. Da dieses Genre in anderen Beitrgen dieses Bandes noch mehrfach behandelt wird, werde ich mich auf Anmerkungen beschrnken. Die Anekdote gehçrt bekanntlich zu den Charakteristika der Erzhlprosa Fontanes, und auch in den beiden Autobiographien wird mit ihrer Hilfe der Erzhlfluss modifiziert, belebt und konkretisiert, wird Geschichte in Gestalt einer ,singulren Historiographie‘ prsentiert.15 Das Verfahren ist fr Fontane so wichtig, dass er dessen Verwendung in Von Zwanzig bis Dreißig eigens legitimiert: Aus einer langen Erfahrung weiß ich nur zu gut, wie gefhrlich es ist, Anekdotisches, das sich im Leben ganz nett ausnahm, hinterher literarisch verwenden zu wollen. Und ist es nun gar Anekdotisches „in eigner Sache“, so wird die Gefahr noch grçßer. Trotzdem habe ich der Versuchung nicht widerstehen kçnnen und rechne auf die Zustimmung derer, die mit mir davon ausgehen, daß eine Menschenseele durch nichts besser geschildert wird, als durch solche kleinen Zge. Schon das Sprichwort sagt: „an einem Strohhalme sieht man am deutlichsten, woher der Wind weht“.16
Wie schon in den Wanderungen durch die Mark Brandenburg wird die anekdotische Miniatur auch in den Autobiographien zur Typisierung und Charakterisierung und zur Selbstdarstellung eingesetzt. Darber hinaus erhlt die Anekdote eine wichtige Funktion bei der Gestaltung des Verhltnisses von Einzelnem und Ganzem. Das Kleine, das Begrenzte konkretisiert ein Allgemeines, dient darber hinaus der Unterhaltung und befçrdert die Rezeption. Geschichte, auch Lebensgeschichte wird so erfahrbar aus Einzelgeschichten. Die Erwhnung der Anekdote war unverzichtbar, weil sie die in Von Zwanzig bis Dreißig dominierende Erzhlstrategie maßgeblich prgt, also die Verschrnkung von Biographie und Autobiographie. Ihre Verwendung in diesem Zusammenhang legitimiert Fontane zu Beginn des „Tunnel“-Kapitels mit folgenden Worten. Der den [im „Tunnel“-Kapitel, J. L.] verschiedenen Personen zugeteilte Raum ist also sehr verschieden bemessen; aber ob kurz oder lang, berall bin ich darauf aus gewesen, mehr das Menschliche als das Literarische zu betonen. Daher die 15 In Bezug auf die Kinderjahre vgl. dazu: Katrin Lange: Merkwrdige Geschichten. Anekdoten in Fontanes Kindheitsautobiographie. Meine Kinderjahre, Geschichten und Geschichte. In: Theodor Fontane. Am Ende des Jahrhunderts. Internationales Symposium des Theodor-Fontane-Archivs zum 100. Todestag Theodor Fontanes. 13.–17. September in Potsdam. Hg. von Hanna Delf von Wolzogen in Zusammenarbeit mit Helmuth Nrnberger. Wrzburg 2000. Band III, S. 77 – 86. 16 HFA III/4, S. 477 – 478.
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vielen kleinen Anekdoten und Geschichten, die sich aller Orten eingestreut finden.17
Auf Grund dieser ,Vermenschlichung‘ ist die Anekdote auch Bestandteil der biographischen Einschbe, die der Autobiographie Von Zwanzig bis Dreißig am strksten ein besonderes Profil verleihen. Fontane scheint sich auch hier zunchst an der Gattungsentwicklung zu orientieren, ist doch die Integration der z. T. recht umfangreichen Biographien von Verwandten, Lehrern und Freunden in der historiographisch ausgerichteten Autobiographik des 19. Jahrhunderts nichts Ungewçhnliches. Bei Fontane erhlt diese ,Zuteilung von Raum an verschiedene Personen‘ jedoch eine neue Qualitt, in Bezug auf Zahl und Umfang der Biographien ebenso wie hinsichtlich der Funktion dieser Einschbe. Fontane beschreibt Verwandte wie seinen Onkel August und die Tante Pinchen, Vorgesetzte wie die Apotheker Rose in Berlin oder Struve in Dresden, Jugendfreunde wie Wilhelm Wolfsohn und Fritz Esselbach, vor allem aber die fr seinen literarischen Werdegang wichtigen Personen wie Theodor Storm, Bernhard von Lepel sowie die hier im Einzelnen nicht benennbaren Mitglieder der literarischen Vereine Herwegh-Klub, PlatenVerein und „Tunnel ber der Spree“. Das geschieht so ausfhrlich, dass diese Passagen mehr als die Hlfte des Textes beanspruchen. Diese Dominanz einer anderen Gattung droht immer wieder die Selbstdarstellung in den Hintergrund zu drngen, insbesondre in den fast ausschließlich aus Biographien bestehenden Ausfhrungen zum „Tunnel ber der Spree“. Allein in diesem Teil portrtiert Fontane ca. 15 Mitglieder des Vereins. Diese Dominanz der Biographie ist freilich gewollt, und zwar vor allem auf Grund von zwei Intentionen bzw. Funktionen: zum einen begrndet gerade sie den anfangs erwhnten historiographischen Charakter der Autobiographie und zum anderen dient auch sie der verdeckten Profilierung des dargestellten Lebens zum Schriftstellerleben. Was die historiographische Komponente betrifft, so hat Fontane selbst auf sie verwiesen. Laut brieflicher ußerung gegenber dem Verleger Rodenberg wollte er mit der Vielfalt der Biographien die „Buntheit der Gesellschaft“18 demonstrieren. Und in der Tat darf Von Zwanzig bis Dreißig gerade auf Grund der in diesen Passagen gestalteten spezifischen Vermittlung von Ich und Welt als ungemein informatives historiographisches Dokument, als eine besonders differenzierte Form subjektiver Geschichts17 HFA III/4, S. 329. 18 Theodor Fontane: Briefe an Julius Rodenberg. Eine Dokumentation. Berlin, Weimar 1969, S. 87.
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schreibung verstanden werden. Denn die von Fontane in den einzelnen biographischen Skizzen vorgestellten Personen erscheinen nicht allein als Individuen, sondern auch als Reprsentanten sozialer Schichten und bestimmter Epochen. „Das Preußentum von 1813 ließ sich ganz wundervoll an ihm studieren“19, heißt es z. B. ber den preußischen Hofmaler Wilhelm Hensel, Heinrich Smidt, ein weiteres „Tunnel“-Mitglied, wird als Musterexemplar der Gattung faux bonhommes vorgestellt, die Abende bei Wilhelm von Merckel gelten als Inbegriff Altberliner Salonkultur. Aus der detaillierten Wiedergabe von Verhaltensformen, Rollenverstndnis, Handlungsablufen, im beruflichen Alltag ebenso wie auf Festen und Treffen der erwhnten literarischen Gesellschaften, aus den dort gefhrten Gesprchen und Diskussionen ergibt sich ein anschauliches Bild gesellschaftlicher Strukturen und Beziehungen in Preußen und Sachsen um die Mitte des 19. Jahrhunderts, kulminierend im bereits erwhnten Kapitel ber die MrzRevolution von 1848. Historiographie ist Von Zwanzig bis Dreißig natrlich auch in Bezug auf die Literatur. Literarische Reminiszenzen spielen in beiden Autobiographien Fontanes eine wichtige Rolle, doch Von Zwanzig bis Dreißig ist geradezu gesttigt damit. Das ist nicht verwunderlich bei einem Autor, der sich in und mit seiner schriftlichen Selbstdarstellung noch einmal als Knstler profilieren will. Literaturgeschichtlichen Wert besitzen nicht nur die aus erster Hand kommenden Aussagen ber die Entwicklung des Dichters Theodor Fontane, sondern auch die im Rahmen der Biographien vermittelten Informationen ber das literarische Leben in Berlin, Leipzig und Dresden, die z. T. ausfhrlichen Charakterisierungen von Dichterkollegen sowie die in diesem Kontext formulierten sthetischen und dichtungstheoretischen Reflexionen. Auf diese Weise prsentiert sich die Autobiographie auch als eine kleine Sozialgeschichte der deutschen Literatur im 19. Jahrhundert, welche anschaulich und detailliert die gesellschaftlichen Voraussetzungen der Produktion und der Rezeption von Literatur in den Blick bringt. In den biographischen Abschnitten seiner Autobiographie erweitert Fontane seine Knstlerautobiographie zu einer umfassenden Studie ber das Verhltnis von Kunst und brgerlicher Lebenswelt, ber die vielfltigen, vom Bildungsbrgertum meist erfolglos unternommenen Versuche, Kunst und Leben zu verschrnken. In diesem Zusammenhang darf Von Zwanzig bis Dreißig vor allem als eine ungemein informative Darstellung des literarischen Dilettantismus im 19. Jahrhundert betrachtet werden. Das Dilettieren, also das Ausben einer Kunst durch Nichtfachleute zum Vergngen, war 19 HFA III/4, S. 425.
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zu dieser Zeit weit verbreitet, fr die durch Fontane in seiner Autobiographie behandelte Epoche konstatiert die Literaturwissenschaft sogar das Erblhen einer bildungsbrgerlichen Dilettanten-Kultur. Die sich mit den literarischen Vereinen befassenden Kapitel demonstrieren geradezu beispielhaft die sozialen, kulturellen und biographischen Voraussetzungen und die vielfltigen Erscheinungsformen einer solchen Dilettanten-Kultur. Die besondere Qualitt dieses biographischen Schreibens ergibt sich freilich aus der zweiten der genannten Funktionen bzw. Intentionen, also aus der Profilierung des eigenen Lebens zum Schriftstellerleben. Vornehmlich sie bestimmt Umfang und Art der Auswahl der biographischen Fakten, vornehmlich sie ist verantwortlich fr Spezifika der biographischen Darstellung, z. B. fr die Neigung, bestimmte Personen wie die Westfalen Kriege und Schauenburg kontrastierend und typisierend vorzustellen. Wohlberlegt sind bereits Art, Auswahl und Zuordnung der dargestellten Figuren. Fontane beginnt den Reigen der Biographien mit dem fr die Entwicklung der eigenen ernstzunehmenden Dichtung wichtigen Balladendichter Moritz von Strachwitz und beschließt ihn mit einer liebevollen Charakteristik des Wilhelm von Merck, der den lebensbestimmenden Entschluss zu Heirat und Schriftstellerexistenz maßgeblich und positiv beeinflusst hat. Noch strker zeigt sich die subjektive Perspektive bei der Gestaltung der betreffenden Lebenslufe. Fontane skizziert zunchst mehr oder weniger detailliert den jeweiligen Lebensweg und charakterisiert den Betreffenden am Beispiel bestimmter Verhaltensweisen. Bei fr ihn wichtigen Personen geschieht dies dann durchaus differenziert, selten einseitig wertend, immer wieder auch das Widersprchliche und Ambivalente der Person betonend. Wie so oft in seiner Erzhlprosa whlt er dabei den Weg der indirekten Charakterisierung, z. B. im Rahmen von Gesprchssequenzen, wo sich die dargestellte Person in der Reaktion auf andere zu erkennen gibt, wo sich in der dialogischen Auseinandersetzung mit anderen Personen sowohl die Besonderheit eines Charakters als auch die der von ihm vertretenen Weltanschauung offenbart. Das Spezifische dieser biographischen Darstellungen besteht jedoch darin, dass nicht so sehr die portrtierte Person, sondern die Beziehung des Biographen bzw. Autobiographen Fontane zu ihr im Mittelpunkt steht. Fontane gestaltet die Begegnung mit den in den Biographien vorgestellten Freunden und Schriftstellerkollegen als seine immer wieder neue, besondere Aneignung von Welt, als eine ihn immer wieder bereichernde Erfahrung, wobei er brigens auch nicht diejenigen Beziehungen unterschlgt, die seine Entwicklung gehemmt bzw. gefhrdet haben; das betrifft u. a. diejenigen zu seinem labilen und unsozialen Onkel August. Aus der Gestaltung dieser vielfltigen Beziehungen zu sehr verschiedenen Personen ergibt sich eine
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umfassende und durchaus distanzierte und kritische Selbstdarstellung. Die jeweiligen Reaktionen des jungen Fontane offenbaren Charaktereigenschaften wie Impulsivitt, positiv zu verstehende Neugier, Labilitt etc. Sie verdeutlichen bestimmte Phasen seiner Entwicklung zum Schriftsteller, m. a. W. mit Hilfe dieser biographischen Skizzen spiegelt sich Fontane im Anderen – Ausdruck eines Bemhens um Selbsterkenntnis, das sowohl den dargestellten jungen als auch den darstellenden alten Fontane betrifft. Auch dies geschieht nun außerordentlich kunstvoll und variantenreich, im Rahmen einer wohlkalkulierten Mischung von Erzhlung, Beschreibung, charakterisierender Anekdote und Reflexion. Beispielhaft demonstrieren dies die Theodor Storm gewidmeten Passagen in Von Zwanzig bis Dreißig, die in der Differenziertheit und der sprachlichen Eleganz der Darstellung nicht nur als ein Glanzpunkt der Autobiographie, sondern auch als eine der frhesten, freilich auch umstrittensten Charakterisierungen Storms durch einen Kollegen zu gelten haben.20 Fontane zeichnet zum einen verstndnisvoll und bewundernd ein positives Bild des Menschen und Dichters Theodor Storm, wobei allerdings auffllt, dass vornehmlich der Lyriker und nicht der Novellist Storm gewrdigt wird. Zugleich artikuliert Fontane aber auch sehr deutlich eine mit Hilfe von Anekdoten, Anspielungen und sprachlichen Bildern akzentuierte verletzende Kritik am provinziellen, lebensfernen, allzu liberalen „Romantiker“ Storm, der sein alltgliches Leben in den Augen Fontanes zu sehr an dichterischen Vorlagen und poetischen Vorstellungen ausrichtete, was beispielhaft folgende Anekdote illustriert: Eines Abends saßen wir munter zu Tisch, und die Bowle, die den Schluß machen sollte, war eben aufgetragen, als ich mit einem Male wahrnahm, daß sich unser Freund Merckel nicht nur verfrbte, sondern auch ziemlich erregt unter dem Tisch recherchierte. Richtig, da hockte noch der beltter: einer der kleineren Stormschen Sçhne, der sich heimlich unter das Tischtuch verkrochen und hier unseren kleinen Kammergerichtsrat, vor dem wir alle einen heillosen Respekt hatten, in die Wade gebissen hatte. Storm mißbilligte diesen Akt, hielt seine Mißbilligung aber doch in ganz eigentmlich gemßigten Grenzen, was dann, auf der Rckfahrt, einen unerschçpflichen Stoff fr unsere Coupeeunterhaltung abgab. Schließlich, so viel ist gewiß, werden die Menschen das, was sie werden sollen, und so darf man an derlei Dinge nicht allzu ernste Betrachtungen knpfen; aber das hab’ ich doch immer wieder und wieder gefunden, daß Lyriker, und ganz besonders Romantiker, durch erzieherische Gaben nur sehr ausnahmsweise glnzen.21 20 Vgl. dazu: Peter Goldammer: Storms Werk und Persçnlichkeit im Urteil Th. Fontanes. In: Fontane Bltter Band 1 (1968) Heft 6, S. 247 – 264. 21 HFA III/4, S. 371 – 372.
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Die kleine Episode und die sie beschließende Reflexion charakterisieren zunchst den Erzieher Storm, wobei die Reflexion ber das, ,was die Menschen werden sollen‘ in nicht gerade freundlicher Weise auf Storms sptere Familienprobleme anspielt, insbesondre auf die sehr problematischen Lebenslufe der Sçhne Karl und Hans.22 Darber hinaus werden Fontanes Ausfhrungen aber Bestandteil einer grundstzlichen berlegung ber das Verhltnis von Leben und Dichtung, kulminierend in der kurz vor der Anekdote platzierten, die jeweilige Eigengesetzlichkeit dieser Bereiche betonenden Formulierung: Es soll sich die Dichtung nach dem Leben richten, an das Leben sich anschließen, aber umgekehrt eine der Zeit nach weit zurckliegende Dichtung als Norm fr modernes Leben zu nehmen, erscheint mir durchaus falsch.23
Mit seiner abgrenzenden Kritik an Storm profiliert Fontane seine eigene Position als Mensch und moderner, weltoffener Dichter, eine Tendenz, die im Verlauf dieses Kapitels immer strker wird und schließlich in eine explizite Aussage ber den Gegensatz Storm – Fontane mndet: Wir waren zu verschieden. Er war fr den Husumer Deich, ich war fr die Londonbrcke; sein Ideal war die schleswigsche Heide mit den roten Erikabscheln, mein Ideal war die Heide von Culloden mit den Grbern der Camerons und Mac Intosh. Er steckte mir zu tief in Literatur, Kunst und Gesang […]. Aber was unserer Intimitt, und zwar viel, viel mehr als das verschiedene Maß unseres Interesses an knstlerischen Dingen, im Wege stand, das war das, daß wir auch den Dingen des alltglichen Lebens gegenber gar so sehr verschieden empfanden.24
Im Rahmen solcher fortlaufenden Kontrastierungen schrft der Autobiograph das eigene Profil als moderner und weltoffener Schriftsteller auf Kosten des Kollegen Storm, dessen Weltfremdheit und Antiquiertheit er nicht mde wird zu betonen, gipfelnd in der Beschreibung des von Storm getragenen Shawls: 22 Karl, der jngste Sohn Theodor Storms, endete als erfolgloser Knstler, der lteste Sohn Hans starb als gescheiterter Mediziner und Alkoholiker eineinhalb Jahre vor dem Vater. 23 HFA III/4, S. 371. 24 HFA III/4 S. 372 – 373. Zu dieser den Gegensatz von Metropole und Provinz akzentuierenden Gegenberstellung von „Londonbrcke“ und „Husumer Deich“ vgl. auch: Helmuth Nrnberger: „Der große Zusammenhang der Dinge“. ,Region‘ und ,Welt‘ in Fontanes Romanen. Mit einem Exkurs: Fontane und Storm sowie einem unbekannten Brief Fontanes an Ada Eckermann. In: Fontane Bltter 55 (1993), S. 33 – 68, bes. S. 36 ff.
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Ich seh’ ihn [Storm, J. L.] noch deutlich vor mir. Er trug leinene Beinkleider und leinene Weste von jenem sonderbaren Stoff, der wie gelbe Seide glnzt und sehr leicht furchtbare Falten schlgt, darber ein grnes Rçckchen, Reisehut und einen Shawl. Nun weiß ich sehr wohl, daß gerade ich vielleicht derjenige deutsche Schriftsteller bin, der in Sachen gestrickter Wolle zur hçchsten Toleranz verpflichtet ist, denn ich trage selber dergleichen. Aber zu so viel Bescheidenheit ich auch verpflichtet sein mag, zwischen Shawl und Shawl ist immer noch ein Unterschied. Wer ein Mitleidender ist, weiß, daß im Leben eines solchen Produkts aus der Textilindustrie zwei Stadien zu beobachten sind: ein Jugendstadium, wo das Gewebe mehr in die Breite geht und noch Elastizitt, ich mçchte sagen, Leben hat, und ein Altersstadium, wo der Shawl nur noch eine endlose Lnge darstellt, ohne jede zurckschnellende Federkraft. So war der Stormsche.25
Hier wird im Rahmen eines metonymischen Verfahrens, – das Teil verweist auf das Ganze, ein Accessoire auf seinen Trger, der Shawl auf Storm – das Antiquierte der Stormschen Lebensweise im Bild des Shawls akzentuiert, prgnant und boshaft, kontrastierend zum eigenen Verstndnis von Lebensfhrung und Dichtung, das auf diese Weise einmal mehr verdeutlicht wird – und zwar doch ein wenig auf Kosten von Storm, auch wenn der passionierte Shawltrger Fontane das seinem Kollegen gewidmete Kapitel mit dem Hinweis schließt, dass die Begegnung mit Storm zu den glcklichsten Fgungen seines Lebens gehçrt hat. Dass Fontane den von ihm in der Autobiographie vorgestellten Personen und ihren Lebensgeschichten mit seinen typisierenden und kontrastierenden Darstellungen nicht immer gerecht wird, zeigen brigens auch andere biographische Passagen in Von Zwanzig und Dreißig, z. B. die Ausfhrungen ber den Jugendfreund Wilhelm Wolfsohn, einem der wichtigsten Mentoren und Helfer des jungen Fontane, dessen Verdienste fr die eigene Entwicklung zum Schriftsteller der alte Fontane weitgehend ignoriert bzw. unterschlgt. Die Biographie in der Autobiographie ist also integraler Bestandteil einer Selbstdarstellung, in deren Rahmen Fontane seine Entwicklung zum Schriftsteller erzhlend darstellt, reflektierend erklrt und bekenntnishaft legitimiert. In dieser Eigenschaft ist Von Zwanzig bis Dreißig auch eine eminent çffentlichkeitsbezogene Schrift, eine ausgeprgte sprachliche, kommunikative Handlung. Diese Eigenschaft gewinnt die Autobiographie nicht zuletzt durch eine stilistische und strukturelle Besonderheit, auf die ich abschließend nur hinweisen kann und die ich, orientiert an Theoremen des russischen Sprach- und Literaturtheoretikers Michail M. Bachtin, als „innere Dialogizitt“dieses Textes bezeichnen mçchte. Diese besteht darin, dass 25 HFA III/4, S. 374 – 375.
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Fontane in dieser Autobiographie unablssig in Erwartung einer Gegenrede spricht. Formulierungen wie „[darber] sprche ich gern, versage mir’s aber“26, „ [ich] bemerke des weiteren, daß alles, was ich in diesem Kapitel erzhlt habe bezw. noch erzhlen werde, sich auf persçnliche Wahrnehmung […] sttzt.“27, „[i]ch whle, mit gutem Vorbedacht, solche nchtern prosaisch klingende Wendungen“28, mit denen Von Zwanzig bis Dreißig geradezu durchsetzt ist, lassen erkennen, dass der Autobiograph Fontane Einwnde, Ergnzungen und Berichtigungen potentieller Rezipienten antizipiert, darauf bereits im Text zu antworten versucht und somit seine Selbstdarstellung als Bestandteil eines umfassenden Gesprchs versteht. So ist Von Zwanzig bis Dreißig in der Vielfalt der Gegenstnde und Erzhlformen ein ungemein vielschichtiger historiographischer und knstlerischer Text: Sozial- und Literaturgeschichte, vor allem aber Lebensgeschichte eines Autors, der mit dieser Autobiographie nicht allein die komplexe und nicht unproblematisch verlaufende Entwicklung zum Dichter beschreibt, sondern der am Ende seines Lebens in der kunstvollen und hochreflektierten Gestaltung dieses Lebensweges einmal mehr demonstriert, dass die Von Zwanzig bis Dreißig beschließende Entscheidung zum Dichter-Leben die einzig richtige war.
26 HFA III/4, S. 529. 27 HFA III/4, S. 498. 28 HFA III/4, S. 489.
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„Immer das eigentlich Menschliche“ Zum Anekdotischen bei Theodor Fontane
Wulf Wlfing Nach Peter Wruck ist „das literarische Leben“ eine Vermittlungsinstanz; und zwar vermittelt es „zwischen dem schriftstellerischen Verhalten und den Bedingungen, die es vorfindet“.1 Wruck liest Fontanes ScherenbergBuch als eine Biographie, die „Rckschlsse“ auf Fontanes „Selbstverstndnis“ als „Teilnehmer“ am literarischen Leben erlaube.2 In diesem Zusammenhang spielt natrlich der Tunnel ber der Spree eine wichtige Rolle,3 etwa hinsichtlich der „Gattungsprferenzen“4. Hier kçnnte man daran denken, das Faktum, dass Fontane so spt erst begonnen hat, Romane zu schreiben, hnge damit zusammen, dass der Roman als Gattung bei den Tunnel-Mitgliedern kaum vorkam. Grnde, warum er kaum vorkam, ließen sich genug denken: z. B. die Tatsache, dass die Mehrheit dieser Sonntags-Dilettanten5 auf Grund ihrer begrenzten literarischen Kompetenz nie auf die Idee gekommen wre, sich an diese Großgattung zu wagen. Nherliegen mag jedoch ein pragmatischer Umstand: Es war praktisch, wenn die (literarischen) Spne, die im Tunnel vorgetragen und danach in der Regel sogleich bewertet wurden, eine berschaubare Lnge 1
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Peter Wruck: Theodor Fontane in der Rolle des vaterlndischen Schriftstellers. Bemerkungen zum schriftstellerischen Sozialverhalten. In: Theodor Fontane im literarischen Leben seiner Zeit. Beitrge zur Fontane-Konferenz vom 17. bis 20. Juni 1986 in Potsdam. Mit einem Vorwort von Otfried Keiler. Berlin/DDR 1987 (Beitrge aus der Deutschen Staatsbibliothek 6), S. 1–ACHTUNGRE39, hier: S. 1. – Fr hilfreiche Hinweise danke ich Wolfgang Rasch, Berlin. Wruck: Theodor Fontane in der Rolle des vaterlndischen Schriftstellers. (wie Anm. 1), S. 2. Vgl. Wruck: Theodor Fontane in der Rolle des vaterlndischen Schriftstellers. (wie Anm. 1), S. 3 ff. Wruck: Theodor Fontane in der Rolle des vaterlndischen Schriftstellers. (wie Anm. 1), S. 4. Vgl. Wulf Wlfing: „Dilettantismus frs Haus“: Zu Gutzkows Kritik in den „Unterhaltungen am huslichen Herd“ an Fontanes und Kuglers „Argo“. In: Deutschland und der europische Zeitgeist. Kosmopolitische Dimensionen in der Literatur des Vormrz. Hg. von Martina Lauster. Bielefeld 1994, S. 115 – 149.
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Wulf Wlfing
hatten. Und so berrascht es nicht, dass man den Tunnel-Protokollen ziemlich schnell entnehmen kann, dass die Anekdote in den Tunnel-Sitzungen gut vertreten war;6 und zwar nicht nur als Span whrend der Sitzungen, sondern auch danach. Um sie profiliert vorstellen zu kçnnen, seien die Befunde im Folgenden in Form von Thesen dargeboten: I. Bevorzugter Ort der Anekdote ist zunchst die Mnnerrunde, wie sie etwa im Wirts- oder Weinhaus tagt, also der Mnnerstammtisch.7 Vorgetragen und protokolliert wurde derlei z. B. im Tunnel am 2. November 1851 in der 27. Sitzung des 24. Jahrgangs: Unter Lafontaines, also Fontanes, Vorsitz trgt das Tunnel-Mitglied Brger, also Heinrich Smidt,8 einen Span vor, der die „Bewertung: sehr gut“und dann die Nummer 3988 erhlt. Titel: Ein heiterer Tag Meister Ludwigs. Das Protokoll verzeichnet, es habe sich um „eine jener […] Devrient-Anekdoten“ gehandelt. Ferner notiert das Protokoll: „Der Sekretr vermerkt zu Brgers Devrient-Anekdoten, sie seien ,mehr oder minder volkstmlich geworden‘ und ,zwischen den 4 Wnden von Lutter und Wegner […] geboren‘“.9 Ein literarisches Pendant zu diesem Weinhaus findet sich – wenn auch in einem anderen geographischen und sozialen Umfeld, mithin auch auf
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„Wie sich denken lßt, zirkulierten im Tunnel allerhand Anekdoten ber ihn [Louis Schneider], die smtlich den Zweck verfolgten, entweder ihn politisch zu diskreditieren oder aber ihn als ,komische Figur‘ zu ridikulisieren“ (Theodor Fontane: Von Zwanzig bis Dreißig. In: HFA III/4. 1973, S. 179 – 539, hier: S. 402; Hervorhebung hier wie im Folgenden, wenn nicht anders angegeben, von mir, W. W.). Zum Nutzen, den Fontane von Schneiders „Geschichten und Anekdoten“ gehabt hat, vgl. ebd., S. 408). Zu „Geschichtchen mit einem Zug ins Satirische oder Frivole, wie sie sich Mnner erzhlen“, vgl. Wilhelm Grenzmann: Anekdote. In: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. Begrndet von Paul Merker und Wolfgang Stammler. 2. Aufl. […] Hg. von Werner Kohlschmidt u. Wolfgang Mohr. Bd. 1. Berlin 1958, S. 63 – 66, hier: S. 64); zur Anekdote als „Gegenstand von Stammtischunterhaltungen“ vgl. Hermann Bausinger: Formen der „Volkspoesie“. Berlin 1968 (Grundlagen der Germanistik 6), S. 209. Vgl. das Register Vereinsinterne bernamen. In: Handbuch literarisch-kultureller VerAeCHTUNGRE ine, Gruppen und Bnde 1825 – 1933. Hg. von Wulf Wlfing, Karin Bruns u. Rolf Parr. Stuttgart, Weimar 1998 (Repertorien zur DeutACHTUNGREschen Literaturgeschichte 18), S. 573 – 578. Zit. nach „Datenbank“ in: Das Archiv des Literarischen Sonntagsvereins Tunnel ber der Spree. Universittsbibliothek der Humboldt-Universitt zu Berlin (http:// katalog.ub.hu-berlin.de/tunnel [geçffnet am 7. Mrz 2008]).
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anderem Niveau – beim spteren Fontane als Hradschecks „Wienstuw“10, wo Szulski, der „Anekdoten- und Geschichten-Erzhler von Fach“11, die Tschechiner Bauern mit Anekdoten aus der Zeit des Warschauer Novemberaufstands unterhlt. II. Medium der Anekdote ist – wie so oft im 19. Jahrhundert bei Texten12 – der mndliche Vortrag.13 10 Theodor Fontane: Unterm Birnbaum. Hg. von Christine Hehle. In: GBA Das erzhlerische Werk. Bd. 8. 1997, S. 33. 11 Fontane: Unterm Birnbaum (wie Anm. 10), S. 37. 12 Vgl. „Aber in çffentliche Vorlesungen gehçrst Du nicht“: Fontane ber einen mißlungenen Vortragsabend. In: Dichter lesen. Von Gellert bis Liliencron. Nachgelesen von den Mitarbeitern des Deutschen Literaturarchivs und von einem komponiert [Hg. von Reinhard Tgahrt]. Marbach am Neckar 1984 (Marbacher Schriften 23/24), S. 176 f (Teildruck des Briefes, den Fontane im Mrz 1851 in Berlin an Bernhard von Lepel schrieb; dieser Brief, jetzt auf „nach dem 10. Mrz 1851“ datiert, ist vollstndig – und in z. T. anderer Lesung – abgedruckt in: Theodor Fontane und Bernhard von Lepel. Der Briefwechsel. Kritische Ausgabe. Bd. 1. Hg. von Gabriele Radecke. Berlin, New York 2006 [Schriften der Theodor Fontane Gesellschaft. Bd. 5.1], S. 236 – 238); Wruck: Theodor Fontane in der Rolle des vaterlndischen Schriftstellers (wie Anm. 1), S. 3; Lothar Mller: Stimmenzauber und Schriftkultur: Das Echo der klassisch-romantischen Literaturepoche. In: Ders.: Die zweite Stimme. Vortragskunst von Goethe bis Kafka. Berlin 2007, S. 13 – 37; Wulf Wlfing: „Vorlesungen“. In: Ders.: „Deutschunbertreffliche Gutmthigkeit“. Zur Rhetorik von Karl Immermanns „Tulifntchen“. In: Von Sommertrumen und Wintermrchen. Versepen im Vormrz. Hg. von Bernd Fllner u. Karin Fllner. Bielefeld 2007 (Vormrz-Studien XII), S. 91 – 127, hier: S. 91 – 95. 13 Vgl. Gerhard Kopp: Geschichte der deutschen Anekdote in der Neuzeit. Diss. Tbingen 1949, S. 223; Klaus Doderer: Die Kurzgeschichte in Deutschland. Ihre Form und ihre Entwicklung. 6. Aufl. Mit einer Vorbemerkung und bibliographischen Ergnzungen 1951 – 1979. Darmstadt 1980 [E: 1953], S. 29; Richard Friedenthal: Vom Nutzen und Wert der Anekdote. In: Sprache und Politik. Festgabe fr Dolf Sternberger zum sechzigsten Geburtstag. Hg. von Carl-Joachim Friedrich u. Benno Reifenberg. Heidelberg 1968, S. 62 – 67, hier: S. 66; Elfriede Moser-Rath: Anekdote. In: Enzyklopdie des Mrchens […] Hg. von Karl Ranke. Bd. 1. Berlin, New York 1977, Sp. 528 – 541, hier: Sp. 535, 537; Andrea MhicFhionnbhairr: Anekdoten aus aller Welt. The Anecdote in Fontane’s Fiction and Autobiography. Bern usw. 1985 (European University Studies. Reihe I, Bd. 864), S. 13; Ernst Rohmer: Anekdote. In: Historisches Wçrterbuch der RheACHTUNGREtorik. Hg. von Gert Ueding, Bd. 1. Tbingen bzw. Darmstadt 1992, Sp. 566 – 579, hier: Sp. 567, 570; Heinz Schlaffer: Anekdote. In: ReAaCHTUNGRE llexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte […]. Hg. von Klaus Weimar. Bd. 1. Berlin, New York 1997, S. 87 – 89; Katrin Lange: Merkwrdige Geschichten. Anekdoten in Fontanes Kindheitsautobiographie „Meine Kinderjahre“, Geschichten und Geschichte. In: Theodor Fontane. Am Ende des Jahrhunderts. Internationales SympoACHTUNGREsium des Theodor-FontaneArchivs zum 100. Todestag Theodor Fontanes 13.–17. September 1998 in Potsdam. Hg.
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III. Bei Anekdoten wird traditionell die Nhe zu einem anderen, ebenfalls primr mndlichen Genre betont: dem Witz. 14 Im vorliegenden Falle kann man durchaus spezieller formulieren und von Mnnerwitz sprechen. Derlei wird in den Tunnel-Protokollen durch diejenigen Attribute greifbar, die dem Stichwort Anekdote zugeordnet werden: z. B. pikant 15 oder eben witzig 16. In der Anfangsphase des Tunnels scheint der Bedarf an solchen Anekdoten ber die eigentlichen Tunnel-Sitzungen hinaus groß gewesen zu von Hanna Delf von Wolzogen in Zusammenarbeit mit Helmuth Nrnberger. Bd. III. Wrzburg 2000, S. 77 – 86, hier: S. 83 ff; Rose Beate Schfer: Anekdote. In: Metzler Lexikon Literatur. Begriffe und Definitionen. Begrndet von Gnther u. Irmgard Schweikle. 3., vçllig neu bearb. Aufl. Hg. von Dieter Burdorf, Christoph Fasbender u. Burkhard Moenninghoff. Stuttgart, Weimar 2007, S. 24 f, hier: S. 24. 14 Vgl. H. H. Borcherdt: Anekdote. In: Sachwçrterbuch der Deutschkunde. Hg. von Walther Hofstaetter u. Ulrich Peters. Bd. 1. Leipzig, Berlin 1930, S. 33; Doderer: Die Kurzgeschichte in Deutschland (wie Anm. 13), S. 25 f; Grenzmann: Anekdote (wie Anm. 7), S. 65; Hans Peter Neureuter: Zur Theorie der Anekdote. In: Jb. des Freien Deutschen Hochstifts 1973, S. 458 – 480, hier: S. 463, 466 – 470, 473; Jrgen Hein: Nachwort. In: Deutsche Anekdoten. Hg. von J. H. Stuttgart 1976. Bibliographisch ergnzte Ausgabe 1999 (Universal-Bibliothek 9825), S. 353 – 384, hier: S. 356, 363 f, 368 f, 378; Moser-Rath: Anekdote (wie Anm. 13), Sp. 535 f; Rohmer: Anekdote (wie Anm. 13), Sp. 567 ff; Schlaffer: Anekdote (wie Anm. 13), S. 87. – „Witz“taucht schon bei Novalis als eine „menschliche Eigenschaft“auf, die – neben anderen menschlichen Eigenschaften – „eine große Klasse von Anekdoten“ aufweise (Novalis: Anekdoten. In: Ders.: Schriften. Bd. 2: Das philosophische Werk I. Hg. von Richard Samuel in Zusammenarbeit mit Hans-Joachim Mhl u. Gerhard Schulz. 2. Aufl. Stuttgart 1965 [Die Werke Friedrich von Hardenbergs. Hg. v. Paul KluckAhCHTUNGRE ohn u. Richard Samuel], S. 567 – 569, hier: S. 567 f ); bei Novalis drfte jedoch – anders als im Tunnel – noch die Bedeutung von Witz im Sinne des 18. Jahrhunderts dominieren (vgl. Gottfried Gabriel: Witz. In: Historisches Wçrterbuch der Philosophie […]. Bd. 12. Hg. von Joachim Ritter, Karlfried Grnder u. G. G. Basel bzw. Darmstadt 2004, Sp. 983 – 990, hier: 987; Markus Winkler u. Christine Goulding: Witz. In: sthetische Grundbegriffe. Hg. von Karlheinz Barck u. a. Bd. 6. Stuttgart, Weimar 2005, S. 694 – 729, hier: S. 699 ff ) – Bei Fontane findet sich der Ausdruck „Witz- und Anekdotenbuch“ (Theodor Fontane: GBA Wanderungen. Bd. 4. Spreeland. 1994, S. 432). 15 So auch bei Fontane: „Unter allerlei Fragen, die Franziska tat, wurde der Graf immer beredter und begleitete die Namen der umherliegenden Dçrfer und Stdte bald auch mit Anekdoten, unter denen einige nicht nur pikant genug, sondern auch ganz darauf berechnet waren, Franziska die Gesellschaftskreise kennenzulehren, in die sie nun binnen kurzem eintreten sollte“ (Theodor Fontane: Graf Petçfy. In: HFA I/1. 1962, S. 685 – 866, hier: S. 764). 16 „Datenbank“ (wie Anm. 9). – Schon bei Novalis steht an der Spitze seiner Aufzhlung von sechzehn attributiven Adjektiven, die dem Stichwort Anekdoten zugeordnet werden: „Witzige“ (Novalis: Anekdoten [wie Anm. 14], S. 567).
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sein. So heißt es im Protokoll der Tunnel-Sitzung von Sonntag, dem 6. Mai 1838: „Nach der Aufhebung der Sitzung werden ,schalkhafte Anekdoten‘ erzhlt“;17 „schalkhafte Anekdoten“ steht hier in Anfhrungszeichen und soll offenbar auf den Schutzpatron des Sonntags-Vereins, Till Eulenspiegel,18 anspielen. Im Dezember 1839 schlgt dann das Tunnel-Mitglied Campe, also Louis Schneider, sogar die Grndung eines Donnerstags-Clubs vor, wo die „Beitrge“ aus „Anekdoten, komischen Zeitungsannoncen, launigen Gedichten, humoristischen Flugschriften“ bestehen kçnnten. In dem entsprechenden Protokoll, in dem sehr detailliert die – ,komischen‘ – Rituale fr diesen Club festgelegt werden, heißt es zum Schluss: „Um 12 11 Uhr wird die Zunge gnzlich entfesselt. Alle Vortrge, Gedichte usw. die gegen die Keuschheit verstoßen, kçnnen je[t]zt laut werden. Wer so etwas nicht hçren kann, entfernt sich mit demselben Gruße wie beim Eintritt aus dem Sitzungslocale.“19 Ein literarisches Beispiel fr den Usus, ja die Sucht von Mnnerrunden, Anekdoten um – fast – jeden Preis so lange hin und her zu wenden, bis sich etwas „gegen die Keuschheit“ Verstoßendes entdecken lsst, findet sich wiederum in Unterm Birnbaum; und zwar dort, wo ein Teil der Zuhçrer in Szulskis Anekdote von der „Dame“, die sich mit ihren beiden Kindern in die Weichsel strzt, „Zweideutigkeiten“20 sucht (fr die aber der Erzhler keine „Zeit zu haben“ scheint).21 Im brigen darf man vermuten, dass derlei „Zweideutigkeiten“ aus Fontanes erzhlerischen Texten mehr und mehr verschwinden, je çfter der Erstdruck in – fr ein gutbrgerliches Publikum gedachten – FamilienJournalen erscheint; wurde doch schon Hankels Ablage wie ein von der ,guten Gesellschaft‘als degoutant zu empfindender Herrenwitz betrachtet, der dann fr Fontanes Position im literarischen Leben folgenreich wurde.22 17 „Datenbank“ (wie Anm. 9). 18 Vgl. Wulf Wlfing: Tunnel ber der Spree [Berlin]. In: Wlfing, Bruns u. Parr (wie Anm. 8), S. 430 – 455, hier: S. 433. – Zu den beliebten Figuren der Anekdote gehçrte auch „Diogenes, der ,antike Eulenspiegel‘“ (Hans Poeschel, zit. n. Grenzmann [wie Anm. 7], S. 64). 19 „Datenbank“ (wie Anm. 9). 20 Auch Generalmajor von Bramme erzhlt „zweideutige Anekdoten“ (Fontane: Vor dem Sturm. In: HFA I/3.1962, S. 145). 21 Fontane: Unterm Birnbaum (wie Anm. 10), S. 36. 22 Vgl. Theodor Fontane im literarischen Leben. Zeitungen und Zeitschriften, Verlage und Vereine. Dargestellt von Roland Berbig unter Mitarbeit von Bettina Hartz. Berlin 2000 (Schriften der Theodor Fontane Gesellschaft 3), S. 76. Zur „thematischen Zensur“, der Fontane seine Anekdoten unterzieht, wenn es um „eine detaillierte
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IV. Bei Anekdoten geht es nicht um „Wahrheit“ oder nicht „Wahrheit“. In Spreeland berichtet Fontane von einem Grafen „Schmettau,“ einem besonderen „Liebling Friedrichs II.“, „der von seiten des großen Kçnigs zum Adjutanten seines jngsten Bruders, des Prinzen Ferdinand von Preußen, ernannt ward und in dieser intimen Stellung zu einer Flle pikanter Anekdoten und Ondits Veranlassung gab, an denen das preußische Hofleben jener Zeit so reich war. Zu untersuchen, wieviel Wahrheit oder berhaupt ob irgendwelche Wahrheit diesen anekdotischen berlieferungen zugrunde liegt, liegt jenseits unserer Aufgabe“.23 Damit bezieht Fontane eindeutig Position24 hinsichtlich desjenigen Problems, das dann die sptere Anekdotenforschung beschftigen wird: Muss eine Anekdote historisch verbrgt sein oder nicht?25 Verbalisierung offenbar der Sexualsphre angehçriger Erlebnisse und Reflexionen“ gegangen wre, vgl. Volker Weber: Anekdote. Die andere Geschichte. Erscheinungsformen der Anekdote in der deutschen Literatur, Geschichtsschreibung und Philosophie. Tbingen 1993 (Stauffenburg Colloquium 26), S. 120 f. 23 Fontane: Spreeland (wie Anm. 14), S. 105 (Hervorhebung dort). 24 Vgl. MhicFhionnbhairr: Anekdoten aus aller Welt (wie Anm. 13), S. 20 f. 25 Schon einer der ersten Literaturwissenschaftler, der sich ausfhrlicher mit der Anekdote befasst hat, relativiert die Erwartung auf historische Authentizitt: „Anekdote ist die einen Einzelmenschen behandelnde, kurze Geschichte […], in der durch individuelle Zge […] die Charakteristik einer Person […] gegeben wird. Dabei ist wesentlich, daß diese Geschichte entweder tatschlich auf eine historische Begebenheit zurckgeht oder wenigstens den Anspruch erhebt, fr historisch genommen zu werden“ (Max Dalitzsch: Studien zur Geschichte der deutschen Anekdote. [Masch.] Diss. Freiburg im Breisgau 1922, S. 4 [Hervorhebungen dort]; das vollstndige Zitat auch bei Moser-Rath: Anekdote [wie Anm. 13], Sp. 534, und MhicFhionnbhairr: Anekdoten aus aller Welt [wie Anm. 13], S. 13, Anm. 4). Generell stehen sich in der Anekdotenforschung zwei Meinungen gegenber: Eine Mehrheit besteht nicht auf historischer Authentizitt oder verzichtet gar darauf: „Auf histor[ische] Verbrgtheit kommt es […] nicht an“ (Grenzmann: Anekdote [wie Anm. 7], S. 64; vgl. MhicFhionnbhairr: Anekdoten aus aller Welt [wie Anm. 13], S. 14, Anm. 2). Die Anekdote msse „glaubwrdig, aber nicht bezeugt“ sein (Schlaffer: Anekdote [wie Anm. 13], S. 87); „die erzhlte Geschichte muß nicht wahr, wohl aber mssen ihre Personen wirklich sein“ (ebd.). „Das Erzhlte muss nicht historisch verbrgt sein; bedeutsam ist nur, ob es mçglich, treffend und charakteristisch ist“ (Rose Beate Schfer: Anekdote [wie Anm. 13], S. 24). Eine Minderheit ist „nicht dieser Meinung“ (Neureuter: Zur Theorie der Anekdote [wie Anm. 14], S. 463) und besteht auf „Faktizitt“ (ebd., S. 463 ff; vgl. MhicFhionnbhairr: Anekdoten aus aller Welt [wie Anm. 13], S. 17). Dass sich dem anschließt, wer sich mit der Kurzgeschichte befasst, ist naheliegend; erscheinen damit doch die leidigen Abgrenzungsprobleme als erledigt (vgl. Leonie Marx: Die Deutsche Kurzgeschichte. 3., aktualisierte u. erw. Aufl. Stuttgart, Weimar 2005 [Sammlung Metzler 216], S. 80).
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V. Wenn fr Fontane die „Wahrheit“ jenseits der „Aufgabe“ des Anekdotenerzhlers liegt, stellt sich die Frage, worauf es ihm denn dann bei der Anekdote ankommt. In diesem Zusammenhang ist es ntzlich, einen auf interessante Weise interessierten Fontane-Leser zu Rate zu ziehen: den Philosophen Hans Blumenberg. Er analysiert drei von-der-Marwitz-Anekdoten Fontanes und stellt fest, es sei „mehr als eine Suite, mehr als ein Zyklus entstanden“. Und weiter: „Was sich einstellt, aus dem Hintergrund der Geschichten nach vorne geschoben hat, ist die Qualitt der ,Bedeutsamkeit‘.“26 Den Ausdruck Bedeutsamkeit setzt Blumenberg in Hkchen. Warum? Vermutlich weil er sich selbst zitiert, genauer: sein grundlegendes Buch Arbeit am Mythos. Dort entwickelt er ,Bedeutsamkeit‘ als zentrale Kategorie des Mythos, die z. B. durch „Steigerung“ entstehen kçnne, und zwar als „Zuschuß zu positiven Fakten, zu nackten Tatsachen“27. Prometheus wird Napoleon, Napoleon Prometheus heißt in Arbeit am Mythos das wichtigste Kapitel,28 das im Grunde ein Goethe-Kapitel ist: Napoleon sei fr Goethe – kurz gesagt – deswegen ,bedeutsam‘, weil fr ihn Napoleon ein neuer Prometheus sei; und mit Prometheus hat sich bekanntlich der junge Goethe befasst, so dass eine ,bedeutsame‘ Linie der Selbstvergewisserung entstehe: Goethe, der sich einst mit Prometheus ,identifiziert‘ hatte, finde durch die Begegnung mit Napoleon eine „Steigerung“ seiner alten ,Identitt‘. Mithin lautet das Fazit dieser fnften These: Anekdoten mssen nicht ,wahr‘, sondern ,bedeutsam‘ sein. VI. Fontane bekennt, eine„ausgeprgte Vorliebe fr die Historie“ zu haben.29 Nach landlufiger Meinung hngt der Ruf eines Historikers weitgehend von derjenigen Weise ab, wie er mit Quellen umgeht; u. a. also davon, ob er sie a) richtig auswhlt, also ob sie als authentisch gelten kçnnen, 26 Hans Blumenberg: Zwischen Anekdote und Mythos: Geschichte einer Bibliothek. In: Ders.: Vor allem Fontane. Glossen zu einem Klassiker. Frankfurt am Main, Leipzig 2002 (insel taschenbuch 2840) [E: 1998], S. 160 – 163, hier: S. 162. 27 Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos. Frankfurt am Main 1979, S. 85. – Mit Blumenbergs Glossen zu Anekdoten befasst sich ausfhrlicher Weber (vgl. Weber: Anekdote [wie Anm. 22], S. 196 – 212), wobei er zu dem Schluss kommt, fr Blumenberg sei die Anekdote „nicht oder nicht nur als empirisches Faktum interessant, sondern vor allem im Hinblick auf ihre Bedeutung“ (ebd., S. 207; zu Bedeutsamkeit vgl. auch ebd., S. 211, Anm. 3). 28 Blumenberg: Arbeit am Mythos (wie Anm. 27), S. 504 – 566; vgl. Weber: Anekdote (wie Anm. 22), S. 211. 29 Vgl. Wulf Wlfing: „Eine ausgeprgte Vorliebe fr die Historie“. Bemerkungen zu Theodor Fontanes Projekt einer ,vaterlndischen‘ Literatur. In: Zeitschrift fr deutsche Philologie. Sonderheft zum 123. Band 2004: Literatur und Geschichte. Neue Perspektiven. Hg. von Michael Hofmann u. Hartmut Steinecke, S. 119 – 141.
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und ob er sie b) berzeugend deutet. Diese Qualittskriterien gelten zumal fr jemanden, der – wie Fontane – biographisch ttig ist. In diesem Kontext muss der Befund, dem diese sechste These gilt, geradezu provokativ wirken. Sie lautet nmlich: Fontane hat – wie er çfter betont – vor den traditionellen Quellen der Geschichtsschreibung keinen Respekt, im Gegenteil. Eine derartige Bewertung von historischen Quellen mag besonders irritierend erscheinen bei einem Autor wie Fontane, bei dem sich hinreichend Belege finden lassen, die zeigen, wie viel Mhe er darauf verwenden konnte, authentischen Quellen nachzuspren.30 Dennoch muss man zur Kenntnis nehmen, dass Fontane ausdrcklich schreibt, er glaube nicht daran, dass man aus Archiven das Material zur Geschichtsschreibung holen muss. Dies vornehme Herunterblicken auf Alles, was nicht in Akten und Staatspapieren steht, ist in meinen Augen lcherlich – die wahre Kenntniss einer Epoche und ihrer Menschen, worauf es doch schliesslich ankommt, entnimmt man aus ganz anderen Dingen. In 6 altenfritzischen Anekdoten steckt mehr vom alten Fritz, als in den Staatspapieren seiner Zeit.31
Diese Zeilen aus dem Jahre 1881 wurden damals von Fontane nicht publiziert. Eine solche Publikation htte sich auch als reichlich ungeschickt erwiesen. Ein Jahr spter kam nmlich Erich Schmidt nach Berlin und brachte – sozusagen – das Erbe seines Lehrers Wilhelm Scherer mit: die sog. positivistische Methode, die spter als „Verengung“32 gelten wird und heute als „Zuschreibung […] nach wie vor umstritten“ ist.33 Betont wird demgegenber jetzt Scherers „Offenheit gegenber anderen Wissenschaftsdisziplinen und Wissenschaftstrends seiner Zeit“, insbesondere gegenber der „Geschichtswissenschaft von Leopold von Ranke und Johann Gustav Droysen“.34 M. a. W.: Die Germanistik war gerade damals stolz darauf, die Quellen als Grundlage des Faches proklamiert zu haben und damit erfolg30 Vgl. z. B. Theodor Fontane: Der Dichter ber sein Werk. Hg. von Richard Brinkmann in Zusammenarbeit mit Waltraud Wiethçlter. 2 Bde. Mnchen 1977 (dtv 6073/74) [E: 1973], passim, bes. Bd. 2, S. 394 ff. 31 HFA IV/3. 1980, S. 135 (Hervorhebung dort). „Die kleinen Ereignisse werden also aus Interesse am Menschen erzhlt“ (Neureuter: Zur Theorie der Anekdote [wie Anm. 14], S. 461). 32 Lothar Bluhm: Positivistische Literaturwissenschaft. In: Metzler Lexikon Literatur (wie Anm. 13), S. 601. 33 Wolfgang Hçppner: Programmatische Weichenstellungen. Die Begrndung der Neueren Philologie. In: Handbuch Literaturwissenschaft. Gegenstnde – Konzepte – Institutionen. Hg. von Thomas Anz. Bd. 3: Institutionen und Praxisfelder. Stuttgart, Weimar 2007, S. 38 – 42, hier: S. 39; vgl. auch Ralf Klausnitzer: ,Moderne Literaturgeschichte‘ am Seminar fr Deutsche Philologie, ebd., S. 81 – 86, hier: S. 85. 34 Hçppner: Programmatische Weichenstellungen (wie Anm. 33), S. 39.
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reich zu sein35 : 1887 wird Erich Schmidt das Manuskript von Goethes Urfaust entdecken und elf Jahre spter dem toten Fontane sein – wie es Schmidt erschien – fehlerhaftes Vorgehen bei der Schilderung von Historischem vorwerfen, wenn er etwa in seiner Berliner Gedchtnisrede zu Ehren Fontanes auf Von Zwanzig bis Dreißig zu sprechen kommen wird: In dem „lockeren Gefge“ dieses Buches feiere – so Erich Schmidt – „der Cultus der Anekdote […] Fest auf Fest“, was zur Folge habe, dass Fontanes „virtuose Plaudereien“ ber einzelne Schriftsteller doch „gar sehr der Ergnzung“ bedrften.36 Um verstehen zu kçnnen, warum Fontane einer Geschichtsschreibung misstraut,37 die allein auf Quellen basiert, lohnt es sich, auf Fontanes Bekenntnis zur Anekdote aus dem Jahre 1881 zurckzukommen: Wieder einmal ist hier der Kontext wichtig, also das literarische Leben. In seinem am 2. Juni 1881 begonnenen Brief an Herman Wichmann, dem die zitierte Stelle ber die „Geschichtsschreibung“ am 6. Juni hinzugefgt wird, beruft sich Fontane zwar nicht auf den Tunnel, wohl aber auf „eine Art Nebentunnel“38, also das Rtli: „Im letzten Rtli vorgestern kam zufllig das Gesprch auf X. und ich hçrte erst nun, dass sein neuestes Werk allgemein bewundert wrde. Lazarus z. B. hat erklrt, so was Glnzendes noch gar nicht gelesen zu haben.“39 Moritz Lazarus ist Professor, Dekan, Rektor, also Wissenschaftler, und gilt als Mitbegrnder der Vçlkerpsychologie. Und wer ist „X.“? Kein geringerer als der – von Wilhelm Scherer geschtzte – Leopold von Ranke,40 von dem gerade, 1881, der erste Doppelband seiner Weltgeschichte erschienen war. Hier der Wortlaut, wie Fontane auf Lazarus’ ,Erklrung‘ reagiert: 35 Zur Einschtzung der Anekdote durch die deutsche Geschichtswissenschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts vgl. Weber: Anekdote (wie Anm. 22), S. 105 f. 36 Zit. n. Peter Goldammmer: Einleitung. In: AFA Autobiographische Schriften I. 1982, S. V–XCV, hier: XII. – Dieser Kritik folgt (freilich ohne sich auf Schmidt zu beziehen) in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts noch Roy Pascal, wenn er schreibt, Fontane sei in Zwanzig bis Dreißig der „Gefahr“ des Anekdotischen „erlegen“ (Roy Pascal: Die Autobiographie. Gehalt und Gestalt. bers. aus dem Englischen von M. Schaible. berarb. von Kurt Wçlfel. Stuttgart usw. 1965, S. 116). 37 Zur „Distanz der Konzeption der ,Wanderungen‘ gegenber der offiziellen Geschichtswissenschaft“ vgl. Weber Anekdote (wie Anm. 22), S. 123 f. 38 Fontane: Von Zwanzig bis Dreißig (wie Anm. 6), S. 369. 39 HFA IV/3. 1980, S. 135. 40 Vgl. HBV, 2. Teilbd. 1994, S. 513. – Dazu, wie Ranke „Maßstbe fr die weitere Entwicklung der deutschen Geschichtswissenschaft setzte“, vgl. Weber: Anekdote (wie Anm. 22), S. 103 f.
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Ist dies [also Lazarus’ Erklrung, „so was Glnzendes noch gar nicht gelesen zu haben“] auch bertrieben, so giebt es mir doch zu denken. Ich glaube nicht an diese Formen des Liberalismus und ihre besondere und vorzugsweise Berechtigung und ich glaube fast noch weniger daran, dass man aus Archiven das Material zur Geschichtsschreibung holen muss.41
Fontane wendet sich also mit aller Entschiedenheit gegen die Methode des Historikers Ranke und das Werturteil des Vçlkerpsychologen Lazarus. Eine solche „Abgrenzung gegen die rein wissenschaftliche Behandlungsweise“42 kçnnte man als Unsicherheit des ,Laien‘ Fontane gegenber den Fachwissenschaftlern deuten; dieser Gedanke soll hier nicht weiter verfolgt werden. Wichtiger erscheint in diesem Zusammenhang der Umstand, dass Fontane damit ein Bekenntnis zu seiner eigenen Arbeitsweise ablegt. In Schlsselwçrter gefasst: Dem ambitiçs totalisierenden Projekt einer Weltgeschichte stellt Fontane die sich bescheidener gebende Praxis seiner Kleinmalerei gegenber, die ihm offenbar „Leben und Unbefangenheit“ zu garantieren scheint. Zur Illustration einer solchen Praxis hier zwei Beispiele literarischer Figuren, die – nicht unsympathisch – sich in dieser Richtung ußern: a) In Unwiederbringlich lsst sich die Grfin aus der Zeitung vorlesen und ist enttuscht: „Ich dachte, der Artikel wrde Mitteilungen vom Hofe bringen, anekdotische Zge, Kleinigkeiten, die meist die Hauptsache sind“.43 b) In Graf Petçfy heißt es von Franziska: Sie hatte das Wort und sprach lebhaft und anziehend, aber obschon sie hinter ihrem Erzhlerrenommee nicht eigentlich zurckblieb, so blieb doch vieles in ihrem Vortrage dunkel und lckenhaft und gewann erst wieder Leben und Unbefangenheit, als sie mit gewohnter Vorliebe fr die Kleinmalerei zur Schilderung des Fhrhauses und seiner Insassen berging.44
Ein Jahrzehnt spter tritt das Stichwort Kleinmalerei aus dem Schatten einer fiktiven Figur ins Licht des veritablen Biographen Fontane: „Als mir es feststand, mein Leben zu beschreiben, stand es mir auch fest, daß ich bei meiner Vorliebe fr Anekdotisches und mehr noch fr eine viel Raum in 41 HFA IV/3. 1980, S. 135. 42 Charlotte Jolles: Theodor Fontane als Essayist und Journalist. In: Jb. f. Internationale Germanistik, Jg. VII, H. 2 (1975), S. 98 – 119, hier: S. 102; vgl. auch das Zitat ebd., in dem Fontane gegen „alle in Doktrin und Systemwirtschaft steckengebliebenen“ wettert. 43 Theodor Fontane: Unwiederbringlich. In: HFA I/2. 1962, S. 567 – 812, hier: S. 584. 44 Fontane: Graf Petçfy (wie Anm. 15), S. 840.
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Anspruch nehmende Kleinmalerei mich auf einen bestimmten Abschnitt meines Lebens zu beschrnken haben wrde.“45 Ebenso wie die „Offensive gegenber der offiziellen Geschichtswissenschaft jener Zeit“46 ist diese „Vorliebe“ – wie man in eben diesen Kinderjahren nachlesen kann – ererbt: „Erzhlen von Anekdoten“ war dem Vater zur „wichtigsten Methode im Geschichtsunterricht seines Sohnes“ geworden. „Auf diese Weise wird die Anekdote als verbindliche Form historischen Wissens und vor allem auch der Tradierung historischen Wissens in den Kinderjahren eingefhrt und stark gemacht.“47 1898 wird Fontane dann sein briefliches Diktum von 1881 ber die „altenfritzischen Anekdoten“ noch berbieten. In Von Zwanzig bis Dreißig schließt er seine „Bemerkung ber,echte‘und ,unechte Korrespondenzen‘“ wie folgt: „Es ist damit wie mit den Friderizianischen Anekdoten, die unechten sind gerade so gut wie die echten und mitunter noch ein bißchen besser.“48 Dennoch vergisst Fontane bis zuletzt nicht, dass im Bereich des Biographischen – und erst recht des Autobiographischen – die Verwendung von Anekdotischem problematisch erscheinen mag. Als ahne er die – sptere – Kritik Erich Schmidts, schreibt Fontane noch 1898 in derselben autobiographischen Schrift Von Zwanzig bis Dreißig: Aus einer langen Erfahrung weiß ich nur zu gut, wie gefhrlich es ist, Anekdotisches, das sich im Leben ganz nett ausnahm, hinterher literarisch verwenden zu wollen. Und ist es nun gar Anekdotisches ,in eigner Sache‘, so wird die Gefahr noch grçßer. Trotzdem habe ich der Versuchung nicht widerstehen kçnnen und rechne auf die Zustimmung derer, die mit mir davon ausgehen, daß eine Menschenseele durch nichts besser geschildert wird, als durch solche
45 Theodor Fontane: Meine Kinderjahre. In: HFA III/4. 1973, S. 7 – 177, hier: S. 9. 46 Lange: Merkwrdige Geschichten (wie Anm. 13), S. 80. – Langes Formulierung steht in einem Zusammenhang, in dem sie den New Historicism heranzieht. Sie entdeckt in ihm Argumente, in denen „sich durchaus Vorbehalte wiedererkennen“ ließen, „die Fontane gegen die Geschichtswissenschaft seiner Zeit“ gehegt habe (ebd.). Lange verweist auf Stephen Greenblatt und auf Joel Fineman (The History of the Anecdote: Fiction and Fiction. In: The New Historicism. Hg. von H. Aram Veeser. London 1989, S. 49 – 76). Vgl. auch Tilmann Kçppe u. Simone Winko: New Historicism. In: Handbuch Literaturwissenschaft (wie Anm. 33), Bd. 2: Methoden und Theorien, S. 354 – 357, bes. S. 356 f. 47 Lange: Merkwrdige Geschichten (wie Anm. 13), S. 80 (Hervorhebung dort); vgl. Martina Wagner-Egelhaaf: Autobiographie. Stuttgart, Weimar 2000 (Sammlung Metzler 323), S. 180. 48 Fontane: Von Zwanzig bis Dreißig (wie Anm. 6), S. 412.
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kleinen Zge. Schon das Sprichwort sagt: ,an einem Strohhalme sieht man am deutlichsten, woher der Wind weht.‘49
Es geht Fontane also darum, „eine Menschenseele“ zu schildern, mithin etwas hçchst ,Subjektives‘, jedenfalls wenn man es mit jener ,Objektivitt‘ vergleicht, die – zumindest in neuerer Zeit – derjenige in der Regel anstrebt, der eine Weltgeschichte vorlegt. Sich fr einen Moment vom Konzept Weltgeschichte, zumal von dessen idealistischer Spielart,50 zu entfernen, ist gerade beim Nachdenken ber die Anekdoten Fontanes reizvoll. Dann stçßt man – jenseits jener ambitiçsen Konzeptionen von Geschichte, wie sie im 18. und frhen 19. Jahrhundert entwickelt wurden,51 – auf Stze, die von Befrwortern eines emphatischen BeACHTUNGREgriffs von Weltgeschichte wie ein Sakrileg empfunden werden konnten: „Die Geschichte in gewçhnlicher Form ist eine zusammengeschweißte, oder ineinander zu einem Continuo geflossene Reihe von Anekdoten.“52 VII. Es wre zu erwgen, ob es nicht sinnvoll sein kçnnte, diesem Novalis-Zitat fr eine Weile zu folgen und zu behaupten, wenigstens bei einem Teil von Fontanes erzhlerischen Texten handle es sich um nichts anderes als um „eine zusammengeschweißte, oder ineinander zu einem Continuo geflossene Reihe von Anekdoten“, also um Anekdotenkombinationen. Ein Versuch, diese Behauptung beispielsweise an der Entstehungsgeschichte von Texten wie Unterm Birnbaum 53 oder Ccile 54 zu illustrieren, wre wohl nicht aussichtslos; ganz zu schweigen von Schach von Wuthenow, dessen „Stoff“mit
49 Fontane: Von Zwanzig bis Dreißig (wie Anm. 6), S. 477 f; vgl. Wagner-Egelhaaf: Autobiographie (wie Anm. 47), S. 178. 50 Vgl. Johannes Rohbeck: Weltgeschichte; Universalgeschichte. In: Historisches Wçrterbuch der Philosophie […] (wie Anm. 14), Bd. 13, Sp. 479 – 486, hier: Sp. 482 f. 51 Vgl. Wulf Wlfing: Einige Bemerkungen zu Konzepten von ,Geschichte‘, wie sie im 18. und frhen 19. Jahrhundert entworfen wurden. In: Ders.: Wider die „Wchter des großen geschichtlichen Welt-Harem“: Zu Nietzsches ,vormrzlicher‘ Kritik am Umgang mit der,Historie‘. In: Kulturkritik, Erinnerungskunst und Utopie nach 1848. Deutsche Literatur und Kultur vom Nachmrz bis zur Grnderzeit in europischer Perspektive. Bd. 2. Hg. von Anita Bunyan u. Helmut Koopmann unter Mitarbeit von Andrea Bartl. Bielefeld 2003, S. 57 – 82, hier: S. 57 – 60. 52 Novalis: Anekdoten (wie Anm. 14), S. 567. 53 Vgl. MhicFhionnbhairr: Anekdoten aus aller Welt (wie Anm. 13), S. 128 – 144. 54 Vgl. ebd, S. 45 – 54, und die Bemerkung: „most of Fontane’s anecdotes in the fictional works […] have both an immediate situational interest as well as a function in the overall interpretation of the story“ (ebd., S. 48).
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„allen Details“ Mathilde von Rohr geliefert hatte, „auch persçnlich ein wahres Anekdotenbuch“55. Auf dieses Gedankenexperiment, auch den dicksten Roman zu so etwas wie einer Anekdote zusammenschnurren zu lassen, kann man durch Fontane selbst gebracht, ja geradezu gestoßen werden; und zwar durch seine berhmte ,Zusammenfassung‘ des Stechlin-Romans: „Zum Schluß stirbt ein Alter und zwei Junge heiraten sich; – das ist so ziemlich alles, was auf 500 Seiten geschieht.“56 Das aber legt die Frage nahe: Warum dann 500 Seiten? Eine Antwort bietet Fontane ex negativo, wenn er von seinem Tunnel-Kollegen Blomberg berichtet und bei dessen literarischem Umgang mit einem „anekdotischen Hergang“ einen „Mangel“ feststellt: Blomberg las allerhand alte Bcher, fand einen geschichtlichen und anekdotischen Hergang, der ihm gefiel und brachte diesen Hergang in Verse. Er verfuhr dabei mit großer ußerlicher Kunst, alles war vorzglich aufgebaut, knapp und klar im Ausdruck, aber trotzdem blieb es eine gereimte Geschichte. Das ist, wie mir jetzt feststeht, ein Mangel. Es muß durchaus noch was Persçnliches hinzukommen, vor allem ein eigener Stil, an dem man sofort erkennt: „ah, das ist der.“ Man denke nur an Heine. So lag es aber bei Blomberg nicht.57
Was die narrative Expansion des Stechlin auf 500 Seiten rechtfertige, sei also dies: Etwas „Persçnliches“ komme hinzu, das „vor allem“ in einem eigenen „Stil“ bestehe, mit dem sich der Autor als unverwechselbar zu Wort melde und so im literarischen Leben seine Position behaupte. Diesen „eigenen Stil“ nennt Fontane mit Blick auf den Stechlin auch einfach: „Die Mache!“58 An dieser Stelle erscheint eine kritische Frage unumgnglich: Wird hier – gerade in dieser siebten These – nicht die Gelegenheit eines kleinen Themensegments ergriffen, um dieses Teilthema synekdotisch auf das Ganze auszudehnen, so dass plçtzlich alles bei Fontane Anekdote zu sein scheint? 55 Theodor Fontane: Mathilde von Rohr. In: Ders.: GBA Wanderungen. Bd. 6. Dçrfer und Flecken im Lande Ruppin. Unbekannte und vergessene Geschichten aus der Mark Brandenburg I. Hg. von Gotthard Erler unter Mitarbeit von Therese Erler. 4. Aufl. Berlin 1994, S. 106 – 122, hier: S. 115; vgl. auch Weber: Anekdote (wie Anm. 22), S. 121, Anm. 5 („Frau Friedrich“). 56 Theodor Fontane an Adolf Hoffmann (Entwurf ), 1897. In: HFA IV/4. 1982, S. 649 f, hier: S. 650. 57 Fontane: Von Zwanzig bis Dreißig (wie Anm. 6), S. 389 f (Hervorhebungen dort). 58 Theodor Fontane an Adolf Hoffmann (Entwurf ), 1897 (wie Anm. 56).
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Aber vielleicht ist es gar nicht so falsch, fr einen Moment einmal genau das anzunehmen. VIII. Es ist zu berlegen, ob Fontanes Vorliebe fr die Anekdote, so wie er sie in seinen spteren Jahren zum Ausdruck bringt,59 nicht etwas zu tun hat mit der besonderen Situation der Moderne.60 Zwei Wege seien eingeschlagen, um diese These versuchsweise plausibel zu machen: Zunchst sei – vergleichsweise – ein Gedanke herangezogen, der im Zusammenhang mit der Diskussion der Ausdrcke Moderne und Postmoderne61 entwickelt wurde. Jean-FranÅois Lyotard z. B. spricht von der „Krise der großen sinngebenden Erzhlungen (,grands rcits‘)“.62 Diese „Krise“sei hier am Beispiel des 19. Jahrhunderts schlagwortartig illustriert: In der Philosophie kçnnte man als die letzte ,große Erzhlung‘ Hegels Phnomenologie des Geistes ansehen, die 1807 auf ca. 600 engbedruckten Seiten erscheint;63 danach geschieht eine Weile nichts Vergleichbares; und dann beginnt in den 70er Jahren Nietzsche mit seinen Aphorismen, die manchmal nur 2 Zeilen lang sind; mit einer Kleinform also, durchaus vergleichbar der Kleinform Anekdote.64
59 Es wre zu prfen, ob das Anekdotische in Fontanes spterem Schaffen von dem Anekdotischen im Umkreis der frhen Preußenlieder zu unterscheiden wre, wo mit Recht Fontanes Anekdoten „auch eine ideologische Funktion“ zugesprochen wird (Helmut Scheuer: „Mnner und Helden“ – Geschichte aus dem Geist der Anekdote. In: Interpretationen. Gedichte von Theodor Fontane. Hg. von Helmut Scheuer. Stuttgart 2001 [Universal-Bibliothek 17515], S. 14 – 34, hier: S. 32; vgl. die dort, S. 33 f, angegebene Literatur, besonders Hubertus Fischer: „Gedichte“ – „Soldatenlieder“ – „Preußenlieder“. Wie Fontanes „Preußische Feldherrn“ volkstmlich wurden. In: Jb. f. Brandenburgische Landesgeschichte, Bd. 50 [1999], S. 136 – 168). Nach Weber trgt auch die „Mehrzahl“der in den Wanderungen gebotenen Anekdoten „einen durchaus heroisch pathetischen Charakter“ (Weber: Anekdote [wie Anm. 22], S. 124). 60 Vgl. Lange: Merkwrdige Geschichten (wie Anm. 13), S. 84. 61 Dabei sei hier der Meinung gefolgt, daß von „unklarer zeitlicher Eingrenzung und Merkmalsbestimmung“ auszugehen ist (Anja Saupe: Postmoderne. In: Metzler Literatur Lexikon (wie Anm. 13), S. 602 f, hier: S. 602). 62 Walter Reese-Schfer: Lyotard, Jean-FranÅois. In: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Anstze – Personen – Grundbegriffe. Hg. von Ansgar Nnning. 2., berarb. u. erw. Aufl. Stuttgart, Weimar 2001, S. 395 f, hier: S. 395. 63 Zu Hegel und Nietzsche vgl. Weber: Anekdote (wie Anm. 22), S. 107 f, bes. S. 107, Anm. 6. 64 Literatur zum Themenkomplex Anekdote – Aphorismus – Nietzsche verzeichnet MhicFhionnbhairr: Anekdoten aus aller Welt (wie Anm. 13), S. 22, Anm. 3; vgl. auch Weber: Anekdote (wie Anm. 22), S. 107 f.
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Nietzsche ist es auch, der die Verbindung zwischen dem Abschied „von ohnehin als obsolet begriffenen ,Systemen‘“65 und dem hohen, weil nun philosophisch begrndeten Stellenwert der Anekdote explizit herstellt: an Systemen, die widerlegt sind, kann uns eben nur noch das Persçnliche interessiren, denn dies ist das ewig Unwiderlegbare. Aus drei Anecdoten ist es mçglich, das Bild eines Menschen zu geben; ich versuche es, aus jedem Systeme drei Anecdoten herauszuheben, und gebe das Uebrige preis.66
Obwohl gewiss auf persçnliche Grnde zurckzufhren – Ranke hatte mit diesem weitlufigen Projekt erst in hohem Alter begonnen, war dann erblindet und konnte nur noch diktieren –, ist man fast versucht, es als Zeichen zu sehen, dass die ,große Erzhlung‘ seiner Weltgeschichte eklatant scheiterte: Was vorgelegt werden konnte, behandelt lediglich das Altertum und einen Teil des Mittelalters; zu mehr kam es nicht. Der zweite Versuch, diese achte These plausibel zu machen, beruft sich auf jenen Autor, den Fontane Blomberg als Vorbild vorhlt: auf Heine. Die Heine-Forschung hat sich in den letzten Jahrzehnten bemht, Heine als einen der ersten Modernen in der deutschen Literatur zu interpretieren.67 Dabei wurde u. a. herausgestellt, dass fr Heine ,Ganzheit‘68 – wenn sie denn je mçglich gewesen sein sollte – nicht mehr gegeben ist; mit dem Gegenteil – also z. B. Partikularem69 – habe man sich abzufinden. Der 65 Holger Schmid: ,Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen (1873)‘. In: Nietzsche-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. von Henning Ottmann. Stuttgart, Weimar 2000, S. 87 – 89, hier: S. 87. 66 Friedrich Nietzsche: Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen. In: Ders.: Smtliche Werke. Krit. Studienausg. Hg. von Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. 2., durchges. Aufl. Mnchen usw. 1988, Bd. 1 (dtv 2221), S. 799 – 872, hier: S: 803; bereits zitiert von MhicFhionnbhairr: Anekdoten aus aller Welt (wie Anm. 13), S. 19, Anm. 3. – Weber formuliert mit Blick auf Blumenberg, „daß die Anekdote aufgrund der in ihr geleisteten ironisch-mehrdeutigen Verbindung von Mythos und Geschichte, Faktizitt und Erzhlung als besonders geeignetes Medium eines geistesgeschichtlichen Projekts erscheint, das ein Gegengewicht bieten soll gegen die Einheitsansprche wissenschaftlicher Systeme und geschichtsphilosophischer Konstruktionen“ (Weber: Anekdote [wie Anm. 22], S. 212). 67 Vgl. z. B. Aufklrung und Skepsis. Internationaler Heine-Kongreß 1997 zum 200. Geburtstag. Hg. von Joseph A. Kruse, Bernd Witte u. Karin Fllner. Stuttgart, Weimar 1999. 68 Vgl. Wulf Wlfing: Anti-Holismus. In: Ders.: „Die jrine Beeme“. Einige Bemerkungen zur Romantik-Kritik im Vormrz, speziell bei Bçrne, Heine und den Jungdeutschen: In: Romantik und Vormrz. Zur Archologie literarischer Kommunikation in der ersten Hlfte des 19. Jahrhunderts. Hg. von Wolfgang Bunzel, Peter Stein u. Florian Vaßen. Bielefeld 2003 (Vormrz-Studien X), S. 293 – 312, hier: S. 311 f. 69 Vgl. Lange: Merkwrdige Geschichten (wie Anm. 13), S. 84.
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,Kurzschluss‘ zwischen ,Welt‘ und ,Ich‘ sei unhintergehbar; weswegen Heine in der Regel immer „ich“ sage; doch sei Vorsicht geboten: Dieses Ich sei nicht notwendigerweise eine autobiographische Instanz, sondern eine Kunst- und Rollenfigur, ein sthetisches Produkt, bei dem das ,Fehlen‘ von ,Objektivem‘ kompensiert werde durch dessen Gegenteil: eben durch das ,Subjektive‘70, den „eigenen Stil“, die „Mache“. Fazit: Fontane geht es um die „Rckeroberung von Existenz fr das vom offiziellen historischen Bewusstsein Ausgeschlossene“.71 Mittel dieser „Rckeroberung“: Fontanes Anekdote „reduziert“ die „Distanzen auf vertrauliche Nhe“72, ohne dabei auf „das Wiedergeben des alltglichen Lebens, am wenigstens seines Elends und seiner Schattenseiten“ zu verfallen;73 er bleibt vielmehr seinem alten ,Realismus‘-Programm treu; die „poetische Verklrung“dominiert.74 Fr diese ist nicht jeder Stoff geeignet, sondern nur einer, den Fontane als fr sich „glcklich“ empfindet, wie er am „Bredow-Stoff“ deutlich macht: ich halte den Bredow-Stoff nach wie vor fr einen besonders glcklichen, glcklich namentlich fr mich, da ich nirgends auf das Große aus bin (das findet doch seinen Darsteller), sondern auf das Mittlere, selbst auf das Kleine, das ich, idyllisch und humoristisch angeflogen, am liebsten behandle.75
Statt der Darstellung des „Großen“ bietet Fontane die „Kleinmalerei“, die im Genrebild Details einer Person auspinselt; freilich in der Hoffnung, ja in der Gewissheit, dass die ausgewhlten Details ,bedeutsam‘ sind, weil im „Nebenschlichen“ schließlich „was drin“ stecke. Fontane hat diesen Gegensatz in Frau Jenny Treibel personifiziert in den Figuren Schmidt, der Namen der Geschichte auch einmal ,vergessen‘ kann, 70 Vgl. Stefan Greif: Tunnelfahrt mit Lichtblick. Fontanes ,anekdotische‘ Knstlerbiographien. In: FBl 65 – 66 (1998), S. 285 – 299, hier: S. 288. 71 Weber: Anekdote (wie Anm. 22), S. 119. 72 Blumenberg: Zwischen Anekdote und Mythos (wie Anm. 26), S. 160. Es wre zu untersuchen, ob diese Inszenierung „vertrauliche[r] Nhe“ nicht auf so etwas wie Mythisierung durch ,Entmythisierung‘ hinauslaufen kçnnte. – Zur Blumenbergschen „Analogie“ der Anekdote „zum Mythos“ vgl. Weber: Anekdote (wie Anm. 22), S. 210. 73 Theodor Fontane: Unsere lyrische und epische Poesie seit 1848. In: HFA III/1. 1969, S. 236 – 262, hier: S. 240. 74 HFA III/1. 1969, S. 237. – Mit „Blick auf die Anekdote“ sei bei Fontane davon auszugehen, „daß ein idealer Gehalt als Selektionskriterium von primrer Relevanz ist“ (Weber: Anekdote [wie Anm. 22], S. 124; zum „Begriffspaar ,charakteristisch‘ und ,poetisch‘“ zur generellen Unterscheidung von Anekdoten vgl. ebd., S. 215 ff ). 75 Theodor Fontane an Heinrich Jacobi; 23. Januar 1890. In: HFA IV/4. 1982, S. 17 (Hervorhebungen dort).
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und Diestelkamp, fr den „kein Heerwesen ohne Disziplin“, „kein Schulwesen ohne Autoritt“ sein darf.76 Schmidt: „Die Geschichte geht fast immer an dem vorber, was sie vor allem festhalten sollte. Daß der Alte Fritz am Ende seiner Tage dem damaligen Kammergerichtsprsidenten, Namen hab’ ich vergessen, den Krckstock an den Kopf warf, und, was mir noch wichtiger ist, daß er durchaus bei seinen Hunden begraben sein wollte, weil er die Menschen, diese ,mechante Rasse‘, so grndlich verachtete – sieh, Freund, das ist mir mindestens ebensoviel wert wie Hohenfriedberg oder Leuthen. Und die berhmte Torgauer Ansprache, ,Rackers, wollt ihr denn ewig leben‘, geht mir eigentlich noch ber Torgau selbst.“ Distelkamp lchelte. „Das sind so Schmidtiana. Du warst immer frs Anekdotische, frs Genrehafte. Mir gilt in der Geschichte nur das Große, nicht das Kleine, das Nebenschliche.“ „Ja und nein, Distelkamp. Das Nebenschliche, soviel ist richtig, gilt nichts, wenn es bloß nebenschlich ist, wenn nichts drin steckt. Steckt aber was drin, dann ist es die Hauptsache, denn es gibt einem dann immer das eigentlich Menschliche.“ „Poetisch magst du recht haben.“ „Das Poetische – vorausgesetzt, daß man etwas anderes darunter versteht als meine Freundin Jenny Treibel –, das Poetische hat immer recht; es wchst weit ber das Historische hinaus …“77
Der Dissens der beiden Freunde lsst sich auf eine Frage reduzieren, die schon Novalis gestellt hat: „Welches hat den Vorzug, das Continuum oder das Discretum? Ein großes Individuum oder eine Menge kleiner Individuen? Jenes unendlich – diese bestimmt, endlich, gerichtet, determinirt.“78 Abgesehen davon, dass – im Sinne von Moderne und Postmoderne – das „Continuum“ nichts anderes sein kçnnte als ein ,idealistisches‘ Konstrukt, entscheidet sich Schmidt gegen das „Continuum“, weil er die Gefahr sieht, dass in ihm die „Menge kleiner Individuen“ zu verschwinden droht. Um die „Karakteristik der Menschheit“ zu bewahren, die „eine große Klasse von Anekdoten“ zeigt,79 folgt Schmidt – wie sein Autor – eher der
76 Theodor Fontane: Frau Jenny Treibel. In: HFA I/4. 1963, S. 297 – 478, hier: S. 352. 77 HFA I/4. 1963, S. 359 f. – Zu recht wurde dieser Dialog in der einschlgigen Literatur schon çfter zitiert, u. a. bei Paul Kirn: Das Bild des Menschen in der Geschichtsschreibung von Polybios bis Ranke. Gçttingen 1955, S. 150 f; MhicFhionnbhairr: Anekdoten aus aller Welt (wie Anm. 13), S. 19 f. 78 Novalis: Anekdoten (wie Anm. 14), S. 567. 79 Novalis: Anekdoten (wie Anm. 14), S. 567 f.
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Maxime des Novalis, die da lautet: „Ein Anekdotenmeister muß alles in Anekdoten zu verwandeln wissen.“80
80 Novalis: Anekdoten (wie Anm. 14), S. 567. – Dieser Sentenz des Novalis, der auch von der „Kunst des Anekdotisirens“ (ebd., S. 568) spricht, fhrt – unter dem Aspekt dieser achten These – noch einmal zurck zum Ausgangspunkt, zu Peter Wrucks Beobachtungen ber Fontanes „Selbstverstndnis“als „Teilnehmer“am literarischen Leben; dann nmlich, wenn man das Anekdotische bei Fontane betrachtet als „Projektion kollektiver Erfahrungsqualitt fr eine Literatur […], deren schwindenden Deutungsanspruch Fontane nur allzu deutlich registriert hat“ (Lange: Merkwrdige Geschichten [wie Anm. 13], S. 85).
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Schnurren, Lgen und Legenden Theodor Fontane in der Anekdote*
Wolfgang Rasch I. Fontanes Vorliebe fr die Anekdote ist hinlnglich bekannt. Die Anekdote kam seiner zutiefst kommunikativen Natur, seiner Lust an der Plauderei und seinem leidenschaftlichen Mitteilungsbedrfnis entgegen. Aber auch fr den Romancier und den Historiker Fontane war die Anekdote von großer Bedeutung. Als er 1898 ein altes Wanderungen-Projekt wieder aufnimmt, Das Lndchen Friesack und die Bredows, bittet er das Mitglied des Touristenklubs fr die Mark Brandenburg Albert Poppe, ihm bei der Materialsuche behilflich zu sein. „Gibt es in der Stadt Friesack“, so fragt Fontane, oder auf einem der in der Nhe gelegenen Dçrfer einen Geistlichen oder Lehrer oder wildgewordenen Forst- oder Steuerassistenten, der sich mit solchen Dingen beschftigt und einem Anekdoten und Schnurren, Legenden und Lgen erzhlen kann. Letztere ganz besonders willkommen, weil sie meist das Interessanteste sind.1
Mit dieser aufschlussreichen Klimax hat Fontane das Feld absteckt, das wir berschauen wollen, mit dem Unterschied freilich, dass hier Fontane selbst Mittelpunkt von allerlei Schnurren, Lgen und Legenden sein soll. Wie ist es um Fontane im Anekdotenschatz der Deutschen bestellt? Gibt es gengend Anekdoten, die Fontanes Persçnlichkeit, seine Individualitt, seinen Charakter lebendig werden lassen und sind diese berhaupt hçrenswert, lesenswert oder sogar brauchbar fr eine Biographie? Was hat die Anekdote im 20. Jahrhundert, die vor allem in Tageszeitungen verbreitet wurde, aus ihm gemacht? Ausgangspunkt fr einen Blick auf diesen spezi* 1
Anmerkung: Der Beitrag ist eine ergnzte Fassung des Vortrages, wie er am 21. September 2007 an der Berliner Humboldt-Universitt gehalten wurde. Theodor Fontane an Albert Poppe, 12. September 1898. In: [Albert] Poppe: Zur Erinnerung an Theodor Fontane. In: Deutsche Warte. Berlin, Nr. 350, 21. Dezember 1919 (Beilage: Der Sonntag).
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ellen Teil der Wirkungsgeschichte Fontanes ist die Zusammenstellung von Fontane-Anekdoten in Kapitel 21/4 der Fontane-Bibliographie2, die wiederum auf dem Bestand der Zeitungsausschnittsammlung im TheodorFontane-Archiv in Potsdam basiert. Da es sich bei Anekdoten in Tageszeitungen und Zeitschriften um ephemere Kleintexte handelt, die sich kaum vollstndig dokumentieren lassen und deren komplette Wiedergabe in einer Personalbibliographie auch nicht erwartet werden kann, beschrnken wir uns auf diese bibliographisch dokumentierte Auswahl und setzen voraus, dass sie reprsentativen Charakter hat.
II. Doch zunchst sollen ein paar allgemeine Bemerkungen zum Wesen der Anekdote den Rahmen unseres Themas abstecken: 1. „Als A. bezeichnet man eine kurze, oft anonyme Erzhlung eines historischen Geschehens von geringer Wirkung, aber großer Signifikanz, die mit einer sachlichen oder sprachlichen Pointe endet.“3 So definiert Ernst Rohmer im Historischen Wçrterbuch der Rhetorik die Anekdote, wobei in der Erzhlpraxis das Verhltnis von ,geringer Wirkung‘ zur ,großen Signifikanz‘ stark schwanken kann und die Qualitt der Pointe in der Regel sehr unterschiedlich ausfllt. Fr Franz Carl Weiskopf ist die Anekdote eine pointiert vorgetragene, merkwrdige (das ist des Merkens wrdige) Kurzgeschichte, die Vorgnge, Verhaltensweisen und Charaktere gewissermaßen blitzartig erhellt, dergestalt, daß die Mit- und Nachwelt den Kern eines Menschen, die Quintessenz einer Situation, den Herzpunkt eines gesellschaftlichen oder historischen Zustands prsentiert bekommt.4
2. Die Anekdote als eigenstndige Textgattung ist von anderen epischen Kleinformen nur schwer abzugrenzen. Sie lsst durch ihre Form und Struktur, Pointiertheit und/oder Nachdenklichkeit eine große Nhe zur Kurzerzhlung, Legende, Kalendergeschichte, zum Schwank, Witz, Sinn2
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Vgl. Wolfgang Rasch: Theodor Fontane Bibliographie. Werk und Forschung. In Verbindung mit der Humboldt-Universitt zu Berlin und dem Theodor-FontaneArchiv Potsdam hg. von Ernst Osterkamp u. H. Delf v. Wolzogen. Berlin, New York 2006. Bd. 2, S. 1221 – 1248. E[rnst] Rohmer: Anekdote. In: Historisches Wçrterbuch der Rhetorik. Hg. von Gert Ueding. Red.: Gregor Kalivoda, Franz-Hubert Robling. Bd. 1: A–Bib. Tbingen 1992, Sp. 566 – 579; hier Sp. 566. Zitiert nach Walter Dietze: Nachwort. In: Treffliche Wirkungen. Anekdoten von und ber Goethe. Hg. von Anita u. Walter Dietze. Bd. 2. Berlin, Weimar 1987, S. 346.
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spruch oder zum Aphorismus erkennen. Die Anekdote ist verwandt mit dem Gercht und vor allem mit dem Klatsch, die ihrerseits eine Voraussetzung fr Anekdoten sein kçnnen. 3. Die Anekdote ist stark von Mndlichkeit geprgt, wird oft nur gesprochen tradiert und variiert den Erzhlinhalt durch bertreibungen und Hinzudichtungen im Laufe der Zeit stark. 4. Als eigenstndige literarische Kunstgattung entsteht die Anekdote in Deutschland erst im spten 18. bzw. frhen 19. Jahrhundert. Ein Meilenstein in dieser Entwicklung sind Kleists Anekdoten fr das Berliner Abendblatt. Verwendung findet die Anekdote auch als strukturbildendes Moment in grçßeren Erzhlkomplexen, beispielsweise in Fontanes Vor dem Sturm. 5. Im 19. Jahrhundert erlebt die Anekdote eine bemerkenswerte Blte. Unzhlige Anekdoten-Almanache, -Kalender, -Sammlungen werden herausgegeben. Ganze Zeitschriften konzentrieren sich auf die Anekdote mit verlockenden Titeln wie Der Anecdotenjger, der es zwischen 1845 und 1868 immerhin auf 24 Jahrgnge bringt,5 oder die in Wien erscheinende Anekdoten-Zeitung, die im Untertitel als Zentral-Organ fr Bonmots, Witze, Spße, geflgelte Worte, unsterbliche Druck- und andere Fehler, Kasimiriaden, bureaukratische Bandwrmer, militrische Mitesser, klerikale Hhneraugen, fr Schnurrpfeifereien6 usw. das große Spektrum unterhaltsamer Kurzprosa benennt. 6. Die Anekdote wird aufgrund ihrer Krze bevorzugt von Zeitschriften und Zeitungen als Lckenbßer verwendet. Neben Witzen, Schachaufgaben, Rçsselsprngen und Rtseln erhlt die Anekdote etwa seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts einen festen Platz auf der Unterhaltungsseite oder dem Feuilleton der Tageszeitung. Die Anekdote ist daher auch Untersuchungsgegenstand der Publizistik. Heute ist die Anekdote aus der Tagespresse nahezu ganz verschwunden und weitgehend durch Gesellschaftsklatsch ersetzt worden. 7. Von entscheidender Bedeutung fr die Wirkung einer Anekdote ist ihr Grad an Wahrheit bzw. Wahrscheinlichkeit. Selbst fiktive Anekdoten, die nicht auf einer historisch verbrgten Begebenheit beruhen, mssen so ge5
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Der Anecdotenjger. Zeitschrift fr das lustige Deutschland. Leipzig, Nordhausen, 1845 – 1868. Vgl. Alfred Estermann: Die deutschen Literatur-Zeitschriften 1850 – 1880. Bibliographien, Programme. Mnchen, New York, London, Paris 1988. Bd. 1, S. 120 – 126. Vgl. Estermann: Die deutschen Literatur-Zeitschriften 1850 – 1880 (wie Anm. 5), S. 126 – 127.
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schickt angelegt sein, dass sie dem Hçrer/Leser glaubhaft erscheinen. Wer die Zuverlssigkeit von Anekdoten ergrnden will, muss sie besonders aufmerksam lesen. Walter Dietze formuliert angesichts der Zuverlssigkeit von ber 500 Goethe-Anekdoten folgenden Fragenkatalog fr den kritischen Umgang mit Anekdoten „Wer erzhlt? Wann wird erzhlt? Wieviel Zeit liegt zwischen Geschehen und Bericht? War der Erzhler Augenzeuge? Oder berichtet er Berichtetes? Wer sind seine Gewhrsleute?“7 8. Anekdoten von historischen oder noch lebenden Persçnlichkeiten sind ein Gradmesser fr deren anhaltende oder schwindende Popularitt. Im Mittelpunkt einer Anekdote zu stehen, drfte allen, die von der ffentlichkeit leben, willkommen sein, wenn es sich nicht um ble Nachrede handelt. Denn wer mçchte nicht gern im Gesprch bleiben? Damit kommen wir schnurstracks auf Fontane zurck.
III. Man kann bei gedruckten Fontane-Anekdoten von drei Phasen sprechen: Die erste Phase umfasst die Selbstcharakterisierung Fontanes; er arbeitet viel anekdotisches Material in seine autobiographischen Werke ein oder teilt Anekdotisches in Briefen mit. Aus diesen Selbstzeugnissen haben sptere Anekdotenschreiber Einzelnes nacherzhlt und zu eigenstndigen FontaneAnekdoten geformt, ohne jedoch das in den autobiographischen Werken oder Briefen steckende Potential an Anekdoten auch nur annhernd auszuschçpfen.8 Fontanes Selbstdarstellungsknste sind eigentlich nicht Thema dieses Beitrages. Wir mssen jedoch einer Sondererscheinung besondere Aufmerksamkeit schenken: Anekdoten, die Fontane aus seinem Leben mitgeteilt aber nicht niedergeschrieben hat. So verçffentlicht Georg Friedlaender 1907 in der Vossischen Zeitung eine Episode aus dem Leben des Apothekerlehrlings Fontane, die ihm Fontane einmal erzhlt hatte und die sich am 10. April 1838 whrend seines Nachtdienstes in der Apotheke von Wilhelm 7 8
Dietze: Nachwort. In: Treffliche Wirkungen. Anekdoten von und ber Goethe (wie Anm. 4), S. 319. Werner Liersch hat 1998 ein Bndchen mit Fontane-Anekdoten geschrieben, das aus kurzen, berwiegend Fontane nacherzhlten Prosahppchen besteht. (Ein gewisses Quantum Mumpitz. Anekdoten von Theodor Fontane. Gesammelt und aufgeschrieben von Werner Liersch. Berlin 1998.) Bei weitem nicht alle dieser Textpartikel weisen Merkmale einer Anekdote auf. Wir kçnnen es hier getrost bergehen.
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Rose zutrug.9 Friedlaender schildert, wie Fontane nur ungengend bekleidet, im Schlafrock durch das mitternchtliche Berlin eilt, um eine in der Roseschen Apotheke fehlende, im brigen vçllig nutzlose Fruchtsaftbeimischung fr ein fiebersenkendes Mittel zu beschaffen, das im Hause des Universittsprofessors Johann Gustav Droysen nach der Geburt seines Sohnes nçtig geworden ist. Der besorgte Vater besteht unerbittlich auf ordnungsgemße Einhaltung der Rezeptur, die u. a. Himbeer- oder Kirschsirup vorsieht. Mit Mh und Not ergattert Fontane schließlich das sße Getrnk. Der kleine Scherz dieser Anekdote beruht natrlich nicht nur auf dem Sachverhalt, dass der spter berhmte Historiker Gustav Droysen schon als ganz frischer Erdenbrger die Nachtruhe des spter berhmten Dichters Theodor Fontane empfindlich gestçrt hat, nicht nur auf der Tatsache, dass der Apothekerberuf viel vergebliches und manchmal ganz sinnloses Tun ist. Reizvoll fr den Berliner des Jahres 1907 ist vor allem die Vorstellung des nchterlings ber das dunkle Berliner Trottoir im flatternden Schlafrock dahineilenden Theodor Fontane, der Kontrast von Einst und Jetzt, und so ist die Anekdote kurz nach ihrem ersten Erscheinen sogleich von zahlreichen anderen Berliner Zeitungen nachgedruckt worden. Einige kleinere Ungenauigkeiten unterlaufen Friedlaender – oder seinem Gewhrsmann Fontane? – bei der Nacherzhlung. So etwa die Bemerkung, Fontane habe sich damals „schon als Lyriker und Balladendichter im ,Berliner Figaro‘ etabliert“10, was nicht stimmt, da dessen literarisches Debt erst im Dezember 1839 stattfindet; im brigen nicht mit Lyrik und Balladen, sondern mit einer Erzhlung. Auch die bildhafte Ausschmckung Fontanes ist ganz FriedACHTUNGRElaenders Eigentum: „Und immer im Schlafrock auf dem bloßen Hemde“, schreibt er ber den gehetzten Lehrling, „in seinem wogenden Gange, mit dem vollen Lockenhaar und den großen, gtigen, klugen Augen!“ Ob diese „großen, gtigen, klugen Augen“ schon ein besonderes Merkmal des jungen Fontane waren, lassen wir dahingestellt. An dieser Stelle sei ein kurzes Fragen-Intermezzo eingefgt: Hat Fontane je daran gedacht, er kçnne selbst einmal Gegenstand einer grçßeren Biographie werden? Hat er sich vorgestellt, wie diese Biographie beschaffen sein msse, wer eine solche schreiben kçnne? Hat er mçglicherweise Friedlaender 9 Georg Friedlaender: Anekdotisches aus Fontanes Apothekerzeit. In: Vossische Zeitung. Berlin, 18. Dezember 1907. – Nachgedruckt in: „Erschrecken Sie nicht, ich bin es selbst“. Erinnerungen an Theodor Fontane (wie Anm. 12), S. 11 – 13. 10 Friedlaender: Anekdotisches aus Fontanes Apothekerzeit. Zitiert nach: „Erschrecken Sie nicht, ich bin es selbst“. Erinnerungen an Theodor Fontane (wie Anm. 12), S. 13.
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Episoden aus seinem Leben erzhlt mit der bewussten Absicht oder einem unbewussten Hintergedanken, dieser kçnne einmal etwas Grçßeres daraus machen? Oder wollte Fontane, der ursprnglich dekretiert hatte, „daß alle ungedruckten Schriftstcke, die in seinem Nachlaß vorgefunden wrden, verbrannt werden sollten“11, keine erhellende, umfassende Biographie, vor allem keine biographischen Schnffler, die indiskret auch unerfreuliche, peinliche und mit Erfolg verdrngte Lebensumstnde ergrnden? Stattdessen anekdotische Nebelkerzen mit angenehm narkotischer Wirkung auf Leser und Hçrer, wie sie Fontane selbst geschickt und kunstvoll in seinen autobiographischen Werken aufgesteckt hat? Die zweite Phase der Fontane-Anekdoten beginnt unmittelbar nach dessen Tod und beruht im Wesentlichen auf Erinnerungen seiner Freunde, Kollegen, Familienangehçrigen und Bekannten. Sie reicht ungefhr bis in die dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts. Erstmals sind die Erinnerungen und viele Anekdoten in dem 2003 herausgekommenen Sammelband Erschrecken Sie nicht, ich bin es selbst12 dokumentiert worden. In diesen vierzig Jahren zwischen 1898 und 1938 erlebt die Fontane-Anekdote eine Blte sowohl was die Menge als auch die Qualitt der Texte angeht. Ich will hier zwei Anekdoten stellvertretend fr viele vorstellen. Zuerst von Fontanes Rechtsbeistand Justizrat Paul Meyer, der in den zwanziger Jahren in der Vossischen Zeitung mancherlei ber Fontane zum Besten gibt. Man kçnnte einige seiner Fontane-Anekdoten klassisch nennen, htten sie spter nur eine grçßere Verbreitung gefunden. Aber die 1936 herausgegebenen Erinnerungen an Theodor Fontane13 des im Jahr zuvor verstorbenen Berliner Juden Paul Meyer konnten aufgrund der antisemitischen Politik nur noch als Privatdruck erscheinen, ihr Herausgeber, Fontanes Patenkind Hans Sternheim, wurde 1942 nach Theresienstadt deportiert, 1944 in Auschwitz ermordet. Meyer schrieb nicht nur Anekdoten ber Fontane auf, sondern teilte auch eine mit, die diesem einst berichtet wurde und die Fontane so entzckte, dass ihr dictum fr ihn zum geflgelten 11 Paul Meyer: Sein Testament. In: „Erschrecken Sie nicht, ich bin es selbst“. Erinnerungen an Theodor Fontane (wie Anm. 12), S. 240. 12 „Erschrecken Sie nicht, ich bin es selbst.“ Erinnerungen an Theodor Fontane. Hg. von Wolfgang Rasch u. Christine Hehle. Berlin 2003. – Die Sammlung und Zusammenstellung dieser Erinnerungstexte resultierte im Wesentlichen aus meinen eingehenden Recherchen fr die 2006 erschienene Theodor Fontane Bibliographie. 13 Erinnerungen an Theodor Fontane. 1819 – 1898. Aus dem Nachlaß seines Freundes und Testamentsvollstreckers Justizrat Paul Meyer. Berlin 1936. – Die Erinnerungstexte daraus sind vollstndig bernommen in „Erschrecken Sie nicht, ich bin es selbst.“ Erinnerungen an Theodor Fontane (wie Anm. 12), S. 230 – 249.
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Wort wurde. Es handelt sich um eine Situationsanekdote, die Meyer so erzhlt: Hans Hertz spaziert eines Tages durch Berlins Straßen, geht seines Weges, als kurz vor ihm ein Kolonialwarenhndler aus seinem Laden herausstrzt, einen davorstehenden kleinen Knaben packt und verprgelt. Der rmste schreit jmmerlich, so daß unser Hans Hertz sich mitleidsvoll bewogen fhlt, einzuschreiten. Er stellt also den Hndler zur Rede. „Das sagen Sie so, lieber Herr“, erwiderte jener. „Jeden Tag steht der Bengel, wenn er von Schule kommt oder hinjeht, hier beim Keller still und paßt uff. Wenn denn keiner von uns jrade hinsieht, stellt er sich da an das Faß Sauerkohl und p . . t rin. Nu schad’t ja det den Sauerkohl nischt – aber wat soll der Unsinn?“14
Diese Geschichte war nun wirklich ein anekdotischer Leckerbissen fr Fontane. Die Pointe, die empçrte, aber hilflose Frage des Kolonialwarenhndlers, abgrndig und bodenlos absurd, zitierte er bald hufiger und machte sie zu einem geflgelten Wort, um einem bestimmten Lebensgefhl Ausdruck zu verleihen. Die ursprngliche Fremd- und Situationsanekdote mutiert damit zu einer Charakteranekdote, die man in keiner Sammlung von Fontane-Anekdoten missen mçchte. Viele komische und nachdenkliche Episoden sind nicht als einzelne Anekdote mitgeteilt worden, sondern oft Segmente, meist Hçhepunkte eines umfangreicheren Textganzen. Manche Prosapassagen hneln dabei nur einer Anekdote, andere ließen sich leicht ausschneiden und als fertige Anekdote verbreiten. Ich gebe ein Beispiel aus einem grçßeren Kontext. Der Kulturphilosoph und Publizist Theodor Lessing (1872 – 1933) erinnert sich in seiner Autobiographie Einmal und nie wieder15 eines Besuches bei Fontane, zu dem ihn Maximilian Harden mitnimmt. Das ereignet sich etwa 1891. Lessing, Enkel des Dsseldorfer Bankiers Leopold Ahrweiler, den Fontane aus dem Dsseldorfer Denkmalkomitee fr Heine kennt, ist noch Gymnasiast in Hannover. Nachdem Fontane und Harden mit Blick auf Gerhart Hauptmann ber modernen Realismus gesprochen haben und der junge Gymnasiast den alten Fontane belehrt hat, wie ein Autor die Wirklichkeit dichterisch richtig zu behandeln habe, wechselt man
14 „Erschrecken Sie nicht, ich bin es selbst.“ Erinnerungen an Theodor Fontane (wie Anm. 12), S. 243. 15 Lessings Lebenserinnerungen Einmal und nie wieder erschienen aus dem Nachlass 1935 in einem Prager Verlag und erst 34 Jahre spter, 1969, in Deutschland. Im August 1933 war der nach Hitlers Machtbernahme in die Tschechoslowakei geflchtete Lessing in Marienbad von nationalsozialistischen Parteigngern ermordet worden.
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in die gute Stube, wo Fontanes Frau und Tochter schon am Teetisch sitzen. Eine kurze Vorstellung des jungen Mannes findet statt. Lessing: Zu seiner Tochter sagte er ironisch: „Der junge Herr ist in Berlin, um Dichter zu werden.“ „Nur nicht“, sagte die Tochter, und die alte Dame nçhlte: „Man kann in dem Beruf nicht anstndig bleiben.“ Hocherrçtend stammelte ich etwa: „Herr Fontane und Herr Harden zeigten mir ja, daß man es doch kçnne“, worauf Herr Fontane lachend Herrn Harden fragte: „Sind Sie anstndig?“ und dieser lachend erwiderte: „Mit Auswahl.“ Dann sprachen sie zu meiner Pein von Berufswahl und den Schwierigkeiten fr die heutige Jugend. „Sie haben doch Primareife?“ fragte Fontane. „Nun wohl, wie wrs mit dem hçheren Postfach? Oder Eisenbahner?“ Als sie meine Verlegenheit sahen, sagte Harden hilfreich, daß ich schçne Gedichte mache und Fontane: „Sie haben gewiß welche in der Tasche. Wollen Sie uns etwas lesen?“ Natrlich! Ich war ausgepolstert mit Lyrik. Ich las, der Umgebung angemessen, ein biederes Gedicht: „Die Jagd nach dem Glck.“ „Recht nett“, sagte Fontane. Seine Frau meinte: „Zahntechniker sei noch nicht so berfllt und bçte gute Aussichten.“ – Ja! Dieser Besuch bei einem großen Dichter war erhebend, aber gab nicht die mindeste Gelegenheit, in Abgrnde der Seele zu leuchten oder Menschheit zu erziehn. Als wir endlich nach vielen Hçflichkeiten uns empfahlen, rief Fontane an der Treppenstufe mich zurck. Er stand in seiner Flurtr, legte freundlich die Hand auf meine Schulter und sagte lchelnd: „Hçren Sie meinen Rat, Herr Lessing. Zahntechniker ist besser, als Lyriker. Grßen Sie Großpapa.“16
Das ist außerordentlich plastisch erzhlt, lakonisch und durch Einfhrung direkter Rede – Mndlichkeit zeichnet ja die Anekdote aus – sehr lebendig und wirklichkeitsnah, mit feiner Ironie, vor allem mit selbstironischen Untertçnen auch nachdenklich gehalten. Dieser Ausschnitt aus Lessings Autobiographie, selbst nur ein Teil der Schilderung seines Besuches bei Fontane, erfllt ohne Zweifel die Voraussetzungen, die eine gute Anekdote haben muss, und mit seinen drei Pointen ließen sich sogar drei Anekdoten daraus machen. berschauen wir die Fontane-Anekdoten, wie sie sich in zahlreichen kleinen und grçßeren Texten zwischen 1898 und etwa 1938 niederACHTUNGREgeschlagen haben, so konzentrieren sie sich inhaltlich auf die letzten 25 Lebensjahre Fontanes und seine Winkelexistenz in der Potsdamer Straße 134c. Es kommen vornehmlich jngere Autoren zu Wort. Sie nehmen Fontane als alten Herrn wahr, der der Jugend aufgeschlossen gegenbersteht. Sie charakterisieren ihn – mit ganz wenigen Ausnahmen – als milde, großzgig, tolerant, humorvoll, charmant, altersweise, sehr menschlich und doch irgendwie ber den Dingen schwebend. Misstçne erklingen keine. 16 Zitiert nach „Erschrecken Sie nicht, ich bin es selbst“. Erinnerungen an Theodor Fontane (wie Anm. 12), S. 227.
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Nichts wird auf Kosten Fontanes erzhlt, nirgendwo schneidet Fontane schlecht ab. So entsteht ein nahezu unmenschlich einseitiges Bild an Gte und Nettigkeit. Mag manche Einzelreminiszenz unscharf sein, manche Behauptung fragwrdig, der Autor hie und da schwindeln oder bertreiben, Gewesenes als ,besonnte Vergangenheit‘ verklren oder eine Episode zur tendenziçsen oratio pro domo ummnzen, so besitzen diese anekdotischen Erinnerungsspuren doch einen vergleichsweise hohen Authentizittswert. Mit dem Aussterben einer Generation, die Fontane noch persçnlich gekannt und erlebt hatte, beginnt die dritte Anekdotenphase, und jetzt kommen richtige „Legenden und Lgen“ ins Spiel. Ich beginne mit einer Anekdote, die zu Beginn des letzten Jahrhunderts auf dem Lande, genauer gesagt in Caputh, mndlich tradiert wurde. Festgehalten hat sie Otto Gutzeit17, der sie unter dem Titel Theodor Fontane und der alte Bosdorf am 12. November 1927 in der Beilage zur Potsdamer Tageszeitung, dem Havellndischen Erzhler, verçffentlicht hat. Fontane, so heißt es da, sei einmal nach Caputh gekommen und sehr verstimmt gewesen ber seinen Empfang im Schloss. Verdrossen ging [er] ins Bosdorfsche Gasthaus, um in einem Glase Wein seinen Aerger zu vergessen. Der alte Bosdorf nun mußte wohl die außergewçhnliche Dichterseele in Fontane […] erfhlt haben, er fand sich zu diesem Manne hingezogen und bewirtete ihn, wie man es nur mit einem verehrten Gast tut. Fontane vergaß darber seinen ganzen Caputher Aerger; der gute Wein aus dem alten Bosdorfer Keller tat sein Uebriges; – Fontane blieb, – blieb als Gast des alten Bosdorf, im Gasthaus mit der freundlichen Linde vorder Tr, unter der es sich so schçn pokulieren ließ. Am frhen Morgen […] saß Fontane unter diesem grnen Dach und schrieb an seinen „Wanderungen durch die Mark“. Der alte Bosdorf trat wohl ab und zu vor die Tr seines Hauses, blinzelte […] nach seinem Gast hinber, geehrt dadurch, daß gerade s e i n Haus und s e i n e Linde die Sttte war, die einstmals Ewigkeitswert besitzen wrde durch das dort entstandene Werk einer hohen Dichterseele.
Doch eines Tages muss Fontane Abschied nehmen: Eine berhmte Berliner Tnzerin holte Fontane ab; der Kremser, bereits vollbesetzt, wartete vor der Tr, und Fontane stand noch mit dem alten Bosdorf in der Gaststube zusammen und sie tranken noch und noch einmal den goldenen Abschiedstrunk und nahmen brderlichen Abschied. Und als dann Fontane mit der Tnzerin im Wagen schon das Abfahrtszeichen gab, da eilte der alte Bosdorf noch einmal an den Verschlag, zwei blinkende Rçmer zum „Satteltrunk“ reichend. 17 ber den Autor ließ sich nichts ermitteln.
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Das hatte sich, bezogen auf das Jahr 1927, vor etwa sechzig Jahren zugetragen, lag also sehr lange zurck. Otto Gutzeit kann kein Augenzeuge gewesen sein. Er nennt fr diese Geschichte aber einen Gewhrsmann, der in diesem Fall eine Gewhrsfrau ist, eine alte Witwe, die im Dorf ihren Lebensabend verbringt und gern erzhlt, „daß einmal der Dichter Fontane unter dem schwiegervterlichen Dache gehaust hat“. Ob sie Fontane noch selbst gesehen hat oder die Geschichte nur vom Hçrensagen – etwa vom Schwiegervater – kennt, erfahren wir nicht. Was ist wahr an der Geschichte? Im Sommer 1869 bereist Fontane, wie er in einem Wanderungen-Kapitel schreibt, mit einem ortskundigen Begleiter, dem Potsdamer Lehrer Heinrich Theodor Wagener, die Gegend um den Schwielowsee und kommt dabei nach Caputh. Da es schon Abend geworden ist, beschließt man, erst am nchsten Tag das Schloss zu besichtigen, und quartiert sich in einem Gasthaus ein, dessen Besitzer Bosdorf Fontane unbekannt ist, der sich aber in der Umgebung einer gewissen Popularitt erfreut. Und dieser Bosdorf wird unserem Fontane schnell sympathisch, denn er besaß, so Fontane, „die unerlßlichste aller Wirtseigenschaften: er war freundlich. Sein Bier und seine Rede lullten mich ein, und ich schlief bis an den hellen Tag.“18 Am nchsten Morgen frhstckt Fontane unter der großen Linde vor dem Gasthof, hat ausgiebig Gelegenheit, das Dorfleben zu beobachten, aber auch den liebenswrdigen Diensteifer seines Wirtes. Denn es erscheint ein Kremser mit einer kleinen Gesellschaft, die einen Morgenimbiss verlangt. Mittelpunkt der Gste eine Dame von vielleicht dreißig Jahren, die „eine große italienische Laute auf ihren Knien“19 hlt. Fontane fixiert interessiert das dargebotene Tablett von Bosdorf: Es war ein Morgenimbiß, der fr den Rest des Tages einige Perspektiven erçffnete: vier Kulmbacher, vier Werdersche, mehrere Cognacs und eine Pyramide von Butterbroten. Alle Macht ist ein Magnet – Boßdorf prsentierte der Lautenschlgerin zuerst. Diese […] glitt, nicht ohne einen Anflug von Entsagung, ber die vielen kleinen Glser hin, nahm eine Kulmbacher, prfte das Verhltnis von Schaum und Saft und trank aus. Ohne abzusetzen.20
Fontane ist fasziniert von der trinkfesten Lautenschlgerin, er blickt ihr noch nach, als die Gesellschaft aufbricht: „Ein Lindenzweig streifte noch huldi-
18 Theodor Fontane: Caputh. In: GBA Wanderungen. Bd. 3. Havelland. 1994, S. 400 – 413, hier: S. 400 – 401. 19 GBA Wanderungen. Bd. 3. Havelland. 1994, S. 402. 20 GBA Wanderungen. Bd. 3. Havelland. 1994, S. 403.
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gend die Stirn der Primadonna; im nchsten Augenblicke verschwand der Kremser in einer Querstrasse des Dorfes.“21 Nun lassen sich zwischen der Anekdote und Fontanes Darstellung leicht mehrere Widersprche feststellen. Fontane geht in der Anekdote zuerst ins Schloss, dann zu Bosdorf, bekommt hier Wein kredenzt, nicht etwa Bier, quartiert sich fr lngere Zeit ein, nicht fr eine Nacht, beginnt, an seinen Wanderungen zu schreiben, obwohl er in Caputh nur ein paar Notizen macht. Aber es gibt auch bereinstimmungen: Bosdorfs einnehmende Persçnlichkeit, die Sympathie zwischen Wirt und Gast, die sommerliche Idylle, die alte Linde, die zahlreichen Getrnke. Aufschlussreich ist: Manche Erzhlmomente aus Fontanes Text kehren in der Anekdote verschleiert wieder. So – leicht zu erkennen – die aus Berlin kommende Kremsergesellschaft mit der verfhrerisch schçnen Lautenschlgerin bei Fontane, die das Urbild der geheimnisvollen Berliner Tnzerin in der Anekdote ist. Die Bezeichnung ,Tnzerin‘ drfte ein Echo des Begriffs ,Primadonna‘ sein, den Fontane fr die Lautenschlgerin benutzt. bertreibung, Hinzudichtung und stndige Modifikation des Gehçrten sind Kennzeichen der mndlich tradierten Anekdote. In dem vorliegenden Fall gelingt es sogar, die Entstehung der Anekdote zu verfolgen. Sie setzt sich aus der Erinnerung des alten Bosdorf an den Besuch Fontanes im Jahr 1869 und dessen Beitrag ber Caputh zusammen, der zuerst im April 1870 in der Kreuzzeitung erschien und dem Gastwirt mit Sicherheit zur Kenntnis gebracht wurde. Ihn drfte das kleine Denkmal gefreut haben, das ihm Fontane hier gesetzt hat. Das Andenken daran hat die familire Nachwelt mndlich weitergegeben und schließlich Fontanes Caputher Schilderungen in der Anekdote phantasievoll verquirlt. Natrlich diente die Anekdote auch einem sehr profanen Zweck. Sie sollte den Ort, an dem Fontane in Wirklichkeit nur kurz verweilte, zu einer denk- und sehenswrdigen Lokalitt der deutschen Literatur erheben, das Gasthaus durch den Besuch des Dichters aufwerten. Der gutglubige Otto Gutzeit bemerkt denn auch 1927 etwas resignierend, niemand wisse mehr, dass in diesem Caputher Gasthof „manches Kapitel aus den ,Wanderungen‘“ entstanden sei, „keine Gedenktafel vor dem Haus weist darauf hin“.22 21 GBA Wanderungen. Bd. 3. Havelland. 1994, S. 403. 22 Otto Gutzeit: Theodor Fontane und der alte Bosdorf. In: Havellndischer Erzhler. Potsdam, 12. November 1927. – Die Anekdote, die Gutzeit erzhlt, hat sich in Caputh nicht erhalten. Auch existiert das Gasthaus von Bosdorf (oder Boßdorf ), das in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts noch als Lindemannsches Gasthaus betrieben wurde, schon lange nicht mehr. Unter Lokalhistorikern in Caputh ist
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Bei vielen anonym erschienenen Anekdoten lsst sich ein Wahrheitsschimmer, wie in der eben gehçrten, kaum noch feststellen. Viele Anekdoten beruhen auf purer Erfindung. Entscheidend fr die Qualitt dieser fiktiven Anekdoten ist, wie geschickt der Erzhler die Fiktion einrichtet und welchen Grad an Glaubwrdigkeit er damit erreichen kann. So gibt es eine Anekdote ber Fontane und seinen Berliner Zeitgenossen Rudolf Virchow. Sie scheint erstmals in der Tagespresse der dreißiger Jahre aufzutauchen und ist spter mehrfach mit kleineren Variationen nachgedruckt worden. Ich gebe die frheste mir bekannte Fassung aus der Magdeburger Zeitung von 1938 wieder: Theodor Fontane und der berhmte Mediziner Virchow bemhten sich einst um die Gunst derselben jungen Dame mit einer Leidenschaft, die zu einem regelrechten Streit zwischen den beiden Mnnern fhrte. Spçttisch erklrte Virchow: „Wenn unsere Angebetete bei der Lektre Ihrer Romane einmal erkranken sollte, so werde ich sie wieder gesund machen.“ Prompt erwiderte Fontane: „Und wenn sie an Ihren Rezepten stirbt, werde ich sie unsterblich machen.“ Virchow kam nicht in die Lage, seine Kunst zu beweisen. Aber Fontane hielt Wort. Er hat die junge Dame unsterblich gemacht: sie ist die Heldin seines Romans Ccile.23
Die Anekdote, knapp und pointiert erzhlt, beruht auf dem originellen Schlagabtausch der beiden Nebenbuhler. Mit der witzigen Schlussreplik Fontanes kçnnte sie enden. Der Schlusssatz, in dem behauptet wird, es habe sich bei der Angebeteten um das Modell von Fontanes Titelheldin Ccile gehandelt, verunsichert. Fr die Pointe der Anekdote ist die Behauptung unerheblich. Offenbar soll aber die Begebenheit mçglichst authentisch wirken, beim Leser/Hçrer den Eindruck wahrheitsgetreuer berlieferung erzeugen und damit Wert und Reiz des Erzhlten steigern. Der liberale Virchow und der ehemalige Kreuzzeitungsmann Fontane sind sich jedoch nie nher gekommen, wahrscheinlich auch nie begegnet. Sie haben auch nicht fr ein und dieselbe junge Dame geschwrmt. Das Modell bzw. die Urbilder fr Fontanes Titelheldin sind erforscht und bekannt – von Virchow keine Spur. Da die Anekdote anonym erschien, lsst sich ber ihren heute sogar umstritten, wo Fontane 1869 genau bernachtet und wo er genau gefrhstckt hat (vgl. dazu Fontanes Nachtlager bleibt umstritten. In: Mrkische Allgemeine. Potsdam, 6. Mai 2005.) Das rechtzeitige Anbringen einer Gedenktafel htte heutige Zweifel leicht zerstreuen kçnnen. 23 [Anon.:] Anekdoten. Der Text stammt aus der Zeitungsausschnittsammlung des Theodor-Fontane-Archivs, Potsdam; auf dem Blatt ist leider kein Tagesdatum angegeben. Zuletzt ist diese Anekdote unter dem Titel Zwei berhmte Nebenbuhler nachgewiesen in der Schweriner Norddeutschen Zeitung vom 24. Dezember 1969.
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Urheber bzw. die Quelle nichts herausfinden. Es handelt sich um eine fiktionale Anekdote, fr einen Nicht-Fachmann jedoch hçchst wirkungsvollglaubwrdig erzhlt. Es gibt unter den fiktionalen Fontane-Anekdoten nur wenige, die im Umfang an eine Kurzgeschichte24 heranreichen und den Ansprchen der literarischen Gattung gerecht werden. Eine sei hier vorgestellt. 1954 erscheint in der Freien Presse von Buenos Aires eine Anekdote mit dem Titel Das Duell im Grunewald. Sie wurde von Heinz Steguweit (1897 – 1964) verfasst, einem vormals linientreuen NS-Autor und Funktionr der Reichsschrifttumskammer, der bevorzugt kurze Prosa schrieb. Er erzhlt, wie Fontane angeblich schon als Apotheker kritische Plaudereien fr Berlins belletristische Bltter schreibt und anlsslich einer Theaterkritik mit dem „exaltierten Mimen Marius D.“ aneinandergert. Dieser eilt, nachdem er Fontanes Kritik gelesen hat, außer sich vor Zorn in die Apotheke, in der Fontane arbeitet, und fragt nach dem „Pillenschreiber Fontane“. Steguweit: „Det bin ick allene“, antwortete der Dichter, seine Gelassenheit glich der Ruhe eines Baumes. „Mein Herr, Sie werden sich mit mir duellieren!“ „Meinswejen“, sagte der Apotheker, und seine pharmazeutische Hand zitterte noch immer nicht. Vielmehr versah der pathoslose Idealist und Bejaher einer organischen Weltordnung seinen Dienst weiter und meinte: „Wat soll es denn sinn, Herr Marius: schwere Sbel, leichte Pistolen? Oder mit der Faust aufs Ooje? Kann ick allens!“25
Herr Marius ist ob dieser Kaltbltigkeit und Gelassenheit stark irritiert, bestimmt den Ort des Duells, eine Stelle im Grunewald und berlsst Fontane die Wahl der Waffen. Nach drei Tagen begibt sich Fontane an die vereinbarte Kampfsttte, trifft dort auf Marius und dessen Sekundanten, ignoriert die bereit liegenden Sbel und Pistolen und prsentiert den verblfften Herren eine kleine Schachtel mit zwei schwarzen Pillen. „Sehense Marius: die eene is jiftich, die andere is unjiftich. Nu wolln wa ’n bisschen schtteln, als ob wa knebeln tten, und dann ziehen Sie zuerst, ick ziehe 24 Die in der Anekdotenforschung viel diskutierten Abgrenzungsprobleme der Anekdote gegenber anderen epischen Kleinformen lasse ich hier unbercksichtigt. 25 Heinz Steguweit: Das Duell im Grunewald. In: Freie Presse. Buenos Aires, 24. September 1954. – Die Anekdote ist in zahlreichen Tageszeitungen nachgedruckt worden, so in Der Fortschritt (Dsseldorf, 1. Dezember 1955), Lbecker Nachrichten (7. Dezember 1955), Der Morgen (Berlin, 16. September 1956; hier nur mit den Initialen H. S.), Mannheimer Morgen (22. Mai 1957; hier mit den Initialen H. St.).
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als letzter, jeder frisst so’n Ding, und wer in fnf Minuten nicht umfllt, der hat jewonnen.“ Dass der Zweikampf nicht ausgetragen wurde, war kaum erstaunlich. Viel wohler noch wird uns zumut, wenn wir erfahren, dass die Duellanten bis spt abends bei Lutter und Wegener eine Pulle Rotspon nach der andern zechten, bis Marius D. am Boden lag und Herr Fontane siegreich auf die Tischplatte stieg. Die schwarzen Pillen schluckte man ausserdem, denn sie waren vortreffliche Lakritzen gewesen.26
Die Erzhlstruktur dieser Geschichte ist exemplarisch fr eine anspruchsvolle Anekdote: Anlass der Begebenheit, Wiedergabe des Vorfalls und die finale Zuspitzung auf eine wirkungsvolle Pointe bilden einen untrennbaren Zusammenhang. Frappierend ist das Bild, das hier von Fontane gezeichnet wird und das von allen biographischen Miniaturen seiner Zeitgenossen stark abweicht: Ein stoisch wirkender, kaltbltig-berlegener junger Mann, der strksten Berliner Dialekt spricht und zum Muster des nchternen, unheroischen Urberliners geworden ist, der er in Wahrheit nie war. Zwar steht er im Mittelpunkt der Anekdote, sorgt auch mit einer List – als Apotheker wohlgemerkt – fr die entsprechende Pointe. Steguweit kommt es jedoch berhaupt nicht auf eine einigermaßen wahrheitsgetreue Charakterzeichnung Fontanes an. Es geht ihm vielmehr um die Verklrung einer vergangenen Epoche, um die Sehnsucht nach dem Gestern, von 1954 aus betrachtet nach dem Vorgestern. Nach Zeiten verheerender Zerstçrungen und einer aus den Fugen geratenen Welt beschwçrt er das Bild einer friedlichen Epoche, in der sich Zweikmpfe noch durch einen harmlosen Austausch von Lakritzbonbons vermeiden ließen und in der am Ende nicht Blut, sondern Rotwein in Strçmen fließt. Historische Wahrheit tritt zurck, die Imagination des Vergangenen wird zum Ausdruck einer aktuellen Gefhlslage. Auf dieser Ebene figuriert Fontane nur als Komparse einer verklrten Zeit. So verkommt Fontane in der Anekdote nach 1945 zum Klischee. In den etwa fnfzig bis sechzig verschiedenen Fontane-Anekdoten, die die Tagespresse nach 1945 verbreitet, erscheint er als simples Abziehbild, das sich mit ganz wenig Strichen nachzeichnen lsst: Ort: Berlin, Epoche: Biedermeier- und Bismarckzeit, Beruf: Apotheker, Kritiker, Schriftsteller, Typ: klug, schlagfertig, sympathisch. Fontane wird auf die Rolle eines geistreichen Bonmotproduzenten reduziert und damit zu einer austauschbaren Grçße. Ich gebe ein paar Beispiele, die fr die Qualitt der Dichteranekdote in der Tagespresse typisch sind; alle vier Anekdoten sind sowohl in ost- als auch
26 Steguweit: Das Duell im Grunewald (wie Anm. 25).
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westdeutschen Zeitungen in den fnfziger und sechziger Jahren mit minimalen Varianten mehrfach nachgedruckt worden: Theodor Fontane war in einer Gesellschaft, in der man sich, wie man es damals gern tat, damit unterhielt, dass man geistreiche Unterschiede zwischen verschiedenen Gegenstnden herausfand. „Welches ist der Unterschied zwischen einer Taschenuhr und mir, lieber Fontane?“ Mit dieser Frage wandte sich die Gastgeberin an den Dichter. – „Eine Uhr“, antwortete der Dichter liebenswrdig lchelnd, „zeigt uns die Stunden, bei Ihnen aber, meine Gndigste, vergisst man sie!“27
Die Verbindung heterogener Elemente in der Scherzfrage und die frappierende Antwort, in der das Bedeutungspotential des Begriffs ,Stunde‘ geschickt ausgenutzt wird, hneln mehr einem Witz als einer Anekdote. Vor allem lsst sich der Text leicht auf andere Persçnlichkeiten zuschneiden. Es kçnnte sich also um eine Wanderanekdote handeln, die bedarfsweise immer wieder anderen Persçnlichkeiten zugeschrieben wird. Unverwechselbar ist dagegen eine Anekdote, die mit dem Namen Fontane spielt und die sich der Journalist Olav Sçlmund ausgedacht hat. Sie erschien am 24. Mai 1947 in der Norddeutschen Zeitung aus Schwerin: In Berlin gab es in den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts einen bekannten Kritiker Hyan, der die Wortwitze liebte. Auf einer Abendgesellschaft bemerkte er Theodor Fontane, der sich eben verheiratet hatte. Hyan ging auf ihn zu, und Fontane stellte ihm seine junge Frau vor. „Freut mich sehr“, sagte der Kritiker, der gut aufgelegt war, „also der Fontane – die Fontne.“ Nach einer Weile trat Hyan nochmals an das jungvermhlte Paar heran und brachte seine Frau mit, die er vorstellte. „Freut mich sehr“, bemerkte Fontane, „also der Hyan – die Hyne“.28
Fr Zeitungsleser der fnfziger Jahre noch amsant, aus heutiger Sicht eher fade liest sich die folgende Anekdote mit dem originellen Titel Das unpnktliche Kleid. Hier wird die inzwischen wohl berholte Frage, wie kurz ein Kleid und wie weit ein Ausschnitt sein drfen, aufgegriffen, und zwei ganz verschiedene Maßeinheiten – Zeit- und Lngenmaß – auf berraschende Weise miteinander in Verbindung gebracht: Nach einem Gesellschaftsabend im Hause eines Berliner Finanzmannes fragte dieser Theodor Fontane, der zu den Freunden der Familie gehçrte: „Wie hat Ihnen eigentlich das Kleid der Frau von H. gefallen?“ – „Es schien mir stçrend
27 [Oskar Khl:] Der Unterschied. In: Der Morgen. Berlin, 29. Juli 1949. 28 [Olav Sçlmund:] Die Anekdote. In: Norddeutsche Zeitung. Schwerin, 24. Mai 1947.
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unpnktlich zu sein“ ußerte sich der Dichter. – „Was soll das heißen?“ – „Es fing zu spt an und hçrte zu frh auf!“29
Auch der schalste Witz lsst sich schließlich durch Nennung eines berhmten Namen aufwerten: Auf einem der blichen winterlichen Wohlttigkeitsblle der Berliner Gesellschaft der achtziger Jahre flsterte die Mutter einer unansehnlichen, aber mit reicher Mitgift bedachten Tochter dem Dichter Theodor Fontane zu: „Denken Sie nur: der junge Assessor Dr. v. Knoll hat meine Tochter vorhin gekßt. Hoffentlich hat er ernste Absichten.“ „Das ist wohl anzunehmen“, erwiderte der Angesprochene, „Ihr Frulein Tochter kßt man ja schließlich nicht zum Vergngen!“30
Jenseits dieser reinen Witzkultur von Anekdoten sei abschließend ein Exempel dafr angefhrt, wie stark sich der Zeitgeist, ja die aktuelle ideologische Auseinandersetzung in der Anekdote der Tageszeitungen geltend machen, wie zeitgebunden damit die Anekdote sein kann und wie weit sie sich von ihrem eigentlichen Gegenstand – Fontane nmlich – entfernt: Die in Dsseldorf erscheinende Rheinische Post bringt am 12. Juni 1957 unter dem Titel Zu spt und zu frh mehrere Fontane-Anekdoten, darunter folgende, die, soweit ich sehen kann, allerdings keine weiteren Nachdrucke erfahren hat: In einer ostzonalen Abschlußklasse hatte man sich mit Theodor Fontane und der „Gesellschaft seiner Zeit“ befaßt. Die Schler schrieben ihren letzten Aufsatz ber das gleiche Thema. Las der erstaunte Klassenlehrer in einem Heft folgende Schlußfolgerung: „Die Romane von Herrn Theodor Fontane haben uns ganz gut gefallen. Nur kommen zu viel adlige Junker darin vor. Er sollte einmal zu uns kommen und bei uns leben. Dieses Beispiel drfte ihn aufklren. Im brigen wnschen wir Herrn Fontane fr seine weitere schriftstellerische Ttigkeit viel Erfolg!“
Hier verkommt die Fontane-Anekdote vollends zur Klamauk-Nummer Kalter Krieger.
IV. Es lohnt nicht, auf diesem Feld der fiktionalen Fontane-Anekdote weiter zu pflgen. Auch eine Sammlung dieser kleinen Prosa wre wohl nicht lukrativ. Der Witz der vierziger, fnfziger oder sechziger Jahre hat sich berlebt und 29 [Anon.:] Das unpnktliche Kleid. In: Roland von Berlin. Berlin, 3. August 1947. 30 Torsten: Zu spt und zu frh. Fontane-Anekdoten. In: Rheinische Post. Dsseldorf, 12. Juni 1957.
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stimmt mit dem heutigen Verstndnis von Komik nicht mehr recht berein. Platt und çde, billig und abgedroschen wirken diese sßen Nichtigkeiten heute auf uns, und von literarischer Qualitt, die man Steguweit noch konzedieren muss, ist bei derlei massenhaft gestanzten Presseerzeugnissen auch ansatzweise nichts vorhanden. Ich ziehe an dieser Stelle ein Fazit meiner Beobachtungen: 1. Fontanes Selbstcharakteristik durch Anekdoten ist von spteren Anekdotenschreibern und Journalisten zurckhaltend aufgenommen worden; nur wenige Fontane-Anekdoten gehen auf Fontane selbst zurck. 2. Die Anekdoten seiner Zeitgenossen, die ungefhr zwischen 1898 bis 1938 publiziert wurden, sind berwiegend in grçßere Textzusammenhnge eingebettet – Lebenserinnerungen, umfangreichere Beitrge in Zeitungen und Zeitschriften – und bald in Vergessenheit geraten. Die Vernachlssigung dieses Textmaterials drfte auch einem zeitweise abnehmenden Interesse an Fontane geschuldet sein. 3. Die fiktionale Fontane-Anekdote entsorgt Fontane nach 1945 als realh ACHTUNGRE istorische Gestalt und individuellen Charakter, fixiert ihn auf ein Klischee und produziert am Ende nur noch banale, beliebige und belanglose Witzeleien. 4. Zur Legendenbildung hat die Fontane-Anekdote, sehen wir von Fontanes eigenem Anteil ab, keinen wesentlichen Beitrag geleistet. Die Fontane-Anekdote hat weder mengenmßig noch von ihrer Verbreitung her andere Dichteranekdoten erreicht, etwa die des vielbesuchten Goethe, des skurrilen E. T. A. Hoffmann, des exaltierten Grabbe, des Quartaltrinkers Fritz Reuter oder des Bohemiens und Geselligkeitsgenies Otto Erich Hartleben. Hier konnte keine umfassende Auswertung grçßerer Anekdotensammlungen bercksichtigt werden, aber es fllt doch auf, dass Fontane in vielen Anekdotensammlungen des 20. Jahrhunderts fehlt, etwa in dem seinerzeit weit verbreiteten, von Wilhelm Bring 1929 herausgegebenen Sammelwerk Das goldene Buch der Anekdoten 31, in dem Fontane nur als Erzhler einer Alten-Fritz-Anekdote vertreten ist. Das ist um so aufflliger, als hier zahlreiche Zeitgenossen Fontanes in Anekdoten auftauchen: Gutzkow, Reuter, Keller, Storm, Raabe, Wildenbruch, Hauptmann, Paul Lindau. War Fontane also nur eine bescheidene Berliner Lokalgrçße? War er zu wenig berhmt, zu wenig populr oder legendr, war sein Leben zu unspektakulr, seine Persçnlichkeit nicht originell genug, seine Wirkung zu flach? Fiel er zu wenig auf und fiel er zu wenig aus dem Rahmen? 31 Erschien in Leipzig bei Hesse und Becker, 415 Seiten.
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Gewiss, als ,alter Fontane‘ wurde er fr eine Generation zur Legende. Aber der ,junge‘ oder der ,mittlere‘ Fontane war seinen Alters- und Zeitgenossen offenbar nicht wichtig genug, um ihn anekdotisch zu behandeln oder Erinnerungen an ihn zu hinterlassen. Es gibt keine FontaneAnekdoten aus seiner Kinder- und Schlerzeit, nahezu nichts aus seinen Apothekerjahren, wenig aus der Periode, als Fontane fr die Kreuz-, dann fr die Vossische Zeitung arbeitete. Weder George Hesekiel noch Louis Schneider, Fanny Lewald, Auerbach, Spielhagen, Lindau, Rodenberg oder Frenzel haben mit Erinnerungen an oder Anekdoten ber Fontane zu seiner Charakterisierung beigetragen. Aber haben sie privat – etwa in Briefen oder Tagebuchaufzeichnungen – nie etwas ber Fontane zum Besten gegeben? Anders gefragt: Wie viele Fontane-Anekdoten sind verloren gegangen? Kommunikative Zentren des Berliner Literaturlebens, vor allem literarische Vereine wie der Tunnel oder der Verein Berliner Presse drften Gerchte, Zwischentrgereien und Klatsch begnstigt und einen idealen Nhrboden fr Anekdoten gebildet haben. Dasselbe gilt fr die Sphre des Theaters, der Fontane seit 1870 als Theaterkritiker angehçrte, aber auch fr jenes kulturell ambitionierte Berlin, das sich in berschaubaren Zirkeln, Gesellschaften, Salons oder im Kaffeehaus traf. Bleibt die Familie: Einige Fontane-Anekdoten sind von Friedrich und Theodor Fontane junior sowie der Schwester Elise Weber aufgezeichnet worden. Aber welche kursierten noch? Welche erzhlten die Eltern ber den Sohn, Onkel und Tante ber den Neffen? Wir kmen der Frage, ob sich noch irgendwo ein paar verschollene ,echte‘ Fontane-Anekdoten auftreiben lassen, vielleicht nher, wenn buchstblich alles, was in Briefwechseln und Tagebchern, verstreut erschienenen Erinnerungen und anderen Berichten ber Fontane festgehalten wurde, systematisch gesammelt und chronologisch aufbereitet wrde. Was in unterschiedlicher Weise schon Woldemar von Biedermann fr Goethe (Goethes Gesprche, 10 Bde., 1889/96; bis heute mehrere Neubearbeitungen und Neuauflagen), Julius Petersen und Max Hecker fr Schiller (Schillers Persçnlichkeit. Urtheile der Zeitgenossen und Documente, 3 Bde., 1904/09), Michael Werner fr Heine (Begegnungen mit Heine. Berichte der Zeitgenossen, 2 Bde., 1973) oder Friedrich Schnapp fr E. T. A. Hoffmann (E.T.A. Hoffmann in Aufzeichnungen seiner Freunde und Bekannten, 1974) erarbeitet haben, wre auch fr Fontane zu leisten. Mit solch einem grundlegenden biographischen Kompendium – Fontane in Berichten seiner Zeitgenossen – kçnnte auch der brach liegenden Fontane-Anekdote neuer Auftrieb gegeben und ihr – im Kontext mit anderen biographischen Dokumenten – ein angemessener Platz im Lebens- und Charakterbild Fontanes zuteil werden.
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Lebenswege Formen biographischen Erzhlens in Fontanes Wanderungen durch die Mark Brandenburg
Michael Ewert […] htte es je eine schaffende dichterische Natur gegeben, der nicht Biographien und Memoiren die liebste Lektre gewesen wren!1
Der Aufschwung der Biographik in der zweiten Hlfte des 19. Jahrhunderts zeugt von einem ausgeprgten Bedrfnis der Leserschaft nach Selbstvergewisserung und historischen Vorbildern.2 berhaupt ist die Gattung nicht zu trennen von dem Wunsch, das eigene Leben, das tatschliche und das ertrumte, in einem anderen Leben wieder zu finden. Unter diesem Gesichtspunkt gewinnen die hier behandelten Texte einen besonderen Erkenntniswert. ber ihre eigentlichen Gegenstnde hinaus gewhren sie Aufschlsse ber spezifische Individualitts- und Identittsauffassungen, ber Sinnkonzepte und mentalittsgeschichtliche Dimensionen der Zeit. Fontane war ein passionierter Leser, Rezensent und Autor von Biographien.3 Eine besonders ausgeprgte Rolle spielen Formen biographischen 1 2
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GBA Wanderungen. Bd. 1. Die Grafschaft Ruppin. 1997, S. 28. Vgl. Helmut Scheuer: Biographie. Studien zur Funktion und zum Wandel einer literarischen Gattung vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Stuttgart 1979; zum neueren Diskussionsstand: Ders.: Biographie. In: Gert Ueding (Hg.): Historisches Wçrterbuch der Rhetorik. Bd. 2. Tbingen 1994, S. 30 – 43; Christian Klein (Hg.): Grundlagen der Biographik. Theorie und Praxis des biographischen Schreibens. Stuttgart, Weimar 2002; Hans Erich Bçdeker (Hg.): Biographie schreiben. Gçttingen 2003; Christian von Zimmermann: Biographische Anthropologie. Menschenbilder in lebensgeschichtlicher Darstellung (1830 – 1940), Berlin 2006. Noch im Alter von dreiundsiebzig Jahren betont er, dass „historische und biographische Sachen“ den grçßten literarischen Einfluss auf ihn ausgebt htten (an Hermann Pantenius, 14. August 1893. In: HFA IV/4, S. 274). Dass die Lektre auch Vergleichsmaßstbe bot, kann man beispielsweise einer Briefnotiz ber die Biographische[n] Denkmale Varnhagen von Enses entnehmen: „So wchst man sich in Varnhagen hinein; ich mach’ es aber in 2 Beziehungen doch besser, erstens wrmer, belebter, farbenreicher, dann zweitens stylistisch ungeschraubter, freier, natrlicher im Ausdruck. Auch bring ich wohl mehr Herz fr die Sache mit“ (Theodor Fontane
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Erzhlens in seinen Wanderungen durch die Mark Brandenburg. Mindestens ein Viertel des Textumfangs nehmen Lebensgeschichten ein. Viele von ihnen sind Teil umfangreicher Familienchroniken und Regimentsgeschichten oder weiten sich zu breit angelegten Bestandsaufnahmen gelebten Lebens aus. Streckenweise erscheinen die Bnde wie ein biographisches Nachschlagewerk oder eine Soziographie der Region.4 Neben den aufeinander folgenden Portrts des Neuruppin-Zyklus finden sich anekdotische Charakterskizzen, Nekrologe, biographische Miniaturen, historische Erinnerungen und Denkwrdigkeiten sowie eine Vielzahl von verstreuten Teilbiographien. Zu denken wre auch an die zahlreichen Ortsbeschreibungen, die mit der Atmosphre von Schlçssern, Herrensitzen und Pfarrhusern die Geschichte ihrer Bewohner aufleben lassen. Im Zentrum des weitgreifenden biographischen Interesses stehen Vertreter des brandenburgisch-preußischen Landadels, Generle und Feldherren wie Zieten, Marwitz, Yorck und Knesebeck, des weiteren Architekten und Knstler, unter ihnen Karl Friedrich Schinkel, Gottfried Schadow und Wilhelm Hensel, Dichter wie Paul Gerhardt, der Barockschriftsteller Freiherr von Canitz und der „Sandpoet“5 Schmidt von Werneuchen.6 Anders als in der herkçmmlichen Biographik kommen aber nicht
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an Wilhelm Hertz, 19. September 1861. In: Theodor Fontane: Briefe an Wilhelm und Hans Hertz 1859 – 1898. Hg. v. Kurt Schreinert, vollendet u. mit einer Einf. versehen von Gerhard Hay. Stuttgart 1972, S. 47). In der Forschung haben die biographischen Arbeiten Fontanes relativ wenig Aufmerksamkeit gefunden. Eine Ausnahme bilden die Fontane Bltter 65 – 66 (1998), die dem Thema „Biographisches und Autobiographisches“ gewidmet sind. In einem Brief an Wilhelm Hertz vom 11. Oktober 1873 fhrt Fontane den Verkaufserfolg der Wanderungen auf die Hufung von Personalien zurck (In: Theodor Fontane: Der Dichter ber sein Werk. Hg. von Richard Brinkmann in Zusammenarbeit mit Waltraud Wiethçlter. 2 Bde. Mnchen 1977. Bd. 1, S. 635, 636). An anderer Stelle heißt es: „So tauchen denn abwechselnd Namen auf, die (engste Kreise abgerechnet) niemandem bekannt waren; daneben bekannte Namen, aber auch nur bekannt als – Namen“ (Theodor Fontane an Wilhelm Hertz, 31. Oktober 1861. In: Theodor Fontane: Briefe an Wilhelm und Hans Hertz 1859 – 1898 [wie Anm. 3], S. 52). Gnter de Bruyn: Der Sandpoet. In: Schmidt von Werneuchen: Einfalt und Natur. Gedichte. Hg. und mit einem Nachwort versehen von Gnter de Bruyn. Berlin 1981 (Mrkischer Dichtergarten), S. 243 – 260. Andere berhmte Autoren der Mark – zu nennen wren Achim von Arnim und Heinrich von Kleist, der immerhin im Zusammenhang mit der Schlacht von Fehrbellin und anlsslich eines Besuchs seiner Grabsttte Bercksichtigung findet – haben nur einen vergleichsweise geringen Stellenwert.
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nur Berhmtheiten zur Geltung. Lehrer und Geistliche wecken ebenso das Interesse des Biographen wie mrkische Sonderlinge und Originale, wobei nicht selten unscheinbare und vergessene Schicksale in den Vordergrund treten. Ungleich grçßer als das Spektrum sozialer Rollen – die LebensgeACHTUNGREschichten von Bauern und buerlichen Unterschichten, der zahlenmßig strksten Bevçlkerungsgruppe der Region, bleiben weitgehend ausgespart – ist die Spannbreite der Darstellungsweisen. In Abhngigkeit von den jeweiligen Publikationsmçglichkeiten und -bedingungen in unterschiedlichen Zeitschriften,7 aber auch je nach Thema wechseln die Formen und Methoden biographischen Schreibens. Dabei zeichnen sich in der Art, wie die Gegenstnde konstruiert und modelliert werden, charakteristische Rezeptionsmuster ab. Vieles bleibt vergleichsweise unstrukturiert und unfertig. Neben inhaltlich auf eine Lebensgeschichte zentrierten und durchkomponierten Beitrgen stehen Textkomplexe, die gesammeltes Material ausbreiten, ohne es zu selektieren und aufzubereiten. Unverkennbar tragen einzelne Beitrge noch Anzeichen ihrer unterschiedlichen Entstehungsbedingungen. Zugleich aber erweist sich das Nebeneinander heterogener Gestaltungsweisen als ein Laboratorium biographischen Schreibens, in dem sich wie in einem Prisma knstlerische Ausdrucksformen, Erinnerungen und Zeiterfahrungen der Epoche konzentrieren. Dieses Spektrum soll im Folgenden anhand von sechs ausgesuchten Beispielen erschlossen werden. 1. Karl Friedrich Schinkel (1781 – 1841) – Modell eines biographischen Denkmals Fontanes Aufsatz ber Karl Friedrich Schinkel gehçrt zusammen mit dem Beitrag ber Wilhelm Gentz zu den beiden Portrts Neuruppiner Knstler in den Wanderungen. In der 1864 fr die Buchfassung berarbeiteten und betrchtlich erweiterten Version versteht er sich als eine „vollstndige Biographie“.8 Der Text geht zurck auf eine erste Spurensuche in Neuruppin und Umgebung im Juli 1859.9 Die Ergebnisse dieser Vorarbeit waren mager. 7 8 9
Vgl. zu den Publikationsbedingungen der Arbeit Fontanes: Roland Berbig: Theodor Fontane im literarischen Leben: Zeitungen und Zeitschriften, Verlage und Vereine. Berlin, New York 2000 (Schriften der Theodor Fontane Gesellschaft; Bd. 3). Theodor Fontane an Wilhelm Hertz, 11. oder 12. Mai 1864. In: Theodor Fontane: Briefe an Wilhelm und Hans Hertz 1859 – 1898 (wie Anm. 3), S. 111. Die Reise nach Neuruppin und seine Umgebung unternahm Fontane zusammen mit Bernhard von Lepel vom 18. bis 23. Juli 1859. Vgl. Jutta Frstenau: Fontane und
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So konnten die in Anspruch genommenen Zeitzeugen kaum Hilfe leisten, was nicht verwundert, denn zwischen dem Weggang des Knstlers aus seiner Heimatstadt und den Nachforschungen lagen 64 Jahre. Indessen standen umfangreiche Quellenmaterialien zur Verfgung, Reisetagebcher, Briefe und Aphorismen, das Schinkel-Buch Franz Kuglers sowie eine Lebensbeschreibung des Freundes und Mitarbeiters Gustav Friedrich Waagen.10 Waagens Biographie lieferte fr Fontane, wie brigens auch fr sptere Schinkel-Biographen, das Grundgerst.11 Das gilt auch fr die unkonventionelle Hervorhebung der Malerei, die im Lichte neuerer Forschungen zur gemeinsamen Bildsprache von Schinkels malerischen und architektonischen Konzeptionen erstaunliche Aktualitt gewinnt.12 Unverkennbare bereinstimmungen mit Waagen verrt weiterhin die Adaption des populren Rezeptionsmusters „Mensch und Knstler“, zu dem es an anderer Stelle heißt: „Eine Biographie darf aber auch an dem Menschen und, wenn dieser ein Knstler, an seiner Kunst nicht vorbergehen.“13 Schon das Motto, ein Zitat August von Platens, lenkt die Aufmerksamkeit auf das Verhltnis von Gotik und Klassik.14 Mit der Favorisierung der klassizistischen Baukunst setzt so bereits der erste Akkord einen knstlerischen Zielpunkt, auf den die Schilderung von Schinkels Werdegang zusteuert. Man mag es als Tribut an diese Linienfhrung verstehen, dass im Folgenden zwar eine grundstzliche Offenheit Schinkels gegenber der gotischen Kunst konzediert wird, diese aber, anders als im Havelland-Band, nicht als knstlerische Alternative gilt.15
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die mrkische Heimat. Berlin 1941. Nachdruck Nendeln/Liechtenstein 1969, S. 191. Carl August Alfred von Wolzogen: Aus Schinkels Nachlaß. Reisetagebcher, Briefe und Aphorismen. Berlin 1862. Franz Kugler: Karl Friedrich Schinkel. Eine Charakteristik seiner knstlerischen Wirksamkeit. Berlin 1842. Gustav Friedrich Waagen: Karl Friedrich Schinkel als Mensch und Knstler. Berlin 1844. So bernimmt er beispielsweise die Anekdoten ber Schinkels Krankenaufenthalt in einem italienischen Gasthof und den letzten Besuch Thorwaldsens. Vgl. Jçrg Trempler: Schinkels Motive. Mit einem einleitenden Essay von Kurt W. Forster. Berlin 2007. ber Wilhelm Gentz (GBA Wanderungen. Bd. 1. Die Grafschaft Ruppin. 1997, S. 181). Gentz wird ebenfalls als „Mensch und Knstler“ portrtiert (ebd., S. 176). Zu den Knstlerbiographien Fontanes vgl. Stefan Greif: Tunnelfahrt mit Lichtblick. Fontanes anekdotische Knstlerbiographien. In: Fontane Bltter 65 – 66 (1998), S. 285 – 299. GBA Wanderungen. Bd. 1. Die Grafschaft Ruppin. 1997, S. 104. Vgl. GBA Wanderungen. Bd. 3. Havelland. 1997, S. 416.
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Eingerahmt durch kurze, allgemein gehaltene Ausfhrungen zur Bedeutung des Baumeisters und Malers, reiht der Text biographische Sachverhalte nach einem chronologisch-konsekutiven und teleologischen Prinzip aneinander. Untersttzt durch berleitungen, die den Leser von einem Lebensabschnitt zum nchsten fhren, wird ein linearer, geschlossener Entwicklungsgang konstruiert, der auf einen Altershçhepunkt hin angelegt ist. Auf der Grundlage dieses Kohrenz- und Konsistenzmusters erscheint Schinkels Biographie als ein sinnhaftes Nacheinander von Begebenheiten, Erfahrungen und Leistungen. Fast alle Details ordnen sich einer narrativ orientierten Sinnbildung unter. Eine solche Struktur verspricht eine hohe Leserakzeptanz, ohne allerdings der Disparatheit und Vieldeutigkeit eines Lebens gerecht werden zu kçnnen. Nur ausnahmsweise wagt sich der Biograph in den Bereich des ACHTUNGREHypothetischen vor, wenn er in den Architekturzeichnungen – Schinkels „eigentlichste Hinterlassenschaft“ –16 den ganzen Kosmos unrealisierter Mçglichkeiten sichtbar werden lsst: Wenn wir uns annhernd ein richtiges Bild davon entwerfen wollen, welcher Art und welchen Umfanges sein Schaffen war, so mssen wir nicht allein das im Auge haben, was er widerstrebenden Gewalten gegenber aus Berlin wirklich machte, sondern vor allem auch das, was er daraus machen wollte, mssen wir in den Kreis seiner schçpferischen Ttigkeit alles das mit hineinziehen, was in hundert ausgefhrten Blttern auf dem Papiere lebt, aber an der Ungunst der Zeiten scheiterte.17
Nach dem Vorbild geistesgeschichtlicher Biographien der Zeit, die strukturell dem aristotelischen Prinzip der poetischen Fabel verpflichtet sind, findet ein dreiphasiges Lebensmodell Anwendung.18 In nuce lsst sich bereits in der Darstellung von Schinkels Kindheit und Jugend anhand von Vorausdeutungen seine knstlerische Bestimmung erkennen.19 Das Verlassen des vertrauten Erfahrungsumkreises markiert den bergang zur zweiten Lebensphase, die im Zeichen der Entwicklung malerischer Talente, des Sammelns, Reifens und neuer knstlerischer Einflsse steht. Das entscheidende Bildungserlebnis reprsentiert dabei in klassischer Manier die Reise nach Italien. Schinkels Ttigkeit als Baumeister, die in einer Aufzhlung seiner knstlerischen Leistungen gipfelt, bildet den dritten Teil und obligaten Hçhepunkt, mndend in einen Vergleich der preußischen Me16 17 18 19
GBA Wanderungen. Bd. 1. Die Grafschaft Ruppin. 1997, S. 114. GBA Wanderungen. Bd. 1. Die Grafschaft Ruppin. 1997, S. 114. Vgl. Scheuer: Biographie (wie Anm. 2), S. 92. Vgl. GBA Wanderungen. Bd. 1. Die Grafschaft Ruppin. 1997, S. 105.
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tropole mit dem London Christopher Wrens. Abgerundet wird der Aufsatz durch ein Persçnlichkeits- und Charakterportrt sowie durch fragmentarische berlegungen zum Stellenwert der klassizistischen Bauweise. Fontanes Schinkel-Biographie partizipiert an der genretypischen, musterhaften Gestaltung brgerlicher Selbstverwirklichungsprozesse, indem sie – in einer fr den Autor durchaus untypischen Nhe zum Bildungsparadigma – eine Projektionsflche bietet fr Identifikationen mit einem großen Knstlerleben. Doch wird im Unterschied zu einer lteren Tradition von Knstlerbiographien weder ein spezifischer Weltbezug konstatiert,20 noch ergeben sich Nhen zu einem genretypischen Titanen- oder Geniekult. berhaupt schlgt nur die abschließende Charakterisierung, die den Portrtierten mit den Insignien inneren und ußeren Adels ausstattet, einen hohen Ton an.21 Ansonsten dominiert die enger gefasste Konzeption des Rezeptionsmusters „Mensch und Knstler“. Auf dieser Grundlage wird ein eindeutiges Bild der Persçnlichkeit und Wirkung Schinkels entworfen, das nach dem Modell eines biographischen Denkmals Beispiel- und Vorbildcharakter beansprucht. Indessen zeigt das emphatische Pldoyer fr eine Beschftigung mit den unausgefhrten Vorhaben Schinkels, dass sich der Spielraum biographischen Schreibens auch in diesem Fall nicht auf starre Identittszuweisungen beschrnkt.22 Im Lichte seiner Plne und Visionen erscheint der Knstler als Inbegriff all seiner Mçglichkeiten. 2. Gustav Khn (1794 – 1868) – Ein Leben im Zeichen unternehmerischen Erfolgs Der Beitrag ber Gustav Khn, den Fontane schon aus frhen Kindertagen kannte, unterscheidet sich von den anderen Neuruppiner Brgerportrts durch eine besondere Form der biographischen Annherung. Das Wirken des Unternehmers wird schlaglichtartig vorgestellt anhand der von ihm 20 Vgl. Scheuer: Biographie (wie Anm. 2), S. 102. Scheuer zeigt, dass in der Biographik des 19. Jahrhunderts gegenber „dem klassischen Harmoniemodell mit seiner dialektischen Spannung von Innen- und Außenwelt eine bezeichnende Verschiebung stattgefunden“ hat. 21 Unter Rckgriff auf wçrtliche Zitate Waagens und Kuglers heißt es in diesem Zusammenhang: „In seinen Bewegungen war ein Adel und ein Gleichmaß, um seinen Mund ein Lcheln, auf seiner Stirn eine Klarheit, in seinen Augen eine Tiefe und ein Feuer, daß man sich schon durch seine bloße Erscheinung zu ihm hingezogen fhlte.“ (GBA Wanderungen. Bd. 1. Die Grafschaft Ruppin. 1997, S. 120, 121). 22 Vgl. GBA Wanderungen. Bd. 1. Die Grafschaft Ruppin. 1997, S. 114, 115.
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geschaffenen Bilderbogen, Vorlufern der illustrierten Presse, die ihren Herkunftsort weit ber die Landesgrenzen hinaus bekannt machten und zum Synonym ihres Erfinders wurden. Den globalen Siegeszug der „Dreipfennigbogen“,23 die breite Bevçlkerungsschichten aller Altersstufen mit Bildnachrichten und Unterhaltung versorgten,24 portrtiert der kleine Beitrag als Triumph mrkischen Pioniergeistes und als Indiz fr den Massengeschmack der Zeit. „Bei Gustav Khn / In Neuruppin“ – fast spielerisch erçffnen sich so Gedankenverbindungen zwischen Lokalem und „einer Welt da draußen“, zwischen den Produktionssttten der Bltter in der Friedrich-WilhelmStraße und den englischen Zeitungslokalitten, dem Ruhm der „Times“und der „zivilisatorische[n] Aufgabe“der Ruppiner Druckerzeugnisse,25 gipfelnd in der khnen These, die Bilderbogen seien „der dnne Faden, durch den weite Strecken unseres eigenen Landes, litauische Dçrfer und masurische Htten, mit der Welt draußen zusammenhngen.“26 „Die Macht, die das Genre in den Gedanken und Gefhlen dieser Zeit bte,“ schreibt Dolf Sternberger, „kann kaum berschtzt werden: das Genre nicht also im Sinne eines besonderen Kunstfaches oder Sachgebiets, sondern als Form der Anschauung, der menschlichen Verhltnisse, des Lebens selber.“27 Diese Faszination rckt auch der Beitrag Fontanes in den Mittelpunkt. Mit einem Gestus der Leichtigkeit und fast en passant wird gezeigt, wie die Bilderbogen, losgelçst von wissenschaftlichen und knstlerischen Entwicklungen, massenwirksame Schablonen einer exotischen Welt verbreiteten, die den Reiz des Fremden ausstrahlt, in ihrem Kern aber jegliche Fremdheit eingebßt hat: Gebiete, die Barth und Overweg, die Richardson und Livingstone erst aufgeschlossen – der Khnsche Bilderbogen war ihnen vorausgeeilt und hatte lngst vor ihnen dem Innersten von Afrika von einer Welt da draußen erzhlt. Er flieht die Gegenden, drin der Kupferstich und das lbild vorwalten, aber wo die Glaskoralle und der Zahlpfennig ein staunendes ah und die Begierde nach Besitz wecken, in den engeren und weiteren Bezirken des Kçnigs von Dahomey – da ist er zu Haus. Den MaraÇn und den Orinoco aufwrts, wo die Kolibris wie Blten und die Blten wie Schmetterlinge sich schaukeln, dort, wo alles Glanz und Farbe ist, tritt er khn und siegreich auf und stellt die Kolorierkunst seiner 23 GBA Wanderungen. Bd. 1. Die Grafschaft Ruppin. 1997, S. 131. 24 Vgl. Bilderbogen. Deutsche populre Druckgrafik des 19. Jahrhunderts. Hg. vom Badischen Landesmuseum Karlsruhe. Karlsruhe 1973. 25 GBA Wanderungen. Bd. 1. Die Grafschaft Ruppin. 1997, S. 131. 26 GBA Wanderungen. Bd. 1. Die Grafschaft Ruppin. 1997, S. 133. 27 Dolf Sternberger: Panorama oder Ansichten vom 19. Jahrhundert. Frankfurt am Main 1974, S. 60.
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Schablone – die unbeeinflußt von den neuen Gesetzen der Farbenzusammenstellung ihre ehrwrdigen Traditionen wahrt – siegreich in den Zauber der Tropennatur hinein.28
So wie Gustav Khn mit seinen Druckerzeugnissen gleichgesetzt wird, so gewinnen diese allegorische Gestalt in der Figur eines herrnhutischen Missionars, der in die entferntesten Regionen der Welt vordringt.29 Kennzeichen der zweifachen Metamorphose sind Verbindungen zwischen regionalen Strukturen und einer Welt „da draußen“30, die den Kirchenmann wie den mrkischen Unternehmer und Pionier eines neuen Bildmediums zum Sinnbild berregionaler Zusammenhnge werden lassen. Die ungebundene Form des kleinen Textes, der sein angekndigtes Thema nur flchtig berhrt, um dann rsonierenden Betrachtungen freien Lauf zu lassen, weist charakteristische Zge eines Essays auf.31 Neben einer konkreten, anschauungsbildenden Vorgehensweise, getragen von einem leichten, witzig-unbefangenen Ton, und einer beweglichen, assoziativen Gedankenfhrung trgt dazu ein großes Aufgebot an Stilfiguren bei. Rhetorische Fragen, witzige bertreibungen, Metonymien, Hyperbeln wechseln sich ab mit bildhaften Vergleichen, Allegorischem und Anekdotenhaftem, sodass eine argumentative Bilderfolge entsteht. Kritik an den populren Druckerzeugnissen, denen der Ruf vorauseilte, dass „sie den Geschmack mehr verwildern als bilden“,32 wird aufgegriffen, um das Thema in essaytypischer Weise auf „eine andre, nicht minder wichtige Seite“ zu verlagern.33 Ohne Zweifel am Stereotypen-Charakter der bunten Bilderwelt aufkommen zu lassen, vermittelt sich doch die von ihr ausgehende Faszination. Die Neuruppiner Bilderbogen gewinnen Gestalt als Zeitdokumente, die epochenspezifische Tiefenstrukturen offenbaren und zu einer weitergehenden Reflexion herausfordern. Beschreibend, pointierend, fragend gelingt es, ein weithin Unbekanntes am Bekannten zu erschließen. Im Unterschied zum Ganzheitsanspruch anderer biographischer Arbeiten Fontanes, z. B. dem Schinkel-Portrt, beruht der Gustav-Khn-Essay auf der Auswahl eines einzelnen Interpretationsschwerpunkts. Die illus28 29 30 31
GBA Wanderungen. Bd. 1. Die Grafschaft Ruppin. 1997, S. 131, 132. GBA Wanderungen. Bd. 1. Die Grafschaft Ruppin. 1997, S. 131. GBA Wanderungen. Bd. 1. Die Grafschaft Ruppin. 1997, S. 131. Zur Essayistik Fontanes vgl. Michael Ewert: Theodor Fontane als Essayist. In: „Die Decadence ist da“. Theodor Fontane und die Literatur der Jahrhundertwende. Beitrge zur Frhjahrstagung der Theodor Fontane Gesellschaft vom 24. bis 26. Mai 2001 in Mnchen. Hg. von Gabriele Radecke. Wrzburg 2002, S. 47 – 60. 32 GBA Wanderungen. Bd. 1. Die Grafschaft Ruppin. 1997, S. 133. 33 GBA Wanderungen. Bd. 1. Die Grafschaft Ruppin. 1997, S. 133.
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trierten Bltter stehen als Paradigma fr das Leben des Neuruppiner Brgers. Anstatt die Gesamtheit herausragender biographischer Ereignisse als Geschichte zu erzhlen, rcken stellvertretend das Schaffen Gustav Khns und der soziale Raum, in dem seine Erzeugnisse Wirkung erlangten, in den Blick. Das Ich-Außen-Verhltnis erfhrt dadurch eine Neuakzentuierung. Der Erfolg der Gustav Khnschen Bilderbogen, die mit der Person ihres Erfinders gleichgesetzt werden, findet Ausdruck in einer Darstellungsstrategie, die keine deutliche Abgrenzung mehr zulsst zwischen dem Subjekt und der von ihm geschaffenen Bilderwelt. 3. Prinz Heinrich (1726 – 1802) in Rheinsberg – Ein biographisch-topographisches Tableau Whrend Friedrich II. in den Wanderungen hufig symbolisch-mythische Gestalt annimmt – zu denken wre etwa an seine mehr oder minder verborgene Prsenz anlsslich des Besuchs von Schlachtfeldern und anderen historischen Schaupltzen –, erfhrt sein jngerer Bruder Prinz Heinrich explizit eine biographische Wrdigung.34 Weit strker noch als Friedrich steht er als Reprsentant seiner Zeit im Mittelpunkt der „Rheinsberg“Aufstze, die zu den frhesten des Wanderungen-Projekts gehçren.35 Die Grundlage dafr bildete ein intensives Literaturstudium,36 das allerdings nach Auskunft Fontanes durch einen Mangel an gedruckten Quellen beeintrchtigt war.37 Besonders begrßt wurde daher jede Gelegenheit, „Personen zu begegnen, die jene letzten Prinz-Heinrich-Tage teils noch miterleben durften oder doch von ebendiesen Tagen wie von etwas Jngstgeschehenen hatten sprechen hçren.“38 Den Ausgangspunkt der Beschftigung mit dem Portrtierten bildet die Frage nach seiner mangelnden Popularitt. Sie bietet Anlass zu dem Versuch, der offiziellen Geschichtsschreibung in Form einer poetisch-stimmungsvolACHTUNGRElen Wrdigung eine bleibende Erinnerung an die Seite zu stellen.39 In 34 Ansonsten werden die Vertreter des Hauses Hohenzollern kaum durch biographische Darstellungsformen ins Bild gesetzt, sondern eher durch einzelne Streiflichter, Episoden und Schilderungen von Tagesablufen. 35 Vgl. GBA Wanderungen. Bd. 1. Die Grafschaft Ruppin. 1997, S. 682 – 684. 36 Vgl. GBA Wanderungen. Bd. 1. Die Grafschaft Ruppin. 1997, S. 684. 37 Vgl. GBA Wanderungen. Bd. 1. Die Grafschaft Ruppin. 1997, S. 297. 38 GBA Wanderungen. Bd. 1. Die Grafschaft Ruppin. 1997, S. 297. 39 Vgl. auch Mayumi Kikawa: Prinz Heinrich in Rheinsberg. Ein Beitrag zur Auseinandersetzung Fontanes mit der friderizianischen Zeit. In: Berliner Hefte zur Geschichte
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Form einer Natur und soziales Leben versçhnenden Konstruktion, die mit der Schilderung des Ortes die Atmosphre einer vergangenen Zeit wiederaufleben lsst, wird der Prinz als organisatorischer Mittelpunkt Rheinsbergs inszeniert. Doch hat das Portrt Heinrichs einen eigentmlich statischen Charakter, was noch durch den Vergleich historischer Persçnlichkeiten mit alten Statuen unterstrichen wird.40 Fast bergangslos verschmilzt seine als sanftmtig charakterisierte Natur mit der Beschreibung der Gartenarchitektur.41 Die Topographie und Atmosphre Rheinsbergs und die Lebenszeit Heinrichs vermitteln sich so als Gesamteindruck. Schon die Auswahl biographischer Informationen nach einem strikten Selektionsprinzip und die Eingrenzung der Perspektive auf Rheinsberg geben einen Interpretationsansatz vor. Der Prinz wird fast ausschließlich als intellektueller Kopf, kunstsinniger Mzen und aufgeschlossener GeselACHTUNGREligACHTUNGREkeitsACHTUNGREliebhaber beleuchtet. Sein Leben als Feldherr und der Bruderkonflikt rcken nur ins Blickfeld, wenn die Rede auf den Rheinsberger Obelisken kommt, dessen Inschriften Kritik an Friedrich und seinen militrischen Erfolgen ben. Zweifellos setzt die ausfhrliche Beschreibung des Obelisken als „[v]ielleicht grçßte Sehenswrdigkeit“42 einen Gegenakzent zur offiziellen berlieferung, wie auch die dezenten Hinweise auf Heinrichs erotische Mnnerfreundschaften nicht ins çffentliche Bild passen.43 Dennoch do-
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des literarischen Lebens. Am Institut fr deutsche Literatur der Humboldt-Univ. hg. von Peter Wruck u. Roland Berbig. Heft 2 (1998), S. 102 – 108. Kikawa hebt Fontanes Bemhen um eine „Wieder-Erstehung“ der historischen Gestalt des Prinzen hervor (S. 105). Christian Graf von Krockow wirft dagegen die Frage auf, warum Fontane nichts fr Heinrich getan habe (Ders.: Rheinsberg. Ein preußischer Traum. Mnchen 1997, S. 79). GBA Wanderungen. Bd. 1. Die Grafschaft Ruppin. 1997, S. 283. Jana Kittelmann kommt in einem anregenden Beitrag, vorgetragen unter dem Titel „,…die ganze Welt ein Idyll‘? Gartenbeschreibungen bei Theodor Fontane und Hermann Pckler-Muskau“ am 18. Mai 2007 in Neuruppin im Rahmen der Frhjahrstagung der Theodor Fontane Gesellschaft, zu einem hnlichen Befund. Der Text ist in den Fontane Blttern 85 (2008), S. 132 – 149, erschienen. Vgl. GBA Wanderungen. Bd. 1. Die Grafschaft Ruppin. 1997, S. 287 – 295, hier: S. 287. Die Inschriften des Obelisken sind den Mnnern gewidmet, die Heinrich als Helden des Siebenjhrigen Krieges ansah. „Der Obelisk richtet sich“, wie Fontane vermerkt, „in seiner Kritik in erster Reihe gegen den Kçnig, aber an manchen Stellen und zwar gleichzeitig ausgesprochener Anerkennung unerachtet, doch auch gegen den einen oder andern der berhmtesten Generale.“ (GBA Wanderungen. Bd. 1. Die Grafschaft Ruppin. 1997, S. 295). GBA Wanderungen. Bd. 1. Die Grafschaft Ruppin. 1997, S. 309 – 316. Vgl. dazu Christoph Martin Vogtherr: Favoriten am Hof des Prinzen Heinrich. In: Prinz Heinrich von Preußen. Ein Europer in Rheinsberg. Ausstellungskatalog. Hg. von der
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miniert insbesondere im Hinblick auf das fr Heinrichs Leben prgende Verhltnis zum ranghçheren Bruder eine Tendenz zur Aussparung. So erlaubt es die getrennte Behandlung der Kronprinzenzeit Friedrichs im Neuruppin-Zyklus und der „Prinz-Heinrich-Zeit“44 in den „Rheinsberg“Aufstzen, Heinrich zu wrdigen, ohne den Friedrich-Mythos samt der dazugehçrigen Legenden zu desavouieren. Bezeichnenderweise liegt der Schwerpunkt der biographischen Darstellung auf den Jahren 1786 bis 1802, der Zeit nach Friedrichs Tod. Die Ausblendung von Widersprchen zugunsten der Etablierung einer bestimmten Geschichtserzhlung kann bis zur vorstzlichen Komplexittsreduktion gehen, wie eine Bemerkung ber den Verlust der Aufzeichnungen Heinrichs ber den Siebenjhrigen Krieg verrt: Und doch mag es zweifelhaft erscheinen, ob ein solcher Verlust, wenn er berhaupt stattgefunden, zu beklagen wre. Der Prinz – soviel war schon bei seinen Lebzeiten laut geworden – hatte strengste Kritik gebt, namentlich auch gegen seinen kçniglichen Bruder, und es wrde die Kenntnis ber diesen vielleicht mehr verwirren als aufklren, wenn wir plçtzlich Urteilen begegneten, deren Gerechtigkeit, bei dem mit allen Vorzgen aber auch mit allen Mngeln des vorigen Jahrhunderts reich ausgestatteten Prinzen, zunchst bezweifelt werden muß.45
In der Grafschaft Ruppin hatte Fontane seine ersten Lebensjahre verbracht. Kaum zufllig bilden die Beitrge ber die Gegend, in die ihn 1859 auch seine erste Reise fhrte, den zeitlichen Auftakt des Wanderungen-Projekts. Mit der nicht weit von seinem Geburtsort entfernten Residenz Heinrichs verbanden sich fr ihn frhe Kindheitseindrcke und -erinnerungen. Im Rheinsberg-Kapitel verschmelzen sie mit der berlieferung einer anderen, „Prinz-Heinrich-Zeit“46 genannten Epoche. Tableauartig entsteht ein Bild, in dem sich unterschiedliche Schichten der Erinnerung berlagern und verbinden.
Stiftung Preußische Schlçsser und Grten Berlin-Brandenburg. Mnchen, Berlin 2002, S. 495, 496. 44 GBA Wanderungen. Bd. 1. Die Grafschaft Ruppin. 1997, S. 325. 45 GBA Wanderungen. Bd. 1. Die Grafschaft Ruppin. 1997, S. 327. 46 GBA Wanderungen. Bd. 1. Die Grafschaft Ruppin. 1997, S. 325.
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4. Friedrich August Ludwig von der Marwitz (1777 – 1837) – Nachruf auf einen unbeugsamen Charakter In der Zeit vom 23. bis 26. Mai 1860 besuchte Fontane Schloss Friedersdorf, den Stammsitz der Familie von der Marwitz. Zwischen Juni und Dezember des Jahres ging daraus eine Arbeit hervor, deren Vorabdruck in Cottas Morgenblatt fr gebildete Leser erschien und 1863 nach einer Umarbeitung unter dem Titel „Schloß Friedersdorf“ Eingang in den Oderland-Band fand.47 Das Kapitel besteht im Wesentlichen aus drei biographischen Skizzen, von denen die mittlere Friedrich August Ludwig von der Marwitz gewidmet ist, der 1837 in Friedersdorf gestorben war. Marwitz, den Fontane einmal seinen „Liebling“ nennt,48 gehçrte zu den fhrenden Exponenten eines Widerstandes des Adels gegen die Stein-Hardenbergschen Reformen. Die Materialgrundlage bildete eine 1852 erschienene, zweibndige Marwitz-Ausgabe, anonym herausgegeben von Marcus Niebuhr, einem Vertrauten Kçnig Friedrich Wilhelms IV.49 Den politischen Auftrag dieser Edition verdeutlicht das Vorwort: Dieses Buch ist recht eigentlich eine Errungenschaft des Jahres 1848. Das Leben und die Meinungen eines Mannes, der […] zur Zeit der hçchsten Blthe des Liberalismus in Preußen Einer von den sehr Wenigen war, die gegen den Despotismus des herrschenACHTUNGREden Systems offen auftraten, und der seine Ueberzeugung mit dem Kerker besiegelt hat, – sie wrden vor 1848 von Wenigen verstanden, ja auch nur gelesen worden seyn. Der erschtternden – lange noch nicht genug erschtternden – Mahnungen des Jahres 1848 bedurfte es, um die vereinzelten Mnner, die mit Ueberzeugung und vollem Bewußtseyn das Bekentniß des sel. General v. d. Marwitz theilten, zum festen Kern einer offen hervortretenden Partei zusammenzufhren, und in den Vielen, in denen jene Gesinnungen unbewußt schlummerten, sie zu wecken und zum volACHTUNGRElen Be47 Vgl. GBA Wanderungen. Bd. 2. Das Oderland. 1997, S. 593, 594. 48 Theodor Fontane an Emilie Fontane, 12./14./15. August 1882. In: HFA IV/3, S. 198. Vgl. dazu Gnter de Bruyn: Mein Liebling Marwitz. In: Text + Kritik: Theodor Fontane. Sonderband. Hg. von Heinz Ludwig Arnold. Mnchen 1989, S. 11 – 29; Peter Wruck: Welches Preußen? Fontanes Auseinandersetzung mit seinem Liebling Friedrich August Ludwig von der Marwitz. In: Berliner LeseZeichen 2001, H. 6, S. 46 – 55. 49 Friedrich August Ludwig von der Marwitz: Aus dem Nachlasse Friedrich August Ludwig’s von der Marwitz aus Friedersdorf, Kçniglich Preußischen General-Lieutenants a.D. 2 Bde. Berlin 1852. Vgl. zur Rolle Niebuhrs als Herausgeber Ewald Frie: Friedrich August Ludwig von der Marwitz: 1777 – 1837. Biographien eines Preußen. Paderborn 2001; Gnter de Bruyn: Mein Liebling Marwitz (wie Anm. 48), S. 17, 18. Nach de Bruyn wussten schon die Zeitgenossen, dass es sich bei dem anonymen Herausgeber um Niebuhr handelte.
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wußtseyn zu bringen. Whrend vor 1848 die Familie des Hingeschiedenen nicht den Gedanken zu fassen wagte, seinen schriftlichen Nachlaß zu verçffentlichen, hlt sie dies jetzt fr ihre Pflicht.50
In der Tat war Marwitz nach seinem Tod in der çffentlichen Erinnerung kaum prsent, bevor er nach 1848 zur Leitfigur des politischen Konservatismus und Widerpart des Liberalismus aufgebaut wurde. Marcus Niebuhr fiel die Aufgabe zu, eine diesen Ansprchen gerecht werdende Ausgabe seiner Schriften zu liefern. Um ein widerspruchsfreies Bild eines konsequent antirevolutionren Militrs und Politikers zu bieten, traf er eine entsprechende Textauswahl, sonderte Hohenzollern-kritische Passagen aus, und nahm, wo es ihm nçtig erschien, sogar Neuformulierungen vor.51 Dass „in das Buch einiges aus der Gegenwart hineingeflscht worden“ sei, vermutete nach der ersten Lektre schon Johann Gustav Droysen.52 In seiner Marwitz-Biographie zeichnet Ewald Frie vier jeweils gegenwartsbezogen ausgedeutete Tradierungslinien der Portrtbildung nach. Er unterscheidet eine familienbezogene, politische, literarische und historiographische berlieferung, die in der Regel mit der Geschichte selbst verwechselt worden seien.53 Auch Fontane partizipiert, u. a. durch die Verwendung der Edition Niebuhrs, an der Fortschreibung der Erzhlungen, ja er wird sogar zu einem „der wirkmchtigsten Marwitz-Bilderschçpfer“.54 Einer dezidierten politischen Parteinahme versucht er sich allerdings zu entziehen. Zwar attestiert er Marwitz, dass er einen Wendepunkt im staatlichen Leben herbeigefhrt habe, denn erst seit seinen Zeiten existiere in Preußen ein politischer Meinungskampf.“55 Generell aber konzentriert er sich auf die persçnliche Haltung des Generals und Politikers, wobei wiederum in modifizierter Form das fr die Knstlerbiographien maßgebliche 50 Aus dem Nachlasse Friedrich August Ludwig’s von der Marwitz (wie Anm. 49). Erster Bd. Lebensbeschreibung. Berlin 1852, S. III, IV. 51 Vgl. Klaus Vetter: ber Friedrich August Ludwig von der Marwitz und den Umgang mit seinem schriftlichen Nachlaß. In: Friedrich Beck u. Klaus Neitmann (Hg.): Brandenburgische Landesgeschichte und Archivwissenschaft. Festschrift f. Lieselott Enders zum 70. Geburtstag (Verçff. d. Brandenburgischen Landeshauptarchivs 34), Weimar 1997, S. 271 – 285. Vgl. auch Frie: Friedrich August Ludwig von der Marwitz (wie Anm. 49), S. 15. 52 Johann Gustav Droysen an Theodor von Schçn, 21. Januar 1852. In: Johann Gustav Droysen: Briefwechsel. Hg. v. Rudolf Hbner. Bd. 2: 1851 – 1884. Dt. Geschichtsquellen d. 19. Jhdts. 26. Osnabrck 1967, S. 47 – 49. 53 Frie: Friedrich August Ludwig von der Marwitz (wie Anm. 49), S. 13. 54 Frie: Friedrich August Ludwig von der Marwitz (wie Anm. 49), S. 334. 55 GBA Wanderungen. Bd. 2. Das Oderland. 1997, S. 228.
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Rezeptionsmuster „Mensch und Knstler“zum Tragen kommt,56 wenn auch aufgrund der eingeschrnkten Quellenlage die Beschftigung mit Marwitz’ schriftstellerischem Werk sehr knapp ausfllt. Unter Umgehung von Widersprchen – als konservative Leitfigur war der im Rationalismus des 18. Jahrhunderts verwurzelte Adlige, wie de Bruyn treffend feststellt, nur bedingt geeignet –57 wird Marwitz als unbeugsamer und prinzipientreuer Vertreter des Rechtsbewusstseins seiner Zeit geschildert. Resmierend hlt der Autor fest: „Die Schilderung des Marwitzschen Lebensganges war zugleich eine Schilderung seines Charakters.“58 Wie das Prinz-Heinrich-Portrt zeichnet die Marwitz-Biographie ein eigentmlich statisches Bild. Indessen sind es gerade solche Zge in der Darstellung des mrkischen Adligen, die seine Funktion als politische Leitfigur letztendlich entwerten. Allen realpolitischen Ansprchen zum Trotz, die mit der Stilisierung von Marwitz einhergingen, hat die Biographie Fontanes den Charakter eines Nachrufs. 5. Wilhelm Hensel (1794 – 1861) – Zeitgenossenschaft und Epochenbewusstsein Vermutlich fhrte der Plan zu einer biographischen Wrdigung des preußischen Hofmalers Wilhelm Hensel Fontane Ende der sechziger Jahre in das Stdtchen Trebbin. Am 9. und 23. Juni 1872 verçffentlichte er dann unter dem Titel „Trebbin und Wilhelm Hensel“ in den Sonntagsbeilagen der Vossischen Zeitung einen Vorabdruck des Aufsatzes, der spter in den Spreeland-Band aufgenommen wurde. Darber hinaus ist Hensel eine einfhlsame Beschreibung in der Autobiographie Von Zwanzig bis Dreißig gewidmet. Die ußere Schilderung von Hensels Leben stellt kaum mehr als einen skizzenhaften Abriss dar. Nur zwei charakteristische Akzentsetzungen stechen hervor: die als Lebenswendepunkt apostrophierte Lalla-Rookh-Feier, fr die Hensel lebende Bilder arrangierte, und die Ehe mit Fanny Mendelssohn, eine Verbindung, ber die Fontane in seinem Erinnerungsbuch nicht ohne Malice vermerkt:
56 Wie auch in den Beitrgen ber Karl Friedrich Schinkel und Wilhelm Gentz im Neuruppin-Zyklus. 57 de Bruyn: Mein Liebling Marwitz (wie Anm. 48), S. 20, 21. 58 GBA Wanderungen. Bd. 2. Das Oderland. 1997, S. 246.
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Trat er [Hensel] ein, so glaubte man einen in die Großstadt verschlagenen Amtmann zu sehen, und daß ihm, vierzig Jahre frher, die schçne Fanny Mendelssohn zu teil geworden war, konnte wunder nehmen. Erfuhr man dann aber, was es mit dem „Amtmann“auf sich habe, so war einem klar, daß die schçne Fanny sehr richtig gewhlt habe.59
Prononciert fllt auch die im Rahmen der Lebensschilderung gebotene Charakterstudie aus. In Nhe zum Portrt Schadows wird Hensel als Typus eines Mrkers charakterisiert, „als eine Verquickung von Derbheit und Schçnheit, von Gamaschentum und Faltenwurf, von preußischem Militarismus und klassischem Idealismus“, die „Seele griechisch, der Geist altenfritzig, der Charakter mrkisch.“60 Den eigentlichen Schwerpunkt der Biographie stellt aber die Beschftigung mit den in einem Zeitraum von vierzig Jahren entstandenen Portrtzeichnungen des Malers dar. Das ist in zweifacher Hinsicht bemerkenswert: Zum einen werden hier aufschlussreiche Zusammenhnge zwischen Bilder- und Lebenswelten erçffnet, zum anderen zeugt diese Perspektivierung von einem ausgeprgten Bewusstsein fr die Historizitt eines Lebens, das geprgt war durch vielfltige gesellschaftliche Beziehungen: […] der grçßte Teil dieser Sammlung gibt doch Aufschluß ber eine vorlichtbildliche Zeit und wird ber kurz oder lang einen Wert reprsentieren, hnlich den Initialenbchern des Mittelalters, aus denen oft Stdte, Stnde, Persçnlichkeiten allein noch zu uns sprechen. Die Mappen Wilhelm Hensels werden dann ein Bibliothekenschatz sein trotz einem, eine Quelle voll historischer Bedeutung, und der Name des Predigersohns aus Trebbin wird zu neuen Ehren erblhen.61
Das hellsichtige Urteil ber die Zeichnungen Wilhelm Hensels, die durchaus nicht berall ungeteilte Wertschtzung erfuhren, frappiert. Die Portrts erscheinen als Spiegel der Zeit zwischen 1820 und 1860. Aus der Perspektive des Biographen reprsentieren sie die geistige und gesellschaftliche Physiognomie der Epoche als auch das Leben ihres Schçpfers, der in dieser Welt beheimatet war.
59 Theodor Fontane: Von Zwanzig bis Dreißig. In: HFA III/4, S. 425. 60 GBA Wanderungen. Bd. 4. Spreeland. 1997, S. 431. 61 GBA Wanderungen. Bd. 4. Spreeland. 1997, S. 434.
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6. Luise Henriette Charlotte von Kraut (1762 – 1819) – Das Leben einer Grande Dame als dokumentarische Montage Im Mittelpunkt der 1882 in der „Vossischen Zeitung“ erschienenen, spter in den Band Fnf Schlçsser aufgenommenen Hoppenrade-Aufstze steht mit der „Krautentochter“ genannten Charlotte von Kraut eines der nicht sehr zahlreichen weiblichen Lebensbilder der Wanderungen. 62 Eine Besonderheit stellt die ausgesprochen lange Entstehungszeit der Arbeit dar. Bereits Ende Mai/Anfang Juni 1861 weckten das Hoppenrader Schloss, drei Jahre spter dann auch die Geschichte Charlotte von Krauts die Neugier Fontanes. Umfassende Informationen erbrachte aber erst 1880 ein Kontakt zur Familie von Knyphausen, an den sich ein Besuch auf Schloss Ltetsburg in Ltzburg (Ostfriesland) anschloss.63 Die dort eingesehenen Familiendokumente bildeten die Grundlage fr die Ausarbeitung des Stoffs im folgenden Jahr.64 Ein Brief Fontanes an seine Schwester Elise, die wie Mathilde von Rohr und andere Gewhrsleute wiederholt um Ausknfte gebeten wurde,65 verdeutlicht, welche Reize der Hoppenrade-Komplex verkçrperte: Hoppenrade. Dieser Stoff hat mir, seit ich vor sechs, sieben Jahren dies Schloß sah, nicht Ruhe gelassen. Heute zum ersten Mal fllt mir aber ein, daß er fr mich mçglicherweise gar nicht mehr zu brauchen ist. Sein Hauptzauber lag in seiner UnbewohntAhCHTUNGRE eit. Ist jetzt ein beliebiger weiß oder schwarz gestempelter Erdenbrger dort eingezogen, so ist sein Charme dahin. Das Interesse kçnnte sich dann nur dadurch wieder beleben, daß ber das Leben der Arnstedts und vielleicht auch ihrer Vorbesitzer (Kaphengst?) wirklich historisch-romantisches-Lderlichkeits-Material auszugraben wre; dies scheint mir aber sehr schwierig. In der Mark war man lderlich ohne Beihlfe von Steno- und Photographen; nichts wurde festgehalten.66
Bereits bei seinem ersten Aufenthalt in Hoppenrade ermittelte und konsultierte Fontane Zeitzeugen, um sie nach der „Krautentochter“ zu befragen. Schon bald aber stellte sich heraus, dass ein allgemeines Erzhlwissen in-
62 Vgl. HFA II/3, S. 1134. 63 Der Kontakt ergab sich auf Vermittlung von Graf Eulenburg. Vgl. GBA Wanderungen. Bd. 5. Fnf Schlçsser. 1997, S. 561 – 566. 64 Vgl. GBA Wanderungen. Bd. 5. Fnf Schlçsser. 1997, S. 565, 566. 65 Vgl. GBA Wanderungen. Bd. 5. Fnf Schlçsser. 1997, S. 562, 563. 66 Theodor Fontane an Elise Fontane, 29. Januar 1873. In: HFA IV/2, S. 425.
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dividuelle Erfahrungen berlagert und verformt hatte und dass sich aus dem Erzhlten keine neuen Perspektiven ergaben.67 Ziel der Beschftigung mit der „Krautentochter“ war es, den „Typus einer Grande Dame des vorigen Jahrhunderts“ zu portrtieren,68 ein kapriziçses Leben, geprgt durch wechselnde Ehen und Liebschaften, Eifersucht, Intrigen und çkonomischen Leichtsinn. Unter ausdrcklichem Hinweis auf die Historizitt ihrer Lebensform werden moralische Verurteilungen strikt zurckgewiesen: Ist es richtig (und es wird richtig sein), daß sie der Typus einer „vornehmen Dame“ des vorigen Jahrhunderts war, so liegt uns die Pflicht ob, sie nicht bloß aus ihrer Epoche, sondern vor allem auch aus ihrem Gesellschaftskreise heraus zu beurteilen, will sagen aus einem Kreise heraus, darin der Charakter nicht viel und die Tugend noch weniger bedeutete und in dem, bei Beurteilung schçner Frauen, ber vieles hinweggesehen werden durfte, wenn sie nur ber drei Dinge Verfgung hatten, ber Schçnheit, Esprit und Charme.69
Ein Charakteristikum der Biographie Charlotte von Krauts besteht in der Dominanz des Quellenmaterials, das weitgehend unkommentiert prsentiert wird. Mehr oder weniger unverbunden stehen die einzelnen Zeugnisse nebeneinander. Zwar legen u. a. die Spuren, die das bewegte Schicksal der „Krautentochter“ in einigen Frauenrollen der Romane hinterlsst, den Gedanken nahe, dass Fontane den Stoff spter noch einmal bearbeiten wollte. Insgesamt aber zeugen die vorliegenden Anstze von dem Bewusstsein, dass sich der Gegenstand aufgrund seiner Disparatheit und Vieldeutigkeit einer kohrenten Darstellung entzieht. Daraus resultiert der Verzicht auf eine einheitliche narrative Konstruktion zugunsten einer weitgehend dokumentarischen Darbietung des recherchierten Materials. 7. Resmee Die biographischen Portrts der Wanderungen sind durch vielfache Relationen auf Vorgngertexte und Genretraditionen bezogen. In Form von Zitaten, Anekdoten und anderen Anlehnungen werden vorgegebene Er67 So fasst Fontane ein Gesprch mit einer alten Dorfbewohnerin zusammen: „Es zeigte sich deutlich, daß die Geschichte von dem Briefwechsel und dem Duell und mehr noch die Geschichte von der Entfhrung der kleinen Miß Elliot einen Eindruck auf sie gemacht hatte; der Rest aber war vergessen oder blieb im Dunkel.“ GBA Wanderungen. Bd. 5. Fnf Schlçsser. 1997, S. 149. 68 GBA Wanderungen. Bd. 5. Fnf Schlçsser. 1997, S. 205. 69 GBA Wanderungen. Bd. 5. Fnf Schlçsser. 1997, S. 205.
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zhlstrukturen und Inhalte tradiert. Nicht selten gilt das auch fr die Selektionsmechanismen der benutzten Quellen. Fontanes Rckgriff auf die Marwitz-Ausgabe Niebuhrs, die den Junker zur Symbolfigur eines frhen preußischen Konservatismus stilisiert, bietet ein besonders prgnantes Beispiel dafr. Grundstzlich modellieren und konstruieren die Portrts in den Wanderungen je nach situativem Kontext ihre Gegenstnde, die so als subjektiv vermittelte zur Sprache kommen. Faktizitt und fiktionale Erzhlstrukturen stehen dabei in untrennbarem Austausch miteinander. Ausgehend von der Erkenntnis, dass eine biographische Wahrheit nicht zu haben ist, praktiziert Fontane auch als Biograph keinen Abbildrealismus; vielmehr liefert er unter Einsatz spezifischer erzhlerischer Mittel und Wirkungsstrategien eigene Deutungsangebote. Zur Biographik Fontanes gehçren weiterhin ihre autobiographischen Zge.70 In Form von Projektionen tritt in diesem Zusammenhang das gattungsspezifische Problem der Identifikation zutage. So richtet sich das biographische Interesse des Autors auf Affinitten und Kontraste, die ein Bewusstsein fr die eigene Existenz schrfen. Daher beschftigen ihn manche der mrkischen Lebensgeschichten weit ber den unmittelbaren Anlass hinaus. Auf vielfltige Weise und in sublimierter Form liefern sie wiederum Bausteine zu den Textualisierungsprozessen, aus denen das Romanwerk hervorgeht.71 Den Schwerpunkt der Portrts nehmen vormoderne Lebensformen ein, geprgt durch regionale Bindungen und Ordnungsvorstellungen, die von den von der Peripherie auf die Mark Brandenburg bergreifenden gesellschaftlichen Vernderungen vergleichsweise unberhrt bleiben. Deutlich erkennbar scheint in der sozialpsychologischen Besonderheit mrkischer Charaktere wie Friedrich August Ludwig von der Marwitz die Geschichte des Landes auf. Trotz detaillierter historischer Milieuschilderungen wirken viele der dargestellten Personen zeitlos, wozu auch die dichte Verknpfung biographischer und kulturrumlicher Aspekte beitrgt. Nur die Lebensschilderung Schinkels rumt Großstadterfahrungen Relevanz ein. Momente eines gesellschaftlichen Wandels spiegeln hingegen die Portrts mrkischer Brger. Gegenber dem alteingesessenen Milieu der Mark reprsentieren sie 70 Vgl. dazu den Beitrag von Roland Berbig in diesem Band sowie die Fontane Bltter 65 – 66 (1998). 71 Die Selbstndigkeit und der Eigenwert des Wanderungen-Projekts werden dadurch nicht berhrt.
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vernderte Individualittsauffassungen und Realittsbezge, in denen sich eine zeit- und raumberwindende Dynamik artikuliert. Die Schinkel-Biographie entspricht weitgehend den typischen Regularitten von Knstlerbiographien der Zeit. Durch chronologisch-konsekutive Erzhlweisen und kausale Verknpfungen gert Schinkels Leben in den Sog einer auf einen knstlerischen Hçhepunkt zustrebenden Zielkonstruktion; das Heterogene und Disparate geschichtlicher Vorgnge erfhrt dadurch eine nachtrgliche Sinnstiftung. In ihrer konstruierten Einheit von Leben und Werk bietet die Schinkel-Biographie ein Muster brgerlicher Selbstverwirklichung. Charakteristische Aussparungen und ein weitgehender Verzicht auf Widersprche kennzeichnen die Prinz-Heinrich-Teilbiographie. Poetische Reminiszenzen und Szenen reklamieren einen bleibenden Erinnerungsort fr den Prinzen und setzen so einen Gegenakzent zur offiziellen berlieferung. Im Rahmen einer statischen Bildkonstruktion wird Heinrich als Mittelpunkt eines durch Kunst und Geselligkeit geprgten Gesamtensembles Rheinsberg inszeniert. Mit Hilfe von mythisierenden und verklrenden Darstellungsstrategien, die einer bewussten Komplexittsreduktion dienen, realisiert sich eine alternative Geschichtsdarstellung. Generell zeichnet sich in den behandelten Fallbeispielen ein Grundzug biographischen Erzhlens in den Wanderungen ab. Im Dienste zentrierter Subjektkonzeptionen kristallisieren sich durch Selektions- und Bndelungstechniken kohrente und homogene Lebensbilder heraus. Kausale Verkettungen und teleologische Erzhlmuster hypostasieren eine Einheit des Ichs. Daneben behaupten sich andere Kompositionsweisen, ohne dass ganzheitliche Modelle dadurch grundstzlich in Frage gestellt wrden. So erschçpft sich die stark auf Vereinheitlichung und Sinnstiftung hin angelegte Biographie Schinkels nicht in starren Identittszuweisungen. Der imaginre Blick in die Mappen des Knstlers mit seinen unrealisierten Plnen und Entwrfen offenbart den Reichtum alternativer Mçglichkeiten und lsst sein Leben als unabgeschlossenen Prozess erscheinen. Vçlligen Verzicht auf herkçmmliche Formen biographischen Erzhlens leistet der Gustav-Khn-Essay. Die Neuruppiner Bilderbogen stehen stellvertretend fr das Lebenswerk des Unternehmers wie fr eine Tendenz der Moderne, die Transformation von Raum und Zeit. Unter gattungstheoretischen Gesichtspunkten vollzieht sich eine Neuakzentuierung des Ich-Außen-Verhltnisses. Gustav Khn figuriert nicht mehr als Akteur eines Lebenslaufs und Trger bestimmter Persçnlichkeitszge, sondern als Reprsentant seiner Zeit und eines sozialen Raumes. Implizit wird darber hinaus die Frage behandelt, wie unter den Bedingungen einer wachsenden
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Verselbstndigung çkonomischer Ablufe noch eine Form von personaler Identitt vor- und darstellbar ist. Eine originelle Variante im Rahmen der Biographik Fontanes stellt auch das Portrt Wilhelm Hensels dar. Im Medium seiner Portrtzeichnungen erscheint er als Kristallisationspunkt vielfltiger gesellschaftlicher Beziehungen. Gleichzeitig artikuliert sich ein Bewusstsein fr die Prsenz eines vergangenen Daseins, das einmal einen offenen Zukunftshorizont hatte. So gewinnt die Biographie Hensels Gestalt als Einheit von im Zeitablauf vergangener und im Bewusstsein vergegenwrtigter Geschichte. Von einer eigentmlichen Spannung zwischen Altem und Neuem durchzogen ist schließlich die Biographie der „Krautentochter“. Obwohl es sich um ein durch historische Abstandserfahrungen geprgtes Lebensbild handelt, trgt die Darstellung moderne Zge. Die hinterlassenen Zeugnisse und Kenntnisse ber das Leben Charlotte von Krauts stehen lose und z. T. unverbunden nebeneinander, um fr sich selbst zu sprechen. Sie fgen sich zu einem montagehnlichen Gebilde, das sich Sinnkonstruktionen und teleologischen Lesarten der Vergangenheit verweigert. Gerade diese Form aber lsst das uneinholbar Ganze der Geschichte ahnen, ja sie animiert sogar dazu, das Biographische nicht als ein fr allemal Feststehendes zu begreifen, sondern unter bewusster Reflexion des eigenen Standpunkts weiterzudenken und fortzuschreiben. Die Wanderungen versammeln zahlreiche heterogene biographische Darstellungsformen. Das Spektrum reicht von entelechieartigen Modellen, die im Geiste eines Identittsbewusstseins die Kohrenz, Einheit und Zielgebundenheit eines Lebensweges hypostasieren, bis zu modernen, montagehnlichen Dokumentationsweisen. In dieser Vielfalt der Mçglichkeiten tritt der Anspruch des Biographen Fontane zutage, der Einzigartigkeit eines jeden Lebens gerecht zu werden.
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An Bord der Sphinx oder ,Der Fischer von Kahniswall‘ Verdeckt autobiographisches Erzhlen in Fontanes Wanderungen
Helmuth Nrnberger „Dieses Grab mssen wir besuchen“, rief jetzt Kapitn Backhusen mit Emphase; „das ist mein Mann; allein sein, nichts von der Welt wollen!“ (Spreeland)1
Verborgene Facetten: In zwei Briefen Fontanes vom August 1876 an seine Frau ist von einem „lngeren Aufsatz“ die Rede, den er ihr zum Abschreiben schicken werde.2 Dabei handelt es sich um das sptere Kapitel Die wendische Spree des Bandes Spreeland der Wanderungen, das im Vorabdruck 1878 u. d. T. Die wendische Spree oder: Von Kçpenick bis Teupitz an Bord der „Sphinx“ in Rodenbergs Deutscher Rundschau erschien – das einzige Kapitel seines mrkischen Reisewerks, das Fontane in der renommierten Zeitschrift unterbringen konnte. Es ist spter wiederholt – von Wandrey3 bis Wruck4 – als eines der bestgelungenen Wanderungen-Kapitel berhaupt gerhmt worden. Ungefhr in der Mitte der ,Reportage‘ ist eine novellistisch anmutende Begebenheit eingefgt, die Geschichte des „Fischers von Kahniswall“. Sie wird von Fontane, der zu der Segelpartie eingeladen worden war, seinen Gastgebern erzhlt. Rodenberg fand fr den Beitrag, den er offenbar sogleich nach Fertigstellung erhalten hatte, freundliche Worte, ließ ihn jedoch zwei Jahre liegen. Zwischen der „Bootexpedition“ im Juli 1874, die dem Aufsatz zugrunde liegt, und der Erstverçffentlichung liegen mithin sogar vier Jahre. Fontane hatte sich, wie gewohnt, noch unter dem frischen Eindruck seines 1
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HFA, II/2, 3. Aufl. 1995, S. 521. – Abteilungen, bzw. einzelne Bnde der HanserAusgabe sind zu verschiedenen Zeiten neu aufgelegt und bei solcher Gelegenheit berarbeitet worden, wodurch sich auch Vernderungen der Paginierung ergeben haben. Zitiert wird jeweils nach der zuletzt erschienenen Auflage, diese wird, abgesehen von der Erstauflage, bei der ersten Nennung eines Bandes verzeichnet. GBA Der Ehebriefwechsel, Bd. 3, S. 69 u. 74 (9. u. 18. August 1876). Conrad Wandrey: Theodor Fontane. Mnchen 1919, S. 95. Peter Wruck: Wie Fontane die Mark Brandenburg entdeckte. In: Fontane-Bltter, 74 (2002), S. 69.
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Helmuth Nrnberger
Ausflugs Notizen gemacht, im Anschluss daran eine „Einteilung“entworfen. In dieser finden sich bereits die Stichworte „Kahniswall. Die betr. Geschichte“, die er also schon damals einzufgen gesonnen war.5 Darauf ist hier eigens hinzuweisen, weil im Folgenden der Vorschlag unterbreitet wird, Fontanes Fischer von Kahniswall im Zusammenhang der einschneidenden, ber seine Zukunft als Schriftsteller bestimmenden Erfahrungen zu lesen, die das Jahr 1876 zu einem in seiner Biographie besonders bedeutsamen werden ließen: Seine nur wenige Monate whrende Ttigkeit als Sekretr der Akademie der Knste hatte durch freiwillige Kndigung ihr Ende gefunden und in eine Krise auch im Verhltnis zu seiner Frau und in seiner Stellung zur ffentlichkeit gefhrt, sodann aber mit der Wiederaufnahme von Vor dem Sturm endgltig den Weg zum Roman erçffnet. Die beiden eingangs genannten Briefe lassen die vorangegangene und noch nicht vçllig berwundene Erschtterung ebenso erkennen wie eine Reihe weiterer biographischer Zeugnisse, die ihrer Bedeutung entsprechend grndlich untersucht worden sind.6 Mittelbar bildet nach unserer Auffassung auch Fontanes damals entstandene fiktive und Wanderungen-Prosa die Entscheidungssituationen ab, vor die er sich gestellt sah, in erster Linie also Vor dem Sturm; daneben, im Vergleich mit dem voluminçsen Roman gewissermaßen en miniature, Der Fischer von Kahniswall. Die „betr. Geschichte“ war ihm anscheinend schon lnger bekannt; ihre einzige berlieferte Fassung erhielt sie 1876. Sie lsst den ber die Zusammenhnge informierten Leser die Anspannung ihres Verfassers ahnen, er hat die Erzhlung jedoch nicht zu diesem Zweck benutzt. Es lag sicherlich nicht in Fontanes Absicht, die Leser seiner ,Novelle‘ an sein unkonventionelles Verhalten und die daraus folgenden Konsequenzen anspruchs- oder vorwurfsvoll zu erinnern. Vielmehr gilt auch fr das Reisefeuilleton Die wendische Spree und die darin eingelegte Fischer-Novelle, was Fontane damals an seine vertraute Freundin Mathilde von Rohr ber Vor dem Sturm geschrieben hat: Ja, der Roman! Er ist in dieser fr mich trostlosen Zeit mein einziges Glck, meine einzige Erholung. In der Beschftigung mit ihm vergesse ich, was mich drckt. […] wenn er berhaupt noch zur Welt kommt, so werde ich im Rckblick auf die Zeit, in der er entstand, sagen drfen: ein Schmerzenskind. Er 5 6
GBA Wanderungen. Bd. 4. Spreeland. 1997, S. 494. Vom Brouillon des Kapitels haben sich, wie der Herausgeber mitteilt, im TFA nur Reste erhalten, etwa die Hlfte der Bltter geriet 1945/46 in Verlust. Darber zuletzt Hubertus Fischer (Hg.): „…so ziemlich meine schlechteste Lebenszeit.“ Unverçffentlichte Briefe von und an Theodor Fontane aus der Akademiezeit. In: Fontane-Bltter 63 (1997), S. 26 – 46.
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trgt aber keine Zge davon; er ist an vielen Stellen heiter und nirgends von der Misere angekrnkelt. […] Ich empfinde im Arbeiten daran, daß ich nur Schriftsteller bin und nur in diesem schçnen Beruf – mag der aufgeblasene Bildungs-Pçbel darber lachen – mein Glck finden konnte.7
Fontanes Leichtigkeit ist erarbeitet, zuweilen unter schwierigen Bedingungen. Zugespitzt ausgedrckt: „In Fontanes Parlando ist ein Schrei verborgen. […] Die Kunstgebrde Fontanes, wie die Gebrde seines Daseins, ist Scheu.“ (Weber)8 Aber Scheu und das Bedrfnis, sich zu çffnen, korrespondieren, in der Welt der Literatur gewiss. Literatur drngt zur Mitteilung und was sie mitteilen kann, empfngt seine unverwechselbare Prgung durch den Verfasser, freilich nicht stets in gleicher Weise. Auch der einzelne Text hat seine Besonderheit. Fontanes historisch-biographische oder fiktive Erzhlwerke enthalten viele und vielerlei autobiographische Elemente, einzelne in gleichsam exemplarischer Weise. Auf den StechlinRoman – die Rezensionen wurden zu Nachrufen, der zeitliche Zusammenhang mit dem Tod des Dichters als zeichenhaft verstanden – ist deshalb zuallererst aufmerksam gemacht worden.9 Aber es gibt auch weniger deutliche Hinweise auf solche fr Fontanes Kunst charakteristische Zge, Verborgene Facetten10, wie eine herausragende Sammlung werk- und rezeptionskundlicher Studien treffend betitelt ist. Fontanes verbergendes Enthllen, enthllendes Verbergen entspricht keinem eingebten Modus, sein Rollenspiel folgt der Gelegenheit. Zuletzt bleiben wohl einige Spuren zurck, die auf das „Eigentliche“ deuten, Ungleichmßigkeiten in der Betonung, die es als mçglich erscheinen lassen, das vermehrt Maßgebliche vom eher Unwichtigen zu unterscheiden, wenngleich das immer ein unsicheres Handwerk bleibt. Bereits Fontanes nicht selten bemerkenswerte Lngen und dann wieder recht balladenhafte Verknappung erfordern viel Aufmerksamkeit, zuweilen scheinen sie das Interesse des Lesers fr das Detail und sein Verstndnis fr kaum Angedeutetes zu berfordern. Fontane hat sich, als Frau Emilie einmal Zweifel bekannte, klar ber seine Intentionen geußert. 7 Theodor Fontane an Mathilde von Rohr, 1. November 1876. In: HFA, IV/2, S. 547. 8 Werner Weber: Theodor Fontane. In: Berliner Geist. Fnf Vortrge der Bayerischen Akademie der Schçnen Knste. Berlin 1963, S. 140. 9 Dazu grundlegend Heide Streiter-Buscher: Das letzte Wort. Autobiographische Spiegelungen im „Stechlin“. In: Fontane-Bltter 65 – 66 (1998), S. 316 – 348. Streiter-Buscher zitiert in diesem Zusammenhang auch Rezensionen des Romans – bedingt durch die zeitlichen Umstnde wurden sie nicht selten zu Nekrologen. 10 Renate Bçschenstein: Verborgene Facetten. Studien zu Fontane. Hg. von Hanna Delf von Wolzogen u. Hubertus Fischer. Wrzburg 2006 (Fontaneana 3).
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Du beklagst Dich ber meine Weitschweifigkeit. […] Alles in allem ein wundervoller Stoff, um aufs Neue in Weitschweifigkeit zu verfallen. […] Ich behandle das Kleine mit derselben Liebe wie das Große, weil ich den Unterschied zwischen klein und groß nicht recht gelten lasse, treff ich aber wirklich mal auf Großes so bin ich ganz kurz. Das Große spricht fr sich selbst, es bedarf keiner knstlerischen Behandlung um zu wirken. Gegentheils, je weniger Apparat und Inscenirung, um so besser.11
Bei alldem sei ein hilfreicher Umstand nicht vergessen, dessen Wirkung auch der gebteste Autor nicht ganz entraten kann und der dem auf ein Schiff versetzten ,Wanderer‘ zugute kam: Ob ber Kleines oder Großes, kurz oder lang – er schrieb (wenn auch nur im Nachhinein) unter dem Eindruck einer frischen Erfahrung, nichts war Wiederholung. Die wendische Spree: Ein fr Fontanes Erzhltalent geeigneterer Name als „Sphinx“ htte sich fr die „Yacht“12 mit der er von Kçpenick nach Teupitz segelte, schwerlich finden lassen. „Das Herz bleibt ein Kind“, beschreibt er seine Vorfreude nach Erhalt der Einladung.13 Dasselbe htte er auch ber seine zeitlebens unverwelkte Vorliebe fr Namen sagen kçnnen („Als Knabe schon, in Bchern, auf den Brettern, / Erquickte mich der Namen schçner Klang“14). Nicht wenige Romanfiguren, ungezhlte Toaste, bezeugen es, aber auch mit Schiffs- und Bootsnamen hat er gern gespielt: Einen alten Raddampfer „Phçnix“, den er von seiner zweiten Dnemarkreise her in schlechter Erinnerung hatte, versetzte er in Effi Briest auf die Kessine, von ihm wird „seit lange vergeblich gewnscht […], daß er in einer passagier11 Theodor Fontane an Emilie Fontane, 8. August 1883. In: HFA IV/3, S. 277 f. 12 In seinem Feuilleton verwendet Fontane diesen Ausdruck nicht – dort schreibt er „Boot“ oder „Schiff“ – wohl aber, und durchaus etwas geschmeichelt gegenber Mathilde von Rohr: „Das Segelboot ist brigens keine bloße Nußschale, sondern eine Art englische Yacht mit zwei Kajten und allem mçglichen Komfort (sogar Eiskeller) eingerichtet.“ (Wie Anm. 5, S. 492). Im Entwurf heißt es von der „Sphinx“: „Ganz Cunard- oder Lloyd-Dampfer, nur en petit, ,in der Westentasche‘.“ (Ebd., S. 493). 13 HFA II/2, S. 506. – In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass Fontane sich bereits mehr als ein Jahrzehnt frher mit dem Gedanken einer Wasserpartie nach Teupitz getragen hat, die er damals allerdings – zusammen mit seiner Frau und Frau von Merckel – mit dem Dampfschiff, nicht mit dem Segelboot, plante. Am 23. Juni 1862 schrieb er in diesem Sinne an Emilie: „Es geht an Stralow, Coepnick, Mggelsbergen, Koenigs-Wusterhausen etc. vorbei, immer fast auf breiten Seeen, Berge rechts und links, so daß es wirklich sehr schçn sein muß. Kein Mensch ahnt, daß man in der Mark solche Fahrten machen kann, die wahrscheinlich mit den Fahrten auf dem Loch Neß und Loch Lochy (der sogenannte kaledonische Kanal, von Inverneß aus) die grçßte Aehnlichkeit haben.“ In: GBA Der Ehebriefwechsel, Bd. 2, S. 219. 14 Toast auf Justizrat Robert In: HFA I/6, 3. Aufl. 1995, S. 540.
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freien Stunde sich seines Namens entsinnen und verbrennen mçge“15 ; einer bei einer Wettfahrt verunglckten „Forelle“, von der er whrend der in Rede stehenden Segelpartie erzhlt bekam, gesellte er in Irrungen, Wirrrungen den Kahn „Hoffnung“ zu und legte Botho von Riencker am Zeuthener See die ungeschickte Frage in den Mund, welches der beiden Fahrzeuge seine Freundin fr eine Ruderpartie whle, worauf Lene munter, aber etwas spitz antwortet: „Natrlich die Forelle. Was sollen wir mit der Hoffnung?“16 Eine junge Berlinerin. Der aus dem Kampf um Dppel bekannte dnische Monitor „Rolf Krake“, ein noch relativ unbekannter Kriegsschiffstyp, gepanzert, „ein richtiges Gespenst“, gab im Stechlin Anlass zu beziehungsvollen Gesprchen17. Dem Dampfer „Diana“ verdanken wir die reichlich unernste Information, dass „Diana“ – wie Fontane aus Flensburg an Storm schrieb – „speziell meine Gçttin ist“, was an die mythologischen Neigungen seines Vaters denken lsst, der allerdings das Leda-Motiv bevorzugte.18 Die Fahrt mit der „Diana“ brachte dem Dichter Glck: Sie trug ihn an Holnis vorbei, auf dessen „Dne“ – geographisch bleibt es etwas ungenau – er spter das Schloss des Grafen Holk, den „nachgeborenen ,Tempel zu Pstum‘“erstehen ließ.19 Auch die „Sphinx“ setzte seine Phantasie in Bewegung, zumindest blieb er im Bilde, wo immer er von ihr redete. Er versichert, die Einladung habe ihn aufgeregt, als wre es um ein „Vordringen bis zu den See- und Quellgebieten des Nils“20 gegangen, und bereits das 1874 entstandene Brouillon legt den Satz fest, mit dem er von dem eleganten Gefhrt Abschied nehmen wird: „Im Angesicht von Teupitz, dunkel und rtselvoll, lag die ,Sphinx‘.“21 15 Effi Briest, 6. Kap. In: HFA I/4, 2. Aufl. 1974, S. 43. 16 HFA II/2, S. 510; Irrungen, Wirrungen, 11. Kap. In: HFA I/2, 3. Aufl. 1990, S. 376. 17 Der Stechlin, 17. u. 28. Kap. In: HFA I/5, 3. Aufl. 1994, S. 167 f. u. 261 ff. – ber Rolf Krake ußert sich Fontane auch in seinem Artikel Roeskilde. In: HFA III/3/I, S. 668, Fußnote. 18 Theodor Fontane an Theodor Storm, 25. September 1864. In: HFA, IV/2, S. 133. Zu Louis Henri Fontane und dem Leda-Motiv, vgl. Meine Kinderjahre, 5. Kap. In: HFA III/4, 2. Aufl. 2007, S. 43. Was Diana zur speziellen Gçttin des Sohnes werden ließ, ist noch unerforscht. Als Akton wird er sich nicht betrachtet haben. Vielleicht war es die Nhe der jungfrulichen Gçttin zu Apoll (Diana = Artemis, Apolls Schwester), die ihm die Feder fhrte. 19 Unwiederbringlich, 1. Kap. In: HFA I/2, 567. 20 HFA II/2, S. 506. – Solche Expeditionen waren aktuell, die Reise des Neuruppiner Malers Wilhelm Gentz nach gypten und Nubien hat Fontane selbst beschrieben. 21 Vgl. HFA II/2, S. 533. – ber Teupitz hatte Fontane schon 1860 gearbeitet, der Beitrag ist dann zuerst 1862 in Das Oderland erschienen, wurde spter in den Band Spreeland versetzt. Als Motto sind ihm Verse aus Lenaus Gedicht Asyl vorangestellt:
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Das Herz bleibt ein Kind, der Gast hlt es fr seemnnisch passend, sich dem Schiff in seiner Ankerbucht bei der Kçpenicker Schlossinsel von der Wasserseite her zu nhern und die Reling mittels eines Taues zu erklimmen. Am nchsten Morgen, als er erwacht, ist die „Sphinx“ schon unter Segeln. Seine Erwartungen werden nicht enttuscht, sowohl was die LandschaftsACHTUNGREbilder an beiden Seiten des Flusses, als auch das gepflegte Ambiente an Bord betrifft. Die Kabinen sind vorzglich eingerichtet, die entsprechenden Getrnke wurden am Vorabend berreich angeliefert. Wichtiger noch ist fr Fontane die Besatzung: Es handelt sich, den Gast eingeschlossen, um vier Herren, zu denen sich „als einziger Nicht-Gentleman“, noch das „Factotum Mudy“ gesellt. „Seine Dienste, wie immer die der Subalternen, waren unentbehrlich.“22 Der Mensch lebt nicht von Konversation allein, und er darf es bekennen. Nun sind wir aber noch die Mitteilung schuldig, dass die Vorfreude des Gastes, wie aus zwei Briefen hervorgeht, in erster Linie gar nicht der „Sphinx“ und dem Reiseziel an sich gegolten hat, sondern der Annahme, dass das Schiff und die von mancher Sage umwobene „Wendei“ ihm einen „brillanten“ Stoff abwerfen wrden. Findet er den nicht, wird er es bedauern, mitgefahren zu sein und drei Arbeitstage fr seine Darstellung des Deutschfranzçsischen Krieges 1870/71 einzubßen.23 Ein Schriftstellerherz oder vielmehr -kopf und gelegentlich ein „Durchgnger“! Noch ist ihm „Hankels Ablage“nur ein Name wie andere „hnlich benannte Punkte“24. Fontane sah ein reizvolles, was die Bebauung anlangt, leider durch „Modernitt“ verunstaltetes Stck Natur („Alles wild gewordner Maurermeister“25). Er
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„Winde hauchen hier so leise / Rtselstimmen tiefer Trauer.“ Die kleine Stadt war Fontane als bedrckend arm, aber schçn geschildert worden. (Ebd., S. 695). HFA II/2, S. 508. Noch immer ist fr Fontane sein gesellschaftlicher Platz nicht selbstverstndlich. „Das Ganze reizt mich sehr. Nur ist meine Freude wie die der Kinder am Weihnachtsabend, eh es losgeht. ,Krieg ich die Kanone, so ist es der schçnste Tag meines Lebens, krieg ich sie nicht, so verschwenden die Lichter vergeblich ihren Glanz und der Gewrzpfefferkuchen schmeckt wie die Judenmatze.‘“ (Theodor Fontane an Mathilde von Rohr, 7. Juli 1874 [wie Anm. 5], S. 492). HFA II/2, S. 522. – ber Fontanes sptere Aufenthalte auf Hankels Ablage, die der Entstehung von Irrungen, Wirrungen vorangingen, ber die Vergangenheit des Ortes und seine Bewohner sowie einige mçgliche Quellen Fontanes informiert Joachim Kleine: Die Hankels auf Hankels Ablage. Wo Fontane in der Sommerfrische war. Zeuthen 1999. „Durchfhrung, wodurch diese Dçrfer wirken“, lautet die Maßgabe in Fontanes Brouillon; „aber auch durchfhren, daß all dies durch die Modernitt verliert. […] Alles wild gewordner Maurermeister, der prtentiçs seine kmmerlichen Reminiszenzen zu einem ,Chateau mit Louvre-Dach‘ zusammenrhrt.“ GBA Wanderungen. Bd. 4. Spreeland. 1997, S. 494.
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konnte nicht ahnen, dass sich spter gerade hier so passionierte wie tatkrftige Kenner seines Werkes ansiedeln wrden – wir sind ihnen dankbar verpflichtet. Sie haben fr Zeichen der Erinnerung gesorgt und lesen mit Nachsicht, dass der Dichter bei der Beschreibung der rtlichkeiten einiges durcheinander gebracht, unbedenklich stilisiert oder kaum beachtet hat. Fontane gebraucht, wenn er von der „Wendischen Spree“ schreibt, einen zu seiner Zeit kaum noch gebruchlichen Namen. In Frau Jenny Treibel hat er ihn spter in parodistischer Absicht benutzt, dort handelt es sich, politisch, um den (fiktiven) Wahlkreis Teupitz-Zossen, wo Leutnant Vogelsang fr den Kommerzienrat Wahlpropaganda macht. „,Ich habe, Herr Lieutenant, von Ihren beabsichtigten Reisen in unsere liebe Mark Brandenburg gehçrt‘“, plaudert Frau Jenny. ,Sie wollen bis an die Gestade der wendischen Spree vordringen […]. Eine hçchst interessante Gegend, wie mir Treibel sagt, mit allerlei Wendengçttern, die sich, bis diesen Tag, in dem finsteren Geiste der Bevçlkerung aussprechen sollen.‘„26 Vom „finsteren Geiste der Bevçlkerung“, kann, liest man Fontanes Reisefeuilleton, nicht die Rede sein, im Gegenteil, er findet fr das lndliche Leben, dessen er dort ansichtig wird, bewegte, fast zrtliche Worte. Gleichwohl handelt es sich bei der „wendischen Spree“ um eine, auch im geographischen Sinn, unklare, poetische Bezeichnung, dass Fontane sie verwendet, hngt sicher mit seiner „ehrenwerten, etwas romantischen Vorliebe fr die Wenden (die Sorben) zusammen, die ihn auch die wendischen Elemente dieser Gegend bertreiben lßt“27, wie de Bruyn erklrt, der es unternommen hat, die verwirrten Fden kenntnisreich zu entflechten. Von der „Wendei“ sagt der Fontane der Wanderungen etwas kryptisch, so nenne sie, wer diese gewsserreiche Landschaft kenne, in der sich, hnlich wie im Spreewald, wendische Elemente bis in die Gegenwart erhalten htten.
26 Frau Jenny Treibel, 3. Kap. In: HFA I/4, S. 318. Der Wchter an der wendischen Spree, Titel einer Lokalzeitung (9. Kap.), ist offenbar Erfindung (Ebd., S. 393). 27 Theodor Fontane: Die schçnsten Wanderungen durch die Mark Brandenburg. Hg. von Gnter de Bruyn. Berlin 1988 (Mrkischer Dichtergarten), S. 318 f. – De Bruyns Nachwort und Anmerkungen zu diesem Auswahlband zhlen wohl zum gewinnendsten und sachgerechtesten, was ber die Wanderungen geschrieben wurde, und kçnnten in ihrem „Lokaluniversalismus“ geradewegs von dem Lehrer Pçtsch seines Romans Mrkische Forschungen. Fr Freunde der Literaturgeschichte stammen, natrlich unter Abzug jenes feinen Zuges von Parodie, der die Romanfigur noch darber hinaus ziert. Im Hinblick auf das Thema unseres Beitrags ergibt sich eine Parallele, unverkennbar trgt de Bruyns Pçtsch auch einige autobiographische Zge.
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Er sprt Melancholie. „Der Grundzug der Wendei […] ist Trauer und Einsamkeit“, auch vom „Zauber dieser Einsamkeitsdçrfer“ ist die Rede.28 Einen an kommunikativen Aspekten reichen Stoff ergab die Unternehmung mit Hilfe von Fontanes Kombinationskraft gleichwohl. Zuweilen scheinen Erinnerungen an England gleichberechtigt im Spiel. Von Oxford und Cambridge und der Brcke von Twickenham ist die Rede, man sprt den Fluss und im Hintergrund die große Stadt, aber das mssten nicht unbedingt Berlin und die Spree, es kçnnten auch London und die Themse sein. Unterwegs werden die „Tudortrme“ der Villen am Ufer kritisch gemustert, sie trotzen „allem Stolz von York und Lancaster“, Fontane – aber offenbar nicht alle Mitreisenden – zeigt sich reserviert.29 Kein Wunder, da selbst Hamburg vor seinem Spott nicht immer sicher war, was soll man von Kçpenick und Dolgenbrod erwarten. Wichtig sind Kapitn Backhusens Erzhlungen von Chinafahrern und Handelsrouten in ostasiatischen Gewssern, aber auch von heimischen Segelabenteuern: Weltkenntnis, gepaart mit Sportsgeist und Freude am Lebensgenuss, aber doch mit einem gewissen sachlichen Ernst. Es ist Fontane gelungen, Backhusen zum Reden zu bringen, er hat ihm auch mit dem Gedanken geschmeichelt, dass sein Segelverein als eine Art Vorschule fr eine knftige deutsche Marine dienen kçnne.30 Die zwei brigen Teilnehmer, der „Lieutenant Apitz“ und der „Supercargo Nettermann“, sind zwar „Typen ausgesprochenster Gesellschaftsneigung“, aber was eigene Gesprchsbeitrge anlangt, ganz unergiebig.31 Fontane scheint das nicht zu bemerken. Schade brigens, dass er Joseph Conrad nicht mehr zur Kenntnis genommen hat, er htte ihm zugesagt, seine Khle, auch eine gewisse Kunst des Drumherum (von der Frevler meinten, sie gliche
28 HFA II/2, S. 523 f. 29 HFA II/2, S. 515. 30 Fontanes Artikel war in der Rundschau noch nicht erschienen, als ihn der Untergang des „Großen Kurfrsten“ – nach einer Kollision mit dem „Kçnig Wilhelm“ – vor der englischen Sdkste zu bitteren Bemerkungen ber lebensfernes „Examenwissen und Examenweisheit“ reizte, die er auch in der Marine am Werke sah (Theodor Fontane an Emilie Fontane, 8. Juni 1878. In: HFA IV/2, S. 584). 31 Sie protestieren scherzhaft-unglubig – gewissermaßen als Stichwortgeber – im Kollektiv, als Fontane andeutet, ihnen, den „Halbautochthonen dieser Gegenden“, etwas Neues ber die „nçrdliche Wendei“ berichten zu kçnnen; Backhusens Aufforderung, das Grab des Fischer zu besuchen, stimmen sie „begeistert“zu: „Denn mit Nachdruck ausgesprochene Stze sind ihres Einflusses immer sicher.“ HFA II/2, S. 516 u. 521.
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einem schçnem Kstchen, in dem nichts Bestimmtes enthalten ist32), das htte dem letzten Fontane gewiss gefallen. „Mrkische Novellistik“33 : Die Geschichte des ,Fischers von Kahniswall‘ wird bereits am ersten Reisetag erzhlt. Vom Kahniswall ist beilufig die Rede, als Backhusen auf einige rtlichkeiten der nheren Umgebung hinweist. Der Name erinnert Fontane an die „vor Jahren“ erfolgte „briefliche Mitteilung“ eines Freundes, der ihm damit bei der Sammlung von „Geschichten aus dem Teltow“ behilflich war.34 Gemeint ist sicherlich Bernhard von Lepel, der zeitweilig im Schlçsschen Bellevue unweit Kçpenick wohnte; von dort, „aus vterlicher Rumpelkammer“, hatte Fontane sich im September 1848 den oft zitierten „Muskedonner“ erbeten.35 Zorn und Verzweiflung ber den Sieg der bewaffneten Reaktion sprachen aus der Bitte. Der biedere Protagonist seiner Erzhlung wird 1848 ganz anders auf die Rckkehr der alten Mchte reagieren, er und der Autor passen zueinander nur unter einem Aspekt. Die genannte briefliche Mitteilung, die angeblich bereits die berschrift „Der Fischer von Kahniswall“ trug, ist nicht berliefert. Mithin ist nicht bekannt, welche Informationen Fontanes Stegreiferzhlung zugrunde lagen. Mit urkundlich Belegtem ist sie, wie de Bruyn resmiert, nicht in bereinstimmung zu bringen, aber sie werde inzwischen als wirklich weitererzhlt. Verbreitet sei die Geschichte vom Fischer Kahnis auch noch in anderen Versionen, mit gleichermaßen unbesttigten Details (etwa die Lage des nicht mehr vorhandenen Grabes betreffend) und in einer phantasiereichen Novelle Albrecht Schaeffers (Kahniswall, 1938). Mçgen ihr auch „Tatsachen, vielleicht anderswo, als Vorbild gedient haben“, sie sei fiktiv. Solange es an 32 hnlich E. M. Forster in einer Besprechung von Notes on Life and Letters, in Nation and Athenaeum, XIX (1921), S. 881 – 882: „Conrad […] is misty in the middle as well as at the edges, […] the secret casket of his genius contains a vapour rather than a jewel […].“ 33 In Die Grafschaft Ruppin, Kap. Gentzrode, spricht Fontane im Zusammenhang der „Turmknopf-Urkunde“ von dem Gewinn den eine „mrkische Novellistik der Zukunft“ aus solchen Quellen ziehen kçnne (HFA II/1, 3. Aufl. 1995, S. 525). 34 HFA II/2, S. 516. 35 HFA IV/1, S. 42 (21. September 1848). Wrangels Armeebefehl vom 17. September hatte die Truppen „die Sttze der guten Brger“ genannt, Fontane reagierte in anscheinend hçchster Erregung. – Die Vermutung, dass Lepel Urheber der von Fontane genannten brieflichen Mitteilung war, ußerte, einem Hinweis Friedrich Fontanes folgend, zuerst Jutta Frstenau: Fontane und die mrkische Heimat. Berlin 1941 (Germanische Studien 232), S. 56. – Eine Bemerkung in Von Zwanzig bis Dreißig, in dem Bernhard von Lepel gewidmeten 8. Kapitel des Abschnitts Der Tunnel ber der Spree (HFA III/4, S. 435) weist in dieselbe Richtung.
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neuen Aufschlssen fehle, kçnne der „,Fischer von Kahniswall‘ als glnzendes Beispiel fr die bewußtseinsbildende Kraft von Dichtung dienen.“36 Wir folgen dieser Argumentation gern, denn sie entspricht unserem Empfinden. So sicher ihres Ziels und so zuverlssig informiert ber ihren Verlauf kann wohl nur eine erfundene Geschichte sein. Aber im vorliegenden Zusammenhang ist das ohne wesentliche Bedeutung, wichtiger scheinen ihre Platzierung und Aussagekraft. Alles was sonst in Fontanes Feuilleton zur Sprache kommt: das mystifizierende Spiel mit dem Schiffsnamen, die vorbergehende Strandung, Ausknfte ber eine Reiherkolonie, kurfrstliche und kçnigliche Jagden – nun erzhlt Fontane den Lesern –37, erscheint neben der Geschichte des Fischers von geringerem Gewicht. Dabei sind die Umstnde, die zu Kahnis’ Weg in die Einsamkeit fhrten, ja keineswegs ohne Komik. Was ihn treibt, mit seiner Familie das eigene Huschen zu verlassen und auf einer Insel im Seddin-See eine entlegene Zuflucht zu suchen, ist die gewissermaßen vorsorgliche Eifersucht auf die „SchelmenFranzosen“, die nach ihrem Sieg bei Jena und Auerstedt ins Land kommen werden. Wegen der bekannten Neugier der Frauen wird er dann auch seiner Hanne nicht mehr sicher sein kçnnen. Bald darauf bekommt er bei Einkufen in der Stadt, die er nunmehr allein unternimmt, die Eindringlinge selbst zu sehen. Es handelt sich um Krassiere der Division Nansouty, sechs Fuß hoch gewachsene Burschen mit drei Fuß langen Rosshaarbschen (auch in Das Oderland, in Vor dem Sturm und in Fnf Schlçsser ist von ihnen die Rede, von ihrem Kommandeur in Meine Kinderjahre.38) Der Fischer sieht 36 de Bruyn (wie Anm. 27), S. 322 ff. – Nach der Lektre von Schaeffers Novelle sehnte sich de Bruyn „nach der Klarheit Fontanescher Prosa zurck“. 37 Noch Mitte August 1876, also kurz vor Abschluss der Arbeit an seinem Manuskript, hatte Fontane darber brieflich Erkundigungen eingezogen (wie Anm. 5, S. 493). ber die Reiherjagden wird noch Botho von Riencker mit dem Wirt von Hankels Ablage plaudern (Irrungen, Wirrungen,, 12. Kap. In: HFA I/2, S. 382). 38 „Napoleon und die Marschlle“, das Lieblingsthema des Vaters, schließt auch namhafte Generle ein: „[…] ihn beispielsweis ber Nansouty, der eine KrassierDivision kommandierte, sprechen zu hçren, war ein vollkommener Hochgenuß. Nansouty stand dann leibhaftig vor einem. Ich war in diesen Dingen schließlich selber so zu Hause, daß ich htte soufflieren kçnnen.“ Meine Kinderjahre, 9. Kap. In: HFA III/4, S. 92. – In Das Oderland, Kap. Cunersdorf, berichtet Fontane von der zehn Monate whrenden Einquartierung der Division in den Oderbruchdçrfern (HFA II/1, S. 720 f ); in Vor dem Sturm, Kap. Borodino ist – historisch zutreffend – von Nansouty inzwischen als Fhrer eines Kavalleriekorps die Rede, im Kap. Durch zwei Tore von den aus Russland zurckgekehrten Resten des Korps. „Einige hatten noch ihre Helme mit den langen Roßschweifen, und diese wider Willen herausfordernden berbleibsel aus den Tagen ihres Glanzes gaben ihrer Erscheinung etwas besonders Grausiges.“ HFA I/3, 3. Aufl. 1990, S. 422 ff u. 435. Wahrscheinlich
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seine Befrchtungen mehr als nur besttigt: „das Franzosenzeug war gerade so, wie er es gedacht hatte, aber das Weiberzeug war viel schlimmer“. Dass er selbst ein „stattlicher Spreewende“ und dass Hanne, eine „Kosstentochter aus Schmçckwitz, […] sehr blond und sehr hbsch“, seinetwegen „eine Art Mesalliance“ eingegangen ist, vermag ihn nicht zu beruhigen. „Sie haben keinen Herrgott und stehlen Kinder“, beschreibt er ihr die Fremden, bekennt seinen Evakuierungsplan und empfngt dafr „einen herzhaften Kuß, zum Zeichen, daß sie mit allem einverstanden sei“. Der Erzhler fgt hinzu: „Und das ist immer das Beste, was Frauen tun kçnnen.“ Nach dem erstmaligen Abzug der Franzosen 1808 entscheidet Kahnis in der Annahme, sie wrden wohl wiederkommen, auf der Insel auszuharren. Als die Gefahr 1813 endgltig weicht, ist es Hanne, die an seiner Stelle ausspricht, was er sich wnscht: sie wolle auch knftig auf der Insel leben. Die Jahre vergehen, die Kinder ziehen fort, Hanne stirbt und der Fischer bleibt allein zurck. Regelmßig verkauft er in Kçpenick seine Fische. Wenn die Kçpenicker ihn rgern, bleibt er vorbergehend aus, 1848 wird er ein halbes Jahr auf sich warten lassen, bis „Vater Wrangel, dessen Bild er damals mit einer breiten Goldborte an die Stubentr klebte, seinen siegreichen Einzug gehalten hatte“. 1850 stirbt Kahnis, der Prediger, „der den alten Mann sehr geliebt, und seiner Gemeinde als das Bild eines schlichten und frommen Christen oft empfohlen hatte“ spricht zu seinem Andenken ber Matthus 25, Vers 21 („Ei, du frommer und getreuer Knecht, Du bist ber wenigem getreu gewesen, ich will Dich ber viel setzen; gehe ein zu Deines Herren Freude“).39 Nicht immer lsst sich sicher entscheiden, ob Fontane aus dem Abstand ironisch glossiert, halb und halb einverstanden Spiegelfechterei betreibt, oder es durchaus ernst meint. Vielleicht weiß er es, wenn er seiner Erzhllust folgt, selbst nicht so genau. Eifersucht kannte er gut40, sie spielt in seinem handelt es sich auch bei solchen Details um Erzhlungen des Vaters oder lterer Bekannter von Fontane. 39 HFA II/2, S. 520 f. 40 Den „Hçllensuff brennender, verzweifelnder Eifersucht“ hat er gekostet (Theodor Fontane an Wilhelm Wolfsohn, 10. November 1847. In: HFA IV/1, S. 37). Bereits in Fontanes erster Prosaverçffentlichung, der Novelle Geschwisterliebe, spielt Eifersucht eine maßgebliche Rolle. In Krisensituationen erweisen sich einige mnnliche Protagonisten Fontanes – etwa Mortimer in Ccile – als „Durchgnger“, ein Charakterzug, den man, nicht zu Unrecht, auch Fontane zugeschrieben hat. Auch der ußerlich so diszipliniert wirkende Innstetten ist ein ,Nervenmensch‘, der in entscheidender Stunde vorschnell handelt und so die Katastrophe auslçst. In dem Gesprch mit Wllersdorf kommt Innstetten zu dem – auch fr die Leser des Romans – deprimierenden Ergebnis, „vor sechs Stunden“ htte er das Spiel noch in der
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Erzhlwerk eine gelegentlich tragische Rolle, Verlustangst will er der Gattin noch 1870 in Warnemnde scherzhaft (und ziemlich doppelbçdig) vorgespielt haben: „Ende Juli hieß es, die franzçsische Flotte steure in die Ostsee, und Anfang August sagte ich zu meiner Frau: ,Die Sache wird hier gefhrlich, die Franzosen kçnnen jede Nacht landen und entfhren dich. Was fang ich dann an?‘“41 Fischer Kahnis’ Abneigung gegen die fremden Soldaten teilt der Erzhler offensichtlich nicht, vielleicht hat seine Phantasie sogar dafr gesorgt, dass mit den Krassieren ein besonders stattlicher Truppenteil ins Bild kommt. Im Hinblick auf das Zusammenleben mit den Franzosen in der Besatzungszeit haben die Mitteilungen des Vaters offenbar prgend gewirkt. Fr aus dem Widerstand erwachsene nationale Gegnerschaft oder auch nur deutlich gezeigten Patriotismus war Louis Henri Fontane – wie der Sohn berliefert – nicht zu haben.42 Dieser stand seinerseits unter dem Eindruck seiner seit 1870 gesammelten Erfahrungen, die ihn jeglichen Siegerbermut verabscheuen ließen. Aber was soll man von „Papa Wrangel“ denken, ber dessen politische und militrische Rolle Fontane nun wirklich das Unterschiedlichste zu Papier gebracht hat, vom Ruf nach dem „Muskedonner“ bis zu dem unsglichen Gassenhauer Vom braven Reitersmann43 ? Fischer Kahnis setzt auf Wrangel geradezu seine Hoffnungen, die Kçpenicker wundern sich deshalb ber den alten Eigenbrçtler, der Erzhler anscheinend nicht. Ist die fraglos anmutende loyale bereinstimmung mit Wrangels Vorgehen ironisch den Zuhçrern auf der „Sphinx“ geschuldet?44 Bei dem von dem Prediger gewhlten Schriftwort, das dann auch seinen Platz auf Kahnis’ Grabkreuz gefunden hatte, handelt es sich um einen Vers aus dem Gleichnis von den anvertrauten Talenten, und zwar um das Lob des ersten der drei Knechte, der von dem Herrn am reichsten mit Talenten
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Hand gehabt, nun aber habe er einen Mitwisser und sei daher zum Handeln gezwungen. (Effi Briest, 27. Kap. (In: HFA I/4, S. 236). Kritische Jahre – Kritiker-Jahre. In: HFA III/4, S. 1033 f. Meine Kinderjahre, 1. Kap. In: HFA III/4, S. 13. Vom braven Reitersmann, HFA I/6, S. 934 ff. – ber die Entstehungsumstnde des Gedichts ist nichts bekannt, nach Ton und Geisteshaltung erinnert es in bezeichnender Weise an von Erler zitierte Verse Wilhelm von Merckels aus einem huldigenden Gedicht an denselben Adressaten. (Die Fontanes und die Merckels. Ein Familienbriefwechsel 1850 – 1870. Hg. von Gotthard Erler. 2 Bde. Berlin, Weimar 1987; hier Bd. 1, S. V). ber Wrangel, dessen Vorgehen 1848 Fontanes helle Entrstung ausgelçst hatte, konnte sich dieser in spteren Jahrzehnten geradezu vollendet ,unauffllig‘ ußern, so formuliert er etwa in Von Zwanzig bis Dreißig, Abschnitt In Bethanien: „Dann erschien allerdings Wrangel und ein paar stillere Monate folgten […].“ In: HFA III/ 4, S. 528.
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begabt worden war, diese zur Zufriedenheit des Herrn vermehrt hatte und nun noch einmal (im weltlichen Sinn) ,bevorzugt‘, nmlich am reichsten belohnt wird. Er erhlt zu seinen ursprnglichen fnf Talenten, zu denen er fnf weitere hinzugewonnen hatte, noch das eine Talent des rmsten der drei Knechte, der es nicht gemehrt und sich somit des ihm gewhrten Vertrauens nicht wrdig erwiesen hatte. Wie Fontane die Geschichte des Fischers darbietet, htte er sie wohl nicht unwidersprochen erzhlen kçnnen, wenn er seinen Grafen Bninski aus Vor dem Sturm mit an Bord genommen htte, der war, was den mçglichen Missbrauch von Bibelsprchen anbetraf, ungewçhnlich hellhçrig.45 Worin bestand eigentlich das Verdienst des Fischers? In seiner so auffllig betonten, fraglosen Loyalitt der Obrigkeit gegenber? Der Erzhler Fontane ist ein komçdiantisches Talent. Er weiß, was er seinen Hçrern zumuten kann, sorgt jedoch auch fr die passende Zusammensetzung des Hçrerkreises. An Bord der „Sphinx“ ist es, stellvertretend fr die brigen Herren, Kapitn Backhusen vorbehalten, zustimmend zu nicken, egal, ob es sich um die gefhrlichen Rosshaarbsche der Nansouty-Krassiere, die Neugier der Frauen oder die Listen der Ehemnner handelt. Zuletzt bringt er mit seinem spontanen „,Das ist mein Mann!‘“ das Gehçrte auf den Punkt. Nicht um ein wie immer geartetes Zeitbild oder um die Einzelheiten eines Lebenslaufes war es dem Erzhler gegangen. Was er zur Einkleidung seiner Geschichte aus Erinnerungssplittern, Wirklichkeitsausschnitten, Gedankenspielen zusammengefgt hatte, war unterhaltsam und hçrenswert, aber letztlich ging es nur um das Eine: den Weg eines Mannes zu sich selbst. ,Wunscherfllungsgeschichten‘: Kahnis war treu im Sinn des Schriftwortes. Es forderte von den anvertrauten Talenten den rechten Gebrauch zu machen und sprach den schuldig, der das Anvertraute vergrub. „Allein sein, nichts von der Welt wollen“, bedeutete in diesem Sinne nichts anderes als unangefochtene Selbstbestimmung. Was aber die Geschichte des Fischers darber hinaus besonders auszeichnete, war, dass dieser sein Ziel zwar schrittweise und folgerichtig, aber eigentlich ohne schwerwiegende ußere oder innere Anfechtungen erreicht hatte. So gesehen war es geradezu eine Wunscherfllungsgeschichte. Der Fischer ließ sich von seiner Eigenart leiten, aber man hatte diese Eigenart respektiert. Auch im Alter, als er einer gewissen Nachsicht bedurfte, hatte man es ihm vergleichsweise leicht gemacht. Seine Frau war ihm sogar aus freiem Willen gefolgt. Andere hatten es 45 Bninskis Sarkasmen ber den Konfirmationsring des Kronprinzen (HFA I/3, S. 448 f.).
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offenbar schwerer, wie empfindlich litt Fontane an der Realitt, wie sie nun einmal war, whrend er sich doch berechtigt glaubte, an seinem eigenen Anspruch gemessen zu werden. Gleichwohl galt es, diesem Anspruch unbeirrt zu folgen. Der Autor des Fischers von Kahniswall ist kein anderer als der Briefschreiber, der sich wenige Wochen vor Niederschrift seiner Erzhlung Mathilde von Rohr erregt zu erklren versucht hatte: Ich hatte mich zu entscheiden, ob ich um ußerer Sicherheit willen, ein stumpfes licht- und freudeloses Leben fhren oder, die alte Unsicherheit bevorzugend, mir wenigstens die Mçglichkeit heitrer Stunden zurckerobern wollte. Ich whlte das letztre, whrend meine Frau das erstre von mir forderte. Ich wrde diese Forderung unendlich lieblos nennen mssen, wenn ich nicht annhme, sie htte sich in ihrem Gemth mit dem berhmten Alltagssatze beruhigt: der Mensch gewçhnt sich an alles. Dieser Satz ist falsch. Ich bin so unsentimental wie mçglich, aber es ist ganz gewisslich wahr, daß zahllose[!] Menschen, alten und jungen, das Herz vor Gram, Sehnsucht und Krnkung bricht. Jeder Tag fhrt den Beweis, daß sich der Mensch nicht an alles gewçhnt. […] In allen Lebensstellungen, in denen ich bisher war, auch in denen, die mich nur halb befriedigten, hatte ich immer das Gefhl, innerhalb meines kleinen Kreises etwas zu sein und zu bedeuten: von Jugend auf bin ich daran gewçhnt, als etwas nicht ganz Alltgliches angesehn zu werden. Dieses sßen Gefhls sollte ich plçtzlich entbehren, auch mit gutem Grunde entbehren, da, wie ich Ihnen schon schrieb, all meine Begabung nicht zu brauchen und alles, was gebraucht wurde, wiederum nicht im Bereiche meiner Begabung war. Ich konnte das Peinliche, was mir draus erwuchs, nicht auf die Dauer hinnehmen. Wer das Eitelkeit oder Hochmuth nennen will, der thu es; ich beneide solchen Jammerprinzen nicht um seine Demuth.46
An jhen Ab- und Umbrchen hatte es in Fontanes Biographie schon vorher nicht gefehlt: 1850, 1859, 1870. Niemals erwiesen sich die angestrebten Vernderungen als mhelose Errungenschaft. 1876 wagte er besonders viel. Etwas von dem jugendlichen Vertrauen in sich selbst, das er in Meine Kinderjahre beschreibt, hat er sich wohl lange bewahrt. Der Knabe in der Schaukel ist erfllt von dem „allein das Leben bedeutenden Gefhle: Dich trgt dein Glck.“47 Gleichwohl ahnte 1876 wohl niemand, welche Zukunft noch vor Fontane und seinem Werk lag. Was der Titel An Bord der Sphinx einschließt – eine Fahrt ins Unbekannte, vielleicht reich an Entdeckungen, aber sicher auch voller Fremdheit und Rtsel, von stummer Drohung berschattet – das war eigentlich noch das Beste, was Fontane erwarten durfte. 46 Theodor Fontane an Mathilde von Rohr, 1. November 1876. In: HFA IV/2, S. 533 f. 47 Meine Kinderjahre, 4. Kap. In: HFA III/4, S. 42.
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Whrend – zu Fontanes nicht geringer Verstimmung – das Manuskript seines Feuilletons noch ungedruckt in Rodenbergs Redaktion lagerte, gelangte die „alte Seeschlange“48 – nmlich Vor dem Sturm – endlich zu dem so lange ersehnten Abschluss. Was Fontane 1875 in seiner Besprechung von Gustav Freytags Die Ahnen von einem Roman gefordert hatte49, war vollauf geglckt, und mehr als das: Vor dem Sturm beeindruckt durch seinen erzhlerischen Reichtum. Fontanes „spter Versuch, in Geist und Form Walter Scotts in die deutsche Vergangenheit zu blicken“, erbrachte „den schçnsten deutschen historischen Roman“, der zugleich ungeduldig zu den Erzhlformen des „Romans der guten Gesellschaft“ drngt (Demetz)50. Zugleich ist auch Vor dem Sturm eine „Wunscherfllungsgeschichte“. Wollen wir erfahren, was der Roman „lehrt“, mssen wir wohl auf Tante Schorlemmer hçren, obgleich die Gewohnheit der Herrnhuterin, die Bibel wie eine Hausapotheke zu benutzen, jngere Hausgenossen reizt. Als Schlusssatz der eigentlichen Handlung – bis dahin haben wir ber 700 Seiten gelesen und das Geschehen kam nur sehr langsam in Gang – zitiert die Schorlemmer Rçmer 8, 28: „Denen, die Gott lieben, mssen alle Dinge zum Besten dienen.“ Derselbe Spruch wird 250 Seiten frher im Kapitel „Kleiner Zirkel“, einer meisterhaften Gesprchsszene, abgewandelt schon einmal zitiert.51 Vom Konfirmationsring des Kronprinzen ber die Trauringe 48 Theodor Fontane an Wilhelm Hertz, 24. Juli 1876. In: HFA IV/2, S. 535. 49 „Was soll ein Roman? Er soll uns, unter Vermeidung alles bertriebenen und Hßlichen, eine Geschichte erzhlen, an die wir glauben. Er soll zu unserer Phantasie und unserem Herzen sprechen, Anregung geben, ohne aufzuregen; er soll uns eine Welt der Fiktion auf Augenblicke als eine Welt der Wirklichkeit erscheinen, soll uns weinen und lachen, hoffen und frchten, am Schluß aber empfinden lassen, teils unter lieben und angenehmen, teils unter charaktervollen und interessanten Menschen gelebt zu haben, deren Umgang uns schçne Stunden bereitete, uns fçrderte, klrte und belehrte. – Das etwa soll ein Roman.“ HFA III/1, S. 316 f. 50 Peter Demetz: Formen des Realismus: Theodor Fontane. Kritische Untersuchungen. Mnchen 1964 (Literatur als Kunst), S. 53 u. 76. 51 HFA I/3, S. 709 u. 454. – Whrend die Herrnhuterin Rçm. 8, 28 korrekt zitiert, lautet die „schçne Bibelstelle“, ber die Pastor Krokisius zu reden nicht mde wird, in Lewins Erzhlung: „Wen Gott lieb hat, dem mssen alle Dinge zum Besten dienen.“ Im selben Sinne ußert sich im Roman Graf Petçfi Grfin Gundolskirchen: „[…] unerschtterlich bleibt mir der Glaube, daß denen, die Gott lieb hat, alle Dinge zum Besten dienen.“ Sie fgt hinzu: „Vor allem auch die Prfungen.“ (HFA I/6, S. 738) Im Stechlin empfindet sich Grfin Melusine im Gesprch mit Pastor Lorenzen „dem Tage nahe, der mich ahnen lßt, daß unsre Prfungen auch unsre Segnungen sind“ (HFA I/5, S. 269). Vielleicht hat Fontane, der bekanntlich nicht selten flchtig, oft aber auch recht freizgig zitierte, den Schrifttext der Intention der Sprecher beziehungsweise der Situation der Angesprochenen anzupassen versucht oder
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Heinrichs VIII. von England bis hin zu mrkischen Ringen ist die Rede, gleichsam ein rhetorischer Salto Mortale: „Von den Tudors auf die Puttkamers!“52 Das Parlando fhrt weiter zu einem verloren geglaubtem Erbring. Den Besitzern des Rings, einem einander seit langem entfremdeten Paar, galt seine Auffindung als ein Zeichen fr einen neuen Anfang, eine „wunderschçne Rede“ des Lehniner Pastors bewirkte, dass auch der Ring mit der entsprechenden Umschrift versehen wurde.53 Diese lehrhafte Erzhlung – gewissermaßen Fontanes ,Ringparabel‘ – treibt die Romanhandlung voran. Schon ahnt Lewin, dass sich Kathinka nicht fr ihn entscheiden wird. Doch er weiß noch nicht, dass ihm dieser Verlust den Weg zu einem besseren Glck, seiner Verbindung mit Marie Kniehase, çffnet. Ungeachtet vieler Konflikte, die stets um die Problematik von Wahrheit und Lge, Verrat und Treue kreisen, hlt das Ende des Romans auch fr die anderen Figuren der jngeren Generation nicht unbedingt glckliche, aber ihrer,Wahrheit‘entsprechenden Lçsungen bereit. Kathinka wird nach ihrer Flucht mit Graf Bninski in die katholische Kirche zurckkehren, die Entscheidung ihres Vaters, der sich nach der Aufteilung Polens entschlossen zu Preußen und in Verbindung damit zum Protestantismus bekannt hatte, wird sie fr ihre Person nicht lnger mittragen. Kathinkas Bruder Tubal, bei der Befreiung Lewins aus franzçsischer Gefangenschaft tçdlich verwundet, stirbt mit einem ihm aus Kindertagen vertrauten lateinischen Gebet auf den Lippen. Lewins Schwester Renate, die Tubal versprochen war, hlt ihm ber den Tod hinaus die Treue und beschließt ihre Tage im Kloster Lindow. Was den Menschen bestimmt und fr sie hilfreich ist, vollzieht sich auch gegen ihre ihnen bewußten Wnsche und kurzschlssigen Reaktionen. Es fehlt ihnen nicht an verfehlten Plnen und daraus folgendem Mißlingen und doch waltet in allem, was geschieht, ein tieferer Sinn. Wie kein anderer Roman Fontanes bezeugt – um nicht zu sagen demonstriert – Vor dem Sturm eine Grundstimmung religiçsen Vertrauens. Sie findet eine Entsprechung in der Sicherheit, mit der Fontane damals an seiner literarischen Berufung gegen alle Widerstnde festgehalten hat. Eigentlich ist es der Autor selbst, der seinen Romangestalten souffliert und ihre Verwunderung wie eine Anerkennung genießt. Der gewagte Sprung „von den Tudors auf die Puttkamers“ stellt ja nichts anderes dar als seine Rckkehr aus England 1859 und die damit verbundene Hinwendung zur unabsichtlich Rçm. 8, 28 und Hebr. 12, 6 („Wen Gott lieb hat, den zchtigt er“) verflochten. 52 HFA I/3, S. 450. 53 HFA I/3, S. 447 ff.
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mrkischen Stoffwelt und vaterlndischen Geschichte. Eine Zsur in seinem Leben als Schriftsteller, in ihrer Bedeutung mit der von 1876 durchaus vergleichbar. Noch mit den Korrekturen zu Vor dem Sturm beschftigt, hatte Fontane einen zweiten groß angelegten Roman begonnen. Er blieb aus materiellen Rcksichten unvollendet, aber das Leitthema von 1876 zeichnet sich auch in Allerlei Glck deutlich ab: Zeitroman. Mitte der 70er Jahre. Berlin und seine Gesellschaft, besonders die Mittelklassen […]. Das Glck besteht darin, daß man da steht, wo man seiner Natur nach hingehçrt. Selbst die Tugend- und Moralfrage verblasst daneben. Dies wird an eine Flle von Erscheinungen durchgefhrt […]. Das Ganze: der Roman meines Lebens oder richtiger die Ausbeute desselben.54
54 Theodor Fontane an Gustav Karpeles, 3. April 1879. In: HFA IV/3, S. 19.
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Die nichtvollendete Biographie Theodor Fontanes Karl Blechen-Fragment
Heide Streiter-Buscher Dem Landschaftsmaler Carl Blechen waren als Knstler nur 15 Schaffensjahre vergçnnt. Kurz vor Vollendung seines 42. Lebensjahres 1840 starb er an den Folgen einer Gemtskrankheit. Seine Kunst war neuartig. Die aus der Symbiose von ußerem Erleben und innerem Empfinden entstandenen italienischen Landschaftsbilder widersprachen den herkçmmlichen ideallandschaftlichen Sehgewohnheiten und erregten „Staunen und Verdruß bei den Leuten“1. Die Anerkennung der Zeitgenossen war dementsprechend begrenzt, auch rumlich, nmlich fast ausschließlich auf Berlin. Gleichwohl, es gab „begeisterte Bewunderer“.2 Der Berliner Akademie galt er als „der geniale Erfinder einer neuen Gattung landschaftlicher Charakterbilder“3 und ihrem Direktor Johann Gottfried Schadow als „der unvergleichliche Skizzierer“4. Eine nur „kleine Gemeinde“ von Sammlern und Kunstexperten, „(wie alles damals) ohne Geld“5, bewahrte sein Werk vor dem Vergessen. Der Nachruhm begann spt. Noch 1882 schtzte Ludwig Pietsch, Kunstkritiker der Vossischen Zeitung in Berlin, die Zahl derer, die den Maler
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Achim von Arnim in einem Brief an seine Schwester Bettina nach dem Besuch der Berliner Akademieausstellung am 18. Oktober 1830. Vgl. Werner Vordtriede (Hg.): Achim und Bettina in ihren Briefen. Frankfurt am Main 1988. Bd. 2, S. 915. Athanasius Graf Raczynski: Geschichte der neueren deutschen Kunst. Berlin 1841. Bd. III, S. 98. Ernst Heinrich Toelken, Sekretr der Berliner Akademie der Knste, am 4. Juni 1841 in seiner Gedenkrede zum Tode Carl Blechens. Zit. in: Paul Ortwin Rave: Karl Blechen. Leben, Wrdigungen, Werk. Berlin 1940, S. 66 (Denkmler deutscher Kunst, Hg.: Deutscher Verein fr Kunstwissenschaft). Johann Gottfried Schadow (zum Jahre 1834): Kunstwerke und Kunstansichten. Berlin 1849, S. 268. Zit. in: Rave: Karl Blechen (wie Anm. 3), S. 34. Theodor Fontane: Karl Blechen (Fragment). In: Aufstze zur bildenden Kunst. Hg. von Rainer Bachmann u. Edgar Groß. Mnchen 1970. Erster Teil: NFA, Bd. XXIII/ 1, S. 520 – 547. Anmerkungen in: Aufstze zur bildenden Kunst. Zweiter Teil: NFA, Bd. XXIII/2, S. 363 – 397. Zitat: Bd. XXIII/1, S. 533.
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Heide Streiter-Buscher
„richtig“ zu wrdigen wssten, auf kaum hundert.6 Erst nach Adolph Menzels Tod, als 1905 dessen bis dahin weitgehend unbekanntes, von Blechen beeinflusstes Frhwerk in einer Gedenkausstellung çffentlich gezeigt worden war, wurde Blechen als der „Menzel vor Menzel“7 apostrophiert. Die große Berliner Blechen-Ausstellung von 1990 zeigte den Knstler erstmalig im vollen Licht seiner Bedeutung als Neuerer. Man stand bewundernd vor seinem Werk und wusste wieder einmal: Retrospektive schlgt Zeitgenossenschaft. Es gibt Ausnahmen von diesem klassischen Geflle menschlicher Urteilskraft. Carl Blechen zhlte nicht dazu. Kunstschriftsteller in Fontanes Freundeskreis wie Franz Kugler, Friedrich Eggers, Wilhelm Lbke, Hugo von Blomberg haben Blechen in ihren Schriften als „genialen“ Knstler gewrdigt.8 Auch Fontane sah in ihm ein „Malergenie ersten Ranges“9. Er empfand Blechens Leben und Werk anziehend genug, um sich zu Beginn der 1860er Jahre zum ersten Mal und dann noch einmal zwei Jahrzehnte spter nher damit zu befassen. Am Anfang scheint Blechens vielbewundertes, in den Mggelbergen vor den Toren Berlins angesiedeltes historisches Landschaftsbild Semnonenlager gestanden zu haben. Mit dem Maler verbunden fhlte sich Fontane hier in der Auffassung von der unspektakulren Schçnheit und Ursprnglichkeit der als unpoetisch und unmalerisch verschrienen mrkischen Landschaft und in der Grunderfahrung ihrer erinnerungswrdigen kulturellen Vergangenheit. Als Fontane 1882 der Monatsschrift Nord und Sd ein „Blechen-Kapitel“ von „etwa 2 Bogen“ vorab zum Abdruck anbot, betonte er, er schreibe „nicht auf Kunstkritik, sondern auf Biographie hin“. Er „erzhle sein Leben, seine Schicksale“, wozu ihn „ein nach langem Suchen zusammengefundenes
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Ludwig Pietsch: Die XIV. Sonderausstellung in der Nationalgalerie, III. In: Kçniglich privilegirte Berlinische (Vossische) Zeitung, No. 5, 4. Januar 1882. Morgen-Ausgabe. 1. Beilage. Nach Hugo von Tschudis Wendung „wie Menzel, doch vor ihm“ in seinem einleitenden Text zur Ausstellung deutscher Kunst aus der Zeit von 1775 – 1875 in der Kçniglichen Nationalgalerie Berlin 1906. Mnchen 1906, S. XXIV. Franz Kugler: Kleine Schriften und Studien zur Kunstgeschichte. Stuttgart 1854. Bd. 3, S. 286; Friedrich Eggers: Kunstausstellung in der Akademie der Knste zu Berlin. In: Deutsches Kunstblatt. Zeitschrift fr bildende Kunst, Baukunst und Kunstgewerbe 6, Nr. 23 (7. Juni 1855), Nr. 23, S. 201; Wilhelm Lbke: Denkmler der Kunst von den ersten knstlerischen Versuchen bis zu den Standpunkten der Gegenwart. Stuttgart 1858. Bd. 2, S. 447; Hugo von Blomberg: Der Teufel und seine Gesellen in der bildenden Kunst. Berlin 1867, S. 127. Fontane: Karl Blechen (Fragment) (wie Anm. 5), Bd. XXIII/1, S. 533.
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Material“ befhige. Es sei „alles neu“.10 So htte es werden kçnnen. TatACHTUNGREschlich aber hat Fontane sein in mehreren Anlufen zusammengetragenes Material nie ausgeformt. Was er gesucht und gefunden hat und wie er die biographischen Akzente setzen wollte, das erweist sich dem heutigen Nachleser als spannende Frage. Quellenlage Dichterhandschriften haben auf mich immer eine besondere Faszination ausgebt. Einem Autor ber die Handschrift gleichsam beim Arbeiten zuzusehen, im flssig dahineilenden Federstrich oder im zçgerlichen Innehalten, Durchstreichen, berschreiben eine Ahnung vom Schwung des Schaffensprozesses zu bekommen, verschafft Nhe zum Autor und nicht selten auch eine Brcke zum besseren Verstehen. Im Falle des BlechenFragments hlt sich solche Faszination allerdings in sehr engen Grenzen. Fontanes handschriftliches Original, ursprnglich rund 200 Folioseiten umfassend, ist im Zweiten Weltkrieg abhanden gekommen. Nur fnf Originalbltter sind erhalten; sie befinden sich heute im Deutschen Literaturarchiv in Marbach. Einer glcklichen Fgung ist eine im Januar 1940 begonnene11 Schreibmaschinenabschrift von rund 140 DIN A4-Seiten im Theodor-Fontane-Archiv zu verdanken. Angeregt wurde sie von dem Kunsthistoriker Paul Ortwin Rave. Rave, seit 1937 kommissarischer Leiter der Berliner Nationalgalerie, publizierte 1940 zu Blechens hundertstem Todestag eine dessen Vaterstadt Cottbus gewidmete, chronologisch angelegte Quellensammlung zu des Malers Leben. Wrdigungen. Werk. Im Vorwort dankt er Landesverwaltungsrat Hermann Fricke fr die „wertvolle Hilfe“, dass er „den im Archiv der Provinzialverwaltung der Mark Brandenburg befindlichen handschriftlichen Nachlass des Dichters Theodor Fontane durchsah, ordnete und zur Verfgung stellte“.12 Auf diese Weise
10 Theodor Fontane an Julius Großer, 22. Januar 1882. In: Theodor Fontane: Werke, Schriften und Briefe. Hg. von Walter Keitel u. Helmuth Nrnberger. Mnchen 1962 – 1997. HFA IV/3, S. 175. 11 Lt. Korrespondenz Rave/Fricke im Brandenburgischen Landeshauptarchiv. Bestand: Rep. 55, Abteilung XI, Provinzialverband, Akte 46, Hr Fricke, Privatkorrespondenz, Bl. 131 – 134. 12 Rave: Karl Blechen (wie Anm. 3), S. VIII.
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gelangten mehrere Texte des von Fontane gesammelten Blechen-Materials in Raves verdienstvolles Quellenverzeichnis.13 Ein Jahr nach Raves Publikation erschien im Heimatkalender fr die Niederlausitz Hermann Frickes Aufsatz Theodor Fontane ber Karl Blechen.14 Darin hat Fricke Fontanes schriftstellerische Absichten im Hinblick auf den geplanten Aufbau und die Anordnung der Texte zusammenzustellen versucht. Frickes Vorarbeit bildete die Grundlage fr das 1970 erst- und bisher letztmalig unter Verwendung der maschinenschriftlichen Abschrift publizierte Blechen-Fragment in den Bnden XXIII/1 und 2 der Nymphenburger Fontane-Ausgabe.15 Dieser Abdruck, Ergebnis des zweifellos nicht einfachen Versuchs, aus einer Folge noch unausgereifter und im Recherchierungs- und Entwurfsstadium beiseite gelegter Texte ein Ganzes zu konstruieren, ist in chronologischer und inhaltlicher Anordnung unbefriedigend. Anlass, die Quellenlage zu prfen. Frickes Typoskript von 1940 ist, je mehr man sich hineinvertieft, irritierend. Mit spitzer Feder und weichem Bleistift eingetragene Korrekturen verschiedener Hnde zeugen von den Schwierigkeiten der Entzifferung des Originals.16 Eine genetische Analyse, eine Chronologie des mehrstufigen Entstehungsprozesses der einzelnen Teile, Voraussetzung fr eine Rekonstruktion, fehlt. Bei dem Versuch, in das offenbar nicht in originaler Reihenfolge Vorgefundene einen Sinnzusammenhang zu bringen, hat Fricke in seine Abschrift fortlaufend eigene Bewertung und Interpretation der handschriftlichen Quelle eingeschoben. Im Hinblick auf das Ziel, Fontanes Materialsammlung fr Raves Quellenwerk zugnglich zu machen, ist das vertretbar. Der Verlust des Originals war ja nicht vorhersehbar. So wird man Fricke auch nicht anlasten drfen, dass er „zahlreiche Bltter, die nur 13 Bereits 1908 hatte der Berliner Kunsthistoriker Lionel von Donop als erster die Spur der im handschriftlichen Nachlass Fontanes aufbewahrten Blechen-Aufzeichnungen verfolgt und mit Zustimmung der Erben und Nachlasspfleger Fontanes verwendet fr seine Arbeit Der Landschaftsmaler Carl Blechen, mit Benutzung der Aufzeichnungen Theodor Fontanes. Berlin 1908. 14 Hermann Fricke: Theodor Fontane ber Karl Blechen. In: Heimatkalender fr die Niederlausitz. 1941, S. 27 – 36. Ein Jahr spter griff Fricke das Thema erneut auf in seinem Aufsatz Theodor Fontane als Kunstbetrachter. In: Zeitschrift des Vereins fr die Geschichte Berlins, 59 (1942), S. 86 – 89 (Neue Folge der „Mitteilungen“). 15 Fontane: Karl Blechen (Fragment) (wie Anm. 5). 16 Bei einigen Korrekturen scheint eine gewisse Freizgigkeit im Spiel gewesen zu sein, so wenn aus „bedeutendsten“ – „genialsten“, aus „unbewußt“ – „vielleicht“, aus „mehrfach“ – „namentlich“, aus „sagen“ – „annehmen“, aus „zuerst“ – „stçrend“, aus „Skizzen“ – „Anklnge“ usw. geworden ist.
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Stoffsammlung bieten“17, nicht in seine Abschrift mitaufgenommen hat. Was damals sinnvoll gewesen sein mag, ist heute leider ein nicht reparables Versumnis. Irgendwo im letzten Drittel des Typoskripts beginnen Texte sich seitenlang zu wiederholen, bis man merkt, dass sich hier Seiten aus Frickes schon erwhntem Aufsatz von 1941 hineinverirrt haben. Vçllig unverstndlich ist eine Anzahl maschinenschriftlicher Abschriften von Zeitungsartikeln, die 1940 zu Blechens 100. Geburtstag in der Tagespresse erschienen waren, Abschriften aus dem Vçlkischen Beobachter, dem NSGaudienst, dem Mrkischen Adler usw. Bereinigt man das Typoskript um dieses nicht zugehçrige Material, immerhin etwa 12 %, so bleiben einschließlich des von Frickes Quellenbewertung beanspruchten Raums noch rund 120 DIN A4 Textseiten. Sie sind mal voll, mal halb oder auch nur mit wenigen Zeilen beschrieben. Die in Marbach aufbewahrten fnf handschriftlichen Originalbltter18 erlauben dagegen einen authentischen, wenn auch nur eng begrenzten Blick in die biographische Werkstatt Fontanes. Auf einem Blatt exzerpierte er aus den Katalogen der Berliner Akademieausstellungen von 1826 bis 1830 die von Blechen ausgestellten Nummern und Bildtitel und fgte deren Verbleib in der Privatsammlung Brose aus eigener Kenntnis hinzu. Bis auf die Rechtschreibung wie das wechselnde C oder K fr Carl/Karl ist er dabei bemerkenswert genau. Auf zwei weiteren Seiten stehen seine Exzerpte ber Blechen aus einem in der Vossischen Zeitung verçffentlichten Artikel des Berliner Kunstkritikers Carl Seidel ber die Berliner Akademie-Ausstellung von 1830.19 Interessant ist, dass Fontane an drei Stellen leichte stilistische Korrekturen vornimmt und eine Textsequenz durch Unterstreichen markiert. Die Vermutung liegt nahe, dass er Seidels Ausstellungskritik in seine Blechen-Biographie aufnehmen wollte. Das besttigt das vierte Marbacher Blatt, das Entwurfscharakter hat. Fontane wiederholt darauf die unter 1830 notierten zwei ersten Bildnummern und Bildtitel und setzt darunter den Satz „Das cht poetische Talent dieses Knstlers etc.“, also die Anfangsworte aus Seidels Ausstellungskritik. Diese kunstkritische Textpassage fremder Feder
17 Hermann Fricke: Vorbemerkung zum Typoskript Carl Blechen. TFA, Potsdam. Bestand: Werkmanuskripte, Wanderungen. Ka-Kfa Abschriften. Aufnahmenr. 12705. 18 Deutsches Literaturarchiv, Marbach. Bestand A: Fontane. Prosa. Fragmentarisches: Blechen. 19 Kçniglich privilegirte Berlinische (Vossische) Zeitung, Nr. 258, 5. November 1830. Zit. in: Rave: Karl Blechen (wie Anm. 3), S. 22.
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ist weder in Frickes Typoskript noch in den Abdruck des Fragments in der Nymphenburger Fontane-Ausgabe eingegangen. Nun kçnnte man meinen, die Beschftigung mit Fontanes doch arg amputierten und ohnehin nicht mehr originalen Blechen-Aufzeichnungen, dem Fragment eines Fragments, sei mßig. Dem kçnnte man vielleicht zustimmen, wenn Blechen selbst, Blechen-Schler und frhe BlechenSammler ihrerseits Dokumentationen hinterlassen htten, die das kurze, „selten vom Glcke begnstigte“20 Knstlerleben festgehalten htten. Leider haben sie das nicht getan. Blechen, wie viele Maler, scheint zudem kein Mann des geschriebenen Wortes gewesen zu sein. Die authentische Quellenlage ber ihn ist ußerst mager. Innerhalb der geschriebenen Kunstkritik hat Fontane keinen festen Platz. Um das Wissen ber den Maler Carl Blechen aber hat er ein gewisses Verdienst. Er sicherte durch seine Abschriften und grndlichen Recherchen nicht nur wichtiges Quellenmaterial, sondern auch ein spezielles abgeACHTUNGREsunkenes Wissen, auf das die Blechen-Forschung seither verschiedentlich zurckgegriffen hat. So hat der Kunsthistoriker Helmut Bçrsch-Supan nach Erscheinen des Blechen-Fragments in der Nymphenburger Fontane-Ausgabe fr seine berlegungen zur Revision von Blechens Oeuvre-Katalog einen Beleg dafr gefunden, dass und auf welche Weise eine Anzahl der Blechen zugeschriebenen Werke als Kopien in die spter zerstreute BroseSammlung gelangt sind.21 Fontane berichtet nmlich, dass Broses BlechenSammlung zunchst „grçßtenteils Kopien nach Blechenschen Bildern waren“, „lauter Kopien, die durch den jungen Maler G. W. Herbst angefertigt waren“.22 „Diese Kopien“, so Bçrsch-Supan 1988, „hngen heute vielfach in Museen als eigenhndige Arbeiten Blechens. Die Leistung der zahlreichen Schler ist noch kaum erforscht, und das Oeuvre des Meisters ist noch verunklrt durch falsche Zuschreibungen.“23 Fontane gibt noch weitere Hinweise auf Kopisten. So notiert er bei seinem ersten Besuch der Berliner Blechen-Ausstellung 1881/82 in sein Oktavnotizbuch zu der unter Nr. 450 ausgestellten lskizze „Kornfeld“ aus dem Besitz der National-Galerie den 20 Ernst Heinrich Toelken: Gedenkrede. In: Rave: Karl Blechen (wie Anm. 3), S. 66. 21 Helmut Bçrsch-Supan: Kopien nach Carl Blechen. berlegungen zur Revision seines Oeuvrekataloges. In: Detlef Heikamp (Hg.): Festschrift fr Martin Sperlich zum 60. Geburtstag 1979. Tbingen 1980, S. 245 – 258 (Kunstwissenschaftliche Schriften Bd. 1). 22 Fontane: Karl Blechen (Fragment) (wie Anm. 5), Bd. XXIII/1, S. 540. 23 Helmut Bçrsch-Supan: Die deutsche Malerei von Anton Graff bis Hans von Mares. Mnchen 1988, S. 378.
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Hinweis: „Von H. Gaetke“24 und nennt das lgemlde Nr. 443 „Bauer im Fenster“ „unblechensch“25. An anderer Stelle erwhnt er, dass sich neben Arbeiten von Heinrich Gaetke auch Arbeiten der Blechen-Schler Georg Hçhn und Carl Friedrich Schçbel „mit unter den Blechens befinden“.26 Das Bild „Die Winterlandschaft“ hat den Zusatz: „Graeb soll es vollendet haben“.27 Solche Bemerkungen verraten ein ber das bliche hinausgehendes Vertrautsein mit dem Schicksal der Werke Blechens, eine Kennerschaft, die der Blechen-Forschung heute bei der Scheidung von „echt“ und „unecht“ willkommen sein drfte. Denn was heute die Zuschreibung erschwert, erklrt sich aus der damaligen Praxis des Akademieunterrichts. Die Kunstschler malten Originalbilder der Meister nach, so auch solche von Blechen. Die Berliner Akademie-Akten sind brigens nicht nur darin eine kurzweilige Lektre.28 Erste Phase der Beschftigung mit Blechen: Dezember 1860 / Juni 1863 Im Dezember 1860 hatte Fontane das Wanderungen-Kapitel Die Mggelsberge geschrieben, in dem er Blechens großes lgemlde Semnonenlager von 1828 (126 cm 200 cm) als genial empfundenes historisches Landschaftsbild wrdigt.29 Erste berlegungen zu einem Werk ber Blechen mçgen 24 TFA, Bestand: Handschriften. Notizbcher (Dauerleihgabe der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz). Notizbuch B 9, S. 28. 25 TFA, Notizbuch B 9 (wie Anm. 24), S. 28/R. 26 Fontane: Karl Blechen (Fragment) (wie Anm. 5), Bd. XXIII/1, S. 529. 27 Hermann Fricke an die Verlagsbuchhandlung Heyne in Cottbus am 24. Juli 1940 mit Korrektur zu seinem im Heimatkalender fr die Niederlausitz vorgesehenen Beitrag Theodor Fontane ber Karl Blechen (wie Anm. 14), Brandenburgisches Landeshauptarchiv, Bestand: Rep. 55, Abteilung XI, Provinzialverband, Akte 46, Hr. Fricke, Privatkorrespondenz, Blatt 161/162. Der Name Graeb im Druck irrtmlich als „Graele“, vgl. Fricke (wie Anm. 14), S. 30. Der Hinweis auf Graeb fehlt in Fontane: Karl Blechen (Fragment) (wie Anm. 5), XXIII/1, S. 538. 28 Beispielsweise wurde Ende Februar 1859 aus dem Unterricht der Landschaftsklasse von Wilhelm Schirmer, Nachfolger Blechens an der Berliner Akademie, eine „als Vorbild benutzte gemalte Skizze“ Blechens, das „Kloster Sta. Scholastica“ darstellend, entwendet. Akademie der Knste, Berlin. Historisches Archiv. Akte: Diebstahl einer Blechen-Skizze aus dem Unterricht der Zeichenklasse von Prof. Schirmer, 1859. In: PrAdK 176, Bl. 22 – 26. 29 Theodor Fontane: Wanderungen durch die Mark Brandenburg, Vierter Teil, Spreeland. In: HFA II/2, S. 553. Das 1828 auf der Berliner Akademieausstellung gezeigte vielbeachtete Gemlde trgt im Katalog den Zusatzvermerk: „Blick von den
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damals entstanden sein. Denn bald darauf, am 20. Februar 1861, besuchte er den Berliner Bankier H. F. W. Brose, „um die Blechen-Galerie zu sehen“.30 Zwei Tage spter kndigte er seinem Verleger Wilhelm Hertz unter anderem auch das Thema „Cottbus (Blechen)“ zum Band Oderland an.31 Im September desselben Jahres heißt es dann – wiederum in einem Brief an Verleger Hertz – er werde im folgenden Winter „ohne Betonung der Lokalitt, einige mrkische Biographieen (Kloeden, Blechen, Julius v. Voß)“ schreiben. Damit wachse er sich in Varnhagen hinein, er mache es in zwei Beziehungen aber doch besser, „erstens wrmer, belebter, farbenreicher, dann zweitens stylistisch ungeschraubter, freier, natrlicher im Ausdruck“. Auch bringe er „wohl mehr Herz fr die Sache mit“.32 Diese sthetisierende Abgrenzung gegen Karl August Varnhagen von Enses lexikographisch gehaltenes, politisch-historisches Werk Biographische Denkmale macht deutlich, wie sehr Fontane eigenes biographisches Schreiben mit innerem Engagement und literarischem Anspruch verband.33 Das etwa zwei Jahre spter aufgestellte Inhaltsverzeichnis zum Band Oderland fhrt weiterhin das „Cottbus“-Kapitel mit auf, dieses Mal mit dem Zusatz „Blechen, der Maler“.34 Danach jedoch ist davon keine Rede mehr. Hertz hatte eine Reduzierung des Stoffes angemahnt, festgehalten in einem Fontane-Brief an Hertz aus dem Mai 1864: „Ich dachte anfnglich noch an weitre Einschbe; doch verbietet sich das um des Raumes willen, den Sie ja eher beschrnkt wnschen.“35 Das erste
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Mggelbergen bei Kçpenick gegen Sden. Staffage: Semnonen rsten sich zum Aufbruch gegen den Andrang der Rçmer.“ Vgl. Rave: Karl Blechen (wie Anm. 3), S. 225. Zit. nach Fricke: Theodor Fontane ber Karl Blechen (wie Anm. 14), S. 27. Einlage zu Fontanes Brief an Wilhelm Hertz vom 22. Februar 1861. In: Theodor Fontane: Briefe an Wilhelm und Hans Hertz 1859 – 1898. Hg. von Kurt Schreinert u. Gerhard Hay. Stuttgart 1972, S. 408. Theodor Fontane an Wilhelm Hertz, [19. September 1861]. In: Briefe an Wilhelm und Hans Hertz 1859 – 1898 (wie Anm. 31), S. 47. Fontanes biographisches Schreiben scheint sich an August von Varnhagens Biographische Denkmale geschult zu haben. Hier wie dort Fremdtexte (Selberlebensbeschreibungen, Briefe, Zeitungsberichte, Erinnerungen Dritter). Auch im Aufbau ergeben sich vergleichbare GerACHTUNGREste: Der eigene Lebenslauf steht am Anfang, der zusammenfassende Rckblick auf Leben und Werk eines Charakters am Schluss, dazwischen eine aus Texten fremder Federn zusammengetragene Meinungsvielfalt mit sparsamem Autorkommentar. Einlage zu Fontanes Brief an Wilhelm Hertz vom 29. Juni 1863. In: Briefe an Wilhelm und Hans Hertz 1859 – 1898 (wie Anm. 31), S. 443. Theodor Fontane an Wilhelm Hertz, [11. oder 12. Mai 1864]. In: Briefe an Wilhelm und Hans Hertz 1859 – 1898 (wie Anm. 31), S. 112.
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Vorhaben „Blechen, der Maler“ war dem Rotstift des Verlegers zum Opfer gefallen. Fontane hat von sich gesagt, sobald er „das starke Gefhl“ habe, „dies ist ein Stoff“, konzipiere er „im Nu“ und bringe den ersten Entwurf „unter genauer Kapiteleinteilung hintereinander weg und alles von Anfang an an richtiger Stelle“ aufs Papier. Die „Feile“ kçnne sich dann monatelang hinziehen.36 Aus der frhen Beschftigungsphase mit Blechen stammt denn auch eine erste Gliederung in sieben Kapiteln. Sie ist nicht so sehr lebenschronologisch als vielmehr kunsthistorisch angelegt und kombiniert gleichwertig Leben und Nachleben des Knstlers.37 Welche Bausteine des Fragments aus diesen frhen Jahren stammen, zu welchen Gliederungspunkten damals bereits Aufzeichnungen gemacht worden sind, lsst sich nicht mehr in allen Fllen eindeutig erkennen. Ein paar Hinweise gibt es, so wenn Fontane in einer Klammerbemerkung zu Blechens Charakteristik den damaligen Direktor der Kupferstichsammlung des Kçniglichen Museums, Heinrich Gustav Hotho, als jemanden nennt, der ber eine bestimmte Farbskizze Blechens Auskunft geben kçnne;38 Hotho starb 1873. Oder wenn er den Landschaftsmaler Ferdinand Frick mit Adresse „Leipziger Platz 7/8“ notiert; Frick verstarb vermutlich ebenfalls in den 1870er Jahren39. Textpassagen dieser Art drften aus der ersten Beschftigungsphase 1861/63 datieren. Der Hauptbestand der Fontaneschen Aufzeichnungen zu Blechen stammt jedoch nicht aus dieser frhen, sondern, wie Eintragungen im faktengefhrten Tagebuch von 1881/82 und die Korrespondenz aus jener Zeit erkennen lassen, aus Fontanes rund zwei Jahrzehnte spterer Beschftigung mit dem Thema Blechen.
36 Theodor Fontane: Rudolf Lindau. Ein Besuch. In: HFA III/1, S. 557. 37 „Blechens Leben – Briefe Blechenscher Schler – Blechen in Italien – BlechenSammlung Broses – Der Blechen-Fonds – Nach Blechens Tode – Schlußwort. Sein Charakter und seine Bedeutung.“ Zit. nach Fricke: Carl Blechen (Typoskript) (wie Anm. 17), Aufnahmenr. 12705. 38 Fontane: Karl Blechen (Fragment) (wie Anm. 5), Bd. XXIII/1, S. 530. 39 Fontane: Karl Blechen (Fragment) (wie Anm. 5), Bd. XXIII/1, S. 530. Die genauen Lebensdaten dieses Malers sind nicht bekannt.
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Zweite Phase der Beschftigung mit Blechen: Dezember 1881 / Januar 1882 Ende 1881, in einer schçpferischen Hochphase, nimmt Fontane das Thema Blechen erneut auf. Einen Tag bevor er damit beginnt, schließt er den ersten Arbeitsabschnitt an seiner Novelle Stine ab. Einen Monat lang hatte er daran gearbeitet. Und einen Monat lang wird ihn auch seine Blechen-Biographie beschftigen. Der Wunsch, diese Arbeit wiederaufzunehmen, muss groß gewesen sein, denn es wird eine Zeit intensiver Beschftigung mit Blechen. Eindrucksvoll, was in diesen wenigen Wochen sonst noch alles parallel luft: Theaterkritiken und Buchbesprechungen fr die Vossische Zeitung, ein kleiner Aufsatz ber das Magazin fr die Literatur des In- und Auslandes, der Beginn der Arbeit an dem Novellenprojekt Oceane von Parceval, die Wiederaufnahme der Arbeit an dem Fnf-Schlçsser-Essay Dreilinden, außerdem Korrekturen zur Buchausgabe von L’Adultera und zuletzt der Beginn der Korrekturen des Fnf-Schlçsser-Kapitels Hoppenrade, und dann – das Tagebuch gibt Auskunft darber – jener Briefausstoß, den wir von ihm gewohnt sind. Daneben scheint das Gesellschaftliche nicht zu kurz gekommen zu sein. Ein Tag aus dieser Lebensphase nach dem Tagebuch: Freitag, 13. Januar 1882: Gearbeitet: Prinz Friedrich Karl. In die Blechen-Ausstellung. Brief von Mete aus Rostock und Herrn Behrend in Potsdam. Ins Theater: Prolog von Julius Wolff und Schillers Ruber. Nach dem 2. Akt ins Schloß zu Prinz Friedrich Karl; zugegen: Generalmajor v. Caprivi, Oberst v. Arnim vom Franz-Regiment, Obristlieutnant Spitz vom großen Generalstab, Adjutant Hptmann v. Kalckstein, Graf Eulenburg aus Liebenberg und ich. Bis gegen 1 Uhr geplaudert. Mit Graf Eulenburg nach Hause gefahren. Einige Karten geschrieben. Gelesen.40
Eine zweite Gliederung zum Blechen-Aufsatz entstand in dieser Zeit. Sie zeigt in den ausschließlich auf die Lebenschronologie des Malers abgestimmten Kapitelberschriften die Frchte einer eingehenden Beschftigung mit der Vita des Knstlers.41 Fontane kennzeichnete diese wiederum 40 Theodor Fontane: Tage- und Reisetagebcher. Hg. von Gotthard Erler. Bd. Tagebcher 1866 – 1882, 1884 – 1898. Berlin 1994, S. 149. 41 „1. Blechen bis zu seinem Eintritt in die Akademie / 2. Blechen bis zur Reise nach Italien. 1828 / 3. Blechen in Italien. 1828 und 1829 / 4. Blechen bis zu seiner Ernennung zum Lehrer der Akademie. 1831 / 5. Blechen bis zu seiner Erwhlung zum Mitglied der Akademie. 1835 / 6. Blechens letzte gute Zeit. 1835 und 1836 / 7. Blechens Krankheit und Tod. 1836/1840“. Zit. nach: Fricke: Carl Blechen (Typoskript) (wie Anm. 17), Aufnahmenr. 12705.
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siebenteilige Gliederung „nachtrglich“ mit einem „Ist gut“42. Fricke folgte bei seiner Ordnung des Blechen-Fragments dieser Gliederung „mit Rcksicht auf die ausgefhrten Abschnitte“ Fontanes „nur teilweise“.43 Er entwarf statt dessen eine dritte Gliederung, eine Kombination aus Fontanes ursprnglicher Gliederung aus den frhen 1860er Jahren und derjenigen von 1881/1882. Nach ihr ordnete er das berlieferte Material und gab damit das Gerst fr die Edition in der Nymphenburger Fontane-Ausgabe vor. Mçglich, dass diese kombinierte Gliederung Fontanes Intention in etwa entspricht. Editorisch proACHTUNGREblematisch erscheint die dadurch entstandene gleichwertige Mischung der im Abstand von zwei Jahrzehnten zusammengetragenen Stoffsammlung. Sich inhaltlich wiederholende, stellenweise auch widersprechende Textpassagen sowie deren zeitliches Hin- und Herspringen sind die Folge. Das bekommt der Lesbarkeit wenig und mag fr die geringe Bercksichtigung des Fragments in der Fontane-Forschung mitverantwortlich sein. Recherchen: Ausstellungsbesuche Eigentlicher Anlass der erneuten Beschftigung mit Blechen im Winter 1881/82 ist die 14. Sonderausstellung im obersten Stockwerk der Berliner Nationalgalerie, eine Retrospektive zur Erinnerung an das knstlerische Schaffen von vier „vor lngerer oder krzerer Zeit“44 verstorbener Maler. Carl Blechens Werk ist darin mit 370 Nummern besonders umfangreich reACHTUNGREprsentiert. Viermal besuchte Fontane die Ausstellung, zum ersten Mal unmittelbar vor Weihnachten am 23. Dezember 1881.45 Ausgerstet mit Bleistift und dem schmalen kleinen Notizbuch im Oktavformat, das sich als Dauerleihgabe der Berliner Staatsbibliothek im Fontane-Archiv erhalten hat und im Blechen-Zusammenhang bisher noch nicht ausgewertet worden zu 42 Fricke: Carl Blechen (Typoskript) (wie Anm. 17). 43 Fricke: Carl Blechen (Typoskript) (wie Anm. 17). 44 Ludwig Pietsch zu Beginn seiner vierteiligen Ausstellungskritik Die XIV. Sonderausstellung in der Nationalgalerie. In: Kçniglich privilegirte Berlinische (Vossische) Zeitung. Nr. 571 (Morgenausgabe). 7. Dezember 1881, 1. Beilage. Die Ausstellung dauerte vom 20. November 1881 bis zum 20. Januar 1882. Neben Blechen waren ausgestellt die çsterreichische Landschaftsmalerin Marie von Parmentier (1846 – 1878), der seinerzeit als „berwinder der Romantik“ gefeierte Adolf Schrçdter (1805 – 1875) und der Kasseler Landschafter August Bromeis (1813 – 1881). 45 Tagebucheintrag vom 23. Dezember 1881. In: Fontane: Tage- und Reisetagebcher (wie Anm. 40), S. 144.
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sein scheint, wanderte er durch die Blechen gewidmeten drei Kabinette und den großen Ausstellungssaal. Diese Notizen, elliptisch in ihrer Art, vermitteln den Eindruck eines Werk fr Werk abschreitenden Ausstellungsbesuchers, der stichwortartig und wie im Selbstgesprch niederschreibt, was ihm gefllt oder zu einem Bildmotiv einfllt, der die unterschiedlichen Bildmaße wahrnimmt, eine bersicht entwirft ber „Große Bilder“, „Mittelgroße Bilder“, „Kleine u. ganz kleine Bilder u. Skizzen“ und der zum Schluss nur noch die Nummern von 52 im Großen Saal ausgestellten Gemlden notiert.46 In den etwas weiter ausgefhrten Notizen gibt sich Fontane als ein Kunstbetrachter zu erkennen, der sein Augenmerk auf das Handwerkliche im Kunstwerk legt und sich von den Bildmotiven einfangen lsst: „Alles sehr schçn, sehr sauber, sehr ausgefhrt, wundervolle Interieurs, gothische Hallen, Gnge, Schiffe“, ist die knappe Reflexion im Dialog mit Blechens frhen Farbskizzen fr Theaterdekorationen.47 Ganz ungebrochen ist seine Zustimmung zu den Bildwerken nicht. Zur sthetik von Komposition und Malweise des lgemldes „Waldthal mit Wild“notiert er: „Ziemlich großes Bild. Links kraßgelbes, sandfarbenes Gestein mit Bumen darauf, rechts Waldlandschaft tief dunkelgrnblau mit Hirschen u. Rehen auf dem Waldgrund. Gewiß sehr schçn, aber das gelbe Fleckchen links wirkt hßlich.“48 Hsslich bedeutet Unwahrheit im wiederkehrenden zeitgençssischen Tenor, dem auch Fontane sich verpflichtet fhlte. Es ist bildnerisch fragwrdig, hebt die Schçnheit auf und ist nur in der Verklrung, im Sinne Fontanes: in der Poetisierung, tolerabel. Dagegen bewunderte er das die Zeitgenossen so verstçrende Unkonventionelle in Blechens Kunst bei Betrachtung des Bildes „Kirchenruine“: „Wasserfarben-Skizze. Giebel einer zerfallenen gothischen Kirche; sehr schçn; alles ganz genialisch blos angelegt, fast wie mit einem Finger hingeschmiert.“49 Fontane plante, Spontanbemerkungen solcher Art in die Biographie einfließen zu lassen. Assoziationen zu in seinem Bildgedchtnis haftenden Werken anderer Maler tauchen in diesen wie auch den spteren Notizen nicht auf. Allenfalls am Rande behandelte subjektive Bezge zu Caravaggio, Domenichino und Salvator Rosa, zu Poussin und Claude Lorrain und – etwas ausfhrlicher und von kunsthistorischer Seite çfter zitiert – zu Bçcklin finden sich erst in den Schreibtisch-Aufzeichnungen. 46 47 48 49
TFA, Notizbuch B 9 (wie Anm. 24), S. 28 – 32. TFA, Notizbuch B 9 (wie Anm. 24), S. 29. TFA, Notizbuch B 9 (wie Anm. 24), S. 30. TFA, Notizbuch B 9 (wie Anm. 24), S. 30/R.
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Auch bei den weiteren Ausstellungsbesuchen am 4., 13. und 17. Januar 188250 machte sich der Autor hnliche, den unmittelbaren Bildeindruck festhaltende Gedchtnissttzen und einige Stegreifskizzen. Diese Aufzeichnungen sind zum Teil ausfhrlicher als beim ersten Besuch. Bildaufbau, Wirkung von Farben und Stimmung, Skizzen im Vergleich zu ausgefhrten Gemlden werden betrachtet und die Bedeutung des Kunsterlebnisses bei wechselnder Bildbeleuchtung festgehalten. Aus dem unmittelbaren Erleben heraus und als Erinnerungssttze nur fr ihn selbst gedacht notierte er seine Wertschtzung der Kunst Blechens pauschalierend vom enthusiasmierten „wundervoll“, „sehr schçn“, „schçn“, „sehr hbsch“, „hbsch“ ber ein geltenlassendes „doch immerhin sehr interessant“ bis zum ablehnenden „nicht sehr hbsch“, „nicht gerade sehr gewinnend“, „nicht sehr nach meinem Geschmack“ und „gefllt mir nicht sehr“. Nur einmal wird der bergang vom Kunstbetrachter zum Biographieschreiber fließend, als Gedanken zu Blechens humoristischen Bildern stichwortartig bergehen in Gedanken zu deren stofflicher Verarbeitung. Aus den Bildern selbst, aus Datierungen oder Angaben vom Ort ihres Entstehens scheint Fontane keine Schlsse fr die Biographie Blechens haben ziehen wollen. Er betrachtete diese Werke weder kunsthistorisch, noch sah er die Bildthemen im Spiegel einer von Symbolen bedrngten Psyche. Die sich aufdrngende Bildwelt des Malers mit den wiederkehrenden Motiven der Konfrontation des Menschen mit beklemmenden Naturerlebnissen, des berwltigtseins durch Naturschauspiele – Fontane hat dies nicht thematisieren wollen. Man kann sich fragen, ob er mit dieser Herangehensweise berhaupt eine Chance gehabt htte, dem Menschen Blechen auf die Spur zu kommen. Aber wollte er das berhaupt? Eine mçglichst umfassende Biographie, die – emblematisch gesprochen – das Subjekt atomisiert, strebte er nicht an. Es ist die kleine Form der Biographie, in der er sich versuchen wollte, oder – wie er sie in seiner sieben Jahre spter entstandenen Kurzbiographie ber den Historien- und Orientmaler Wilhelm Gentz nennt – die „biographische Skizze“51. Sie sollte Blechens Leben, seine Schicksale und „ganz allgemein sein reiches Schaffen“52 vorfhren. Mehr ein Außenbild also, in das er seine subjektive Wertschtzung von Fall zu Fall zu integrieren beabsichtigte.
50 Fontane: Tage- und Reisetagebcherbcher (wie Anm. 40), S. 147, 149, 150. 51 Theodor Fontane: Wanderungen durch die Mark Brandenburg. Die Grafschaft Ruppin. Wilhelm Gentz. In: HFA II/1, S. 189. 52 Fontane: Karl Blechen (Fragment) (wie Anm. 5), Bd. XXIII/2, S. 365.
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Suche nach Zeitzeugen und Blechen-Sammlern Vor allem wollte Fontane das Leben Blechens nicht vom Jetzt, sondern „aus seiner Zeit heraus beurteilen“53. Das operative Verfahren bestand in der Kontaktaufnahme zu des Malers Weggefhrten an der Akademie, zu Schlern Blechens und zu Blechen-Sammlern. Dazu absolvierte er eine von großem Fleiß zeugende Rechercheleistung in kurzer Zeitspanne. Der Rechercheprozess ist dank Tagebuch mit Rechenschaft ber die gefhrte briefliche Korrespondenz nachvollziehbar. Drei Tage nach seinem ersten Ausstellungsbesuch schreibt er „einen Deutschlandbrief in der Blechensache“54. Es sind allein elf Briefe zum Thema. In den ersten Januartagen folgen weitere, aus denen sich in dem einen und anderen Fall kleinere Briefwechsel ergeben. Der Ausstellungskatalog, der die Namen der Besitzer der einzelnen Bilder nennt, wird bei der Auswahl der Adressaten geholfen haben; ebenso die Kenntnis der Professorenschaft der Berliner Akademie aus seiner Zeit als Akademiesekretr. Briefe gehen an den Historienmaler Eduard Daege, der 1820, zwei Jahre vor Blechen, Schler der Berliner Akademie geworden war und 1835 gleichzeitig mit Blechen zum ordentlichen Mitglied der Akademie ernannt worden ist, an den Portrtisten Adolf Henning, der seit 1826 regelmßig die Akademie-Ausstellungen mit eigenen Arbeiten beschickt hatte und die Reaktionen des Publikums auf Blechens 1828 ausgestelltes, Aufsehen erregendes Semnonen-Bild persçnlich miterlebt haben drfte, ferner an den Kupferstecher und Lithographen Gustav Lderitz, seit 1839 ebenfalls ordentliches Mitglied der Akademie, des weiteren an die Blechen-Schler Carl Graeb, Ferdinand Bellermann, Eduard Pape und Georg Kannengießer und schließlich auch an Adolph Menzel. Als Ersatz fr die fehlende Unmittelbarkeit eigener Augenzeugenschaft war Fontane an Mitteilungen dieser Zeitzeugen ber Blechens Persçnlichkeit zur Zeit seiner Akademiezugehçrigkeit interessiert. Er wird nichts Ausgefeiltes erwartet haben, sondern mehr das, was er neun Jahre zuvor Alexander Gentz empfohlen hatte: […] kritzeln Sie mit Bleistift bunt durcheinander, wie Ihnen die Dinge einfallen, allerhand Notizen aufs Papier. Von solchen Aufzeichnungen, die dem Geber am wenigACHTUNGREsten Umstnde machen, hat unsereins am meisten. […] je schneller, dem
53 Fontane: Karl Blechen (Fragment) (wie Anm. 5), Bd. XXIII/1, S. 533. 54 Zit. nach Fricke: Carl Blechen (Typoskript) (wie Anm. 17), Aufnahmenr. 12797.
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ersten Impulse folgend, dergleichen gemacht wird, desto besser. Abfassung gleichgltig; wie die modernen Architekten sagen: „Der Stil wird angeputzt.“55
Weitere Briefe gehen an den Schulvorsteher Budczies, Mitglied im Verein fr die Geschichte der Mark Brandenburg, an Max Jordan, den Direktor der Berliner Nationalgalerie, aus deren Blechen-Bestand der grçßte Teil der ausgestellten Werke stammte, an Besitzer von Bildern Blechens, so an Blechens Verwandten Behrendt in Potsdam, an den Genremaler Paul Meyerheim, den Kunstauktionator Rudolf Lepke, in dessen Haus 1874 die Konkursmasse des Sachseschen Kunstsalons mit zahlreichen BlechenWerken versteigert worden war, und schließlich an einen Referendar Frick. Dessen Vater, der Landschaftsmaler Ferdinand Frick, war zur Zeit Blechens ebenfalls Berliner Akademieschler. Er wird in Max Schaslers Aufstellung Berlins Kunstschtze von 1856 als Besitzer mehrerer Blechen-Werke genannt,56 die nach seinem Tod wohl an seinen Sohn bergegangen waren. Im Ausstellungskatalog wird Kammergerichts-Referendar Frick als Einlieferer von sieben Werken Blechens genannt. Er ist nach meiner berzeugung der bisher noch nicht eindeutig identifizierte Adressat jenes Briefes vom 26. Dezember 1881 aus der Fontane-Sammlung Christian Andree57. Der Brief ist typisch fr Fontanes knappe briefliche Kontaktaufnahme: Berlin 26. Dezb. 81 Potsd. Str. 134 c. Hochgeehrter Herr. Ein kleiner Aufsatz ber Blechen beschftigt mich, seitdem ich die BlechenAusstellung gesehn. Wie Sie, hochgeehrter Herr, glcklicher Besitzer einiger seiner Arbeiten sind, so wr es auch mçglich, daß, aus Vaters Tagen her, Briefschaften in Ihren Hnden oder Anekdoten etc. in Ihrer Erinnerung wren. Darf ich anfragen, ob dem so ist? In vorzglicher Ergebenheit, Th. Fontane
Fontane, darin traditionell biographisch arbeitend, war auf der Suche nach brieflichen und anekdotischen Lebenszeugnissen aus erster Hand, die er zur 55 Theodor Fontane an Alexander Grentz, 4. April 1873. In: HFA IV/5/II, S. 382 (Anm. zu S. 428). 56 Max Schasler: Berlin’s Kunstschtze. Die çffentlichen und Privat-Kunstsammlungen, Kunstinstitute und Ateliers der Knstler und Kunstindustriellen von Berlin. Berlin 1856, S. 347. Vgl. auch die Anmerkung in NFA, Bd. XXIII/2, S. 368. 57 Unvollstndig abgedruckt in: Katalog der Fontane-Sammlung Christian Andree, hg. von der Kulturstiftung der Lnder, Berlin 1999, S. 59.
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Individualisierung Blechens verwenden wollte. Auch wenn zu diesem Teil keine textlichen Ausformulierungen vorliegen, darf man annehmen, dass er den „abgeschlossenen Mikrokosmos“58 Blechens durch die Außensicht seiner Zeitgenossen verlebendigen und er – hnlich wie in seinem Wilhelm Gentz-Portrt – Briefe von Weggefhrten in die Biographie aufnehmen wollte.59 Wenige Tage, nachdem Menzel Fontanes Blechen-Brief vom 26. Dezember 1881 erhalten hatte, heißt es in Fontanes Tagebuch am 1. Januar 1882: „Besuch von Menzel“. Details ber diese Neujahrsbegegnung erfahren wir nicht. Gesprchsthema drfte Fontanes Anfrage zu Blechen gewesen sein. Menzel hatte als Siebzehnjhriger zur Zeit, als Blechen Lehrer der Landschaftsmalerei an der Berliner Akademie war, zwei Semester lang, Sommersemester 1833 und Wintersemester 1833/34, die Gipszeichenklasse besucht, brigens zunchst mit der Beurteilung: „geht noch schwach“ und dann am Schluss des zweiten Semesters mit „Hat viel Genie“.60 Ja, wenn es ber dieses Fontane-Menzel-Gesprch Aufzeichnungen gbe … Die Kontaktaufnahme zu dem Apotheker und frhen Blechen-Sammler Carl Ludwig Kuhtz verlief besonders erfolgreich. Fontane am 3. Januar 1882 in seinem Tagebuch: „Um 11 zu Herrn Kuhtz, Friedrichstraße 31, der mir seine Blechen-Sammlung, Oelbilder und Zeichnungen, zeigt und mir allerhand ber Blechen und seine Schicksale erzhlt.“61 Die Bilderliste „Galerie Kuhtz“62 drfte damals entstanden sein. Ebenso stehen ein im Dezember 1853 verfasstes Schriftstck von Kuhtz anlsslich einer Versteigerung von Werken Blechens sowie sein Brief an Fontane vom 4. Januar 1882, aus Fontanes handschriftlichem Nachlass publiziert in Raves BlechenWerkverzeichnis63, in zeitlichem Zusammenhang mit Fontanes Besuch bei Kuhtz. 58 Christoph Gradmann: Nur Helden in weißen Kitteln? Anmerkungen zur medizinhistorischen Biographik in Deutschland. In: Biographie schreiben. Hg. von Hans Erich Bçdeker. Gçttingen 2003, S. 256. 59 Einige dieser Briefe sind teils im handschriftlichen Original, teils in maschinenschriftlicher Abschrift im TFA erhalten (Bestand: Briefe an Theodor Fontane, ACHTUNGRESignaturen: Da 971, Da 972, Da 973, Ca 998). 60 Akademie der Knste, Berlin. Historisches Archiv. Akte: Berichte ber die Schler der Gipszeichenklasse. PrAdK Nr. 420, Bl. 46 u. Bl. 51. 61 Fontane: Tage- und Reisetagebcher (wie Anm. 40), S. 147. 62 Fontane: Karl Blechen (Fragment) (wie Anm. 5), Bd. XXIII/1, S. 538. Kuhtz wird im Katalog der Nationalgalerie als Leihgeber nicht genannt. Er hatte aus seiner Sammlung offenbar keine Bilder zur Blechen-Ausstellung beigesteuert. 63 Rave: Karl Blechen (wie Anm. 3), S. 72 f. u. S. 87 f.
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Sehr ergiebig erwies sich auch der Kontakt zu Elisabeth Brose, der Witwe des Berliner Bankiers und frhen Blechen-Sammlers H. F. W. Brose, aus dessen Sammlung allein 64 Werke in der Nationalgalerie ausgestellt waren. Fontane am 10. Januar 1882 im Tagebuch: „In die Klosterstraße (No 87) zu Frau Brose, geb. Brendel und ihrem Sohn, Blechen-Mappen durchgesehn; der junge Brose giebt mir eine Menge auf Blechen Bezug habende Briefe mit, zum Theil ziemlich wichtige.“64 Bei diesen ziemlich wichtigen Briefen drfte es sich um jenes Konvolut mit Briefen Carl Blechens, Henriette Blechens und Bettina von Arnims gehandelt haben, das im November 1928 aus der Sammlung C. Brose durch Hollstein und Puppel in Berlin versteigert worden ist65 und heute im Zentralarchiv in Berlin aufbewahrt wird. Fontane hat diese Briefe abgeschrieben und sie, seiner Gewohnheit entsprechend, zum Abdruck in seiner Blechen-Biographie vorgesehen. Die Niederschrift des lngeren Entwurfstextes Die Brosesche Sammlung drfte in jenen Januartagen entstanden sein. Er vermittelt einen ersten Eindruck, wie sich Fontane das Kapitel „Die Blechen-Sammler“ vorgestellt hat. Nach Fricke sollten „nicht weniger als vierzehn Sammlungen bercksichtigt werden“.66 Ertragreich war auch Fontanes Besuch beim Blechen-Verwandten ACHTUNGREBehrendt, Mhlenbesitzer in Potsdam. Fontanes Tagebuch am 18. Januar 1882: „Um 2 nach Potsdam zu Herrn Behrendt, einem Verwandten Blechens, wo ich auch so ’was wie Blechens italienisches Tagebuch auftreibe.“67 Dieses sogenannte „Tagebuch“, nach allgemeiner Einschtzung erst nach Blechens italienischer Reise, vermutlich in der Zeit seiner beginnenden geistigen Verwirrung entstanden, hat Fontane seitenlang abgeschrieben, wohl ebenfalls in der Absicht, es in die Biographie hineinzunehmen.
64 Fontane: Tage- und Reisetagebcher (wie Anm. 40), S. 148 f. 65 Katalog Hollstein und Puppel: Kunstauktion XL. Berlin, November 1928. S. 15 f.: 3 Briefe von Carl Blechen, 21 Briefe von Henriette Blechen, dies.: „Bestimmung ber meinen Nachlaß“; dies.: Gesuch an den Kçnig, 2 Briefe Bettina von Arnims, 36 Briefe an Wilhelm Brose, die sich auf den Ankauf und Nachrichten von Blechenschen Bildern beziehen, 91 Aufzeichnungen, Quittungen fr Ankufe usw. Blechenscher Bilder, 1 Brief Decker an Brose, 1 Brief Minutoli an Sachse, Xeller an Hotho. 66 Fricke: Theodor Fontane ber Karl Blechen (wie Anm. 14), S. 32. 67 Fontane: Tage- und Reisetagebcher (wie Anm. 40), S. 150.
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Akademie-Akten Fontane betreibt außerdem Quellenarchologie. Tagebuchnotiz am 7. Januar 1882: „In die Akademie der Knste, um auf Blechen bezughabende Aktenstcke durchzusehn.“ Zwei Tage spter dann der Tagebucheintrag: „Auf die Akademie; die Blechen-Akten fr meinen Blechen-Aufsatz extrahirt.“68 Zu diesen Extrakten darf man Blechens handschriftlichen Lebenslauf aus seiner Personalakte zhlen, ferner Blechens Diplom zur Ernennung als Professor der Klasse der Landschaftsmalerei, das Fontane mit den Namen aller Unterzeichner vom Minister bis zum Sekretr gewissenhaft abschreibt, dann Blechens Urlaubsgesuch fr seine Reise nach Paris und Akademie-Verfgungen zur Vertretung Blechens whrend seiner Krankheit. Fontane legte außerdem ein Verzeichnis der Blechen-Skizzensammlung aus dem Besitz der Akademie an und exzerpierte aus den Akten des „Vereins der Kunstfreunde im Preußischen Staate“. Einen Monat spter brachte er der Akademie entliehene Bcher zurck.69 Dabei kçnnte es sich um Ausstellungs- und Versteigerungskataloge, Sammlerinventare und vielleicht auch Kunstzeitschriften wie das Deutsche Kunstblatt gehandelt haben, denn von alledem sind Aufzeichnungen in die Materialsammlung zu Blechen eingeflossen. Fontane strebte trotz dieses enormen Sammeleifers keine Quellenbiographie im eigentlichen Sinne an. Charakteristisch fr sein biographisches Vorhaben ist vielmehr die aus seiner journalistischen Praxis bernommene Quellencollage. Die bei einem so meinungsfreudigen Autor erstaunliche Dominanz von Fremdtexten wie im Wilhelm Gentz-Portrt resultiert aus dieser Erfahrung. Etwa zwei Drittel dieser biographischen Skizze stammen aus der Feder des Biographierten selbst. Auch fr die Blechen-Biographie scheint eine hnliche dokumentarische Stoffdisposition geplant gewesen zu sein. Fremdtexte sollten den objektiven Kern der Biographie ausmachen. Peter Wruck hat in Fontanes autobiographischem Schreiben die Tendenz zur „Euphemisierung“ betont.70 In seinem biographischen Schreiben hat Fontane im Gegensatz dazu die Authentisierung durch Texte fremder Feder als Ansatz gewhlt und damit Glaubwrdigkeit und Wahrhaftigkeit als Biograph angestrebt. „Echt und zuverlssig“ solle eine Biographie sein, heißt es im Tagebuch von 1891.71 68 Fontane: Tage- und Reisetagebcher (wie Anm. 40), S. 148. 69 Fontane: Tage- und Reisetagebcher (wie Anm. 40), S. 154. Eintrag vom 9. Februar 1882: „Auf die Akademie zu Zoellner; Bcher abgegeben.“ 70 Vgl. Peter Wruck: Die „wunden Punkte“ in Fontanes Biographie und ihre autobiographische Euphemisierung. In: Fontane Bltter, Bd. 65 – 66 (1998), S. 61 – 71. 71 Fontane: Tage- und Reisetagebcher (wie Anm. 40), S. 256.
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Akzente Knstler-Biographien haben innerhalb der großen Gruppe der Biographik einige eigene Merkmale. Dazu gehçrt die Besonderheit, die der Jugend des Knstlers zukommt, sei es, dass durch frhreife knstlerische Leistungen des begabten Kindes sich das sptere Genie bereits ankndigt oder dass außergewçhnliche Erlebnisse und Erfahrungen Vorzeichen fr die sptere Bestimmung sind. Fontane fehlten solche Determinanten aus frhen Lebensußerungen Blechens oder seiner Umgebung. Er wollte die Darstellung des Lebenslaufs dem Knstler gleichsam selbst berlassen. Am Beginn sollte Blechens selbst verfasster Lebenslauf von 1835 stehen, mit dem sich dieser zur Aufnahme als ordentliches Mitglied der Akademie der Knste beworben hatte. Die Frage nach der Selbstwahrnehmung in einem solchen Dokument scheint Fontane nicht beschftigt zu haben. Den Blick auf Blechens Charakter sollte ergnzend dazu eine Selbsteinschtzung des Knstlers geben, dokumentiert in einem von Fontane exzerpierten Brief Blechens an Wilhelm Beuth, den Vorsitzenden des Vereins der Kunstfreunde in Preußen, in dem sich der Maler ber die mangelnde Anerkennung seiner „in’s innere Wesen der Kunst“ eingedrungenen knstlerischen Leistungen beklagt.72 Zur Knstler-Biographie gehçrt bis weit ins 19. Jahrhundert hinein auch, dass der Biograph sein biographisches Subjekt als Genie idealisiert. Diesem „beautifying for ever“ stand Fontanes Biographie-Rezept „mit Liebe geschrieben, aber niemandem zuliebe“73 gegenber. Seine Akzentsetzung war mehr – im weitesten Sinne – kunst- und sozialbiographischer Art. Er wollte widerlegen, dass Blechens Kunst „besonders im Romantizismus gesteckt habe. Nur wenig spricht dafr: Die Semnonen (aber kaum). Die Vampirjagd. Der einschlagende Blitz. Hiermit ist es so ziemlich erledigt“.74 Ausfhrungen dazu sind nicht berliefert. Mçglicherweise htte er sich hier auf das Thema der romantischen Ironie eingelassen, das er als Widerstreit von Begeisterung und Skepsis zehn Jahre zuvor im Willibald Alexis-Essay nur gestreift hatte75. Widerlegen wollte er auch den Vorwurf des Dilettantismus. „Vielleicht ist er in manchem berschtzt worden“, heißt es dazu, „aber darin auch unterschtzt, daß man immer tut, als wre er in einem halben Dilettantismus steckengeblieben.“76 Damit bezieht sich 72 Fontane: Karl Blechen (Fragment) (wie Anm. 5), Bd. XXIII/1, S. 546. 73 Theodor Fontane: Berlin vor fnfzig Jahren. In: GBA Wanderungen. Bd. 7. Das Lndchen Friesack und die Bredows. Berlin, 21992. Anzeigen und Rezensionen Fontanes, S. 368. 74 Fontane: Karl Blechen (Fragment) (wie Anm. 5), Bd. XXIII/1, S. 546. 75 Theodor Fontane: Willibald Alexis. In: HFA III/1, S. 424. 76 Fontane: Karl Blechen (Fragment) (wie Anm. 5), Bd. XXIII/1, S. 546.
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Fontane auf aktuelle Blechen-Kritik, wie sie Max Jordan77 in seiner dem Ausstellungskatalog vorangestellten CharakteriACHTUNGREstik Blechens und Ludwig Pietsch78 in seiner Ausstellungskritik in der Vossischen Zeitung gebt hatten. Dieser Auffassung, so ist zu vermuten, wollte Fontane die Originalitt Blechens, die dessen Zeitgenossen irritierte, die unkonventionelle Bildauffassung und poetische Malabsicht als das geniale Moderne entgegensetzen. Die umfangreichen Abschriften der Briefe Henriette Blechens und Bettina von Arnims weisen auf ein weiteres zentrales Thema, auf die von Fontane als „Frauenzank“ bezeichnete Auseinandersetzung zwischen den beiden Frauen, als Blechens Leben einem inneren Zerstçrungsprozess ausgeliefert war und die Meinungen der beiden Frauen ber eine mçgliche Therapie nicht nur ACHTUNGREauseinandergingen, sondern jede von ihnen auch den Anspruch erhob, allein darber entscheiden zu kçnnen. Zwei Frauen mit kmpferischem Instinkt, die nichts als das Wohl ein und desselben Mannes im Auge hatten. Ein wunderbares Thema, fast ein Roman. „Kunstenthusiastinnen“, notierte Fontane, „Humanittspriesterinnen wollen helfen, und die Ehefrau mißtraut dieser Gte. Daraus entstehen schlimme Szenen. Schilderung der Situation.“79 Dabei beabsichtigte er wohl, sowohl Bettinas beiden langen Briefe an den Kunsthndler Sachse als Vermittler zwischen den beiden Frauen als auch Henriette Blechens Briefe an Sachse fr sich sprechen zu lassen. Fontanes quellenbiographisches Streben nach Unparteilichkeit zeigt sich auch darin, dass er den vielen, immer kurzen Privatbriefen Henriette Blechens an Louis Sachse aus der letzten Lebenszeit Blechens einen selbstbiographischen Wert beilegte und sie orthographisch unkorrigiert in die Biographie aufnehmen wollte. Sie sollten ein authentischer Beleg fr das Charakterbild dieser Frau sein. Es bleibt ungewiss, ob sich Fontane in die Welt des Blechenpaares wirklich vertiefen wollte und ob er wegen der mageren Quellenlage in Bezug auf persçnliche Dokumente des Blechenpaares dazu berhaupt in der Lage gewesen wre. Er wird es sich offengehalten haben, wenn er zu den letzten manisch-depressiven Lebensjahren Blechens 77 „[…] das Unglck, zu spt in das Handwerkliche seiner Kunst eingefhrt worden zu sein, verkmmerte seine Erfolge“. Max Jordan in seinem Vorwort zum Katalog der Nationalgalerie: Vierzehnte Sonder-Ausstellung. Werke von Marie von Parmentier, Karl Blechen, Adolf Schrçdter und August Bromeis. [Berlin]1881, S. 15. 78 „Die unverschuldeten Versumnisse whrend jener Jugendjahre, in denen man am schnellACHTUNGREsten und leichtesten lernt, rchten sich. Er drang schwer zu einer vollen freien Beherrschung der Technik der Staffeleimalerei durch.“ Ludwig Pietsch: Die XIV. Sonderausstellung in der Nationalgalerie, II. In: Kçniglich privilegirte Berlinische (Vossische) Zeitung, Nr. 1, 1. Januar 1882, 1. Beilage. 79 Fontane: Karl Blechen (Fragment) (wie Anm. 5), Bd. XXIII/1, S. 531.
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formuliert: „Er war in diesen fnf Jahren ganz stumpf, im ersten Jahr ging es noch, und er nahm an kleinen Landpartien teil. Er sprach wenig oder gar nicht, dann und wann ,Hm, hm‘.“80 Der Akzent in diesem Zusammenhang sollte jedenfalls der Persçnlichkeit Henriette Blechens gelten. Dazu gibt es eine bereits ausformulierte Textpassage, charakteristisch fr ein erstes Entwurfsstadium Fontanes: Was Blechen schließlich bis zur Pulle trieb, ist schwer festzustellen, vielleicht erblich, vielleicht natrliche Neigung, vielleicht rger, Krnkung, Verstimmung. Zu dieser DreiheitmagallerleiGrundvorgelegenhaben,undunterdiesenGrndenwirdauch eine „unglckliche Ehe“ genannt. Da sich diese Versicherung in fast allen Briefen wiederholt, so mag was Wahres in der Tatsache gewesen sein. Aber das mçchte ich mit annhernder Gewißheit sagen: Wenn es so gewesen ist, so ist nicht die Frau dafr verantwortlich zu machen. Im Gegenteil, nicht nur aus der Handlungsweise der Frau, wie sie sich in ihrem Testament und anderen Dingen ausspricht, sondern namentlich auch aus etwa dreißig mir vorliegenden Briefen und Briefchen der Frau geht hervor, daß es eine sehr gute, sehr verstndige und, ich schreibe dies Wort mit allem Vorbedacht nieder, eine sehr edelmtige Frau gewesen ist, ganz schlicht, ganz einfach, ganz ohne „Hçhere Bildung“, aber von allergesundestem Menschenverstand, und nicht bloß von richtigem, sondern auch von feinem Gefhl.81
Zu dieser Festlegung drfte er die Hineinnahme von beispielhaften Briefen der Henriette Blechen geplant gehabt haben. Neben der quellenmßigen Dominanz wirken „illustrierende Zge“ des Autors, so wenig sie im ersten Entwurf an Umfang auch ausmachen, um so belebender. So wenn er mit seinem Faible fr humoristische AperÅus zum Schler der Landschaftsklasse Viktor Freudemann, Gewinner des ersten Reisestipendiums aus dem Blechen-Fonds, kurz meint: „Ein doppelt glcklicher Name, Viktor und Freudemann.“82 Oder wenn er von Henriette Blechen berichtet, dass sie Aktzeichnungen von Blechens Hand an Kunsthndler Sachse verschenkt hat, „aber erst, nachdem die untern unanstndigen Hlften mit der Schere weggeschnitten waren.“83 Auch an einen biographischen Exkurs war gedacht. Fontane wollte einige Blechen-Schler charakterisieren, „namentlich Gaetken“84. Bei ihm operierte er biographisch auffesterem Grund. Er hatte Heinrich Gaetke imHause seines Onkels August kennengelernt, mit ihm „vorbergehend“85 sein Zimmer dort 80 81 82 83 84 85
Fontane: Karl Blechen (Fragment) (wie Anm. 5), Bd. XXIII/1, S. 530. Fontane: Karl Blechen (Fragment) (wie Anm. 5), Bd. XXIII/1, S. 531. Fontane: Karl Blechen (Fragment) (wie Anm. 5), Bd. XXIII/1, S. 542. Fontane: Karl Blechen (Fragment) (wie Anm. 5), Bd. XXIII/1, S. 539. Fontane: Karl Blechen (Fragment) (wie Anm. 5), Bd. XXIII/1, S. 529. Theodor Fontane: Von Zwanzig bis Dreißig. „Mein Leipzig lob’ ich mir“, 6. Kapitel. In: HFA III/4, S. 277.
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geteilt, mçglicherweise in jenem Winter 1833, als Gaetke Blechens Schler wurde. Fontane scheint sich nicht ganz sicher gewesen zu sein, ob Gaetke ein Schler Blechens gewesen ist.86 Fontanes Vermutung aber stimmt. Heinrich Gaetke muss ein urwchsiger Typ gewesen sein, der sich bei seiner mndlichen Anmeldung Blechen in echtem Brandenburgisch als „Jtcke“ vorgestellt hat und als solcher in Blechens Schlerliste eingegangen ist. Blechens eigenhndig geschriebenes Schlerverzeichnis verzeichnet fr das Winterhalbjahr 1833/34 den 1912 Jahre alten Carl Ludwig Heinrich Jtcke, gebrtig aus Pritzwalk, der in diesen sechs Monaten die Akademie besucht hat, allerdings mit dem Zusatz: „kommt unregelmßig“.87 Diesen Gaetke scheint Fontane lebenslang bewundert zu haben. Sein Leben sei ein „Roman“88, und romanhaft liest sich alles, was er ber diesen „liebenswrdigen Landsmann“89 und sogenannten „Vetter“90 an anderen Stellen schreibt. Danach war Gaetke „talentiert fr alles“91, ihm glckte alles, er war „Inselkçnig“92, Patriarch, Knstler und Ornithologe auf Helgoland, teilte dort seine Zeit zwischen Staffelei, Vogeljagd und den Frauen, denn 86 Vielleicht war Fontane irritiert, dass das von ihm auch sonst benutzte Nachschlagewerk Georg Kaspar Nagler: Neues allgemeines Knstler-Lexikon, Mnchen 1835 – 1852, die Landschaftsmaler Georg Hçhn (Bd. 7, S. 21) und Carl Friedrich Schoebel (Bd. 17, S. 416) als Blechens Schler bezeichnet, von Gaetke aber nur angibt (Bd. 5, S. 287): „Gaetke, Heinrich, Landschaftsmaler zu Berlin, ein geschickter, jetzt lebender Knstler. Er malt verschiedene Ansichten, und çfter sind seine Bilder auch mit Vieh staffiert. Nhere Nachrichten sind uns nicht bekannt.“ Zu Gaetke auch noch Saur: Allgemeines Knstler-Lexikon. Die Bildenden Knstler aller Zeiten und Vçlker, Mnchen, Leipzig 2005. Bd. 47, S. 174: „ […] Lehre im Geschft fr Farben und Kunstutensilien seines Onkel August Fontane in Berlin, wo Gtke Kontakte zur Berliner Kunstakademie und evtl. auch Unterricht bei Karl Blechen hatte.“ 87 Akademie der Knste, Berlin. Historisches Archiv, Akte: Berichte ber die Landschafts-, Zeichen- und Malklasse, 1815 – 1867. PrAdK 422, Nr. 8, Bl. 33. Auch fr das Sommerhalbjahr 1834 ist Gaetke, nun als Carl Ludwig Heinrich Jttke aus Pritzwalk, als Blechens Schler eingeschrieben. Unter „Bemerkungen“, am Ende des Halbjahres eingetragen, heißt es: „ist ausgeblieben“. Derselbe Jttke wird noch einmal im Wintersemester 1834/35 gefhrt, aber in der Rubrik „Bemerkungen“ als „ausgeschieden“ bezeichnet (Nr. 8, Bl. 37). Im April 1835 ist Jttke dann von Blechen als „abgegangen“ vermerkt (Nr. 193, Bl. 35). 88 Fontane: Von Zwanzig bis Dreißig (wie Anm. 85). In: HFA III/4, S. 278. 89 Theodor Fontane: Die Berliner Kunstausstellung 1860. In: HFA III/5, S. 464. 90 Theodor Fontane an Martha Fontane, 25. Juli 1891. In: HFA IV/4, S. 138. Zum Verwandtschaftsverhltnis vgl. Albert Guthke: Fontane und Fontane-Verwandte in der Prignitz 1804 – 1871. In: Prignitz-Forschungen 1, Pritzwalk 1966, S. 95 ff. 91 Fontane: Von Zwanzig bis Dreißig (wie Anm. 85). In: HFA III/4, S. 278. 92 Fontane: Von Zwanzig bis Dreißig (wie Anm. 85). In: HFA III/4; ebenso im Brief an seine Tochter Martha (wie Anm. 90).
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seine „Spezialitt“ war das „Erotische“93, kurz – so Fontane – ein „Mensch zum Verlieben“94. Klar, dass ein solches Kaliber ein Fontane-Thema war und Anlass zu einem biographischen Exkurs geben sollte, hnlich wie 1860 in seiner Berliner Akademie-Ausstellungskritik, als ein Seebild Gaetkes ausgestellt war, wir zwar nichts ber das Bild, aber sehr viel ber Gaetkes Leben erfahren.95 Warum Fragment geblieben? Fontane leistete es sich, das angefangene Werk beiseite zu legen. Er scheint es auch nicht mehr hervorgeholt zu haben. War die Individualitt Blechens, die Quelle seines Ingeniums fr ihn nicht begreifbar? Empfand er, dass ihm dieses Leben nicht zu einer geschlossenen Einheit werden kçnne, ihm nicht mehr mçglich sei als eine additive Behandlung von Text und Kontext? Es gibt nirgends einen Hinweis, dass Fontane sein biographisches Vorhaben als gescheitert angesehen hat. Gescheitert war zwar sein erster Versuch, fr einen Vorabdruck einen Verleger zu finden.96 Blieb aber deshalb das Nichtvollendete unvollendet liegen? Oder war die Vollendung des Nichtvollendeten nur zum zweiten Mal aufgeschoben? Bei der Spurensuche fllt auf, dass Fontane im Februar 1883, ein Jahr nachdem er das Blechen-Manuskript beiseite gelegt hatte, Rudolf Lindau in Berlin besucht. In einem posthum verçffentlichten Aufsatz Fontanes ist dieser Besuch geschildert. Lindau war passionierter Helgoland-Reisender. Ob Fontane davon gewusst oder gehçrt hat, muss dahin gestellt bleiben. Beim Stichwort „Helgoland“ stellt Fontane – fast unvermittelt – die Frage: „Kennen Sie dort Heinrich Gaetke, den Inselpatriarchen, den Seemaler?“ „Gewiß. Er ist mein guter Freund. Der schçnste Greis, den ich kenne. O, ich muß Ihnen sein Bild zeigen.“ So beginnt ein lngerer Meinungsaustausch ber Gaetke. Den Namen Blechens erwhnt Fontane in diesem Text nicht. Weitere acht Jahre spter plant der inzwischen 71jhrige Fontane von Fçhr aus eine berfahrt nach Helgoland. Seiner Tochter Mete schreibt er: „In Helgoland will ich meinen Vetter Heinrich Gaetke, den ,Inselkçnig‘ besuchen, den ich seit beinah 60 Jahren nicht gesehn habe; damals war er Malerbengel, jetzt erste Obrigkeit und berhmter Ornithologe, dabei etwas 93 94 95 96
Theodor Fontane: Rudolf Lindau. Ein Besuch. In: HFA III/1, S. 555. Fontane: Die Berliner Kunstausstellung 1860 (wie Anm. 89), S. 463. Fontane: Die Berliner Kunstausstellung 1860 (wie Anm. 89), S. 463 f. Theodor Fontane an Julius Großer, 22. und 31. Januar 1882. In: HFA IV/3, S. 175.
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Brigham Young.“97 Aus Helgoland wurde jedoch nichts. „[…] es ist mir all dergleichen zu umstndlich und langweilig“, schreibt er seiner Frau Emilie, und: „an nichts nehme ich mein Alter so sehr wahr, als an dieser Art von Interesselosigkeit. Nichts verlohnt sich mehr.“98 Wir kçnnen nicht wissen, ob Fontane auf dem Umweg ber Helgoland und dem altgewordenen Gewhrsmann Gaetke noch einmal zu Blechen zurckgefunden htte. Weitere Spekulation scheint mßig. Denkbar aber ist, dass Fontane bei einer vierten Auflage des Wanderungen-Bandes Das Oderland wie schon bei der dritten Auflage (1879) „die erwnschte Gelegenheit“ wahrgenommen htte, weitere Kapitel, „die dem Oderlande“ seinem „Stoffe nach angehçren“, hinzuzufgen. Dafr spricht das mit Tinte beschriebene Blatt „Neue Convolute fr die Nachtrge zu Band I., II. III. und IV. der,Wanderungen‘.“mit dem Selbsthinweis: „Zunchst ist in jedem Convolut nur kurz angegeben, was, bei neuen Auflagen, in diese 4 Bnde noch hinein soll.“ Dazu am Rand der Marginalzusatz in Bleistift: „Plaue und Karl Blechen liegen im kl. Schrank.“99 Zu einer vermehrten Auflage des zweiten Bandes der Wanderungen kam es indes nicht mehr. Denkbar ist ebenso, dass Teile des Blechen-Konvoluts in das 1882/1883 konzipierte „4bndige Parallelwerk“ zu den Wanderungen, den Geschichten aus Mark Brandenburg, einfließen sollten. „Dreiviertel oder mehr“ habe er dazu bereits „glcklich beisammen“, heißt es am 4. November 1883.100 Unter den Vorarbeiten befinden sich Aufzeichnungen, in denen an zwei Stellen auch Blechen genannt ist. In der Zusammenstellung „Dichter, Gelehrte, Knstler in Mark Brandenburg“ sollte er nicht nur kursorisch behandelt werden.101 Dieses groß gedachte Vorhaben geriet in den Schatten der zunehmend Zeit und Krfte zehrenden Romanproduktion. So blieb auch das mit viel Engagement Zusammengetragene ungewollt Fragment – Tribut an die Geschichte einer dichterischen Versptung.
97 Theodor Fontane an Martha Fontane, 25. Juli 1891. In: HFA IV/4, S. 138. 98 Theodor Fontane an Emilie Fontane, 21. August 1891. In: Emilie und Theodor Fontane, Der Ehebriefwechsel 1873 – 1898. Hg. von Gotthard Erler. Berlin 1998. Bd. 3, S. 541. 99 TFA, Bestand: Hs 1959:133. Das Blatt wird nach 1881/82 datiert. 100 Theodor Fontane an Karl Zçllner, 4. November 1883. In: HFA IV/3, S. 290. 101 Theodor Fontane: Entwrfe, Plne und Materialsammlungen aus dem Nachlaß. In: GBA Wanderungen. Bd. 7. Das Lndchen Friesack und die Bredows. 1992, S. 132 u. 133.
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Fontanes virtuelle Blechen-Sammlung So aber, wie uns Carl Blechens Bildwerke bis heute geblieben sind, so ist auch Fontanes biographisches Projekt trotz Abbruchs in einem sehr spezifischen Fokus zur jederzeit greifbaren Gestalt geworden. Dies nmlich, was wohl jeder von uns schon einmal zum heimlich eigenen Kunstbesitz und Genuss mit einem erdachten, tiefen Griff in die Schtze der Welt ertrumt hat, dies war auch Fontanes Traum, als er Blechens Bildwelt um sich versammelt sah. Wenn er „fr sich persçnlich“, so heißt es im Textfragment, fr seine „Galerie“ oder seinen „Salon“ – auch das nur ertrumt – eine Auswahl zu treffen htte, dann wrde er „aus der Reihe der großen und grçßeren Bilder die folgenden whlen“:
1. Semnonen
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2. Scholastica
3. Teufelsbrcke
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4. u. 5. Mittag und Abend in der rçmischen Campagna
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6. Waldlandschaft mit Durchblick auf ferne Stadt und Kirche
7. Schloßturm zu Heidelberg
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8. Assisi
9. Badende Mdchen im Terni-Park
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10. Blick aus dem Posilipp
11. Schlafender Faun
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12. Die Winterlandschaft
Damit aber nicht genug. Fontane dachte sich ein „Wohnzimmer“ hinzu, notwendigerweise ein wesentlich grçßeres als das ihm eng-vertraute, und whlte dafr „kleine und ganz kleine“ Formate aus:
1. Der Fuchs vor seinem Bau
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2. Das Walzwerk bei Eberswalde
3. Est est est
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4. Non dubitate
5. Ein Bauernjunge, der in den Schmutz gefallen
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6. Ein Bauernjunge, der eben in das Schulhaus tritt
7. Teufelsbrcke (Skizze)
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8. Treppen aus einem Gewçlbe ins Freie fhrend
9. Blick ber Dcher
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10. Mdchen am Brunnen
Zu „tglicher Freude“ sollten ihm diese Bilder werden. Und weil er ber den Notizen nun schon einmal auf den Flgeln seiner Empfindungen davongetragen worden war, entzog er der „Galerie“ den „Blick vom Posilipp“ und den „Schlafenden Faun“ und verleibte beide Bilder zusammen mit noch weiteren Blttern seinem „Wohnzimmer“ ein. „Einige ganz kleine, nur handgroße Skizzen italienischer und mrkischer Landschaft“ sollten das sein. Fontane nennt sie nicht, und so mag hier unsere Phantasie an die Stelle der seinen treten: Was uns dann vor Augen steht, sind die vom gleißenden Sonnenlicht des Sdens durchstrçmten Sepiazeichnungen aus dem Amalfi-Skizzenbuch und die kleinformatigen lskizzenimpressionen italienischer Landschafts- und Himmelsphnomene. Zu Blechens Zeit musste solche Kunst auf Ablehnung stoßen. Fontane indes bewunderte den Meisterskizzierer Blechen gerade wegen dessen „Gabe des mit ein paar Strichen Festhaltens, des Erkennens und Treffens des charakteristischen Punktes in der Landschaft“. Die „entzckendACHTUNGREsten Sachen“, so sah es Fontane, seien unter den zahllosen, in beinahe tglicher Produktion entstandenen kleinformatigen Skizzen zu finden.102 102 Alle Zitate in diesem Absatz: Fontane: Karl Blechen (Fragment) (wie Anm. 5), Bd. XXIII/1, S. 539.
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Betrachten wir diese virtuelle Bildergalerie und Fontanes Enthusiasmus in ihrer Mitte aus einiger Distanz, so fllt auf, dass die biographische Absicht, den Maler, Leben und Werk, aus dessen Zeit heraus zu beurteilen, im Angesicht des Werkes sehr rasch verblasste. Fontane reagierte darauf – ist etwas anderes berhaupt mçglich? – mit dem durch zeitgençssische Sehgewohnheiten geprgten Blick. Sein Bewertungsvokabular, diese auch sonst von ihm verwendeten immer gleichen „schçn“, „hbsch“, „entzckend“, „interessant“, „wundervoll“ usw. haben zwar nur begrenzten Erkenntniswert, wenn man der Substanz seiner Kunstbetrachtung auf die Spur kommen mçchte. Doch wirkt die bloße Zusammenstellung der von ihm notierten Bildfavoriten mehr fontanesch als blechensch. Kçnnte Fontane dies selbst bemerkt haben? Denkbar, aber wir wissen es nicht. Wir wissen auch nicht, ob Blechen Fontanes Bildauswahl zugestimmt oder im Gegenteil, was fr den Biographen von grçßtem Gewicht sein musste, mit einem viel lteren, anders gewendeten Blick geurteilt htte. Die Beziehung des Malers und seines Biographen zum knstlerischen Moment des Anekdotischen oder das je eigene Verhltnis zum Humoristischen, fr Fontane stets wesentliche Stilmittel und durchaus persçnlichkeitskonform, diese Seiten des Schaffens kçnnten fr Blechen, gerade auch vor dem Hintergrund seines wenig geglckten und – gemessen an Fontane – sehr kurzen Lebens, ganz andere Qualitten gehabt haben. ber Licht und Farben Italiens htten sich beide wohl noch leicht verstndigt, aber schon bei der Rckwirkung von Glanz und Schatten arkadischer Landschaft auf das Individuum in seiner Verlassenheit, abzulesen an vielen Italienbildern Blechens, wre dieser Biograph in Schwierigkeiten geraten.Nichtzupsychologisieren,war ja auch erklrtermaßen sein Vorsatz. Und „Der Fuchs vor seinem Bau“? War er auch fr Blechen so „wundervoll“ wie fr Fontane? Der Fuchs als Symbol fr jene Pfiffigkeit, die sich im Ernstfall aus jeder Schlinge herauswindet, zu Fontanes Zeiten eine gutpreußische Metapher, auch wenn sie in Unwiederbringlich am grflichen Tisch im Blick auf La Fontaines Fabel eher ins Bild eines Dpierten gerckt wird. Aber Fontane und seine Leser wussten ja, wie die Sache mit dem Preußenfuchs und dem Dnenstorch am Ende ausgegangen ist. Begngen wir uns also, gerade so wie Fontane, mit den Bildern selbst. Sie sehen zu drfen, heißt der Sterblichkeit ihres Schçpfers enthoben zu sein. Und sie mit den Augen von heute sehen zu kçnnen, beschreibt die nie endende Freiheit, sich ein solches Werk immer aufs neue anzuverwandeln.
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Abbildungsnachweise S. 157
1. Das Semnonenlager. Blick von den Mggelbergen bei Kçpenick, gegen Sden. Staffage: Semnonen rsten sich zum Aufbruch gegen den Andrang der Rçmer, 1828 l auf Leinwand, 126 cm x 200 cm National-Galerie Berlin, Kriegsverlust
Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin
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2. Das Kloster Santa Scolastica bei Subiaco, um 1832 l auf Leinwand, 63,4 cm x 51,5 cm Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, Inv.-Nr. 2590
Staatliche Kunsthalle Karlsruhe
3. Bau der Teufelsbrcke, um 1833 l auf Leinwand, 77,6 cm x 104,5 cm Bayerische Staatsgemldesammlungen, Neue Pinakothek Mnchen, Inv.-Nr. L. 1039 Leihgabe der Bundesrepublik Deutschland
Bundesrepublik Deutschland, Bundesamt fr zentrale Dienste und offene Vermçgensfragen, Berlin. Foto: BStGS, Mnchen
S. 159
4. Der Mittag. Blick von Civita Castellana in die Ebene und auf den Monte Soracte, 1830 l auf Leinwand, 104 cm x 139 cm National-Galerie Berlin, Kriegsverlust
Bildarchiv Preußischer Kuturbesitz, Berlin
5. Der einbrechende Abend. Aus der Umgebung Narnis, um 1830 National-Galerie Berlin, Kriegsverlust l auf Leinwand, 116 cm x 167 cm
Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin.
S. 160
6. Waldlandschaft mit Durchblick auf ferne Stadt und Kirche (Waldweg bei Spandau), um 1835 l auf Leinwand, 73 cm x 101,5 cm SMB, Nationalgalerie, Inv.-Nr. A I 458
Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin. Foto: Jçrg P. Anders, Berlin
7. Der zersprengte Schloßturm zu Heidelberg, unvollendet, 1830/32 l auf Leinwand, 75 cm x 87 cm National-Galerie Berlin, Kriegsverlust
Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin.
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8. Blick auf Assisi, um 1833 l auf Leinwand, 97,3 cm x 146,5 cm Bayerische Staatsgemldesammlungen, Neue Pinakothek Mnchen, Inv.-Nr. 10338
Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin. Foto: BStGS, Mnchen
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9. Partie aus dem Park von Terni mit badenden Mdchen, 1835 l auf Leinwand, 107 cm x 77 cm SMB, Nationalgalerie, Inv.-Nr. A I 920
Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin. Foto: Jçrg P. Anders, Berlin
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10. Blick vom Posilipp auf den Golf von Neapel, um 1832 l auf Leinwand, 48 cm x 72,5 cm Privatbesitz, Berlin
Privat, Berlin
11. Schlafender Faun im Schilf, um 1827 l auf Holz, 24 cm x 25 cm SMB, Nationalgalerie, Inv.-Nr. F 561, Blechen-Nr. 648
Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin. Foto: Jçrg P. Anders, Berlin
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12. Winterlandschaft bei Vollmond, um 1836 l auf Holz, 39 cm x 53 cm Museum fr Kunst und Kulturgeschichte der Hansestadt Lbeck, Inv.-Nr. 1966/44 Leihgabe der Bundesrepublik Deutschland
Bundesrepublik Deutschland, Bundesamt fr zentrale Dienste und offene Vermçgensfragen, Berlin
1. Fuchs, vor seinem Bau liegend, um 1832 l auf Leinwand, 29 cm x 37 cm Saarland Museum, Stiftung Saarlndischer Kulturbesitz, Saarbrcken, Inv.-Nr. NI 3233 Leihgabe der Bundesrepublik Deutschland
Bundesrepublik Deutschland, Bundesamt fr zentrale Dienste und offene Vermçgensfragen, Berlin
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2. Walzwerk bei Neustadt-Eberswalde, nach 1830 l auf Holz, 25,5 cm x 33 cm SMB, Nationalgalerie, Inv.-Nr. NG 763
Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin. Foto: Jçrg P. Anders, Berlin
3. Est, est, est! Mi pare io son’ adesso in Montefiascone (Trunkener Mçnch), 1832 l auf Pappe, 15,5 cm x 26 cm SMB, Kupferstichkabinett, Inv.-Nr. SZ 641
Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin. Foto: Jçrg P. Anders, Berlin
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4. Non dubitate, 1829 l auf Papier, 8,6 cm x 10,6 cm SMB, Kupferstichkabinett, Inv.-Nr. SZ 631
Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin. Foto: Jçrg P. Anders, Berlin
5. Ein Bauernjunge, der in den Schmutz gefallen ist (Weinender Schuljunge), um 1827 l auf Holz, 12,2 cm x 14,3 cm SMB, Kupferstichkabinett, Inv.-Nr. SZ 647
Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin. Foto: Jçrg P. Anders, Berlin
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S. 166
Heide Streiter-Buscher
6. Ein Bauernjunge, der eben in das Schulhaus tritt (Der Schulgang), um 1827 l auf Holz, 11,5 cm x 8,5 cm Privatbesitz Berlin, verschollen Abb. aus: Paul Ortwin Rave, Karl Blechen. Leben. Wrdigungen. Werk. Nationalgalerie Berlin 1940, S. 233
7. Bau der Teufelsbrcke (Skizze), um 1833 l auf Papier, auf Holz, 15 cm x 22,5 cm Sammlung Oskar Reinhart, Winterthur
Bildarchiv Foto Marburg
S. 167
8. Treppe, aus einem Gewçlbe ins Freie fhrend, 1829 l auf Holz, 17 cm x 21 cm National-Galerie Berlin, Kriegsverlust
Bildarchiv Foto Marburg
9. Blick ber Dcher in einen Garten, um 1833 l auf Papier, auf Pappe, 20 cm x 26 cm SMB, Nationalgalerie, Inv.-Nr. NG 765
Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin. Foto: Jçrg P. Anders, Berlin
S. 168
10. Mdchen am Brunnen, 1828/29 Bleistift mit Sepia, 13,9 x 20,1 cm SMB, Kupferstichkabinett, Inv.-Nr. NG 122 (Rave)
Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin Im Katalog 1881 ist „Mdchen am Brunnen“ unter Nr. 364 als lbild (Eigentmer: Frick) verzeichnet. Bei Rave (1940) nicht aufgefhrt. Die Zeichnung war mçglicherweise eine Vorstudie zum offenbar verschollenen lbild.
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Das zurckgehaltene Ich Biographik und Autobiographik in Fontanes Von vor und nach der Reise
Walter Hettche Theodor Fontanes Prosaband Von vor und nach der Reise, 1894 im Verlag seines Sohnes Friedrich erschienen, ist von der Forschung bisher kaum beachtet worden. Das mag mit der unklaren Gattungszugehçrigkeit zusammenhngen, die Fontane schon im Untertitel des Bandes betont. Erst nach lngerer berlegung hat er sich fr den hinreichend vagen Untertitel „Plaudereien und kleine Geschichten“entschieden, und in der Tat handelt es sich weder um eine Sammlung von Novellen oder Erzhlungen noch um ein Reisebuch im engeren Sinn. Selbst im Verlag Friedrich Fontane & Co. war man offenbar ratlos, welcher Gattung der Sammelband zuzuordnen sei. So fehlt in der Bogennorm der sonst bliche Kurztitel; wo man in diesem Fall also nach alter Gepflogenheit „Reise“, „Plaudereien“ oder „Geschichten“ gesetzt htte, steht: „Th. Fontane, Novellen“. Doch auch diese Bezeichnung trifft nur auf einen kleinen Teil der Texte zu; Auf der Suche oder gar den einleitenden Essay Modernes Reisen wird man schwerlich als Novellen klassifizieren kçnnen. Die Mischung aus Journalismus und Erzhlliteratur, aus Essay und weitgehend handlungsloser „Plauderei“ unterluft die Rezeptionsgewohnheiten des zeitgençssischen Lesepublikums, das linear und teleologisch erzhlte ,spannende‘ Roman- und Novellenhandlungen erwartete und mit so disparaten Sammlungen wie Von vor und nach der Reise ebenso wenig anfangen konnte wie beispielsweise mit den hnlich organisierten Sptwerken Wilhelm Raabes. Selbst die professionellen Kritiker haben den Eigenwert des Bandes verkannt; in den zeitgençssischen Rezensionen wurden die Erzhlungen und Essays eher als Unterhaltungslektre fr Sommerfrischler denn als ernstzunehmendes und ber die Dauer einer Reise fortwirkendes literarisches Kunstwerk eingeschtzt.1
1
Vgl. dazu den Abschnitt „Wirkung“ in GBA Das erzhlerische Werk. Bd. 19. Von vor und nach der Reise. Hg. von Walter Hettche u. Gabriele Radecke. 2007, S. 181 – 189. – Zitate aus diesem Band werden knftig direkt im Text unter Angabe der Seitenzahl nachgewiesen.
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Mit dem Thema „Biographik und Autobiographik“ hat Von vor und nach der Reise auf den ersten Blick wenig zu tun. Zwar sind einige der hier versammelten Prosatexte deutlich autobiographisch grundiert, sei es, dass Fontane eigene Reiseerfahrungen verarbeitet, sei es, dass er auf seine eigenen Abneigungen und Passionen anspielt wie im Gesprch ber die Empfindlichkeit gegen Zugluft oder mit der Erwhnung des leidenschaftlichen Briefeschreibens in Onkel Dodo (S. 61 f., S. 69), aber als genuin autobiographische Prosa kçnnen die Texte gewiss nicht gelten. Auch Biographisches, wie man es aus den Wanderungen, aus Von Zwanzig bis Dreißig oder aus dem Scherenberg-Buch kennt, findet sich in Von vor und nach der Reise allenfalls am Rande. Warum also ausgerechnet dieses Buch, wenn es um Fontane als Biograph geht? Die Reise ist eine traditionelle Metapher fr das Leben, und vieles spricht dafr, dass auch die Reisen in Fontanes Sammelband eine solche metaphorische Funktion haben. Reiseberichte im strengen Sinne sind die 13 Prosastcke ebensowenig, wie es etwa Heines Reisebilder sind. Viel eher als um Reisewege und Reiseziele, um Sehenswrdigkeiten und Lokalstudien geht es in Von vor und nach der Reise um Biographisches, um eigenwillige Lebensgeschichten und Lebenswenden. Allerdings handelt es sich bei den Trgern der Handlung in aller Regel nicht um historische Personen, sondern um fiktive Figuren.2 Die Termini „Biographik“ und „Autobiographik“, die hier bewusst anstelle der Begriffe „Biographie“ und „Autobiographie“ verwendet werden, sollen verdeutlichen, worauf es ankommt: nicht so sehr auf die datengesttzte Tatschlichkeit, die ,Realitt‘ der Lebenslufe, sondern vielmehr auf die Verfahren des biographischen (und autobiographischen) Schreibens selbst. Dabei spielt es nur eine sekundre Rolle, ob der Gegenstand der Biographik historisch oder erfunden ist: gleichgltig, ob es sich um den rtselhaften „alten Wilhelm“ in Fontanes gleichnamiger Erzhlung handelt oder um den Kaiser mit demselben Namen; sprachliche Konstrukte sind erzhlte Biographien in jedem Fall. Dass Biographien wie Autobiographien jenseits und außerhalb der Sprache nicht zu haben sind, ist eine Binsenweisheit, und weil es sich bei diesen Gattungen immer um subjektive Artefakte handelt, eignet diesen Texten unabhngig von ihrem Gegenstand immer auch ein Element des Fiktionalen. Fontane hat sich bei Charakterisierung seiner fiktionalen Figuren zunchst am konventionellen Muster biographischen Schreibens orientiert. Die Figuren seines ersten Romans Vor dem Sturm werden nicht anders 2
Vgl. hierzu grundstzlich: Fotis Jannidis: Figur und Person. Beitrag zu einer historischen Narratologie. Berlin, New York 2004.
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eingefhrt als die historischen Prinzen, Maler und Generle in den Wanderungen oder die Tunnel-Mitglieder in Von Zwanzig bis Dreißig. Geburtsdaten werden genannt, die Schullaufbahn geschildert, markante Lebenswendepunkte hervorgehoben, und hnlich, wie Fontane auch fr die fiktiven Handlungsorte seiner Romane kleine Skizzen zeichnet, an die er sich bei der Beschreibung des Schauplatzes hlt, notiert er sich auch fr seine Figuren tabellarische Lebenslufe, die im Zuge der sprachlichen Ausarbeitung in eine erzhlte Biographie transponiert werden. Die Frage, wie der Erzhler (den Fontane noch mit dem Autor gleichsetzt) zu seinem Wissen ber die Biographie seiner Figuren gelangt ist, stellt sich Fontane zu diesem Zeitpunkt noch kaum. In seinem Sptwerk – zu dem Von vor und nach der Reise zhlt – erprobt Fontane neue Verfahren der Figurencharakteristik. Die von einem allwissenden Erzhler vorgenommene Charakteristik wird zunehmend als unrealistisch empfunden und zugunsten einer indirekten Verfahrensweise zurckgestellt. Wilhelm Scherer definiert sie in einer Notiz aus dem Jahre 1888 als eine solche, bei welcher man aus Worten, Gesinnungen, Thaten gewisse Eigenschaften und so den ganzen Charakter erahnen lßt. Der Autor bezeichnet also gar nicht direct und der Leser muß schließen – gerade wie wir im Leben verfahren, indem ein Jeder das Bild eines Menschen aus seinen Thaten, Worten, Neigungen sich entwirft.3
Die sehr moderne Erkenntnis, dass „das Bild eines Menschen“ das Produkt aus Eigen- und Fremdwahrnehmung ist, liegt auch Fontanes Verfahren der biographischen Konstruktion seiner Figuren zugrunde. Gerade die kurzen und relativ handlungsarmen Erzhltexte in Von vor und nach der Reise sind ideale Experimentierfelder zur Erprobung unterschiedlicher Methoden der Figurencharakteristik. So gestaltet Fontane in den Kurzerzhlungen Im Coup, Der Karrenschieber von Grisselsbrunn und Der alte Wilhelm Urszenen biographischer Konstruktion: Er lsst Figuren auftreten, die zunchst vçllig bioACHTUNGREgraphielos sind. In Im Coup sind es die beiden Hauptfiguren, die einander gnzlich unbekannt sind, in den beiden anderen Geschichten lassen die jeweiligen Erzhler den Leser an ihren biographischen Konstruktionsversuchen teilhaben. Die Erzhlung Im Coup handelt von einem „Herrn“und einer „Dame“, die einander zufllig im Damencoup eines Schnellzuges begegnen. Die junge Frau steigt kurz vor Abfahrt des Zuges zu einem ihr fremden alleinreisenden Herrn ins Abteil und zçgert mit den Worten: „Pardon […]. Ich 3
Wilhelm Scherer: Poetik. Mit einer Einleitung und Materialien zur Rezeptionsanalyse [1888]. Hg. von Gnter Reiss. Tbingen 1977, S. 156 f.
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vermutete ein Damen-Coup.“ (S. 27.) Doch die beiden Reisenden fgen sich ins Unvermeidliche, und whrend der Fahrt kommt man sich gesprchsweise so nahe, dass man am Ende zur gemeinsamen Auswanderung nach Amerika entschlossen ist und als verlobtes Paar das Coup verlsst. Der Erzhler beschrnkt sich in diesem zehn Seiten umfassenden Text auf die nçtigsten Informationen ber den Handlungsort und die Situation, in der sich die beiden Reisegefhrten befinden. Der berwiegende Teil der Erzhlung besteht aus autonomer direkter Figurenrede, die durch die vçllige Abwesenheit jeder Erzhlerrede gekennzeichnet ist; sogar auf die knappsten Inquit-Formeln wie „sagte er“ oder „antwortete sie“ verzichtet Fontane. Der Leser hat den Eindruck, dem Gesprch der beiden Figuren unmittelbar und in ,Echtzeit‘ zu folgen und mitzuerleben, wie die beiden einander ihre Biographien offenbaren. Zunchst sind es nonverbale Zeichen, aus denen der mnnliche Reisende Rckschlsse auf die Eigenschaften der Dame zieht: „Sie haben den Mut eines raschen Entschlusses gehabt, und ich bitte den Schluß daraus ziehen zu drfen, daß Sie viel gereist sind, in fremden Lndern; international, eine Dame von Welt.“ (S. 28.) Die angesprochene Dame geht den nchsten Schritt, indem sie im weiteren Verlauf des Gesprchs ihr Lebensalter preisgibt: „Uebrigens muß eine Dame von Welt mindestens dreißig sein. Und ich bin erst siebenundzwanzig.“ (S. 28.) Nun entwickelt sich ein spielerischer Informationsaustausch, in dessen Verlauf Vermutungen geußert und modifiziert und biographische Details mitgeteilt oder auch bewusst verschwiegen werden, was durch die rhetorische Figur der Aposiopese vermittelt wird. Die junge Dame setzt dazu an, dem Herrn den Anlass ihrer Reise zu offenbaren, aber sie bricht mitten im Satz ab: „Ich stehe nur auf dem Punkt …“ (S. 28). Der Zweck ihrer Reise verbirgt sich hinter den drei Auslassungspunkten; offensichtlich hlt sie den Zeitpunkt noch nicht fr gekommen, dem Herrn ihre augenblickliche Lebenssituation zu enthllen. berhaupt herrscht in dieser Erzhlung ein eigentmliches Schweigen ber ein ganz wesentliches biographisches Element, nmlich ber die Eigennamen der handelnden Figuren. In einem gewçhnlichen Eisenbahngesprch wird man sich nicht unbedingt namentlich bekanntmachen, aber um ein solches Alltagsgesprch handelt es sich hier ja gerade nicht: Die Figuren revidieren schließlich ihre ursprnglichen Plne und entscheiden sich fr einen gemeinsamen Lebensweg. Da wre es vielleicht nicht ganz uninteressant, zu erfahren, mit wem man es zu tun hat; aber mehr als ihre Berufe „governeß“ und „tutor“ und einige anekdotenhafte Erlebnisse wissen die beiden nicht voneinander. Weder der Erzhler noch der Leser kennt die Namen der Figuren, und es gibt in der gesamten Erzhlung keine einzige markierte Gesprchspause, von der
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man annehmen kçnnte, dass die Figuren sie zur gegenseitigen Vorstellung genutzt haben kçnnten. Unter dem Gesichtspunkt der erzhlten Handlung betrachtet ist diese Geschichte mithin alles andere als ,realistisch‘. Sieht man aber von der Forderung nach Plausibilitt des Erzhlten ab und nimmt das Erzhlverfahren, im Besonderen die Strategien der Konstruktion einer Figurenbiographie in den Blick, so zeigt sich, dass Fontane seine Figuren bei der gesprchsweisen Offenlegung ihrer Lebenslufe ganz „wie […] im Leben“ agieren lsst, so, wie es Wilhelm Scherer 1888 als doch offenbar zeitgemße Form der Figurencharakteristik beschrieben hat. Das gilt mehr noch fr die nur knapp fnf Seiten umfassende Erzhlung Der Karrenschieber von Grisselsbrunn. Es handelt sich um eine Rahmenerzhlung mit einer leicht autobiographisch gefrbten, nur wenige Zeilen langen Einleitung, deren Erzhler sich zur Sommerfrische in Norderney aufhlt. Dort tauscht man eines Abends im Freundeskreis zur Unterhaltung „selbsterlebte“ Geschichten aus, und der Baurat Oldermann erzhlt die Begegnung mit dem Karrenschieber, einem Hilfsbauarbeiter, der sich schon aufgrund seiner ußeren Erscheinung deutlich von den brigen Arbeitern unterscheidet und darum die Aufmerksamkeit des Binnenerzhlers weckt: Alles war ruhig, fleißig, geschickt, am geschicktesten aber ein rotblonder, schlanker, beinahe schçner Mann von Mitte dreißig, der sich, ohne daß er sich abgesondert oder den Aparten und Schweigsamen gespielt htte, doch ganz ersichtlich von dem Rest der Mannschaft unterschied. (S. 39.)
Die Kleidung des Karrenschiebers befindet sich „in desolatester Verfassung“ und steht in auffallendem Gegensatz zu dem „besondere[n] ,Schick‘“, der die Bewegungen und das Gesamtverhalten des Mannes auszeichnet. (S. 39.) Im Gesprch mit dem Polier beginnt die biographische Interpretation des BeobACHTUNGREachteten. Die Hnde des Karrenschiebers seien „keine Arbeitshnde“ (S. 40), heißt es, und da der Polier keine weiteren Ausknfte ber den Mann geben kann, bittet der Erzhler diesen zu einem Gesprch, um Nheres ber ihn zu erfahren. In diesem Gesprch kommt der Karrenschieber allerdings kaum zu Wort: Der Erzhler selbst konfrontiert den Hilfsarbeiter mit dem Konstrukt von dessen eigener Biographie: Sie gehçren einer anderen Gesellschaftsschicht an und die „Karre zu schieben“ ist Ihnen nicht an der Wiege gesungen worden. Sie sind aus einem guten Hause, haben Schulen besucht und sind dann frher oder spter gescheitert, mit Schuld oder ohne Schuld, sagen wir mit, das ist das Wahrscheinlichere. Spiel, Weiber, Wechsel, vielleicht falsche. Und dann war es vorbei und die Geduld erschçpft, und Sie hatten keine Familie mehr. Und so kam es, wie’s kam … (S. 41.)
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Dem Karrenschieber bleibt nur, diese Stze kopfnickend zu besttigen, und als er zu einer eigenen Erzhlung seines Lebenslaufs ansetzt, wird er nach wenigen Worten unterbrochen: „Ich weiß genug“ (S. 41), sagt der Binnenerzhler – und der Leser wird seinerseits glauben, dass die solchermaßen besttigte biographische Rekonstruktion der ,Wahrheit‘ entspricht. Es gibt jedoch keine fiktionsinterne Instanz, die das Erzhlte beglaubigen kçnnte. Wir erfahren ber den Binnenerzhler nur, dass er Baurat ist und Oldermann heißt; allenfalls gewinnt man aus seinen Worten und aus seinem etwas aufdringlichen Hilfsangebot – „Ich bin nicht reich, aber ich habe Verbindungen und denke, daß ich Ihnen helfen kann, wenn Sie Hilfe wollen“ (S. 41) – den Eindruck, dass er sich gern in anderer Leute Leben mischt.4 Andererseits ist ebenso denkbar, dass der Karrenschieber nicht ganz das unschuldige Opfer seiner armseligen Herkunft ist, als das er sich zu stilisieren beginnt, bis ihn der Baurat unterbricht: „Wir waren unserer neun; davon sechs auf Schulen und in der Armee. Der Vater konnte nicht mehr …“ (S. 41). Jedenfalls nimmt er das Untersttzungsangebot des Baurats nicht an; als dieser nach einigen Tagen die Baustelle wieder aufsucht, ist der Karrenschieber verschwunden. „Es war keine Spur von ihm zu finden. Wohin war er? In die neue Welt – oder weiter? …“ (S. 42). Die kurze Erzhlung spricht nicht nur vom wie auch immer verursachten Scheitern eines Lebenslaufs, sondern auch vom vergeblichen Versuch, aus Beobachtung und Gesprch die Biographie eines Menschen zu ermitteln. Die Leser wissen jedenfalls am Ende des Textes nicht mehr ber den Karrenschieber als zu Anfang – auch deshalb, weil in der publizierten Fassung der Schluss offen bleibt, mit Fragezeichen und drei Punkten, whrend in einem frheren handschriftlichen Entwurf noch angedeutet wird, der Karrenschieber kçnne in den Tod gegangen sein. Anders als in der publizierten Fassung denkt der Erzhler dort auch ber eine mçgliche Mitschuld am schlimmen Ende des Karrenschiebers nach: Ich wollte ihn retten aus seinem Elend und habe ihn sein Elend, das er bis dahin mnnlich trug, vielleicht erst recht fhlbar gemacht. Er empfand vielleicht mit einem Male den tiefen Fall. Und so hab ich den den ich retten wollte vielleicht in die Verbannung getrieben, vielleicht in den Tod. (S. 212.)
Eine vergleichbare Konstellation wird in der Erzhlung Der alte Wilhelm geACHTUNGREstaltet. Dort schildert der Ich-Erzhler, wie er in seiner schlesischen Sommerfrische einem alten Mann begegnet. hnlich wie im Fall des Kar4
So auch Eda Sagarra in ihrem Artikel zu Von vor und nach der Reise, in: FontaneHandbuch. Hg. von Christian Grawe u. Helmuth Nrnberger. Stuttgart 2000, S. 628.
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renschiebers versucht der Erzhler auch hier, aus der ußeren Erscheinung des Mannes, aus Gesprchen mit der Wirtin Frau Meergans und mit dem alten Wilhelm selbst dessen Biographie zu rekonstruieren. Der Erzhler vermutet, Wilhelm msse „bessre Tage gesehen“ (S. 131) haben, sei vielleicht gar ein verarmter Adliger, die Wirtin jedoch glaubt nicht an diese Theorie. Auch sie weiß nichts Genaues ber seine Herkunft; ihre Mitteilungen ber ihn sind durchsetzt von sprachlichen Signalen, die explizit und implizit eine erhebliche Unsicherheit und Unzuverlssigkeit des Gesagten markieren: „Ich weiß nicht“, „Vielleicht“, „ich glaub’ es nicht“, „glaub’ ich“, „der Frack und der Hut […] sollen ein Erbstck sein“, „Er hat auch mal, so viel hab’ ich gehçrt, eine kleine Baude gehabt“ (S. 131 f.). In jedem Fall handle es sich um einen „Ortsarmen“, der reihum von den Einwohnern des kleinen Dorfes beherbergt und bekçstigt wird und dafr kleine handwerkliche Gegenleistungen erbringt, und eben aus seiner handwerklichen Geschicklichkeit schließt Frau Meergans, dass er eher zu den einfachen Leuten gehçrt, denn „er hat bei seiner Arbeit ganz die Hantierung wie wir, die wir uns von Jugend an mit Axt und Spaten haben qulen mssen.“ (S. 131 f.). Der Erzhler, zu dessen „Untugenden“ nach eigener Aussage „auch ein Stck Eigensinn“ (S. 132) gehçrt, bezweifelt zunchst die Richtigkeit dieser Ausknfte, aber nach einer erneuten Begegnung mit dem alten Wilhelm ist auch er berzeugt, „daß ein paar bloße Zuflligkeiten mich irre gefhrt htten, und als der nchste Samstag zur Rste ging […], da wußt’ ich mit jeder erdenklichen Sicherheit, daß er wirklich nichts andres war als ein Ortsarmer“ (S. 134). Wie im Fall des Karrenschiebers stellt sich indessen auch hier die Frage, wie zuverlssig dieser Erzhler ist und wie plausibel seine Rekonstruktion der Biographie erscheint. Die so deutlich hervorgehobene „Sicherheit“ seines Wissens ber den Alten erscheint gnzlich unmotiviert, denn die wiederholte Beobachtung des alten Wilhelm hat dem Erzhler keinerlei neue Erkenntnisse gebracht. Der Erzhler reagiert also auf dieselben Informationen mit einander ausschließenden Interpretationen. Die Biographie des alten Wilhelm, das wird aus diesem Verfahren deutlich, ist ein Konstrukt, dessen Realittsgehalt nicht berprfbar ist – und zwar deshalb, weil die handelnden Figuren keine Existenz außerhalb des Textes haben. Zwar wird der Leser dazu neigen, sich der als endgltig und „sicher“ angebotenen Deutung des Erzhlers anzuschließen, aber es gibt in der Erzhlung außer dem unzuverlssigen homodiegetischen Ich-Erzhler keine Instanz, die eine eindeutige Entscheidung ber falsch oder richtig ermçglichte. Figurale Verfahren der Figurencharakteristik – also solche, bei denen die biographischen Informationen nicht von der Erzhlinstanz mitgeteilt werden, sondern von den Figuren selbst – sind immer ambivalent. Denn
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indem eine Figur sich ber eine andere ußert, charakterisiert sie nicht nur diese, sondern implizit immer auch sich selbst. Das lsst sich an dem IchErzhler in Der alte Wilhelm beobachten, der sich – hnlich wie der Baurat Oldermann im Karrenschieber – als etwas aufdringlicher Zeitgenosse zu erkennen gibt, der sich aber im Gegensatz zu Oldermann fr den Gegenstand seiner biographischen Spurensuche nicht aus menschenfreundlichen Motiven interessiert, sondern aus bloßer Neugierde. Zudem ist sein Umgang mit dem alten Wilhelm durch eine leicht berheblich wirkende Herablassung gekennzeichnet. So verweigert der Erzhler dem Angesprochenen das hçfliche Anredepronomen, als habe er es mit einem Domestiken zu tun: „Wollen wohl auch noch in die Kirche?“, sagt er, und als er ihn nach seinem Alter fragt, nennt er ihn gar „Alterchen“ (S. 130). Whrend solche Elemente indirekter Selbstcharakteristik in Der alte Wilhelm nur sporadisch vorkommen, ist die Figurendarstellung in der Erzhlung Nach der Sommerfrische ganz auf diesem Verfahren aufgebaut. hnlich wie in Im Coup hlt sich der Erzhler auch hier weitgehend im Hintergrund; die Figuren – das Ehepaar Gottgetreu – werden nicht vom Erzhler charakterisiert, sondern durch ihre Redeweise. Der weit berwiegende Teil des Textes besteht aus direkter Rede des Hofrats Gottgetreu, der nach der Rckkehr aus der Sommerfrische die einfache Lebensweise und gesunde Ernhrung, die er in Thringen gepflegt hat, auch zu Hause fortsetzen will (womit er schließlich grandios scheitert). Die figurale Charakteristik ist eine heikle Angelegenheit, und in der Feder eines Dilettanten kann sie leicht zu unfreiwilliger Komik fhren (wie in jenen Dialogen in trivialen Fernsehserien: „Dein Vater, der, wie Du weißt, seit fnf Jahren im Gefngnis sitzt, weil er, wie Du Dich erinnerst, drei Banken berfallen hat“). Fontane hat gerade in der Erzhlung Nach der Sommerfrische diese Form der Figurencharakteristik meisterhaft angewendet. Aus dem Redeschwall des Hofrats Gottgetreu erfahren wir, dass er preußischer Beamter ist und dass er diesen Beruf gerne ausbt. Allerdings will er Amt und Privatleben nach den heilsamen Erfahrungen der Sommerfrische strikt auseinACHTUNGREanderhalten: Ich will wieder ein bescheidenes Rad sein in der staatlichen Maschine, meinetwegen auch, wie die Malcontenten es ausdrcken, in der Alltags-Mhle des Hergebrachten und immer Wiederkehrenden, aber in meinem huslichen und privaten Leben, wenn Du mir ein Ausharren in dem eben citierten Bilde gestatten willst, mçcht’ ich nicht Rad in der Mhle, sondern ein in einer ewigen frischen Brise gehender Windmhl-Flgel sein. (S. 16 f.)
Die angestrebte Vermeidung des „immer Wiederkehrenden“ will ihm indessen nicht recht gelingen, wie aus seiner Suada deutlich wird – und zwar
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nicht aus dem Inhalt seiner Stze, sondern aus deren redundanter Weitschweifigkeit. Das Prinzip der Wiederholung, der immergleichen amtlichen Ttigkeiten hat auch Gottgetreus Redeweise infiziert, so sehr, dass er es offenbar selbst nicht bemerkt und sich des beamtenhaften Charakters auch des Privatmanns Gottgetreu nicht bewusst ist. Fnfmal wiederholt er, sie seien „nun also wieder da“ – eine inhaltlich ganz zwecklose Bemerkung; denn weder seine Frau, an die sich diese Stze richten, noch er selbst kçnnen beim Eintritt in die Wohnung ernsthaft gezweifelt haben, ob sie denn nun wirklich wieder zu Hause sind. Dreimal betont Gottgetreu, dass „schçne Wochen“ hinter ihnen liegen, ein Insistieren, das beim Leser den Verdacht erregt, es kçnne um die „Schçnheit“ des Urlaubs doch nicht so gut bestellt gewesen sein. Die Selbsttuschung Gottgetreus kulminiert in dem Satz: „Ich bilde mir ein, mich auf Przisierung eines Gedankens zu verstehn“ (S. 18) – es ist tatschlich eine Einbildung, denn von gedanklicher Przision sind seine geschwtzigen Ausfhrungen denkbar weit entfernt. Gottgetreu ist unfhig, seine Gedanken zu ordnen und knapp zu formulieren, was sich vor allem in einem parataktischen, additiven Satzbau niederschlgt: Der Hofrat reiht seine Aussagen in erster Linie mit der nebenordnenden Konjunktion „und“ aneinander, womit er den nachhaltigen Eindruck weitgehender Zusammenhanglosigkeit, oder besser: eines nur behaupteten, aber nicht wirklich hergestellten Zusammenhangs seiner Rede erweckt. Im brigen geriert er sich auch dann als typischer Bildungsbrger, wenn er seine Selbstcharakteristiken ber Zitate aus klassischen Schriftstellern vermittelt. Um zu betonen, dass er sich frisch und jung fhlt, muss er Chamisso zitieren („Ich fhle so frisch mich, so jung“; S. 18), wenn er die segensreiche Wirkung des Schlafes betont, braucht er ShakeACHTUNGREspeare als Gewhrsmann (S. 19), und wenn er sich sehnsuchtsvoll an die Urlaubstage in Thringen und an den Ausflug auf den Kickelhahn erinnert, geht es nicht ohne ein berhmtes Goethewort: „,Ueber allen Gipfeln ist Ruh‘. Ach, […] es war mir immer als ob ich es selber htte schreiben kçnnen.“ (S. 15.) Aber er hat es eben nicht selbst geschrieben. Versteckt autobiographische Elemente finden sich allenthalben in Von vor und nach der Reise. Es zeugt von Theodor Fontanes heiterer Distanz zu sich selbst, wenn er sich in manchen der Erzhlungen implizit selbstkritisch darstellt. Schon der etwas fragwrdige Erzhler in Der alte Wilhelm trgt autobiographische Zge, was durch die Erwhnung der Wirtin Meergans aus Krummhbel verdeutlicht wird, bei der auch Fontane mehrmals seine Sommerferien verbrachte. Wenige Leser wrden jedoch vermuten, dass auch der Hofrat Gottgetreu in Nach der Sommerfrische ein Verwandter des Autors ist. Fontane selbst hat diese Nhe zu seiner Figur in einem vermutlich an
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Marie von Wangenheim gerichteten Brief hergestellt, in dem er sich am 21. Oktober 1880 – elf Tage nach der Erstverçffentlichung der Erzhlung in der Vossischen Zeitung – fr Glckwnsche und Geschenke zum 30. Hochzeitstag bedankt: Letzten Sonnabend feierten wir unsren „30 jhrigen Krieg“ und im Laufe des Vormittags traf eine Kaiser-Wilhelmtorte ein, die die Aufschrift fhrte „An Gottgetreu und Frau.“ Nur Sie, hochverehrte Freundin, hatten, glaub ich, die Doppelkenntniß von „16. Oktober“ und „Gottgetreu“, und so steht die Thterschaft zu Ihren Hupten. Aber wie eine Lichtwolke. Und zu Fßen des Bildes […] kniet Ihr Th. F. alias Gottgetreu. (S. 241.)
Es ist nicht unwahrscheinlich, dass Fontane mit dem Beamten Gottgetreu seine eigene kurzfristige Existenz als Akademie-Sekretr karikieren wollte, die gerade vier Jahre zurcklag. Fontane hat in seinen Romanen und Erzhlungen zwar durchaus eigene Charakterzge preisgegeben, aber doch in aller Regel solche, die zeitgençssische Leser kaum als solche erkennen konnten. Seine hypochondrischen Anwandlungen, seine Briefschreib-Passion, seine Vorliebe fr die Sommerfrische in Schlesien sind zwar den heutigen Fontane-Lesern gelufig, aber das Publikum des 19. Jahrhunderts hatte davon in der Regel keine Kenntnis. Anders als in den Wanderungen oder den Theaterkritiken hat Fontane in seinen fiktionalen Werken nur sehr selten „Ich“ oder „Wir“ gesagt; allenfalls in Vor dem Sturm sind Rudimente solcher Ich-Erzhlinstanzen zu finden. Eigentliche Ich-Erzhler, die als handelnde Figur in ihrer eigenen Erzhlung vorkommen – in der Terminologie Grard Genettes die homodiegetischen oder autodiegetischen Erzhler –,5 gibt es in seinen Romanen nicht, und anders als Storm und Raabe hat er auch keine Rahmenerzhlungen geschrieben – eben mit der Ausnahme des Bandes Von vor und nach der Reise. Selbst hier rechtfertigt er sich im einleitenden Essay ber Modernes Reisen, wenn er „das bis hierher nach Mçglichkeit zurckgehaltene Ich“ (S. 10) in den Vordergrund treten lsst und eigene Reiseerlebnisse schildert. Wie bewusst ihm die Problematik dieses autobiographischen Erzhlens gewesen ist, zeigt ein Vergleich der berarbeiteten Fassung dieses Essays, wie sie in Von vor und nach der Reise abgedruckt wurde, mit dem Erstdruck von 1873, den Wolfgang Rasch entdeckt und 2002 in den Fontane Blttern publiziert hat. Die Erstpublikation in der Vossischen Zeitung ist ganz eindeutig der Gattung des Essays zuzuordnen, und dort hat die Subjektivitt des schreibenden Ich ihren legitimen Ort. Folgerichtig sieht Fontane auch 5
Vgl. Matias Martinez u. Michael Scheffel: Einfhrung in die Erzhltheorie. Mnchen 1999, S. 80 – 84.
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keine Veranlassung, sich eigens dafr zu rechtfertigen, dass er „Ich“sagt: Der Satz, in dem er sich fr die Einfhrung des bisher „zurckgehaltenen“ Ich entschuldigt, findet sich im Zeitungsabdruck noch nicht. Mit der Herauslçsung des Essays aus dem ursprnglichen Publikationskontext der Tageszeitung und der Zuweisung einer neuen Funktion als Einleitungstext fr eine Erzhlungssammlung, also ein grundstzlich fiktionales Werk, wird die Subjektivitt der Ich-Perspektive prekr und muss eigens gerechtfertigt werden. Sobald diese Rechtfertigung allerdings ausgesprochen wird, ist auch die Verwendung der Ich-Erzhlinstanz fr die brigen Texte der Sammlung sanktioniert, die durchwegs autobiographische Elemente enthalten, bis hin zur Skizze Auf der Suche, in der zwischen dem Ich-Erzhler und dem Autor Fontane kaum noch unterschieden wird. Es ist der einzige Text in der Sammlung, der gleich mit dem vorher „zurckgehaltenen Ich“ beginnt: „Ich flaniere gern in den Berliner Straßen“ (S. 97), eine Aussage, die ebenso auf den passionierten Spaziergnger Fontane zutrifft wie die Erinnerung an die Ausstellungen des Malers Eduard Hildebrandt, die Fontane selbst in der Kreuzzeitung besprochen hat, und wie das Zitat seiner „Platenschen Lieblingsstrophe“ (S. 103) am Ende des Aufsatzes. Doch obwohl die autobiographische Ausrichtung des Textes ganz eindeutig ist, hat Fontane auch hier auf dem Weg von der handschriftlichen Fassung ber den ZeitschriftenAbdruck bis zur Publikation in Von vor und nach der Reise noch einige autobiographische Spuren verwischt. Die Handschrift war noch als „Brief an den Herausgeber“ konzipiert und im Untertitel auch ausdrcklich so bezeichnet; sowohl die handschriftliche Fassung als auch der ZeitACHTUNGREschrifACHTUNGREtenACHTUNGREabdruck beginnen mit den Worten: „Ich soll Ihnen etwas schreiben, wenn es auch nur eine ,Wanderung‘ wre. Nun so sei’s denn […].“ (S. 224.) Im Erstdruck wird sogar das Periodikum erwhnt, in dem der Text im Mai 1890 erscheint. Der Erzhler kauft am Kiosk ein Exemplar der Freien Bhne fr modernes Leben, „[w]issend, daß dieser Aufsatz bestimmt sei, in einem der nchsten Hefte besagter Wochenschrift zu erscheinen […].“ (S. 226.) In der Buchausgabe kauft der Erzhler statt dessen die Fliegenden Bltter. Im handschriftlichen Entwurf nennt Fontane zwei Schriftstellerkollegen, die in der Gegend wohnen, nmlich Paul Lindau (Heydtstraße 1) und Friedrich Spielhagen (Hohenzollernstraße 12). Nach einem verworfenen Ansatz heißt es dort: Es gebot sich an Rckzug zu denken und [ich] trat ihn an nachdem ich zuvor noch zu den Fenstern des 2 Treppen hoch gegenber wohnenden Paul Lindau und dann beim Passiren der Hohenzollernstraße zu den Fenstern Friedrich Spielhagens aufgeblickt hatte. Zu den Wohnungen solcher Kollegen seh blick ich gern hinauf und habe dabei immer das Gefhl eines armen Adligen der sich
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freut, daß einer aus der Familie General geworden ist. Die befriedigte Standesehre muß aushelfen.6
Im Zeitschriften-Abdruck in der Freien Bhne kehrt Fontane zum ersten Entwurf zurck, tilgt aber die Erwhnung Spielhagens, denn der leise anklingende Neid auf den erfolgreichen Konkurrenten, der sich in diesen Zeilen zu erkennen gibt, war ihm offenbar doch allzuviel der Selbstpreisgabe. In der Freien Bhne lautet die Stelle: Ich trat ihn [den Rckzug] an, nachdem ich zuvor noch einen Blick nach dem gegenACHTUNGREbergelegenen Hause, Heydtstraße 1, emporgesandt hatte. Hier nmlich wohnt Paul Lindau, der, als er vor kaum einem Jahrzehnt in diese seine Chinagegenberwohnung einzog, wohl schwerlich ahnte, daß er, ach, wie bald, von einem Landsmann (auch Johannes Schlaf ist ein Magdeburger) in den Spalten dieser Zeitschrift als Stagnant und zurckgebliebener Chinesling erklrt werden wrde. (S. 228 f.)
Die Anspielung zielte auf den Aufsatz Prderie, den Schlaf am 12. Mrz 1890 in der Freien Bhne verçffentlicht hatte (Nr. 6). Nach der Verçffentlichung kamen Fontane Bedenken wegen dieser Passage, und er hat am 8. Mai 1890 brieflich bei Lindau um Entschuldigung gebeten. Lindau fhlte sich aber offenbar nicht gekrnkt, denn Fontane bedankte sich fr dessen Antwortschreiben am 10. Mai 1890: „Mir fllt dadurch ein Stein vom Herzen. Ich gab einem Wunsche Brahms nach und schrieb drauf los, blos um was zu schreiben; bei solchen Schreibereien, wenn man nicht die Geschicklichkeit hat, die Pfauenfeder fnf Minuten lang auf der Nasenspitze tanzen zu lassen, kommt aber nie was raus.“ (S. 305.) In der Buchfassung des Aufsatzes werden beide Kollegen nicht mehr erwhnt. Die deutlichste Referenz auf die eigene Lebenswirklichkeit in diesem Text hat Fontane indessen schon bei der Niederschrift gelçscht, aber doch so, dass sie noch erkennbar ist. Bei seinem Streifzug in der Gegend der Potsdamer Straße sieht der Erzhler auf einer Hauswand ein Kreide-Graffito. Im Buch lautet die Stelle: „Emmy ist sehr nett“ stand da zunchst ber drei Lngssteine hingeschrieben, und es war mir klar, daß eine schwrmerische Freundin Emmys […] diese Liebeserklrung gemacht haben msse. Parteiungen aber hatten auch hier das Idyllische bereits entweiht, denn auf einem Nachbarsteine las ich: „Emmy ist ein Schaf“, eine krnkende Bezeichnung, die sogar zweimal unterstrichen war. (S. 102.)
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Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Nachl. Theodor Fontane, St 1 – 80, Blatt 17.
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Theodor Fontane: Entwurfshandschrift zu Auf der Suche, Blatt 14.
Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz (Nachl. Theodor Fontane, St 1 – 80). Aufnahme: Theodor-Fontane-Archiv Potsdam.
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In der Handschrift heißt dieses Mdchen zwar auch Emmy, aber im Zuge der Niederschrift ist der Romanautor Fontane dem Flaneur in die Quere gekommen. Fontane schreibt nmlich: „Parteiungen mußten aber auch schon bis in diesen […] Kreis gedrungen sein, denn dicht daneben stand Eff“ – das streicht er sofort und korrigiert zu „Emmy ist ein Schaf.“7 Das gestrichene „Eff“ kann zu diesem Zeitpunkt – April/Mai 1890 – eigentlich nur der Ansatz zu dem weiblichen Vornamen „Effi“sein. In dem Romanprojekt, mit dem Fontane seit 1888/89 befasst war und das spter den Titel Effi Briest tragen wird, heißt die Hauptfigur zunchst noch „Betty von Ottersund“ oder „Betty von Pervenitz“.8 Die Handschrift zu Auf der Suche ist somit das frheste Schriftstck aus Fontanes Hand, in dem zumindest ansatzweise der Vorname „Effi“ dokumentiert ist. Das erste berlieferte Zeugnis, in dem Fontane den vollen Namen „Effi Briest“ erwhnt, ist sein Brief vom 28. Juli 1890 an Adolf Krçner, den Herausgeber der Gartenlaube, dem er seinen neuen Roman zur Publikation anbietet, „Titel: Effi Briest.“9 Von vor und nach der Reise ist auch als ein autobiographisch vielsagender Text zu lesen. Das Buch bietet einen Querschnitt durch beinahe das gesamte Prosawerk Fontanes: Aus frhen Kapitelbersichten geht hervor, dass es zunchst als eine in drei Abteilungen gegliederte umfangreiche Sammlung von Reisefeuilletons im Stil der Wanderungen gedacht war, deren erster Abschnitt nur wenige fiktionale Erzhltexte enthalten sollte. (S. 190 – 194.) Von diesem ursprnglichen Konzept ist in dem publizierten Band zwar kaum noch etwas brig geblieben, aber die Nhe zu den eigentlichen Reisebchern Fontanes ist allenthalben zu bemerken. Die Kriegsbcher bilden den Subtext zu der Erzhlung Eine Frau in meinen Jahren, der Essayist Fontane ist durch den einleitenden Aufsatz Modernes Reisen reprsentiert, Briefe spielen eine Rolle in Onkel Dodo und Nach der Sommerfrische, mit Auf der Suche enthlt die Sammlung einen im engeren Sinne autobiographischen Text, in dessen Handschrift Theodor Fontane in der Verschreibung „Eff[i]“ fr „Emmy“ berdies als der historische Autor fiktionaler Erzhlprosa gegenwrtig ist. Was Thomas Mann in seinem Roman Lotte in Weimar Goethe ber sein Werk sagen lsst, gilt auch fr dieses lange vernachlssigte Sptwerk Fontanes: „Lebensgeschichte ist’s immer.“10 7 Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Nachl. Theodor Fontane, St 1 – 80, Blatt 14. 8 Vgl. GBA Das erzhlerische Werk. Bd. 15. Effi Briest. Hg. von Christine Hehle. 1998, S. 392. 9 GBA Das erzhlerische Werk. Bd. 15. Effi Briest. 1998, S. 372. 10 Thomas Mann: Lotte in Weimar. Hg. von Werner Frizen. Frankfurt am Main 2003. (Große kommentierte Frankfurter Ausgabe Bd. 9.1), S. 356.
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„Mnner der Zeit“ Fontanes biographische Artikel fr Carl B. Lorck
Hubertus Fischer I. Wer sich mit dem Thema „Fontane als Biograph“ befasst, kann an den Mnnern der Zeit nicht vorbergehen.1 Es ist die grçßte Folge biographischer Darstellungen, die Fontane zu Lebzeiten geschlossen verçffentlicht hat. Sie erschien 1862 in dem gleichnamigen Werk mit dem Untertitel Biographisches Lexikon der Gegenwart im Verlag von Carl Berend Lorck in Leipzig, nachdem heftweise Einzelverçffentlichungen vorausgegangen waren.2 Dass zu dieser „Gegenwart“ auch ,schon‘ Frauen mit Biographien gehçrten, bercksichtigt der Titelnachtrag: Mit Supplement: Frauen der Zeit. Fontane hat vier von ihnen die Ehre der ,Lexikalisierung‘ erwiesen, einer Schriftstellerin, einer Sngerin und zwei Schauspielerinnen, deren eine, Lina Fuhr, ihr Portrt auf Fontanes Bitten eigenhndig vorgezeichnet hat.3 Ihr waren wohl auch die „Mrkischen Reime“ „Vom Fehrbelliner Schlachtfeld“ zugedacht: „Blumen, o Freundin, dir mitzubringen / Von diesem Feld, es wollt nicht gelingen.“4 Diesen vier stehen gleich vierzig „Mnner der Zeit“ gegenber, wobei sich ein englisches Brderpaar noch einen Artikel teilen muss.5 Auf einzelne kommen wir zurck. 1
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Mnner der Zeit. Biographisches Lexikon der Gegenwart. Mit Supplement: Frauen der Zeit. Leipzig: Verlag von Carl B. Lorck 1862. Die einzelnen Artikel werden mit den zugehçrigen Ziffern, unter denen sie Fontane im Biographischen Lexikon verçffentlicht hat, zitiert. Vgl. Roland Berbig unter Mitarbeit von Bettina Hartz: Theodor Fontane im literarischen Leben. Zeitungen und Zeitschriften, Verlage und Vereine. Berlin, New York 2000, S. 190. Theodor Fontane an Lina Fuhr, Berlin, 18. August 1860. In: HFA IV/2, S. 7. – Theodor Fontane an Lina Fuhr, [Berlin] 25. August 1860. In: HFA IV/2, S. 7 – 8. Mrkische Reime. 2. Vom Fehrbelliner Schlachtfeld. In: GBA Gedichte. Bd. 1. 2. Aufl. 1995, S. 212 und Anm. S. 564. (66.): William und Robert Chambers. In: Mnner der Zeit (wie Anm. 1), Sp. 221 – 222.
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Die Verbindung zum Verleger Lorck hatte wieder einmal der Freund Wilhelm Wolfsohn in Dresden hergestellt. Fontane verdankte ihm bereits die Vermittlung der Ttigkeit als Berliner Korrespondent der Dresdner Zeitung 1849/50 sowie die Kontakte zum Verleger Moritz Katz in Dessau, bei dem sein Romanzenzyklus Von der schçnen Rosamunde erschienen war.6 Zehn Jahre spter, am 7. Dezember 1859, als erneut des Freundes Hilfe gefragt war, schrieb Wolfsohn an Fontane aus eigener schlechter Erfahrung: „Ich mçchte Dir daher kaum rathen, Dich mit Brockhaus einzulassen. Willst Du einmal durchaus an einem Unternehmen wie die ,Gegenwart‘ Dich betheiligen, so kann ich Dir Lorck in Leipzig empfehlen und Dich ihm. Lorck braucht fr seine ,Mnner der Zeit‘ kleinere biographische Artikel. Lorck wre auch noch der Erste, bei dem sich Geneigtheit finden drfte, Dein schottisches Reisebuch zu nehmen.“7 Kam Jenseit des Tweed dann auch bei Julius Springer in Berlin heraus, erklrte Fontane gleichwohl in seiner Antwort: „Auch die Mitarbeiterschaft an seinem ,Mnner der Gegenwart‘ [sic] kme mir sehr gelegen. Brockhaus ist ein Fitz, das weiß alle Welt […].“8 Natrlich war das Brotarbeit, aber wenigstens seriçse Brotarbeit, die dem Selbstwertgefhl nicht schadete: „Zu dem gewçhnlichen FeuilletonQuatsch mçcht’ ich mich nicht verstehn, alles was in die literarische WurstFabrikation gehçrt ist mir zuwider.“9 Die frhen 1860er Jahre sind berhaupt die Jahre, in denen Fontane die meisten biographischen Darstellungen verfasst. Viele gehen in die ersten beiden Bnde der Wanderungen 1861 und 1863 ein.10 Im selben Jahr, in dem die vierundvierzig Artikel fr das Biographische Lexikon erscheinen, kommen außerdem die sechzehn Biographien fr das Denkmal Albrecht Thaer’s in Berlin heraus.11 Mit Vortrgen und 6 Theodor Fontane und Wilhelm Wolfsohn – eine interkulturelle Beziehung. Briefe, Dokumente, Reflexionen. Hg. von Hanna Delf von Wolzogen u. Itta Shedletzky. Tbingen 2006 (= Schriftenreihe wissenschaftliche Abhandlungen des Leo-BaeckInstituts 71), S. 37 – 62. 7 Wilhelm Wolfsohn an Theodor Fontane, Dresden, 7. Dezember 1859. In: Fontane und Wolfsohn (wie Anm. 6), S. 123 – 126, hier S. 124. 8 Theodor Fontane an Wilhelm Wolfsohn, Berlin, 8. Dezember 1859. In: Fontane und Wolfsohn (wie Anm. 6), S. 126 – 128, hier S. 127. 9 Theodor Fontane an Wilhelm Wolfsohn, Berlin, 28. November 1859. In: Fontane und Wolfsohn (wie Anm. 6), S. 120 – 123, hier S. 121. 10 Vgl. Theodor Fontane: Kahlebutz und Krautentochter. Mrkische Portrts. Hg. von Gotthard Erler. Berlin 2007. 11 Wolfgang Rasch: Theodor Fontane Bibliographie. Werk und Forschung. In Verbindung mit der Humboldt-Universitt zu Berlin und dem Theodor-Fontane-Archiv Potsdam hg. von Ernst Osterkamp und Hanna Delf von Wolzogen. Berlin, New York 2006, Bd. 1, S. 879 – 881.
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weiteren Lebensskizzen in gesonderten Publikationen drften so in wenigen Jahren an die neunzig krzere oder lngere biographische Arbeiten entstanden sein. Das unterstreicht einmal mehr das Gewicht, das den Lebensbeschreibungen im Werk und zumal in bestimmten Werkphasen zukommt. Zu meistern war das nur, wenn wenigstens in Teilen auf eigene oder fremde Vorarbeiten zurckzugreifen oder doch eine hinreichende Vertrautheit mit der Person, ihrem Werk oder Schaffen vorhanden war. Das gilt vor allem fr die „Mnner der Zeit“, bei denen man annehmen darf, dass Fontane die meisten nach seiner Wahl oder seinem Vorschlag in das Lexikon der Gegenwart gebracht hat. Dessen Anlage kam dem insofern entgegen, als sie weder alphabetisch noch nach Sachgebieten oder anderen Kriterien geordnet war, sondern offensichtlich von der Chronologie der eingehenden Beitrge bestimmt wurde, so dass beispielsweise dem damals bekanntesten Buchdrucker und -hndler Frankreichs, Firmin Didot, der Kaiser von China, Hien-Fung, folgte.12 Lexikographisch ist das ein Ausnahmefall, der ungewçhnliche, aber auch anregende Begegnungen herbeigefhrt hat. Er lsst etwa Fontanes PorACHTUNGREtrt des scharfen Reaktionsministers Karl Otto von Raumer sinnigerweise auf das des Prsizionsgewehrerfinders Claude Etienne Mini treffen.13 „Zeit“und „Gegenwart“ waren die Schlagworte, die Brockhaus fr seine lexikographischen und enzyklopdischen Unternehmungen eingesetzt hatte.14 „Zeit“und „Gegenwart“durften deshalb auch bei Lorck nicht fehlen. Das versprach Zeitgenossenschaft in einer immer rascher sich wandelnden Zeit durch ein Wissen auf der jeweiligen Hçhe der Zeit. Es machte aber auch diejenigen, deren Viten das Lexikon fllten, zu Reprsentanten der Zeit, zu jenen, die ihre Zeit in Kunst, Wissenschaft und Politik verkçrperten. Die Lebensbeschreibung wurde eine Lebenseinschreibung in das große Buch der Zeit. ,Lexikalisierung‘ in diesem Sinne, verstanden als Prozess und Ergebnis der Aufnahme einer Biographie in ein Lexikon, ist ein bedeutsamer Vorgang in der medialen Welt des 19. Jahrhunderts. Letztlich bestimmte er darber, welche Person berhaupt als eine Person der Zeitgeschichte wahrgenommen, beachtet oder anerkannt wurde. Fontane wusste nur zu gut, was das bedeutete. Fnfundfnfzig musste er werden, bis ihn der Brockhaus-Verlag um biographische Angaben bat, und 12 Mnner der Zeit (wie Anm. 1), Sp. 383 – 385. 13 Mnner der Zeit (wie Anm. 1), Sp. 295 – 299. 14 Vgl. Die Gegenwart. Eine encyklopdische Darstellung der neuesten Zeitgeschichte fr alle Stnde. Bde. 1 – 12. Leipzig: F. A. Brockhaus 1848 – 1856.
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ein Jahr spter, 1877, fand er sich („gekrzt und verballhornisirt“, wie er Jahre danach an Franz Lipperheide schrieb15) in der siebenten Auflage des Conversations-Lexikons wieder. Gegenber Emilie bemerkte er mit sarkastischem Unterton, die große Ehekrise kndigte sich an: „Im Grunde genommen habe ich nun alles Irdische erreicht: geliebt, geheiratet, Nachkommenschaft erzielt, zwei Orden gekriegt und in den Brockhaus gekommen. Es fehlt nur noch zweierlei: Geheime Rat und Tod.“16 Mit Sicherheit war es etwas anderes, in den „Lorck“ zu kommen. Aber Anfang der 1860er Jahre, als der Leipziger Verleger mit seinem Biographischen Lexikon der Gegenwart ein Speziallexikon auflegte, sprte er damit doch eine Marktlcke auf. Insofern konnte es kaum jemandem gleichgltig sein, mit welcher Vita ihn dieses „Lexikon“ fhrte. Und wie sehr es auch Fontane im Einzelfall darauf ankam, dass sein Portrt den Portrtierten nicht genierte, zeigt die dringende Bitte an seinen Verleger Wilhelm Hertz, ihm bei der Beschaffung eines Heftes aus Leipzig behilflich zu sein. Es handelte sich um eine Ausgabe der Zeitschrift Europa, die 1859 bis 1865 in Verlag und Redaktion desselben Carl Berend Lorck erschien und deren Beilage den Titel Mnner der Zeit. Biographische Skizzen und Charakteristiken von Zeitgenossen 17 trug. Diese Beilage war nun der Ort der eingangs erwhnten „heftweisen“ Vorverçffentlichungen zum Biographischen Lexikon. Fontane hatte dort mit seinem Vorgesetzten aus Londoner Tagen, dem Grafen Albrecht von Bernstorff, einen Reprsentanten des politischen Lebens portrtiert, der gerade auf dem Sprung ins Ministeramt war. B. mçchte die Arbeit gern sehn, einiges ndern und andres hinzu fgen. Meine Bitte geht nun dahin, daß Sie mir zu Liebe, der ich dem Grafen sehr gern diesen Dienst erweisen mçchte, gleich nach Leipzig hin schreiben und durch Ihren dortigen Commissionair, unter Androhung von Strafen wenn er sich nicht sputet, das betreffende Heft anschaffen lassen. Es liegt mir sehr daran, es in ein paar Tagen zu haben […].18
Diese nderungen und Ergnzungen sollten Eingang in die unmittelbar bevorstehende Lexikonfassung finden. Dass sie dem Grafen Gelegenheit boten, sich und sein politisches Handeln in ein mçglichst vorteilhaftes, fr 15 Theodor Fontane an Franz Lipperheide, Berlin, 19. Dezember 1881. In: HFA IV/3, S. 168 – 169, hier S. 169. 16 Theodor Fontane an Emilie Fontane, Berlin, 7. August 1876. In: GBA Der Ehebriefwechsel 3, S. 66 – 67, hier S. 66. 17 Berbig: Fontane im literarischen Leben (wie Anm. 2), S. 190. 18 Theodor Fontane an Wilhelm Hertz, [Berlin], [9. Juli 1861]. In: HFA IV/2, S. 40.
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das knftige Amt des Außenministers geradezu empfehlendes Licht zu setzen, muss kaum betont werden. Der umfngliche Artikel liest sich denn auch streckenweise nicht wie eine biographische Skizze, sondern wie eine pice de justification, die die Motive des Handelns ganz aus der (nachtrglichen) Sicht des Handelnden gibt.19 Fontane wollte sich damit „erkenntlich“ zeigen fr die „jahrelang in London“ erfahrene „große Rcksicht“20. Im Ergebnis luft es auf eine Lebensberschreibung hinaus, die den Begriff der Autorschaft fraglich macht. In diesem Fall ging es aber auch um Politik, um hohe Politik, die in Preußen 1861/62 an einem Wendepunkt stand und im Grafen Bernstorff einen ihrer einflussreichsten Akteure hatte. Der erwhnte preußische Kultusminister Karl Otto von Raumer hingegen war nicht nur bereits im August 1859 berraschend gestorben, auch das politische System, das er mehr noch als der Ministerprsident Otto von Manteuffel selbst verkçrpert hatte, war schon ein Jahr frher, 1858, dahingeschieden. Das ergab ein khles, abgewogenes PorACHTUNGREtrt. Zur Person nur noch dieser charakteristische Zug. Lepel schrieb 1854 aus der Heringsdorfer Sommerfrische: „Ich bade hier tglich mit dem Cultusminister. Ein Mensch, wie andre, wenn er nackt ist. Wenn er angezogen ist, auch nicht viel besser. Seine Manieren sogar schlechter, als die eines gewçhnlichen, anstndigen Menschen. Hat etwas hochnsig-rohes.“21 Fontanes Wahl drfte auch deshalb auf Raumer gefallen sein, weil dessen Vita ihm erlaubte, die Kulturpolitik der Reaktionsra aus seiner Sicht darzustellen. Schließlich war er selbst ber Jahre in dieses System involviert gewesen, da schien „Gerechtigkeit“22 geboten. Anfang der 1850er hatte er sich sogar Hoffnungen auf eine „subalterne Stellung“ im Kultusministerium gemacht.23 Dass sein Urteil ber die von liberaler Seite heftig angegriffene 19 (71.): Graf von Bernstorff. In: Mnner der Zeit (wie Anm. 1), Sp. 199 – 202. 20 Theodor Fontane an Wilhelm Hertz, [Berlin], [9. Juli 1861] (wie Anm. 18). 21 Bernhard von Lepel an Theodor Fontane, Heringsdorf, 26. Juli 1854. In: Theodor Fontane und Bernhard von Lepel: Der Briefwechsel. Kritische Ausgabe. Hg. von Gabriele Radecke. Berlin, New York 2006 (= Schriften der Theodor Fontane Gesellschaft 5.1 – 2), Bd. 1, S. 390 – 393, hier S. 391. 22 (71.): Otto von Raumer. In: Mnner der Zeit (wie Anm. 1), Sp. 295 – 297, hier Sp. 296. – Zur Familie von Raumer vgl. „Preußen ist mir jetzt, was Athen und Sparta…“ Unbekannte Briefe Georg Wilhelm von Raumers an Leopold von Ledebur nebst Konzepten und Abschriften des Empfngers. Eingel. u. hg. von Hubertus Fischer. In: Jahrbuch fr die Geschichte Ost- und Mitteldeutschlands 45 (1999). Mnchen 2000, S. 210 – 274, hier S. 210 – 213. 23 Theodor Fontane an Gustav Schwab, Berlin, 18. April 1850. In: HFA IV/1, S. 114 – 118, hier S. 117. – Vgl. auch Theodor Fontane an Bernhard von Lepel, [Berlin], 13. Oktober 1851. In: Fontane und Lepel (wie Anm. 21), Bd. 1, S. 296 – 297, hier
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Hubertus Fischer
Schulpolitik sehr moderat ausfiel, hatte vermutlich noch einen aktuellen Hintergrund. Fontane suchte damals Verbindung zu dem ,Erfinder‘ dieser Politik, dem Geheimen Oberregierungsrat Ferdinand Stiehl („Stiehlsche Regulative“), um durch dessen Empfehlung eine Fçrderung seines Wanderungen-Projekts seitens des Kultusministers zu erwirken.24
II. Mit Bernstorff und Raumer ist die Gruppe der Politikerportrts bereits erschçpft. Sie sind aber deshalb von besonderem Interesse, weil sich hier die biographische Skizze mit der Biographie des Autors unmittelbar trifft. hnlich steht es um die fnf deutschen Dichterportrts – mehr sind es nicht, die Fontane fr Lorck verfasst hat. Kaum einer, der heute noch gelesen wird, aber alle, Goltz, Heyse, Mgge, Roquette und Scherenberg, standen damals in mehr oder weniger engen Beziehungen zu ihm. Mit Bogumil Goltz hatte Fontane soeben persçnliche Bekanntschaft geschlossen, und zwar anlsslich des „Rtli“ im eigenen Haus,25 als er dem westpreußischen Schriftsteller – er lebte in Thorn – die erste biographische Charakteristik fr Lorck widmete.26 Sie fiel unter diesem noch frischen Eindruck ußerst lebendig aus: Er erinnert vielfach an Jean Paul, noch mehr vielleicht an Hippel. Das Kleinleben ist seine Welt […] die Staatsactionen lassen ihn kalt. Er haßt den Schematismus, den Zwang der Schule, die Convenienz, die Machfertigkeit […] vor allem das a apriori Construiren aller Dinge. Er nennt sich selbst einen Steppenmenschen, einen Abrahamiten, einen Nachgebornen aus der Zeit des alten Bundes. Er kann und will keine andere Poesie, keine andere Glckseligkeit begreifen, als die des patriarchalischen Lebens. […] Er haßt die Hypercultur und S. 297: „Heut erfahr ich, daß es mit meiner Eingabe an Excellenz Raumer auch nichts ist; – fast ist diese Consequenz des Pechs zum Lachen.“ 24 Vgl. Theodor Fontane an Wilhelm Hertz, [Berlin], 24. November 1861. In: HFA IV/2, S. 50. – Siehe auch den Kommentar in: HFA IV/5II, S. 214 – 215. – Vgl. ferner Rolf Parr u. Wulf Wlfing: Literarische Praxis und Schule in Preußen: Kulturpolitische Aktivitten im Umkreis des „Tunnel ber der Spree“. In: Edward McInnes u. Gerhard Plumpe (Hg.): Brgerlicher Realismus und Grnderzeit 1848 – 1890. Mnchen 1996 (= Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Bd. 6), S. 200 – 210. – Roland Berbig: Das Ganze als Ganzes oder: Pastor Schmutz und Geheimrat Stiehl. In: Berliner Hefte zur Geschichte des literarischen Lebens 2 (1998), S. 75 – 94, hier S. 92 – 93. 25 Moritz Lazarus: Lebenserinnerungen. Berlin 1906, S. 120 ff. 26 (65.): Bogumil Goltz. In: Mnner der Zeit (wie Anm. 1), Sp. 129 – 130.
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vielleicht ein Stck Cultur dazu; […] sein Ideal unter allem was lebt ist ein Freischulz oder ein Bauer aus Westpreußen.
Was wie Lob klingt, ist es nur zur Hlfte: Bogumil Goltz, wie er selbst ein Kraftmensch ist, fhlt sich nur sympathisch berhrt, wo ihm Kraft und Natur entgegentritt. Seine Schwchen liegen bereits angedeutet in dem Lobe, das wir ihm gespendet. Sein grçßter Fehler ist sein Reichthum, seine Schwche – die Ueberflle seiner Kraft.27
Bleibend war fr Fontane am Ende nur Goltzens Buch der Kindheit (1847, vierte Aufl. 1877), das er noch in Meine Kinderjahre zustimmend zitiert hat.28 Intensiveren Umgang hatte Fontane mit dem Waterloo- und LeuthenBarden Scherenberg seit den gemeinsamen „Tunnel“-Tagen im Vormrz gehabt. Htte er ihm nicht sogar ein Buch gewidmet – Christian Friedrich Scherenberg und das literarische Berlin von 1840 bis 1860 –, man wsste heute nichts mehr von ihm zu sagen. Weniger ein Dichter als ein dichterisches Zeitphnomen, hat Fontane ihn schon 1850 in der Zeitung Deutsche Reform mit einem Artikel bedacht.29 Zehn Jahre spter fiel das Urteil so klar wie bei einem bekannten Kritiker der Gegenwart aus: „Scherenberg hat keinen Geschmack. […] Er ist der Dichter der absoluten Styllosigkeit. […] Der Erzfeind seiner unverkennbaren Genialitt ist – sein Bombast.“ Fast vernichtender noch der Schlusssatz, da seine Bewunderer und Nachahmer ihn zum Vorsnger des Vaterlndischen gekrt hatten: „Nur das Einfache aber kann leben und dauernd Wurzel schlagen in den Gemthern, und Eines, das wichtigste fr einen patriotischen Dichter, wird er immer entbehren mssen – Popularitt.“30 Biographische Artikel kçnnen, wie man sieht, literarische Hinrichtungen sein, in jedem Fall sind sie, wenn es um Dichter geht, fr Fontane Anlsse der Literaturkritik. Nachgerade gegenlufig zum Ende des ScherenbergArtikels nimmt sich der Anfang der Roquette-Skizze aus: „Otto Roquette, 27 (65.): Bogumil Goltz. In: Mnner der Zeit (wie Anm. 1), Sp. 130. – Vgl. Theodor Fontane: Von Zwanzig bis Dreißig. Autobiographisches. 5. Aufl. Mit 40 Bildern und 1 Faksimile. Berlin 1910, S. 211. 28 Kap. 17. – Vgl. Helmuth Nrnberger und Dietmar Storch: Fontane-Lexikon. Namen – Stoffe – Zeitgeschichte. Mnchen 2007, S. 182 – 183. 29 Th[eodor] F[ontane]: Christian Friedrich Scherenberg. In: Deutsche Reform, Berlin, Nr. 1002, 16. Juli 1850, Abendausgabe, S. 1207; Nr. 1004, 17. Juli 1850, Abendausgabe, S. 1212 – 1213. 30 (65.): Christian Friedrich Scherenberg. In: Mnner der Zeit (wie Anm. 1), Sp. 219 – 221 (Hervorh. im Orig., H. F.).
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der Dichter von ,Waldmeisters Brautfahrt‘ und einer ganzen Anzahl von Liedern und Sangesweisen, die […] in ungewçhnlich kurzer Zeit ein Eigenthum des deutschen Volkes geworden sind […].“31 Indem Fontane den Hintergrund dieser Popularitt benennt, relativiert er sie freilich als eine Frucht der allgemeinen politischen Apathie: Die çffentlichen Zustnde begnstigten allerdings das Erscheinen einer solchen Dichtung. Man war der ewigen Politik satt und mde und flchtete aus dem Leitartikel und der Zeitungsspalte heraus in die immergrne Mrchenwelt. Man ließ sich gern daran erinnern, daß es außer deutschen Niederlagen und deutschen Enttuschungen auch noch deutschen Wein und deutsche Wlder gebe […].32
Im deutschen Brgerleben muss dies angehalten haben. 1899, drei Jahre nach Roquettes Tod, erschien die dreiundsiebzigste Auflage von Waldmeisters Brautfahrt. Ein Rhein-, Wein- und Wandermrchen. 33 Roquette gehçrte zu Fontanes Freundeskreis, er hatte ihn, wie er an Paul Heyse schrieb, „sehr gern […].“34 Fr eine „Potenz“ hielt er ihn zwar nicht, erkannte aber neidlos an: „Im Uebrigen hat er erreicht, was Wenigen beschieden wird, sich singen und trllern zu hçren, so oft er in die Straße tritt, und seine kaum zehn Jahr alten Sangesweisen als ,alte Volkslieder‘ gedruckt und gegen sich selbst verfochten zu sehen.“35 Der Artikel ber den hilfsbereiten Freund Paul Heyse, den spteren Nobelpreistrger fr Literatur, der gerade erst Fontanes Berufung nach Mnchen zu erreichen bemht gewesen war und der ihm den Weg zu seinem Hauptverleger Hertz geebnet hatte, zeichnet sich durch einen ebenso eingehenden wie einnehmenden Umriss dieses noch jungen Dichterlebens aus. Allerdings fllt das knstlerische Urteil eher distanziert aus: „Paul Heyse bekundet in allen seinen Arbeiten einen ganz bestimmten Styl, den wir in dem Streben ausgesprochen finden, […] seine Gestalten mit immer gleicher Freiheit und Innerlichkeit aus der Unmittelbarkeit der Leidenschaft hervorgehen zu lassen.“ Nachdem Fontane die „Vorliebe fr pathologische Flle“ hervorgehoben hat, folgt ein doch sehr gemischter Nachsatz: 31 (65.): Otto Roquette. In: Mnner der Zeit (wie Anm. 1), Sp. 214 – 215, hier Sp. 214. – Vgl. Nrnberger/Storch: Fontane-Lexikon (wie Anm. 28), S. 383 – 384. 32 Roquette, (wie Anm. 31), Sp. 215. 33 Otto Roquette: Waldmeisters Brautfahrt. Ein Rhein-, Wein- und Wandermrchen. Dreiundsiebzigste Auflage. Stuttgart: J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger 1899. 34 Theodor Fontane an Paul Heyse, Berlin, 8. Dezember 1852. In: HFA IV/1, S. 329 – 330, hier S. 330. 35 Roquette, (wie Anm. 31), Sp. 215.
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Er gefllt sich gelegentlich in einer poetischen Casuistik, die darauf aus ist, jeden einzelnen Vorgang zu einem historisch einzigen und unvergeßlichen zu machen, aber so vielerlei gerechtfertigte Bedenken sich dagegen erheben lassen, so mssen wir doch andererseits einem auf geistige Vorgnge gerichteten Realismus das Wort reden, der nur allzu oft als bloße Caprice oder Exclusivitt gedeutet worden ist.36
Biographik als Literaturkritik ist, wie an den vier Dichterportrts zu sehen, ein durchgehender Zug der Artikel. Biographik lsst sich aber auch als ein Interpretament der eigenen Biographie verstehen. Feinere lebensgeschichtliche Spuren sind nmlich in so gut wie allen Dichter- und Politikerportrts zu finden. Vorderhand am schwchsten sind sie im letzten Portrt fr Lorcks Mnner der Zeit ausgeprgt. Der Artikel ber den in der FontaneWelt kaum bekannten Schriftsteller Theodor Mgge wirkt wie ein Nachruf und drfte durch dessen plçtzlichen Tod am 18. Februar 1861 veranlasst gewesen sein.37 Es ist das Lied vom braven Mann – literarisch, politisch, persçnlich; es ist aber auch die Geschichte einer großen Ernchterung: von Simon Bolivars Freiheitskampf, zu dem er zu spt kam, ber politische Broschren, die ihn den Eintritt in den Staatsdienst kosteten, bis zu anhaltender belletristischer Produktion, die sein Leben sichern musste. Fontane mochte darin auch etwas von seinem Leben gesehen haben. Immerhin war Mgge 1848 Mitgrnder und dann fr viele Jahre Feuilletonredakteur der liberalen National-Zeitung gewesen, und in unmittelbarem Zusammenhang mit Mgges Rezension des Romanzenzyklus Von der schçnen Rosamunde hatte die Zeitung am 10. Januar 1850 auch drei Fontanesche Gedichte gebracht.38 Emilie Fontane hatte 1856 Mgges in mehrere Sprachen bersetzten Roman Afraja „fast mit ,Soll und Haben‘ Interesse“39 gelesen, wie sie an Theodor schrieb, und vielleicht reihte dieser, auf ihr Urteil vertrauend, Afraja deshalb unter „die besten Schçpfungen des Mgge’schen Talentes“40 ein. Dass er selbst den Roman gelesen hat, ist nicht belegt – eheliche Arbeitsteilung.
36 (65.): Paul Heyse. In: Mnner der Zeit (wie Anm. 1), Sp. 217 – 219, hier Sp. 218. 37 (22.): Theodor Mgge. In: Mnner der Zeit (wie Anm. 1), Sp. 540 – 541. 38 [Theodor Mgge]: Von der schçnen Rosamunde heißt ein artiges Gedicht … In: National-Zeitung, Berlin, Nr. 15, 10. Januar 1850, Morgenausgabe. – Berbig: Fontane im literarischen Leben (wie Anm. 2), S. 83 – 86, hier S. 85 (die Gedichte waren Guter Rath, Der erste Schnee und Das Fischermdchen). 39 Emilie Fontane an Theodor Fontane, Berlin, 21. Juli 1856. In: GBA Der Ehebriefwechsel 1, S. 348 – 351, hier S. 350. 40 Mgge (wie Anm. 37), Sp. 541.
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III. Die Großgattung ,Biographie‘ hat im ,biographischen Artikel‘ einen kleinen, unscheinbaren Verwandten, der es selten zu einiger Aufmerksamkeit bringt. Die Lorck-Artikel haben denn auch so gut wie keine Beachtung in der Forschung gefunden.41 Gleichwohl hlt die faktuale Kleingattung fr Fontane einige berraschungen bereit. Sie legt ja nicht nur das Bild einer Persçnlichkeit fest, sie wirkt auch auf das Bild des Autors selbst zurck, wenn dieser sich in seinen biographischen Entwrfen von einer ungewohnten oder unverhofften Seite zeigt. Fasst man nmlich die Gesamtheit der Artikel ins Auge (wir haben bisher nur einige berhrt), dann tritt dem Leser ein Kunstkenner und Kunstkritiker entgegen, der sich lediglich am Rande mit Literatur und Politik befasst. Dieser Kunstkritiker ist in der bildenden und Baukunst Englands mindestens ebenso zu Hause wie in der Dsseldorfer Malerschule.42 Dreiundzwanzig Artikel hat er Knstlern und Architekten seiner Zeit gewidmet, Schriftstellern und Dichtern dagegen nur sieben, den berhmten Romantiker Alfred Tennyson und Catherine Grace Gore, die erfolgreiche englische Romanautorin, eingeschlossen.43 41 Das 2000 herausgekommene Fontane-Handbuch (hg. von Christian Grawe und Helmuth Nrnberger) enthlt keinen Verweis auf Lorck und sein Lexikon; auch im 2007 erschienenen Fontane-Lexikon (wie Anm. 28), fehlt ein entsprechender Eintrag. Lediglich Berbig (wie Anm. 2), weist verschiedentlich auf Lorck hin (S. 26, 189, 190). 42 Vgl. zum Hintergrund Theodor Fontane an Paul Heyse, Berlin, 23. Dezember 1860. In: HFA IV/2, S. 15 – 19, hier S. 18 ber den Rtli: „Es ist wirklich nur Pflicht einzurumen, daß ich doch niemals einem Kreise angehçrt habe, in dem durch Friktion der Geister so viel Anregung gegeben, so viel Leben und Wrme produciert worden wre. Gesprche ber Kunst, namentlich ber gewisse kitzliche, eben jetzt in Streit befindliche Punkte, wie sie zwischen Blomberg, Menzel, Lazarus, Lbke und gelegentlich auch Lucae (bei architektonischen Fragen) mit Eifer und Sachkenntniß, und namentlich ohne alle Verranntheit und Stagnation gefhrt worden sind, kommen gewiß nicht allzu hufig vor. Es trifft sich, daß man einem famosen Kerl auf diesem oder jenem Gebiet begegnet und von ihm lernt, aber einer Vielheit tchtiger Krfte, einer reichen Nancirung wohlberechtigter und wohlverteidigter Anschauungen begegnet man selten.“ 43 (66.): Alfred Tennyson. In: Mnner der Zeit (wie Anm. 1), Sp. 215 – 217. – Vgl. Nrnberger/Storch: Fontane-Lexikon (wie Anm. 28), S. 437 – 438. – Otto Neuendorff: Fontanes Gang durch englische Dichtung. Zu Fontanes Vortrag ber Tennyson. In: Brandenburgische Jahrbcher 9: Theodor Fontane zum Gedchtnis. Bearbeitet von Hermann Fricke. Jg. 1938. Potsdam und Berlin: A. W. Hayn’s Erben [1938], S. 35 – 42; ebd. auch erstmals abgedruckt Theodor Fontane: Tennyson. Ein Vortrag, gehalten in der englischen Gesellschaft 1860, S. 43 – 51. – (66.): Mrs. Gore. In: Mnner der Zeit. Mit Supplement: Frauen der Zeit (wie Anm. 1), Sp. 43 – 44. – Vgl. Nrnberger/
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Kein zweites Werk spiegelt das Profil des Kunstkritikers so umfassend und differenziert wider wie Lorcks Biographisches Lexikon. Neben Historien-, Genre-, Landschafts-, Marine-, Portrt- und Tiermalerei finden Bildhauerei, Architektur und sogar Karikatur ihren Platz. Noch der große Ausstellungsband von 1998 Fontane und die bildende Kunst 44 ging an mehreren Knstlern vorber, obwohl deren biographische Skizzen45 der Betrachtung wert sind – und wenn es nur der eine Satz ber den Baumeister des Londoner Parlamentsgebudes ist, denn in ihm finden sich alle Großbaumeister unserer Tage wieder: „Sir Charles Barry rechnete auf die Zustimmung der Nachwelt und hatte es lngst aufgegeben, bei der Mitwelt, die freilich unter der Lstigkeit leidet, immer neue Millionen zahlen zu mssen, das Maß an Anerkennung zu finden, das ihm gebhrt.“46 Fontane hat vieles in seinem Leben „mit durch die Kunst erzogenen Augen“47 gesehen. Sein Brief-, Reise- und Romanwerk bezeugt das in einem bisher kaum erkannten Maße.48 Die erste große Schule des Sehens war fr ihn England gewesen. Beginnend mit dem Londoner Brief ber Die KunstAusstellung 185249 und vorlufig endend mit der im Januar 1860 in Berlin gehaltenen Vorlesung ber „Englische Historienmalerei“50, hatte er sich vor allem in seinen Londoner Jahren immer wieder mit englischer Kunst, zumal
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Storch: Fontane-Lexikon (wie Anm. 28), S. 183 – 184. – Helmuth Nrnberger: Der frhe Fontane. Politik – Poesie – Geschichte. 1840 bis 1860. Frankfurt am Main, Berlin, Wien 1975, S. 52, 158 – 165, 324 – 326. Fontane und die bildende Kunst. Hg. von Claude Keisch, Peter-Klaus Schuster u. Moritz Wullen. Berlin 1998. ber die Maler Theodor Hildebrandt (Mnner der Zeit [wie Anm. 1], Sp. 317 – 318), David Roberts (ebd., Sp. 366 – 367), Caspar Scheuren (ebd., Sp. 315 – 317) und Edward Matthew Ward (ebd., Sp. 139 – 140) sowie die Architekten Gilbert Scott (ebd., Sp. 356 – 358) und Sir Charles Barry (ebd., Sp. 304 – 306). (66.): Sir Charles Barry. In: Mnner der Zeit (wie Anm. 1), Sp. 304 – 306, hier Sp. 305. Hans-Georg Gadamer: Die Aktualitt des Schçnen. Kunst als Spiel, Symbol und Fest. Stuttgart 1977, S. 41. Das gilt trotz der weiterfhrenden Essays in dem Band Fontane und die bildende Kunst (wie Anm. 44). – Vgl. Hubertus Fischer: „Gemmenkopf“ und „Nebelbild“. Wie Fontane mit Bildern erzhlt. In: Tim Mehigan u. Gerhard Sauder (Hg.): Roman und sthetik im 19. Jahrhundert. Festschrift fr Christian Grawe zum 65. Geburtstag. St. Ingbert 2001 (= Saarbrcker Beitrge zur Literaturwissenschaft 69), S. 109 – 137. – Gerhard Neumann: Speisesaal und Gemldegalerie. Die Geburt des Erzhlens aus der bildenden Kunst: Fontanes Roman „L’Adultera“. In: Ebd., S. 139 – 169. [Theodor] F[ontane]: Londoner Briefe. 8. Die Kunst-Ausstellung. In: Preußische [Adler-] Zeitung, Berlin, Nr. 192, 18. August 1852, S. 926 – 927. Vgl. Rasch: Fontane-Bibliographie (wie Anm. 11), Bd. 1, S. 426.
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mit englischer Gegenwartskunst auseinandergesetzt, am intensivsten whrend der großen „Art Treasures Exhibition“ 1857 in Manchester.51 Er konnte folglich aus eigener Anschauung (und Ausarbeitung) schçpfen, als er die englischen Knstler portrtierte. Nimmt man die Tagebuchaufzeichnungen und Briefe hinzu, gewinnt man einen noch intimeren Einblick in diese „Schule des Sehens“.52 Woher aber hatte Fontane seine Kenntnis der deutschen Gegenwartskunst, namentlich der Dsseldorfer Schule? Wir befinden uns in der Zeit vor seinen Berliner Ausstellungsberichten. Hier ist eine Quelle unmittelbarer Anschauung kaum gewrdigt worden, obwohl er selbst, freilich an versteckter Stelle, den entscheidenden Hinweis gibt. Er schließt die Biographie Theodor Hildebrandts, eines der gefeiertsten Maler dieser Schule, mit dem Satz: „Mehrere seiner besten Bilder befinden sich in der Galerie des Consul Wagner zu Berlin, die deshalb vorzugsweise Gelegenheit bietet, diesen Knstler, wie berhaupt die Dsseldorfer Schule zu studiren.“53 Diese Sammlung von 262 zeitgençssischen Gemlden des Bankiers und schwedisch-norwegischen Konsuls Johann Heinrich Wilhelm Wagener war, bevor sie als Legat der Krone vermacht wurde, um den Grundstock einer Nationalgalerie zu bilden, seit lngerem çffentlich zugnglich. Nach dem Tode Wageners wurde sie am 22. Mrz 1861 in den Rumen der Akademie der Knste aufgestellt und verblieb dort, bis sie 1876 in die neuerbaute Nationalgalerie berfhrt wurde. (Ein Umzug brigens, der den ohnehin berforderten Akademiesekretr Fontane zustzlich in Anspruch nahm.54) 51 Vgl. Ulrich Finke: „… ein Musterungsplatz fr die gesamte moderne Kunst“. Die Art Treasures Exhibition in Manchester. In: Fontane und die bildende Kunst (wie Anm. 44), S. 292 – 302. 52 Theodor Fontane: Tagebcher. Bd. 1. 1852. 1855 – 1858. Hg. von Charlotte Jolles unter Mitarbeit von Rudolf Muhs. 2. Aufl. Berlin 1995, ber Register. Zu erwhnen sind insbesondere die Besuche in der National Gallery und Vernon Gallery sowie im Kensington Museum. An einzelne Knstler, wie an die miteinander befreundeten Sir Charles Barry, den Erbauer des Londoner Parlamentsgebudes, und Sir Charles Eastlake, den historischen Genremaler und Prsidenten der Londoner Akademie der Knste, hat er sich auch brieflich gewandt, ohne aber, wie es scheint, Antwort erhalten zu haben; Theodor Fontane an Emilie Fontane, London, 9. Juli 1856. In: GBA Der Ehebriefwechsel 1, S. 335 – 337, hier S. 336; Fontane: Tagebcher, S. 323 (7. Mai 1858). 53 (62.): Theodor Hildebrandt. In: Mnner der Zeit, (wie Anm. 1), Sp. 317 – 318, hier Sp. 318. 54 Hubertus Fischer: “ … so ziemlich meine schlechteste Lebenszeit“. Unverçffentlichte Briefe von und an Theodor Fontane aus der Akademiezeit. In: Fontane Bltter 63 (1997), S. 26 – 47, hier S. 33 – 35.
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Von den fr Lorck portrtierten Malern gehçrten Andreas und Oswald Achenbach55, Wilhelm Camphausen56, Hans Gude57, Theodor Hildebrandt58, Caspar Scheuren59 und Adolf Tidemand60 ganz, Hermann Stilke61 und Teutwart Schmitson62 vorbergehend der Dsseldorfer Schule an. Aus der Wagenerschen Galerie waren Fontane Andreas Achenbach63, Camphausen64, Hildebrandt65 und Stilke66 bekannt. Teutwart Schmitson hat er offenbar in seinem Berliner Atelier aufgesucht67 und fr einzelne Artikel, so bei Oswald Achenbach, auf die Bilder der Berliner Kunstausstellung 1860 zurckgegriffen.68 Mit großer Sicherheit drfte er außerdem die „Ravensche Bildergalerie“ sowie die Galerie des Berliner Kunstvereins fr seine Zwecke genutzt haben. Hier waren u. a. Bilder von Caspar Scheuren sowie von Hans Gude und Adolf Tidemand zu sehen.69 Warum diese detaillierten Angaben? 55 (62.): Andreas Achenbach. In: Mnner der Zeit (wie Anm. 1), Sp. 333 – 334. – Vgl. Fontane und die bildende Kunst (wie Anm. 44), S. 174. – (62.): Oswald Achenbach. In: Mnner der Zeit (wie Anm. 1), Sp. 334 – 335. 56 (62.): Wilhelm Camphausen. In: Mnner der Zeit (wie Anm. 1), Sp. 335 – 337. – Vgl. Fontane und die bildende Kunst, wie Anm. 44, S. 181. 57 (62.): Hans Gude. In: Mnner der Zeit (wie Anm. 1), Sp. 311 – 312. 58 Siehe Anm. 53. 59 (62.): Caspar Scheuren. In: Mnner der Zeit (wie Anm. 1), Sp. 315 – 317. 60 (62.): Adolf Tidemand. In: Mnner der Zeit (wie Anm. 1), Sp. 312 – 314. 61 (62.): Hermann Stilke. In: Mnner der Zeit (wie Anm. 1), Sp. 140 – 141. 62 (62.): Teutwart Schmitson. In: Mnner der Zeit (wie Anm. 1), Sp. 309 – 311. 63 Mit dem Gemlde Herbstliche Waldlandschaft; vgl. die Beschreibung in: Beschreibendes Verzeichnis der Kunstwerke in der Kçniglichen National-Galerie zu Berlin von Dr. Max Jordan. Vierte neu bearbeitete Aufl. Berlin 1878, S. 32. 64 Mit dem Historienbild Cromwell’sche Reiter; vgl. die Beschreibung ebd., S. 51. 65 Mit dem historischen Genrebild Der Krieger und sein Kind; vgl. die Beschreibung ebd., S. 144. 66 Mit dem Historienbild Raub der Sçhne Eduards; vgl. die Beschreibung ebd., S. 305 – 306. 67 (62.): Teutwart Schmitson. In: Mnner der Zeit (wie Anm. 1), Sp. 309 – 311, hier Sp. 310: „Dann schlug er sein Zelt in Berlin auf, und der Besuch seines Ateliers gehçrt zu den besonders angenehmen, indem eine große Flle angefangener und halb vollendeter Gemlde von allen Dimensionen einen vollen Blick in die Darstellungswelt und die Schçpfungsweise des Knstlers zulassen.“ 68 Oswald Achenbach (wie Anm. 55), Sp. 335: „[…] der ,Molo von Neapel bei Mondschein‘ (1860 auf der Berliner Ausstellung).“ – Vgl. auch Andreas Achenbach (wie Anm. 55), Sp. 333: „[…] Wassermhle; Italienische Felsenkste (die beiden letztern, von denen namentlich die ,Wassermhle‘ sehr schçn, 1860 auf der Berliner Ausstellung).“ 69 Die 1850 erçffnete Ravensche Bildergalerie zeitgençssischer Kunst des Privatsammlers und Industriellen Peter Louis Raven zeigte u. a. Caspar Scheurens Mhle im Regen,
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Wir brauchen nicht nur eine Bibliothek der Bcher, die Fontane gelesen hat,70 wir brauchen auch ein Inventar der Bilder, die Fontane gesehen hat, denn wir gehen, wenn wir seine Werke lesen, durch ein „muse imaginaire“. Das beginnt bereits in diesen kleinen Artikeln. Da ist ein stndiges Vergleichen zwischen Malern des einen wie des anderen Genres, der einen wie der anderen Schule, zwischen deutschen und englischen Knstlern, der englischen Knstler untereinander – das bei Sir Edwin Landseer, dem berhmtesten Tiermaler seiner Zeit, zum kçstlichen Bonmot wird. Nur Thomas Lawrence, dessen Blthezeit als Portrtmaler in die zwanziger Jahre dieses Jahrhunderts fllt, ist in hnlich glnzender Weise honorirt worden, wiewohl sich, auch im Vergleiche mit ihm, dem aristokratischen Portrtmaler par excellence, die heitre Thatsache ergiebt, daß der englische Adel bereit gewesen ist die Portrts seiner Lieblingshunde glnzender zu bezahlen als seine eignen.71
IV. Die Spannbreite der biographischen Artikel ist nicht nur hinsichtlich der Professionen groß, denn es kommen zu den Knstlern, Schriftstellern und Politikern einige Wissenschaftler und noch ein paar weitere Berufe hinzu. Sie ist, mit Blick auf einzelne Artikel, nicht minder groß, wenn man die Fremdund Eigenleistung in Betracht zieht. Um dies beispielhaft anzudeuten: Die Skizze ber den Berliner Bildhauer Wilhelm Wolff, den sogenannten „Thier-Wolff“, mit dem Fontane im Tunnel ber der Spree verkehrte,72 ist ganze Textpassagen lang wçrtlich der einzigen bis dahin gedruckt vorliegenden Quelle ber diesen Knstler entnommen.73 Die unmittelbar vorangehende Skizze ber Ludwig Wichmann hingegen, den Fontane mit
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die Galerie des Berliner Kunstvereins u. a. Hans Gudes und Adolf Tidemands Fischer auf einem Norwegischen Binnensee. Im Besitz von Dr. Lessing in Berlin befand sich Die Brautfahrt auf dem Hardanger Fjord, ein Gemeinschaftswerk von Gude und Tidemand. Etliche Gemlde Scheurens waren damals im Besitz preußischer Prinzessinnen und Prinzen sowie des Bankiers Bendemann in Berlin. Vgl. Wolfgang Rasch: Zeitungstiger, Bcherfresser. Die Bibliothek Theodor Fontanes als Fragment und Aufgabe betrachtet. In: Ute Schneider (Hg.): Imprimatur. Ein Jahrbuch fr Bcherfreunde. N. F. [Bd.] XIX. Wiesbaden 2005, S. 103 – 144. (66.): Sir Edwin Landseer. In: Mnner der Zeit (wie Anm. 1), Sp. 225 – 227, hier Sp. 225 – 226. (62.): Friedrich Wilhelm Wolff. In: Mnner der Zeit (wie Anm. 1), Sp. 233 – 234. Fontane und die bildende Kunst (wie Anm. 44), S. 167; es handelt sich bezeichnenderweise um einen Aufsatz des Fontane befreundeten Friedrich Eggers: Knstler und Werksttten. Wilhelm Wolff. In: Deutsches Kunstblatt 7 (1856), S. 143 – 145.
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Rauch und Tieck zur „preußischen Bildhauer = Trias“74 zhlte, ist „bis heute der einzig nennenswerte Versuch“, dessen „Leben und Werk in einem Aufsatz zu betrachten“75. Zwar gibt es den ,Normalfall‘ des biographischen Artikels, proportional aufgeteilt in Leben, Werk und Charakteristik, aber auch hier ist die Abweichung im Einzelfall erheblich. Die von der Schauspielerin Lina Fuhr erhaltenen Notizen wollte Fontane „zu einem kleinen Bilde aus der Kinderzeit“ zusammenstellen. Das „Bild“ wuchs sich darber zu einer anekdotischen Erzhlung aus, die zwei Drittel des Artikels fllte. Was Fontane Vorbild war und worauf es ihm ankam, entnimmt man am besten seinen eigenen Worten. Er schrieb an Lina Fuhr: Mein ergebenster Wunsch geht dahin, eine biographische Skizze von Ihnen zu erhalten, etwa von der Art und dem Umfange wie die niedlich geschriebene Biographie Charlotte v. Ha[g]n’s im „Taschenbuch deutscher Bhnen-Knstler und Knstlerinnen“ (Leipzig 1837). Ich whle gerade diese Arbeit, weil sie […] solche Dinge hervorhebt auf die es mir vorzugsweise ankommt, nmlich Anekdotisches, Jugend-Erlebnisse, frappante Scenen aus der Zeit der Entwicklung, wo das Gemth noch schwankt und die ußren Umstnde oft entscheidender eingreifen als das innre Wollen.76
Wo Geeignetes zur Hand war, hat Fontane eine Spur davon, manchmal in ein, zwei Stzen, in den Lebensgang eingeflochten. Aufs Ganze gesehen bleiben die Skizzen jedoch hinter diesen Vorstellungen zurck – sie mussten es wohl auch, weil die Textsorte ,Artikel‘ dem Umfang Grenzen setzte und allzuviel Privates die Gesetze des Lexikons verletzte.77 Und doch sind es 74 (62.): Ludwig Wichmann. In: Mnner der Zeit (wie Anm. 1), Sp. 231 – 233, hier Sp. 231. 75 Fontane und die bildende Kunst (wie Anm. 44), S. 166. Dass ihm ein Zeitungsbeitrag Fontanes ber die von Wichmann geschaffene Winckelmann-Statue in Stendal vorausgegangen ist, wurde bisher bersehen; Te.: Stendal und die WinckelmannStatue. In: Neue Preußische [Kreuz-] Zeitung, Berlin, Nr. 242, 16. Oktober 1859, Beilage. Da Fontane mit Sohn und Schwiegertochter enger bekannt und die Enkeltochter sein Patenkind war, sollte man dieser Familienbeziehung noch einmal nachgehen. Herman Wichmann: Frohes und Ernstes aus meinem Leben. Als Manuskript gedruckt. Leipzig: [Rçder] 1898 (enthlt im Anhang mehrere Briefe und Postkarten Fontanes an Wichmann aus den Jahren 1881 bis 1897); Theodor Fontane: Toast auf Clara Wichmann. 1865 – 1876, An Dorothee Wichmann. Zur Taufe am 8. Mrz 1868, An Dorothee Wichmann. Zum 30. Dezember 1868. In: GBA Gedichte 3. 2. Aufl. 1995, S. 175, 190 – 191, 196. 76 Theodor Fontane an Lina Fuhr, Berlin, 18. August 1860. In: HFA IV/2, S. 7 (Hervorh. im Orig., H. F.). 77 Lediglich bei Bogumil Goltz, Christian Friedrich Scherenberg und Wilhelm Wolff tritt dieser Zug deutlicher hervor. Dass dies auch fr Charlotte von Hagn zutrifft,
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gerade diese Spuren „aus der Zeit der Entwicklung, wo das Gemth noch schwankt“, in denen gelegentlich die eigene Lebensgeschichte nachklingt. Hier nhern wir uns dem, was Peter Wruck „die ,wunden Punkte‘ in Fontanes Biographie“78 genannt hat. Die Mnner der Zeit halten auch in dieser Hinsicht eine kleine berraschung bereit. Der Apothekersohn Fontane hat nmlich nicht zufllig zwei Apothekersçhne fr Lorck portrtiert, die es zu hohem Ansehen gebracht haben. Der eine, Gustav Rose, „von dem Studium der Naturwissenschaften und besonders der Mineralogie, Geologie und Chemie […] angezogen“,79 wurde Neubegrnder der Klassifikation des Mineralsystems und Professor der Mineralogie und Geognosie an der Friedrich-Wilhelms-Universitt. Der andere, Heinrich Rose, ebenfalls Professor an der Berliner Universitt, zhlte zu den „bedeutendsten […] Chemiker[n] auf dem Gebiete der analytischen Chemie“.80 Man wrde das heute „Exzellenz“ nennen. (Damals titulierte man hçchste Beamte und Militrs so, auch wenn es Hohlkçpfe waren.) Der Apothekersohn Fontane hatte nun mit dem dritten der Apothekersçhne sehr spezielle Erfahrungen gemacht. Wilhelm Rose war von 1836 bis 1840 Fontanes Lehrherr gewesen. ber ihn hat er noch im Alter an Hertz geschrieben: Im Ganzen hat man ja in alten Tagen eine Neigung, alles Zurckliegende verklrt zu sehn, Menschen und Dinge, aber den alten Rose konnte ich an diesem Vorzug nicht theilnehmen lassen, weil diese ’raufgepuffte Nichtigkeit mit Gelehrsamkeits- und Sittlichkeitsallren, mir ganz besonders schrecklich war.81
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liegt einfach daran, dass sich Fontane in dem erwhnten Leipziger Taschenbuch gut bedient hat; vgl. (22.): Charlotte von Hagn. In: Mnner der Zeit. Supplement: Frauen der Zeit (wie Anm. 1), Sp. 47 – 49. Peter Wruck: Die „wunden Punkte“ in Fontanes Biographie und ihre autobiographische Euphemisierung. In: Fontane Bltter 65 – 66 (1998), S. 61 – 71. (65.): Gustav Rose. In: Mnner der Zeit (wie Anm. 1), Sp. 269 – 270, hier Sp. 269. (65.): Heinrich Rose. In: Mnner der Zeit (wie Anm. 1), Sp. 332. Theodor Fontane an Wilhelm Hertz, Berlin, 19. November 1895. In: HFA IV/4, S. 505. – Vgl. Wolfgang Rasch (Hg.): Wilhelm Rose: ,Aus der Schweiz‘. In: Fontane Bltter 74 (2002), S. 28 – 47, hier die Einleitung S. 28 – 33. – Gerhard Kchler: Die Apothekerdynastie Rose und Theodor Fontane. In: Landesgeschichtliche Vereinigung fr die Mark Brandenburg e.V. Mitteilungsblatt, Nr. 72, 1. Januar 1973, S. 807 – 808. – In einem Brief vom 12. April 1860 hatte Wilhelm Rose dem „geehrte(n) Freund“ Fontane sogar versprochen, ihm bei der Abfassung der Lexikonartikel ber die beiden Brder behilflich zu sein. Abgedruckt in Julius Petersen: Fontanes erster Berliner Gesellschaftroman. Sonderausgabe aus den Sitzungsberichten der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Phil.-Hist. Klasse. 1929. XXIV. Berlin: de Gruyter, 1929, S. 15 – 16.
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Die Biographien der drei Apothekersçhne greifen am Ende in die Biographie des Biographen und Ex-Apothekers selbst hinein. Als dieser im selben Jahr 1862, in dem die Mnner der Zeit erschienen, fr seinen Verleger Hertz eine Autobiographie verfassen sollte, fehlte vom Apotheker jede Spur. Stattdessen gab er sich den Anschein, als htte er seinen Bildungsgang zielstrebig auf die Wissenschaft, ja auf dieselbe Wissenschaft – „Naturwissenschaften und besonders […] Chemie“ – ausgerichtet wie die berhmten Apothekersçhne Gustav und Heinrich Rose. „Theodor Fontane wurde am 30. Dezember 1819 zu Neuruppin geboren. Er besuchte das Gymnasium seiner Vaterstadt, dann die Gewerbeschule in Berlin, da er vorhatte, Naturwissenschaften, besonders Chemie zu studieren.“82 Selbst der Geburtsort bekam in diesem Zusammenhang einen speziellen Klang, denn die Familie Rose stammte ebenfalls aus Neuruppin. – Berhrungen mit der eigenen Biographie konnten bereits bei den Politiker- und fast mehr noch bei den Dichterportrts festgestellt werden. Zeitgeschichte und Literaturkritik wirkten dabei stark auf diese Lebensskizzen ein. Die große Zahl der Knstlerbiographien ließ indes erkennen, dass bildende Kunst und Kunstkritik das eigentlich prgende Merkmal von Fontanes Mitarbeit am Biographischen Lexikon der Gegenwart ist. Eigen- und Fremdleistung kçnnen dabei, wie an den Bildhauerbiographien zu sehen, im Einzelfall sehr weit auseinandergehen. Eine hnliche Spannbreite ergibt sich in der Form: Sie kann von der Kindheitserzhlung bis zur bloßen Aneinanderreihung von Daten und Fakten reichen. Unverkennbar ist das Interesse an der „Zeit der Entwicklung“, das sich aber in den Artikeln nur selten geltend machen kann. Als Brcke zur eigenen Lebensgeschichte çffnet es freilich den Blick auf den Zusammenhang von Biographik und Autobiographik. Das kann, wie Fontane mit Rcksicht auf den Apotheker formuliert hat, einen „dunklen Punkt“ des eigenen Lebens berhren. Darber sei – so meinte er – „ohne weitre Lichtverbreitung hinzugehn“.83 Vielleicht hat dieser Gang durch die Spalten des Lexikons aber auch gezeigt, dass ein wenig „Lichtverbreitung“nicht schaden kann. Mehr konnte es beim ersten Durchgang nicht sein; mehr msste es sein, wenn es beispielsweise um die Erhellung von Fontanes Kunsturteil in dieser Zeit geht, 82 Fontane fr Wilhelm Hertz. In: Theodor Fontane: Von Zwanzig bis Dreißig. Autobiographisches. Nebst anderen selbstbiographischen Zeugnissen. Hg. von Kurt Schreinert u. Jutta Neuendorff-Frstenau. Mnchen 1973, S. 435. – Fontane hat das „Umschreibung resp. Verleugung der Apothekerschaft“ genannt; Theodor Fontane an Wilhelm Hertz, Berlin, 5. Oktober 1862. In: HFA IV/2, S. 86 – 87. 83 HFA IV/2, S. 87.
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denn dazu liefern die Artikel reichlich Material. Auch die Unterschiede, die beim Vergleich verschiedener Fassungen derselben Biographie (Botho von Hlsen84, Heyse, Scherenberg85, Tennyson) zutage treten, sollten eingehender beleuchtet werden. Ferner bliebe genauer zu bestimmen, wo sich Fontane an die bliche Form des Artikels hlt und wo er diese Form unter der Vorgabe „Skizzen und Charakteristiken“ ausweitet oder sogar berschreitet. In dieser Hinsicht wren Vergleiche mit anderen biographischen Artikeln anzustellen, wie Fontane sie zur selben Zeit fr das Denkmal Albrecht Thaer’s in Berlin verfasst hat. Dass er diese Kleingattung zu handhaben wusste, steht außer Frage; dass er sie mit unterschiedlichen Zwecken – Politik, Kunstkritik, Literaturkritik, aber auch Religionskritik86 und Theaterkritik87 – geschickt zu mischen vermochte, macht heute den nicht geringsten Reiz der Beschftigung mit den „Mnnern (und Frauen) der Zeit“ aus.
84 (70.): Botho von Hlsen. In: Mnner der Zeit (wie Anm. 1), Sp. 381 – 383. – [Anon.:] Botho von Hlsen †. In: Kçniglich privilegirte Berlinische Zeitung von Staats- und gelehrten Sachen, Berlin, Nr. 456, 30. September 1886, Abendausgabe, Beilage. – Th[eodor] F[ontane]: Bis zuletzt haben ihn … In: Kçniglich privilegirte Berlinische Zeitung von Staats- und gelehrten Sachen, Berlin, Nr. 458, 1. Oktober 1886, Abendausgabe, Beilage. 85 Erstaunlich vor dem Hintergrund des Urteils in Mnner der Zeit auch das sptere Bekenntnis in einem Brief an Lepel: „Ueber Scherenberg denk ich, trotz seiner sptren Verrcktheiten, im Ganzen ebenso gnstig wie Du. Einiges ist ganz ersten Ranges. Er war wirklich ein Dichter. Uebrigens lebt er noch.“ Theodor Fontane an Bernhard von Lepel, Potsdam, 20. April 1881. In: Fontane und Lepel (wie Anm. 21), S. 616 – 617, hier S. 617. 86 (66.): John Cumming. In: Mnner der Zeit (wie Anm. 1), Sp. 213 – 214. 87 Hlsen (wie Anm. 84). – (22.): Charlotte von Hagn. In: Mnner der Zeit. Mit Supplement: Frauen der Zeit (wie Anm. 1), Sp. 47 – 49. – (55.): Johanna Wagner. In: Mnner der Zeit. Mit Supplement: Frauen der Zeit (wie Anm. 1), Sp. 124 – 126.
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„Die Macht des Stils“ Beobachtungen zu Fontanes biographischen Lektren
Josefine Kitzbichler Im Herbst 1891 schrieb Fontane in seinem Tagebuch: Zur Lektre kommen wir wenig, Historisches ist langweilig fr Emilie und Novellistisches langweilig fr mich. Mit Vergngen lesen wir Storms letzte Arbeit „Der Schimmelreiter“ und des alten Hippel „Lebenslufe in aufsteigender Linie“, als Roman eigentlich schwach, als Biographie (weil nicht echt und zuverlssig) auch sehr anfechtbar, aber in hçchstem Maße klug und geistreich und so doch eine vortreffliche Lektre.1
Verallgemeinernd kçnnte man aus dieser Lektrenotiz schließen, dass Fontane damals „wahre“ Geschichten den „erfundenen“ generell vorzog und dass es fr ihn der Novellenkunst Storms bedurfte, um auch fiktiven Erzhlungen „Vergngen“ abzugewinnen. Letztlich allerdings wogen Witz, Klugheit und Interesse fr Fontanes Urteil schwerer, als faktische Zuverlssigkeit und Erfllung von Gattungsvorgaben: Theodor Gottlieb Hippels autobiographische Hybride Lebenslufe nach aufsteigender Linie (zuerst 1778 in vier Bnden erschienen), obwohl „anfechtbar“, galt ihm dennoch als „vortreffliche Lektre“. Die relative Geringschtzung erzhlerischer Fiktion, die sich hier ausspricht, ist bei dem Novellisten und Romancier Fontane auffllig und zugleich nicht ganz unerwartet. Charakteristisch fr Fontane (und fr seine Zeit) ist dagegen die Vorliebe fr Geschichtsschreibung, zu der er auch biographische Literatur zhlte. Tatschlich hatten sich Biographien im Laufe des 19. Jahrhunderts in wachsendem Maß als genuin historische Darstellungsform etabliert. Um Leben und Werk bedeutender Personen in konsistentem Zusammenhang innerhalb der Zeitgeschichte darzustellen, mussten sie erzhlerische Konstruktion und historische Quellenforschung zusammenfhren, was sie von Beginn an in das Spannungsfeld von Kunst und Wissenschaft, Narration und Dokumentation, Individualitt und Typik brachte. Biographien wur1
Tagebucheintrag 1. Juni bis 31. Oktober [1891]. In: GBA Tagebcher. 1866 – 1882. 1884 – 1898. 2. Aufl. 1995, S. 256.
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den daher auch zum Prfstein fr die Frage, welche Bedeutung dem Einzelnen im großen geschichtlichen Zusammenhang zukommt.2 Neben historisch-politische Biographik, die besonders um die Jahrhundertmitte Konjunktur hatte (z. B. Johann Gustav Droysens Alexander und York 3, Leopold von Rankes Wallenstein 4, Georg Heinrich Pertz’ Gneisenau und Freiherr vom Stein 5) traten geistesgeschichtliche, insbesondere literarische, philosophische und kunsthistorische Biographien (etwa Wilhelm Diltheys Schleiermacher 6, Rudolf Hayms Herder 7, Herman Grimms Goethe, Michelangelo und Raphael 8, Carl Justis Winckelmann und Diego Velzquez 9); und whrend beispielsweise Droysen den Einzelnen ausschließlich als Reprsentanten und Agenten der Historie zeigte, suchte Ranke den Zusammenhang von geschichtlicher Bedeutung, persçnlicher Entwicklung und individuell-psychologischer Charakteristik darzustellen. Das Identifikationspotential, das mit Lebensbeschreibungen ohnehin verbunden ist, wurde in der letztgenannten, die historische und die indi2
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Zur Geschichte und Problematik der Biographie vgl. u. a. Helmut Scheuer: Biographie. Studien zur Funktion und zum Wandel einer literarischen Gattung vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Stuttgart 1979; Olaf Hhner: Historische Biographik. Die Entwicklung einer geschichtswissenschaftlichen Darstellungsform von der Antike bis ins 20. Jahrhundert. Frankfurt am Main 1999; Hans-Martin Kruckis: „Ein potenziertes Abbild der Menschheit“. Biographischer Diskurs und Etablierung der Neugermanistik in der Goethe-Biographik bis Gundolf. Heidelberg 1995; Carl Alexander Krethlow: Militrbiographie: Entwicklung und Methodik. In: Michael Epkenhans (Hg.): Militrische Erinnerungskultur. Soldaten im Spiegel von Biographien, Memoiren und Selbstzeugnissen. Paderborn u. a. 2006, S. 1 – 27. Johann Gustav Droysen: Geschichte Alexanders des Großen. Berlin 1833; Das Leben des Feldmarschalls Grafen York von Wartenburg. Berlin 1851. Droysen begrndete seine Auffassung von historischer Biographie spter auch theoretisch in den HistorikVorlesungen, vgl. Historik. Historisch-kritische Ausgabe. Bd. 1. Hg. v. Peter Leyh. Stuttgart, Bad Cannstatt 1977, S. 57 f. Leopold von Ranke: Geschichte Wallensteins. Leipzig 1869. Georg Heinrich Pertz: Das Leben des Ministers Freiherrn vom Stein. 6 Bde. Berlin 2 1849 – 1855; Das Leben des Feldmarschalls Grafen Neidhardt von Gneisenau. 5 Bde. Berlin 1864 – 1880 (Band 4 und 5 wurden nach Pertz’ Tod von Hans Delbrck verfasst). Wilhelm Dilthey: Leben Schleiermachers. Berlin 1870. Rudolf Haym: Herder nach seinem Leben und seinen Werken dargestellt. 2 Bde. Berlin 1880/1885. Herman Grimm: Leben Michelangelo’s. 2 Bde. Hannover 1860/1863; Goethe. Vorlesungen gehalten an der Kgl. Universitt zu Berlin. 2 Bde. Berlin 1877; Das Leben Raphael’s. 2. Ausg. d. 1. Bd. und Abschluss in einem Bd. Berlin 1886. Carl Justi: Winckelmann und seine Zeitgenossen. 2 Bde. Leipzig 1866/1872; Diego Velzquez und sein Jahrhundert. 2 Bde. Bonn 1888.
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viduelle Perspektive integrierenden Form noch verstrkt. Gerade die individuellen und kollektiven Anschlussmçglichkeiten, die damit gegeben waren, machten Biographien zu einer historiographischen Form, die ber den akademischen Bereich hinaus Wirksamkeit entfalten konnte. Zur Selbstdarstellung der Eliten der bildungsbrgerlichen Gesellschaft waren sie damit prdestiniert: So war die Allgemeine Deutsche Biographie 10 ausdrcklich „zugleich fr den wissenschaftlichen Gebrauch des Gelehrten und fr die Gesammtheit der Gebildeten“11 gedacht und als Darstellung deutscher Geschichte im Medium von Einzelbiographien konzipiert, wie der Herausgeber im ersten Band (1875) erluterte: Aufgenommen werden sollen aber in die Biographie alle bedeutenderen Persçnlichkeiten, in deren Thaten und Werken sich die Entwickelung Deutschlands in Geschichte, Wissenschaft, Kunst, Handel und Gewerbe, kurz in jedem Zweige des politischen und des Culturlebens darstellt. […] Wir fragen nicht, welche Namen berhaupt auf dem großen Schauplatz der Geschichte erscheinen, sondern wir suchen aus dem Verlauf der Dinge zu erkennen, in welchem Namen sich ihre Entwickelung darstellt, um, indem wir ber diese Namen berichten, eine in biographische Bilder gefaßte Geschichte der Dinge selbst zu geben.12
Wie die eigentlichen Biographien, so ist auch die Autobiographik des 19. Jahrhunderts vom historischen Bewusstsein der Zeit geprgt: Fontane selbst sprach im Zusammenhang der Kriegserinnerungen des Julius von Verdy du Vernois von „Historienschreiberei“.13 Dies betrifft natrlich in erACHTUNGREster Linie die auf politische, berufliche oder militrische Ereignisse gerichteten „Denkwrdigkeiten“, die sich in der zweiten Jahrhunderthlfte im Anschluss an franzçsische Memoiren-Tradition in Deutschland etablierten. Fast scheint es signifikant, dass zwei der bedeutendsten Bcher dieser Art, die 10 Die ADB wurde zwischen 1875 und 1912 von der Historischen Kommission an der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in 56 Bnden herausgegeben. Sie ist eindrucksvolles Zeugnis fr den Stellenwert und den Stand biographischer Historiographie im deutschen Kaiserreich und heute zugleich wissenschaftsgeschichtliches Dokument und nach wie vor unentbehrliches Arbeitsmittel. Fontane las den von Michael Bernays verfassten Artikel zu Goethe, s. unten. In Band 48 (Nachtrge bis 1899, 1904) erschien der Fontane gewidmete Artikel, dessen Autor Richard Moritz Meyer war. 11 Rochus Freiherr von Liliencron / Franz Xaver Wegele: Vorrede. In: ADB, Bd. 1, 1875, S. V. 12 Liliencron / Wegele: Vorrede (wie Anm. 11), S. V–VIII. 13 Theodor Fontane an Martha Fontane, 9. August 1895: „Die richtige Historienschreiberei ist zwar wohl nicht das Hçchste in der Kunst, aber es interessirt mich am meisten.“ In: HFA IV/4, S. 468.
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von Varnhagen von Ense (1837/59)14 und Bismarck (1898)15, zugleich den zeitlichen Rahmen fr Fontanes Leserbiographie abstecken. Aber auch die Darstellung des privaten Lebens ist in dieser Zeit in Form von – oft verklrenden – „Erinnerungen“weniger an innerer Entwicklung als vielmehr an ußeren Ereignissen wie Reisen, Begegnungen, Erlebnissen interessiert (als Beispiele kçnnen die Erinnerungsbcher von Wilhelm von Kgelgen16, Ludwig Richter17, Gustav Freytag18 oder Paul Heyse19 dienen). Im Kontext des Aufschwungs solcher dezidiert historischen Biographik soll im Folgenden versucht werden, Fontanes biographische Lektren zu rekonstruieren. Die Voraussetzungen dazu sind außerordentlich gnstig: Zwar hat Fontane seinen tglichen Lesestoff nicht regelrecht protokolliert (wie etwa Walter Benjamin), aber Tagebcher und Korrespondenz enthalten zahlreiche Hinweise, die noch durch Anhaltspunkte aus den Wanderungen, den Romanen und natrlich aus den journalistischen und kritischen Arbeiten zu ergnzen sind.20 Besonders interessant ist eine Liste von 71 Bchern, die Fontane 1894 fr eine Umfrage unter dem Titel Was soll ich lesen? zusammenstellte und die vielleicht gerade wegen der offenkundigen Flchtigkeit, mit der er dabei zu Werke ging (wie die Ungenauigkeiten und Lcken bei den Titelangaben zeigen), die Authentizitt des Augenblicks hat.21 Natrlich bleibt ein solcher Versuch der Rekonstruktion in gewisser Weise immer eine anfechtbare Konstruktion. Es ist damit zu rechnen, dass selbst wesentliche Titel nicht dokumentiert sind. Aber auch da, wo die „harten“ bibliographischen und chronikalischen Daten zuverlssig vorliegen, bleiben fllige Fragen hufig offen: Las Fontane aus eigenem Entschluss 14 Karl August Varnhagen von Ense: Denkwrdigkeiten und vermischte Schriften. Mannheim 1837/38 (Bd. 1 – 4), Leipzig 1843 – 1859 (Bd. 5 – 9). 15 Otto Frst von Bismarck: Gedanken und Erinnerungen. 2 Bde. Stuttgart 1898. 16 Wilhelm von Kgelgen: Jugenderinnerungen eines alten Mannes, hg. von Philipp von Nathusius. Berlin 1870. 17 Ludwig Richter: Lebenserinnerungen eines deutschen Malers. Selbstbiographie nebst Tagebuchniederschriften und Briefen. Frankfurt am Main 1885. 18 Gustav Freytag: Erinnerungen aus meinem Leben. Leipzig 1887. 19 Paul Heyse: Jugenderinnerungen und Bekenntnisse. Berlin 1900. 20 Dabei kann ich mich auf die in Krze erscheinende Theodor-Fontane-Chronik sttzen, die eine Rubrik zu Fontanes Lektre enthlt. Herzlicher Dank gilt Roland Berbig. 21 Was soll ich lesen? Weihnachtsalmanach 1894. ußerungen deutscher Mnner und Frauen, eingeleitet von Hermann Heiberg, gesammelt und herausgegeben von Victor Ottmann, Berlin 1894. In: Th. Fontane: Aufzeichnungen zur Literatur. Ungedrucktes und Unbekanntes. Berlin, Weimar 1969, S. 195 – 199.
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oder auf Empfehlung? Las er ein Buch ganz oder brach er die Lektre auf halber Strecke ab? Diente die Lektre der gezielten Recherche und war daher selektiv? Schmçkerte Fontane nur ganz beilufig? – Fragen wie diese verdeutlichen, dass es nicht nur darum gehen kann, eine mçglichst vollstndige Titelliste zu erstellen. Vielmehr soll ein Beitrag zu Fontanes eigener Biographie als Leser, ein Teil seiner „Lese-Biographie“ gegeben werden, der zwangslufig vor denselben Problemen steht, wie jede biographische Arbeit: Aus mehr oder weniger zuflligen Einzelbefunden wird ein Zusammenhang hergestellt, der eine Einheit von Leben und Werk – bzw. in diesem Fall von Leben und Lektre, Lektre und Werk – suggeriert. Umso wichtiger ist es, Fontanes biographische Lektren vor dem doppelten Hintergrund seiner Biographie und der Zeit- und Literaturgeschichte zu betrachten und sie mçglichst vielfach zu kontextualisieren. Autobiographische Literatur, die von vorn herein subjektiv und individuell verfhrt, und „eigentliche“, mehr oder weniger historisch-methodisch verfahrende Biographien: beides las Fontane mit Interesse und in großer Zahl. Die Liste der Autobiographica ist dabei umfangreicher, aber auch unbersichtlicher und schwieriger zu begrenzen und zu beschreiben, was eben mit dem individuellen Zuschnitt der Autobiographie und ihrer Formenvielfalt zusammenhngt. Die Autobiographien, die Fontane las, lassen sich im Wesentlichen zwei großen Gruppen zuordnen. Dazu gehçrt (a) die Memoirenliteratur, die auf die Darstellung von Zeitverhltnissen und Zeitgenossen zielt, und (b) die eigentliche Autobiographie. Die enorme Flle autobiographischer Dokumente (Briefe, Tagebcher u. dgl.), die Fontane berdies zur Kenntnis nahm, kann an dieser Stelle ebensowenig bercksichtigt werden, wie die zahlreichen autobiographischen Klein- und Kleinsttexte, die regelmßig in der Zeitungs- und Zeitschriftenpresse verçffentlicht wurden. Fontanes Leseinteresse folgt, dies wird schnell deutlich, immer wieder einem spezifischen Muster literarischer, geschichtlicher und persçnlicher Motive. (a) Das Interesse an Zeitgeschichte und an der Rolle, die der Einzelne darin spielt, bzw. an der Darstellung von Zeitgeschichte aus individueller Perspektive bestimmte Fontanes Beschftigung mit Memoiren, die hufig als regelrechte historische Arbeit zu verstehen ist und im Zusammenhang mit der Arbeit an den Wanderungen oder den historisch angelegten Romanen stand. So wird man die Tatsache, dass Fontane im Herbst 1858 in London mit großem Interesse Exzerpte aus Varnhagen von Enses Denkwrdigkeiten
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anfertigte,22 in das Vorfeld der Arbeit an Vor dem Sturm rechnen kçnnen; Gegenstand des dritten, von Fontane exzerpierten Varnhagen-Bandes sind vor allem die Ereignisse der Jahre 1813/1814 und des Wiener Kongresses. Und als er Ende 1868 von Mathilde von Rohr Sophie von Schwerins Vor hundert Jahren. Ein Lebensbild aus eigenen hinterlassenen Papieren zusammengestellt von ihrer jngeren Schwester Amalie von Romberg (1868 in Jena als Manuskript gedruckt) erhielt, schob er die Lektre zunchst auf: „[…] ich lese eigentlich immer nur Bcher, die mir bei der Arbeit, die ich vorhabe, direkt dienen mssen. Nun ist es gar keine Frage, daß mir solche Arbeiten, bei denen mir das ,Lebensbild‘ von Wichtigkeit sein wird, nahe bevor stehen […].“23 Zehn Jahre spter kam er tatschlich auf Schwerins Lebensbild zurck24 und erkundigte sich bei Mathilde von Rohr nach dem dort erwhnten Herrn von Schack – in dieser Zeit war er mit ersten Konzeptionen fr Schach von Wuthenow beschftigt. Zwei autobiographische Bcher aber wurden fr Fontane zu wirklichen Lebensbegleitern: die Memoiren der Wilhelmine Friederike Sophie von Bayreuth (1709 – 1758) und die des Friedrich August Ludwig von der Marwitz (1777 – 1837). In der erwhnten Umfrage Was soll ich lesen? notierte Fontane beide Titel untereinander und fgte hinter dem Marwitz-Buch in Klammern hinzu: „ganz vorzgliches Buch“.25 Die Aufzeichnungen der Markgrfin von Bayreuth, einer Schwester Friedrichs des Großen, waren ursprnglich berhaupt nicht zur Verçffentlichung gedacht. Als sie 1810 postum in franzçsischer Sprache zuerst erschienen,26 sorgten sie fr Aufsehen und wiederholt fr Zweifel an der Echtheit, letztlich berwog aber die Faszination an der Innensicht vom Hof des Soldatenkçnigs und die von Repressalien und Intrigen geprgte Kindheitsgeschichte, wie in einer Rezension der Jenaischen Allgemeinen LiteraturZeitung deutlich wird. 22 Vgl. die Tagebucheintrge vom 22. September, 26. September („Auszge aus ,Varnhagens Denkwrdigkeiten‘ gemacht, namentlich ber Schlaberndorf [sic].“) und 4. Oktober 1858. In: GBA Tagebcher. 1852. 1855 – 1858. 2. Aufl. 1995, S. 350 und 352 f. 23 Theodor Fontane an Mathilde v. Rohr, 3. Januar 1869. In: HFA IV/2, S. 229. Schon in der Liste benutzter Literatur fr das Oderland-Kapitel Tamsel fhrt Fontane „Ungedruckte Memoiren der Grfin Schwerin“ an. 24 „Sans phrase, ein Meisterstck“, lautete sein Urteil ber das Buch. Theodor Fontane an Mathilde v. Rohr, 11. August 1878. In: HFA IV/2, S. 612. 25 Fontane: Was soll ich lesen? (wie Anm. 21), S. 197. 26 Wilhelmine Friederike Sophie: Mmoires, T. 1 – 2, Depuis l’anne 1706 jusqu’ 1742, crits sa main. Braunschweig: Viehweg 1810.
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Der Rezensent berichtete von den Aufklrungen ber die geheime Geschichte des Preußischen Hofes und der Preußischen Cabinets-Politik unter Fr. Wilh. I. Regierung, die man theils gar nicht, theils nur sehr unvollstndig in den bekannten Werken ber jenes Kçnigs Regierung findet. Besonders der Beherzigung wrdig, sind die von der berhmten Vfn. nach dem Leben gezeichneten Charaktere, so wohl der Prinzen und Prinzessinnen der kçnigl. Familie, als auch der ersten Staats- und KriegsBedienten, an ihres Vaters Hofe […]. Die der Erzhlung ihrer eignen LebensMerkwrdigkeiten eingewebten Anekdoten aus der geheimen Geschichte des damaligen Preußischen, Englischen, Bayreuthischen und Anspachischen Hofes, – erhalten stets des Lesers Aufmerksamkeit, und gewhren so viel Reiz, daß man sich kaum berwinden kann, die Schrift aus der Hand zu legen. […] In der ganzen Schrift verrth sich das tiefe Gefhl der Prinzessin von ihrer hçchst traurigen Lage im vterlichen Hause, und der Drang fr so viel erlittene Krnkungen sich einigermaßen durch eine Erzhlung, die selbst die heiligsten Verhltnisse nicht schont, sondern die Fehler der nchsten Verwandten, ohne doch ihre guten Eigenschaften zu verschweigen, aufdeckt, zu entschdigen.27
1845 erschien die erste zuverlssige deutsche bersetzung28 und prgte von da an nachhaltig die dsteren Vorstellungen ber den preußischen Hof unter Friedrich Wilhelm I. Noch hçher schtzte Fontane die Aufzeichnungen seines „Liebling[s] Marwitz“29, der im Kampf gegen die Franzosen ein Freikorps fhrte und spter als Gegner der Hardenberg’schen Reformen das vertrat, was ihm als preußisches Recht galt. Die Memoiren verwendete Fontane – in der ihm vorliegenden, preußisch-hçfischen Interessen adaptierten Form der ersten Ausgabe – fr die Arbeit an Vor dem Sturm, dessen Figur des Berndt von Vitzewitz Fontane (nach einer Formulierung von Peter Wruck) Marwitz 27 Allgemeine Literatur-Zeitung, Ausgabe vom 10. Januar 1811, Nr. 11, Sp. 81 – 86, hier Sp. 81. 28 Memoiren von Friederike Sophie Wilhelmine Markgrfin von Bayreuth, Schwester Friedrichs des Großen, vom Jahre 1706 bis 1742, Braunschweig: Viehweg, 1845. Neuauflagen bis in die Gegenwart hinein bezeugen die anhaltende Anziehungskraft des Buchs, vgl. etwa Wilhelmine von Bayreuth, eine preußische Kçnigstochter. Glanz und Elend am Hofe des Soldatenkçnigs in den Memoiren der Markgrfin Wilhelmine von Bayreuth, hg. von Ingeborg Weber-Kellermann, Frankfurt am Main 2004. 29 Aus dem Nachlasse Friedrich August Ludwig’s von der Marwitz auf Friedersdorf, Kçnigl. Preuß. General-Lieutenants a. D. 2 Bde. Berlin: Mittler, 1852. Eine quellengesttzte Neuausgabe wurde von Gnter de Bruyn besorgt (Friedrich August Ludwig von der Marwitz. Nachrichten aus meinem Leben. Berlin 1989). Vgl. zu Marwitz Gnter de Bruyn: Mein Liebling Marwitz oder Die meisten Zitate sind falsch. In: Theodor Fontane. Hg. v. Heinz Ludwig Arnold. Edition text und kritik, Mnchen 1998, S. 11 – 29.
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„teils angehnelt, teils entfremdet“30 hat. Auch fr eine ganze Reihe von Wanderungen-Kapiteln nahm er sie zur Hand (Schloß Friedersdorf 1860, Kunersdorf 1862, Das Pfulen-Land 1863, Regiment Prinz Ferdinand Nr. 34 1873). In Briefen verwies er immer wieder auf die Bedeutung, die dieses Buch fr ihn hatte. Im biographischen Medium, das fllt auf, erschließt Fontane sich hier Eckpunkte der preußischen Geschichte, seiner preußischen Geschichte. Die Aufzeichnungen der Markgrfin von Bayreuth gehçren dem Umkreis des Altfritzischen und der „Katte-Tragçdie“ an; die Marwitz-Memoiren berichten aus der Zeit der Napoleonischen Kriege. Fontane selbst wurde in Oderland zum historischen Biographen: Die Hinrichtung des Hans Hermann von Katte stellte er hier als „Schreckensschauspiel“31 kçniglichen Machtmissbrauchs dar – und zugleich als Beweis fr „jene moralische Kraft“32, die durch alle historischen Widersprche und Fragwrdigkeiten hindurch in der Katte-Tragçdie, aber eben auch in Marwitz’ Haltung des „Immer nach Grundstzen gehandelt haben“33 den Fixpunkt preußischer Geschichte bildete. In der Haltung und Integritt des Einzelnen lag fr Fontane jene altpreußische Gesinnung, auf die er rekurrieren konnte und wollte. Die Kollision zwischen dem Individuum und dem Staat, die Reibungen zwischen dem Handeln des Einzelnen und dem historischen Geschehen, ist dabei nicht nur vorprogrammiert, sondern geradezu ein Hauptteil seines Preußentums. Dass die Aufzeichnungen der Wilhelmine Friederike Sophie und die des von der Marwitz von Fontane in der Leseliste von 1894 nebeneinandergestellt werden, ist bezeichnend. Aber auch die Titel anderer von Fontane geschtzter Memoirenbcher passen in diesen Zusammenhang: das schon genannte Lebensbild der Sophie von Schwerin oder die Erinnerungen aus dem Leben eines Landgeistlichen von Karl Bchsel,34 die Fontane gelegentlich auch stellvertretend fr „allerlei kleine von Pastoren und Dorf-
30 Peter Wruck: Welches Preußen? Fontanes Auseinandersetzung mit seinem Liebling Friedrich August Ludwig von der Marwitz. In: Berliner LeseZeichen, Ausgabe 6/7 2001 (www.luise-berlin.de/Lesezei/Blz01_06/text05.htm). 31 GBA Wanderungen. Bd. 2. Oderland. 1991, S. 338. 32 GBA Wanderungen. Bd. 2. Oderland. 1991, S. 299. 33 GBA Wanderungen. Bd. 2. Oderland. 1991, S. 245. 34 Karl Bchsel: Erinnerungen aus dem Leben eines Landgeistlichen. 4 Bde. Berlin 1860 – 1886. Vgl. dazu auch Fontanes Brief an Georg Friedlaender, 20. August 1889 in: HFA IV/3, S. 715.
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schulmeistern geschriebene Chroniken oder Auszge daraus“35 anfhrte und die neben eingehenden theologischen Erçrterungen und mild-frommen Bekenntnissen auch Einblicke in das oft beengende Dasein mrkischer Landpfarrer geben. Fontanes Memoiren-Lektre war unverkennbar historisch, und zwar brandenburgisch-preußisch ausgerichtet. (b) Ebenso unverkennbar verschieben sich Fontanes Prferenzen mit dem Alter. In seinem letzten Lebensjahrzehnt gewinnen die eigentlichen Autobiographien an Aufmerksamkeit. Meist handelte es sich um Bcher von Altersgefhrten, Freunden, Bekannten oder Kollegen. Fontane selbst sprach in einem Brief an Wilhelm Hertz von Zeiten der „fluthenden Biographie“: „Lbke, Pietsch sind kaum berwunden und schon sind 5 andre Richmond’s in the field: Brugsch, Hanslick, Keller, Roquette, ich. Und wahrscheinlich viele andre noch. Gott gebe seinen Segen.“36 Mit einem Stoßseufzer bezeichnete Fontane hier den Kontext seines eigenen „Autobiographischen Romans“ Meine Kinderjahre, deren erste Exemplare wenige Tage zuvor ausgeliefert worden waren. Zu den genannten – Wilhelm Lbkes Lebenserinnerungen 37, Ludwig Pietschs Wie ich Schriftsteller geworden bin 38, Heinrich Brugsch-Paschas Mein Leben und mein Wandern 39, Eduard Hanslicks Aus meinem Leben 40 und Otto Roquettes Siebzig Jahre 41 – ließen 35 Vgl. u. a. den Brief Fontanes an Theodor Hermann Pantenius, 14. August 1893. In: HFA IV/4, S. 274. 36 Theodor Fontane an Wilhelm Hertz, 3. Dezember 1893. In: HFA IV/4, S. 313 f. 37 Wilhelm Lbke: Lebenserinnerungen. Berlin 1891. Fontane besprach das Buch am 21. Juni 1891 in der Vossischen Zeitung. 38 Ludwig Pietsch: Wie ich Schriftsteller geworden bin. 2 Bde. Berlin 1893. Mehrfach berichtet Fontane ber Pietschs Buch, vgl. u. a. HFA IV/4, S. 229 (Theodor Fontane an Ludwig Pietsch, 6. November 1892) und S. 262 (Theodor Fontane an Ludwig Pietsch, 23. Juni 1893). 39 Heinrich Brugsch-Pascha: Mein Leben und mein Wandern. Berlin 1894. Fontane las den Vorabdruck in der Vossischen Zeitung, vgl. den Brief an Friedrich Stephany vom 12. September 1893: „Unsre Lektre hier bestand aus der Vossin und in ihr zum grçßten Teil aus Brugsch Leben und Wandern. Ich bin neugierig zu hçren, wie es auf unsre guten Berliner gewirkt hat; ein stoffliches Interesse ist da, Dramatis personae sehr viele, dazu Anekdoten und witzige Zitate in Flle. Freilich gibt es auch eine Gegenrechnung.“ In: HFA IV/4, S. 293 f. 40 Eduard Hanslick: Aus meinem Leben. Berlin 1892. Fontane las den Vorabdruck in der Deutschen Rundschau, immer mit Blick auf Meine Kinderjahre, dessen Erzhlweise er als genauen Gegensatz zu der von Hanslick sah. So schrieb er an Moritz Necker (24. April 1894): „Hanslicks Erinnerungen sind eigentlich nach einem alten Rezept zusammengestellt, das als Rezept keinen hohen Werth mehr hat, aber er hat es doch so fein und gut gemacht, daß ich wieder recht empfunden habe, alte oder neue Manier ist ganz gleichgltig, wenn nur der richtige Mann sich an die Sache heran
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sich noch andere Erinnerungsbcher aus dieser Zeit hinzufgen, die Fontane ebenfalls las (wenn er auch manchmal erst im Krankheitsfall zur „Abtragung alter Leseschulden“ kam42). Zu nennen sind Friedrich Spielhagens Finden und Erfinden. Erinnerungen aus meinem Leben 43, Felix Dahns Erinnerungen 44, Anton Heinrich Springers Aus meinem Leben 45 und Heinrich Seidels Von Perlin bis Berlin. Aus meinem Leben 46. Gottfried Kellers Name erscheint dagegen nicht ganz zu recht auf der Liste. Fontane dachte sicherlich an die gerade erschienene Keller-Biographie von Jakob Baechtold47 und nahm es nicht zu genau mit dem Unterschied zwischen Biographie und Autobio-
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macht.“ In: HFA IV/4, S. 345. Und wenig spter noch einmal (8. Mai 1894): „[…] ein feiner Sinn fr das Anekdotische reißt ihn immer wieder siegreich heraus, aber wir empfangen zu wenig runde volle Lebensbilder. […] Aber trotzdem ist es ein feines, in seiner Art ausgezeichnetes Buch, das ich berall mit Vergngen gelesen habe.“ In: HFA IV/4, S. 350. Otto Roquette: Siebzig Jahre. Geschichte meines Lebens. 2 Bde. Darmstadt 1894. Vgl. den Brief an Paul Schlenther vom 19. Mrz 1896, aus Anlass von Roquettes Tod: „Sein Bestes ist nach meinem Dafrhalten seine Selbstbiographie […]. Was in seinen Schriften Beobachtung und Wiedergabe des Kleinlebens ist, ist immer reizend, aber damit ist es auch vorbei.“ In: HFA IV/4, S. 545. An Roquette selbst hatte Fontane ber Siebzig Jahre geschrieben: „Was mir die Hauptsache scheint, ist das: man folgt von Anfang bis Ende theilnahmevoll einem an Kmpfen und Entsagungen, aber auch an Auszeichnungen und Ehren reichen Dichterleben.“ Theodor Fontane an Otto Roquette, 5. Mrz 1894, TFA. So bei Heinrich Seidels Buch, vgl. HFA IV/4, S. 431. Friedrich Spielhagen: Finden und Erfinden. Erinnerungen aus meinem Leben. 2 Bde. Leipzig 1890. Fontane las den Vorabdruck in Deutschland. Wochenschrift fr Kunst, Literatur, Wissenschaft und soziales Leben. Vgl. Fontane Bltter 38 (1984), S. 521. Felix Dahn: Erinnerungen. 4 Bde. Leipzig 1890 – 1895. Gegenber Georg Friedlaender ußert Fontane nur sein Missbehagen darber, wie er selbst dargestellt ist, vgl. HFA IV/4, S. 318. Anton Heinrich Springer: Aus meinem Leben. Berlin 1892. Whrend seiner Krankheit im Sommer 1892 las Emilie Fontane an „guten Tagen“ daraus vor, vgl. GBA Tagebcher. 1866 – 1882. 1884 – 1898. 2. Aufl. 1995, S. 257. Heinrich Seidel: Von Perlin bis Berlin. Aus meinem Leben. Leipzig 1894 (= Gesammelte Schriften, Bd. 13.). Ausfhrlich ußert Fontane sich in einem Brief an Seidel (13. Mrz 1895) vor allem ber dessen unkonventionellen Umgang mit der Gattung. Er schtzt das Buch „[z]unchst deshalb, weil keine Spur von der herkçmmlichen Biographie darin zu finden ist. Wie schreibt der herkçmmliche Selbstbiograph! ,Am 3. Oktober kam ich zum ersten Mal in das berhmte Kuglersche Haus, wo ich den berhmten Verfasser des berhmten Liedes ›An der Saale hellem Strande‹ persçnlich kennenlernte. […]‘. So geht es weiter und mitunter werden auf 3 Seiten 30 Berhmtheiten eingeschlachtet.“ In: HFA IV/4, S. 431. Jakob Baechtold: Gottfried Kellers Leben. Seine Briefe und Tagebcher. 2 Bde. 2. Aufl. Berlin 1894.
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graphie, zumal Baechtolds Buch zahlreiche autobiographische Dokumente (Briefe, Tagebcher) enthlt. So deutlich aber Fontanes Skepsis gegen die „fluthenden Biographien“ in seinem Brief an Hertz zu bemerken ist – wobei natrlich nicht zuletzt auch buchhndlerisches Kalkl im Spiel war – , so deutlich ist doch auch, dass sein Berufsinteresse vielleicht nirgends so unmittelbar mit persçnlicher Anteiln ACHTUNGRE ahme einherging wie hier. Aus der Auseinandersetzung mit Rodenberg um den Vorabdruck der Kinderjahre in der Deutschen Rundschau war fr ihn nahezu eine Auseinandersetzung um die Grundlagen seines Schreibens geworden. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass es mehr als bloß eine zufllige zeitliche Koinzidenz ist, wenn auf Fontanes Leseliste in den Jahren nach 1889 Erinnerungsbcher unbersehbar an Bedeutung gewinnen. Wie sollte eine Beschreibung des eigenen Lebens beschaffen sein? Diese ebenso literarische wie persçnliche Frage bedeutete fr Fontane auch Selbstvergewisserung. Und so wie er unmissverstndlich das „alte Rezept“48 des Hanslick’schen Buchs fr seine eigene Arbeit zurckwies, so fand er in den Erinnerungen von Seidel und vor allem von Ludwig Pietsch Besttigung seiner eigenen „Detailmalereien“: Ich habe mit diesen Detailmalereien, dies wissen Sie so gut wie ich, natrlich was gewollt, etwas an und fr sich Gutes und Richtiges gewollt: Abschilderung von Dingen, die bisher noch nicht geschildert wurden, ein Knabenleben in seinem ganzen Tun und Denken, und zwar auf dem Hintergrunde einer ganz bestimmten Zeit […].49
Mit diesen Worten versuchte Fontane, Rodenbergs nderungswnsche fr die Kinderjahre abzuwiegeln. Wenige Tage vorher hatte er den zweiten Band von Pietschs Wie ich Schriftsteller geworden bin begrßt: „Wundervoll, liebenswrdig, herzbeweglich und zugleich ein Bild dieser Zeit und Stadt in der wir gelebt haben, wie es nicht schçner gedacht werden kann“50, und schon ein halbes Jahr zuvor hatte er aus Anlass von Pietschs erstem Band eine autobiographische Poetik in nuce entworfen. Pietschs Buch sei ein „glcklich angelegtes Buch“, so Fontane, „weil es nicht blos Aneinanderreihung sondern Abrundung giebt“, weil es „ohne sich in den Details zu verlieren, immer wieder auf sein eigentliches Thema“ kommt, weil „Ortsbeschreibliches und Charakterschilderung […] auf gleicher Hçhe“ stehen und weil „eine solche Flle lebendig geschilderter Menschen von zum Theil complicirtem Cha48 Vgl. Anm. 39. 49 Theodor Fontane an Julian Rodenberg, 3. Juli 1893. In: HFA IV/4, S. 263. 50 Theodor Fontane an Ludwig Pietsch, 23. Juni 1893. In: HFA IV/4, S. 262.
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rakter vorgefhrt“51 werden. So wurde die Entstehung von Meine Kinderjahre durch umfngliche autobiographische Lektre begleitet, die sowohl als poetische wie als persçnliche Selbstvergewisserung zu verstehen ist. Einerseits historische Recherche, andererseits Selbstvergewisserung: Was Fontanes Lektre autobiographischer Literatur wesentlich bestimmte, spielte fr die eigentlichen Biographien allenfalls eine nachgeordnete Rolle. Zwar wissen wir, dass er Carl Ludwig Kloses Buch ber Staatskanzler Hardenberg52 oder Pertz’ Gneisenau-Biographie53 fr Wanderungen-Kapitel verwendete; darber hinaus aber scheinen diese Bcher wenig Spuren hinterlassen zu haben. So bleibt Droysens Leben des Feldmarschalls Grafen York von Wartenburg unter den historischen Biographien der Jahrhundertmitte die einzige, die Fontane offenkundig intensiver rezipierte. Schon 1850 – noch vor dem Erscheinen der Biographie – hatte er im Tunnel ber der Spree seine Ballade Yorck vorgetragen.54 1856 ließ er sich Droysens Buch eigens nach London schicken. Droysen verwendete den Namen des preußischen Offiziers als Signatur eines historischen Zusammenhangs: Die Geschichte mehr als das Individuum garantiert die Konsistenz seiner Darstellung. Droysens energische, am Lateinischen geschulte Diktion und sein Programm dezidiert gegenwartsbezogener und parteinehmender liberal-preußischer Geschichtsforschung drfte Fontane durchaus entsprochen haben. Andererseits war die Vereinnahmung des Einzelnen durch die Geschichte sicherlich fr ihn nicht unproblematisch. „Gelesen in Droysen’s ,York‘. Sehr amsirt“55, notierte er im Tagebuch. Man wsste gern, was Fontane hier so erheiternd fand. Es ist merkwrdig, dass die große historisch-politische Biographik der Zeit bei Fontanes Lektre eine verhltnismßig kleine Rolle spielt. Einzig die biographischen Essays des Historikers und Whig-Politikers Thomas Babington Macaulay, die seit 1843 (in deutscher bersetzung seit 1852) in immer neuen Ausgaben Verbreitung fanden,56 hinterließen noch einen 51 Theodor Fontane an Ludwig Pietsch, 6. November 1892. In: HFA IV/4, S. 229. 52 Leben Karl August’s, Frsten von Hardenberg, kçniglich preußischen Staatskanzlers. Nebst einem Bildnis des Frsten und einem Facsimile d. Hs. desselben, Halle 1851. Fontane nutzte es v. a. 1863 fr Quilitz oder Neu-Hardenberg. 53 Siehe Anm. 5. Fontane nutzte das Buch 1860 fr das Kapitel Schloss Friedersdorf. 54 Vgl. dazu den Beitrag von Roland Berbig im vorliegenden Band. 55 Tagebucheintrag vom 25. November 1856. In: GBA Tagebcher. 1852. 1855 – 1858. 2. Aufl. 1995, S. 201. 56 Thomas Babington Macaulay: Critical and Historical Essays. 3 Bde. London 1843; und Biographical Essays. London 1851. Vgl. GBATagebcher. 1852. 1855 – 1858. 2. Aufl. 1995, S. 266 – 275. Zuvor hatte Fontane bereits Macaulays History of England
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nachhaltigen Eindruck. Statt dessen berichtete Fontane seit den siebziger Jahren çfters von literarischen und, weniger den Erwartungen entsprechend, philosophischen bzw. theologischen Biographien. Im Jahr 1873 las er (auf Sommerfrische in Thringen) Wilhelm Gwinners Arthur Schopenhauer aus persçnlichem Umgange dargestellt 57, im Jahr 1886 (gemeinsam mit Tochter Martha in Krummhbel) Eduard Zellers David Friedrich Strauß in seinem Leben und seinen Schriften 58 und schließlich im Jahr 1898 (in Weißer Hirsch bei Dresden) Friedrich Paulsens Immanuel Kant. Sein Leben und seine Lehre 59. Was Schopenhauer betrifft, so bestand bei Fontane ein tatschliches Interesse, sich mit den Eckpunkten seiner Philosophie – die er als Zeitphnomen betrachtete – bekannt zu machen. Davon zeugen die „Schopenhauer-Abende“ bei Marie und Karl Hermann von Wangenheim, die Fontane im Winter 1873/1874 regelmßig besuchte und fr die er selbst einen Vortrag beisteuerte.60 Die Darstellung Gwinners war kurz nach Schopenhauers Tod (1860) erschienen und ist im Wesentlichen als eine weitgehend affirmative Werkbiographie und Einfhrung in Schopenhauers Denken angelegt; als solche hat Fontane sie gelesen. Die Exzerpte, die er dabei anfertigte, dokumentieren seine gute Absicht, seine Skepsis – und am Ende seine Verstndnislosigkeit: „S. 160 – 162 wird in Schopenhauers eigenen Worten der Kern seiner Philosophie gegeben. Ich verstehe es leider nicht.“61
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from the accession of James II. London 1848 – 1855, gelesen. Vgl. GBA Tagebcher, 1852. 1855 – 1858. 2. Aufl. 1995, S. 153. Wilhelm Gwinner: Arthur Schopenhauer aus persçnlichem Umgange dargestellt. Ein Blick auf sein Leben, seinen Charakter und seine Lehre. Leipzig 1862. Vgl. GBA Tagebcher. 1866 – 1882. 1884 – 1898. 2. Aufl. 1995, S. 44. Eduard Zeller: David Friedrich Strauß in seinem Leben und seinen Schriften. Bonn 1874. Vgl. GBA Tagebcher. 1866 – 1882. 1884 – 1898. 2. Aufl. 1995, S. 234. Friedrich Paulsen: Immanuel Kant. Sein Leben und seine Lehre. Mit einem Bildnis und einem Briefe Kants a. d. J. 1792. Stuttgart 1898. Vgl. den Brief an Paulsen vom 1. Juni 1898, in: HFA IV/4, S. 721 f. Zu Schopenhauers Versuch ber das Geistersehn und was damit zusammenhngt. Fontanes Aufzeichnungen zu Schopenhauer sind abgedruckt in: Theodor Fontane: Aufzeichnungen zur Literatur. Ungedrucktes und Unbekanntes. Hg. von HansHeinrich Reuter. Berlin, Weimar 1969, S. 51 – 62. Fontane: Aufzeichnungen zur Literatur (wie Anm. 60), S. 51 f. Immerhin entnahm Fontane der Biographie den Hinweis auf Karl Ferdinand Wiesike, einen Torfunternehmer und leidenschaftlichen Anhnger Schopenhauers, den er in der Folgezeit wiederholt auf seinem Wohnsitz am Plauer See besuchte, und dem er im Kapitel Plaue a. H. (Fnf Schlçsser) ein Denkmal setzte.
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Josefine Kitzbichler
Wie Gwinner ein Schler Schopenhauers, so war Eduard Zeller ein Schler des Theologen David Friedrich Strauß; beide hatten ihre Biographien unmittelbar nach dem Tod ihrer Lehrer herausgebracht. Jedoch ist Zellers schmales Bndchen, die erweiterte Fassung eines Nekrologs, um einiges nchterner und nach Aussage des Autors „keine Biographie, sondern eine biographische Schilderung“ und nicht mehr als ein „erster Umriß“62. Erneut scheint Interesse an einem Zeitphnomen fr Fontane leitend gewesen zu sein: Gemeinsam mit Tochter Martha las er das umstrittene Buch Der alte und der neue Glaube (1872), in dem Strauß, durch Das Leben Jesu (1835) berhmt geworden, sich endgltig vom Christentum lçste; der biographische Abriss Zellers war offenbar als Hintergrundlektre gedacht, konnte aber an Fontanes Enttuschung in Sachen Strauß am Ende nichts ndern.63 Weniger aus Interesse am Gegenstand denn aus persçnlicher Wertschtzung gegenber dem Autor las Fontane schließlich im Sommer des Jahres 1898 Friedrich Paulsens Kant-Biographie. Schon frher hatte Fontane Paulsens Wortmeldungen in der Auseinandersetzung um das humanistische Gymnasium mit Zustimmung begrßt64 und, wie bekannt ist, auch dessen antisemitischen ußerungen beigepflichtet65. Nicht zuletzt schtzte er Paulsens Darstellungskunst. Dennoch, nach mehreren Anlufen, musste Fontane auch hier sein Nicht-Verstehen einrumen: Die große Klarheit und Uebersichtlichkeit, mit der Sie, nach Historiker-Art, (viele lassen einen freilich im Stich) den Ihnen gegebenen Stoff aufbauen, hatte mich eine kurze Weile glauben lassen, ich kçnnte nicht bloß diesem Ihrem Aufbau, sondern auch den Kantischen Bausteinen in ihrem innersten Sollen und Wollen folgen. Aber damit bin ich in der Hauptsache gescheitert. Ob es an meinem ganz unphilosophischen Kopf gelegen oder ob sich nur der alte Satz
62 Zeller: David Friedrich Strauß in seinem Leben und seinen Schriften (wie Anm. 58), S. IV. 63 Theodor Fontane an Emilie Zçllner, 19. August 1886: „Das berhmte Buch von Strauß enttuschte mich ein wenig, so glnzend es als rein literarische Leistung dasteht.“ In: HFA IV/3, S. 483. 64 Vgl. den Brief an seinen Sohn Theodor, 9. September 1885. In: HFA IV/3, S. 418. Anders als im Kommentar der Hanser-Ausgabe angegeben, kann es sich nicht um die Schrift Das Realgymnasium und die humanistische Bildung handeln, die erst 1889 erschien. Statt dessen ist wohl Paulsens Geschichte des gelehrten Unterrichts auf den deutschen Schulen und Universitten vom Ausgang des Mittelalters bis zur Gegenwart (Leipzig 1885) gemeint. 65 Vgl. Theodor Fontane an Friedrich Paulsen, 12. Mai 1898. In: HFA IV/4, S. 714 f.
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besttigte: „was Hnschen nicht lernte, lernt Hans nimmermehr“, – ich weiß es nicht.66
Fontane, den das Bewusstsein lckenhafter Bildung stets begleitete, suchte hier ber das Medium biographischer Darstellungen also lediglich dieses Manko wenigstens teilweise auszugleichen. Als kritischerer und verstndigerer Leser zeigte Fontane sich, wenig berraschend, gegenber literaturhistorischer Biographik. Seit der Jahrhundertmitte hatte sich die Biographie insbesondere im Zusammenhang der Goethe-Philologie als wichtige Darstellungsform neuerer Literaturgeschichte etablieren kçnnen, bot sich hier doch die Mçglichkeit, die zunehmend dissoziierende Forschung und die immer weniger berschaubaren Wissensbestnde gewissermaßen unter der gide des Dichterfrsten selbst zu bndeln. Nun war Fontanes Verhltnis zu Goethe bekanntermaßen von deutlichen Vorbehalten bestimmt. Es ist bemerkenswert, dass er trotz aller Skepsis Goethe offenbar als einen Fall von nationaler Bedeutung betrachtete. So berichtete er im Juli 1870, inmitten der „patriotischen Erregung“ wenige Tage nach Kriegserklrung ber seine Lektre: „In diesen Nçthen flieh ich zum alten Gçthen und lese die ,natrliche Tochter‘ und die ,Wahlverwandtschaften‘; ich bewundre es und finde es tief-langweilig.“67 Einige Jahre spter – 1876 – las er die Goethe-Biographie des Briten George Henry Lewes.68 Sie war zuerst 1857 in deutscher bersetzung erschienen und von seiten der deutschen Goethe-Philologie fast einhellig abgelehnt worden. Man warf Lewes eine allzu poetisierende und subjektive Darstellungsweise, eine unverbundene Kleinteiligkeit und nicht zuletzt zahlreiche sachliche Fehler vor. Das Lesepublikum nahm daran freilich keinen Anstoß, es schtzte im Gegenteil gerade das Anekdotische und Private. So wurde Lewes’ Biographie ber Jahrzehnte hinweg in Deutschland zu einem Erfolgsbuch. Allerdings empfanden es viele als eine Kalamitt, dass kein Deutscher, sondern ein Englnder der Verfasser war, und auch Fontane 66 Theodor Fontane an Friedrich Paulsen, 1. Juni 1898. In: HFA IV/4, S. 722. 67 Theodor Fontane an Karl Zçllner, 23. Juli 1871. In: HFA IV/II, S. 325. Vgl. zu Fontanes Verhltnis zu Goethe: Walter Hettche: „Schafe“ und „Nachplapperer“. Th. Fontane und die Goethe-Rezeption des 19. Jahrhunderts. In: Goethes Kritiker. Hg. von Karl Eibl, Paderborn 2001, S. 87 – 99. 68 George Henry Lewes: Goethe’s Leben und Schriften. Mit Bewilligung des Verfassers bers. v. Julius Frese. Berlin 1857. Die englische Ausgabe (The Life and Works of Goethe. With sketches of his age and contemporaries, from published and unpublished sources) war zwei Jahre zuvor in London erschienen. Im Jahr 1892 erschien die deutsche Ausgabe in 16. Auflage. Zur Goethe-Biographik vgl. Kruckis: „Ein potenziertes Abbild der Menschheit“ (wie Anm. 2).
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bemerkte nach der Lektre gegenber Hertz, dass er nun doppelt gespannt sei, „einen sachkundigen Deutschen zu hçren“69. Gemeint war damit Herman Grimm, der 1874 und 1875 an der Berliner Universitt çffentliche Vorlesungen ber Goethe gehalten hatte. Die aus der Vortragsreihe hervorgegangene Buchausgabe erhielt Fontane Ende 1876 vom Verleger Hertz, um sie in der Vossischen Zeitung zu besprechen.70 Grimm hatte damals eine kunsthistorische Professur in Berlin inne, dennoch pflegte er, als Sohn Wilhelm Grimms und Schwiegersohn der Bettina von Arnim, ein „antiphilologisches Außenseiterbewußtsein“71 und verstand es, gerade das Goethe-Buch durch eine aus der Familiengeschichte abgeleitete unmittelbare Authentizitt zu legitimieren. Zugleich feierte er Goethe als „tellurisches Ereignis“ und als einen unter den „vornehmsten Grndern der deutschen Freiheit“72. Der nationale Enthusiasmus der Reichsgrndung ist hier deutlich zu vernehmen. Fontane betonte in seiner Rezension zunchst die Authentizitt in Grimms Darstellung. Er verglich Grimm dem „vieux de la famille“, der auf einer Hochzeit im Anschluss an die offizielle Ansprache des Pastors einige persçnliche Worte an das Paar richtet: „Er weiß alles im Hause; er hat jedem bis auf das Herz gesehen.“73 Die Heroisierung Goethes aber ließ Fontane in aufflliger Weise unkommentiert, ebenso Grimms Methode, Werk und Leben des Dichters unter dem Stichwort der „symbolischen Dichtung“ ineinander aufgehen zu lassen. Den entscheidenden Ausschlag fr Fontanes Urteil gaben Grimms „Esprit“ und „Stil“ und seine darstellerische Souvernitt, wenn er wie ein Essayist „an die Stelle eines mehr oder minder mhsamen Pflckens ein einfaches Schtteln am Baum“ treten lsst: „In dieser Zeit der spezialwissenschaftlichen Forschung ein wahres Labsal.“74 69 Theodor Fontane an Wilhelm Hertz, 10. November 1876. In: Theodor Fontane: Briefe an Wilhelm und Hans Hertz. 1859 – 1898. Hg. von Kurt Schreinert. Vollendet und mit einer Einf. vers. von Gerhard Hay. Stuttgart 1972, S. 185. 70 Herman Grimm: Goethe. Vorlesungen gehalten an der Kgl. Universitt zu Berlin. 2 Bde. Berlin 1877. Fontanes Rezension erschien am 17. Dezember 1876, wieder abgedruckt in: HFA III/1, 1969, S. 481 – 490. 71 Kruckis: „Ein potenziertes Abbild der Menschheit“ (wie Anm. 2), S. 250. 72 Herman Grimm: Goethe (wie Anm. 70), S. 8. Vgl. auch S. 459: „Dadurch daß wir Faust und Gretchen besitzen, stehen die Deutschen in der Dichtkunst aller Zeiten und Nationen an erster Stelle.“ 73 HFA III/1, 1969, S. 482. 74 HFA III/1, 1969, S. 489, 481 und 483. Ebd. vergleicht Fontane Grimms Darstellung mit der biographischen Essayistik Macaulays und mit dem Stil Schopenhauers: „Wer die Essays Macaulays ber Lord Clive und Warren Hastings gelesen hat, kennt nicht nur, biographisch, das Leben dieser Mnner, sondern auch, all-
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Noch einmal las Fontane eine Goethe-Biographie. 1884 erhielt er von Georg Friedlaender, zusammen mit anderen Bchern, die Doppelbiographie zu Goethe und Gottsched aus der Feder des Mnchner Professors Michael Bernays, die nichts anderes darstellte als eine Auskopplung der entsprechenden Artikel aus der ADB. 75 Bernays hatte in Edition und Kommentar Bedeutendes fr die Goethe-Philologie geleistet,76 seine biographische Arbeit war indessen nicht bis zur erhofften großen Monographie gelangt, was ein Indiz dafr sein mag, dass die literaturhistorische Biographik stets ein problematisches Feld blieb. Was Fontane an dem schmalen Buch vorzugsweise fr erwhnenswert hielt, war auch in diesem Fall die „Macht des Stils“. An Friedlaender schrieb er: „An die Spitze stelle ich die beiden kl. Bcher von Bernays; sie zeigen die Macht des Stils und daß das was gesagt wird eigentlich gleichgltig ist, wenn es nur gut und klar gesagt wird.“77 Im selben Brief kommt Fontane noch auf eine andere biographisch angelegte Doppeldarstellung zu sprechen, Alfred Doves Die Forsters und die Humboldts, die weniger Anerkennung bei ihm fand: Dove’s Essays ber die Forsters und Humboldts sind lehrreich, lassen mich aber insoweit unbefriedigt, als sie nach dem in Deutschland blichen BiographieRezept gearbeitet sind und sich das mir unertrgliche „beautifying for ever“ zur Aufgabe stellen.78
Dieses Urteil Fontanes wirft ein eigenartiges Licht auf seine Beschftigung mit den Goethe-Biographien. Denn Alfred Dove, ein Freiburger Historiker,
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gemein historisch, die Geschichte von Britisch-Indien whrend eines halben Jahrhunderts. hnlich hier.“ (S. 483). – „Er wird nach dieser Seite hin unter allen deutschen Stilisten vielleicht nur von Schopenhauer bertroffen, der, wie viel oder wie wenig er als Philosoph bedeuten mag, als glnzender Essayist etwa denselben hohen Rang bei uns einnimmt wie Macaulay in England.“ (S. 489). Michael Bernays: J. W. von Goethe, J. C. Gottsched: zwei Biographieen. Leipzig 1880. Zu nennen sind: ber Kritik und Geschichte des Goetheschen Textes. Berlin 1866; Goethes Briefe an Friedrich August Wolf. Berlin 1868 und Der junge Goethe. 3 Bde. Leipzig 1875. Erich Schmidt urteilte ber Bernays als Biographen, „daß ihm die Aufgabe, fr diese A.D.B. einen monumentalen Artikel ber Goethe zu leisten, ungnstig lag. So ist die verschwiegene philologische Mitarbeit an den kçstlichen Bnden ,Der junge Goethe‘ weit ergiebiger, als die wortreiche, doch uncharakteristische, kaum ein Problem aufstellende oder fçrdernde Predigt vorn, von der auch S. Hirzel sehr wenig erbaut war.“ In: Allgemeine Deutsche Biographie. Bd. 46, Leipzig 1902, S. 408. Theodor Fontane an Georg Friedlaender, 5. Dezember 1884. In: HFA IV/3, S. 365. Theodor Fontane an Georg Friedlaender, 5. Dezember 1884. In: HFA IV/3, S. 365. Gemeint ist Alfred Dove: Die Forsters und die Humboldts. Zwei Paar bunter Lebenslufe. Leipzig 1881.
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verfuhr in seinen Arbeiten keineswegs in strkerem Maß „beautifying“ als Grimms oder Bernays’ Goethe-Darstellungen. Wie diese, so war auch Dove eher ein Außenseiter des universitren Betriebs; er hatte literarische Neigungen und verhielt sich, nach einem Urteil Friedrich Meineckes, „im tiefsten Grund knstlerisch gegenber der geschichtlichen Welt“79. Der Vorzug, den Fontane dem durch herkçmmliche Textphilologie geprgten Bernays vor Dove gibt, lsst fragen, wieviel Wert seinen spontanen Urteilsußerungen hier im einzelnen beizumessen ist. Vielleicht liegt die Anziehungskraft eben doch im Gegenstand und Goethe war, bei aller Ambivalenz, fr Fontane attraktiver als die Humboldts oder die Forsters.80 Tatschlich fhrte er in der Umfrageliste Was soll ich lesen? 81 sowohl das Buch von Lewes als auch das von Grimm an und stellt sich damit selbst als jemanden dar, der die zeitgençssische Goethebiographik mit Aufmerksamkeit und Interesse beobachtete. Seine Distanz gegenber der Goethephilologie wurde dadurch indessen nicht vermindert: Als er 1896 zur Erçffnung des Goethe-Schiller-Archivs nach Weimar eingeladen wurde, entschuldigte er sich mit den Worten: „Denn trotzdem ich meinen Lewes und sogar meinen Herman Grimm gelesen habe, habe ich doch von Goethewissenschaftlichkeit keinen Schimmer und wrde jeden Augenblick die Angst haben: ,Jetzt geht es los.‘“82 Neben Grimm und Lewes fhrte Fontane in der Umfrage noch eine dritte literaturhistorische Biographie an: das 1884 erschienene Kleist-Buch 79 In: Alfred Dove: Ausgewhlte Aufstze und Briefe. Hg. von F. Meinecke u. Oswald Dammann, Bd. 1, Mnchen 1925, S. XII. Zu Dove vgl. Gerhard Kaiser: Die Wahrheit wird euch frei machen. Die Freiburger Universittsdevise – ein Glaubenswort als Provokation der Wissenschaft. In: Welche Wahrheit braucht der Mensch? Wahrheit des Wissens, des Handelns, des Glaubens. Hg. von Ludwig Wenzler, Freiburg 2003, S. 47 – 103. – Bernays’ Außenseitertum liegt in seiner eigenen Biographie: Er verbrachte nach seinem Studium mehr als zehn Jahre lang als mittelloser Privatgelehrter und bestritt in dieser Zeit den Lebensunterhalt zum guten Teil durch çffentliche Rezitationsabende, nachdem ihm seine streng jdische Familie wegen seiner Konversion zum Protestantismus die Untersttzung verwehrt hatte. 80 Auch den Goethe’schen Briefwechseln brachte Fontane gelegentlich Aufmerksamkeit entgegen: Im Sommer 1873 las er im Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe in den Jahren 1764 bis 1805. Hg. von Wilhelm Vollmer, 2 Bde. 3. Aufl. Stuttgart 1870 (vgl. GBA Tagebcher. 1866 – 1882. 1884 – 1898. 2. Aufl. 1995, S. 44). 1879 berichtet er ber die Lektre der von Gustav von Loeper herausgegebenen Briefe Goethe’s an Sophie von La Roche und Bettina Brentano. Nebst dichterischen Beilagen. Berlin 1879 (vgl. Briefe an Wilhelm und Hans Hertz. 1859 – 1898. Hg. von Kurt Schreinert, vollendet v. Gerhard Hay, Stuttgart 1972, S. 215). 81 Wie Anm. 21, S. 197. 82 Theodor Fontane an Erich Schmidt, 25. Mai 1896. In: HFA IV/4, S. 559.
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von Otto Brahm.83 Fontanes Verhltnis zu Kleist war, wie das zu Goethe, durch Ambivalenz und ein eher mßiges Interesse bestimmt.84 Anderthalb Jahre vor dem Erscheinen von Brahms Buch hatte er in seiner Schilderung eines Ausflugs an den Wannsee Kleists Grab als einen dsteren und weltfremden Ort dargestellt und diesen Charakter durch die profane Unbekmmertheit einer zufllig anwesenden Ausflugsgesellschaft kontrastiert; immerhin, schließlich fllt die Landpartie in ein Schweigen, das Fontane „wie Huldigung und Gebet“85 erschien. Auch gegen Brahm hatte Fontane sich zuvor reserviert gezeigt. Brahms großen Essay ber Gottfried Keller (1882) befand er fr zu akademisch; im Tagebuch notierte er dazu: „gescheidt, fleißig, aber langweilig und berflssig; das Eigentliche wird nicht gesagt“86. Dass es tatschlich ein grundstzliches Missfallen an den Methoden germanistischer Literaturwissenschaft war, zeigt Fontanes kritische Rezension des Essays in der Vossischen Zeitung (8. April 1883) und ein Brief, in dem Fontane seine Kritik Brahm selbst gegenber zu rechtfertigen und zu erklren suchte: Aber nun Brahm und seine kritische Methode! There’s the rub! Ich kann freilich nicht zurcknehmen, daß der Modus, nach dem die junge spintisierende Schule verfhrt, mir angreifbar erscheint […]. Ich habe [in der Rezension, J. K.] zwei Punkte besonders betont, erstens daß man von den Dingen, um die sichs handelt, nicht genug erfhrt und zweitens daß Sie das Gebe-, Nehme- und Wiedergebe-Prinzip haben.87
Das „Eigentliche“, die Dinge, „um die sichs handelt“, werden aus Sicht Fontanes also zugunsten bloß zusammengetragener Details vernachlssigt. Ganz anders lautete Fontanes Urteil ber das Kleist-Buch, das im Rahmen eines Preisausschreibens entstanden war: Fontane las es „mit großem Vergngen“88 und sprach obendrein gegenber Brahm seine „Spezialfreude“ aus, „daß ein Schriftsteller den ersten und ein Professor erst den zweiten Preis 83 Otto Brahm: Heinrich von Kleist. Berlin 1884. 84 Vgl. vor allem die Aufzeichnungen, die er bei seiner ersten Kleist-Lektre 1872 anfertigte: Fontane: Aufzeichnungen zur Literatur (wie Anm. 60), S. 35 – 50. 85 Theodor Fontane: Kleists Grab, in: GBA Wanderungen. Bd. 5. Fnf Schlçsser. 1997, S. 407. 86 Tagebucheintrag vom 2. Juni 1882. In: GBA Tagebcher. 1866 – 1882. 1884 – 1898. 2. Aufl. 1995, S. 177. Der Essay von Brahm war im Juni 1882 in der Deutschen Rundschau erschienen. 87 Theodor Fontane an Otto Brahm, 11. April 1883. In: HFA IV/3, S. 240. 88 Tagebucheintrag Juni 1884. In: GBA Tagebcher. 1866 – 1882. 1884 – 1898. 2. Aufl. 1995, S. 218.
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errungen hat“.89 Brahm hatte in diesem Buch die Spiegelung des Dichters in den Figuren seiner Dichtung konsequent zum Prinzip gemacht und Kleist als einen um die poetische Form ringenden und von der Poesie, der „Herrin seines Lebens“90, besessenen Dichter gezeigt, der sich mit Goethe messen wollte und scheitern musste. Fontane jedoch schtzte auch in diesem Fall in erster Linie die darstellerischen Qualitten. In seiner Rezension (Vossische Zeitung, 14. Oktober 1884) wrdigte er das kritische Verstndnis Brahms und die Flle des zum Teil neu erschlossenen Materials, um schließlich das grçßte Gewicht wiederum der Darstellungskunst beizumessen: der „Kunst des Gruppierens“91 und der Gestaltung der Dichtervita zum Heldenleben, das sich „fesselnd wie Romankapitel aus dem Tale von Ronceval“92 liest. Historisches Material als in sich schlssige und angenehm zu lesende quasi-fiktive Erzhlung erscheinen zu lassen, wird damit zu einer wesentlichen Aufgabe des Biographen. Ein ußerstes Gegenstck zu Brahms KleistBuch liegt mithin in der Hebbel-Biographie von Emil Kuh93 vor, die Fontane im Sommer 1882 las. Im Tagebuch hielt er sein Urteil fest, und es ist bemerkenswert, dass sie sich in den Formulierungen partiell mit der Tagebuchnotiz ber Brahms Keller-Essay aus dem gleichen Jahr deckt: Ein gutes, fleißiges Buch, von einem gescheidten Menschen geschrieben, und angethan viel daraus zu lernen. Aber nicht angenehm. Ich liebe nichts mehr als Idyll und Genre, und gerade das Kleine hat Reiz fr mich; wenn aber das Kleine 89 Theodor Fontane an Otto Brahm, 2. Januar 1884. In: HFA IV/3, S. 295 f. Den zweiten Preis hatte der damals in Heilbronn ttige Gymnasiallehrer Gottlob Egelhaaf (1848 – 1934) fr seine Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation erhalten. 90 Brahm: Heinrich von Kleist (wie Anm. 83), S. 132. 91 „Mit dieser Kunst des Gruppierens ist es wie mit dem Ei des Columbus. Hinterher kann es jeder.“ Fontane: Aufzeichnungen zur Literatur (wie Anm. 60), S. 269 – 272, hier S. 270. 92 Fontane: Aufzeichnungen zur Literatur (wie Anm. 60), S. 271: „Darin […] wurzeln in erster Reihe Reiz und Wert der Arbeit, daß Brahm seinen Dichter zu seinem Helden macht, dessen Leben und literarisches Tun er in Leid und Freud wie romantische Ritter- und Rolandstaten verfolgt. So lesen sich denn die letzten Kapitel fesselnd wie Romankapitel aus dem Tale von Ronceval, und man hçrt das um Hilfe rufende Horn des von Unglck Umdrngten.“ – Spter las Fontane brigens auch Brahms Schiller-Biographie (Berlin: Hertz, 1888/1892) mit Zustimmung, vgl. den Brief an seine Frau vom 8. Oktober 1888 (In: GBA Der Ehebriefwechsel, Bd. 3. Die Zuneigung ist etwas Rtselvolles, 21998, S. 519) und die Rezension, die am 10. November 1888 in der Vossischen Zeitung erschien. 93 Emil Kuh: Biographie Friedrich Hebbel’s. 2 Bde. Wien: Braumller, 1877. Der çsterreichische Schriftsteller und Literaturhistoriker Emil Kuh (1827 – 1876) war mit Hebbel befreundet.
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nicht blos naiv beschrieben, sondern als etwas Hochgewichtiges vorgefhrt wird, wichtig weil es noch ein Strichelchen zu dem ohnehin nicht angenehmen Portrait Hebbels hinzufgt, so wirkt das Wichtigmachen von Nichtigkeiten unerfreulich.94
Biographische Einzelheiten, die der Charakterisierung von Person und Zeit dienen kçnnen, sind, so lsst sich festhalten, nicht mit jener positivistischen Detailversessenheit zu verwechseln, die ber die Ausrichtung auf das Tatschliche den Bezug zum Gegenstand und zum Ganzen aus den Augen verliert, wie dies nach Fontanes Auffassung bei Kuh der Fall war. Die Biographie war eingangs, der Perspektive Fontanes und seiner Zeit folgend, als Teilbereich dem Historischen zugeordnet worden; unter den Oberbegriff des Biographischen subsumierte Fontane dabei in der Regel auch alle Formen des Autobiographischen. Mit Begriffsdefinitionen nahm er es in der Tat nicht genau: Hippels Lebenslufe nach aufsteigender Linie bezeichnete er als Biographie, Baechtolds Buch ber Keller als Autobiographie. Eines aber hat er rckblickend stets betont: dass der gesamte Bereich historisch-biographischer Literatur fr seinen Werdegang und seine Arbeit von allergrçßter Bedeutung war. Nach den Einflssen gefragt, die fr sein Werk bestimmend waren, stellte er in einem Brief an den Daheim-Redakteur Hermann Pantenius 1893 noch einmal einen sehr persçnlichen Kernkanon zusammen: Wie mit meinem Lernen auf der Schule, so sieht es auch mit meinem Lesen sehr windig aus, am schlechtesten auf dem Gebiet der Belletristik. […] Am meisten Einfluß auf mich bten historische und biographische Sachen: Memoiren des Generals v. d. Marwitz (dies Buch ganz obenan), Droysens Leben Yorks, Macaulay (Geschichte und Essay), Holbergs dnische Geschichte, Bchsel’s „Erinnerungen eines Landgeistlichen“ und allerlei kleine von Pastoren und Dorfschulmeistern geschriebene Chroniken oder Auszge daraus. Bis diesen Tag lese ich dergleichen am liebsten.95
Wie in der oben zitierten Tagebuchnotiz, setzt Fontane auch hier fiktive Erzhlliteratur gegenber dem Historischen hintan. Auch die Titelzusammenstellung fr den Weihnachtsalmanach Was soll ich lesen? besttigt sich erneut: mit einer Ausnahme – den vielleicht zu wenig bekannten, zu er94 Tagebucheintrag Juni 1882. In: GBA Tagebcher. 1866 – 1882. 1884 – 1898. 2. Aufl. 1995, S. 178. – Fontane bezieht sich damit auf Kuhs penible Nacherzhlung biographischer Daten, wie sie in Stzen wie dem folgenden deutlich wird: „Ueber Heiligenstadt marschirte er nach Gçttingen, wo er bei Regenwetter Nachmittags zwei Uhr eintraf.“ In: Kuh (wie Anm. 93), Bd. 1, S. 353. 95 Theodor Fontane an Theodor Hermann Pantenius, 14. August 1893. In: HFA IV/ 4, S. 274.
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klrungsbedrftigen Erinnerungen Bchsels – werden alle dort genannten Bcher auch hier angefhrt. Natrlich lsst sich darber hinaus fr eine schier endlose Reihe weiterer Memoiren- und Erinnerungsbcher, Brief und Tagebuchausgaben,96 fr einige bislang nicht genannte biographische Monographien97 und fr eine Flle von biographischen Kleintexten aus Sammelwerken, Lexika und aus der Zeitungs- und Zeitschriftenpresse Kenntnisnahme durch Fontane nachweisen. Das fr Fontane charakteristische, teils zeittypische, teils eigenwillige Profil ist indessen auch so deutlich geworden. Interesse an der Sache, persçnliche Motive und literarisch-poetische Kritik gehen dabei in unterschiedlicher Gewichtung miteinander einher. Identifikatorische Anknpfungsmçglichkeiten fand Fontane vor allem in Memoiren und Erinnerungen (Marwitz, Pietsch), deren subjektive Perspektive Authentizitt erzeugte und – mindestens ebenso wichtig – Sympathie weckte. Deshalb konnte gerade Memoirenliteratur fr Fontanes Sicht auf preußische Geschichte und fr sein preußisches Selbstverstndnis konstitutiv werden, whrend die eigentliche historisch-politische Biographie unter dem Strich eine deutlich geringere Rolle spielte. Dass er die Biographien Goethes und Kleists in der çffentlichen Umfrage nannte, nicht aber in der persçnlicher gehaltenen Titelliste aus dem Brief an Pantenius, mag eben mit deren literaturgeschichtlicher Außenperspektive zusammenhngen. Generell blieb seine Haltung gegenber der literaturhistorischen Biographik zwiespltig. Fr die Formung seiner eigenen autobiographischen Erzhlungen war schließlich die Auseinandersetzung mit der umfangreichen und vielgestaltigen zeitgençssischen Erinnerungsliteratur 96 Bemerkenswert ist vielleicht noch die erstaunlich große Anzahl von Kriegstagebchern und -briefen, die Fontane las, etwa die Persçnlichen Erinnerungen an den Krieg von 1870/71 von Julius von Verdy du Vernois (in: Deutsche Rundschau, Juni–Oktober 1895, im selben Jahr als Buch erschienen u. d. T. Im Großen Hauptquartier 1870/71. Persçnliche Erinnerungen von Julius von Verdy du Vernois, Berlin: Mittler, 1895), vgl. den Brief an Julius Rodenberg vom 12. August 1895, in: HFA IV/4, S. 470, oder die Feldbriefe 1870/71 von Georg Heinrich Rindfleisch (hg. von Eduard Ornold, Halle 1889), vgl. den Brief an Georg Friedlaender vom 20. August 1889, in: HFA IV/3, S. 715. 97 Vor allem: Werner Hahn: Hans Joachim von Zieten, kçniglich Preußischer General der Kavallerie, Ritter des schwarzen Adlerordens, Chef des Regiments der Kçniglichen LeibHusaren, Erbherr auf Wustrau. Berlin 1850; Otto Brahm: Karl Stauffer-Bern. Sein Leben, seine Briefe, seine Gedichte. Nebst einem Selbstportrt des Knstlers und einem Brief von Gustav Freytag. Stuttgart 1892; Herman Grimm: Das Leben Raphael’s. 3. Aufl. Berlin 1896; Paul Schlenther: Gerhart Hauptmann. Sein Lebensgang und seine Dichtung. 3. Aufl. Berlin 1898.
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nicht unbedeutend. Hier vor allem entwickelte er seine Ansichten ber die Bedingungen und Anforderungen biographischen Schreibens, seine Gattungspoetik, die immer wieder die kleinen Episoden, die charakteristischen Details und das Anekdotische in den Mittelpunkt stellte. „Bruchstcke sind besser als Ganzes“98, schrieb er in diesem Sinn an Rodenberg – ein Grundlehrsatz des Biographielesers Fontane. Um Zusammenhang und Bedeutung des derart Fragmentierten zu gewhrleisten, war freilich zugleich stets gewissermaßen ein auktorialer Kitt nçtig: Zum einen mussten alle Dinge in einen bergeordneten Zusammenhang gestellt und der Bezug auf das „Wesentliche“, „Eigentliche“ deutlich gemacht werden; Fontane kennzeichnet dies stets als intuitive und irrationale Leistung des Biographen, als ein „Packen und Treffen“99. Zum anderen aber waren Komposition, Esprit und Stil entscheidend, so stark, dass Fontane im Fall des GoetheAufsatzes von Bernays zuspitzte, dass „das was gesagt wird eigentlich gleichgltig ist, wenn es nur gut und klar gesagt wird.“100
98 Theodor Fontane an Julius Rodenberg, 30. Oktober 1892. In: HFA IV/3, S. 227. 99 Theodor Fontane an Theophil Zolling, 3. April 1895 (TFA, Sign. C 299), ber Henrik Sienkiewiczs Beitrag Otto von Bismarck in der Gegenwart vom 6. April 1895: „Sienkiewicz großartig. […] Ich habe sowas von großem historischen Sinn (trotzdem er nur ein Romanschriftsteller ist,) sowas von Packen und Treffen berhaupt noch nicht erlebt und stelle es ber alles, was ich in Essays und Charakterbildern unsrer englischen, franzçsischen und deutschen Historiker gelesen habe. Mein Liebling Macaulay verblaßt daneben.“Auch einem Essay Ludwig Fuldas ber Adolf Friedrich Graf von Schack (Vossische Zeitung vom 27. April 1894) bescheinigte Fontane „lauter Treffer, wie Kunstschtze Martin“, und stellte zugleich Fuldas Ablehnung des Biographischen in Frage: „Die besten Gardebataillone der Menschheit sind die Todten, die, biographisch wiederbelebt, unter uns wandeln. Es sind nicht Schemen. Umgekehrt, sie haben den wahren Lebensodem.“ Theodor Fontane an Paul Schlenther, 28. April 1894. In: HFA IV/4, S. 347 f. 100 Theodor Fontane an Georg Friedlaender, 5. Dezember 1884. In: HFA IV/3, S. 365.
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The making of Fontane Neue Wege der Biographik
Regina Dieterle „Der knftige Biograph thut mir leid, wenn er an den Abschnitt ,Mrz 82‘ kommen wird.“ (Theodor Fontane an Sohn Theodor F. jun., Berlin, 31. Mrz 1882)
Zur Jahrhundertwende schrieb Franz Servaes (1862 – 1941) ber Theodor Fontane: Als ich ihn das letzte Mal sah, etwa zwei Monate vor seinem Tode, war das mitten im tosenden Lrm der Weltstadt, und doch ein wenig abseits: in der Kçniggrtzerstraße, ganz nahe beim Potsdamer Platz. Da stand er vor dem PalastHotel, den blaugrnen schottischen Shawl locker um die Schultern, stand allein und blickte halb ber das Gewhl hinweg, mehr in der Stellung eines Lauschenden als eines Schauenden. Fast erschrak ich ein wenig, als ich ihn sah: so alt schien er mir plçtzlich geworden, so nahe dem Verfall.1
Das eindrckliche literarische Portrt, dessen erste Stze hier zitiert wurden, gehçrt mit zur Erinnerungsliteratur, die vor allem den ,alten Fontane‘ im Gedchtnis behielt und noch Jahrzehnte lang die biographische Forschung begleitete. Diese setzte, gewiss etwas zçgerlicher, ebenfalls kurz nach Fontanes Tod ein, untersuchte zuerst einzelne Facetten wie etwa den Einfluss des Franzçsischen,2 um schließlich – nach dem Ersten Weltkrieg – erste grçßere Studien hervorzubringen, die sich wie die Erinnerungsliteratur auf den ,spten Fontane‘, den Romancier, konzentrierten.
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Franz Servaes: Theodor Fontane. Ein literarisches Portrait. Berlin, Leipzig 1900. Zitiert nach Erschrecken Sie nicht, ich bin es selbst. Erinnerungen an Theodor Fontane. Hg. von Wolfgang Rasch u. Christine Hehle. Berlin 2002, S. 276. Paul Amann: Theodor Fontane und sein franzçsisches Erbe. In: Euphorion 21, 1914, S. 270 – 287, 623 – 653, 790 – 815.
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1. Fontane-Biographik – ihr Werden Es erschien, um ein wichtiges Beispiel zu nennen, 1919 Conrad Wandreys Monographie Theodor Fontane mit dem biographischen Anfangskapitel „Lebensgeschichte“. Das Kapitel wirkt heute berholt, aber rezeptionsgeschichtlich bleibt es eine verdienstvolle Arbeit, auch weil es zeigt, auf welche Einzel-, Werk- und Briefausgaben, Aufstze und Dissertationen Wandrey sich damals nur sttzen konnte. Der private Nachlass noch in den Hnden des Verlegersohnes Friedrich Fontane (die Manuskripte der erschienenen Werke besaß seit 1902 das Mrkische Museum) und war fr wissenschaftliche Forschung nur beschrnkt zugnglich. Aus finanzieller Bedrngnis gaben die Fontane’schen Erben den Nachlassbestand, der in ihrem Besitz war, 1933 zur Auktion. Kurz nachdem das Hitler-Regime an die Macht gekommen war, wurde er in Berlin mit mßigem Erfolg versteigert. Was an jenem 9. Oktober 1933 kein Kuferinteresse fand, wurde als gebndelter Restnachlass schließlich vom Land Brandenburg erworben. So kam es 1935 in Potsdam zur Grndung des Theodor-Fontane-Archivs. In dieser Phase der Auflçsung und Neubegrndung schrieb die junge Charlotte Jolles (1909 2003) Wissenschaftsgeschichte: Auf Anregung des Berliner Germanisten Julius Petersen hatte sie das Dissertationsthema „Fontane und die Politik“ gewhlt und interessierte sich in diesem Zusammenhang auch fr Unverçffentlichtes aus dem Dichternachlass. Spter schrieb sie dazu: „Als ich 1932 mit der Arbeit begann, stand noch der grçßte Teil des Nachlaßes zur Verfgung, vieles sogar zum ersten Mal. […] Noch vor der Auktion, in der vieles dann in Privatbesitz berging, konnte ich den Nachlaß durchsehen und auswerten.“3 Ihre Studie zum ,jungen Fontane‘, gemeint sind die Jahre von 1840 – 1850 und die folgende Englandzeit, geriet ihr mit den reichen Quellen zu einem wichtigen „Stck Biographie“.4 Tragisch und empçrend ist, dass die fundierte Dissertation mit wesentlichen neuen Erkenntnissen damals nicht verçffentlicht werden durfte, denn Charlotte Jolles war dem nationalsozialistischen Regime mit seiner rassistischen Ideologie und Gesetzgebung nicht genehm. Im Januar 1939, nach dem Tod ihres Vaters, whlte sie den Weg ins Exil. „Die Autorin war damit außer Gefahr“, schreibt Gotthard Erler, „doch ihr Manuskript war zur 3 4
Charlotte Jolles in „Zum Geleit“ zur Erstverçffentlichung ihrer Dissertation, in dies.: Fontane und die Politik. Ein Beitrag zur Wesensbestimmung Theodor Fontanes. Diss. 1937. Berlin 1982, S. 5. Jolles: Fontane und die Politik (wie Anm. 3), S. 7.
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Wirkungslosigkeit verurteilt, ihr Fontane-Bild paßte nicht in jene Zeit. […].“5 Denn auch die „Fontane-Literatur bediente sich mehr und mehr der damals blichen Klischees und vçlkischer Gedankengnge“.6 Zu dieser Art Literatur gehçrte beispielsweise die Einleitung zum Briefband Heiteres Darberstehen (1937), verfasst von Martin Elster,7 oder, in abgemilderter Form, auch das Geleitwort von Gustav Mller-Grote und Hermann Fricke zur Briefausgabe Theodor Fontane: Briefe an die Freunde. Letzte Auslese (1943), eine zweibndige Ausgabe, die noch vor der Auslieferung zu großen Teilen den Bomben zum Opfer fiel. Der Zweite Weltkrieg hatte fr das Theodor-Fontane-Archiv in Potsdam verheerende Folgen. Schtzungsweise 75 Prozent der Originalhandschriften gingen 1945 in den Wirren des Kriegsendes durch Plnderung oder durch Diebstahl verloren.8 Nach 1945 konnten zwar verschiedene Bestnde wieder zurckgefhrt werden, aber der Verlust bleibt hoch. Als verloren oder verschollen gelten: „etwa 900 Originalbriefe der Familie Theodor Fontanes und ihres Freundeskreises, 3000 Seiten handschriftlicher Entwrfe bzw. Manuskripte zu Prosaarbeiten, 260 Entwrfe bzw. Manuskripte zu Gedichten, […] 40 Werke aus der Handbibliothek Fontanes […].“9 Ein Skandalon, das die Fontane-Forschung bis heute beschftigt. Mit der,Fontane-Renaissance‘ in den 1960er Jahren beginnt schließlich die moderne wissenschaftliche Fontane-Biographik. Wichtige VerACHTUNGREçfACHTUNGREfentACHTUNGREliACHTUNGREchunACHTUNGREgen hatten dieses neue Interesse fr Fontane mit ausgelçst, so etwa Kurt Schreinerts Erstedition der Briefe Fontanes an Georg Friedlaender (1954) oder aktuelle Beitrge von Charlotte Jolles, die nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft nicht mehr nach Deutschland zurckgekehrt war, sondern ab 1955 ihre Universittslaufbahn in London fortsetzte. Die politische Situation im geteilten Europa provozierte um 1960 die merkwrdige Situation, dass fast zum gleichen Zeitpunkt drei neue Fontane5 6 7
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Gotthard Erler in seinem Nachwort zu Jolles: Fontane und die Politik (wie Anm. 3), S. 258. Dass die Dissertation endlich erscheinen konnte, ist Gotthard Erlers Verdienst. Gotthard Erler in: Jolles: Fontane und die Politik (wie Anm. 5), S. 258. Vgl. dazu auch die Rezension von Christine Hehle zu: Theodor Fontane: Briefe an die Freunde. Letzte Auslese. Hg. von Friedrich Fontane (†) u. Hermann Fricke. Nachdruck der Ausgabe Berlin 1943. Mit einem Nachwort von Walter Hettche. Hildesheim 1995. In: Fontane-Bltter 61 (1996), S. 135. Vgl. Manfred Horlitz in: Vermisste Bestnde des Theodor-Fontane-Archivs. Eine Dokumentation im Auftrag des Theodor-Fontane-Archivs herausgegeben von Manfred Horlitz, S. 9. – Auch das Mrkische Museum erlitt Verluste. Vermisste Bestnde des Theodor-Fontane-Archivs (wie Anm. 8), S. 10.
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Editionen entstanden. Alle drei waren angewiesen auf die Archive in beiden Teilen Deutschlands, denn unterdessen war der handschriftliche Nachlass zersplittert und befand sich zum einen im Westen (hauptschlich im Deutschen Literaturarchiv in Marbach und in der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz in Berlin-West), zum anderen im Osten (hauptschlich im TheoACHTUNGREdor-Fontane-Archiv in Potsdam und im Mrkischen Museum in Berlin).10 Der Kalte Krieg und die komplizierte Reisesituation erschwerten die Editionsvorhaben fr alle Seiten, befçrderten die Konkurrenz unter Verlagen, Editorinnen und Editoren, aber auch die Zusammenarbeit ber politische Grenzen hinweg. Als erste wissenschaftlich fundierte Edition gilt heute die Nymphenburger-Ausgabe (Mnchen, 1959 1974), als zweite und bisher umfassendste die Hanser-Ausgabe (Mnchen, 1961 1997), als dritte und textphilologisch zuverlssigste die Aufbau-Ausgabe (Berlin-Ost, 1969 – 1991).11 Im selben Zeitraum, in dem Fontanes Werk durch Gesamtausgaben zugnglicher gemacht wurde, konzentrierte sich eine jngere Germanistengeneration auf Fontanes Leben und Werdegang als Dichter, Journalist, Kritiker und Romancier. 1967 legte Helmuth Nrnberger (geb. 1930) seine große biographische Studie vor: Der frhe Fontane. Politik – Poesie – Geschichte. 1840 bis 1860. 12 Eine bahnbrechende Arbeit, denn sie vernderte das Fontane-Bild. Zur Forschungssituation, in der sie entstanden war, schrieb der Autor 1975: Damals war die umfassende „genetische Monographie“ Hans Heinrich Reuters bereits angekndigt, aber noch nicht erschienen. Angekndigt, aber noch nicht erschienen war auch die Ausgabe der „Romane und Erzhlungen“ Fontanes im Aufbau-Verlag, Berlin und Weimar, mit ihrem, wie sich spter erwies, vorzglichen Apparat, der den berechtigten Fragen nach der Entstehungsgeschichte dieser Werke die verdiente Aufmerksamkeit zollte. Jene Werkabteilungen, die den Journalisten, Reiseschriftsteller, Theater- und Literaturkritiker, Kriegsberichterstatter und Briefschreiber Fontane darstellen sollten, steckten in der Ausgabe der Nymphenburger Verlagshandlung, Mnchen, noch in den Anfngen; in der Ausgabe des Carl Hanser Verlags, Mnchen, deren Mitherausgeber ich spter wurde, hatten sie noch gar nicht zu erscheinen begonnen. Das Corpus der publizierten Briefe wies ghnende Lcken auf, und an der 10 Zur Nachlass-Situation vgl. genauer Gotthard Erler: Der Nachlaß. In: FontaneHandbuch. Hg. von Christian Grawe u. Helmuth Nrnberger. Stuttgart 2000, S. 903 f. 11 Fr detailliertere Angaben s. Charlotte Jolles: Theodor Fontane. Realien zur Literatur. 4. berACHTUNGREarb. und erw. Auflage. Stuttgart, Weimar 1993, S. 136 f. 12 Helmuth Nrnberger: Der frhe Fontane. Politik – Poesie – Geschichte. 1840 bis 1860. Hamburg 1967 (Diss.). Als Taschenbuch: Frankfurt am Main 1975.
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Zuverlssigkeit mehrerer Briefbnde, die noch nicht durch Neueditionen ersetzt waren, herrschten berechtigte Zweifel. Es gab keine Lebensdarstellung jngeren Datums und auch noch keine bersicht ber den Forschungsstand und ber die Realien, wie sie nunmehr der bei Metzler erschienene FontaneBand von Charlotte Jolles zuverlssig gewhrt.13
Helmuth Nrnberger war brigens bei seinen aufwendigen Recherchen in den Archiven auch auf die Dissertation von Charlotte Jolles gestoßen – das maschinenschriftliche Exemplar lag unbehelligt in der Universittsbibliothek der Humboldt-Universitt zu Berlin – und wrdigte ihre Studie ber den ,frhen Fontane‘als Erster, indem er sie ausfhrlich rezipierte. Kurz nach Erscheinen von Nrnbergers Studie lag auch die lange erwartete zweibndige Monographie von Hans-Heinrich Reuter (1923 1978) vor. Ein Standardwerk mit dem schlichten Titel Fontane. 14 Es ist die erste umfassende, literaturwissenschaftlich fundierte Gesamtdarstellung zu Theodor Fontanes Leben und Werk, zu Wirkung und Forschungssituation bis Mitte der 1960er Jahre, wobei Reuter eine hnliche Editionssituation vorgefunden hatte wie Nrnberger. Vieles war erst im Entstehen begriffen, manches als unzuverlssig erkannt und die textkritische Aufbau-Ausgabe noch nicht da. HansHeinrich Reuter, Mitarbeiter an der Nationalen Forschungs- und Gedenksttte der klassischen deutschen Literatur in Weimar, war wie kaum ein anderer vertraut mit dem Handschriftenbestand der Archive, insbesondere mit demjenigen des Fontane-Archivs, konnte also selber – soweit die Handschrift existierte – Original und Druck vergleichen, entdeckte auch zahlreiche Unstimmigkeiten und schçpfte daraus wesentliche Erkenntnisse. Die Bedeutung, die Reuters großer Monographie fr die Fontane-Forschung und die stets wachsende Fontane-Leserschaft zukam, lsst sich am besten daran ermessen, dass sie nicht nur in der DDR erschien, sondern gleichzeitig als Lizenzausgabe in der Nymphenburger Verlagshandlung in Mnchen, deren Fontane-Gesamtausgabe damals bereits auf 22 Bnde angewachsen war. Als kleineres Pendant erschien im selben Jahr Helmuth Nrnbergers Fontane 15 in der Reihe rororo bildmonographien, heute ein Klassiker der Fontane-Literatur, eine knappe Gesamtdarstellung, die der 13 Nrnberger: Der frhe Fontane (wie Anm. 12), Nachbemerkungen zur Taschenbuchausgabe, S. 439. – Zum erwhnten Band von Charlotte Jolles s. Anm. 11. 14 Hans-Heinrich Reuter: Fontane. 2 Bde. 1106 Seiten. Verlag der Nation. Berlin 1968. Der zweite Band unter dem Titel Drittes Buch. Entscheidung und Meisterschaft. 1876 bis 1898 wurde von der Philosophischen Fakultt der FriedrichSchiller-Universitt Jena als Habilitationsschrift angenommen. 15 Helmuth Nrnberger: Theodor Fontane. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. 191 Seiten. rororo bildmonographien. Reinbek bei Hamburg 1968.
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Autor in den vergangenen Jahrzehnten gelegentlich aktualisieren konnte, so dass sich in dieser Monographie recht zuverlssig der jeweilige Forschungsstand spiegelt (zuletzt 2004, 26. Auflage). Die Fontane-Biographik erreichte 1968 mit den wissenschaftlichen Studien von Reuter und Nrnberger ihren ersten großen Hçhepunkt, außerdem galt dem Schriftsteller eine besondere ffentlichkeit zum 150. Geburtstag, der 1969 als Gelegenheit zu aufwendigen Veranstaltungen genutzt wurde. Marbach16 wie Berlin17 zeigten Fontane-Ausstellungen mit Manuskriptblttern, Briefen, Erstausgaben der Bcher sowie Bildern und Zeugnissen aus seinem Leben und seiner Zeit. Ein immer breiteres Interesse fr diesen Dichter wurde geweckt und damit auch der Wunsch nach neuen Biographien. Biographien ohne aufwendigen Apparat, aber mit den Erkenntnissen der Grundlagenforschung, wie sie die wissenschaftlich arbeitenden Biographen, Editoren und Editorinnen geleistet hatten. Manch einer versprte Lust, einmal als Schriftsteller oder Journalist eine Fontane-Biographie zu schreiben. Der erste, der dies unternahm, ist der Berliner Schriftsteller und Feuilletonist Hans Scholz (1911 – 1988). Sein biographisches Portrt Theodor Fontane (1978) beginnt mit der aufschlussreichen Vorbemerkung: Die Fontane-Forschung, -Deutung, -Betrachtung hat zwar erst im letzten Jahrzehnt eine rasche Entwicklung genommen, mittlerweile ist sie aber zu einem bevorzugten Gebiet der Literaturwissenschaft geworden, zu dem es eine Flle von Abhandlungen gibt. Die hier vorliegende will kein literaturwissenschaftlicher Beitrag sein, sondern sie ist eine belletristisch-feuilletonistisch-essayistische Publikation. Dessen Verfasser – um es nur gleich zu sagen – ist kein Literaturwissenschaftler, kein Germanist, sondern nur ein Schriftsteller, der in Sachen Fontane zu einiger Kenntnis gelangt ist.18
Scholz’ Fontane-Portrt kçnnte auch als nachgetragene Erinnerung bezeichnet werden, denn es ist ein Stck persçnlicher Rezeptionsgeschichte: Es verbindet die eigene Berliner Kindheit und Jugendjahre mit dem ersten Zugang zu Fontanes Werken, was den Reiz hat, dass man auch etwas ber die Fontane-Tradierung im Berlin der 1920er Jahre erfhrt. 16 Theodor Fontane. 1819 – 1969. Stationen seines Werks. Eine Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs im Schiller-Nationalmuseum Marbach am Neckar. Ausstellung und Katalog von Walter Migge et al. Mnchen 1969. 17 Theodor Fontane. 30. Dezember 1819. Zum 150. Geburtstag. Eine Ausstellung der Landesgeschichtlichen Vereinigung fr die Mark Brandenburg e. V. (gegr. 1884) mit Untersttzung der Amerika-Gedenkbibliothek/Berliner Zentralbibliothek. Ausstellung und Katalog: Hans-Ulrich Mehner u. Hans-Werner Klnner. Berlin 1969. 18 Hans Scholz: Theodor Fontane. Mnchen 1978, S. 7.
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Neben Schriftstellern und Journalisten waren es zudem Historiker, die sich an eine Fontane-Biographie wagten. 1983 erschien die Biographie von Ekkhard Verchau unter dem Titel Theodor Fontane. Individuum und Gesellschaft. Einleitend schreibt er: „Was die meisten literarhistorischen Untersuchungen nur knapp oder gar nicht berhren, soll im Mittelpunkt dieser Biographie stehen: Die Frage nach Dauer und Wandel seines Bildes von Mensch, Gesellschaft, Geschichte und Politik.“19 Verchau hatte zuvor eine Bismarck-Biographie vorgelegt und brachte aus dieser Perspektive Eigenes ein. Einen neuen und vehementen Schub erfuhr die Rezeption Fontanes durch die Wende von 1989. Bald als ,Dichter der deutschen Einheit‘gefeiert, bald als Redivivus in literarischen Texten verlebendigt, geisterte er durch die Bcher oder ließ sich verfolgen mit festem Schuhwerk, sei es als Wanderer durch die Mark Brandenburg oder Flaneur in Berlin. Derweil bereitete das Theodor-Fontane-Archiv seine erste große gesamtdeutsche Ausstellung vor, die es in Bonn vom 20. Oktober bis 16. November 1993 zeigen sollte unter dem Titel Theodor Fontane. Mrkische Region & Europische Welt, eine Ausstellung, die symbolisch fr das neue Europa stand, wenn der brandenburgische Minister fr Kultur, Bildung und Wissenschaft im Vorwort des Katalogs schreibt, Fontane sei nicht nur ein deutscher, sondern auch ein europischer Schriftsteller und Dichter, der sich mit den allgemeinen Problemen seiner Zeit auseinandersetzt, der ebenbrtig neben den großen Romanschriftstellern aus Westeuropa, Skandinavien und Rußland steht und gerade heute im Zeichen des vereinigten Europa wachsende Beachtung erfhrt.20
Eine neue Flle von biographischen Publikationen ber Fontane bewirkte in den 1990er Jahren auch der bevorstehende 100. Todestag. Der Reigen der Neuerscheinungen begann mit einem Kuriosum, denn es erschien zuerst als Reprint Reuters Monographie, die seit Mitte der 1970er Jahre vergriffen war.21 Das Fehlen einer großen biographischen Gesamtdarstellung machte
19 Ekkhard Verchau: Theodor Fontane. Individuum und Gesellschaft. Frankfurt am Main, Berlin, Wien 1983, S. 8. 20 Theodor Fontane. Mrkische Region & Europische Welt. Eine Ausstellung des Bevollmchtigten des Landes Brandenburg fr Bundesangelegenheiten und Europa in Zusammenarbeit mit dem Theodor-Fontane-Archiv Potsdam. Katalog hg. von Helmuth Nrnberger, mit einem Vorwort von Minister Hinrich Enderlein. Bonn 1993, S. 3. 21 Vgl. die Rezension von Christine Hehle zu: Hans-Heinrich Reuter: Fontane. 2 Bde. Neu herausgegeben und mit einem Nachwort sowie einer Ergnzungsbibliographie
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sich damit schreiend deutlich, denn 30 Jahre (Forschungs-)Geschichte waren ber diese Biographie hinweggegangen, sie selbst historisch geworden. Anderes kam nach. Zum Beispiel Theodor Fontane. Leben und Werk (1995) von Heinz Ohff (1922 2006), damals bereits bekannt als Biograph von Karl Friedrich Schinkel und Preußens Kçnigin Luise. Einen Namen gemacht hatte sich Ohff außerdem als langjhriger Feuilletonchef des Berliner Tagesspiegels, zeitweilig in Zusammenarbeit mit Heinz Scholz. Ohff brachte einen neuen Ton in die Fontane-Biographik. Seine Biographie ist mit Witz geschrieben, unterhaltsam, urteilssicher. Details stimmen nicht immer, auch schleichen sich Irrtmer und Fehler ein und der Forschungsstand bleibt nur beschrnkt bercksichtigt. Aber der Publikumserfolg blieb dieser Biographie nicht verwehrt. Auch aus der editorischen und literaturwissenschaftlichen Werkstatt gingen im Hinblick auf das Jubilum biographische Publikationen hervor, so von Edda Ziegler und Gotthard Erler Theodor Fontane. Lebensraum und Phantasiewelt. Eine Biographie (1996), ein Versuch, den inneren Zusammenhang von Biographie und literarischem Werk von der Kindheitsgeschichte her zu verstehen. Dabei gert wie selbstverstndlich Fontanes Ehe in den Blick und erfhrt zum ersten Mal aufgrund fundierter Quellen eine Neubewertung. Als Gesamtdarstellung kann diese Biographie jedoch nicht gelten, spart sie doch wichtige Lebenskapitel und Erkenntnisse der Forschung aus.22 Eine solche Gesamtdarstellung legte 1997 Helmuth Nrnberger vor, der als Biograph des ,frhen Fontane‘, Autor der rororo-Monographie und Fontane-Editor geradezu prdestiniert war fr diese Aufgabe. Fontanes Welt ist denn auch das neue Standardwerk der Fontane-Biographik, ist die Summe einer langen, intensiven, editorischen und literarhistorischen Auseinandersetzung des Autors mit seinem Gegenstand.23 Was nunmehr vorliegt, ist eine literaturwissenschaftliche Biographie ohne ausufernden Apparat, eine Biographie, die im besten Sinne in der Tradition der Literaturgeschichtsschreibung steht und zugleich ihren eigenen, persçnlichen Ton findet. Die besondere Qualitt des Autors zeigt sich darin, dass er versehen von Peter Gçrlich. Berlin, Bayreuth, Zrich 1995. In: Fontane-Bltter 64 (1997), S. 162 163. 22 Vgl. die Rezension von Roland Berbig zu: Edda Ziegler u. Gotthard Erler: Theodor Fontane. Lebensraum und Phantasiewelt. Eine Biographie. Berlin 1996. In: FontaneBltter 64 (1997), S. 163 166. 23 Vgl. auch die berarbeitete, in Text und Anhang erweiterte Neuausgabe im Taschenbuch unter dem Titel Fontanes Welt. Eine Biographie des Schriftstellers, erschienen 2007 im Pantheon Verlag, Mnchen.
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aus profunder Kenntnis heraus abwgt und differenziert. Zudem reagiert diese Biographie auf die neueste Fontane-Forschung, nimmt viele ihrer ErACHTUNGREkenntAn CHTUNGRE isse auf und integriert sie in ein Gesamtbild. Neben Nrnbergers literaturwissenschaftlicher Biographie erschienen 1998 auch zwei literarische Fontane-Biographien. „Das vorliegende Buch verfolgt die Absicht, das Leben Theodor Fontanes in Form einer chronologischen Darstellung nachzuzeichnen“,24 schreibt Helga Bemmann (geb. 1933), Autorin und Biographin (Tucholsky, Kstner, Ringelnatz), in ihrer Nachbemerkung zu Theodor Fontane. Ein Preußischer Dichter und gibt zu erkennen, dass sie sich mit der Verwirklichung dieser Absicht einen alten Wunsch erfllte. Weil sie aber weit hinter den Forschungsstand zurckgeriet und erzhlerische Innovationen nicht wagte, konnte sich diese Biographie kaum durchsetzen. Von der Kritik gelobt als „brauchbare Arbeit“, „in die viel Stoff eingegangen ist“ (NZZ) wurde hingegen die literarische Biographie von Wolfgang Hdecke (geb. 1929), Schriftsteller, Lyriker und ebenfalls Biograph (Heine). Seine Fontane-Biographie25 geht von der berlegung aus, Herzstck von dessen Erzhlkunst sei die nuancierte Darstellung menschlichen Empfindens in all seinen Facetten und Widersprchen. Und diese Kunst habe einen biographischen Kern. Das Buch, das Hdecke vorgelegt hat, zitiert aus den neuesten Editionen und Briefwechseln (bis 1997), auch aus Handschriften aus dem Theodor-Fontane-Archiv. Außerdem prsentiert der Autor eigene Rechercheergebnisse zu den illegitimen Kindern Fontanes in Dresden. Sonst aber geht diese Biographie inhaltlich nicht ber die literaturwissenschaftliche Fontane-Biographik hinaus, bleibt eher hinter dieser zurck. Ihre Strke jedoch ist ihre Eigenwilligkeit und der flssige, gut lesbare Schreibstil.
24 Helga Bemmann: Theodor Fontane. Ein Preußischer Dichter. Verlag Ullstein. Berlin 1998, S. 413. 25 Wolfgang Hdecke: Theodor Fontane. Biographie. Carl Hanser Verlag. Mnchen 1998 [dtv 2002]. Zum 100. Todestag erschien ebenfalls im Carl Hanser Verlag der Band: Theodor Fontane. Aus meinem bunten Leben. Ein biographisches Lesebuch. Aus Briefen zusammengestellt von Gabriele Radecke u. Walter Hettche. Mnchen 1998.
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2. Theoretische berlegungen zur modernen Biographik Eine Biographie schreiben sei der blanke akademische Tod, heißt es zuweilen in germanistischen Kreisen. Doch wider Erwarten hat sich die Biographie seit etwa 1980 einen geachteten Platz erobert als mçglicher Zugang zu einer Sache, zu einem Thema, zu einer Welt.26 Nicht nur beim Lesepublikum, sondern auch in den Fachwissenschaften. Letztere haben den kritischen Vorwurf zurckgenommen, die Biographie biete berholte Erklrungsmuster, orientiere sich an Individuen statt an Strukturen und Systemen. Denn die moderne Biographik ist theoretisch fundiert und grenzt sich ab gegen jenes alte historistische Modell, das sich in einem naiven Gestus am Entwicklungsroman orientierte und zur Mythisierung und Heroisierung neigte. Es hat in der Bewertung der Biographik ein Paradigmenwechsel stattgefunden, ausgelçst durch die Krise der quantitativen, strukturalistischen Sozialforschung und durch ihre „Umorientierung von der System- zur Subjektperspektive“.27 Die Hinwendung zur Subjektperspektive aber brachte die Rckkehr des Erzhlens. Erzhlen heißt konstruieren. Wer biographiert, sieht sich somit einer Reihe zentraler Fragen gegenbergestellt: 1. Was ist das historische Subjekt? 2. Wie gehe ich methodisch vor? 3. Welches ist die angemessene Form und Sprache? 4. Welche theoretische Position und welches Selbstverstndnis habe ich als Biograph oder Biographin? und 5. Was leistet die Biographie als Erkenntnismittel? Eine Grundeinsicht der modernen Biographik ist, dass die Person, „das historische Subjekt“, kein in sich geschlossenes Selbst, sondern in vielfltige Beziehungen verflochten ist. Das erfordert eine systematische Analyse der untersuchten Person „zu ihren historischen Lebenswelten, ihrer Prgung und Wirkung auf Familie, Verwandtschaft, peer group, Klasse usw.“.28 Dabei muss die Einbindung der biographierten Person in ihre Kontexte deutlich machen, welchen sozialen Strukturmustern eher einschrnkende, welchen eher ermçglichende Qualitten zugeschrieben werden kçnnen. Der biographische Zugriff ist also, wie Bçdeker festhlt, „nicht blind fr Strukturen“,29 er begreift das Subjekt aber auch nicht als komplett strukturabhngig. Vielmehr geht es um Interaktionsprozesse und darum, wie die 26 Vgl. die Einfhrung zu: Biographie schreiben. Hg. von Hans Erich Bçdeker. Gçttinger Beitrge zur Geschichtswissenschaft. Bd. 18. Gçttingen 2003. – Die folgende Darstellung orientiert sich im Wesentlichen an Bçdekers Einfhrung (S. 9 63), die einen sehr guten berblick zur Entwicklung der modernen Biographik gibt. 27 Bçdeker in: Biographie schreiben (wie Anm. 26), S. 17. 28 Bçdeker in: Biographie schreiben (wie Anm. 26), S. 20. 29 Bçdeker in: Biographie schreiben (wie Anm. 26), S. 22.
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Person im Vorgegebenen sich individuell verhlt. Die Biographie kann also einerseits die Einzelgeschichte einer Person erzhlen, anderseits am Beispiel dieser Person Alltagsgeschichte, Sozial-, Kultur-, Politikgeschichte bewusst machen. Dabei zielt die moderne Biographie nicht darauf, eine geschlossene Persçnlichkeit darzustellen, sondern darauf, die Vielfltigkeit der Person deutlich zu machen, auch ihre Widersprche, Risse, Ungereimtheiten. Der Lebenslauf wird also durchaus nicht als etwas Kohrentes aufgefasst. Aus biographischer Perspektive – so die berlegung – gleicht der Mensch eher einem „Archipel“,30 einer grçßeren Inselgruppe, deren Teile nur lose zusammenhngen oder berhaupt nur untergrndig verbunden sind. Allerdings ist das freie, schçpferische, selbstmotivierte Subjekt nicht vollkommen aufgegeben, es wird aber in der neuen Biographik zur Sprache gebracht wie es große Romane tun – sie erzhlen den Prozess der Geschichte und geben die Erzhlung vom Einzelschicksal nicht auf. Methodisch geht es darum, Handlungskontexte zu rekonstruieren. Außerdem ist zu untersuchen, wie das Individuum versucht, Kohrenz der Person herzustellen, das heißt, sich selbst entwirft und verwirklicht. Diesen Prozess erhellen nicht nur autobiographische Zeugnisse und explizite Selbstentwrfe, sondern auch die Handlungen und Handlungskorrekturen, die den Aussagen der genannten Art folgen. Die neue Biographik geht also von einem soziologischen Konzept der Persçnlichkeit aus und „begreift damit den einzelnen Menschen zugleich als Subjekt seiner eigenen Lebensgeschichte, als Konstrukteur seiner eigenen Biographie“.31 Wer biographiert, muss folglich, um die erzhlte Person zu verstehen, ihre Sinnstrukturen untersuchen und zutage fçrdern. Und natrlich: historische Ereignisse miterzhlen, weil sie den Lebenslauf mitbestimmen. Einfließen muss auch, welche Vorstellung der Individuation es in der Zeit gab, so dass nicht nur zur Sprache kommt, wie die erzhlte Person geworden ist, sondern dieses Werden und diese Gewordenheit auch historisch verortet wird. Das Sichhineinversetzen in die biographierte Person und das intuitive Interpretieren werden folglich methodisch abgelçst durch einen radikalen Perspektivenwechsel. Das heißt, die Biographin oder der Biograph kennt Kommunikationsstrukturen, Bedeutungen und Bedeutungsfelder und konstituiert (annherungsweise) den Sinnhorizont, in dem Kommunikation stattfindet. „Der Biograph“, so przisiert Bçdeker, „muss dem Phnomen der narrativen Selbstkonstitution der untersuchten Person Rech30 Bçdeker in: Biographie schreiben (wie Anm. 26), S. 26. 31 Bçdeker in: Biographie schreiben (wie Anm. 26), S. 28.
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nung tragen“,32 muss also Selbststilisierung und Euphemisierung durchschauen, indem er den Kontext der Selbstbeschreibung herstellt und diese spiegelt durch andere Quellen, um auf das zu stoßen, was lebensgeschichtlich geschah.33 Die Falle des Biographen ist, so kçnnte man warnend sagen, dass er seiner erzhlten Person Richtung, Ziel und Sinneinheiten geben will – das muss er vermeiden, wie er vermeiden muss, Konstruktionen dieser Art seines erzhlten Subjekts auf den Leim zu gehen. Gleichzeitig gehçren aber fiktive Projekte im Kopf der biographierten Person mit zu ihrer Geschichte, sie mssen also aufgesprt und erzhlt werden, und der Versuch kann lohnend sein, „Beweggrnde fr diese oder jene Handlung oder Entwicklung zu rekonstruieren, Parallelitten herzustellen, Einflsse aufzuzeigen, Traditionslinien nachzuzeichnen“.34 Mit zur Methode des neuen biographischen Schreibens gehçrt außerdem eine kritische Wertung der Rezeptionsgeschichte, die unter Umstnden selbst zum Untersuchungsgegenstand gemacht werden muss. Welches ist nun die angemessene Form und Sprache fr eine moderne Biographie, die wissenschaftlichen Maßstben gengen will? Gewiss nicht die einfache lineare Erzhlweise mit teleologischer Struktur, gewiss nicht die geschlossene Form, die kontinuierliche kohrente Entwicklung suggeriert, bis zur Meisterschaft. Dass das Leben ein Ganzes konstituiere, einen kohrenten und orientierten Sinnzusammenhang, ist, so Bourdieu, eine „biographische Illusion“.35 Die moderne Biographie sucht dementsprechend neue Formen, Formen, wie sie der moderne Roman seit Proust, Joyce, Musil entwickelt hat. Charakteristisch fr den modernen realistischen Roman ist, dass „die sthetische Harmonie und die narrative Kohrenz aufgegeben und durch eine diskontinuierliche Erzhlweise ersetzt“36 worden ist. Brche, sthetische Verfremdungen und Vielperspektivigkeit sind ihre Mittel. Solche Erzhltechniken sind fr die Biographik tatschlich sehr fruchtbar. Dass sie ausprobiert werden, ist das Verdienst der Literaturwis-
32 Bçdeker in: Biographie schreiben (wie Anm. 26), S. 35. 33 Zur Euphemisierung vgl. Peter Wruck: Die ,wunden Punkte‘ in Fontanes Biographie und ihre autobiographische Euphemisierung. In: Fontane Bltter 65 – 66 (1998), S. 61 – 71. 34 Bçdeker in: Biographie schreiben (wie Anm. 26), S. 36 f. 35 Pierre Bourdieu: Die biographische Illusion. In: Neue Rundschau 3 (1991), S. 109 115, hier S. 111 (zitiert nach Bçdeker in: Biographie schreiben [wie Anm. 26], S. 41). 36 Bçdeker in: Biographie schreiben (wie Anm. 26), S. 41 f.
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senschaft, die dazu angeregt hat.37 Biographisches Schreiben heißt demnach Erzhltechniken finden, die „den offenen Horizont der Zukunft in die vergangene Geschichte“38 wieder einfhren, eine standortbezogene Perspektive einnehmen und die Illusion der Vollstndigkeit zerstçren durch Querlaufendes. Dabei ist von Belang, welche theoretische Position und welches Selbstverstndnis die Person hat, die biographiert. In Auseinandersetzung mit dem ,linguistic turn‘ hat sich die neue Biographik bewusst gemacht, „dass der Biograph eine wesentliche Rolle bei der darstellenden Konstruktion des biographierten historischen Subjekts hat“.39 Pointiert formuliert: Die Biographie ist nicht die Lebensgeschichte, sondern ihr „rhetorisches Konstrukt“.40 So ist jede Biographie abhngig von der Perspektive der forschenden Person, die ihre Rekonstruktionsversuche aus diesem Grund gelegentlich „Annherung“oder „Erkundung“nennt. Subjektive Sicht schließt aber Wissenschaftlichkeit nicht aus. Wer biographiert, erfindet nicht, sondern findet, hlt sich an Quellen, muss belegen und begrnden kçnnen. Biographik ist letztlich Interpretation und schließt andere Deutungen nicht aus. Daher wird es immer auch konkurrierende Biographien geben, mehr noch: mssen Biographien immer wieder neu geschrieben werden, wie auch Geschichte immer wieder neu geschrieben werden muss. Kurz: „Theoretisch muss es zahlreiche unterschiedliche Biographien zu einer einzigen historischen Person geben.“41 Die wissenschaftlich fundierte, moderne Biographie ist also ein wichtiges Erkenntnismittel: Sie kann Einsichten geben darin, wie die historischen Prozesse subjektiv erlebt wurden und welches Verhalten, welche Handlungen mçglich waren beziehungsweise realisiert wurden. Sie zeigt, wie sehr verschieden der Einzelne sich gegenber den großen Prozessen verhielt und eigene Lebensziele verwirklichen oder auch nicht verwirklichen konnte. Sie setzt den Strukturen, dem anonymen historischen Prozess etwas entgegen, nmlich den einzelnen, unwiederholbaren und singulren Le37 Vgl. vor allem die Arbeiten von Helmut Scheuer, insbesondere seinen Aufsatz: Biographische Modelle in der modernen deutschen Literatur. In: sterreichische Zeitschrift fr Geschichtswissenschaft 5 (1994), S. 457 487. 38 Hans Robert Jauß: Geschichte der Kunst und Historie. In: Geschichte – Ereignis und Erzhlung. Hg. von Reinhard Koselleck u. Wolf-Dieter Stempel. Mnchen 1973, S. 192 (zitiert nach Bçdeker, S. 45). 39 Bçdeker in: Biographie schreiben (wie Anm. 26), S. 51. 40 Hans-Christoph Koller: Biographie als rhetorisches Konstrukt. In: BIOS 6 (1993), S. 33 45 (zitiert nach Bçdeker in: Biographie schreiben [wie Anm. 26], S. 51). 41 Bçdeker in: Biographie schreiben (wie Anm. 26), S. 53.
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benslauf. Doch immer erforscht der biographische Ansatz, welche strukturellen historischen Prozesse fr die biographierte Person bestimmend waren und welche Handlungsspielrume oder Mçglichkeitshorizonte tatschlich offen standen, welche genutzt und welche ausgeblendet wurden. Im Gegensatz zur Geschichtsschreibung kann die Biographie die noch offene LeACHTUNGREbensACHTUNGREgeACHTUNGREschichACHTUNGREte erzhlen, deren Konsequenzen die biographierte Person noch nicht kannte. Sie kann dabei, ohne teleologisch zu sein, ihre Akzente setzen, mehr das Typische oder mehr das Singulre betonen, immer in Bezug zur Epoche und zum geschichtlichen Prozess. Ist aber die biographierte Person außerdem ein Knstler, eine Knstlerin, so stellt sich zustzlich die Frage, wie die Wechselwirkung zwischen Leben und Werk plausibel rekonstruiert werden kann beziehungsweise ob das Werk mit zum Interpretationsobjekt der biographierenden Forscherperson wirklich gehçrt.42 3. Die neue Fontane-Biographie – Stichworte zu einem Projekt Studiert man die Biographien, die zu Fontane vorliegen, so kommt man zum Schluss, der Versuch kçnne sich lohnen, die Sache noch einmal ganz anders anzupacken. Vor allem muss aufgerumt werden mit dem teleologischen Prinzip, das seit Reuter das Fontane-Bild prgt („Denn wie er ganz zuletzt war, so war er eigentlich“), auch ist es an der Zeit, den Begriff der Ambivalenz kritisch zu prfen. Zudem gilt es, die kapitelweise Abhandlung schwieriger Aspekte des Charakters aufzugeben, also beispielsweise Fontanes Antisemitismus mit Blick auf seine ganze Entwicklung zu erzhlen.43 Der Focus kçnnte sich bei einem neuen Biographie-Projekt auf seine Passionen richten, auf seine Sehnschte und Trume, auf seine ngste und Wnsche, auch auf sein Spiel mit Masken, auf das, was ihn zurckband und was ihn antrieb, sowohl in Bezug auf sich selbst wie auf die Anderen, das Fremde. Dabei geriete die Schrift und der Schreibprozess44 ins Zentrum der Recherche, wrden die Briefe und Manuskripte in ihrer Entstehung und ihrer Ge42 Vgl. dazu Christian Klein: Lebensbeschreibung als Lebenserschreibung. Vom Nutzen biographischer Anstze aus der Soziologie fr die Literaturwissenschaften. In: Christian Klein (Hg.): Grundlagen der Biographik. Theorie und Praxis des biographischen Schreibens. Stuttgart, Weimar 2002, S. 69 – 85, hier S. 77. 43 Vgl. dazu Hans Otto Horch: Theodor Fontane, die Juden und der Antisemitismus. In: Fontane-Handbuch (wie Anm. 10), S. 280 305, hier S. 284. 44 Vgl. dazu die beispielhafte Studie von Gabriele Radecke: Vom Schreiben zum Erzhlen. Eine textgenetische Studie zu Theodor Fontanes „L’Adultera“. Wrzburg 2002 (Epistemata, Bd. 358).
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richtetheit auf Adressaten aufgesprt und studiert. Und dies mit Bezug zur sozialen, kulturellen und politischen Welt sowie aus gendersensibler Sicht. Zum Text, der gelesen werden will, gehçrte auch die Fontane’sche Topographie, der Raum, in dem er sich bewegte, in der Vorstellung, dass wir – um eine Formulierung von Karl Schlçgel aufzunehmen – in ihm die Zeit lesen.45 Spurensuche also in çffentlichen und privaten Archiven sowie an wichtigen Schaupltzen seiner Biographie mit ihrer Nachlassgeschichte, die noch lngst nicht zu Ende geschrieben ist. Und das Werk? Wenn berhaupt, dann sollte es nicht mit den gelufigen Methoden interpretiert werden. Sigrid Weigel hat vorgeschlagen, das Begriffspaar Leben und Werk ganz aufzugeben und zwischen Brief und Manuskript nicht zu unterscheiden. Es seien an dieser Stelle die wichtigsten ihrer Anregungen fr eine literaturwissenschaftliche Biographie kurz skizziert, ergnzt durch berlegungen, wie sie Dieter Khn fr eine literarische Biographie formuliert hat. So empfiehlt Sigrid Weigel zum Beispiel, Briefe ihres dialogischen Charakters wegen nicht als biographische Dokumente zu lesen, sondern als Zeugnisse „einer intellektuellen Geschichte, einer Geschichte der Neugier und der Erregungen, die sich im Dialog mit anderen […] entwickelt hat“,46 wobei die biographierte Person im postalischen Verkehr sowohl Akteur wie Adressat, Autor wie Empfnger ist. Briefe wie Manuskripte zeichnen sich nach Weigel durch Dialogizitt und Intertextualitt aus und fallen unter den Begriff der Korrespondenz, so dass die schriftliche Hinterlassenschaft einer schreibenden Person als großer vernetzter Postverkehr aufgefasst werden kann. Aus diesem Grund interessiert sich die Biographie, so Weigel, „gleichermaßen fr smtliche Schriften, fr verçffentlichte und unverçffentlichte Texte, fr Aufzeichnungen und Briefe, d. h. fr alle Reste und Spuren“.47 In solcher Optik gewinnt das Werk weniger als vollendetes Produkt Bedeutung, sondern vielmehr als intellektuelle oder literarische Arbeit, als Vorhaben, „unter der Perspektive also, an welchen Fragen, Erfahrungen, Herausforderungen und an welchen sthetischen und konzeptionellen Problemen der Schriftsteller […] gearbeitet hat, welchen Schriften oder Adressierungen er damit antwortet.“48 Und weil das Vorhaben das heraus45 Vgl. Karl Schlçgel: Im Raume lesen wir die Zeit. ber Zivilisationsgeschichte und Geopolitik. Mnchen 2003. 46 Sigrid Weigel: Korrespondenzen und Konstellationen. Zum postalischen Prinzip biographischer Darstellungen. In: Klein (Hg.): Grundlagen der Biographik (wie Anm. 42), S. 41 54, hier S. 47. 47 Weigel: Korrespondenzen und Konstellationen (wie Anm. 46), S. 48. 48 Weigel: Korrespondenzen und Konstellationen (wie Anm. 46), S. 48.
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ragende Interesse gewinnt, sind besonders fragmentarische Texte aufschlussreich, Texte, die liegengelassen blieben oder abgebrochen wurden. Sigrid Weigel hat mit ihrer Biographie von Ingeborg Bachmann49 das von ihr entwickelte biographische Konzept in faszinierender Weise verwirklicht und zugleich eine literaturwissenschaftliche Studie vorgelegt, die fr die neue Biographik beispielhaft ist. Andere ließen sich nennen, etwa die Kafka-Biographie von Reiner Stach.50 In jedem Fall geben sie wichtige Denkanstçße fr eine neue Fontane-Biographie. hnliches leistet auch die Form der literarischen Biographie, so wie sie Sigrid Damm (Christiane von Goethe) oder Dieter Khn (Clara Schumann, Gertrud Kolmar) entwickelt haben und fr die sie in jngster Zeit mehrfach ausgezeichnet worden sind. In einer kritischen Werkreflexion kommt Dieter Khn darauf zu sprechen, was fr ihn die wichtigsten Kriterien einer modernen literarischen Biographie sind: Sie fasst nicht einzelne Themenkomplexe zusammen, sondern whlt ein „narratives Verfahren“,51 dazu gehçrt neben der Geschichte der biographierten Person auch die Geschichte der Konstruktion und Recherche. Wo sich Lcken finden, werden sie nicht mit fiktionalen Texten gefllt oder dann als solche klar markiert, so dass fr die Lesenden Fiktion und Faktenlage deutlich getrennt sind. Der Biograph lsst sich also bei dem, was er tut, ber die Schultern schauen und schafft dadurch Transparenz. Formal geht Khn von einem „Verfahren des Portionierens“52 aus, das sich manchmal erst im Schreibprozess entwickelt und nicht geplant werden kann, manchmal auch aus formalen Besonderheiten der biographierten Person hervorgeht (bei Clara Schumann z. B. die Rondo-Form). Eine der wichtigsten Fragen ist bei Knstler-Biographien, in welcher Weise das Werk integriert werden soll. So wie Weigel geht auch Khn davon aus, dass es Raum einnehmen muss in der Biographie, aber am besten durch Entwrfe und Selbstkommentare. Und weil der literarische Schreibprozess nicht einfach einsehbar ist, der Schriftsteller, die Schriftstellerin eine Art black box bleibt, ist es wichtig, auch Leerstellen zuzulassen, vom Alltag zu erzhlen, in dem dieses Werk entsteht, und zu schildern, was geschieht, wenn nicht geschrieben wird. 49 Vgl. Sigrid Weigel: Ingeborg Bachmann. Hinterlassenschaften unter Wahrung des Briefgeheimnisses. Wien 1999. 50 Vgl. Reiner Stach: Kafka. Die Jahre der Entscheidung. Frankfurt am Main 2002. – Rainer Stach: Kafka. Die Jahre der Erkenntnis. Frankfurt am Main 2008. 51 Dieter Khn: Werkreflexion, Stichwort: literarische Biographie. In: Klein (Hg.): Grundlagen der Biographik (wie Anm. 42), S. 179 202, hier S. 180. 52 Khn: Werkreflexion, Stichwort: literarische Biographie (wie Anm. 51), S. 183.
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Die berlegungen und Konzepte der modernen Biographik inspirieren nicht erst mein hier skizziertes Fontane-Biographie-Projekt, sondern sind auch grundlegend gewesen fr meine Martha Fontane-Biographie, die Tochter des Schriftstellers.53 Martha Fontane gehçrte wesentlich mit zu den Korrespondierenden im Fontane’schen postalischen Verkehr. Dieser Umstand sollte durch die Biographie unter neuer Perspektive gesehen werden, nmlich so, dass Martha Fontane nicht nur als Tochter eines berhmten Schriftstellers lebendig wurde, sondern auch als Frau ihrer Zeit mit dem besonderen Schicksal einer Schriftstellerin ohne berliefertes Werk und mit nur fragmenthaft hinterlassenen Briefschaften, dafr mit zahlreichen Adressen ihres Vaters, seien es Briefe an sie, Tagebucheintrge oder Anreden im literarischen Werk. Ausgangspunkt der Biographie wurde folglich ein Foto, das Vater und Tochter zeigt, und Anlass gab auf Spurensuche zu gehen, um der historischen Person ihre eigene Stimme zu geben und sie im Kontext ihrer Zeit erlebbar zu machen. Die Suche fhrte mit Erfolg in çffentliche und private Archive, auf ausgedehnten Reisen auch an die Orte, wo Martha Fontane gelebt und die Briefe und literarischen Neuerscheinungen ihres Vaters empfangen hatte. An die Stelle ihrer Antworten konnte so gelegentlich die Beschreibung des Ortes, des Hauses, der Innenrume treten, auch die Schilderung einer musikalischen Soire, wie sie sich aus den Quellen rekonstruieren ließ. Angestrebt wurde dabei die Polyperspektive, die Schilderung bestimmter Situationen und Problemzusammenhnge aus unterschiedlichen Quellen. Alles Vorausdeuten wurde in dieser Biographie konsequent vermieden, um nicht in die finale Falle zu tappen, das heißt, um das Leben der Martha Fontane nicht von ihrem Freitod her zu interpretieren. Auch wurde alles Kommentieren im Laufe des Schreibprozesses zurckgenommen, so dass in knappen Kapiteln und im narrativen Verfahren sich Mçglichkeitsrume çffnen konnten, auch Brche und Widersprche sichtbar wurden. Um das chronologische Prinzip gelegentlich zu durchbrechen und die historische Distanz bewusst zu machen, wurde mit der Geschichte Martha Fontanes auch in knapper Form die Geschichte der Huser, der stummen Zeitzeugen, erzhlt, zum Beispiel hinter „Kaiserhof am Wilhelmplatz“ in Klammern hinzugesetzt: „erbaut 1875, im Zweiten Weltkrieg zerstçrt“. So erzhlt das Leben der Martha Fontane das Leben einer individuellen Person, aber zugleich die typische Geschichte einer intelligenten und begabten Frau im Berlin der Kaiserzeit, die Tragçdie einer Vater-Tochter-Beziehung und die Konfliktgeschichte einer brgerlichen 53 Vgl. Regina Dieterle: Die Tochter. Das Leben der Martha Fontane. Mnchen 2006 (Zrich 2008).
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Knstlerfamilie. Aus der Perspektive der Tochter wird gleichsam auch ein Licht auf den Vater geworfen, den werdenden Schriftsteller. Die Martha Fontane-Biographie hat das Bild Fontanes weiter nuanciert. Gleiches gilt fr die Biographie von Emilie Fontane, der Ehefrau, die Gotthard Erler geschrieben hat.54 Als langjhriger Editor der FontaneAufbau-Ausgabe, Hauptherausgeber der neu veranstalteten textkritischen Großen Brandenburger Ausgabe55 und Herausgeber verschiedener Briefwechsel, zuletzt des Ehe-Briefwechsels (1998),56 ist er einer der profundesten Kenner des Fontane’schen Oeuvres. Seine jngsten Publikationen, die immer Neues zutage fçrdern, sind in die Fontane-Biographik berhaupt noch nicht eingegangen. Tatschlich hat die Fontane-Forschung im vergangenen Jahrzehnt erneut einen Schub erlebt, so dass die Situation fr Biographen in vieler Hinsicht komfortabler ist als je zuvor. Genannt seien hier nur das 1994 in Angriff genommene große Projekt der Großen Brandenburger Ausgabe, das Fontane-Handbuch,57 die Fontane-Bibliographie58 sowie die in Krze erscheinende Fontane-Chronik.59 Auch ist ein Fragmente-Band mit Erstdrucken in Arbeit60 und die Erstedition der Notizbcher61 geplant. In den Archiven liegen neu erworbene, bisher unpublizierte Briefe, außerdem bemht man sich dort um die Digitalisierung der Originale, was die Arbeit der Forschenden zunehmend erleichtert, wie das berhaupt der Fall ist durch die Entwicklung der elektronischen Medien. Kommt hinzu, dass das Reisen und Recherchieren in Deutschland oder im europischen Raum heute unter ganz anderen Bedingungen stattfindet als in den 1960er Jahren, als die ersten 54 Vgl. Gotthard Erler: Das Herz bleibt immer jung. Emilie Fontane. Biographie. Berlin 2002. 55 Große Brandenburger Ausgabe (=GBA). Hg. von Gotthard Erler. Aufbau-Verlag. Berlin 1994 ff. 56 Emilie und Theodor Fontane: Der Ehe-Briefwechsel. Hg. von Gotthard Erler unter Mitarbeit von Therese Erler. 3 Bde. Berlin 1998. 57 Fontane-Handbuch (wie Anm. 10). 58 Wolfgang Rasch: Theodor Fontane. Bibliographie. Werk und Forschung. In Verbindung mit der Humboldt-Universitt zu Berlin und dem Theodor-Fontane-Archiv Potsdam hg. von Ernst Osterkamp u. Hanna Delf von Wolzogen. 3 Bde. Berlin, New York 2006. 59 Roland Berbig: Theodor Fontane. Chronik. Berlin, New York (erscheint 2010). 60 Christine Hehle u. Hanna Delf von Wolzogen (Hg.): Erzhlfragmente aus dem Nachlass. [Arbeitsprojekt]. 61 Vgl. dazu Gabriele Radecke: Theodor Fontane. berlegungen zu einer notwendigen Edition. In: Ursula Amrein u. Regina Dieterle (Hg.): Gottfried Keller und Theodor Fontane. Vom Realismus zur Moderne. Schriften der Theodor Fontane Gesellschaft 6. Hg. von der Theodor Fontane Gesellschaft. Wissenschaftlicher Beirat Hugo Aust u. Helen Chambers. Berlin, New York 2008, S. 211 233.
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gltigen Biographien entstanden. Dies alles bedenkend, liegt es auf der Hand, dass eine neue Fontane-Biographie in Angriff genommen werden muss, im besten Fall sogar in Konkurrenz mit verschiedenen Biographen, das heißt in Konkurrenz mit unterschiedlichen subjektiven Perspektiven und erzhlerischen Verfahren. Wie die Biographie eines Schriftstellers zu schreiben sei, hat Fontane mit seinem Scherenberg-Buch (1884) selbst erprobt und gelegentlich – etwa am Beispiel der Gottfried Keller-Biographie von Jakob Baechtold – kritisch begutachtet. Unzufrieden mit den ausufernden Kommentaren Baechtolds, pldierte Fontane fr zwei andere Wege: entweder als Biograph den Menschen zu schildern „mit all seinen Menschlichkeiten“ und jeden Zug „durch Briefstellen oder hnliches“ kurz zu belegen oder das Leben der biographierten Person knapp zu skizzieren und anschließend durch eine „sorgliche Briefauswahl“ ihre literarische und menschliche Bedeutung zu zeigen.62 Dass der eine wie der andere Weg oder schließlich ein dritter manche scharfe Ecke hat, war ihm wohl bewusst. Am 31. Mrz 1882 ,nçhlte‘ er in einem Brief an seinen Sohn Theodor: „es passirt absolut gar nichts, keine Gesellschaften, keine Citirungen zum Prinzen, keine Besuche, keine Briefe.“63 Ins Tagebuch habe er lediglich notiert „Gearbeitet, Abendspatzirgang, gelesen.“64 Was also bleibt, wenn die Biographin, der Biograph dieses Leben erzhlen will? Fontane selbst adressierte sich an sie, an ihn, wenn er aus dieser Ereignislosigkeit heraus an Sohn Theodor schrieb: „Der knftige Biograph thut mir leid, wenn er an den Abschnitt ,Mrz 82‘ kommen wird.“65 Man darf das als Herausforderung lesen, als implizite Bitte, den Versuch zu unternehmen, 62 Theodor Fontane an Wilhelm Hertz, 11. Juni 1894. In: HFA IV/4, S. 367 f. 63 Der bisher unverçffentlichte Brief vom 31. Mrz 1882 an Theodor Fontane jun. gehçrt zu einem Briefkonvolut von ber 100 Originalbriefen, das an der Auktion vom 9. Oktober 1933 verkauft wurde und 2007 gemeinsam von der Preußischen Staatsbibliothek zu Berlin und dem Theodor-Fontane-Archiv in Potsdam erworben werden konnte. (Scans der Briefe sind einsehbar im Theodor-Fontane-Archiv und in der Staatsbibliothek zu Berlin: SBB-IIIA NL Fontane, Theodor, Erg.) 64 In Wahrheit steht dort: „Gearbeitet: Hoppenrade. Besuch von Herrn v. NathusiusLudom. Abendspatziergang. An Prof. Langenscheidt und Theo nach Halberstadt geschrieben. Gelesen.“ Der Fontane-Chronik (vgl. Anm. 59) mit ihren prziseren Angaben wird man außerdem entnehmen, dass an diesem Tag in der Vossischen Zeitung Fontanes Theaterkritik zu F. Hedbergs Strohhalm erschien, ein entschiedener Verriss („ein unsympathisch berhrendes Geld- und Schuldenstck, dessen Inhalt oder Aufbau wiederzugeben sich nicht verlohnt“). (Theodor Fontane: Tagebcher. Bd. 1, 1866 1882. Berlin 1994, S. 164) Der Brief an Gustav Langenscheidt ist nicht ermittelt. 65 Theodor Fontane an Theodor Fontane jun., 31. Mrz 1882 (wie Anm. 63).
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Regina Dieterle
von dem zu erzhlen, was Fontane ausmacht, was seine menschliche und literarische Bedeutung ist, und das immer wieder neu.
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ber die Ostbahn Eine Eisenbahnfahrt mit Theodor Fontane und polnischen Putzfrauen
Annett Grçschner Wenn von Wanderungen bei Fontane die Rede ist, sollte das bekanntlich nicht unbedingt wçrtlich genommen werden, denn Fontane fuhr auch. Mit Schiffen ber die Oder zum Beispiel, mit Droschken, Booten und mit dem Zug. Ins Oderland kam er bei seinen Reisen in den frhen 1860er Jahren noch nicht mit der Eisenbahn. Denn das letzte Teilstck der direkten Bahnverbindung Berlin-Kçnigsberg – als Ostbahn gebaut nicht nur aus militrischen Grnden, sondern auch, um die strukturschwachen Gebiete Preußens zu erschließen – 64 Kilometer vom alten Ostbahnhof ber Strausberg nach Seelow-Gusow – wurde erst Ende 1867 vollendet. Bis dahin musste man andere Fuhrwerke nehmen, die, wie Fontane çfter erwhnt, viel zu teuer waren. Der Weg von Berlin ins Herz des Oderlandes fhrt heutzutage mit der Bahn ber den 1881 erçffneten Bahnhof Lichtenberg, der von 1882 – 1920 Bahnhof Lichtenberg-Friedrichsfelde hieß. ber letztere Gemeinde mit ihrem Schloss hatte Fontane in seinen Wanderungen berichtet: „Die nahe Hauptstadt samt ihrem Lrm, wir empfinden sie wie hundert Meilen weit. Hier ist Friede!“ Auf dem Bahnhof Lichtenberg ist die hippe, schicke, von Internationalitt geprgte deutsche Hauptstadt mindestens 200 Meilen entfernt. Hier ist sie nur arm, vçllig unsexy und bisweilen auch intolerant. Der Bahnhof hat die besten Zeiten hinter sich, auch wenn er laut bahninterner Kategorie noch ein sogenannter Fernverkehrssystemhalt ist. Bis 1989 war der Bahnhof Lichtenberg der heimliche Hauptbahnhof Ostberlins. Denn von hier fuhren die Zge nach Moskau ber Warschau mit Kurswagen nach Kasan, Omsk und Nowosibirsk und morgens um halb neun kamen werktags die orange gestrichenen Expresszge aus allen Teilen der DDR an, ihrer Passagiere wegen Bonzenschleuder genannt. Gegen 17 Uhr fuhren sie wieder zurck in die Provinz. In den gastronomischen Einrichtungen der Mitropa waren die Pltze immer knapp und es gab den sagenhaften Luxus çffentlicher Duschen, den gerne in Anspruch nahm, wer nur
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Einraum-Außentoilette wohnte. Das letzte Mal, dass ich den Bahnhof Lichtenberg berfllt gesehen habe, war im Juli 1997. Unzhlige Reisende waren gestrandet, weil der Fernverkehr Richtung Oder komplett gesperrt war. Die Oderflut hielt die Nation in Bann und auf der Leinwand in der Haupthalle fuhr Jan Ullrich im gelben Trikot in Richtung Paris. Heutzutage ist Ruhe, Friede nicht. Sechs bis sieben Regionalzge in der Stunde, mehr fhrt hier nicht mehr ab. Die russischen Zge wurden mit der Fertigstellung des Hauptbahnhofes als Trostpreis an den Bahnhof Zoo abgegeben, der sich erst an das seltsame Reisegebaren der russischen Passagiere gewçhnen musste. Nur ein paar Nachtzge enden noch hier. Der Bahnhof Lichtenberg ist abgehngt, wie auch das Land Richtung Osten. Die Eingangshalle des Bahnhofs wird, zumindest was die Lautstrke angeht, von Leuten beherrscht, die nie wegfahren, nicht einmal mit der SBahn. Da ist laut und viel vom Ficken die Rede, von Sttze und Alkohol. Ihr Reich zieht sich zwischen Sitzbank am Eingang quer durch die Halle zum Supermarkt Norma, und wenn Geld und Kraft reichen, eine Etage hçher in die Filiale von McDonalds. Dafr sagen auf dem Bahnhof Lichtenberg die Angestellten noch selbst die Zge an. Auf Gleis 21 steht der Zug nach Kostrzyn bereit. Jede Stunde, fnf nach halb, fhrt ein Dieseltriebwagen des Typs Bombardier Talent nach Osten. Jeder zweite hlt, wie der Berliner sagt, an jeder Milchkanne. Nur dass keine Milchkannen mehr auf der Schienenstrecke transportiert werden. Die Zeiten, als die Gemsebahnen ber die Ostbahnstrecke in die Berliner Markthallen fuhren, sind vorber. Auch die Zeit, als auf allen Kisten „Gemse aus dem Oderbruch“ stand. Es wird woanders angebaut. Die Regionalbahn nach Kostrzyn, die auf der Trasse der Ostbahn verkehrt, ist auch in Zeiten des europischen Zusammenwachsens eine grçßtenteils eingleisige, nicht-elektrifizierte Hauptbahn, die wegen der schlechten Trassenverhltnisse teilweise mit 30 km/h durchs Oderland zuckelt, nur auf dem Streckenabschnitt zwischen den Kilometern 75,0 und 80,7, was heißt, zwischen Golzow im Oderbruch mit seinen berhmten Kindern und dem Odervorfluter hinter Kstrin-Kietz, darf seit Weihnachten 2006 120 km/Stunde gefahren werden. Der deutsche Teil der Ostbahn ist seit Kriegsende eingleisig. Auf dem zweiten Gleisbett sind Birken und Robinien gewachsen. Fr die Deutsche Bahn beginnt hinter dem Ostbahnhof die Steppe und dass die Strecke nicht ganz stillgelegt, sondern der Niederbarnimer Eisenbahn AG verpachtet wurde, ist den polnischen Putzfrauen zu verdanken, die einen Großteil der Passagiere ausmachen, neben Hndlern mit großen leeren Taschen, Pendlern aus dem Kreis Mrkisch-Oderland und lteren Paaren, die mit einer VBB-Tageskarte zum Basar nach Kostrzyn fahren.
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„Ob du Reisen sollst, fragst du“, fragt Fontane: „Reisen in die Mark Brandenburg? Die Antwort ist nicht eben leicht. Es wird einem selten das Schlimmste zugemutet, aber es kommt doch vor.“ Das Oderland umfasst heute den 1993 gegrndeten Landkreis Mrkisch-Oderland, der landschaftlich aus den zwei Grundmornenplatten Barnim und Lebus sowie dem trockengelegten Oderbruch besteht und durch den die Ostbahn mitten hindurchgeht. „Wer in die Mark reisen will, der muss zunchst Liebe zu ,Land und Leuten‘ mitbringen, mindestens keine Voreingenommenheit“, sagt Fontane, „Er muss den guten Willen haben, das Gute gut zu finden. (…) Es gibt grçbliche Augen. Diese mçgen zu Hause bleiben.“ Und dann die Stelle, die sich heutzutage eigentlich verbietet: „Es ist mit der mrkischen Natur wie mit manchen Frauen: ,Auch die hsslichste‘, sagt das Sprichwort, ,hat immer noch sieben Schçnheiten.‘“ 1992 lernte ich den Fotografen Arwed Messmer kennen, der aus der betuchten Sattheit des Badischen nach Ostberlin gekommen war, wie viele damals, die auf Abenteuer aus waren. Uns einte das gemeinsame Interesse an deutscher Geschichte und an Eisenbahnstrecken und so wollten wir ber einen lngeren Zeitraum die Ostbahn abfahren und in Wort und Bild die Vernderungen rechts und links der Oder festhalten. Ich kaufte mir Fontanes Oderland in einer edlen Ausgabe mit goldener Schrift und mehr Anmerkungen, Vor- und Nachworten als Text. Eine etwas unbequeme Reiselektre. Aus dem Projekt wurde nichts – uns fehlte das Geld. Der zustndige Beamte im Kultusministerium von Brandenburg wollte 1994 von der Ostbahn nichts wissen. Er hielt uns fr Revanchisten. Die Osterweiterung der EU war noch weit. Trotzdem sind wir zwischen 1993 und 94 in unzhligen kleinen Oderbruchorten gewesen, Bad Freienwalde, in Seelow, Gottesgnade und Zollbrcke, Gstebieseloose und Kstrin. Viele Reisen habe ich spter alleine gemacht, fr geringes Zeilenhonorar ging es nach Buckow, Reitwein, Worin oder Kstrin. Am beeindruckendsten war eine Reise nach Podelzig, im Winter 1995, als ich an einer Grabung teilnahm, die ein Kapitel der Geschichte des Oderlandes wiederaufnahm, von dem Fontane noch nichts ahnen konnte – die Schlacht um die Seelower Hçhen im Frhjahr 1945. Eine Million Soldaten, Tote in unbekannter Zahl. In Bezug auf die Zeit von Februar bis April 1945 spricht die Bodendenkmalpflege im Oderbruch von „gestçrtem Boden“. 1995 sollte hier ein vorlufiger Schlussstrich unter die Geschichte gezogen werden. Es war eine große Show. Russische und deutsche Soldaten sollten gemeinsam einen alten Schtzengraben ausheben, die Munition
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beseitigen und die Toten fein suberlich trennen und auf deutschen und russischen Friedhçfen bestatten. Die Soldaten redeten nicht miteinander, die ehemals deutschen und sowjetischen Toten lagen eng beieinander in den Schtzengrben, manche sahen aus wie miteinander verschlungen. Immer waren hier in den letzten Jahrzehnten die Toten und die Waffen an die Oberflche gekommen. Und kommen noch. Man muss nicht tief graben. Viele Bewohner der Oderbruchdçrfer haben bei Erweiterungen ihrer Huser Skelette gefunden. Im Allgemeinen wurden solche Funde tunlichst nicht gemeldet, denn sonst wre zuerst die Polizei gekommen, dann die Mordkommission und schließlich die Staatssicherheit. Also haben sie stillschweigend Beton drbergegossen. Podelzig liegt neun Kilometer von der Ostbahnstation Gorgast entfernt. Damals dachte ich noch, ich kçnne es wie Fontane machen und htte mein Auskommen. Romane schreiben und wenn es mir zu Hause zu langweilig wird, mit çffentlichen Verkehrsmitteln in der ganzen Welt herumkutschieren, um nach Ende der Reise darber zu schreiben. Dass bei Fontanes das Geld genauso knapp war wie bei mir, habe ich erst spter zur Kenntnis genommen. Die Erfahrungen bleiben die gleichen. „Die nicht unbedeutenden Kosten mssen direkt bezahlt werden und Monate vergehen, ehe man sich das Geld zurckerschreibt“, schrieb Fontane an Emilie ber die Wanderungen und seufzte an anderer Stelle: „Ich sollte vielleicht doch ins Militr eintreten. Man will ja untergebracht sein.“ Als Fontane ins Oderbruch fuhr, um seine Recherchen zu machen, war er so alt wie ich heute. Nchste Haltestelle Mncheberg. Ausstieg links. Neben den Bahnhçfen der Ostbahn zwischen Strausberg und Gorgast stehen die Autos der Pendler, die tglich nach Berlin fahren mssen und in die Stadt hinein lieber die Bahn nehmen. Im Oderbruch gibt es nicht genug Arbeit, von der sich leben ließe. Im Kreis Mrkisch-Oderland waren im April 2007 15889 Menschen arbeitslos, die Arbeitslosenquote betrug im August 2007 14,1 %, 5,3 % ber dem Bundesdurchschnitt. Das durchschnittliche monatliche Industrieeinkommen im Kreis liegt bei 2135 Euro. Das entspricht 68 Prozent des Bundesdurchschnitts und 89 Prozent des Landesmittels von Brandenburg. Die Kinder, die die Suche nach Arbeit in andere Landschaften zog, werden nie wieder zurckkommen. 500 Jugendliche sind es jhrlich, die abwandern. In dunklen Momenten scheint es, als sollte das Werk von Friedrich II., die Oderlandschaft urbar zu machen, in den nchsten zwei Generationen wieder rckgngig gemacht werden. „Du darfst“, schreibt
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Fontane, „wenn du in die Mark reist, nicht allzu sehr durch Komfort verwçhnt und verweichlicht sein.“ Nchste Haltestelle Trebnitz (Mark), Ausstieg rechts. Sechs Kilometer von der Bahnstation Trebnitz entfernt liegt Neuhardenberg. Als ich 1990 das erste Mal das Dorf besuchte, hieß es noch Marxwalde und das Leben dort wurde bestimmt von Mnnern, die einen Stock verschluckt zu haben schienen. Preußische Offiziere des spten 20. Jahrhunderts, denen gerade die Truppen abhanden gekommen waren. Im Schloss war die Turnhalle der Schule, ein Plattenbau Typ Erfurt, den man an den Rand des Schlossparks gequetscht hatte, untergebracht. Im Dorf wurde zu der Zeit viel gejammert und auf den neuen oder alten Eigentmer gewartet. Am Ende bernahm der Deutsche Sparkassen- und Giroverband das Schloss und renovierte es aufs Vorzglichste. Seit einigen Jahren gibt es im Sommer ein Kulturprogramm, das seinesgleichen sucht. Der Ort, einst Quilitz genannt, war 1814 von Kçnig Friedrich Wilhelm III. seinem Staatskanzler Carl August von Hardenberg als Dank fr die Stein-Hardenbergschen Reformen geschenkt worden. Gemß dem letzten Willen Hardenbergs wird das Herz des Staatskanzlers seit 1823 im Altar der Kirche aufbewahrt und die Aufsichtkrfte der Kirche weiden sich noch heute gensslich an dem Schrecken, den das kleine vertrocknete Herz in einem Kstchen hinter dem Altar bei einigen Besuchern anrichtet. „Am 13. Oktober 1817 hatte die festliche Einweihung der durch Schinkel restaurierten Neu-Hardenbergschen Kirche statt“, schrieb Fontane im Oderland, „und das Interesse, das der Staatskanzler dieser Kirche widmete (er vermachte ihr eine Donation und fehlte nie beim Gottesdienst), lsst darauf schließen, dass er bei dieser Einweihung zugegen war.“ Geschichte wiederholt sich dann doch manchmal auf eigentmlichste Weise. Um die Renovierung der Kirche zu finanzieren, hat man in Neuhardenberg in den letzten Jahren Sterne aus der Deckenbemalung verkauft. Die Grçße des mit dem Namen des Spenders versehenen Sterns richtete sich nach der Hçhe der Spende. Auch der Ministerprsident Platzeck vermachte der Kirche auf diesem Wege eine Donation. Im Sommer vor drei Jahren, ich weidete mich gerade mal wieder am Anblick des Hardenbergschen Herzens, fingen die Glocken plçtzlich an zu luten, die Kirchentr wurde aufgestoßen und der Ministerprsident trat mit Gefolge ein und ich mçchte behaupten, unter dem zufllig anwesenden Volk den einen oder anderen kleinen Kratzfuß gesehen zu haben.
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Der Zug erreicht Alt Rosenthal. Ausstieg rechts. Das Oderbruch war in den letzten Jahrzehnten auch immer ein Rckzugsort fr Knstler. Klaus Schlesinger hatte hier in Alt-Rosenthal ein Haus und auch Ulrich Plenzdorf. Beide sind inzwischen tot. Ganz in der Nhe der Bahnstation Werbig bewohnt Werner Stçtzer in Alt-Langsow sein Refugium. Ein paar Huser weiter lebte eine zeitlang die Bildhauerin und Bhnenbildnerin Gabriele Koerbl, bevor sie mangels Auftrgen nach Martinique auswanderte und dort vor ein paar Wochen, zermrbt von Armut in einem termitenzerfressenen Haus starb. „Das Beste aber, dem du in der Mark begegnen wirst“, schreibt Fontane, „das werden die Menschen sein. Verschmhe nicht den Strohsack neben dem Kutscher. Lass dir erzhlen von ihm, von seinem Haus und Hof, von seiner Stadt oder von seinem Dorf (…) und sein Geplauder wird dich mit dem Zauber des Natrlichen und Lebendigen umspinnen.“ Zum Beispiel Rosi Z. aus einem Dorf der Gemeinde Vierlinden, 55 Jahre, ehemalige Sachbearbeiterin, Kinder quer durch Deutschland verteilt. Sie sieht sie hçchstens zu Weihnachten. „Dafr htte die Mauer nicht fallen mssen“, sagt sie scherzhaft, wenn jemand sie danach fragt. Rosi Z. liebt ihren Garten, ihr Haus und ihr Dorf, in dieser Reihenfolge. Deshalb zieht sie einen Umzug nicht in Erwgung. Sie ist hier geboren und mçchte hier auch begraben werden. Sie sagt, dass sie auf dem Recht beharrt, ihre Heimat selbst zu bestimmen. Rosi Z. ist eine khle Rechnerin, sie hat schließlich fnfundzwanzig Jahre lang die Finanzen der çrtlichen LPG verwaltet, die berhmt war fr ihre Besamungserfolge in der Schweinezucht, und die Abrechnungen stimmten immer. Der Nachfolgebetrieb brauchte ihre Rechenknste nicht mehr. Rosi kam als Finanz- und Putzfrau in der çrtlichen Arztpraxis unter. Nebenbei betrieb sie mit ihrem Mann Heinz, der in der LPG als Traktorist gearbeitet hatte und nach etlichen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen arbeitslos war, einen Getrnkesttzpunkt in der zum Laden ausgebauten Garage. Irgendwann aber waren Rosi die beiden Jobs zuviel, zumal Heinz immer mehr sein eigener Kunde wurde. Sie wehrte sich mit einer langwierigen Krankheit, und der Getrnkesttzpunkt war Geschichte. Ihr Dorf war zu DDR-Zeiten ein sozialistisches Musterdorf mit Schule, Kindergarten, Kulturraum, HO-Gaststtte und einem sozialistischen Friedhof, der im Gegensatz zum christlichen, auf dem zu DDR-Zeiten nur Selbstmçrder und Außenseiter begraben wurden, ordentlich abgezirkelte Grber mit Betonsteineinfassungen hat, zwischen denen sich Stiefmtterchen drngen. Auf dem Friedhof liegen auffllig viele Mnner, die mit Mitte
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50 gestorben sind und ein paar Jngere, die sich in den neunziger Jahren mit ihren neuen Autos um die heimischen Bume gewickelt haben. Die lteren sind vorzugsweise am Suff oder alkoholbedingten Nachfolgekrankheiten gestorben. Alkohol ist in dieser Gegend das fr die Menschen, was Sprit fr die Autos ist. Dass ein Krankheitsbild Alkoholismus existiert, ist hier erst seit fnfzehn Jahren bekannt. Vorher war der Alkohol Belohnung zum Feierabend. „Tu mir einen Gefallen“, hatte Rosi immer wieder zu ihrem Mann gesagt, „fall nicht im Suff die Treppe runter und brich dir das Genick. Dann denken alle, ich htte nachgeholfen.“ Er wre nicht der erste gewesen im Dorf. Es gab da eine Menge Gerede. Nachdem fr Heinz rund um die Uhr Feierabend war, hatte er seine Tage vor dem Fernseher verbracht, wo er pausenlos Trickfilme sah. Als Rosi an einem Morgen ins Wohnzimmer kam und zwischen Flaschenbatterien ihren Mann liegen sah, wusste sie gleich, dass etwas nicht stimmte. „Da war die Seele weggeflogen und das sprte man an so einer eigenartigen Stille“, erzhlte sie spter ihren Gartenfreundinnen. Nachdem der Discount-Bestatter die Leiche abgeholt hatte, nahm Rosi noch die letzten Beileidsbekundungen entgegen und dann schloss sie sich im Haus ein und legte den Hçrer neben das Telefon. Als sie nach zwei Tagen wieder aufmachte, hatte sie alles durchgerechnet: Die Kosten fr Strom, Gas, Telefon und Grundstckssteuer, Versicherung, Sprit, Mllabfuhr und Einkaufsreisen ins nahegelegene polnische KsACHTUNGREtrin, Geschenke fr die Kinder und Unvorhergesehenes, das sie mit 100 Euro pro Monat ansetzte, nach reiflichen berlegen aber auf 50 Euro verringerte, Saatgut und Kaninchenfutter wurden dem schmalen Verdienst entgegengestellt. Sie kam zu dem Schluss, dass sie auch ohne Untersttzung ihr Haus wrde halten kçnnen. Luxus jeglicher Art fiel allerdings weg, die Heizung wrde nur bei Minusgraden angemacht und stattdessen mit Holz geheizt werden. Zu den Geburtstagen ihrer Gartenfreundinnen wrde sie Steuerabrechnungen oder Fensterputzleistungen verschenken, fr das gute Aussehen msste sie eine arbeitslose Friseurin zum als Gartenfest getarnten Haareschneiden einladen und sie mit Gemse aus dem Garten bezahlen. Darauf genehmigte sie sich erstmal einen Johannisbeerlikçr. Dann ging sie durchs Dorf, um ihren Entschluss zu verknden. Noch einige Tage hçrte sie nachts Schritte und Knarzen im Haus, bis es ihr reichte. Sie stellte sich auf Zehenspitzen und schrie: „Heinz, nu is jut.“ Seitdem ist Ruhe.
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Wir erreichen jetzt Kostrzyn. Der Zug endet hier und fhrt um 17.55 Uhr nach Berlin-Lichtenberg zurck. Die polnische Grenzstadt Kostrzyn lebt vom Verkauf. Benzin, Pilze, Frauen, Zigaretten, geflochtene Kçrbe. In den Supermrkten von Lidl und Intermarch sind Dreiviertel der Kunden Familien aus dem Oderbruch, die mit Euro bezahlen. Auch an den Tankstellen berwiegen deutsche Kennzeichen. Der Weg vom Bahnhof bis zur Festung fhrt vorbei an leeren Flchen und ber mehrere Brcken, die Warta und Oder berspannen. An den Ufern stehen Angler. Auf dem Basar ist nicht viel los. „Innerhalb der Festungswerke lag die Stadt mit Marktplatz, Kirche, Schloss, letzteres hart an den Wall gelehnt, und zwar zwischen Bastion Kçnig und Bastion Brandenburg“, schreibt Fontane im Kstrin-Kapitel der Wanderungen im Oderland. „Auf den Wllen selbst befand sich alles, was eine Festung an Magazinen, an Gieß- und Zeughusern, an Pulver- und Getreidemhlen erforderte. Unter seiner Armatur waren auch einzelne aus der Kstriner Gießerei hervorgegangene berhmte Geschtze, die nach damaliger Sitte besondere Namen hatten. Das eine derselben hieß ,Der wilde Mann‘, ein anderes ,Das Rebhuhn‘. So war Festung Kstrin. Sie galt fr ,unberwindlich‘. Dass sie sich nicht jederzeit als solche bewhrte, lag an anderem als an dem Mangel oder der Unzureichendheit ihrer Befestigungen.“ Die Altstadt Kostrzyns – bekannt als Festung Kstrin – ist ein Schild der Bahn inmitten einer Steppe, ein polnisches Karthago. Man kçnnte es auch Pompej vor den Toren Berlins nennen. Die Umrisse der Apothekergasse, Schornsteinfegergasse, Rosengasse oder Bckergasse sind noch da, doch das Leben hat sich verflchtigt. Im Sommer 2005 war ich der einzige Gast. Die ersten hundert Schritte schien es mir, als sei es vollkommen still in der toten Stadt. Als wre ein Weltvakuum darbergestlpt und nur ich konnte noch atmen, alle anderen waren tot. Der Weg, den ich entlangging, war befestigt mit Bernburger Pflaster, Granitplatten, Bordsteinen und buckligen Katzenkçpfen, wie die Straßen in den Grnderzeitvierteln Berlins. Frher hieß der Pfad Berliner Straße, aber wann frher war und wie lange es her war, schien fr einen Moment vollkommen im Dunkeln zu liegen. Nur allmhlich waren sehr weit entfernt, hinter dem blau erleuchteten Berliner Tor, die Gerusche des Grenzbergangs zu hçren. Das Abbremsen der Autos vor dem Schlagbaum. Der Moment der Ruhe. Das Anfahren. Seit dem Beitritt Polens zur EU werfen die Grenzbeamten nur noch einen flchtigen Blick in den Pass.
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Die Altstadt ist bis einen halben Meter ber dem Fundament abgetragen, aus allen Ritzen wuchert Grn. Fr den Wiederaufbau Warschaus brauchte man Steine, die neuen Westgebiete Polens waren die ersten Jahre nach dem Krieg noch kaum besiedelt, die Festung war ein aufgegebenes Fort am Rand der Weltgeschichte, das man allmhlich vergaß. Einst war hier Katte gekçpft und Friedrich II. preußisch zurechtgebogen worden, aber darber stolpert man nur noch bei Fontane. Was fr ein Ort inmitten von Europa! Vçllig funktionslos. Zu nichts ntze. Wie schçn, mçchte man sagen. So kçnnte diese Geschichte einer Reise nach Osten enden und „die Eindrcke tanzen uns“, Fontane muss hier das letzte Wort behalten, „hurly, burly im Kopf herum.“
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Keine grndende Dichterbiographie Walter Benjamin ber Max Brod: Franz Kafka. Eine Biographie (1937)
Erdmut Wizisla Eine persçnliche Vorbemerkung und eine Abschweifung am Beginn seien erlaubt. Die Vorbemerkung ist ein Dank an Peter Wruck. Ich bin stolz, mich als seinen Schler bezeichnen zu drfen. Wenn ich daran denke, womit Herr Wruck etwas bei mir bewirkt hat, fallen mir scheinbar unaufwendige Formulierungen ein, Beilufiges, Unpathetisches, das Folgen hatte. Zwei der ersten Gesprche mit Peter Wruck sind mir besonders haften geblieben: Das erste, als er mich als Hilfsstudent fr das Projekt Literarisches Leben in Berlin bernahm, wegen seiner Frage: „Wollen Sie, dass ich Ihnen das Vorhaben historisch oder systematisch erlutere?“ Ich hatte vorher wohl noch nie ber diese Differenz nachgedacht. Das zweite blieb im Gedchtnis, weil er mich, nachdem ich ihm von meinem Interesse an Walter Benjamin erzhlt hatte, aufforderte: „Schreiben Sie doch mal etwas ber Benjamins Rede ,Das Leben der Studenten‘!“ So wurde aus einer Ambition eine Arbeit, die mich bis heute begleitet. Und ich erinnere mich an eine Postkarte und – als wre es eben erst gewesen – an die Freude, die sie bei mir auslçste. In der Anfangszeit des Projekts Berliner Studenten und deutsche Literatur hatte ich ihm in den Ohren gelegen mit meinem Wunsch, Benjamin zu bearbeiten. Er zçgerte zunchst, schrieb mir jedoch irgendwann eine Postkarte mit den – unaufwendigen, aber fr mich folgenreichen – Worten: „Benjamin passt, glaube ich, doch ganz gut in unseren Zusammenhang.“ Mein Dank an Peter Wruck geht ber das hinaus, was ich hier zum Ausdruck bringen kann. Die Abschweifung sucht nach einer Verbindung zwischen dem Thema dieses Bandes und meinem: Wer Fontane-Spuren bei Walter Benjamin verfolgt, rechnet mit einer eher krglichen Ausbeute. Da gibt es den Kalauer zu den Wanderungen aus den Mitteilungen der Akademie Muri, jenen Satiren, mit denen sich die um 1918 in Muri bei Bern lebenden Berner Studenten Walter Benjamin und Gerhard Scholem den Universittsalltag ertrglich zu machen suchten. Der Spott der Kurzrezension richtete sich nicht gegen Fontane, sondern gegen Benjamins Berliner Universittslehrer Gustav Roethe:
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Erdmut Wizisla
Theodor Fontane / Wanderungen durch Mark und Bein, / herausgegeben von Gustav Roethe / Endlich erscheint das berhmte Werk in ganzer Ausdehnung und unter seinem vollstndigen Titel. Besonders wertvoll ist die Darlegung des ursprnglichen Wortlauts durch den Herausgeber, eine neue Probe seines durchdringenden Organs.1
In einem Artikel ber den Berliner Sprachwitz „Wat hier jelacht wird, det lache ick“ verteidigte Benjamin 1929 in der Frankfurter Zeitung das Sprachgewissen des Berliners; es sei „bedeutend zarter besaitet, als man es seinem Ruf nach vermuten sollte“. Aufschlussreich fr unseren Zusammenhang ist die Begrndung: „Man lese doch Fontane, um zu erkennen, wie leicht die Rhrung dem mrkischen Menschen und wie sehr sie ihm aus der mrkischen Landschaft kommt“.2 Benjamins Rundfunkvortrag ber die Wanderungen, 1929 oder 1930 im Rahmen der „Berlinstunde“ gesprochen, erscheint auf den ersten Blick als eine Gelegenheitsarbeit, ber die Fontane-Kennern kaum etwas mitzuteilen wre. Vergleichende Untersuchungen lohnten sich aber, glaube ich, doch, und zwar nicht nur zu den Stichworten Fontanes Berlin/Benjamins Berlin oder Fontanes Brandenburg/Benjamins Brandenburg, sondern vor allem zur Erzhlperspektive und zur Rolle von Bildern im Prozess des Erinnerns. Man vergleiche Fontanes Vorwort zur ersten Auflage, das Benjamin im Rundfunkvortrag zitiert, mit dem Vorwort zur sogenannten „Fassung letzter Hand“der Berliner Kindheit um neunzehnhundert, und man wird Affinitten finden, die das Beiwort verblffend verdienen. „Erst die Fremde lehrt uns, was wir an der Heimat besitzen“, so beginnt die Vorrede der Wanderungen, und ihr Verfasser beschreibt die Szene vor dem schottischen DouglasSchloss, in der nach dem Verschwinden der Insel und des Rundturms die „Phantasie weiter in ihre Erinnerungen zurckgriff und ltere Bilder vor die Bilder dieser Stunde schob. Es waren Erinnerungen aus der Heimat, ein unvergessener Tag“.3 Auch Benjamins Aufzeichnungen ber seine Berliner Kindheit sind auf „Streifereien in der Fremde“ entstanden, in einer erzwungenen Abwesenheit, mit der Gewissheit eines bevorstehenden endgltigen Abschieds von der Geburtsstadt. Benjamin beschreibt ein „Ver1
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Walter Benjamin: Gesammelte Schriften. Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und GerACHTUNGREshom Scholem hg. von Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhuser. 7 Bnde. Frankfurt am Main 1972 – 1989 (im folgenden GS). Band IV/ 1, S. 447. GS IV/1, S. 539. Theodor Fontane: Wanderungen durch die Mark Brandenburg. Erster Teil: Die Grafschaft Ruppin. Berlin 2 1980, S. 1 f. Vgl. die Zitate in Benjamins Rundfunkvortrag: GS VII/1. S. 138.
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fahren der Impfung“, das er mehrmals in seinem inneren Leben als heilsam erfahren hatte: „ich hielt mich auch in dieser Lage daran und rief die Bilder, die im Exil das Heimweh am strksten zu wecken pflegen – die der Kindheit – mit Absicht in mir hervor“.4 Benjamin kannte seinen Fontane. Das „Verzeichnis der gelesenen Schriften“ registriert, obgleich es nicht vollstndig erhalten ist, immerhin vier Lektren: um 1920 las er Frau Jenny Treibel (Nr. 683) und Effi Briest (Nr. 690), im Mai 1932 Der Stechlin (Nr. 1211), und 1938, bei Brecht in Skovsbostrand, Unterm Birnbaum (Nr. 1647).5 Den Stechlin am Mittelmeer zu lesen, schrieb Benjamin an Scholem etwa am 10. Mai 1932, komme „auf eine Verfeinerung des brigens soliden Komforts dieses Autors“ hinaus. „Soviel Spaß er mir macht, glaube ich doch zu verstehn wie man ihn nicht ausstehen kçnne; ja manchmal genieße ich selbst beinah die Entrstung imaginrer Leser mit.“6 Nicht um Fontane bei Benjamin soll es jedoch im Folgenden gehen, sondern um eine exemplarische Auseinandersetzung mit einer Biographie, dem 1937 im Verlag Heinrich Mercy Sohn in Prag erschienenen Buch Franz Kafka. Eine Biographie (Erinnerungen und Dokumente). Zunchst ist der Kontext der Brod-Kritik zu beschreiben, also Benjamins lang anhaltendes Interesse fr Kafka. Eine Lektre der Besprechung wird sodann gefolgt von der Untersuchung von Benjamins Einwnden. An den offenkundig und immanent in der Rezension entwickelten Kriterien soll sich schließlich der Blick auf Benjamins Erwartungen çffnen: Worauf kommt es bei einer Biographie an? Benjamin und die Gattung Biographie, gar Benjamin als Biograph, das sind Leerstellen. Das Biographische war ihm kein Gegenstand nheren Interesses. Natrlich setzte Benjamin biographische Informationen ein, wenn er ber Kant, Goethe, Hebel, Keller, Brecht oder andere schrieb, aber die Gattung interessiert ihn nicht, zumindest nicht als Problem. Dagegen – und auch hier bçte sich ein Vergleich mit Fontane an – gibt es ein ausgeprgtes Interesse am Autobiographischen. Franz Kafka ist neben Goethe, Baudelaire und Brecht einer der Autoren, mit denen Benjamin sich kontinuierlich befasst hat. Die Lektre der ersten Kafka-Texte geht in seine Studienjahre zurck, vielleicht sogar in die BerACHTUNGREliner. Die Erzhlung Vor dem Gesetz gelte ihm, schrieb er 1925, „heute wie vor 4 5 6
GS VII/1, S. 385. GS VII/1, S. 446, 465 u. 474. Walter Benjamin: Gesammelte Briefe. Hg. von Christoph Gçdde u. Henri Lonitz. 6 Bnde. Frankfurt am Main 1995 – 2000 (im Folgenden GB), GB IV, S. 89 f.
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zehn Jahren fr eine der besten, die es im Deutschen gibt“.7 Das ist einigermaßen genau datiert, bezieht es sich doch auf den 1916 erfolgten Erstdruck der Parabel in der Wolff-Sammlung Vom jngsten Tag. Am Beginn der schriftstellerischen Auseinandersetzung mit Kafka steht eine kurze Polemik gegen Ehm Welk. Welk hatte Max Brod „wegen Nichtbeachtung gewisser Kafka’scher Testamentvorschriften angegriffen“.8 Benjamin reagierte am 22. November 1929 in der Literarischen Welt mit dem Text Kavaliersmoral – einer „energische[n] Zurckweisung“ der „Anklage auf verletzte Freundespflicht“.9 Interessant fr unseren Zusammenhang ist die Bewertung der Freundschaft zwischen Brod und Kafka; sie sei, sagt Benjamin, „[n]ichts weniger als ein Orden und Geheimbund, sondern eine innige und vertraute, doch ganz und gar im Licht des beiderseitigen Schaffens und seiner çffentlichen Geltung stehende Dichterfreundschaft.“10 So sollte Benjamin spter nicht mehr ber die Beziehung von Brod und Kafka sprechen. Die weiteren Stationen der Auseinandersetzung mit Kafka sind der Vortrag ber den Nachlassband Beim Bau der Chinesischen Mauer am 3. Juli 1931 im Frankfurter Rundfunk, in dem Benjamin Kafkas Werk ein „prophetisches“ nannte,11 die teils kontrovers gefhrten Gesprche mit Brecht, 1931 in Le Lavandou und 1934 in Svendborg, und der Essay Franz Kafka. Zur zehnten Wiederkehr seines Todestages, vom dem die Jdische Rundschau am 21. und 28. Dezember 1934 zwei von vier Teilen publizierte. Zu dieser Arbeit existiert ein umfangreiches „Dossier von fremden Einreden und eigenen Reflexionen“12, eine Dokumentation der komplexen Rezeption bei Brecht, Scholem, Adorno und Werner Kraft und eigene Aufzeichnungen zur berarbeitung des großen Kafka-Essays. ndern wollte ihn Benjamin schon damals, und er beabsichtigte, „die erweiterte Fassung in Buchform“13 bei Schocken zu publizieren, was allerdings nie realisiert wurde.
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Walter Benjamin an Gershom Scholem, 21. Juli 1925. In: GB III, S. 64. Walter Benjamin an Robert Weltsch, 9. Mai 1934. In: GB IV, S. 423. GS IV/1, S. 466 f. GS IV/1, S. 467. Vgl. GS II/2, S. 676 – 683. Walter Benjamin an Gershom Scholem, 26. Dezember 1934. In: GB IV, S. 551. – Unter diesem Briefzitat sind die Notizen zusammengestellt in der Sammlung Benjamin ber Kafka. Texte, Briefzeugnisse, Aufzeichnungen. Hg. von Hermann Schweppenhuser. Frankfurt am Main 1981, S. 156 – 165. 13 Walter Benjamin an Theodor Wiesengrund-Adorno, 7. Januar 1935. In: GB V, S. 13.
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Ein Anlass, sich erneut mit Kafka zu befassen, schien sich mit dem Erscheinen der ersten Kafka-Biographie zu erçffnen. Benjamins Rezension, die erst postum publiziert wurde, ist ein strategischer Text. Sie ist Teil eines Briefes an Gershom Scholem vom 12. Juni 1938, der auf Vorschlag des Empfngers verfasst wurde.14 Scholem wollte mit diesem Dokument den Verleger Salman Schocken motivieren, Benjamin einen Auftrag fr eine monographische Arbeit ber Kafka zu erteilen, damit dieser eine Zeit lang unabhngig vom Institut fr Sozialforschung arbeiten konnte.15 „Ich mçchte Dich an unser Gesprch ber Kafka erinnern“, mahnte Scholem am 6. Mai 1938 aus New York, „und daran, daß Du mir einen eventuell prsentablen Brief gelegentlich der Brodschen Biographie schreiben wolltest. Lege das nicht zu sehr aufs Eis, es ist mçglich, daß ich in Europa mit Schocken zusammenkomme und es brauchen kann. Wenn Du kannst, schreibe drei bis vier Seiten, die eine Art Programm umschreiben und nicht zu harmlos klingen.“16 Die Sache war jedoch von vornherein zum Scheitern verurteilt. Benjamin wusste offenbar, dass Schocken und Brod den Verlag Heinrich Mercy in Prag als „Scheinverlag“ gegrndet hatten, um die Fortfhrung ihrer Ausgabe nach der Schließung des Schocken-Verlags zu ermçglichen.17 Schocken war auch nominell Verleger der 1946 in New York erschienenen zweiten Auflage und der im Jahr darauf erschienenen englischen bersetzung. Glaubte Benjamin wirklich, ein Verleger wrde einem Mann einen Auftrag erteilen, der ein Buch seines Verlages so kritisch gelesen hatte? Aber zu diesem Konflikt kam es gar nicht erst, denn die Besprechung gelangte wohl nie in Schockens Hnde, Scholem scheint sie bei sich behalten zu haben. Der Verleger hatte Brod berhaupt nicht gelesen, wie Benjamin von Scholem erfuhr, und er „zeigte sich an der Nachricht von dessen Abschlachtung betont uninteressiert“.18 14 Walter Benjamin an Gershom Scholem, 12. Juni 1938. In: GB VI, S. 105 – 114. 15 Vgl. Gershom Scholem: Walter Benjamin – die Geschichte einer Freundschaft. Frankfurt am Main 21976, S. 262 f. 16 Walter Benjamin/Gershom Scholem: Briefwechsel 1933 – 1940. Hg. von Gershom Scholem. Frankfurt am Main 1980, S. 264. 17 Vgl. Joachim Unseld: Franz Kafka. Ein Schriftstellerleben. Die Geschichte seiner Verçffentlichungen. Frankfurt am Main 1984, S. 244. – Dass Benjamin dieser Zusammenhang nicht vçllig fremd war, ergibt sich aus einem Brief an Max Horkheimer vom 18. April 1939; darin heißt es ber Schocken: „Er hat bis heute nicht einmal Brods Kafkabiographie, die in seinem eigenen Verlage erschienen ist, gelesen.“ (GB VI, S. 265.) 18 Gershom Scholem an Walter Benjamin, 2. Mrz 1939. In: Benjamin/Scholem (wie Anm. 16), S. 297.
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Max Brods Biographie bot dem Rezensenten keine Gelegenheit zu einem programmatischen Gegenentwurf. Benjamin wusste das. Schon der erste Eindruck war fatal gewesen: Die Biographie scheine „in ihrer Verwebung Kafka’schen Nichtwissens mit Brod’schen Weisheiten einen Distrikt der Geisterwelt zu erçffnen […], wo weiße Magie und fauler Zauber aufs erbaulichste ineinander spielen“.19 Benjamin bezeichnete das Buch als „ungeeignet“, sein „Bild von Kafka – wre es auch nur auf polemische Weise – in der Befassung mit ihr durchblicken zu lassen“.20 Allerdings wollte Benjamin es dabei nicht bewenden lassen. Deshalb ergnzte er die kritischen Ausfhrungen ber Brod um „einige eigene Reflektionen ber Kafka“.21 Es waren, ließ er Adorno wissen, „Notizen […], die von einem anderen Standort ausgehen als mein Essai“.22 Insofern haben die Lektre und die Aburteilung des Brod-Buches Benjamins Kafka-Rezeption doch nachhaltig beeinflusst. Es sind vor allem drei Gesichtspunkte, die Benjamins Ablehnung erfuhren: die Haltung des Autors zu seinem Gegenstand, Brods Kafka-Interpretation und der geringe Erkenntniswert des Buches, namentlich Brods Verzicht darauf, Kafkas Existenz zu erfassen. Diese Einwnde lassen sich wie folgt zusammenfassen: Benjamin sah Brods Biographie „durch den fundamentalen Widerspruch gekennzeichnet, der zwischen der These des Verfassers einerseits, seiner Haltung andererseits obwaltet“.23 Die Haltung des Biographen sei „die vollendeter bonhommie“ (S. 106). „Mangel an Distanz ist ihre markanteste Eigenschaft“ (ebd.). Benjamin konstatierte berhaupt einen „Mangel an Takt, an Sinn fr Schwellen und Distanzen“ (S. 107). Der Rezensent spottete: „Intimitt mit dem Heiligen hat ihre bestimmte religionsgeschichtliche Signatur; nmlich den Pietismus. Brods Haltung als Biograph ist die pietistische einer ostentativen Intimitt; mit anderen Worten die piettloseste, die sich denken lßt“ (ebd.). Benjamin sah
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Walter Benjamin an Gershom Scholem, 14. April 1938. In: GB VI, S. 56. Walter Benjamin an Gershom Scholem, 12. Juni 1938. In: GB VI, S. 109 f. Walter Benjamin an Gershom Scholem, 12. Juni 1938. In: GB VI, S. 105. Walter Benjamin an Theodor W. und Gretel Adorno, 19. Juni 1938. In: GB VI, S. 125. 23 Walter Benjamin an Gershom Scholem, 12. Juni 1938, GB VI, S. 105 – 114, hier S. 106. Zitate aus dem Rezensionsbrief werden im Folgenden durch eine einfache Seitenangabe im Text nachgewiesen.
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diesen Gestus illustriert durch die Redewendung „unser Franz“.24 Brod berschreite das Maß sowohl in der Art, in welcher er Kafka huldigt, als in der Vertrautheit, mit der dieser von ihm behandelt wird. Beides hat wohl in dem Roman [Zauberreich der Liebe (1928), E. W.] sein Vorspiel, dem seine Freundschaft zu Kafka als Vorwurf diente. Ihm Zitate entnommen zu haben, stellt unter den Mißgriffen dieser Lebensbeschreibung keineswegs den geringsten dar. (S. 109.)
Brods Kafka-Interpretation hatte Benjamin schon frher distanziert betrachtet. Er stehe zu dieser Frage „ganz anders“ als Brod, hatte Benjamin am 9. Mai 1934 Felix Weltsch geschrieben. „Insbesondere vermag ich methodisch mir in keiner Weise die gradlinige theologische Auslegung Kafkas (die, wie ich wohl weiß, nahe genug liegt) mir zueigen zu machen.“25 Entsprechend heißt es in einer Aufzeichnung zum Essay von 1934: „In Kafkas Schriften kommt das Wort ,Gott‘ nicht vor. Sie ungebrochen theologisch auszulegen, ist nicht viel statthafter als eine Kleistsche Novelle, um sie den Lesern nherzubringen, in Reime zu bertragen.“26 Mit dieser Lesart befand sich Benjamin allerdings auch im erklrten Gegensatz zu Scholem. Der Erkenntniswert der Biographie war fr Benjamin getrbt durch „Unreinlichkeit in der konomie des Werks“ und „Spuren journalistischen Schlendrians“ (S. 106). Es fehle Brod „jedes Gefhl fr die pragmatische Strenge, die von einer ersten Lebensgeschichte Kafkas zu fordern ist“ (S. 107). Und, viel gravierender, Brod verfge nicht ber die Fhigkeit, „die Spannungen zu ermessen, von denen Kafkas Leben durchzogen war“, seine Versuche, „Kafkas Werke oder Schreibweise zu erlutern“, seien dilettantische Anstze, ihm sei „jede orginre Anschauung von Kafkas Leben […] versagt geblieben“ (ebd.). Benjamin beließ es nicht bei pauschalen Urteilen, sondern er benannte konkrete Defizite, etwa Brods Versagen vor der „vielschichtige[n] Problematik von Symbol und Allegorie“ (S. 108), einem Thema, fr das Benjamin gewiss kompetent war, oder Brods Auffassung, Kafka habe hinsichtlich der Ehe „etwa auf der Linie Martin Bubers“ gestanden.27 Besonders prekr erschienen die Fehlurteile, weil Brod bemht sei, nicht nur die zeitgençssische, sondern „auch die knftige Kafka-Literatur zu entwerten“ (S. 108). „So kçnnte man erklren und erklren (man 24 Vgl. Max Brod: Franz Kafka. Eine Biographie. (Erinnerungen und Dokumente). Prag 1937, S. 127: „Ein Photo zeigt unseren Franz unter den Arkaden des Castells Toblino“. 25 GB IV, S. 423. 26 GS II/3, S. 1214. 27 Vgl. Brod: Franz Kafka (wie Anm. 24), S. 241.
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wird es auch noch tun)“, heißt es in Brods Buch, „doch notwendigerweise ohne Ende.“28 Benjamins Urteil mndet in den Stzen: „Es ist wenig Aussicht, daß Brods ,Kafka‘ einmal unter den großen grndenden Dichterbiographien, in der Reihe des Schwabschen Hçlderlin, des Bchtholdschen [sic] Keller, wird genannt werden kçnnen. Desto denkwrdiger ist sie als Zeugnis einer Freundschaft, die nicht zu den kleinsten Rtseln in Kafkas Leben gehçren drfte.“ (S. 109.) Der Verriss hat es in sich. Es ist eine Vernichtung, die Scholem maliziçs und mit einem fr einen Juden prekren Schimpfwort quittiert: Da kommt Dir beinahe der Kranz fr polemische Leistung zu. Das ist so schçn und richtig, daß ich nichts zufgen kann. Ich habe Dir ja auch nichts anderes in Aussicht gestellt, nur trifft Deine gewhlte Sprache in diesem Fall die Schweinerei so viel besser ins Herz.29
Im Kontext des literarischen Lebens erscheinen solche Stze nicht nur als Sticheleien, sondern als Ausdruck divergierender Positionen, als reale Kmpfe um Einfluss und Publikationsmçglichkeiten. Brods Schriften zu jdischen Themen hatte Benjamin gelesen, als Kafka noch lebte und nicht Gegenstand von Brods Publikationen war. Benjamin reagierte interessiert, aber schon damals gab es Anstze von Antipathie. Eine Anschaffung der fiktiven Universittsbibliothek Muri annoncierte Benjamin Scholem am 26. Februar 1922 als „Max Brod: Smtliche Werke (s.a. unter: Prager Schinken)“.30 Bekannt war Brods Alleinvertretungsanspruch in Sachen Kafka. Als sein großer Kafka-Essay 1934 entstand, erhielt Benjamin eine „Aufforderung zur Mitarbeit an der Bcherei des Schocken-Verlages“, die ihm „sehr lieb war. Wozu sie fhren wird ist im Augenblick noch nicht bersehbar“, ließ Benjamin am 3. Juli 1934 Scholem wissen, „da ,der empfindliche Brod‘ vor ,dem Erscheinen seiner Biographie eine andere Verçffentlichung ber K.‘ als eine ,Grenzverletzung‘ betrachten wrde.“31 Benjamins Gedanken kreisten auch nach dem Verriss um die Beziehung des Biographen zu seinem Gegenstand. In einem Brief an Scholem vom 4. Februar 1939 bezeichnete er den Humor als das Wesentliche bei Kafka. Kafka sei jedoch „kein Humorist“, sondern 28 Vgl. Brod: Franz Kafka (wie Anm. 24), S. 69. 29 Gershom Scholem an Walter Benjamin, 6./8. November 1938. In: Benjamin/ Scholem (wie Anm. 16), S. 286. 30 GB II, S. 243. 31 GB IV, S. 447.
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vielmehr ein Mann, dessen Los war, berall auf Leute zu stoßen, die aus dem Humor eine Profession machten: auf Klowns. Besonders ,Amerika‘ ist eine große Klownerie. Und was die Freundschaft mit Brod betrifft, so habe ich das Gefhl, der Wahrheit auf der Spur zu sein, wenn ich sage: Kafka als Laurel fhlte die lstige Verpflichtung, sich seinen Hardy zu suchen – und der war Brod.32
Lohnt es sich, auf diese Auseinandersetzungen zurckkommen? Ja, denn sie sind nicht nur Tatsache der beispiellosen Rezeption eines Dichters, sondern zugleich eine typische Konfrontation zwischen der Deutungshoheit eines Nachlassverwalters und Lesarten anderer, und sie beschrnken sich somit nicht auf das Beispiel Kafka. Brods Einfluss auf die Kafka-Rezeption war anderthalb Jahrzehnte nach dem Tod des Dichters geradezu erdrckend. Bis heute sind die Folgen zu spren, weniger freilich im Bereich der Interpretationen als im Streit um die Editionen. Benjamins Kafka-Studien sind Beitrge zur Kafka-Deutung, die sich frh von Brods Vorgaben gelçst haben. Aber hat Brods Buch wirklich Anlass zu dieser harschen Kritik gegeben? Beim Wiederlesen sind die Eindrcke durchaus zwiespltig. Da fallen zunchst die betuliche, weitschweifige Schreibweise auf, Abschweifungen, Psychologismen, Altvterliches, Sentenziçses. Benjamins Vorwurf des journalistischen Schlendrians scheint berechtigt, der Aufbau ist denkbar unsystematisch. Die Analogien etwa mit Kleist oder Proust wirken unbeholfen, aber es sind doch Versuche, das Wesen Kafkas zu erfassen.33 Hçchst problematisch sind Brods Exegesen. So sah er in der „Kategorie der Heiligkeit“ die „einzig richtige, unter der Kafkas Leben und Schaffen betrachtet werden“ kçnne.34 Er entdeckte eine Verwandtschaft zwischen den Haltungen Kafkas und Hiobs.35 Fr das „entscheidende Wort“ Kafkas hielt er jedoch „das Positive, Lebensfreundliche, irdisch Wirkende und im Sinn eines rechten erfllten Lebens Religiçse“; die „Sehnsucht nach richtiger Eingliederung in die Familie, nach Frieden mit dem Vater“ stehe in Beziehung „zu der Einordnung in die naturgemße, sittlich richtige Lebensform des Volkes (Palstina)“.36 Der Roman Das Schloß sei, obwohl das Wort „Jude“ in ihm nicht vorkomme, eine schlichte Erzhlung „ber die Gesamtsituation des heutigen Judentums“.37 Besonders bei der Lektre des sechsten Kapitels, „ReligiçseEntwicklung“,wirdBenjaminsUnmutnachvollziehbar.SchweArCHTUNGRE erals die Einwnde gegen Brods Kafka-Verstndnis sind die zur Haltung des 32 33 34 35 36 37
GB VI, S. 220. Vgl. Brod: Franz Kafka (wie Anm. 24), S. 44 f. Vgl. Brod: Franz Kafka (wie Anm. 24), S. 65. Vgl. Brod: Franz Kafka (wie Anm. 24), S. 211 – 226. Vgl. Brod: Franz Kafka (wie Anm. 24), S. 208. Vgl. Brod: Franz Kafka (wie Anm. 24), S. 228 f.
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Biographen. Brod spricht autoritativ, er geriert sich als autorisierter Biograph. Derlei geht nur mit Gewaltanwendung. Brod „privatisiert“ seinen Gegenstand. Das ist in der Tat keine gute Voraussetzung fr eine grndende, das heißt doch wohl Grundlagen bereitstellende Biographie. Brod verfehlt die Gattung. Sein Buch ist die Geschichte einer Freundschaft, das, wie Benjamin sagt, „Zeugnis einer Freundschaft“; „Kafka und ich“ kçnnte es heißen oder „Mein Kafka“. Aber: Die Absicht, einen Vertrag fr sein Kafka-Buch zu bekommen, lenkte Benjamins Urteil und trbte seinen Blick. Er tat Brod Unrecht, wenn er sich etwa weigerte, den Materialwert der Biographie zu stimieren. Dabei ist dieser durch die Flle biographischer Sachverhalte, bis dahin unpublizierter Zitate aus Briefen und Tagebchern unbestritten. Irritierend ist auch, dass sich Benjamin offenbar ungerhrt vom siebten Kapitel, „Die letzten Jahre“, zeigt, in dem Brod die Liebe zu Dora und Kafkas Tod schildert. Und er bergeht auch die wenigen Stellen, an denen Brod thesenartig argumentiert: Zur Frage der Schuld hatte sich Benjamin, fr den Schicksal der „Schuldzusammenhang von Lebendigem“ war, 1934 Notizen gemacht.38 Brods Gedanken dazu nahm er nicht auf.39 Ebenso wenig die These, dass die „Verstrickung in den Brotberuf“ und nicht die „Vaterbindung“ die Wurzel von Kafkas Leidens war;40 „Vaterproblem“ hatte Benjamin an den Rand eines Briefes von Werner Kraft geschrieben.41 berhaupt htte Brods Bezugssystem – Familie, Vater, Volk, Palstina, Menschheit –42 eine Folie fr die Auseinandersetzung sein kçnnen, wie immer man sich zu ihm stellen mochte. Keine große grndende Dichterbiographie. Geben Benjamins Kritik und seine Arbeiten ber Kafka Hinweise darauf, wie eine Alternative aussehen msste? Ließen sich Kriterien fr eine Biographie formulieren, die das Epitheton grndend verdiente? Die Nagelprobe ist freilich ausgeblieben, da Benjamin den Auftrag zu einem Kafka-Buch nicht bekam. Seine Aufzeichnungen sind daher auch nicht systematisch. Die Kafka-Deutung Benjamins ist emphatisch, sie beruht wie diejenige Brods auf großer Nhe, die jedoch keine persçnliche war. Benjamins Zugang ist nicht biographistisch, ja, nicht einmal biographisch. Und er verweigerte sich religionsphi38 Das Zitat zu Schicksal vgl. Wahlverwandtschaften-Essay, GS I/1, S. 138; Schuld im Kafka-Essay vgl. u. a. GS II/3, S. 1192. 39 Vgl. Brod: Franz Kafka (wie Anm. 24), S. 28. 40 Brod: Franz Kafka (wie Anm. 24), S. 113. 41 Vgl. GS II/3, S. 1168. 42 Vgl. Brod: Franz Kafka (wie Anm. 24), S. 208.
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losophischen, theologischen oder psychologischen Auslegungen Kafkas. Was ihm vorschwebte, war die „gewiß viel schwierigere […] Deutung des Dichters aus der Mitte seiner Bildwelt“43 – ein Versuch, dessen Legitimitt sich aus der Erkenntnis seiner Grenzen herleitete. Benjamin problematisierte die Erkennbarkeit: Kafka sei nicht greifbar. Man kçnnte von Kafka eine Legende bilden: „Er habe sein Leben darber nachgegrbelt, wie er ausshe, ohne je davon zu erfahren, daß es Spiegel gibt.“44 Kafkas Werk sei eine Ellipse, schrieb Benjamin in den der Brod-Kritik folgenden Briefnotizen. Die „weit auseinanderliegenden Brennpunkte“ der Ellipse seien „von der mystischen Erfahrung (die vor allem die Erfahrung von der Tradition ist) einerseits, von der Erfahrung des modernen Großstadtmenschen andererseits, bestimmt“ (S. 110). Der moderne Staatsbrger weiß sich „einer unbersehbaren Beamtenapparatur ausgeliefert“, und er sei andererseits ein „Zeitgenosse der heutigen Physiker“ (ebd.). In einem Schema ber Biographik, offenbar eine Vorarbeit zum Essay Goethes Wahlverwandtschaften, notierte Benjamin: „Gegenstand / einer Biographie / Wie das Wesen sich bestimmt / und / wozu seine Manifestationen / bestimmt werden“.45 Es geht um das Wechselspiel von Elementen eines Lebens, Werken und ußerungen mit Einflssen der Zeit. Benjamin entwirft keine Typologie fr eine moderne Biographie, aber aus der BrodKritik lassen sich Forderungen fr diese Gattung entwickeln: Eine Biographie hat eine Existenz in ihren Besonderheiten zu erfassen. Sie hat Spannungen, von denen ein Leben durchzogen ist, zu ermessen. Gelingen kann das jedoch nur im Wissen um die Mçglichkeit des Scheiterns eines solchen Versuchs. Wesentliche Elemente der Aufgabe sind der Sinn des Biographen fr Schwellen und Distanzen, wir kçnnen sagen: fr Drehpunkte und Brche, und eine durch Takt, Strenge und Maß geprgte Haltung des Biographen.
43 GS II/2, S. 678. 44 GS II/2, S. 677. 45 GS VII/2, S. 732.
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Autorinnen und Autoren des Bandes Hugo Aust Prof. Dr. phil.; Studium der Germanistik, Anglistik und Philosophie, lehrt an der Universitt zu Kçln Neuere deutsche Literatur und ihre Didaktik, Arbeitsgebiete: Realismusforschung, Gattungsgeschichte, Edition, Leseforschung. Zuletzt erschienen: Fontane und Polen (hg. zus. mit Hubertus Fischer) (2008), Realismus. Lehrbuch Germanistik (2006), Boccaccio und die Folgen (hg. zus. mit Hubertus Fischer) (2006), Theodor Fontane. Ein Studienbuch (1998), Clara Viebig und der historische Roman im 20. Jahrhundert – Eine Skizze, in: Die Provinz des Weiblichen. Zum erzhlerischen Werk von Clara Viebig (2004). Roland Berbig Prof. Dr. phil.; Studium der Germanistik, Anglistik/Amerikanistik und Pdagogik, lehrt Neuere deutsche Literatur am Institut fr deutsche Literatur der Humboldt-Universitt zu Berlin. Arbeitsgebiete: Theodor und Geschichte des literarischen Lebens, Edition, Literatur nach 1945. Zuletzt erschienen: Margret Boveri und Ernst Jnger. Briefwechsel (Mithg.) (2008), Themenheft: Das literarische Jahr 1959 (Berliner Hefte zur Geschichte des lit. Lebens) (2008), Text+Kritik: Ilse Aichinger (Gastredaktion) (2007), Stille Post. Inoffizielle Schriftstellerkontakte zwischen West und Ost (Hg.) (2005). Regina Dieterle Dr. phil.; Studium der Germanistik und Erziehungswissenschaften in Zrich, MbA-LehrbeACHTUNGREauftragte fr das Fach Deutsch an der Kantonsschule Enge-Zrich, Herausgeberttigkeit und Publikationen zu Annemarie Schwarzenbach, Theodor Fontane, Arnold Bçcklin, Martha Fontane, Karl Stauffer-Bern, Gottfried Keller. Zuletzt erschienen: Die Tochter. Das Leben der Martha Fontane (2006, Taschenbuch 2008), „ein Werk von so eminenter Bedeutung“. Der junge Otto Brahm und sein literaturkritisches Engagement fr Keller und Fontane (2008), Theodor Fontanes Briefe an Anna Fritsch-Kçhne und K. E. O. Fritsch mit Briefen von Martha und Emilie Fontane (Hg., 2010, im Druck). In Vorbereitung: Fontane-Biographie mit unbekannten Dokumenten (SNF-Projekt).
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Autorinnen und Autoren des Bandes
Michael Ewert AOR Dr. phil.; Studium der Germanistik, Geschichte und Philosophie in Kçln und Marburg, lehrt Neuere deutsche Literatur an der Ludwig-Maximilians-Universitt Mnchen. Arbeitsgebiete: Reiseliteratur, Georg Forster, Literaturgeschichte 1800 bis Gegenwart. Zahlreiche Verçffentlichungen zur Literatur des 18. bis 20. Jahrhunderts. Zuletzt erschienen: Georg Forster, Briefe an Ernst Friedrich Hector Falcke. Neu aufgefundene Forsteriana aus der Gold- und Rosenkreuzerzeit. (Hg. zus. mit Hermann Schttler) (2009). Hubertus Fischer Prof. Dr. phil.; Studium der Geschichte und Germanistik in Mnchen und Hamburg; lehrte ltere deutsche Literatur an der Freien Universitt Berlin und an der Leibniz Universitt Hannover. Arbeitsgebiete: Medivistik, Geschichte, Literatur des 19. Jahrhunderts, Umweltbildung und Karikatur, Schrift und Bild. Zuletzt erschienen: Theodor Fontane, der „Tunnel“, die Revolution: Berlin 1848/49 (2009), Grten und Parks im Leben der jdischen Bevçlkerung nach 1933 (2008), Fontane und Polen (Hg. zus. mit Hugo Aust) (2008), Religion als Relikt? Christliche Traditionen im Werk Theodor Fontanes (hg. zus. mit Hanna Delf von Wolzogen, 2007), Ritter, Schiff und Dame: Mauritius von Cran: Text und Kontext (2006). Annett Grçschner Germanistin, Schriftstellerin und Herausgeberin; Studium der Germanistik in Berlin/DDR, Abschluss mit der ersten akademischen Arbeit ber Inge Mller, verçffentlichte 1993 das Lyrik-Foto-Buch „Herzdame Knochensammler (zus. mit Tina Bara, 1993) und dem Roman „Moskauer Eis“ (2000) zahlreiche journalistische und literaturkritische Arbeiten (u. a. fr die FAZ, den Freitag). Zuletzt erschienen: Verlorene Wege (zus. mit Arwed Messmer, 2009), Poetik des Faktischen. Vom erzhlenden Sachbuch zur Doku-Fiktion. Werkstattgesprche, (Hg. zus. mit Stephan Porombka, 2009), Parzelle Paradies. Berliner Geschichten (2008). Walter Hettche Dr. phil., Akademischer Oberrat am Institut fr Deutsche Philologie der Ludwig-Maximilians-Universitt Mnchen; Studium der Germanistik und Anglistik in Mnchen: Arbeitsgebiete: Literaturgeschichte des 18. bis 20. Jahrhunderts und Edition. Zahlreiche Publikationen u. a. zu Kleist, James Joyce, Theodor Fontane und Adalbert Stifter. Zuletzt erschienen: Theodor Fontane: Von vor und nach der Reise. Große Brandenburger Ausgabe. Das erzhlerische Werk Bd. 19. (Hg., zus. mit Gabriele Radecke, 2007), Detlev
Autorinnen und Autoren des Bandes 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40
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von Liliencron: Ausgewhlte Werke (Hg.) (2009), Die gemischten Zimmer. Ordnung und Chaos in Adalbert Stifters Handschriften. In: Sabina Becker, Katharina Grtz (Hg.): Ordnung – Raum – Ritual. Adalbert Stifters artifzieller Realismus (2007), Die erste Fassung von Peter Huchels „Psalm“. Eine Wiederentdeckung. In: Euphorion 103 (2009), Epigonalitt und dichterische Autonomie. Immermanns „Recensenten-Idylle“ und ihr Kontext. In: Immermann-Jahrbuch 10 (2009). Josefine Kitzbichler Dr. des., Wissenschaftliche Mitarbeiterin; Studium der Germanistik, Grzistik und Latinistik in Jena und Berlin, nach dem Studium DFG-Stelle am Projekt „Theodor Fontane: Chronik von Leben und Werk“ am Institut fr deutsche Literatur der Humboldt-Universitt zu Berlin, derzeit Mitarbeiterin im Sonderforschungsbereich „Transformationen der Antike“an der Humboldt-Universitt zu Berlin. Arbeiten zur Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts. Zuletzt erschienen: Theorie der bersetzung antiker Literatur in Deutschland seit 1800 (zus. mit Katja Lubitz und Nina Mindt), Dokumente zur Theorie der bersetzung antiker Literatur in Deutschland seit 1800 (beides 2009). Jrgen Lehmann Prof. Dr. phil.; Studium der Germanistik, Slavistik und Philosophie an den Universitten Mnster i.W., Freiburg i. Br., Moskau und Leningrad, lehrte vergleichende Literaturwissenschaft und Neuere deutsche Literaturgeschichte an der Universitt Erlangen. Arbeitsgebiete: Deutsch-russische literarische und kulturelle Beziehungen, literarische bersetzung, ImageForschung, Romantheorie und Romangeschichte, Theorie und Geschichte der Autobiographie, Regionalliteratur und Paul Celan. Zuletzt erschienen: Celan-Handbuch (Hg. zus. mit Markus May und Peter Goßens) (2008), Kommentar zu Paul Celans „Sprachgitter“ (Hg. unter Mitarbeit von Jens Finckh, Markus May und Susanna Brogi) (2005), Phantastik – Kult oder Kultur? Aspekte eines Phnomens in Kunst, Literatur und Film (Hg. zus. mit Christine Ivanovic´ und Markus May) (2003). Helmuth Nrnberger Prof. Dr. phil.; lehrte neuere dt. Literaturwissenschaft in Flensburg und Hamburg, Studium der Germanistik. Mitherausgeber der Fontane-Ausgabe im Carl Hanser Verlag, Mnchen, Verfasser zweier Biographien und weiterer Editionen sowie Studien zu Fontane. Grndungsvorsitzender der Theodor Fontane Gesellschaft, deren Ehrenprsident er ist. Neben zahlreichen
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Autorinnen und Autoren des Bandes
Aufstzen und Studien eine Reihe grundlegender Monographien und Editionen, vorzugsweise zu Autoren des 19. und 20. Jahrhunderts. Zuletzt erschienen: Joseph Roth, „Ich zeichne das Gesicht der Zeit“. Essays, Reportagen, Feuilletons“ (Kommentierte Auswahl) (2010), Fontane-Lexikon (zus. mit Dietmar Storch, 2007), Geschichte der deutschen Literatur (2006). Wolfgang Rasch Dr. phil., Germanist, Herausgeber und Bibliograph; Studium der Germanistik, Geschichte und Philosophie in Mnchen und Berlin, Promotion 1996. Arbeitsgebiete: Personalbibliographie (Karl Gutzkow, 2 Bde. 1998; Peter Rhmkorf, 2 Bde., 2004; Theodor Fontane, 3 Bde., 2006), Editionsphilologie (Mitbegrnder der Hybridausgabe „Gutzkows Werke und Briefe“ 1999) und literarisches Leben im 19. Jahrhundert. Zahlreiche Publikationen ber Autoren des 19. und 20. Jahrhunderts. Arbeitet zurzeit an einer Dokumentation „Gutzkow im Gesprch. Karl Gutzkow in Aufzeichnungen und Erinnerungen seiner Zeitgenossen“, die 2011 erscheinen soll. Heide Streiter-Buscher Dr. phil., freie Literaturwissenschaftlerin. Wulf Wlfing Dr. phil.; Studium der Germanistik, Philosophie, Soziologie und der PoliACHTUNGREtischen Wissenschaften an den Universitten Gçttingen, Mnster/W., Berlin (FU) und Bonn; lehrte Neuere deutsche Literaturwissenschaft an den Universitten Aarhus/Dnemark, Bonn und Bochum. Arbeitsgebiete: Literaturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Historische Mythologie, Reiseliteratur, literarische Vereinsforschung. Zuletzt erschienen u. a.: Heine und Napoleon im Rheinland. In: Frankreich am Rhein. Die Spuren der „FranzosenACHTUNGREzeit“ im Westen Deutschlands. (Hg. von Kerstin Theis und Jrgen Wilhelm) (2009), Der Luisen-Mythos als Grndungsmythos des ,neuen’ Preußen. In: Deutsche Grndungsmythen. Hg. von Matteo Galli und HeinzPeter Preusser (2008), „Deutschunbertreffliche Gutmthigkeit“. Zur Rhetorik von Karl ImACHTUNGREmermanns Tulifntchen. In: Von Sommertrumen und Wintermrchen. (Hg. v. Bernd Fllner / Karin Fllner) (2007). Erdmut Wizisla Dr. phil.; Studium der Germanistik an der Humboldt-Universitt zu Berlin, Promotion 1994, Leiter des Bertolt-Brecht-Archivs und Leiter des Walter Benjamin Archivs (beide Akademie der Knste, Berlin). Zuletzt erschienen:
Autorinnen und Autoren des Bandes 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40
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Arendt und Benjamin (Mithg., 2006), Walter Benjamins Archive (Mithg., 2006), Die Bibliothek Bertolt Brechts (Mithg., 2007), Walter Benjamins ,Deutsche Menschen‘ (Mithg., 2008), Begegnungen mit Bertolt Brecht (Hg., 2009). Aktuelles Projekt: Edition der „Essays zur Literatur“ von Walter Benjamin als Band XII der kritischen Ausgabe „Werke und Nachlaß“ (Suhrkamp Verlag).
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Personenregister Achenbach, Oswald 199 Adorno, Theodor W. 262, 264 Ahrweiler, Leopold 83 Alexander der Große 10, 26, 206 Alexis, Willibald 151 Andree, Christian 147 Apitz, Lieutenant 122 Arnim, Bettina von 149, 152, 220 Arnim, Harry von 142 Auerbach, Berthold 94 Backhusen, Kapitn 122, 123 Baechthold, Jakob 214, 225, 247, 266 Barry, Charles 197 Baudelaire, Charles 261 Behrendt, Herr 147, 149 Bellermann, Ferdinand 146 Bemmann, Helga 237 Benjamin, Walter 208, 259–269 Bernays, Michael 221, 222, 227 Bernstorff, Albrecht von 30, 190, 191, 192 Beuth, Wilhelm 151 Biedermann, Woldemar von 94 Bismarck, Otto von 25, 208 Blechen, Carl 133–172 Blechen, Henriette 149, 152, 153 Blesson, Johann Ludwig 21 Blomberg, Hugo von 71, 73, 134 Blcher, Gebhard Leberecht von 21 Blumenberg, Hans 65 Bçdeker, Hans Erich 238–240 Bolivar, Simon 195 Bçrsch-Supan, Helmut 138 Bourdieu, Pierre 240 Brahm, Otto 41, 184, 222–225 Brecht, Bertolt 261 Bredow, Familie von 74 Brod, Max 259–269
Brose, Christian Wilhelm 138, 140, 149 Brose, Elisabeth 149 Brugsch, Heinrich 213 Bruyn, Gnter de 108, 121 Buber, Martin 265 Bchner, Georg 1 Bchsel, Karl 19, 225 Blow-Dennewitz, Friedrich Wilhelm von 20 Bring, Wilhelm 93 Canitz, Friedrich von 96 Caprivi, Leo von 142 Caravaggio 144 Chamisso, Adelbert von 181 Conrad, Joseph 122 Cumming, John 204 Daege, Eduard 146 Dahn, Felix 214 Damm, Sigrid 244 Delaroche, Paul 1 Devrient, Ludwig 60 Diamant, Dora 268 Didot, Firmin 189 Dietze, Walter 80 Dilthey, Wilhelm 11, 14, 206 Domenichino (eigentl. Domenico Zampieri) 144 Dove, Alfred 221 Droysen, Johann Gustav 10, 14, 19, 22, 24, 26, 27, 28, 30, 33, 66, 81, 107, 206, 216, 225 Eichendorff, Joseph von 43 Elster, Martin 231 Erler, Gotthard 6, 230, 236, 246 Esselbach, Fritz 51
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Personenregister
Eulenburg, Philipp zu 142 Eulenspiegel, Till 63 Firchow, Rudolf 88 Fontane, August 153 Fontane, Emilie 48, 84, 117, 126, 195, 207, 246, 252 Fontane, Friedrich 21, 94, 173, 230 Fontane, Louis Henri 126 Fontane, Martha (Mete) 84, 142, 155, 217, 218, 245 f. Fontane, Theodor jun. 94, 229, 247 Forster, Familie 221, 222 Fournier, Auguste 28, 48 Frenzel, Karl 94 Freudemann, Viktor 153 Freytag, Gustav 14, 23, 129, 208 Frick, Ferdinand 141, 147 Frick, Referendar 147 Fricke, Hermann 135, 136, 137, 149, 231 Friedlaender, Georg 42, 80, 81, 221, 231 Friedrich II., Kçnig von Preußen 23, 31, 64, 66, 69, 75, 93, 103, 105, 210, 252, 257 Friedrich Karl, Prinz von Preußen 142 Friedrich Wilhelm I., Kçnig von Preußen 211 Friedrich Wilhelm III., Kçnig von Preußen 21, 253 Friedrich Wilhelm IV., Kçnig von Preußen 106 Fuhr, Lina 201 Genette, Grard 182 Gentz, Alexander 146 Gentz, Wilhelm 97, 145, 148, 150 Gerhard, Paul 96 Gervinus, Georg Gottfried 43, 47 Gneisenau, August Neidhardt von 216 Goethe, Christiane von 244 Goethe, Johann Wolfgang von 27, 47, 65, 80, 94, 181, 206, 219, 220, 221, 222, 226, 227, 261, 269 Goltz, Bogumil 43, 192, 193 Gore, Catherine Grace 196
Gottsched, Johann 221 Graeb, Carl 146 Grimm, Herman 206, 220, 222 Grimm, Wilhelm 220 Grote, George 26 Gude, Hans 199 Gutzeit, Otto 85–87 Gutzkow, Karl 3, 4, 43, 93 Gwinner, Wilhelm 217 Hagn, Charlotte von 201 Hanslick, Eduard 213, 215 Harden, Maximilian 83, 84 Hardenberg, Karl August von 211, 216, 253 Hardy, Oliver 267 Hartleben, Otto Erich 93 Hauptmann, Gerhart 83, 93 Husser, Ludwig 23 Havelock, Henry 28ACHTUNGRE–29 Haym, Rudolf 205, 206 Hebbel, Friedrich 43, 224 Hebel, Johan Peter 261 Hecker, Max 94 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 4, 72 Heine, Heinrich 1, 20, 71, 73, 74, 94, 174 Heinrich VIII 130 Heinrich, Prinz von Preußen 103, 108, 113 Henning, Adolf 146 Hensel, Wilhelm 52, 96, 108, 109, 114 Herbst, G. W. 138 Hertz, Hans 83 Hertz, Wilhelm 32, 35, 140, 190, 203, 213, 215, 220 Herwegh, Georg 51 Hesekiel, George 21, 94 Heyse, Paul 30, 192, 194–195, 204 Hien-Fung, Kaiser von China 189 Hildebrandt, Eduard 183 Hildebrandt, Theodor 198, 199 Hippel, Theodor Gottfried von 192, 205, 225 Hitler, Adolf 230 Hoffmann, E. T. A. 93, 94 Holberg, Ludvig 19, 225
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Personenregister
Hçlderlin, Friedrich 266 Hotho, Heinrich Gustav 141 Hlsen, Botho von 204 Humboldt, Familie von 221, 222 Hyan, Hans 91–92 Jolles, Charlotte 230, 231, 233 Jordan, Max 147, 152 Joyce, James 240 Justi, Carl 206 Kalckstein, Moritz von 142 Kannengießer, Georg 146 Kant, Immanuel 217, 218, 261 Kstner, Erich 237 Katte, Hans Herrmann von 212, 257 Katz, Moritz 188 Keller, Gottfried 14, 43, 93, 213, 214, 223, 225, 247, 266 Kerner, Justinus 43 Kleist, Heinrich von 222–224, 226 Kloeden, Karl Friedrich von 140 Klose, Carl Ludwig 216 Knesebeck, Karl Friedrich von 96 Knoll, Dr. von 92 Koerbl, Gabriele 254 Kolmar, Gertrud 244 Kraft, Werner 262, 268 Kraut, Louise Henriette Charlotte von 110, 111, 114 Krçner, Adolf 186 Kgelgen, Wilhelm von 208 Kugler, Franz 98, 134 Kuh, Emil 224, 225 Khn, Dieter 243 Khn, Gustav 100, 101, 102, 103, 113 Kuhtz, Carl Ludwig 148 Landseer, Edwin 200 Laube, Heinrich 3 Laurel, Stan 267 Lazarus, Moritz 67, 68 Leopold von Dessau 36 Lepel, Bernhard von 26, 39, 45, 51, 123, 191 Lepke, Rudolf 147
Lessing, Gotthold Ephraim 14 Lessing, Theodor 83, 84 Lewald, Fanny 94 Lewes, George Henry 219, 222 Liliencron, Rochus von 207 Lindau, Paul 93, 94, 183, 184 Lipperheide, Franz 190 Lorck, Carl Berend 30, 187, 190, 192, 197, 199 Lorrain, Claude 144 Lbke, Wilhelm 134, 213 Lderitz, Gustav 146 Luise, Kçnigin von Preußen 15, 236 Lyotard, Jean FranÅois 72 Mann, Thomas 186 Manteuffel, Otto von 25, 191 Marwitz, Friedrich von der 19, 33, 65, 96, 106, 107, 108, 112, 210, 211, 212, 225 f. Meinecke, Friedrich 222 Mendelssohn, Fanny 108, 109 Menzel, Adolph 16, 17, 30, 31, 134, 146, 148 Merckel, Wilhelm von 26, 27, 28, 29, 34, 52 Messmer, Arwed 251 Meyer, Paul 82 Meyerheim, Paul 147 Michelangelo Buonarotti 206 Mini, Claude Etienne 189 Mommsen, Theodor 27 Mgge, Theodor 192, 195 Mhler, Heinrich von 29 Mller-Grote, Gustav 231 Musil, Robert 240 Niebuhr, Marcus 106, 107, 112 Nietzsche, Friedrich 72ACHTUNGRE f. Novalis 70, 76 Nrnberger, Helmuth 232, 233, 236 f. Ohff, Heinz
236
Pape, Eduard 146 Paulsen, Friedrich 217 Pertz, Georg Heinrich 206, 216
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Personenregister
Petersen, Julius 94, 230 Pietsch, Ludwig 133, 152, 213, 215, 226 Platen, August von 98 Plenzdorf, Ulrich 254 Plutarch 3 Poppe, Albert 77 Poussin, Gaspard 144 Proust, Marcel 240 Ranke, Leopold von 66, 67, 68, 206 Raphael (Raffael, auch Raffael da Urbino) 206 Rasch, Wolfgang 182 Raumer, Karl Otto von 189, 191, 192 Rave, Paul Ortwin 135, 136 Reuter, Hans Heinrich 232, 233, 235, 242 Reuther, Fritz 93 Richter, Gerhard 10 Richter, Jean Paul Friedrich 192 Richter, Ludwig 208 Ringelnatz, Joachim 237 Robert, Louis Lopold 1 Roberts, David 30 Rodenberg, Julius 94, 115, 129, 215, 227 Roethe, Gustav 259 f. Rohmer, Ernst 78 Rohr, Mathilde von 71, 110, 116, 128, 210 Romberg, Amalie von 210 Roquette, Otto 192, 193 f., 213 Rosa, Salvator 144 Rose, Gustav 202, 203 Rose, Heinrich 202, 203 Rose, Wilhelm 80 f. Rost, Wolfgang 21 Schack, Otto Friedrich Ludwig von 210 Schadow, Gottfried 96, 109, 133 Schaeffer, Albrecht 123 Scharnhorst, Gerhard von 20 Schasler, Max 147 Scherenberg, Christian Friedrich 30, 36
Scherenberg, Christian 174, 192, 193, 204, 247 Scherenberg, Hermann 6 Scherer, Wilhelm 66, 67, 175 Scheuren, Caspar 199 Schill, Ferdinand von 33 Schiller, Friedrich 94, 222 Schinkel, Karl Friedrich 96, 97, 98, 99, 100, 102, 113, 236 Schlaf, Johannes 184 Schlesinger, Klaus, 254 Schlçgel, Karl 243 Schmettau, Ferdinande von 64 Schmidt, Erich 14 Schmidt, Erich 66, 67, 69 Schmidt, Friedrich Wilhelm (genannt: von Werneuchen) 96 Schmitson, Teutwart 199 Schnapp, Friedrich 94 Schneider, Louis 63, 94 Schçbel, Carl Friedrich 139 Scholem, Gerhard 259, 261, 262, 263 Scholz, Hans 234, 236 Schçn, Theodor von 23 Schopenhauer, Arthur 217 Schreinert, Kurt 231 Schultz, Ferdinand 48 Schulze, Adolph 37 Schumann, Clara 244 Schwerin, Sophie von 210, 212 Scott, Walter 129 Seidel, Carl 137 Seidel, Heinrich 214, 215 Servaes, Franz 230 Seydlitz, Friedrich Wilhelm von 36 Smidt, Heinrich 52, 60 Sçlmund, Olaf 91 Sparr, Otto Christoph von 34 Spielhagen, Friedrich 94, 183, 184, 214 Spitz, Obrist Lieutenant 142 Springer, Anton Heinrich 214 Springer, Julius 188 Steguweit, Heinz 89 Stein, Heinrich Friedrich vom und zum 20, 23, 206, 253 Sternberger, Dolf 101 Sternheim, Hans 82
Personenregister
Stiehl, Ferdinand 192 Stilke, Hermann 199 Storm, Hans 55 Storm, Karl 55 Storm, Theodor 51, 54, 56, 93, 182, 205 Stçtzer, Werner 254 Strauß, David Friedrich 217, 218 Sybel, Heinrich von 23 Tennyson, Alfred 196, 204 Thaer, Albrecht 34, 188 Tidemand, Adolf 199 Treitschke, Heinrich von 3, 23, 33 Tucholsky, Kurt 237 Vel zquez, Diego 206 Verchau, Ekkhard 235 Voß, Julius von 140 Wagener, Johann Heinrich Wilhelm 198, 199 Ward, Edward Matthew 30 Wallenstein (eigentl. Albrecht Wenzel Eusebius von Waldstein) 206 Wandrey, Conrad 115, 230 Wangenheim, Familie von 42, 217 Wangenheim, Karl von 217
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Wangenheim, Marie von 182 Wangenheim, Marie von 217 Weber, Elise 94, 110 Webster, Thomas 30 Wegele, Franz Xaver 207 Weigel, Sigrid 243 f. Weiskopf, Franz Karl 78 Welt, Ehm 262 Weltsch, Felix 265 Werner, Michael 94 Wichmann, Herman 67 Wichmann, Ludwig 200 Wildenbruch, Ernst von 93 Wilhelmine Friederike Sophie von Bayreuth 210, 212 Winckelmann, Johann Joachim 206 Wolff, Julius 142 Wolff, Kurt 262 Wolff, Wilhelm 200 Wolfsohn, Wilhelm 30, 51, 56, 188 Wrangel, Friedrich von 125, 126 Wren, Christopher 100 Wruck, Peter 5–6, 20, 25, 37, 39, 59, 115, 150, 202, 211, 259 Zieten, Hans Joachim von 36, 96 Ziegler, Edda 236 Zimmermann, Christian von 2