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German Pages [408] Year 2016
Jugendbewegung und Jugendkulturen Schriften
herausgegeben von Meike Sophia Baader, Karl Braun, Wolfgang Braungart, Eckart Conze, Gudrun Fiedler, Alfons Kenkmann, Rolf Koerber, Dirk Schumann, Detlef Siegfried, Barbara Stambolis für die »Stiftung Jugendburg Ludwigstein und Archiv der deutschen Jugendbewegung«
Band 19
»Jugendbewegung und Jugendkulturen. Schriften« ist die Fortsetzung der Reihe »Edition Archiv der deutschen Jugendbewegung«. Die Bandzählung wird fortgeführt.
Malte Lorenzen
Zwischen Wandern und Lesen Eine rezeptionshistorische Untersuchung des Literaturkonzepts der bürgerlichen deutschen Jugendbewegung 1896–1923
Mit 18 Abbildungen
V& R unipress
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet þber http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 2365-9041 ISBN 978-3-7370-0583-8 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhÐltlich unter: www.v-r.de Gedruckt mit Unterstþtzung des Fçrderungsfonds Wissenschaft der VG Wort. Zugl. UniversitÐt Bielefeld, Diss., 2015. 2016, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Gçttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich gesch þtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen FÐllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Titelbild: Auf dem Gautag des MÐrkischen Wandervogels in Frankfurt an der Oder, 4.–6. Oktober 1919, Nachlass Julius Groß, Archiv der deutschen Jugendbewegung, Witzenhausen, F1, 47/60.
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Zum Stand der Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2. Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Rezeptionsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Richtungen der Rezeptionsforschung . . . . . . . . . . 2.1.2 Textverstehen – Konstruktivismus und psychologische Textverstehensforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.3 Kontexte – Kontextualisierungen . . . . . . . . . . . . 2.2 Zum Begriff des Literaturkonzepts . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Explikation des Begriffs »Literaturkonzept« . . . . . . 2.2.2 Abgrenzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturtheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Subjektive Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lesestrategien und Rezeptionsmodi . . . . . . . . . . . 2.2.3 Konsequenzen für die Methode . . . . . . . . . . . . .
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31 31 31
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42 46 53 53 59 60 64 65 66 67 70
3. Das Quellenmaterial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Eingrenzungen: Die Bürgerliche deutsche Jugendbewegung 3.2 Das Zeitschriftenkorpus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Die Zeitschriften der Wandervogelbünde . . . . . . . . . . . 3.4 Die Zeitschriften des Deutsche Mädchen-Wanderbund (DMWB) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5 Die Wandervogel-Führerzeitung . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6 Die Freideutsche Jugend . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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75 77 82 85
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98 101 105
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Inhalt
3.7 Der Zwiespruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.8 Junge Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.9 Der Weiße Ritter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
110 113 118
4. Literaturkritik in den Zeitschriften der Jugendbewegung 4.1 Rezensionsexemplare und Privatlektüre . . . . . . 4.2 Selektionskriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Kritikverbote – Kritikgebote . . . . . . . . . . . . .
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5. Die Wirkung von Literatur . . . . . . . . . . . . 5.1 Die Gefahren des Lesens . . . . . . . . . . . 5.2 Der Kampf gegen »Schmutz« und »Schund« 5.3 Anleitungen zum richtigen Lesen . . . . . .
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6. Autorschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Der Autor als h&stor . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 »Erlebnis« und »Verklärung« . . . . . . . . . . . . . 6.3 Autorschaft aus »innerem Erleben« . . . . . . . . . . 6.4 Freunde, Führer, Vorbilder . . . . . . . . . . . . . . . 6.5 Biographische Interpretationen oder Biographismus?
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177 181 184 191 198 207
7. Funktionen von Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Literatur als Landes- und Heimatkunde . . . . . . . . . . . 7.2 Literatur und Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3 Literatur und Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4 Zusammenbruch der Identität – Die Asien-, Russland-, Expressionismus- und Mittelalterrezeption nach dem Ersten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.5 Emotionale Aspekte im Literaturkonzept . . . . . . . . . . .
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213 217 234 253
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273 294
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305 307 326 349
9. Zusammenfassung – Ergebnisse – Desiderate . . . . . . . . . . . . .
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10. Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.1 Zeitschriftenartikel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.2 Weitere Quellen aus der Jugendbewegung . . . . . . . . 10.3 Literarische und philosophische Texte; Sonstige Quellen
365 365 377 378
8. Wertung von Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1 Wertung und Lektürepraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2 Literatur und Politik – Die Diskussion um »Tendenzliteratur« 8.3 Authentizität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
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10.4 Forschungsliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.5 Bildnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
379 402
11. Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Vorwort
Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um die leicht überarbeitete Fassung meiner im Januar 2015 an der Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft der Universität Bielefeld eingereichten Dissertationsschrift. Ihr Gegenstand ist die rezeptionshistorische Rekonstruktion der Wertung und Funktionalisierung von Literatur in den Zeitschriften der bürgerlichen Jugendbewegung. Gleichzeitig ist die Studie ein Beitrag zur Mediengeschichte der jugendbewegten Zeitschriften, der nach den Regeln literaturkritischen Schreibens in der Jugendbewegung fragt und den Inhalt der literaturkritischen Texte auf das Profil der Zeitschriften bezieht. ***
Die Fakultät für Literaturwissenschaft und Linguistik der Universität Bielefeld hat es mir durch die großzügige Gewährung eines Stipendiums im Rahmen des LiLi-Kollegs ermöglicht, die nötigen Archivreisen durchzuführen und von finanziellen Sorgen befreit zu lesen und zu schreiben. Hierfür gebührt ihr mein Dank. Dem Wissenschaftlichen Beirat des Archivs der deutschen Jugendbewegung danke ich für die freundliche Aufnahme des Buches in die Schriftenreihe »Jugendbewegung und Jugendkulturen«. Prof. Dr. Wolfgang Braungart danke ich dafür, dass er sich ohne Zögern bereit erklärt hat, meine Promotion zu betreuen. Seine Lektürevorschläge haben geholfen, weitere Kontexte des Literaturkonzepts zu erschließen, und seine mahnenden Worte, mich nicht in den Texten zu verlieren. Prof. Dr. Simone Winko hat das Projekt von Anfang an begleitet. Die von ihr geleistete Hilfe in allen Arbeitsphasen ging weit über das Maß hinaus, das von einer Zweitgutachterin zu erwarten wäre. Hierfür schulde ich ihr meinen Dank. Für ermutigende Gespräche an entscheidenden Phasen des Projekts möchte ich Prof. Dr. Ralf Schneider und Prof. Dr. Claudia Stockinger danken. Claudia Stockinger hat die Anfänge der Arbeit engagiert und interessiert begleitet und damit vieles erst ermöglicht; Ralf Schneider hat mich zur weiteren Auseinan-
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Vorwort
dersetzung mit dem Begriff des Literaturkonzeptes ermuntert, als durch Kritik von anderer Seite Zweifel an der eigenen Arbeit wuchsen. Den Mitarbeiterinnen des Archivs der deutschen Jugendbewegung, vor allem Birgit Richter und Elke Hack, möchte ich dafür danken, dass sie mit ihrer Herzlichkeit und Hilfsbereitschaft zahlreiche Recherchen in den Beständen des Archivs zu einer sehr angenehmen Arbeit gemacht haben. Der Leiterin des Archivs, Dr. Susanne Rappe-Weber, danke ich ebenso für die redaktionelle Betreuung vorliegender Druckfassung wie für die vielfältigen Möglichkeiten, die sie mir in gemeinsamen Projekten eingeräumt hat. Den anderen Gästen des Archivs, die ich im Laufe der Jahre kennenlernen durfte, danke ich für zahlreiche Gespräche über die Jugendbewegung, über die Wissenschaft und Privates in den Pausen und an den Abenden, die mir bei meinen Aufenthalten auf dem Ludwigstein ebenso Anregung wie angenehme Ablenkung waren. Unter ihnen gilt mein besonderer Dank Rüdiger Ahrens. Den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Kolloquien von Simone Winko und Claudia Stockinger sowie von Wolfgang Braungart und den Teilnehmerinnen und Teilnehmern eines 2013 stattgefundenen Nachwuchsworkshops zur historischen Jugendforschung danke ich für die Möglichkeit, ihnen Teile meiner Arbeit vorzustellen, für ihre Anmerkungen und ihre Anregungen. Für die kritische Lektüre einzelner Kapitel danke ich Leon Kloke, Kai Löser und Sven Reiss. Kai Löser danke ich überdies für alle Gespräche, alle Abende und für die Freundschaft, durch die die Zeit in Bielefeld über die wissenschaftliche Qualifizierung hinaus sehr anregend und erfreulich wurde. Meiner Familie danke ich für die Unterstützung, die sie mir in all den Jahren des Studiums und der Promotion immer gewährt hat. Ela Hüpeden danke ich nicht nur für ihre Hilfe mit den Abbildungen und für ihre Kritik am Text; ich danke ihr von Herzen für alle guten und schönen Momente, die ich mit ihr erleben konnte und für ihren Zuspruch in Zeiten des Zweifels. Die Forschung zur bürgerlichen Jugendbewegung hat sich mittlerweile von ihren Anfängen als Selbsthistorisierung jugendbewegter Menschen entfernt. Nichtsdestotrotz haben bis heute zahlreiche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die sich mit dem Wandervogel, der Bündischen Jugend und ihren Nachfolgeorganisationen beschäftigen, einen biografischen Hintergrund in einem Jugendbund. Dies ist auch bei mir der Fall. Den Freunden von damals ist die vorliegende Arbeit in dankbarer Erinnerung zugeeignet.
Einleitung
Wie beginnt die Geschichte der Jugendbewegung? Wie bei allen historischen Ereignissen, wäre es auch im Fall der bürgerlichen deutschen Jugendbewegung Willkür, sie auf einen einzigen Ausgangspunkt zurückführen. Und dennoch besteht zumindest vordergründig weitgehende Einigkeit hinsichtlich Ort und Zeitpunkt der Entstehung der Jugendbewegung: »Es begann in Steglitz«.1 Dort wurde am 04. November 1901 der Wandervogel, Ausschuß für Schülerfahrten (AfS) ins Leben gerufen, dessen Name mitunter synonym für die gesamte Jugendbewegung verwendet wird. Dieser Gründungsakt markiert freilich nur den offiziellen Beginn der Jugendbewegung. Eine andere Version der Geschichte vom Ursprung der Jugendbewegung geht so: »Am Anfang des Wandervogels […] steht die Begegnung eines Schülers mit einem anspruchslosen Stück Literatur«.2 Dieser Schüler, er heißt Hermann Hoffmann, erinnert sich knapp sechzig Jahre später als alter Mann an eine folgenreiche Schulstunde: »Es war im Jahre 1890. Deutschstunde in der Untersekunda der Magdeburger Guerickeschule. Einer von uns las pflichtgemäß aus dem Lesebuch von Hopf und Paulsieck das fällige Lesestück vor. Es hieß: ›Reise zu Fuß‹. Wir anderen hörten mit halbem Ohr zu oder lasen heimlich etwas Spannenderes oder machten eine Mathematikarbeit fertig. Plötzlich ein Faustschlag unseres Professors Sträter auf das Pult: ›Jungens! Was seid ihr für Schlafmützen! Was Ihr da hört, ist Euch wohl ganz egal! Als wir Jungen waren, da sparten wir unsere Groschen zusammen, und zu Pfingsten oder in den großen Ferien, da ging das Wandern los. Aber ihr? Ihr räkelt Euch lieber in den Ferien in irgend einer Sommerfrische herum!‹ Das packte! Wenigstens einige von uns. In den nächsten Sommerferien wanderte ich 1 So der Untertitel eines Sammelbandes zur Geschichte der Jugendbewegung: Gerhard Ille, Günter Köhler (Hg.): Der Wandervogel. Es begann in Steglitz. Beiträge zur Geschichte der Jugendbewegung, Berlin 1987. 2 Winfried Mogge: Naturverständnis und Kulturkritik. Der Hohe Meißner als Symbol der Jugendbewegung, in: Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung, 1984/85, Bd. 15, S. 171–200, hier S. 172.
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Einleitung
mit meinem jüngeren Bruder und einem Klassenkameraden zum Magdeburger Tor hinaus, den Tornister auf dem Rücken […] Wir wanderten in Tagesmärschen von vierzig Kilometern zum Harz, im Zickzack durch diesen und nach achtzehn Tagen heimwärts durch dasselbe Tor. Wir hatten uns selbst verpflegt, auch gelegentlich in Scheunen übernachtet und sogar probeweise einmal im Freien (wobei wir zähneklappernd das Goethesche »Du kühlst den brennenden Durst meines Busens, lieblicher Morgenwind« als übertriebene Schmeichelei für den Morgenwind empfanden) und zusammen vierundzwanzig Mark ausgegeben. Die folgenden Ferien brachten eine Wanderung Elbe-Rhein oder Thüringen-Böhmerwald, die letzten eine vom Fichtelgebirge nach Venedig.«3
Bei Wanderungen mit Geschwistern und Freunden handelt es sich, der Hinweis des Deutschlehrers auf seine eigenen Wanderungen deutet es immerhin an, vielleicht nicht gerade um alltägliche Begebenheiten, ebenso wenig aber um gänzlich außergewöhnliche Phänomene.4 Historische Bedeutung erlangten Hoffmanns Schülerwanderungen dann auch erst ein halbes Jahrzehnt später. Er studiert mittlerweile in Berlin Rechtswissenschaften und Orientalistik und erteilt Schülern des Steglitzer Gymnasiums Stenographie-Unterricht. Ihnen fallen seine Aufzeichnungen über die Wanderungen seiner Schulzeit in die Hände, und sie sind sofort Feuer und Flamme. »Aufregung: Das müssen Sie auch mit uns machen! Und nun folgten unter wachsender Beteiligung mehrtägige Wanderungen in die Mark, mehrwöchige in den Harz und Kyffhäuser, zum Rhein oder durch den Bayerischen- und Böhmerwald, stets mit eigener Verpflegung mit allmählich vervollkommneten, zusammenlegbaren ›Herden‹ und Übernachtungen in Dorfgasthäusern, Scheunen und selbst in einem zusammensetzbaren Zelt, für diese Jungen alles ganz neue Dinge.«5
Die Entdeckung und Lektüre des handgeschriebenen Reiseberichtes und die darauf folgenden Wanderungen des Stenographievereins Stenographia, aus dem der Wandervogel hervorgehen sollte, können neben der offiziellen Vereinsgründung des Wandervogels und den Ferienwanderungen Hoffmanns als dritte Möglichkeit gelten, eine Geschichte der Jugendbewegung zu beginnen. Ist es 3 Hermann Hoffmann-Fölkersamb: Aus der Frühzeit des Wandervogels, in: Gerhard Ziemer, Hans Wolf (Hg.): Wandervogel und Freideutsche Jugend, Bad Godesberg 1961, S. 41–42, hier S. 41. Zum genannten Lesestück vgl. Winfried Mogge: »Ihr Wandervögel in der Luft …« Fundstücke zur Wanderung eines romantischen Bildes und zur Selbstinszenierung einer Jugendbewegung, Würzburg 2009, S. 14, Anm. 16. Zu Hermann Hoffmann vgl. Gerhard Ille: Steglitzer Wandervogelführer – Lebenswege und Lebensziele, in: ders., Günter Köhler (Hg.): Der Wandervogel. Es begann in Steglitz. Beiträge zur Geschichte der Jugendbewegung, Berlin 1987, S. 99–127, hier S. 99–103. Den Geburtsnamen seiner Mutter – (von) Fölkersamb – führte Hoffmann erst seit 1921. 4 Vgl. hierzu auch den Hinweis von Mogge: Wandervögel, S. 16, dass nicht das Wandern das Neue im Wandervogel ausmacht, sondern »das Wandern als eine Dimension jugendlichen Eigenlebens«. 5 Hoffmann-Fölkersamb: Frühzeit, S. 42.
Einleitung
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bloß ein Zufall, dass die Historiographie der Jugendbewegung an zwei wichtigen Punkten auf Initialzündungen durch das geschriebene Wort stößt? Dass darüber hinaus bei der Gründungssitzung des AfS mit Wolfgang Kirchbach, Heinrich Sohnrey und August Hagedorn drei Steglitzer Schriftsteller anwesend waren?6 Handelt es sich etwa um die Geburt der Jugendbewegung aus dem Geiste der Literatur? Ein weiteres Dokument drängt den Eindruck auf, es habe sich beim Wandervogel um eine äußerst lesefreudige Gruppe junger Menschen gehandelt. Hans Blüher, Autor der ersten Geschichte des Wandervogels, berichtet über die gemeinsame Lektüre von Jörg Wickrams »Rollwagenbüchlin« bei den Gruppentreffen: »Wenn es anfing, gerade dunkel zu werden, so daß man eben noch lesen konnte, dann zog Wolf [Meyen, M.L.] ein altes zerfetztes und beschmiertes Exemplar dieses köstlichen Büchleins hervor und begann zu lesen immer wieder dieselben schönen Histörlein mit ihrer unerhörten Derbheit ›sunder allen anstos‹ und dem unverwüstlichen Humor des Ausdruckes […]. Wolf las diese Sprache mit einer Liebe und Sorgfalt wie kein anderer, jedes einzelne Wort bildete er mit einer Zärtlichkeit, als ob er seine Muttersprache in einem fremden Lande höre. Und so wurde das Rollwagenbüchlein der Trostspender in Stunden, wo Langeweile Herr zu werden drohte; wo es auch sei, am Lagerfeuer oder eingeregnet in einer Dorfkneipe, wenn man vor Nässigkeit und Kälte klapperte, oder wenn das ›Melancolische gemüt‹ mal allzuheftig anklopfte, das Rollwagenbüchlein wußte immer ein gutes Wort zu sagen.«7
Auch von der Lektüre Chamissos, Seumes, Grimmelshausens und Platters weiß Blüher zu erzählen.8 Tatsächlich verdankten die Wandervögel frühneuhochdeutscher Reise- und Romanliteratur und der romantischen Imagination des Lebens fahrender Schülers des vielfältige Anregungen: Sie inszenierten sich als »Scholaren« und »Bachanten« und setzen sich damit ein »altes, längstvergrabenes Vagabundenideal in die Köpfe«.9 War der Wandervogel, jene Keimzelle der deutschen Jugendbewegung, aber tatsächlich eine Lesebewegung ist? Zweifel sind berechtigt. Schon in Hermann Hoffmanns Erinnerung ist es weniger das Lesebuch selbst als vielmehr der Ausruf des Lehrers, der den Anstoß gibt, die Ferien zum Wandern zu nutzen. Nicht die »Begegnung eines Schülers mit einem anspruchslosen Stück Literatur« steht demnach am Beginn des 6 Vgl. zum Teilnehmerkreis der Gründungsversammlung Siegfried Copalle, Heinrich Ahrens: Chronik der Deutschen Jugendbewegung, Bd. 1, Die Wandervogelbünde von der Gründung bis zum 1. Weltkrieg, Bad Godesberg 1954, S. 13f. 7 Hans Blüher: Wandervogel. Geschichte einer Jugendbewegung. Erster Teil: Heimat und Aufgang; Zweiter Teil: Blüte und Niedergang, Frankfurt a. M. 1912, S. 136f. 8 Ebd., S. 135f. 9 Ebd., S. 56.
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Einleitung
Wandervogels, sondern der Appell eines Lehrers. In einem von Hoffmann 1898 in der »Schülerwarte«, der stenographierten Zeitschrift der Stenographia, in mehreren Teilen veröffentlichten Aufsatz tritt das Wandern dann auch in einen merklichen Kontrast zur Buchlektüre: »Hoch aber das Wandern, das die Sinne schärft und das Gemüt rein und frisch erhält! Hinaus in der Ferienzeit in die weiten Gaue unseres lieben deutschen Vaterlandes! Lernt es immer mehr kennen, und je mehr ihr seine Schönheiten mit eigenen Augen, nicht nur vom Hörensagen, aus Büchern kennenlernt, […] desto mehr werdet ihr unser herrliches Vaterland wahrhaft lieben lernen! Hinein auch in die Fabriken, Glashütten, Ziegeleien usw., die ihr auf eurer Wanderung antrefft, und die Betriebe angeschaut, die ihr meist nur aus Büchern kennt.«10
Hoffmanns Plädoyer für die Teilnahme an den von ihm geleiteten Wanderungen ist so ein pädagogisches Moment eingeschrieben. Mit den Reisen ist ein Bildungsauftrag verbunden, die Welt mit eigenem Augenschein zu erkunden und es nicht bei den Kenntnissen bewenden zu lassen, die die Lektüre von Büchern vermitteln kann. Dass gerade den Dichtern zu misstrauen ist, wenn es um die Welt jenseits der Bücher geht, bringt er andernorts im selben Aufsatz mit einem Augenzwinkern zum Ausdruck, wenn er einer Strophe aus Emanuel Geibels »Wanderlied« die eigene Realitätserfahrung gegenüber stellt: »Und find ich keine Herberg, so lieg ich zur Nacht Wohl unter freiem Himmel, die Sterne halten Wacht. Im Winde die Linde, die rauscht mich ein gemach. Es küßt in der Frühe das Morgenrot mich wach. Gemeiniglich ist der Wind, der die Linde rauschen läßt, allerdings das Unangenehmste, und häufig genug wacht der Schläfer noch vor dem Morgenrot durch das Klappern seiner eigenen Zähne auf, aber es gibt auch hier leidliche Ausnahmen.«11
Hoffmann erweist sich als vertraut mit dem bürgerlichen Literaturkanon des späten 19. Jahrhunderts, doch geht er in Distanz zum Wort des Dichters. Das lyrische Naturbild dient ihm nicht als Wahrnehmungsfolie, sondern als Kontrastfolie vor dem Hintergrund eigenen Naturerlebens. Nicht der Dichter ist daher auch das eigentliche Vorbild, sondern der Polarforscher Fridtjof Nansen: »Wo wir all das Küchengerät neben dem übrigen Gepäck noch unterbringen? O, in eine solche braune Tasche, wie wir sie auf dem Rücken tragen, geht unheimlich viel hinein. 10 Hermann Hoffmann: Hoch das Wandern. Eine Plauderei [1898], in: Werner Kindt (Hg.): Die Wandervogelzeit. Quellenschriften zur deutschen Jugendbewegung 1896–1919 (Dokumentation der Jugendbewegung II), Düsseldorf u. a. 1968, S. 22–34, hier S. 33. 11 Ebd., S. 28. Dieselbe rhetorische Figur verwendet Hoffmann auch in seinem bereits zitierten, Jahrzehnte später geschriebenen Bericht, in dem er Goethes »Schmeichelei für den Morgenwind« mit dem selbst erlebten, durchfrorenen Erwachen nach einer Nacht im Freien vergleicht.
Einleitung
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Zu unterst etwas Wäsche […], darauf 12 Dutzend Knorrsche Suppentafeln, wie sie ja auch Nansen nach dem Nordpol mitgenommen hat, Erbswurst usw. […].«12
Das Vorbild Nansen entbehrt der Verklärung der Natur zum allzeit lieblichwohligen Aufenthaltsort. Zudem lassen sich bei ihm praktisch verwertbare Hinweise finden, wie den Schwierigkeiten einer Wanderung zu begegnen ist. Was bei Hoffmann noch ironisch eingekleidet ist, findet bei Ludwig Gurlitt eine Wendung ins Programmatische und Grundsätzliche. Gurlitt, seinerzeit bekannter Reformpädagoge und zeitweise Teil des Lehrerkollegiums am Steglitzer Gymnasium, der den Wandervogel in seinem ersten Jahrzehnt wohlwollend und fördernd begleitete, schrieb 1902 nach der Teilnahme an einer Wanderung einen Bericht an das Preußische Kultusministerium, in dem er für den jungen Verein wirbt: »Zweck dieser Vereinigung ist, in der Jugend die Wanderlust zu pflegen, die Mußestunden durch gemeinsame Ausflüge nutzbringend und erfreulich auszufüllen, den Sinn für die Natur zu wecken, zur Kenntnis unserer deutschen Heimat anzuleiten, den Willen und die Selbständigkeit der Wanderer zu stählen, kameradschaftlichen Geist zu pflegen, allen den Schädigungen des Leibes und der Seele entgegen zu wirken, die zumal in und um unseren Großstädten die Jugend bedrohen, als da sind Stubenhockerei und Müßiggang, die Gefahren des Alkohols und des Nikotins – um von Schlimmerem zu schweigen.«13
Bezüglich des Lesens erlegt sich Gurlitt jedenfalls kein Schweigen auf, wenn er gegen Ende seines Berichtes erneut auf die Gefahren hinweist, der eine Jugend ohne den heilsamen Einfluss des Wandervogels ausgesetzt ist. Durch dessen Wanderungen würden die »Knaben« »dem Faulenzertum der Ferien mit all ihren Schädigungen entzogen, als da sind Lektüre von schlechten Büchern, Teilnahme am Besuche der Gasthäuser, minderwertiger Konzerte und Theater […]«.14
Nun ließe sich vermuten, dass es sich hier lediglich um die Diagnose eines besorgten Pädagogen handelt, vielleicht auch nur um die rhetorische Beschwörung eines Gefahrenpotentials mit dem Zweck, das Kultusministerium von der Nützlichkeit des Wandervogels zu überzeugen, ohne dass damit etwas über die Meinungen der jungen Wandervögel gesagt wäre. Doch weit gefehlt: Warnungen vor einzelnen Büchern ebenso wie vor dem Lesen überhaupt gehören zu den regelmäßig wiederkehrenden Themen in den Zeitschriften der Jugendbewegung. 12 Ebd., S. 30. 13 Ludwig Gurlitt: Bericht von Prof. Dr. Ludwig Gurlitt an das Preußische Kultusministerium, in: Kindt (Hg.): Wandervogelzeit, S. 53–56, hier S. 53. 14 Ebd., S. 56.
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Einleitung
Dankwart Gerlach, einer der prominentesten Literaturkritiker des völkischen Flügels der Jugendbewegung, hat die Erfahrungswelt im Wandervogel als Pendeln »zwischen Feld, Wald, Wiese, Wasser – und Buch, zwischen Wandern und Lesen« beschrieben. Beides wollte er nicht als »Wege des Genusses, sondern als Wege zum Weltbild« verstanden wissen.15 So einfach ist es dann aber doch nicht, auch wenn die Forschung zur Jugendbewegung sich vielfach gerade auf diesen Aspekt konzentriert hat, auf die Frage nämlich, wie Wandern, Lektüre und Weltanschauung in der Jugendbewegung zusammenhängen. Die Wirklichkeit ist, wie so oft, deutlich komplexer. Bereits die oben stehenden Beispiele zeigen, dass das Verhältnis zwischen Wandern und Lesen keineswegs so harmonisch ist, wie es bei Gerlach den Anschein hat. Stattdessen werden beide Tätigkeiten oftmals in einen schroffen Gegensatz zueinander gestellt, wobei pädagogische und didaktische Kategorien ebenso eine Rolle spielen können wie moralische und physische. Andererseits lässt sich das Verhältnis zwischen Wandern und Lesen und deren Rolle für die jugendbewegten Gruppen keineswegs auf die Funktion reduzieren, zur Entwicklung eines wie auch immer gearteten »Weltbildes« beizutragen. Die Lektüre litarischer Texte kann ebensogut zur Vorbereitung auf Wanderungen genutzt werden oder sogar – auch wenn sich die untersuchten literaturkritischen Texte selten einmal dieser Möglichkeit widmen – schlicht und einfach zur Unterhaltung, wenn die Wandervögel gerade einmal rasten oder sich nach den gemeinsamen Aktivitäten alleine in ihren Elternhäusern oder Studentenwohnungen befinden. Die vorliegende rezeptionshistorische Studie untersucht anhand eines umfangreichen Korpus von etwa 1500 Rezensionen und anderen literaturkritischen Texten das vielschichtige Verhältnis der Jugendbewegung zum Buch, zum Lesen und zur Literatur von ihren Anfängen um die Jahrhundertwende bis in die frühen Jahre der Weimarer Republik. Im Mittelpunkt stehen Fragen nach den jugendbewegten Normen des Lesens, nach der Wertung von Literatur und ihrer Funktionalisierung für die Gruppen und Bünde und für die in ihnen organisierten Individuen. Es geht im Kern um ein rekonstruierbares, kollektives Literaturkonzept, das Aufschluss über den Umgang mit Literatur innerhalb einer Bewegung gibt, die nicht nur mehrere Generationen junger Menschen durch ihre Mitgliedschaft und ihr Engagement in den Organisationen der Jugendbewegung entscheidend prägte, sondern deren Ausstrahlung weit über diese Gruppen hinaus reicht. Zahlreiche ihrer Mitglieder nahmen im Laufe ihres Lebens zentrale Positionen in der Gesellschaft ein: In exponierten, öffentlichen Funktionen,16 als Verleger, oder, von der Öffentlichkeit weitgehend 15 Dankwart Gerlach: Entwicklung und Bücher, in: Führerzeitung, 1916, H. 12, S. 162–168, hier S. 163. 16 Einen Überblick über prominente jugendbewegte Personen bieten die Beiträge im Sam-
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unbemerkt, als Lehrer oder in anderen pädagogischen Funktionen, zu denen sie sich vielfach berufen fühlten. Das jugendbewegte Literaturkonzept hat hierdurch eine Bedeutung, die weit über die Historiographie der Jugendbewegung hinausreicht. Die Untersuchung des jugendbewegten Literaturkonzepts setzt voraus, auch das Medium jugendbewegter Literaturkritik zum Gegenstand der Studie zu machen. Die folgenden Ausführungen zu Geschichte und Schreibregeln der Zeitschriften der Jugendbewegung sind daher ebenfalls als Beitrag zur Mediengeschichte zu verstehen, die in der Erforschung der Jugendbewegung bislang allenfalls einen Nebenschauplatz darstellt. Insofern es sich – trotz gewisser Professionalisierungstendenzen – bei der jugendbewegten Literaturkritik überdies um ein frühes Beispiel von ›Laien‹-Literaturkritik handelt, soll vorliegende Studie schließlich als Ansatz begriffen werden, die aktuelle feuilletonistische und literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit nicht-professioneller Literaturkritik um ein historisches Beispiel zu ergänzen.
melband von Barbara Stambolis (Hg.): Jugendbewegt geprägt. Essays zu autobiographischen Texten von Werner Heisenberg, Robert Jungk und vielen anderen, Göttingen 2013.
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Zum Stand der Forschung
Die Forschung zur Geschichte der Jugendbewegung darzustellen, bedürfte es angesichts der schieren Menge der Publikationen einer eigenen Monographie. Ein umfassender Überblick über die Forschung zur Geschichte der Jugendbewegung kann daher im Rahmen dieser Studie nicht geleistet werden.17 Die folgenden Ausführungen konzentrieren sich bewusst auf Forschungsergebnisse und Thesen zur jugendbewegten Buchlektüre.18 Dabei sollen Ansätze sowohl der 17 Einen Überblick über die Forschung zur Jugendbewegung und über Publikationen aus dem Umfeld der Jugendbewegung bietet Susanne Rappe-Weber (Red.): Bibliographie zur Geschichte der Jugendbewegung. Quellen und Darstellungen, Schwalbach/Ts. 2009. Immer noch wichtig sind die Quelleneditionen von Werner Kindt (Grundschriften der deutschen Jugendbewegung, Düsseldorf u. a. 1963; Die Wandervogelzeit. Quellenschriften zur deutschen Jugendbewegung 1896–1919 (Dokumentation der Jugendbewegung 2), Düsseldorf u. a. 1968; Die deutsche Jugendbewegung 1920–1923. Die bündische Zeit. Quellenschriften. (Dokumentation der Jugendbewegung 3), Düsseldorf u. a. 1974), da die dokumentierten Texte einen wenigstens vorläufigen Eindruck von Entwicklung und Selbstdarstellung der Jugendbewegung zu vermitteln vermögen. Allerdings sind alle Bände aufgrund der Editionspolitik des Herausgebers und seiner Mitarbeiter mit Vorsicht zu benutzen, wie Christian Niemeyer gezeigt hat; vgl. hierzu Christian Niemeyer : Werner Kindt und die »Dokumentation der Jugendbewegung«. Text- und quellenkritische Beobachtungen, in: Historische Jugendforschung. Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung, 2005, N. F. 2, S. 230–249, und ders.: Die dunklen Seiten der Jugendbewegung. Vom Wandervogel zur Hitlerjugend, Tübingen 2013, S. 19–63. Sowohl im Textteil der Dokumentationsbände als auch im biographischen Apparat finden sich zahlreiche Auslassungen, die darauf abzielen, völkische und faschistische Aspekte im jugendbewegten Denken vor 1933 herunterzuspielen und die Verwicklung ehemaliger Jugendbewegter in die Verbrechen des Nationalsozialismus zu verdecken. Vgl. hierzu außerdem Ann-Katrin Thomm: Alte Jugendbewegung, neue Demokratie. Der Freideutsche Kreis Hamburg in der frühen Bundesrepublik Deutschland, Schwalbach/Ts. 2010, v. a. S. 255–368. Unter den monographischen Überblicksdarstellungen zur Geschichte der Jugendbewegung sind immer noch Harry Pross: Jugend Eros Politik. Die Geschichte der Jugendverbände, Bern u. a. 1964 und Walter Z. Laqueur : Die deutsche Jugendbewegung. Eine historische Studie, Köln 1962, die wichtigsten Publikationen. Einzelne Aspekte und Problemfelder wurden in den Jahrbüchern des Archivs der deutschen Jugendbewegung sowie in den Monographien der Edition Archiv der deutschen Jugendbewegung beleuchtet. 18 Außen vor bleiben in diesem Forschungsüberblick auch Untersuchungen, die sich dem
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historischen als auch der literaturwissenschaftlichen Forschung vorgestellt werden, die paradigmatisch für methodische und interpretatorische Tendenzen zur Erklärung der Literaturrezeption der Jugendbewegung stehen. Otto Neuloh und Wilhelm Zilius haben 1982 im Rahmen ihrer soziologischen Untersuchung der frühen Jugendbewegung festgestellt, dass »[e]ine detaillierte Analyse der meistgenannten Autoren und ihrer Bücher [reizvoll wäre]. Sie würde zutage fördern, was an diesem Lesestoff konform mit dem Zeitgeist ging und was (nur) typisch für die Wandervögel und ihren Geschmack war«.19 Diese Forderung wurde von der Forschung bislang nur ansatzweise erfüllt, und auch die Frage, welchem Zweck entsprechende Analysen und Erkenntnisse dienen würden, wurde nur teilweise überhaupt erörtert. Ein auffallend »geringe[s] Interesse« an der Literatur der Jugendbewegung, wie es Peter Morris-Keitel konstatiert,20 lässt sich gleichwohl nicht erkennen, kommen doch bereits die größeren Darstellungen zur Geschichte der Jugendbewegung nicht ohne wenigstens knappe Hinweise auf gelesene Bücher aus. So findet sich in Walter Laqueurs Studie über die Jugendbewegung beispielsweise das Urteil: »Pioniere der Jugendbewegung waren junge Männer ohne große kulturelle Ambitionen. Ihr literarischer Geschmack war recht einseitig; sie lasen nicht die Klassiker der deutschen Literatur, sondern Grimmelshausens ›Simplizissimus‹ und Jörg Wickrams
größeren Komplex »Literatur der Jugendbewegung« anhand der Literaturproduktion der Jugendbewegung zuwenden (vgl. hierzu bspw. Walther Jantzen: Die lyrische Dichtung der Jugendbewegung, Frankfurt a. M. 1974, dessen 1929 erstmals veröffentlichte Dissertationsschrift aufgrund der Biographie des Verfassers selbst auf Einflüsse durch und Wirkungen auf das jugendbewegte Literaturkonzept untersucht werden müsste) sowie Studien, die sich literatur- und organisationssoziologischen Problemen, insbesondere der jugendbewegten Verlagsszene widmen (diesem Aspekt hat sich Justus H. Ulbricht in mehreren Aufsätzen gewidmet; vgl. Literaturverzeichnis). 19 Otto Neuloh, Wilhelm Zilius: Die Wandervögel. Eine empirisch-soziologische Untersuchung der frühen Jugendbewegung, Göttingen 1982, S. 82. Die von ihnen publizierten Ergebnisse der Befragung ehemaliger Wandervögel hinsichtlich des Leseverhaltens in den Gruppen geben nur ein undeutliches Bild der tatsächlichen Rezeption ab, nicht zuletzt, da »die Erinnerung oft trügt und von dem Lesestoff der Nestabende weniger hängen geblieben ist als von dem, was man in reiferen Jahren gelesen hat«. Sichtbar wird dies unter anderem daran, dass über die Lektüre von Büchern in der Gruppe berichtet wird, deren Publikation erst nach der Mitgliedschaft in einer Wandervogelgruppe datiert (vgl. ebd., S. 80). Ein ausführlicher Bericht über die Literaturrezeption eines ehemaligen Jugendbewegten bietet Heinrich Steinbrinker : Bücher, die uns damals viel bedeutet haben, in: Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung, 1973, Bd. 5, S. 102–111. Seine Ausführungen heben sich insofern positiv von der späteren Forschungsliteratur, als sie sich auf die vielfachen und unterschiedlichen Funktionen konzentrieren, die die gelesene Literatur für die Mitglieder der Gruppen hatte, statt auf die Interpretation einzelner Texte. 20 Peter Morris-Keitel: Literatur der deutschen Jugendbewegung. Bürgerliche Ökologiekonzepte zwischen 1900 und 1918, Frankfurt a. M. 1994, S. 18.
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›Rollwagenbüchlein‹, die, zu ihrer Zeit viel gelesen, eine bedauerliche Wirkung auf ihren Stil ausübten.«21
Unproblematisch erscheinen zunächst die Tatsachenbehauptungen Laqueurs über die Lektüre der frühen Wandervögel, deren Wahrheitsgehalt anhand einer kritischen Sichtung der Quellen zu überprüfen wäre.22 Jenseits der Darstellung von Fakten gibt die Passage jedoch mehr über die Wertung von Literatur seitens des Historikers zu erkennen als über die der Jugendbewegung. Grimmelshausens »Simplicissimus« gehört längst zu den Klassikern der Literaturgeschichte, und Schüler, die sich am Nachmittag zur gemeinsamen Lektüre frühneuhochdeutscher Literatur zusammensetzen würden, wären heutzutage vermutlich der Stolz einer jeden Deutschlehrerin. Es bleibt einem Wissenschaftler selbstverständlich unbenommen, sich eigene Urteile über Wert und Rang literarischer Werke zu machen. Problematisch ist die Wertung der Lektüregewohnheiten der Jugendbewegung in diesem Fall jedoch deswegen, weil Laqueur vom Standpunkt desjenigen spricht, der im Besitz eines ahistorischen literarischen Kanons ist, von dem aus gesehen sich jede Frage nach abweichenden Wertungen zu erübrigen scheint. Dass aber die von Laqueur erst einer späteren jugendbewegten Generation zugesprochene Lektüre von Hölderlin und Novalis ohne weiteres von »größere[n] kulturelle Ambitionen«23 zeugt als die von Grimmelshausen oder Wickram, lässt sich durchaus bezweifeln, sobald von einem engumgrenzten, normativen Kulturbegriff Abstand genommen wird. Gleichfalls ist der Schluss von gerade einmal zwei gelesenen Büchern auf die Interessenslage ihrer Leser und ihren Geschmack höchstens dann zulässig, wenn sich erweisen ließe, dass außer diesen beiden Bücher nichts anderes wahrgenommen wurde.24 Laqueur nennt die Quelle seiner Kenntnisse über die Rezeptionsgewohnheiten des Wandervogels nicht, doch ist sie nicht schwer zu identifizieren: Es ist 21 Laqueur : Jugendbewegung, S. 15. 22 Immerhin hat sich der Wandervogel Frank Fischer schon früh skeptisch hinsichtlich der Grimmelshausen-Lektüre seiner Wanderfreunde geäußert. In einer allerdings polemischen »Parteischrift«, die der Abgrenzung des eigenen Wandervogelbundes von den anderen Wandervogelbünden dient, unterstellt Fischer : Unser Wandern. Eine Parteischrift, in: Nachrichtenblatt, 1909, H. 3, S. 21–24, hier : S. 22, dass der zünftige Wandervogel den Simplizissismus zwar stets im Rucksack mitgeführt habe, »nur gelesen hat er nie darin«. 23 Laqueur : Jugendbewegung, S. 15. 24 In einer Diplomarbeit über die Literaturrezeption der Jugendbewegung orientiert sich Jörg Seifert ebenfalls an einem literaturhistorischen Kanon. Dieser ist jedoch weiter gefasst, als dies bei Laqueur der Fall ist. Seine Arbeit liefert einen Eindruck der (Nicht)Rezeption der literarischen Moderne in der Jugendbewegung, blendet die Frage nach den jugendbewegten Wertungskriterien aber ebenso aus wie die nach den heute nicht kanonisierten Autoren, die in der Jugendbewegung gelesen wurden; vgl. Jörg Seifert: Studien zur Literaturrezeption der deutschen Jugendbewegung, Siegen 1995.
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die bereits in der Einleitung zitierte Passage aus Hans Blühers »Wandervogel. Geschichte einer Jugendbewegung«. Blüher erwähnt Grimmelshausen und Wickram neben Seume und Brentano als beliebte Autoren der »Ur-Wandervögel«, womit eine Gruppe von bis zu 50 Personen gemeint ist.25 Seine Aussagen betreffen jedoch offenkundig nur die in der Gruppe allgemein akzeptierten Autoren, die zu besonderen Anlässen gemeinsam gelesen wurden. Inwieweit diese literarischen Vorlieben auch die stille, private Lektüre jenseits der in der Gruppe verbrachten Zeit betreffen, lässt sich Blühers knappen Ausführungen nicht entnehmen. Immerhin ist es denkbar, dass Blüher bewusst lediglich gerade diese beiden Titel nennt, um eine bestimmte Stimmung und gemeinsame Gefühlslage zu charakterisieren – wie ja auch Laqueur mit Bedacht Novalis und Hölderlin anführt statt die Verfasser weniger anspruchsvoller Literatur, für deren zeitgleiche Rezeption sich ebenfalls Beispiele gefunden hätten. Somit bedürfen Laqueurs Äußerungen, wenn sie sich überhaupt halten lassen, zumindest der Einschränkung, dass sie nur Gültigkeit für die Wandervogelgruppe(n) als Kollektiv, nicht jedoch zwangsläufig auch für deren einzelne Mitglieder beanspruchen können. Laqueur steht beispielhaft für einen zu Pauschalurteilen neigenden Umgang mit der Lektüre der Jugendbewegung, bei der von wenigen, knappen Angaben in den Quellen generelle Tendenzen hinsichtlich literarischer Vorlieben abstrahiert werden. Dass ein zweiter, kritischer Blick in das Quellenmaterial lohnend ist, hat Christian Niemeyer in mehreren Publikationen für den Fall der Nietzsche-Rezeption in der Jugendbewegung gezeigt.26 Ohne den tatsächlichen Verbreitungsgrad der jeweiligen Texte zu überprüfen, auch ohne Rezeptionszeugnisse einer Analyse zu unterziehen, setzt der Großteil der Literatur zur Lektüre der Jugendbewegung methodisch auf Interpretationen. Dies ist auch beim Gros der Aufsätze der Fall, die sich in einem Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung mit »Kultbüchern« der Jugendbewegung auseinandersetzen.27 Die dort versammelten Beiträge zu Julius Langbehns 25 Copalle, Ahrens: Chronik, S. 19 schreiben von 49 Personen, die auf der Mitgliederliste des Wandervogel, Ausschuß für Schülerfahren bei seiner Auflösung 1904 geführt worden seien. 26 Vgl. z. B. Christian Niemeyer : Nietzsche im Schrifttum der deutschen Jugendbewegung? Ein kleiner Test auf eine große These anhand von drei Jugendbewegungszeitschriften, in: Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung, 1999–2001, Bd. 19, S. 119–145. Niemeyer widerspricht hier der These eines wesentlichen Einflusses Nietzsches auf die Jugendbewegung; zumindest in ihren Zeitschriften fänden sich kaum Beispiele einer expliziten Auseinandersetzung mit seinen Werken. Vgl. hierzu auch die grundsätzliche Kritik von Rüdiger Ahrens: Bündische Jugend. Eine neue Geschichte 1918–1933, Göttingen 2015, S. 12, an der »Quellenferne« eines erheblichen Teils der Forschungsliteratur zur Jugendbewegung. 27 Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung 1986/87, Bd. 16. An dieses Jahrbuch knüpft auch Hartmut Eggert an: »Das ist unser Buch!« Noch einmal: Kultbücher der Jugendbewegung und Lebensreform des Kaiserreichs, in: Tim Lörke, Gregor Streim, Robert Walter-Jochum (Hg.): Von den Rändern zur Moderne. Studien zur deutschsprachigen Li-
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»Rembrandt als Erzieher«,28 Hermann Poperts »Helmut Harringa«,29 Walter Flex’ »Wanderer zwischen beiden Welten«30 und Spenglers »Untergang des Abendlandes«31 sparen die Rezeption dieser Titel in der Jugendbewegung zwar nicht vollends aus, konzentrieren sich im Schwerpunkt jedoch auf Sprache, Inhalt, Ideologie und Kontext der Bücher selbst.32 Dadurch kommt es gelegentlich zu Thesen, die der Jugendbewegung nicht in allen Teilen gerecht werden. In einem Aufsatz über »Umbruchvorstellungen der Jugendbewegung« spricht Friedmar Apel von der wichtigen Rolle Stefan Georges für die Bünde.33 Dessen Bedeutung für die Jugendbewegung soll hier nicht in Abrede gestellt werden, auch wenn eine ausführliche Untersuchung des persönlichen und ideellen Verhältnisses von George-Kreis und Jugendbewegung und der George-Rezeption in der Jugendbewegung noch immer aussteht. Problematisch aber sind Apels Hinweise zu Georges Gedicht »Wer je die flamme
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teratur zwischen Jahrhundertwende und Zweitem Weltkrieg, Würzburg 2014, S. 373–385. Obwohl er einleitend auf die Notwendigkeit zur Analyse von Rezeptionsdokumenten aufmerksam macht, beschränkt sich sein Aufsatz wiederum auf Inhaltsangaben und Interpretationen dreier »Kultbücher« der Jugendbewegung. Erich Straßner : Der Rembrandtdeutsche – Vorkämpfer der deutschen Volkwerdung? Zentrale Wortfelder und formale Strategien in Julius Langbehns »Rembrandt als Erzieher«, in: Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung 1986/87, Bd. 16, S. 27–44. Ulrich Herrmann: »Ein Krieger im Heere des Lichts« – Hermann Poperts »Helmut Harringa« als Spiegel-Bild lebensreformerischen Strebens in der Jugendbewegung, in: Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung,1986/87, Bd. 16, S. 45–62. Justus H. Ulbricht: Der Mythos vom Heldentod. Entstehung und Wirkung von Walter Flex’ »Der Wanderer zwischen beiden Welten«, in: Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung, 1986/87, Bd. 16, S. 111–156. Helmuth Kiesel: Gläubige und Zweifler – Zur Rezeption von Oswald Spenglers »Untergang des Abendlandes«, in: Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung, 1986/87, Bd. 16, S. 157–182. Auch das Kapitel über »Die Dichter des Wandervogels« in Jost Hermand: Die deutschen Dichterbünde. Von den Meistersingern bis zum PEN-Club, Köln u. a. 1998, S. 180–184, erschöpft sich weitgehend in knappen Inhaltsangaben von in der Jugendbewegung populären Büchern, wobei sich zum Teil haarsträubende Fehler anhäufen. Frank Fischer wird statt Karl Fischer zum Gründer des Wandervogels, Lely Kempin wird zu einem »Ely Kempin« und der St.-Georgs-Bund um den Maler Fidus wird zum »St. Michaelsbund«. Überdies weist Hermand in den behandelten Texten zwar mehrfach auf rasseeugenische und nationalistische Positionen hin, bedient sich bei der Behauptung eines modernekritischen, utopischen Gehaltes der Werke dann jedoch eines ideologischen Weichzeichners. Die Ausnahme bildet die Analyse der Nietzsche-Rezeption von Thomas Herfurth: Zarathustras Adler im Wandervogel-Nest – Formen und Phasen der Nietzsche-Rezeption in der deutschen Jugendbewegung, in: Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung, 1986/87, Bd. 16, S. 63–110. Friedmar Apel: Einmal kommt die große Zeit. Umbruchvorstellungen in der Jugendbewegung, in: Daniel Meyer, Bernard Dieterle (Hg.): Der Umbruchsdiskurs im deutschsprachigen Raum zwischen 1900 und 1938, Heidelberg 2011, S. 55–64; vgl. zum Folgenden besonders S. 57.
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umschritt«.34 Die Interpretation, es handele sich bei diesem Gedicht um die Geltendmachung eines »charismatische[n] Führungsprinzips«, mag auf den Kreis um George zutreffen, in dem der Dichter den zentralen, alles bestimmenden Mittelpunkt bildete. Für die Jugendbewegung hingegen liegt – trotz zahlreicher charismatischer Führerfiguren in ihren Bünden – der Gedanke weitaus näher, dass ihre Mitglieder in der »Flamme« des Gedichtes weniger eine einzelne Person gesehen haben als vielmehr eine Repräsentation des Bundes.35 Aber auch diese Interpretation kann ohne entsprechende Hinweise in den Rezeptionszeugnissen nicht mehr als eine gewisse Plausibilität für sich beanspruchen.36 Inhaltsdarstellungen und Interpretationen sind zweifelsohne wichtig und gehören zu den Hauptaufgaben literaturwissenschaftlicher Arbeit. Dennoch stellt sich die Frage, was mit solchen Interpretationen gewonnen ist. Sofern sie methodisch und argumentativ gut ausgearbeitet sind, stellen sie wichtige Materialien zum Verständnis von Texten dar. Sie können Leser zu einer erneuten Lektüre bereits gelesener Texte unter neuen Gesichtspunkten anregen, ihnen bislang unbekannte oder unverstandene Texte erschließen oder auch die eigene Lektüre ersetzen. Im Rahmen (historischer) Rezeptionsforschung kann die Kenntnis literarischer Texte aus eigener Lektüre oder durch die Lektüre von Interpretationen aber immer nur Hilfsmittel und Vergleichsmoment gegenüber Rezeptionszeugnissen sein. Von den Texten selbst ist keine definitive Antwort auf die Frage zu erwarten, warum bestimmte Bücher gelesen werden, wie sie gelesen werden und welche Bedeutung sie für ihre Leser haben. Bücher können auf ganz verschiedene Weisen und zu ganz verschiedenen Zwecken gelesen werden. So ist davon auszugehen, dass Grimmelshausens »Simplicissimus« unterschiedlich rezipiert wird, wenn er von einer Schülerin im Rahmen des Deutschunterrichts, von einem Literaturwissenschaftsstudenten im Rahmen eines Seminars zur Geschichte des Romans in Deutschland, von einer habilitierten Historikerin als begleitende Freizeitlektüre zu einer Vorlesung über den Dreißigjährigen Krieg oder aber von einem alternden Mann gelesen wird, der sich an die gemeinsame Lektüre in der Jugendgruppe erinnert. 34 Vgl. Stefan George: Die Gedichte. Tage und Taten, Stuttgart 2003, S. 726. Das Gedicht ist Teil des Bandes »Der Stern des Bundes«. 35 Diese Interpretation wird auch nahegelegt von Rolf-Peter Janz: Die Faszination der Jugend durch Rituale und sakrale Symbole. Mit Anmerkungen zu Fidus, Hesse, Hofmannsthal und George, in: Thomas Koebner, Rolf-Peter Janz, Frank Trommler (Hg.): »Mit uns zieht die neue Zeit«. Der Mythos Jugend. Frankfurt a. M. 1985, S. 310–337, hier S. 331. 36 Vgl. hierzu in theoretisch-methodischer Perspektive die Feststellung von Marcus Willand: Lesermodelle und Lesertheorien. Historische und systematische Perspektiven, Berlin u. a. 2014, S. 44, dass »[n]ur eine über Sekundärtexte […] geleistete Rekonstruktion faktisch gezogener Inferenzschlüsse […] den Gewissheitsanforderungen einer strengen Historisierung gerecht werden [kann]«.
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Die Forschung zur Literaturrezeption der Jugendbewegung hat es bislang weitgehend unterlassen, sich mit den Gründen für Lektüren auseinanderzusetzen. Zentral war vielmehr das eigene Interesse der Wissenschaftler daran, welche Bücher und Autoren die Weltanschauung der Jugendbewegung und ihr politisches Handeln beeinflusst haben könnten. Das Prinzip dahinter ist: Sag mir, was du liest, und ich sage dir, wer du bist und was du denkst.37 Weniger salopp ausgedrückt, unterliegt den wissenschaftlichen Publikationen mindestens implizit die Annahme, dass politische, philosophische und literarische Bücher eine unmittelbare Wirkung entfalten, so dass sich aus der Analyse jener Werke ebenso unmittelbar Erkenntnisse über das Bewusstsein und die Einstellungen ihrer Leser entnehmen ließen. Um aus der Lektüre bestimmter Bücher aber auf entsprechende Einstellungen ihrer Leser schließen zu können, bedürfte es zumindest eines hinreichend umfangreichen Belegmaterials nicht nur für tatsächlich stattgefundene Lektüren, sondern auch für korrespondierende politische oder weltanschauliche Positionen, die überdies als lektüreinduziert ausgewiesen werden müssten.38 Im Allgemeinen jedoch wird von textuellen Wirkungspotentialen methodisch unreflektiert auf leserseitige Wirkungsergebnisse geschlossen, ohne diese anhand von Rezeptionszeugnissen einer empirischen Überprüfung zu unterziehen.39 Der Rezeptionsprozess wird
37 Die Forschung zur Literaturrezeption der Jugendbewegung steht damit nicht alleine. Zu dem gleichen Ergebnis kommt Gideon Reuveni hinsichtlich der Erforschung der Lesegewohnheiten der Deutschen vor 1933. Auch hier konzentriert sich die Forschung beinahe ausschließlich auf die Frage, welche Aussagen sich über die politischen Einstellungen der Leser aus ihrer Lektüre herleiten lassen, und auch hier stehen weniger die Leser als vielmehr die Texte im Mittelpunkt. Vgl. Gideon Reuveni: Reading Germany. Literature and consumer culture in Germany before 1933, New York u. a., S. 3f. Von hier aus erklärt sich auch das auffallende Interesse der historischen Jugendforschung für Weltanschauungsautoren wie Julius Langbehn und Paul de Lagarde, oder, wenn es sich um fiktionale Literatur handelt, für Autoren wie Hermann Popert oder Walter Flex, deren Werke eine deutliche politische oder weltanschauliche ›Tendenz‹ erkennen lassen. Bei Fritz Stern: Kulturpessimismus als politische Gefahr. Eine Analyse nationaler Ideologie in Deutschland, Berlin u. a. 1963, lässt sich, ohne dass die aus rezeptionshistorischer Perspektive nötige Kritik hinfällig würde, der umgekehrte Weg ausmachen: Sein Interesse für den zeitgenössischen Kulturpessimismus bedingt sein Interesse für die Jugendbewegung, da die Ideen Julius Langbehns hier ihre größte Resonanz gefunden hätten (vgl. hierzu ebd., S. 205–220). 38 Dies ist m. E. der Fall bei Niemeyer : Seiten, der Fall, der umfangreiche Belege und Indizien zusammenträgt, die zeigen, wie stark die Mitglieder der Jugendbewegung antisemitisches, völkisches und nationalsozialistisches Gedankengut verinnerlicht hatten. Als Belege dienen ihm auch Hinweise auf die Lektüre einschlägiger Texte, wobei er die »Folgen jener mentalen Nahrung« (S. 169) als »Verfestigung einer Vorurteilsstruktur« (S. 161) betrachtet. 39 Vgl. zur Terminologie Norbert Groeben, Peter Vorderer: Leserpsychologie: Lesemotivation – Lektürewirkung, Münster 1988, S. 230f. Die rezeptionswissenschaftlichen Grundlagen dieser Arbeit werden im folgenden Kapitel zur Rezeptionsforschung ausführlich vorgestellt.
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dadurch auf eine simple »monokausale Ursache-Wirkungs-Kette [reduziert]«.40 Fragen nach den Auswahlkriterien für bestimmte Texte, nach einer möglicherweise selektiven Wahrnehmung des Inhaltes, nach der konrekten Konstruktion von Bedeutungen eines Textes, nach variierenden Funktionen von Literatur für die Jugendbewegung werden so gar nicht erst gestellt. Dies ist auch bei den beiden bislang umfangreichsten Untersuchungen zur Literatur der Jugendbewegung der Fall, bei Karl Krauszes »Die Jugendbewegung im Spiegel Deutscher Dichtung«41 und Peter Morris-Keitels »Literatur der deutschen Jugendbewegung«42. Der Titel von Krauszes Dissertation ist wörtlich zu nehmen. Ihm geht es darum zu zeigen, wie sich innerhalb literarischer Texte von Personen aus dem Umfeld der Jugendbewegung und sonstiger zeitgenössischer Literatur Ansichten der Jugendbewegung zu Themen wie Generationenkonflikten, Natur und Stadt, Krieg, Religiosität und Menschenbild wiederfinden.43 Morris-Keitels Studie hingegen führt insofern einen etwas irreführenden Titel, als es ihm nur mittelbar um die Literatur der Jugendbewegung zu tun ist. Deutlicher wird sein Anliegen durch eine Inversion von Titel und Untertitel, präsentiert er doch eine Untersuchung bürgerlicher Ökologiekonzepte anhand der Literatur der deutschen Jugendbewegung, darin der Methode von Krausze durchaus nahestehend.44 In beiden Studien werden Inhalte zeitgenös40 Sven Strasen: Rezeptionstheorien. Literatur-, sprach- und kulturwissenschaftliche Ansätze und Modelle, Trier 2008, S. 107. 41 Karl Krausze: Die Jugendbewegung im Spiegel deutscher Dichtung, Würzburg 1939. 42 Morris-Keitel: Literatur. 43 Krauszes Dissertation, veröffentlicht 1939, ist die Entstehungszeit durchaus anzumerken, wenn er scheinbar sachlich davon spricht, dass die Jugendbewegung »1933 mit der nationalen Erhebung ihren Abschluß fand« (S. IX) oder Hermann Burtes Roman »Wiltfeber« für sein »deutsches und völkisches Selbstbewußtsein« und für seinen Antisemitismus gelobt wird (S. 11). Überdies fehlt Krausze die kritische Distanz zum Gegenstand. Viele seiner Thesen lassen selbst eine deutliche Nähe zum Literaturkonzept der Jugendbewegung erkennen. Allerdings ist seine Studie insofern hilfreich, als in ihr literarische Werke Erwähnung finden, die in späteren Untersuchungen zur Literaturrezeption der Jugendbewegung aus Scham, Desinteresse oder Ignoranz unerwähnt bleiben. 44 Eine ausführliche Auseinandersetzung mit Morris-Keitels Studie kann hier unterbleiben. Auf inhaltliche Mängel und insbesondere politisch und ideologisch Fragwürdiges bei der Analyse sowohl der Jugendbewegung als auch der untersuchten literarischen Werke hat in hinlänglicher Ausführlichkeit bereits Justus Ulbricht in seiner Rezension im Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung hingewiesen; vgl. Justus H. Ulbricht: Mißverständnisse zur Literatur der Jugendbewegung, in: Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung 1993–98, Bd. 18, S. 572–579. Ähnlich wie Krausze und Morris-Keitel verfährt auch Christiane Völpel: Hermann Hesse und die deutsche Jugendbewegung. Eine Untersuchung über die Beziehungen zwischen dem Wandervogel und Hermann Hesses Frühwerk, Bonn 1977. Zwar bezieht sie sich mitunter auch auf Rezeptionszeugnisse und kann sich so auf Texte Hesses beschränken, deren Rezeption in der Jugendbewegung nachweisbar ist. In der Analyse konzentriert sie sich im Wesentlichen aber auf die Ausarbeitung von Parallelen und Vergleichsmomenten zwischen Hesses literarischem Werk, zeithistorischen Problemen der
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sischer Literatur mit Positionen der Jugendbewegung verglichen und parallelisiert, was als Beitrag zur Mentalitätsgeschichte und zur politischen Geschichte sinnvoll sein kann, über die jugendbewegten Rezeptionsweisen jedoch höchstens mittelbar Aufschluss gibt. Gleichwohl gibt es in der Forschungsliteratur zum Rezeptionsverhalten der Jugendbewegung Ausnahmen, die sich durch eine eingehendere Auseinandersetzung mit Rezeptionszeugnissen auszeichnen. Hierzu gehören vor allem die bereits erwähnten Publikationen Christian Niemeyers zur Nietzsche-Rezeption in der Jugendbewegung und Winfried Mogges Studie über die »Selbstinszenierung einer Jugendbewegung«. Mogge verfolgt nicht nur die »Wanderung« des Motivs des Wandervogels durch die Literatur des 19. Jahrhunderts bis zur Jahrhundertwende und zeichnet dabei einen romantisch-epigonalen Literaturkanon der Jugendbewegung nach, sondern widmet sich darüber hinaus der Funktionalisierung von Literatur für die Entwicklung und Gestaltung des jugendbewegten Selbstbilds und Selbstverständnisses, womit für einen Teilaspekt des jugendbewegten Literaturkonzepts bereits relevante Forschungsergebnisse erzielt worden sind.45 Aus rezeptionswissenschaftlicher Perspektive finden sich aber auch hier vereinzelt problematische Aspekte, wenn die Argumentation sich mitunter mehr auf die rezipierten Texte als auf die Leserbedürfnisse konzentriert oder aber aus dem Fehlen von Rezeptionsdokumenten für bestimmte Textgruppen unmittelbar auf politisch-ideologische Gründe geschlossen wird, anstatt zunächst von den spezifischen Präsentationsformen von Literaturkritik und den Bedürfnissen der jugendbewegten Leser auszugehen.46 Problematischer noch ist aber das Vorgehen von Niemeyer, trotz seiner Auseinandersetzung mit Rezeptionsdokumenten. Die Grundlage seiner Analysen bildet stets seine eigene, starke Nietzsche-Interpretation, die vor allem auf pädagogische Implikationen der Philosophie Nietzsches abzielt. Vor diesem Hintergrund erscheinen die pädagogischen Gedanken der Jugendbewegung ebenso wie die Interpretationen Nietzsches in der Jugendbewegung beinahe zwangsläufig defizitär, insofern es sich dort nicht um habilitierte Bildungshistoriker handelt, zu deren (Lese)Biographie eine jahrzehntelange Beschäftigung mit Nietzsche gehört. Dadurch entsteht zum Teil ein etwas schiefes Bild: Gerade Anhängern des rechten Flügels der Jugendbewegung wird ein angemessenes Verständnis Nietzsches rundheraus abgesprochen, anstatt danach zu fragen, wie Jugend und Positionen der Jugendbewegung, die nicht in Rezeptionsdokumenten, sondern in anderen Quellen dokumentiert sind. 45 Vgl. Mogge: Wandervögel. 46 Auf eine detaillierte Auseinandersetzung mit den aus rezeptionswissenschaftlicher Perspektive problematischen Momenten in der Untersuchung Mogges soll an dieser Stelle verzichtet werden. Ich werde im Rahmen meiner eigenen Analyse des jugendbewegten Literaturkonzeptes hierauf zurückkommen.
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sie Nietzsche für die eigenen Interessen instrumentalisieren oder warum sie sich gerade auf ihn berufen.47 Nichtsdestotrotz lässt sich die Relevanz der Studien Niemeyers nicht bestreiten, insofern es ihm um die Wiederlegung der These zu tun ist, es habe sich bei Nietzsche um einen der einflussreichen Stichwortgeber oder gar »Propheten« der Jugendbewegung gehandelt. Dass andere Autoren wie Julius Langbehn oder Paul de Lagarde eine eindeutig prominentere Rolle einnehmen, ist nicht von der Hand zu weisen.48 Damit ist jedoch nur ein erster Schritt in Richtung eines adäquaten Verständnisses des jugendbewegten Umgangs mit Literatur getan, indem Allgemeinplätze der Jugendbewegungsforschung und der jugendbewegten Selbsthistoriographie revidiert und korrigiert werden. Durch die Konzentration auf die Rezeption eines einzelnen Autors oder eines einzigen Textes bleiben die Ergebnisse auch unter Einbezug von Rezeptionszeugnissen notgedrungen auf ein kleines, engumgrenztes Textkorpus beschränkt.49 »In der Rezeptionstheorie […] geht es nicht in erster Linie um das Bedeutungspotential von Zeichen, sondern um dessen konkrete Realisierung, also um Bedeutungszuschreibungen von Rezipienten«.50 Diese Gegenstandsbestimmung des Forschungsbereichs Rezeptionstheorie vor Augen, lässt sich feststellen, dass die bisherigen Studien zur Literaturrezeption der Jugendbewegung nur in wenigen Fällen den Ansprüchen an eine konsequente Rezeptionsforschung genügen. In der vorliegenden Studie möchte ich daher einen anderen Weg einschlagen. Rezeptionszeugnisse aus der Jugendbewegung, vor allem literaturkritische Aufsätze in ihren Zeitschriften, sollen auf der Grundlage von Erkenntnissen aus der psychologischen und literaturwissenschaftlichen Rezeptionsforschung über den Prozess des Textverstehens daraufhin befragt werden, wie Literatur gelesen wurde. Die Frage, was gelesen wurde, lässt sich 47 Sofern man bereit ist, Niemeyers Untersuchungen als Beitrag zur Rezeptionsgeschichte zu begreifen, handelt es sich im Wesentlichen um eine »hermeneutische Rezeptionsforschung«, deren Massstab die aus den Primärtexten zu erschliessende Autorintention ist, in diesem Fall diejenige Nietzsches. Wie aber bereits Gunter Grimm: Rezeptionsgeschichte. Grundlegung einer Theorie, München 1977, S. 263. festgestellt hat, gerät Rezeptionsgeschichte auf diese Weise allzu leicht »zur Geschichte einer unendlichen Verkennung von Texten, wie es in manchen ideologiekritischen Untersuchungen der Fall ist, in denen alle vor der eigenen Meinung geäußerten Ansichten aös falsch und und ›ideologisch‹ bezeichnet werden«, anstatt eben zu allererst nach den Funktionen und Verwendungen womöglich irritierender oder abwegiger Interpretationen zu fragen. 48 Vgl. vor allem Christian Niemeyer : Nietzsche, die Jugend und die Pädagogik. Eine Einführung, Weinheim 2002. 49 Noch spezialisierter erscheint in dieser Perspektive Justus H. Ulbricht: Jugend mit George – Alfred Kurellas Ideen von 1918. Versuch einer Kontextualisierung, in: George-Jahrbuch 2012/13, Bd. 9, S. 219–241, der sich mit der Stefan-George-Lektüre eines einzigen Jugendbewegten, Alfred Kurellas, beschäftigt. 50 Strasen: Rezeptionstheorien, S. 7.
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dabei zwar nicht ausblenden, tritt demgegenüber jedoch in den Hintergrund. Die Auswahl der Rezeptionszeugnisse folgt nicht dem Interesse an einzelnen gelesenen Autoren oder Textgruppen, sondern solchen Dokumenten, die den Umgang mit Literatur in der Jugendbewegung exemplarisch dokumentieren. Überprüft werden soll die Hypothese, dass es in der Jugendbewegung über inhaltliche und formale Differenzen zwischen den gelesenen Büchern hinweg ein mehr oder weniger konstantes Literaturkonzept gibt, das Auswahl, Interpretation und Wertung von Literatur lenkt. Hierzu ist es notwendig, die Literaturrezeption der Jugendbewegung nicht von ihren tatsächlichen oder vermeintlichen Wirkungen auf die deutsche Geschichte zu analysieren, sondern sie von ihren eigenen Voraussetzungen her zu untersuchen.
2.
Theorie
2.1
Rezeptionsforschung
2.1.1 Richtungen der Rezeptionsforschung Peter Uwe Hohendahl stellte 1974 fest, dass die »Rezeptionsforschung […] gegenwärtig weder eine Disziplin noch eine Methode [ist], sondern ein Gemenge von divergierenden Theorien und Ansätzen, denen gemeinsam ist, daß sie sich mit der Aneignung und Wirkung von Literatur beschäftigen«.51 An dieser Einschätzung hat sich bis heute im Wesentlichen nichts geändert. Immer noch ist »Rezeptionsforschung« ein »umbrella term«,52 der mehrere Disziplinen und verschiedene theoretische Ansätze, Positionen und Methoden unter sich versammelt. Vor allem sind es aber die Literaturwissenschaft und die Psychologie, innerhalb derer sich Teilbereiche mit der Erforschung von Rezeptionen beschäftigen, während Soziologie, Geschichtswissenschaft und Pädagogik weitgehend den Status von Hilfswissenschaften einnehmen.53 Innerhalb des umfangreichen Komplexes der Rezeptionsforschung lassen sich drei Forschungsrichtungen grob voneinander unterscheiden. Die Rezeptionsästhetik beschäftigt sich vor allem mit den Strukturen von Texten und analysiert, inwieweit diese die Rezeption beeinflussen können. Damit ist der Anspruch verbunden, Aussagen über die Rezeption (literarischer) Texte im allgemeinen oder einzelner literarischer Texte vor jeder konkreten
51 Peter Uwe Hohendahl: Einleitung: Zur Lage der Rezeptionsforschung, in: LiLi. Zeitschrift für Linguistik und Literaturwissenschaft [LiLi] 1974, Jg. 4, H. 15: Rezeptionsforschung, S. 7– 11, hier S. 7. 52 Robert Holub: Reception Theory. A critical introduction, London, New York 1984, S. XII. 53 Vgl. hierzu auch Grimm: Rezeptionsgeschichte, S. 23, der überdies Semiotik, Publizistik, Bibliothekswissenschaft und Buchkunde zu den mit rezeptionswissenschaftlichen Fragestellungen beschäftigten Disziplinen rechnet.
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Theorie
Rezeption zu machen. Der ›Leser‹54 ist in der Rezeptionsästhetik daher »eine textuelle Kategorie und ein interpretatorisches Instrument«,55 was paradigmatisch in Wolfgang Isers Theorie des »impliziten Lesers« zum Ausdruck kommt.56 Die psychologische Leserforschung beschäftigt sich primär mit den Prozessen, die während der Rezeption (literarischer) Texte im Leser ablaufen. Ihr geht es um die kognitiven Voraussetzungen und Prozesse der Rezeption. Reale Leser und konkrete Texte spielen in der kognitionspsychologischen Forschung zwar als Untersuchungsobjekte eine Rolle; die Theorien zielen jedoch darauf ab, Erkenntnisse über »anthropologische Invarianten«57 der Rezeption zu gewinnen. Die empirische Rezeptionsforschung schließlich setzt sich in Form von historischen oder zeitgenössischen Rezeptionszeugnissen mit den Ergebnissen von Rezeptionen auseinander, die nach dem eigentlichen Rezeptionsprozess entstehen. Insofern Rezeptionszeugnisse stets Ausdruck der Auseinandersetzung mit konkreten Texten sind, gibt es hier einen mindestens mittelbaren Bezug zu den rezipierten Texten. Die ›Leser‹ dieser Richtung der Rezeptionsforschung sind zunächst reale Leser, auch wenn je nach Fragestellung Erkenntnisse über größere Personengruppen angestrebt werden. In diesem Fall dienen einzelne reale Leser und ihre Rezeptionszeugnisse als Beispiele, anhand derer Thesen über typische Rezeptionen und Rezipienten entwickelt werden. Gemeinsam ist allen Ansätzen der Rezeptionsforschung die Annahme, dass (literarische) Texte lediglich ein Bedeutungspotential bereitstellen, das sich im Akt der Rezeption ›konkretisiert‹. Der Begriff der »Konkretisation« wurde von Roman Ingarden in die Literaturwissenschaft eingeführt. Er unterscheidet zwischen dem Text als materiellem Gegenstand und seinen »Konkretisationen«: »Diese Konkretisationen sind eben das, was sich während der Lektüre konstituiert und was sozusagen eine Erscheinungsweise des Werkes in der Konkretisation bildet, in welcher wir das Werk selbst erfassen«.58 Ein literarischer Text ist, so Ingarden, »ein in verschiedener Hinsicht schematisches Gebilde […], das ›Lücken‹, Unbestimmtheitsstellen, schematisierte Ansichten usw. in sich enthält«.59 Danach sind die Konkretisationen eines Textes zwar teilweise durch »schematisierte Ansichten« 54 Vgl. zum Begriff des Lesers in der Literaturtheorie die grundlegende Studie von Willand: Lesermodelle. 55 Oliver Jahraus: Literaturtheorie. Theoretische und methodische Grundlagen der Literaturwissenschaft, Tübingen u. a. 2004, S. 292. 56 Vgl. vor allem Wolfgang Iser : Der implizite Leser. Kommunikationsformen des Romans von Bunyan bis Beckett, München 1972. 57 Vgl. Norbert Groeben, Jürgen Landwehr : Empirische Literaturpsychologie (1980–1990) und die Sozialgeschichte der Literatur : ein problemstrukturierender Überlick, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der Literatur (IASL), 1991, Jg. 16, S. 143–235, hier S. 162. 58 Robert Ingarden: Das literarische Kunstwerk, Tübingen 1960, S. 354. 59 Ebd., S. 353.
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des Textes, ein »Skelett«60 mehr oder weniger präziser Beschreibungen der erzählten Welt, determiniert. Die Unbestimmtheitsstellen eines Textes – »prädikativ [nicht] festgelegte[…] Eigenschaften«,61 die der Leser mit Hilfe seiner Phantasie oder seines Weltwissens ›bestimmen‹ kann – eröffnen aber gleichzeitig Freiheiten bei der Rezeption literarischer Texte, die bei unterschiedlichen Lesern ebenso wie bei zeitlich aufeinanderfolgenden Lektüren desselben Textes durch denselben Leser unterschiedliche Konkretisationen bedingen. Kein Leser ist in der Lage, im selben Rezeptionsakt alle Aspekte des literarischen Werkes mit gleicher Aufmerksamkeit zu beachten und zu verfolgen. Ingarden spricht in diesem Zusammenhang von der »perspektivischen Verkürzung«, in der der Text vom Leser erfasst werde, und die zu einer »Mannigfaltigkeit der Anschauungen« desselben Textes durch denselben Leser führt.62 Seine Schlussfolgerung lautet, dass »diese Mannigfaltigkeiten bei zwei verschiedenen Lektüren im allgemeinen verschieden sind«, und damit auch die Konkretisationen des literarischen Textes.63 Ingardens Theorie voneinander abweichender Konkretisationen eines Textes sowie die von ihm erörterte Differenz zwischen dem materialen Text und seinen Konkretisationen erwiesen sich für die Rezeptionsforschung gleichermaßen als fruchtbar.64 Denn wenn Leser Texte unterschiedlich wahrnehmen und interpretieren, dann liegt es nahe, zum einen die textuellen und kognitiven Gründe hierfür zu erforschen, zum anderen aber auch die unterschiedlichen Konkretisationen selbst. Der Untersuchung der textuellen Ebene des Rezeptionsprozesses widmet sich die Rezeptionsästhetik. Wolfgang Iser, der wichtigste und prominenteste Vertreter dieser Forschungsrichtung, hat in mehreren Monographien und Aufsätzen an Ingardens Theorie der Unbestimmtheitsstellen und der schematisierten Ansichten angeknüpft. Dabei geht Iser zwar davon aus, dass sich die Bedeutung literarischer Texte durch eine Interaktion zwischen Text und Leser konstituiert. 60 61 62 63 64
Ebd., S. 279. Mat&as Mart&nez, Michael Scheffel: Einführung in die Erzählliteratur, München 2003, S. 112. Ingarden: Kunstwerk, S. 356f. Ebd., S. 357. Vgl. hierzu auch den Hinweis von Jahraus: Literaturtheorie, S. 296, dass Ingardens Begriff und Idee der Konkretisationen nicht nur Eingang in Isers Rezeptionsästhetik gefunden hat, sondern in ihrer Anfangszeit auch von der empirischen Literaturpsychologie aufgegriffen wurde. Dass die von Ingarden ausgehenden Impulse für die Rezeptionsästhetik ungleich größer waren als für die empirische Rezeptionsforschung betont Reinhold Viehoff: Literarisches Verstehen. Neuere Ansätze und Ergebnisse empirischer Forschung, in: IASL 1988, Jg. 13, S. 1–39, hier S. 19f. Für eine zusammenfassende Diskussion der für die Rezeptionsforschung relevanten Teile von Ingardens Theorie vgl. Strasen: Rezeptionstheorien, S. 62–66 sowie Holub: Reception Theory, S. 22–29, der auf S. 23 allerdings auch darauf aufmerksam macht, dass sich die Adaption der Thesen Ingardens für die Zwecke der Rezeptionsforschung einer verkürzten Wahrnehmung verdankt.
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Sein Interesse gilt jedoch vorrangig der Textseite des Rezeptionsprozesses, die er hinsichtlich ihrer »Appellstruktur« untersucht.65 Innerhalb Isers Theorie spielen konkrete Rezeptionsergebnisse daher keine Rolle. Von ihnen sind, so fasst Rainer Warning Isers Position konzis zusammen, »keine systematischen Aussagen über das Werk selbst [zu] erwarte[n]«.66 Die Idee der Unbestimmtheitsund »Leerstellen«67 eröffnet allerdings nicht nur einen theoretischen Erklärungsansatz für unterschiedliche Rezeptionsergebnisse. Da sie eine »Pluralität möglicher historischer Besetzungen« bedingen, entsteht gleichzeitig ein Interesse an konkreten historischen Rezeptionszeugnissen als Ausdruck unterschiedlicher Konkretisationen.68 Der bis heute meistdiskutierte Versuch, die Notwendigkeit rezeptionsgeschichtlicher Forschungen herauszuarbeiten und Rezeptionsgeschichte theoretisch zu begründen, ist Hans Robert Jauß’ Vortrag über »Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft«.69 Jauß entwickelt seine Überlegungen vor dem Hintergrund einer Auseinandersetzung mit marxistischen, strukturalistischen und hermeneutischen Literaturtheorien, die die »Geschichtlichkeit« von Literatur durch eine Konzentration auf produktions- oder darstellungsästhetische Aspekte außer Acht ließen. Diese erschöpfe sich aber nicht in einer von der Realgeschichte streng zu scheidenden Abfolge literarischer Werke 65 Wolfgang Iser : Die Appellstruktur der Texte, in: Rainer Warning (Hg.): Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis, München 1975, S. 228–252. Auf semantischer Ebene wird die Konzentration auf die Textseite durch die Verwendung metaphorischer Ausdrücke deutlich, die einen determinierenden Einfluss des Textes auf den Leser suggerieren. Iser geht es in eigenen Worten um textuelle Mittel der »Steuerung der Leserreaktionen« (S. 238, S. 241) und der »Leserlenkung« (S. 240). Auch der zentrale Begriff der »Appellstruktur« weist bereits in diese Richtung. 66 Rainer Warning: Rezeptionsforschung. Historischer Rückblick und Perspektiven, in: Wolfgang Adam, Holger Dainat, Gunter Schandera (Hg.): Wissenschaft und Systemveränderung. Rezeptionsforschung in Ost und West – eine konvergente Entwicklung? Heidelberg 2003, S. 57–77, hier S. 62. Vgl. für eine ausführliche Diskussion der Relevanz und der Probleme von Isers Positionen für eine empirische Rezeptionsforschung Strasen: Rezeptionstheorien, S. 66–83. 67 »Leerstellen« werden von Iser in Ergänzung zu den Unbestimmtheitsstellen Ingardens in die Theorie eingeführt; vgl. Iser : Appellstruktur, bes. S. 232–241, sowie die Diskussion bei Strasen: Rezeptionstheorien, S. 66–69. 68 Vgl. Warning: Rezeptionsforschung, S. 62. 69 Ich zitierte im Folgenden nicht den Text der gleichnamigen Konstanzer Antrittsrede, sondern die erweiterte Fassung: Hans-Robert Jauß: Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft, in: ders.: Literaturgeschichte als Provokation, Frankfurt a. M. 1970, S. 144–207. Einen Überblick über Vorläufer der historischen Rezeptionsforschung bietet Holub: Reception Theory, S. 13–52. Ebd., S. 6–12 findet sich auch eine Beschreibung der politischen, sozialen und disziplinären Entstehungsbedingungen der Rezeptionsforschung Ende der 1960er Jahre. Für einen historisch weiter gefassten Überblick über Ansätze zur Auseinandersetzung mit Rezeptionsprozessen innerhalb der Ästhetik von der Aufklärung bis zu Adorno vgl. Grimm: Rezeptionsgeschichte, S. 68–73.
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und Poetologien; ebenso wenig sei Literatur allein durch die Realgeschichte, als Widerspiegelung der Produktionsbedingungen oder des Klassenbewusstseins, zu verstehen. Literatur werde in beiden Fällen verkürzt »um eine Dimension, die unabdingbar zu ihrem ästhetischen Charakter wie auch zu ihrer gesellschaftlichen Funktion gehört: die Dimension ihrer Rezeption und Wirkung«.70 Dem Leser als Subjekt der Rezeption einen Platz innerhalb der Literaturwissenschaft einzuräumen, hält Jauß deshalb nicht nur wie Iser aus Gründen der Konstitution literarischer Texte für unabdingbar, sondern vor allem zur Erklärung der Wechselwirkungen zwischen Literatur und Geschichte. Jauß’ zentraler theoretischer Begriff ist der des »Erwartungshorizontes«. Dieser sei als »eine spezifische Disposition des Publikums« gegenüber einem literarischen Werk zu verstehen, »die der psychologischen Reaktion wie auch dem subjektiven Verständnis des einzelnen Leser noch vorausliegt«.71 Dadurch, dass eine literarische Neuerscheinung nicht in ein »informatorische[s] Vakuum« hinein veröffentlicht werde, sei das »Publikum durch Ankündigungen, offene und versteckte Signale, vertraute Merkmale oder implizite Hinweise für eine ganz bestimmte Weise der Rezeption [prädisponiert]«.72 Hierbei handelt es sich aber nur um eine von mehreren Explikationen des Begriffs. An anderer Stelle bringt Jauß den Verfasser ins Spiel, wenn er schreibt, Ziel der Rekonstruktion des Erwartungshorizontes sei die »Disposition für ein bestimmtes Werk, mit der ein Autor bei seinem Publikum rechnet«.73 Lasse sich diese erwartete Disposition durch das »Fehlen expliziter Signale« nicht unmittelbar erkennen, könnten auch Daten der Literaturgeschichte, Momente der Poetizität des fraglichen Textes sowie dezidiert leserseitige Faktoren wie deren literarisches Wissen und deren Weltwissen die Analyse des Erwartungshorizontes ermöglichen.74 Angesichts der zahlreichen und inhaltlich vielfältigen Explikationen bleibt vage, worauf sich der Begriff tatsächlich bezieht: auf Aspekte des Textes, auf intentionale Handlungen oder Überzeugungen des Autors, auf literaturhistorische oder literatursoziologische Aspekte, auf Rezipienten oder auf alle diese Aspekte zusammen. 70 71 72 73 74
Jauß: Literaturgeschichte, S. 168. Ebd., S. 174. Ebd., S. 175. Ebd., S. 177. Ebd. Jauß schreibt dort von der Ermittlung des Erwartungshorizontes »[…] aus drei allgemein voraussetzbaren Faktoren […]: erstens aus bekannten Normen oder der immanenten Poetik der Gattung, zweitens aus den impliziten Beziehungen zu bekannten Werken der literarhistorischen Umgebung und drittens aus dem Gegensatz von Fiktion und Wirklichkeit, poetischer und praktischer Funktion der Sprache, der für den reflektierenden Leser während der Lektüre als Vergleich immer gegeben ist. Der dritte Faktor schließt ein, daß der Leser ein neues Werk sowohl im engeren Horizont seiner literarischen Erwartung als auch im weiteren Horizont seiner Lebenserfahrung wahrnehmen kann«.
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Unter anderem an dieser »fehlende[n] Präzision zentraler Begriffe«75 hat sich die Kritik an Jauß’ Programm einer Rezeptionsgeschichte entzündet.76 Der unklare Status der Sozialgeschichte innerhalb seines Ansatzes wurde ebenso bemängelt wie die ungeklärte Rolle konkreter Rezeptionszeugnisse und damit auch empirischer Leser. So überrascht es nicht, dass die Einschätzungen darüber auseinandergehen, welche Bedeutung die Jaußsche Konzeption für die weitere Entwicklung der Rezeptionsgeschichte hatte. Während einige bei ihm den Anfang einer Auseinandersetzung mit den »realen, tatsächlich stattgefundenen Rezeptionen« sehen, der »die Analyse der historisch verankerten Kommunikationssituationen« ermöglicht hätte,77 finden sich andere Literaturwissenschaftler, die in der mangelnden Klarheit zentraler Begriffe den folgenden »Vertrauensverlust des rezeptionsästhetischen bzw. rezeptionsgeschichtlichen Forschungsprogramms« begründet sehen und damit eine Ursache für den raschen Bedeutungsverlust der historischen Rezeptionsforschung innerhalb der Literaturwissenschaft.78 Gegen diese harsche Position spricht jedoch die rege Diskussion, die Jauß’ Vortrag ausgelöst und damit eine eingehende Auseinandersetzung mit diesem Forschungsfeld überhaupt erst initiiert hat.79 Dennoch sind aus der Perspektive einer historischen Rezeptionsforschung verschiedene Aspekte in Jauß’ Ansatz zu problematisieren: 1. Die Rolle der politischen Geschichte und der Sozialgeschichte für die Rekonstruktion des »Erwartungshorizontes« bleibt durch die ambivalente Verwendung des Begriffs im Unklaren. 2. Dies gilt auch für den Status, der den Rezeptionszeugnissen empirischer Leser zukommt. Die Hinweise, die Jauß im Zusammenhang mit der Explikation des Begriffs »Erwartungshorizont« liefert, sind mehrdeutig. Skepsis gegenüber der Aussagekraft einzelner Rezeptionszeugnisse kommt bei Jauß zum Ausdruck, wenn er sich einem »drohenden Psychologismus« zu erwehren sucht. Dieser könne vermieden werden, wenn die Analyse »Aufnahme und Wirkung 75 Tilmann Köppe, Simone Winko: Neuere Literaturtheorien. Eine Einführung, Stuttgart, Weimar 2003, S. 93. 76 Vgl. z. B. Hans-Harald Müller : Wissenschaftsgeschichte und Rezeptionsforschung. Ein kritischer Essay über den (vorerst) letzten Versuch, die Literaturwissenschaft von Grund auf neu zu gestalten, in: Jörg Schönert, Harro Segeberg (Hg.): Polyperspektivik in der literarischen Moderne. Studien zur Theorie, Geschichte und Wirkung der Literatur, Frankfurt a. M., Bern, New York u. a. 1998, S. 452–479, hier S. 460. Ein Überblick über die zeitnahe Diskussion um Jauß’ Thesen findet sich bei Gunter Grimm: Einführung in die Rezeptionsforschung, in: ders. (Hg.): Literatur und Leser. Theorien und Modelle zur Rezeption literarischer Wirkung, S. 11–84, hier S. 34–55. 77 Grimm: Rezeptionsgeschichte, S. 14. 78 Diese These vertritt Müller : Wissenschaftsgeschichte, S. 460. Dort, S. 458–468, finden sich auch weitere Annahmen, warum es zu dem beklagten »Vertrauensverlust« in die Rezeptionsforschung gekommen ist. 79 So auch die Einschätzung von Holub: Reception Theory, S. 69.
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eines Werks in dem objektivierbaren Bezugssystem der Erwartungen beschreibt, das sich für jedes Werk im historischen Augenblick seines Erscheinens aus dem Vorverständnis der Gattung, aus der Form und Thematik zuvor bekannter Werke und aus dem Gegensatz von poetischer und praktischer Sprache ergibt«.80 Die von Jauß für eine Objektivierung des Bezugssystems angeführten Daten sind jedoch lediglich literaturimmanente Daten. Dadurch wird der Erwartungshorizont nur vom literarischen Werk her gedacht, nicht aber von seiner realen Leserschaft. Dass potentiell von mehreren »Erwartungshorizonten« ausgegangen werden muss, gerät so nicht in den Blick. Eine Differenzierung hinsichtlich der »Epochenerwartung«, der »Werkerwartung« und der »Autorerwartung« wurde von Karl Robert Mandelkow vorgeschlagen,81 überdies wäre synchron auch zumindest zwischen den Erwartungen verschiedener Personengruppen zu unterscheiden.82 3. Jauß hat hinsichtlich der Rekonstruktion eines »Erwartungshorizontes« nicht irgendwelche literarischen Texte im Blick. Ihn interessiert »[d]ie Art und Weise, in der ein literarisches Werk im historischen Augenblick seines Erscheinens die Erwartungen seines ersten Publikums einlöst, übertrifft, enttäuscht oder widerlegt«, als »Kriterium für die Bestimmung seines ästhetischen Wertes«.83 Dabei gilt ihm »[d]ie Distanz zwischen Erwartungshorizont und Werk, zwischen dem schon Vertrauten der bisherigen ästhetischen Erfahrung und dem mit der Aufnahme des neuen Werkes geforderten ›Horizontwandel‹« als Kriterium für den »Kunstcharakter eines literarischen Werks«.84 Literatur, deren Rezeption »keinen Horizontwandel erfordert«, erwähnt Jauß lediglich, um sie sogleich als in jeglicher Hinsicht defizitär abzutun,85 während sein eigentliches Interesse eben jenen literarischen Werken von Rang gilt, die ihr Publikum mit ästhetischen Innovationen konfrontieren. Dadurch verengt Jauß sein rezeptionshistorisches Programm auf Texte, die den normativen Vorstellungen einer Abweichungsästhetik entsprechen, die historisch relativ jung ist und der seit ihrer Entstehung immer nur ein Teil des gesamten Lesepublikums folgt. Im Hintergrund steht bei alledem die Behauptung und Verteidigung eines progressiven Charakters 80 Jauß: Literaturgeschichte, S. 173f. Im Original kursiv. 81 Karl Robert Mandelkow : Probleme der Wirkungsgeschichte, in: Jahrbuch für Internationale Germanistik, 1970, Bd. 2, S. 71–84, hier S. 73. 82 Dies fordert bereits Bernhard Zimmermann: Der Leser als Produzent: Zur Problematik der rezeptionsästhetischen Methode, in: LiLi, 1974, Jg. 4, Heft 15: Rezeptionsforschung, S. 12– 26, hier S. 16, in seiner auch sonst fundierten Kritik an den Thesen von Jauß. Die Differenzierung könnte hierbei nicht nur nach soziologischen Kriterien verfahren, sondern beispielsweise auch nach dem Grad der Lesekompetenz oder der literarischen Kompetenz. 83 Jauß: Literaturgeschichte, S. 177f. 84 Ebd., S. 178. 85 Ebd.
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und einer emanzipatorischen Wirkung von Literatur. So wünschenswert beides ist: Die Eingrenzung des rezeptionswissenschaftlichen Interesses auf solche Momente der Literatur(geschichte) übersieht einen großen Teil der tatsächlich stattgefundenen und stattfindenden Rezeptionen realer Leser, ihrer Interessen und der Wirkungen von Literatur. Genau an diesem Punkt setzten dann auch Neuformulierungen eines rezeptionshistorischen Forschungsprogramms an. Gunter Grimm, dessen »Rezeptionsgeschichte. Grundlegung einer Theorie« den umfangreichsten Entwurf dieser Art darstellt, plädiert für eine »sozialgeschichtlich definierte Rezeptionsgeschichte«, die »in erster Linie nach den historischen Rezeptionen fragt« und »diese von ihren Subjekten und nicht von ihren Objekten her untersucht«.86 Dies hat nicht nur Implikationen für die Methode, da der Untersuchungsgegenstand einer »konsequenten Rezeptionsgeschichte« »primär aus Konkretisationen, erst sekundär aus anstoßgebenden Texten (›Kunstwerken‹)« bestehen sollte.87 Auch der Auswahlprozess der für rezeptionshistorische Untersuchungen relevanten Objekte wird hiervon beeinflusst. Der Blick wandert nicht von der Literatur auf ihre Leser, sondern umgekehrt: Erst vom Interesse für eine sozialhistorisch konstruierbare Lesergruppe wendet sich das Augenmerk auf die von ihr gelesene Literatur. Gerade an dieser abweichenden Objektkonstitution lassen sich die Unterschiede einer konsequenten Rezeptionsgeschichte zur Rezeptionsästhetik festmachen. In Auseinandersetzung mit Überlegungen Felix Vodicˇkas zur Literaturgeschichtsschreibung wirft Rainer Warning ihm vor, »die semiotische Rekonstruktion des Konkretisationsbegriffs preiszugeben, wenn er meint, daß man die gesellschaftliche Funktion der Literatur nicht durch die Analyse der Werkstruktur erkennen kann, sondern einzig dadurch, daß man verfolgt, wie das Werk aufgenommen wurde«.88 Warning geht es um die Relevanz potentieller Untersuchungsobjekte für die Rezeptionsforschung, in seinen Worten um die »limitierte Pluralität relevanter Konkretisationen«.89 Er beharrt auf der Werkstruktur als Referenz für die Relevanz von Konkretisationen. Für eine historisch orientierte Rezeptionsforschung sind demgegenüber soziale und soziologische 86 Grimm: Rezeptionsgeschichte, S. 61. 87 Ebd., S. 73. 88 Rainer Warning: Rezeptionsästhetik als literaturwissenschaftliche Pragmatik, in: ders. (Hg.): Rezeptionsästhetik, S. 57–77, hier S. 18. Warning bezieht sich auf hierbei auf einen älteren Aufsatz von Felix Vodicˇka, der später wieder abgedruckt wurde als Felix Vodicˇka: Die Literaturgeschichte, ihre Probleme und ihre Aufgaben, in: ders., Die Struktur der literarischen Entwicklung, München 1976, S. 30–86. Vgl. zu Vodicˇka auch Holub: Reception Theory, S. 35f. 89 Warning: Rezeptionsästhetik, S. 18.
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Kategorien als Relevanzkriterium viel entscheidender, will sie nicht Gefahr laufen, maßgebliche und einflussreiche Interpretationen und Wertungen einfach deshalb nicht zu beachten oder ernst zu nehmen, weil sie – gemessen am literarischen Text – als inadäquat erscheinen.90 Inhaltliche und methodische Anknüpfungspunkte erkennt Gunter Grimm in der Lesergeschichte. Diese »fragt nach dem lesenden Subjekt (Wer?), nach dessen Lesestoff (Was?) und nach den Gründen dieser stofflichen Aneignung (warum liest wer was?)«.91 Doch dürfe es die Rezeptionsforschung nicht dabei bewenden lassen: »Rezeptionsgeschichte setzt den Akzent stärker auf die Analyse der Modalitäten; sie erweitert den lesergeschichtlichen Horizont um die Frage nach dem Modus der Rezeption (Warum liest wer was wie?), wobei die modale Komponente wichtiger als die stoffliche ist«.92 Mit der Wendung zur Sozialgeschichte bei Gunter Grimm war zwar einerseits die theoretische Grundlage geschaffen für rezeptionshistorische Einzelstudien.93 Paradoxerweise markiert seine Monographie jedoch gleichzeitig ein Ende der knapp zehn Jahre andauernden, euphorischen Beschäftigung mit Rezeptionsforschung innerhalb der Literaturwissenschaft, zumindest unter diesem Namen.94 Abgelöst wurde das rezeptionswissenschaftliche »Paradigma« Ende der 1970er Jahre durch das weiter gefasste Forschungsfeld der »Empirischen Literaturwissenschaft«95 und durch den Forschungsbereich der Sozialgeschichte der Literatur96. 90 Vgl. hierzu auch die Kritik von Strasen: Rezeptionstheorien, S. 7, an einer literaturwissenschaftlichen Praxis, die »die tatsächlich vorkommenden Begegnungen mit Literatur nur insofern zur Kenntnis nimmt, als sie sie für defizitär erklärt« und sich der Aufgabe verweigert, die tatsächlichen Funktionsweisen von Literatur in der Gesellschaft zu beschreiben und zu analysieren. 91 Grimm: Rezeptionsgeschichte, S. 61. 92 Ebd. Vgl. hierzu auch schon Rolf Engelsing: Die Perioden der Lesergeschichte in der Neuzeit. Das statistische Ausmaß und die soziokulturelle Bedeutung der Lektüre, in: Archiv für Geschichte des Buchwesens, 1970, Bd. 10, Sp. 945–1002, hier Sp. 945–948, der ebenfalls eine Ergänzung der statistischen Analyse der »Lesestoffe« durch eine Untersuchung verschiedener Lektüremodi fordert. 93 Vgl. hierzu beispielsweise die den gesamten zweiten Teil seines Buches einnehmenden rezeptionsgeschichtlichen Analysen bei Grimm: Rezeptionsgeschichte. 94 Müller : Wissenschaftsgeschichte, S. 454, schreibt vom Ende der »Rezeptionsforschung als Erneuerungsbewegung der Literaturwissenschaft – nicht als Forschungspraxis, die es vor den rezeptionsgeschichtlichen Manifesten gegeben hat und vermutlich auch nach dem Ende der rezeptionsgeschichtlichen ›Mode‹ geben wird«. Vgl. aber auch den systematischen Überblick zu Beispielen historischer Rezeptionsanalysen bei Willand: Lesermodelle, S. 313– 322. 95 Prominentester Vertreter dieser Richtung ist Siegfried J. Schmidt. Grundlegend ist in diesem Zusammenhang Schmidt: Grundriß der empirischen Literaturwissenschaft, 2 Bde., Braunschweig 1980/1982. 96 Vgl. zu den theoretischen Grundlagen vor allem Renate von Heydebrand, Dieter Pfau, Jörg Schönert: Zur theoretischen Grundlegung einer Sozialgeschichte der Literatur. Ein struk-
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Die Fragen, die die Rezeptionsforschung an die Literaturgeschichte stellt, sind jedoch nicht aus der Literaturwissenschaft verschwunden. In Grenzbereichen zu anderen Disziplinen, insbesondere als Literaturpsychologie und im Zusammenhang mit Forschungen zur Lesesozialisation innerhalb der Literaturpädagogik blieben rezeptionswissenschaftliche Fragestellungen virulent. Teilaspekte aus dem rezeptionshistorischen Forschungsfeld sind darüber hinaus in andere Bereiche literaturwissenschaftlicher Forschung eingegangen, beispielsweise in die Forschung zur Literaturkritik, zur Funktion von Literatur, zu ihrer Kanonisierung und zu ihrer Wertung. Auch die medienwissenschaftliche Rezeptionsforschung wird ebenso intensiv weiterbetrieben wie die psychologische Rezeptionsforschung.97 Diese Verlagerung von rezeptionshistorischen Erkenntnisinteressen in enger gefasste Forschungsbereiche lässt sich als Reaktion auf Probleme deuten, die dem weiten theoretischen Entwurf einer sozialhistorisch fundierten Rezeptionsgeschichte bei Gunter Grimm inhärent waren. Der Komplexität von Rezeptionsprozessen korrespondiert die notwendige interdisziplinäre Ausrichtung ihrer Erforschung. Als interdisziplinäres Projekt, das seinen Gegenstandsbereich nicht über Texte bzw. Rezeptionsobjekte definiert, sondern über Leser bzw. rezipierende Subjekte, überschreite Rezeptionsgeschichte »den literarisch definierten Interessen- und Quellenbereich des Literaturwissenschaftlers«. Damit gehe die Gefahr einher, dass »die Verwirklichung eines solch weitausgreifenden Modells […] an den unzulänglichen Bedingungen des Forschungsbetriebes scheitern« könnte.98 »Man wird also«, folgert Grimm, »zunächst naheliegende, auch von Fachwissenschaftlern allein zu bewältigende Teilaufgaben benennen müssen, wenn das Modell einer Rezeptionsgeschichte nicht von vornherein ad acta gelegt werden soll«.99 Vor dem Hintergrund des sich nach dem Erscheinen von Grimms »Rezeptionsgeschichte« abzeichnenden Wandels innerhalb der literaturwissenschaftlichen Forschungslandschaft lässt sich – ohne dass tatsächlich jeweils eine diesbezügliche Motivation zu unterstellen wäre – die Verselbständigung solcher für die Rezeptionsforschung relevanter Teilfragen in eigenen Forschungsbereichen erkennen. Wenn in der vorliegenden Untersuchung die Rezeptionsgewohnheiten der tural-funktionaler Entwurf, Tübingen 1988. Das ambitionierteste Projekt in diesem Bereich ist die mehrbändige, bei Hanser erschienene »Sozialgeschichte der deutschen Literatur«. 97 Mittlerweile gibt es Anzeichen, dass auch das theoretische Interesse an einer historischen Rezeptionsforschung, die unter diesem Namen betrieben wird, wieder wächst. Vgl. beispielsweise den Beitrag von Katja Mellmann und Marcus Willand: Historische Rezeptionsanalyse. Zur Empirisierung von Textbedeutungen, in: Philip Ajouri, Katja Mellmann, Christoph Rauen (Hg.): Empirie in der Literaturwissenschaft, Münster 2013, S. 263–281 sowie die Monographie von Willand: Lesermodelle. 98 Grimm: Rezeptionsgeschichte, S. 30. 99 Ebd., S. 31f.
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bürgerlichen deutschen Jugendbewegung nachgezeichnet werden sollen, dann kann dies methodisch nicht allein mit Hilfe der älteren Ansätze der historischen Rezeptionsforschung geschehen. Die hier mit Grimm vorläufig als »Teilaufgaben« bezeichneten Forschungsbereiche innerhalb und außerhalb der Literaturwissenschaft bedürfen notwendig der Integration in das theoretische Setting der Studie. Während Gunter Grimm sich in seinem Theorieentwurf vor allem an Konzepten der Kommunikationswissenschaft orientiert, um Rezeptionsprozesse theoretisch zu modellieren,100 soll in dieser Studie auf Erkenntnisse der Leserpsychologie Bezug genommen werden. Deren Erklärungspotential wurde von Grimm noch skeptisch beurteilt,101 doch kommt angesichts der dort mittlerweile erzielten Forschungsergebnisse keine Rezeptionsgeschichte umhin, diese zur Kenntnis zu nehmen. Auch wenn Grimm mit dem Anschluss an die Kommunikationstheorie nicht von Ansätzen ausgeht, die sich fundamental von denen der Leserpsychologie entscheiden würden,102 spricht für die psychologischen Ansätze doch die Tatsache, dass sie sowohl innerhalb empirischer Studien als auch innerhalb theoretischer Modelle individuelle Leser im Blick haben und erst von hier aus nach sozialen Determinanten oder bestimmten Lesertypologien fragen.103 Theoretische Grundlage dieses Perspektivenwechsels innerhalb der psychologischen Leserforschung ist eine deutliche Kritik an einer primär soziologisch interessierten und arbeitenden Rezeptionsforschung, deren Methoden sich an »Lesergruppen, Leserschichten oder sonstigen sozialen Aggregaten und praktisch niemals am Leser« orientieren:
100 Vgl. ebd., S. 14–18. 101 Vgl. ebd., S. 27. Diese Skepsis begegnet auch sonst allerorten in den programmatischen Texten der Rezeptionsästhetik. Vgl. beispielsweise Warning: Rezeptionsästhetik, S. 25 und Iser: Appellstruktur, S. 229. Grund hierfür dürfte nicht nur die Tatsache sein, dass die Literaturpsychologie zu diesem Zeitpunkt selbst noch relativ jung war. Auch die Angst vor einem Verlust des disziplinären Profils der Literaturwissenschaft durch einen voreiligen Zugriff auf die Erkenntnisse einer anderen Disziplin dürfte hierbei eine entscheidende Rolle gespielt haben. 102 So plädiert Grimm: Rezeptionsgeschichte., S. 18, für die Aufgabe eines »simple[n] Stimulus-Response-Schema[s]« zugunsten eines Modells des »aktiven Lesers«. 103 Vgl. hierzu auch Viehoff: Verstehen, S. 23, der die Präzisierung kommunikationstheoretischer Konzepte durch Ergebnisse der empirischen Textverstehensforschung einfordert. Kritik an Lesertypologien steckt ebenfalls in einer im Anschluss an qualitative Interviews gewonnenen Erkenntnis von Werner Graf: Lektüre zwischen Literaturgenuss und Lebenshilfe. Modi des Lesens – eine Systematisierung der qualitativen Befunde zur literarischen Rezeptionskompetenz, in: Bodo Franzmann (Hg.): Leseverhalten in Deutschland im neuen Jahrtausend, Mainz 2001, S. 199–224. Graf stellt ebd., S. 199, fest, dass die »konkreten Leser […] überzeugend deutlich machen [können], inwiefern sie gerade nicht durch ihre Zugehörigkeit zu einer Schicht oder durch ihr Geschlecht oder ihren Bildungsgang festgelegt sind« in Art und Inhalt ihrer Lektüren.
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»Denn die Vernachlässigung des Individuums, d. h. in diesem Zusammenhang vor allem die Vernachlässigung der Kompetenz zur (Text-)Verarbeitung bzw. ›Brechung‹ äußerer (Text-)Einflüsse, impliziert ein Bild vom Leser, das diesen als bloß passiven Empfänger sozialisatorischer Einflüsse und ideologischer Wirkungsabsichten auffaßt. Daß der Leser praktisch nur noch als Angehöriger einer sozialen Schicht betrachtet und konstitutiert wird, führt in systematischer Weise zu idealtypisch überzogenen Charakterisierungen.«104
Die folgende Darstellung eines leserpsychologisch fundierten Modells des Textverstehens dient dem Zweck, grundsätzliche Erkenntnisse über die individuellen Bedingungen der Rezeption literarischer Texte zu gewinnen, bevor Überlegungen zur Möglichkeit der Analyse der Literaturrezeption eines Kollektivs angestellt werden können.
2.1.2 Textverstehen – Konstruktivismus und psychologische Textverstehensforschung In den 1970er-Jahren konvergierten Entwicklungen in der Linguistik und der Psychologie, die in die Untersuchung der kognitiven Textverarbeitung und des Textverstehens als eigenem Forschungszweig mündeten.105 Während die Linguistik sich zunehmend »von der Text- zur Diskurswissenschaft entwickelte« und nicht länger nur den Text als sprachliches Material untersuchte, sondern den Blick verstärkt auf »Prozesse, auf Subjekte und auf Kontexte«, kurz: den pragmatischen Aspekt des Textverstehens gerichtet hat,106 wurden in der psychologischen Forschung behavioristische ›stimulus-and-response‹-Modelle aufgegeben zugunsten der »Idee, daß menschliches Verhalten nicht durch äußere Stimuli, sondern vielmehr durch innere Pläne und Handlungsschemata organisiert wird«.107 Als weithin akzeptierte »Grundannahme«108 bzw. »Rahmentheorie«109 der Textverstehensforschung gilt heute der »kognitive Konstruktivismus«: 104 Groeben, Vorderer: Leserpsychologie, S. 121. 105 Vgl. Ursula Christmann: Aspekte der Textverarbeitungsforschung, in: Klaus Brinker, Gerd Antos, Wolfgang Heinemann, Sven F. Sager (Hg.): Text- und Gesprächslinguistik. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung. 1. Halbband, Berlin, New York 2000, S. 113–122, hier S. 113, sowie Viehoff: Verstehen, S. 6. 106 Viehoff: Verstehen, S. 5f. 107 Ebd., S. 6. Modelle, die den Leser als »reizkontrolliert und input-abhängig konzipieren«, finden sich auch in der älteren Wirkungsforschung, wie Michael Charlton: Rezeptionsforschung als Aufgabe einer interdisziplinären Medienwissenschaft, in: ders., Silvia Schneider (Hg.): Rezeptionsforschung. Theorien und Untersuchungen zum Umgang mit Massenmedien, Opladen 1997, S. 16–39, hier S. 19 zeigt. 108 Ebd., S. 7. 109 Christmann: Textverarbeitungsforschung, S. 113.
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»Unter kognitiver Konstruktivität ist zu verstehen, daß die Textrezeption nicht (nur) ein eher passives Aufnehmen im Sinne eines Decodierens von Textinformationen darstellt, sondern vor allem und konstitutiv eine aktive Textverarbeitung. Diese Verarbeitung ist dadurch gekennzeichnet, daß der Leser über das unmittelbar bzw. direkt im Text Ausgesagte hinaus Schlußfolgerungen zieht, ja selbst Informationen aus seinem ›Weltwissen‹ heranzieht und (mit der Textinformation) integriert. Insofern erweist sich Textverarbeitung wie jegliches Sinnverstehen letztlich auch als Sinnkonstruktion.«110
Dieser Ansatz grenzt sich nicht nur gegenüber dem Reiz-Reaktions-Schema des Behaviorismus ab, sondern gleichermaßen gegen die Position eines »Radikalen Konstruktivismus«, der einseitig die Rolle des Lesers betont und darüber den Einfluss des Textes vernachlässigt.111 Gemeinsam ist den konstruktivistischen Ansätzen die Betonung der aktiven Rolle des Lesers. Die größte Plausibilität kommt in diesem Spektrum allerdings den Positionen zu, die das Textverstehen »als Interaktion zwischen einem vorgegeben Text und der Kognitionsstruktur des/der Rezipienten/in« auffassen,112 als Zusammenspiel von bottom-up-Prozessen, also dem Einfluss textueller Informationen auf den Rezeptionsprozess, und top-down-Prozessen, dem wissensgesteuerten Einfluss des Lesers.113 Lesen wird innerhalb der psychologischen Textverarbeitungsforschung als komplexer Prozess begriffen, der analytisch auf verschiedenen Ebenen zu beschreiben ist. Diese reichen von »Teilprozessen der Buchstaben- und Worterkennung über die syntaktische und semantische Analyse von Wortfolgen bis zum satzübergreifenden Aufbau einer kohärenten Textstruktur«.114 Die konstruktive Leistung des Lesers beginnt dabei bereits vor Verarbeitung 110 Groeben, Vorderer: Leserpsychologie, S. 3. Vgl. außerdem Norbert Groeben, Diethelm Wahl, Jörg Schlee u. a.: Das Forschungsprogramm Subjektive Theorien. Eine Einführung in die Psychologie des reflexiven Subjekts, Tübingen 1988, S. 11–17. 111 Vgl. zur Kritik am Radikalen Konstruktivismus insbesondere in der Theorie von Siegfried J. Schmidt die Anmerkungen von Groeben und Vorderer: Leserpsychologie, S. 151–154. 112 Christmann: Textverarbeitungsforschung, S. 113. 113 Vgl. hierzu Viehoff: Verstehen, S. 7f. Die spezifische Interaktionsweise zwischen Text und Leser lässt sich auch als »transaktional« bezeichnen, insofern ein vorliegender Text in seiner graphemischen, syntaktischen und semantischen Struktur keine Veränderung durch den Leser erfährt. »Aber«, so Charlton: Rezeptionsforschung, S. 21, »die konstruktiven […] Prozesse bei der Kommunikatbildung interagieren mit den von der Reizgrundlage aufwärts gerichteten Verarbeitungsprozessen. Es handelt sich demnach um eine innerpsychische Transaktion, nicht um eine Transaktion zwischen Reiz und reizverarbeitendem Subjekt.« 114 Tobias Richter, Ursula Christmann: Lesekompetenz: Prozessebenen und individuelle Unterschiede, in: Norbert Groeben, Bettina Hurrelmann (Hg.): Lesekompetenz. Bedingungen, Dimensionen, Funktionen, Weinheim, München 2006, 25–58, hier S. 28. Vgl. außerdem Ursula Christmann, Margit Schreier : Kognitionspsychologie der Textbearbeitung und Konsequenzen für die Bedeutungskonstitution literarischer Texte, in: Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Mat&as Mart&nez u. a. (Hg.): Regeln der Bedeutung. Zur Theorie der Bedeutung literarischer Texte, Berlin u. a. 2003, S. 246–285, hier S. 247f.
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semantischer Informationen, indem beispielsweise Tippfehler »korrigiert« werden, ohne dass dies dem Leser eigens bewusst wird.115 Lesen ist demnach nicht nur die Decodierung semantischer Informationen; vielmehr verhält es sich so, »daß im Verarbeitungsprozeß über den unmittelbar gegebenen semantischen Input hinausgegangen und die sprachliche Information mittels Schlußfolgerungsprozessen mit dem bereits vorhandenen Wissen integriert wird«.116 Solche Inferenzen lassen sich auf allen Ebenen des Textverstehens nachweisen.117 Für die Erklärung der Prozesse des Verstehens kürzerer Textabschnitte haben sich in der Textverstehensforschung Modelle als valide erwiesen, die von einer propositionalen Textverarbeitung ausgehen.118 Bereits auf Satzebene werden dessen Elemente »auf der Grundlage ihrer semantischen Relationen« vom Leser zu propositionalen Einheiten zusammengefasst, d. h. zu einer Struktur aus »einem Prädikat (Zustände, Ereignisse, Eigenschaften) und den von ihm implizierten Argumenten (Objekten, Personen, Sachverhalte)«.119 Anhand solcher Propositionen wird dann eine »Textbasis« erstellt, die Propositionen in eine hierarchische Ordnung gebracht.120 Auch hier spielt das Wissen des Lesers eine Rolle, insofern die Verknüpfung von Propositionen nicht allein auf Grund des Textes erfolgt, sondern ebenso »das allgemeine Weltwissen zur Bedeutungskonstitution im Sinne einer Herstellung von lokaler Kohärenz genutzt werden [kann]«.121 Zum Verständnis längerer Textabschnitte bedarf es auf Grund der begrenzten Kapazität des Gedächtnisses verschiedener »Reduktionsoperationen«, mit Hilfe derer sogenannte »Makrostrukturen« gebildet werden. Die Reduktion erfolgt insbesondere durch »Auslassen, Generalisieren, Selegieren und Konstruieren«. Wiederum spielt das Welt- und Vorwissen des Lesers bei diesen Operationen
115 Vgl. Strasen: Rezeptionstheorien, S. 30. 116 Christmann: Textverarbeitungsforschung, S. 115. 117 Christmann, Schreier : Kognitionspsychologie, S. 255 nennen in einer als beispielhaft verstandenen Aufzählung die Inferenztypen »Referenz, Kasusrolle, kausale Ursache, Handlungsziel, Thema, Emotionen von Akteuren, kausale Folgen, Konzeptkategorien, Instrument, Teilhandlung, nicht-kausale Merkmale von Teilhandlungen und Personen, kommunikative Intentionen des/der Autors/in, Emotionen der Rezipienten/innen eines Textes«. Ich werde auf das Problem der Inferenzen ausführlicher im Abschnitt Kontexte – Kontextualisierungen zurückkommen. 118 Vgl. u. a. ebd., S. 250. 119 Christmann: Textverarbeitungsforschung, S. 114. 120 Ebd., S. 116. 121 Christmann, Schreier : Kognitionspsychologie, S. 252. Hinweise hierzu bieten unter anderem Untersuchungen, in denen gezeigt werden konnte, dass sich Rezipienten an mehr ›erinnern‹, als sie tatsächlich gelesen bzw. gehört haben. Vgl. Christmann: Textverarbeitungsforschung, S. 115.
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eine Rolle, ebenso wie augenblickliche Lesemotivationen und Leseinteressen den Prozess beeinflussen können.122 Zur Erklärung der Integration von Propositionen und Wissen des Lesers bietet sich die seit Mitte der 1970er Jahre entwickelte Schematheorie an. »Schemata« lassen sich verstehen »als durch Erfahrung gebildete Auffassungen von erwartbaren Eigenschaften, Handlungen, Handlungsverläufen und Ereignissen in Situationen.«.123 Solche Schemata weisen einen unterschiedlichen Abstraktionsgrad auf; sie können sowohl Vorstellungen von Gegenständen oder Personen beinhalten oder auch in Form von »story schemata« Wissen über bestimmte Situationen bereitstellen.124 Im Umgang mit literarischen Texten haben Schemata beispielsweise auch als Wissen um bestimmte Gattungskonventionen Bedeutung. Grundsätzlich dienen Schemata der Kohärenzbildung, indem sie ein »Organisationsraster für die neu aufzunehmenden Informationen« bereitstellen.125 Dabei greifen auch hier top-down- und bottom-up-Prozesse ineinander : Die Informationen, die ein Text bereit stellt, aktivieren Schemata des Lesers, der hiervon ausgehend in Form von Inferenzen und Elaborationen Hypothesen über zu erwartende folgende Informationen entwickelt und durch den Text nicht vollständig determinierte Aspekte – mit Ingarden zu reden »Unbestimmtheitsstellen« – überbrückt und ausfüllt.126 Die Kognitionsforschung nimmt an, dass Schemata »sozial hochkonsensuell sind, sie also weder vom Subjekt unsinnig eingesetzt werden noch eine willkürliche Anwendung den Beifall anderer Leser findet«.127 Gleichwohl lassen sich für komplexere Texte kaum verlässliche Vorhersagen darüber machen, welche Schemata tatsächlich aktiviert werden. Der Grund ist darin zu sehen, dass bei der Anwendung zumindest komplexerer Schemata »Verstehens-Strategien des Subjekts eine bedeutsame Rolle spielen«, die nach Maßgabe individueller Leseinteressen und Bedürfnisse eingesetzt werden.128 Gegenüber Versuchen, das Verhältnis von Textvorgaben und leserseitigen Einflussgrößen mittels theoretischer Modelle eindeutig festzuschreiben, ist insofern Vorsicht geboten.129 Wenn die Annahme des Konstruktivismus richtig ist, 122 123 124 125 126 127 128 129
Christmann: Textverarbeitungsforschung, S. 116. Viehoff: Verstehen, S. 11. Vgl. ebd. sowie Christmann: Textverarbeitungsforschung, S. 117. Christmann: Textverarbeitungsforschung, S. 118. Vgl. Christmann, Schreier : Kognitionspsychologie, S. 258 sowie Viehoff: Verstehen, S. 11. Viehoff: Verstehen, S. 15. Ebd., S. 11f. Vgl. hierzu Groeben, Vorderer : Leserpsychologie, S. 235f. und Christmann, Schreier : Kognitionspsychologie, die diesen Aspekt an die empirische Forschung verweisen. Als Beispiel entsprechender empirischer Forschung lässt sich unter anderem Graf: Lektüre, nennen, der eine »Tendenz zur relativen Autonomie des Rezeptionsverhaltens im Verhältnis
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dass »der Sinn [literarischer Texte, M.L.] hergestellt wird durch Bezugnahme auf weitere sprachliche und nicht-sprachliche Zusammenhänge«,130 dann ist die Frage nach eben diesen Zusammenhängen entscheidend. Dem werde ich anhand des Begriffs der Kontextualisierung nachgehen.
2.1.3 Kontexte – Kontextualisierungen Von Tilmann Köppe und Simone Winko in den Rang eines literaturtheoretischen Grundbegriffs erhoben,131 kommt dem Begriff des Kontextes bzw. dem Prozess der Kontextualisierung auch in der Rezeptionsforschung ein zentraler Stellenwert zu. Sven Strasen geht soweit, vom »für die Rezeptionstheorie entscheidende[n] Feld der Kontextualisierung« zu sprechen,132 innerhalb dessen der Austauschprozess zwischen textseitigen und wissensseitigen Faktoren der Rezeption zu erklären ist. Das »Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft« definiert »Kontext« als »[d]ie Menge der für die Erklärung eines Textes relevanten Bezüge«.133 Aus rezeptionswissenschaftlicher Perspektive ist diese Definition unbefriedigend, insofern die Frage, »welche Kontexte jeweils als besonders wichtig aufgefasst werden«, selbst als mögliches Unterscheidungsmerkmal von Literaturtheorien dienen kann.134 Die Definition im »Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie« ist nicht weniger problematisch; dort gilt alles das als »Kontext«, »was zu
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zur Textintention« und eine »Loslösung des Leseverhaltens von den Rezeptionssignalen des Textes« erkennt (S. 201). Peter J. Brenner: Das Problem der Interpretation. Eine Einführung in die Grundlagen der Literaturwissenschaft, Tübingen 1998, S. 288. Ebd., S. 286–288, finden sich auch Begründungen zur Relevanz von Kontextanalysen jenseits der rezeptionswissenschaftlichen Forschung. Köppe, Winko: Literaturtheorien, S. 13. Als Indikator kann die Aufnahme des Begriffs in Standardnachschlagewerke der Literaturwissenschaft gelten. So führen sowohl das »Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft«, das »Metzler Lexikon Literatur« als auch das »Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie« entsprechende Einträge. Strasen: Rezeptionstheorien, S. 41. Lutz Danneberg: Art. Kontext, in: Harald Fricke (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 2: H–O, Berlin u. a. 2000, S. 333–337, hier S. 333. Vgl. Köppe, Winko: Literaturtheorien, S. 13. Für einen historischen Überblick zum TextKontext-Problem in der Literaturwissenschaft anhand verschiedener Konzeptualisierungen des Verhältnisses von Literatur und Gesellschaft vgl. Brenner : Interpretation, S. 291– 321. Für eine Systematik von Kontextualisierungsstrategien in der Literaturtheorie vgl. Jürgen Fohrmann: Textzugänge. Über Text und Kontext, in: Scientia Poetica 1997, Bd. 1, S. 207–223. Für einen neueren systematischen Versuch zur Klärung des Text-KontextProblems aus interpretationstheoretischer Perspektive vgl. Jan Borkowski: Literatur und Kontext. Untersuchungen zum Text-Kontext-Problem aus textwissenschaftlicher Sicht, Münster 2015.
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einem Text gehört, damit dieser angemessen verstanden wird«.135 Zwar ist Dieter Burdorf zuzustimmen, wenn er die »methodisch reflektierte Anwendung« von Kontextualisierungen zum »notwendige[n] Bestandteil jeder Interpretation« erklärt.136 Gleichwohl ist zwischen einem interpretationstheoretischen und einem rezeptionstheoretischen Kontextbegriff zu unterscheiden. Der interpretationstheoretische Begriff meint primär den Kontext des literarischen Textes. Er bezieht sich unter anderem auf die politische oder soziale Situation der Entstehungszeit des Textes, auf Aspekte der Biographie des Autors oder auf literaturimmanente Faktoren wie die Gattungsgeschichte. Entscheidend für die interpretative Auswahl von Kontexten sind unterschiedlich spezifizierte Kriterien der Relevanz oder der Adäquatheit, wobei die zentralen Bezugspunkte zum einen der Text, zum anderen das präferierte theoretische Literaturmodell sind. Der rezeptionswissenschaftliche Kontextbegriff hingegen fragt nach den Kontextualisierungsprozessen, die Leser im Umgang mit literarischen Texten vornehmen. Kontexte in diesem Sinn sind unter anderem abhängig vom Wissen, den Interessen oder auch dem theoretischen Standpunkt des jeweiligen Rezipienten.137 Ob beispielsweise para- und intertextuelle Merkmale wie die Gattungszugehörigkeit als Kontext relevant für die Interpretation eines Textes sind, ist eine ganz andere Frage als die, ob einzelne Rezipienten diese Signale wahrnehmen und ob sie sie in ihre Beurteilung des Textes einbeziehen. Innerhalb der Interpretationstheorie geht es mithin um eine normative Begründung angemessener Interpretations- und Kontextualisierungsregeln, während es in der Rezeptionstheorie um die Beschreibung realer Kontextualisierungspraktiken geht. Das Ziel empirischer Rezeptionsforschung muss es demnach sein, allererst herauszufinden, welche Kontexte für eine Person oder Personengruppe überhaupt eine Rolle spielen. Kontexte sind deshalb rezeptionswissenschaftlich zu beschreiben als alles, was Einfluss auf die Interpretation oder Wertung eines 135 Klaus Peter Müller: Art. Kontext, in: Ansgar Nünning (Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe, Stuttgart, Weimar 2013, S. 400–401, hier S. 400. 136 Dieter Burdorf: Art. Kontextualisierung, in: Dieter Burdorf, Christoph Fasbender, Burkhard Moennighoff (Hg.): Metzler Lexikon Literatur. Begriffe und Definitionen, Stuttgart, Weimar 2007, S. 398. Ebenso Lutz Danneberg: Interpretation: Kontextbildung und Kontextverwendung. Demonstriert an Brechts Keuner-Geschichte Die Frage, ob es einen Gott gibt, in: Siegener Periodicum zur internationalen empirischen Literaturwissenschaft [SPIEL], 1990, Jg. 9, H. 1, S. 89–130, hier S. 89: »Strenggenommen ist jede Textinterpretation kontextbezogen«. 137 Vgl. auch Alexander Starre: Kontextbezogene Modelle: Bildung, Ökonomie, Nation und Identität als Kanonisierungsfaktoren, in: Gabriele Rippl, Simone Winko (Hg.): Handbuch Kanon und Wertung. Theorien, Instanzen, Geschichte, Stuttgart, Weimar 2013, S. 58–66, hier S. 58: »Dieser relationale Begriff [»Kontext«, M.L.] ist somit eng an die jeweilige Beobachterposition bzw. den angenommenen Standpunkt gebunden«.
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Textes haben kann oder tatsächlich hat.138 Der Begriff der Kontextualisierung bezeichnet den Prozess der »Ergänzung von Textbasen mit Elementen des Weltwissens aus dem rezipientenseitigen Wissensbestand«139 und die Anpassung und Integration von »Textbedeutungen« an das Wissen, die Interessen und die Situation des Lesers. In der Terminologie der Textverstehensforschung handelt es sich um die Frage, welche Inferenzen Leser bei der Lektüre literarischer Texte bilden und welche Reichweite diese Inferenzen haben. Inferenzen werden definiert als »Schlussfolgerungen […], bei denen Rezipienten/innen ihr Welt- und Vorwissen sowie ihre Kenntnis des situativen Kontextes einbringen«140, was Rückwirkungen auf die Bedeutungskonstruktion durch den Leser hat.141 Die Inferenzforschung unterscheidet dabei zwischen »minimalen« und »elaborativen« Inferenzen.142 »Minimale Inferenzen« sind »logisch zwingende Inferenzen, die weitgehend automatisch ablaufen und zum Verständnis des kohärenten Textsinns unabdingbar sind«.143 Zu ihnen zählen »referentielle[…] Bezüge, […] Kasusrollen sowie [die] kausalen Ursachen von Ereignissen«.144 Diese Form von Inferenzen wird nur in Ausnahmefällen der Grund für unterschiedliche Interpretationen eines Textes sein, da Differenzen ab einem gewissen Grad von Lesekompetenz weitgehend ausgeschlossen werden können.145 Interesse für diese Art von Inferenzen besteht daher auch eher auf Seiten einer Rezeptionsforschung, die sich der »spezifische[n] Prozeßqualität der literarischen Rezeption« widmet und sich von einer wie hier am »inhaltlichen Produkt [des] Textverstehens« interessierten Forschung unterscheiden lässt.146 Entscheidend für den vorliegenden Zusammenhang sind die »elaborativen Inferenzen«, »die eine Stufe höher ansetzen als die engen Inferenzen, indem sie eine Verbindung des kohärenten Textsinns mit dem Vorwissen schaffen«.147 Dies geschieht nicht zuletzt in Abhängigkeit von den Interessen und Zielen des Le138 Vgl. Hans-Jörg Schmid: An outline of the role of context in comprehension, in: Ewald Mengel, Hans-Jörg Schmid und Michael Steppat (Hg.): Anglistentag 2002 Bayreuth. Proceedings, Trier 2003, S. 435–445, hier S. 435: »[C]ontext will be understood as anything that can have influence on the interpretation of an utterance«. 139 Strasen: Rezeptionstheorien, S. 125. 140 Christmann, Schreier : Kognitionspsychologie, S. 261. 141 Vgl. Arthur C. Graesser, Murray Singer, Tom Trabasso: Constructing Inferences During Narrative Text Comprehension, in: Psychological Review, 1994, Jg. 101, S. 371–395, hier S. 374. 142 Christmann, Schreier 2003: Kognitionspsychologie, S. 255. In anderer Terminologie, jedoch ohne Unterschiede in der Sache, wird zwischen »text-connecting« und »extratextual inferences« unterschieden. Vgl. Graesser, Singer, Trabasso: Inferences, S. 376. 143 Christmann, Schreier 2003: Kognitionspsychologie, S. 255. 144 Ebd. 145 Eine Ausnahme wäre zum Beispiel ein ambiges Pronomen an zentraler Stelle eines Textes. 146 Diese Unterscheidung treffen Groeben, Vorderer: Leserpsychologie, S. 196. 147 Christmann, Schreier : Kognitionspsychologie, S. 255.
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sers, die mit der Lektüre eines bestimmten Buches verbunden sind.148 Sowohl das Wissen als auch die Absichten des Lesers sind demnach wesentlich an der Rezeption von Texten beteiligt: »Die Leser/innen können wählen, ob sie einen Text oberflächlicher oder tiefer verarbeiten wollen, und werden in Abhängigkeit von dieser Ausgangssituation und dem verfügbaren Vorwissen mehr oder weniger weite Inferenzen ziehen«.149 Während die Inferenztheorie den Prozesscharakter des Lesens und die Abhängigkeit des Rezeptionsergebnisses von subjektiven Maßgaben auf Seiten des Lesers betont, ist der Begriff des Kontextes auch in seiner rezeptionswissenschaftlichen Ausprägung weiter gefasst, insofern er darüber hinausgehend auf Faktoren abzielt, die sich der Kontrolle des Lesers teilweise oder vollständig entziehen. Deutlich wird dies an Peter J. Brenners Diktum: »Der Kontext eines Textes ist nun aber zunächst ›die Welt‹«.150 Analog zu dieser Feststellung zum Text-Kontext-Verhältnis gilt aus rezeptionswissenschaftlicher Sicht, dass der Kontext des Leseaktes die Welt ist. Das ist tatsächlich so allumfassend gemeint, wie es sich anhört. Und so kommt auch Hans-Jörg Schmid zu dem Schluss: »Context is potentially infinite«. Dennoch besteht die Möglichkeit, ein wenig Ordnung zu schaffen und die potentiellen Kontexte zu systematisieren.151 1. Kontexte des Textes: Die Kontexte des Textes sind diejenigen Aspekte, denen bevorzugt das Interesse der Literaturwissenschaft gilt. Hierzu zählen insbesondere Phänomene der Intertextualität,152 also unter anderem die Zugehörigkeit zu bestimmten Genres oder Gattungen, motivische Bezüge zu anderen Texten, Zitate usw. Die Autorschaft lässt sich ebenfalls hierunter subsumieren: Nicht nur wer der Autor ist, sofern er überhaupt bekannt ist, sondern ebenso Informationen über seine Biographie, sein sonstiges Werk und über den Entstehungsprozess des in Frage stehenden Textes. Auch Kenntnisse über 148 Graesser, Singer, Trabasso: Constructing Inferences, S. 371. 149 Christmann, Schreier : Kognitionspsychologie, S. 256. 150 Brenner: Interpretation, S. 291. Vgl. hierzu auch die Feststellung von Danneberg: Interpretation, S. 102, dass »der Einbettung von Texten in Kontexte keine natürlichen Grenzen gezogen sind«. 151 In der literaturwissenschaftlichen Forschung gibt es zahlreiche Ansätze, Kontexte zu systematisieren, ohne dass sich eines dieser Modelle als maßgeblich durchgesetzt hätte. Auch die hier vorgestellte Systematik kann keinen derartigen Anspruch erheben, geschweige denn den, eine allgemeingültige Taxonomie zu sein. Sie stellt lediglich eine grobe Zusammenfassung bisheriger Ergebnisse dar. Für andere Modelle vgl. u. a. Walther Kindt, Siegfried Schmidt: Motivationen und Aspekte einer empirischen Literaturwissenschaft, in: Siegfried J. Schmidt (Hg.): Empirie in Kunst- und Literaturwissenschaft, München 1979, S. 7–42, hier S. 24–39; Danneberg: Interpretation, S. 101–105; Danneberg: Kontext, S. 333f. sowie Schmid: Context. 152 Vgl. Danneberg: Kontext, S. 334. Die ebd., S. 333f. beschriebenen intratextuellen und infratextuellen Kontexte als Beziehung von Textteilen zu anderen Textteilen oder zum Textganzen können hier vernachlässigt werden.
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die Entstehungszeit und die jeweiligen politischen, sozialen, ökonomischen, religiösen, technischen, wissenschaftlichen, kulturellen und literaturgeschichtlichen Umstände können zum Kontext des Textes gerechnet werden. Schließlich kann der Rezeptionsprozess durch paratextuelle Kontexte wie die Gattungsbezeichnung auf dem Titelblatt, den Verlagsnamen oder die Umschlaggestaltung beeinflusst werden.153 Dabei gilt es gegebenenfalls zwischen dem Kontext des Textes in seiner Entstehungszeit und dem Kontext des Textes in seiner jeweiligen Rezeptionszeit zu unterscheiden.154 2. Kontexte der Rezeptionszeit: Die Entstehungszeit eines literarischen Textes und die Zeit seiner Rezeption fallen nicht notwendig zusammen. Während die Entstehungsbedingungen und die Entstehungszeit eines literarischen Textes für die historisch-empirische Rezeptionsforschung nur unter Umständen von Interesse sind,155 ist die Auseinandersetzung mit der Rezeptionszeit unerlässlich. Die Rezeption von Literatur ereignet sich nicht in einem ahistorischen und gesellschaftsfreien Raum, sondern wird durch zahlreiche Umwelteinflüsse geprägt. Beachtung verdienen in diesem Zusammenhang zunächst die Ereignisse und Strukturen der Realgeschichte in allen ihren Facetten wie auch die anderen bereits bei den Kontexten des Textes genannten spezialgeschichtlichen Faktoren. Besondere Relevanz kommt dem zeitgenössischen Literatursystem zu, darunter nicht zuletzt den literaturvermittelnden Instanzen, also zum Beispiel der Literaturkritik, dem Buchhandel und den Bibliotheken, den Schulen und Universitäten. Unter Umständen kann auch die Zeit zwischen der Entstehung eines Textes und seiner Rezeption eine Rolle spielen, die durch Kanonisierungsprozesse oder editorische Eingriffe auf die Rezeption einwirken kann. 3. »Kulturelle Umwelt« und »idioculture«: Selbstverständlich sind nicht schlichtweg all jene Sachverhalte für einen einzelnen Leser von Bedeutung. Für die Rezeptionsforschung folgt daraus, sich auf die »kulturelle Umwelt« von Lesern zu konzentrieren. Kulturen lassen sich mit Schmid definieren als »knowledge and belief systems shared by groups (of whatever size) of people (of whatever similarities)«,156 wobei ein Individuum zahlreichen Kulturen 153 Der Begriff wurde in dieser Verwendungsweise von G8rard Genette in der Literaturwissenschaft etabliert. Die von ihm in seiner Studie »Palimpseste« beschriebenen Formen der Beziehung eines Textes zu anderen Texten können insgesamt zu den Kontexten des Textes gerechnet werden. Vgl. Genette: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe, Frankfurt a. M. 1993, S. 9–18. 154 Vgl. Derek Attridge: Context, Idioculture, Invention, in: New Literary History, 2011, Jg. 42, S. 681–699, hier S. 681. 155 Neben dem Fall der Zeitgenossenschaft von Rezipientin und Autorin gilt dies dann, wenn sich in den Rezeptionszeugnissen realer Leser eine Bezugnahme auf die Entstehungszeit nachweisen lässt. 156 Schmid: Context, S. 441.
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angehören kann.157 Die »kulturelle Umwelt« ist demnach die Gesamtheit der Kulturen, an denen ein Individuum partizipiert. Während der Begriff der »kulturellen Umwelt« eher als Beschreibungskategorie für die objektivierbaren Glaubens- und Wissenssysteme158 und Praktiken der entsprechenden Kollektive geeignet ist, steht bei dem von Attridge verwendeten Begriff der »Idiokultur« das Individuum selbst im Mittelpunkt: »An idioculture is the internal, singular manifestation of the broader cultural field, registered as a complex of particular preferences, capabilities, memories, desires, physical habits, and emotional tendencies«.159 Auch der Umgang mit Literatur ist geprägt von der »Idiokultur«, insofern Lesepraktiken, Präferenzen in der Wahl der Lektüre, Wertungskategorien und Funktionszuschreibungen vom mitunter divergierenden Umgang verschiedener Bezugspersonen und -kulturen beeinflusst sein können.160 Mit der Kategorie der »Idiokultur« wird zwar einerseits der potentielle Kontextbereich der Literaturrezeption eingegrenzt. Andererseits ist dieser Bereich weiterhin derart groß, dass er die Rezeptionsforschung an ihre Grenzen bringt, insofern hier die nicht rekonstruierbare und objektivierbare Totalität der individuellen Biographie thematisch wird.161 Für die Rezeptionsforschung sind Reduktionen und Zuspitzungen insofern unumgänglich. In der Analyse von Rezeptionsdokumenten und in der Darstellung der Ergebnisse müssen die potentiellen, wahrscheinlichen und tatsächlichen Kontexte begrenzt werden.162 Die Entscheidung für bestimmte Kontexte wird dabei stets einen gewissen Grad an Willkür enthalten und nicht zuletzt durch 157 Die Mitglieder der Jugendbewegung wären demgemäß nicht nur als Angehörige eines bestimmten Bundes zu beschreiben, sondern auch als Angehörige des Bürgertums, als Schüler, Studenten oder Arbeitnehmer in einem bestimmten Beruf, als Mitglieder anderer sozialer Netzwerke neben der Jugendbewegung, als Angehörige einer bestimmten Konfession usw. 158 Hierzu gehören auch das sprachliche Wissen, das Weltwissen, literarisches Wissen und Spezialwissen einer Zeit, bzw. die Partizipation an und Internalisierung von Teilen dieser Wissensbestände durch ein Individuum oder eine Gruppe. Vgl. zu den Wissensformen als Kontext auch Kindt, Schmidt: Motivationen, S. 25. 159 Attridge: Context, S. 683. 160 Ein Schüler hat womöglich in seiner Freizeit andere Leseinteressen als die in der Schule erwartete Lektüre zu befriedigen vermag, und eine Literaturwissenschaftlerin bevorzugt unter Umständen ebenfalls andere Texte, als ihre Arbeit sie zu lesen zwingt. Durch den Einbezug zahlreicher biographischer Stationen, unterschiedlicher sozialer Rollen und prägender Bezugspersonen ist die Komplexität des Phänomens in der Realität freilich deutlich höher als in diesen trivialen Beispielen. 161 Auch wenn die Kontextualisierung von Literatur nie im Rahmen der vollständigen »Idiokultur« stattfindet, sind die zahllosen Einflüsse der individuellen Biographie zumindest als Potentialität mitzudenken. 162 In der interpretationstheoretischen Kontextforschung ist es nicht anders; vgl. hierzu Brenner: Interpretation, S. 291.
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die eigene (wissenschaftliche) Lesebiographie der Rezeptionshistorikerin bestimmt sein. Da die Analyse von Rezeptionsdokumenten selbst auf Rezeptions- und Kontextualisierungsprozessen aufbaut, gelten für sie dieselben Annahmen wie für jeden anderen Leser auch. 4. Situative Kontexte: Die Rezeption literarischer Texte wird nicht nur durch den Text, die Kontexte des Textes und die relativ stabilen und dauerhaften Strukturen der »Idiokultur« beeinflusst, sondern auch durch den Kontext der unmittelbaren Rezeptionssituation.163 Hierzu zählen zum Beispiel Anlass und Zweck der Lektüre eines bestimmten Buches. Die Rezeption kann ebenso durch die situativen Umstände geprägt sein, in denen ein Buch gelesen wird, womit sowohl die spezifischen Lebensumstände zu einem bestimmten Zeitpunkt gemeint sind164 als auch Lesezeit und Leseort.165 Weiterhin können Stimmungen und Gefühle die Rezeption beeinflussen.166 Als Kontext wird in dieser Arbeit also zunächst alles bezeichnet, worauf durch die Bildung von Inferenzen Bezug genommen wird. Dieser Vorgang lässt sich daher auch als Kontextualisierung bezeichnen. Zum anderen gehört zum Kontext aber auch all das, was die Bildung von Inferenzen beeinflusst, also beispielsweise die Lektüresituation, die Idiokultur der Leserin, die vorherige Rezeptionsgeschichte eines Textes, die Zeitumstände usw. Allerdings ist nicht davon auszugehen, dass Kontextualisierung und Einfluss des Kontextes auf die Bildung von Inferenzen Prozesse sind, die mit jedem einzelnen Lektüreakt vollständig neu ansetzen;167 die Psyche des Lesers ist keine tabula rasa, in die sich der rezipierte Text voraussetzungslos und vorurteilsfrei einprägen würde. Vielmehr ist davon auszugehen, dass die Rezeption literarischer Texte zu einem gewissen Teil immer durch relativ stabile und konstante Einstellungen geprägt ist, die unabhängig vom jeweiligen Rezeptionsobjekt Bestand haben und die sowohl die Auswahl des Lesestoffes bedingen als auch auf die Interpretation und Wertung gelesener Texte einwirken. In der Rezeptionsforschung und darüber 163 Vgl. hierzu auch Graf: Lektüre, S. 200, der dafür plädiert, »das Lesen nicht als fixiertes Verhalten zu beschreiben, sondern als relativ offene, flexible, an Situationen und Lebenslagen anpassbare Handlungsmöglichkeit«. 164 Vgl. hierzu auch die Hinweise ebd., S. 200f. zur »biografische[n] Dimension des Lesens«, zur »biografischen Flexibilität des Leseverhaltens« und zur »Wechselwirkung von Lesen und Lebensverlauf«. 165 Graf spricht in diesem Zusammenhang ebd., S. 205, davon, dass »[e]in oft unterschätzter Teil der Medienpraxis […] situativ überformt [ist]«. Die Rezeptionssituation verdient auch deswegen Beachtung, weil analog zur Konstruktion eines »idealen Lesers« in Teilen der Rezeptionsforschung ebenfalls »oft implizit eine ideale Kommunikationssituation unterstellt [wird]«, so Graf ebd., S. 202. 166 Vgl. Schmid: Context, S. 439f. 167 Dies ist allerdings das Ideal der Literaturwissenschaft, die Texten dadurch gerecht werden will, dass sie sie von ihren eigenen Voraussetzungen und Bezugssystemen her untersucht.
Zum Begriff des Literaturkonzepts
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hinaus lassen sich verschiedene Kategorien ausmachen, die der Beschreibung derartiger Einstellung dienen sollen. Besonders geeignet zur Darstellung kollektiver Einstellungen zu Literatur und literarischen Texten ist unter diesen der Begriff des Literaturkonzeptes.
2.2
Zum Begriff des Literaturkonzepts
2.2.1 Explikation des Begriffs »Literaturkonzept« Der Begriff des Literaturkonzeptes begegnet in literaturwissenschaftlichen Publikationen immer wieder einmal, meist jedoch ohne eine terminologische Klärung. Eine Sichtung von Sammelbänden und Monographien, die den Ausdruck im Titel führen, zeitigt immerhin das Ergebnis, dass er besonders dann Verwendung findet, wenn in den literaturbezogenen Auffassungen einer Person oder einer Gruppe ein deutlicher Zusammenhang mit außerliterarischen Aspekten vorgefunden wird, meist in Form politischer Wirkungsabsichten.168 Eine Ausnahme bildet ein Aufsatz von Cees van Rees über die Wertungspraxis von Literaturkritikern, der den Begriff als Terminus mit einer bestimmten Bedeutung einführt.169 Kritiker, so van Rees, machten 168 Vgl. Michael Vogt: Vorwort, in: ders., Detlev Kopp (Hg.): Literaturkonzepte im Vormärz. Forum Vormärz Forschung 2000, Bielefeld 2001, S. 19–21, der auf S. 19 seiner Einleitung vom Bestreben der Autoren des Vormärz spricht, »Kunst und Leben, Literatur und Politik in möglichst enge Verbindung miteinander zu bringen«, ohne hierbei allerdings explizit auf den im Titel geführten Begriff des Literaturkonzeptes Bezug zu nehmen. Auch Jin Ho Hong: Das naturalistisch-szientistische Literaturkonzept und die Schloßgeschichten Eduard von Keyserlings, Würzburg 2006, verzichtet auf eine terminologische Klärung, so dass er ohne erkennbare Differenzierung auf derselben Seite vom »Literaturkonzept«, »literarischem Konzept« und »poetologischem Konzept« sprechen kann (S. 19). Aber auch hier wird eine starke Orientierung an außertextuellen Sachverhalten erkennbar, insofern es ihm besonders um naturwissenschaftliche und literaturgeschichtliche Einflüsse auf das Schreiben Eduard von Keyserlings zu tun ist und um die Rekonstruktion von Autorintentionen. Martina Willemsen: Fritz Mordechai Kaufmann und die »Freistatt«. Zum alljüdischen Literaturkonzept einer deutsch-jüdischen Monatsschrift, Tübingen 2007, verwendet – wiederum unter Verzicht auf eine Explikation der Ausdrücke – »Literaturbegriff« und »Literaturkonzept« zumindest teilweise synonym. Literatur wird in dieser Studie als Mittel zur Propaganda und zur Bildung einer alljüdischen Identität präsentiert. Christiane Schulz: Aspekte der Schillerschen Kunsttheorie im Literaturkonzept Dostoevskijs, München 1992, geht es um den Stellenwert philosophischer und weltanschaulicher Fragen in der Poetologie Dostojewskis und um Aspekte der Wirkung von Literatur. 169 Vgl. außerdem Ralf Schneider: Feministische Literaturkonzeptionen im Kontext viktorianischer feminist periodicals, in: Andrea Gutenberg, Ralf Schneider (Hg.): Gender – Culture – Poetics: Zur Geschlechterforschung in der Literatur- und Kulturwissenschaft, Trier 1999, S. 449–471, der den Begriff in seiner terminologischen Verwendung von van Rees übernimmt.
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»in ihren kritischen Diskursen Gebrauch von einer bestimmten Literaturauffassung [›concept of literature‹]. Jede Literaturauffassung enthält eine Menge von normativen Prämissen und Definitionen, von denen man annimmt, daß sie die Art und Funktion von Literatur spezifizieren und die Techniken auszeichnen, mit deren Hilfe ein Text seine Funktion realisieren und seine spezifische Wirkung auf Leser ausüben soll«.170
Im Anschluss an Bourdieus Theorie des literarischen Feldes und vor dem Hintergrund zeitgenössischer Versuche, die Literaturwissenschaft zu einer empirischen Wissenschaft umzugestalten, geht es ihm um die Beantwortung der Frage, worauf sich die journalistischen und akademischen Kritikern zugeschriebene Kompetenz und Autorität gründet, literarische Texte zu beurteilen und zu bewerten. Van Rees These, jeder Literaturkritiker mache in seinen Werturteilen immer von einem »Literaturkonzept« Gebrauch, zielt darauf ab, diese Kompetenz in Zweifel zu ziehen. Als problematisch erscheint ihm besonders der Schluss von (vermeintlich) deskriptiven Aussagen auf normative Werturteile, gilt ihm doch bereits die Wahl einer bestimmten Terminologie und eines methodischen Instrumentariums als Ausdruck eben jenes im Verborgenen wirkenden Literaturkonzeptes.171 Der damit einhergehende ideologiekritische Impetus wirkt derweil fast naiv, wenn van Rees beispielsweise schreibt: »Ob ein Text aufgrund der Anwesenheit einer Technik positiv (als Meisterwerk) oder negativ (als altertümlich und konventionell) gewertet wird, ist abhängig von der benutzten Literaturauffassung, das heißt von der Bewertung der einem Text 170 Cees van Rees: Wie aus einem literarischen Werk ein Meisterwerk wird. Über die dreifache Selektion der Literaturkritik, in: Peter Finke, Siegfried J. Schmidt (Hg.): Analytische Literaturwissenschaft, Braunschweig u. a. 1984, S. 175–202, hier S. 177. Für eine ein Jahr früher publizierte, nicht identische englischsprachige Fassung des Aufsatzes siehe van Rees: How a literary work becomes a masterpiece: On the threefold selection practiced by literary criticism, in: Poetics, 1983, Jg. 12, S. 397–414. Die dort verwendete Terminologie ist »concept of literature«. Der englische Terminus ließe sich auch mit »Literaturbegriff« übersetzen, doch soll in dieser Arbeit strikt zwischen »Literaturkonzept« und »Literaturbegriff« unterschieden werden. Vgl. hierzu weiter unten, S. 64f. 171 Vgl. Rees: Literaturkritik, S. 189: »Die normative Art der Literaturauffassung impliziert, daß neutral aussehende Begriffe, die für deskriptive Ziele brauchbar erscheinen, nur scheinbar einen neutralen, deskriptiven Charakter haben. […] Angesichts des eigenartigen Verhältnisses zwischen der scheinbar neutralen und der normativen Bestimmtheit des Begriffsapparats, den eine Literaturauffassung enthält, kann ein Kritiker die Meinung vertreten, daß es einen engen – das heißt begründeten – Zusammenhang gibt zwischen dem Werturteil über einen Text und den Eigenschaften, die an einem Text festzustellen sind. Mit der mehr oder weniger expliziten Präsentation eines Qualitätsurteils über den von ihm besprochenen oder analysierten Text beruft sich der Kritiker darauf, daß das betreffende Qualitätsurteil sich gründet auf als gültig angesehene deskriptive Behauptungen über Eigenschaften und Techniken und die in beiden für inhärent angesehenen Werte. Man meint also, daß der Text aufgrund der An- bzw. Abwesenheit von bestimmten ›Techniken‹ (›Eigenschaften‹) einen spezifischen Wert erhält, der zu dem entsprechenden Werturteil führt. Kritiker sind der Meinung, daß deskriptive, interpretative und evaluative Aussagen lückenlos zusammenhängen. Aber diesen Zusammenhang gibt es nicht.«
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zugeschriebenen Technik«.172 Im Klartext ist damit nicht mehr gesagt, als dass Werturteile auf Werturteilen beruhen. Zwar hat van Rees Recht, wenn er darauf aufmerksam macht, dass zwischen deskriptiven und evaluativen Aussagen kein ›natürlicher‹ Zusammenhang besteht. Gleichwohl lassen sich die Zusammenhänge zwischen Deskription und Wertung in literaturkritischen Texten durch die Rekonstruktion von »Wertsystemen« und »Werthierarchien« beschreiben und analysieren.173 Van Rees hingegen spricht nur vage von »bestimmten Argumentationstechniken«, die durch den »Gebrauch einer Literaturauffassung [impliziert]« würden,174 wobei »die Anhänger einer Literaturauffassung […] ›Plausibilität‹ und ›Gültigkeit‹ als austauschbare Konzepte durcheinanderbringen«.175 Dabei bleibt ungesagt, dass wenigstens Literaturwissenschaftlerinnen sich in aller Regel durch die terminologische Einführung von Begriffen mittels Explikation oder Definition gegen willkürliche Begriffsverwendungen abzusichern suchen und so nicht nur Plausibilität, sondern auch intersubjektive Gültigkeit fordern zu können beanspruchen.176 Ermöglicht wird das Ausbleiben einer Auseinandersetzung mit den spezifischen Regeln akademischer und journalistischer Literaturkritik dadurch, dass van Rees zur Differenzierung lediglich die »Zeitintervalle zwischen der Veröffentlichung eines Textes und dem Zeitpunkt, an dem er Objekt eines literaturkritischen Diskurses wird«, nutzt.177 172 Ebd., S. 188. 173 Zur Terminologie vgl. Renate von Heydebrand, Simone Winko: Einführung in die Wertung von Literatur. Systematik – Geschichte – Legitimation, Paderborn u. a., S. 73–77. Vgl. ausführlicher zum Problem der Wertung von Literatur Kapitel 8 der vorliegenden Arbeit. 174 Rees: Literaturkritik, S. 189. Als Beispiele nennt er ebd. »den Analogieschluß oder die dialektische Argumentation«. Des Weiteren führt er S. 191f. die rhetorische und selektive Verwendung von Zitaten als Argument für seine Position an. 175 Ebd., S. 191. 176 In der literaturkritischen Praxis, mehr noch aber in der journalistischen Literaturkritik ist das Fehlen ausführlicher Begriffsexplikationen und einer Darstellung der persönlichen literaturtheoretischen Positionen der Kritikerin nicht zuletzt durch pragmatische Gründe bedingt: »Zeit und Raum sind sowohl Autoren als auch den Lesern literaturwissenschaftlicher Texte nur begrenzt gegeben« (Alexander Löck, Jan Urbich: Einleitung. Der Begriff der Literatur – Theorie der Praxis, Praxis der Theorie, in: dies. (Hg.): Der Begriff der Literatur. Transdisziplinäre Perspektiven, Berlin u. a. 2010, S. 1–8, hier S. 3). 177 Rees: Literaturkritik, S. 180. Anhand dieses Kriteriums unterscheidet er S. 176 u. ö. zwischen »journalistischer, essayistischer und akademischer Kritik«. Im Anschluss an Bourdieu stellt van Rees S. 186 fest, dass sich literaturkritische Diskurse durch die Einhaltung bestimmter Bedingungen legitimieren: »Diese betreffen die verwendete Terminologie, die argumentativen Strategien, die mit den normativen Prämissen über Art und Funktion von Literatur verbunden sind und die Auswahl von Werken, die als geeignet für die Diskussion betrachtet werden. Damit solche Diskurse als Ausweis einer echten Kennerschaft in litteris anerkannt werden, müssen sie institutionellen Foren unterbreitet werden und deren genaue Prüfung überstehen.« Dagegen lässt sich schwerlich etwas einwenden. Dennoch bedürfte es einer genaueren Analyse der spezifischen Funktionsweisen und Diskursregeln der jeweiligen Formen von Literaturkritik, während van Rees sich in dieser Hinsicht mit Andeu-
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Weiterhin kann nicht außer Acht gelassen werden, dass niemand sich bar jeglichen Werturteils mit Literatur beschäftigen kann. Die Literatur gibt es nicht, sondern lediglich unzählige Texte, die unter diesen Begriff subsumiert werden.178 Sich mit diesen Texten zu beschäftigen setzt bereits Selektionen voraus, die zumeist Interessen oder Relevanzkriterien folgen, die aber auch pragmatisch damit zu rechtfertigen sind, dass das Textkorpus »der« Literatur die Kapazitäten eines einzelnen Menschen bei weitem übersteigt. Und auch die Auseinandersetzung mit einem einzelnen literarischen Text lässt sich nicht denken, ohne dass auf Grundlage von Interessen, Relevanzkriterien oder vorhandenem Wissen Kontexte selektiert werden, in die ein zu interpretierender Text gestellt wird.179 Nun sollen die Thesen von van Rees nicht in ein falsches Licht gerückt werden, denn dass normative Überzeugungen eine wichtige Rolle bei der Wertung und Interpretation von Literatur spielen, lässt sich schlechterdings nicht bestreiten. Das Potential des Begriffs des »Literaturkonzepts« als literaturwissenschaftlicher Terminus liegt denn auch gerade darin begründet, dass »er den Blick öffnet für die ideologischen Voraussetzungen literaturkritischer Äußerungen und […] es daher [ermöglicht], auch unterschiedliche Auffassungen von Literatur innerhalb der Institution Kritik in einer Gesellschaft zu einem gegebenen Zeitpunkt zu untersuchen«.180 Allerdings sind Ergänzungen durch Rezeptionstheorie, Interpretationstheorie, Wertungstheorie und Theorie und Geschichte der Literaturkritik notwendig, wenn mit dem Begriff des »Literaturkonzepts« mehr verbunden sein soll als formelhafte Kritik am Anspruch von Literaturwissenschaftlerinnen und Literaturkritikern, für die Wertung von Literatur besonders qualifiziert zu sein. Am Ende des vorherigen Kapitels wurde der Begriff des »Literaturkonzepts« bereits vorläufig dahingehend bestimmt, dass mit ihm all jene literaturbezogenen Einstellungen gemeint sein sollen, die unabhängig vom jeweils aktuellen
tungen begnügt. Problematisch ist sein Differenzierungskriterium darüber hinaus deswegen, weil die Intervalle mittlerweile immer kürzer werden, die zwischen der Veröffentlichung eines Textes und seiner Beachtung in der akademischen Literaturkritik bzw. der Literaturwissenschaft liegen. 178 Vgl. zum Problem der Objektkonstitution in der Literaturwissenschaft Jahraus: Literaturtheorie, S. 12f. 179 Vgl. für die literaturwissenschaftliche Praxis z. B. Simone Winko: Lektüre oder Interpretation?, in: Mitteilungen des deutschen Germanistenverbandes, 2002, Jg. 49, Sonderheft »Interpretation«, S. 128–141, hier S. 136, die hinsichtlich der Kontextualisierungen in interpretierenden Texten schreibt: »Die Auszeichnung von Kontexten als relevant oder weniger relevant ist in jeder bedeutungszuschreibenden Handlung unumgänglich. Mit dem Akt der Hierarchisierung aber wird zumindest für die jeweils vollzogene Argumentation ein Relevanzraster erstellt, das Informationen gewichtet.« 180 Schneider: Literaturkonzeptionen, S. 451.
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Rezeptionsobjekt Bestand haben. In einigen Punkten von van Rees abweichend möchte ich den Begriff nun folgendermaßen explizieren181: Der Begriff »Literaturkonzept« bezeichnet ein hinreichend umfangreiches, hinreichend zusammenhängendes und dennoch flexibles Set bewusster und unbewusster Annahmen, Überzeugungen, Mutmaßungen und Wissensbestände, die Einfluss haben (können) auf die Wahrnehmung, Selektion, Interpretation und Wertung literarischer Texte. Literaturkonzepte können sowohl von Individuen als auch von Kollektiven ausgebildet werden.
Die Bestandteile der Explikation sollen im Folgenden näher erläutert und spezifiziert werden, wobei gleichzeitig erste Überlegungen zur Rekonstruktion und Analyse von Literaturkonzepten angestellt werden. In einem zweiten Schritt soll der Begriff des »Literaturkonzeptes« von anderen in der Literaturwissenschaft und der Rezeptionsforschung gebräuchlichen Termini abgegrenzt werden, zu denen es partielle inhaltliche Überschneidungen gibt. 1. Um von einem Literaturkonzept sprechen zu können, muss ein hinreichender Umfang von Informationen über die für die Wahrnehmung von Literatur relevanten Einstellungen eines Individuums oder eines Kollektivs zu ermitteln sein. Das Literaturkonzept einer Person, von der lediglich eine Vorliebe für Romane bekannt ist, lässt sich nicht rekonstruieren.182 Gleichfalls gilt, dass eine Person, die nur eine nicht weiter spezifizierte Vorliebe für Kriminalromane artikulieren kann, vermutlich kein Literaturkonzept hat. Eine präzise Angabe, ab wann berechtigterweise von einem Literaturkonzept gesprochen werden kann, ist nicht möglich, der Übergang ist fließend. 2. Um von einem Konzept sprechen zu können, muss ein Zusammenhang zwischen den einzelnen Einstellungen erkennbar sein. Erst wenn die analytisch unterscheidbaren Einstellungen ein hinreichendes Maß an Kohärenz aufweisen, ist die Annahme gerechtfertigt, dass es sich um ein zusammenhängendes Konzept handelt, das im Umgang mit verschiedenen Texten und Gattungen zum Tragen kommt und sich nicht nur der Lektüre eines einzigen Textes verdankt. Mit diesem Kriterium soll ausgeschlossen werden, dass der Kontext einer einzigen Lektüre einen zu großen Einfluss auf die Rekonstruktion des Literaturkonzepts ausübt. Gerade das Merkmal der Kohärenz 181 Zu Begriff und Funktion der »Explikation« vgl. Heydebrand, Winko: Wertung, S. 20f. sowie Lutz Danneberg: Zwischen Innovation und Tradition: Begriffsbildung und Begriffsentwicklung als Explikation, in: Christian Wagenknecht (Hg.): Zur Terminologie der Literaturwissenschaft, Stuttgart 1989, S. 50–68. 182 Vgl. hierzu die Untersuchung von Rudolf Schenda: Volk ohne Buch. Studien zur Sozialgeschichte der populären Lesestoffe 1770–1910, München 1977. Die Leser der von ihm untersuchten Texte sind weitgehend stumm geblieben, was die Rekonstruktion eines Literaturkonzeptes unmöglich macht. Das muss allerdings nicht bedeuten, dass sie keine Literaturkonzepte ausgebildet haben.
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legitimiert die Verwendung des »Konzept«-Begriffs. Der Ausdruck soll weder auf solche literaturbezogenen Einstellungszusammenhänge beschränkt bleiben, mit denen eine politische oder gesellschaftliche Orientierung einhergeht noch auf solche, die von Lesern ganz bewusst entwickelt werden. Was aber gewährleistet sein muss, um von einem Literaturkonzept sprechen zu können, ist der wechselseitige Bezug und Zusammenhang von kategorial unterscheidbaren Einstellungen und Aussagen wie Wertungen, Funktionszuschreibungen, Annahmen über die Entstehung von Literatur und über Autorschaft usw. 3. Die Bedingung der hinreichenden Kohärenz impliziert jedoch keine völlige Widerspruchsfreiheit und auch keine strenge logische Stringenz. Die zu einem Literaturkonzept gehörigen Einstellungen bleiben so flexibel, dass unter Umständen nur einzelne Aspekte im Umgang mit einem bestimmten Text eine Rolle spielen oder in Einzelfällen der Einfluss des Literaturkonzeptes gar nicht zu erkennen ist. 3.1. Dies ist insbesondere bei der Untersuchung von kollektiven Literaturkonzepten wichtig. Die Rekonstruktion kollektiver Literaturkonzepte geschieht auf der Grundlage von Rezeptionszeugnissen von Individuen. Je größer die Menge an Rezeptionszeugnissen ist, desto größer ist aber auch die Wahrscheinlichkeit, dass sich darunter Interpretationen oder Wertungen finden lassen, die nicht in das kollektive Literaturkonzept integrierbar sind. Das bedeutet, dass ein Kollektiv, dessen Literaturkonzept untersucht werden soll, nicht zu groß sein darf, um die Aussagekraft und Signifikanz der Ergebnisse nicht zu beeinträchtigen.183 4. Unterschiede zwischen den Literaturkonzepten von Individuen und kollektiven Literaturkonzepten bestehen insbesondere in ihrer Genese. Im Fall von Kollektiven muss es notwendigerweise einen Austausch über literaturbezogene Überzeugungen geben, der durch face-to-face-Kommunikation, privaten Schriftverkehr oder eine öffentliche Auseinandersetzung via Zeitschriften- und Zeitungsartikel geschehen kann. Zudem bilden sich Kollektive normalerweise nicht auf Grundlage eines Literaturkonzepts; zur Beschreibung des jeweiligen Kollektivs und zur Abgrenzung von anderen Kollektiven sind somit soziologische Kategorien heranzuziehen, je nach Untersuchungsobjekt aber beispielsweise auch politische oder religiöse Kategorien. 5. Literaturkonzepte können Einfluss auf Wahrnehmung und Bewertung literarischer Texte haben. Inwieweit im konkreten Rezeptionsakt tatsächlich ein 183 Beispielsweise wäre die Untersuchung des Literaturkonzepts »der Deutschen« zu einem gegebenen Zeitpunkt an Hand von Literaturkritiken, Preisverleihungen, Lehrplänen, Vorlesungskommentaren, Bestsellerlisten usw. auf Grund der zu erwartenden Abweichungen auf Seiten der Individuen eine zu große Abstraktionsleistung, um noch hinlänglich signifikant zu sein.
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entsprechender Einfluss vorhanden ist, lässt sich aufgrund einer Analyse von Rezeptionsdokumenten nicht zweifelsfrei entscheiden. Deutlich wird dies im Fall von literaturkritischen Texten, die zur Publikation bestimmt sind und dabei häufig bereits im Hinblick auf ein bestimmtes Publikum und dessen Erwartungen geschrieben werden. Der literaturkritische Text stellt insofern schon eine Bearbeitung des ursprünglichen »Leseerlebnisses« und der damit einhergehenden unmittelbaren Eindrücke und Wertungen dar. Je mehr Belege sich für einen bestimmten Aspekt in den Quellentexten finden lassen, desto plausibler wird aber die Annahme, dass das Literaturkonzept tatsächlich auf die konkrete Lektüre einwirkt. 6. Literaturkonzepte sind selten intentionale Gebilde in dem Sinne, dass sie von einer Person oder Personengruppe bewusst und willentlich entwickelt würden.184 Vielmehr ist anzunehmen, dass sie sich im Laufe der (Lese-)Biographie und unter dem Einfluss unzähliger verschiedener Faktoren der Idiokultur nach und nach ausbilden. Die Träger von Literaturkonzepten müssen auch nicht in der Lage sein, diese selbst formulieren zu können. Unter Umständen erschließt sich das Literaturkonzept und seine ihm zugehörigen Aspekte als Literaturkonzept erst dem analytischen Blick der Wissenschaftlerin. 7. Literaturkonzepte sind reziprok. Sie können einen Einfluss auf konkrete Rezeptionsakte ausüben. Gleichzeitig kann die Lektüre konkreter Texte aber auch eine Veränderung des Literaturkonzeptes bewirken. Wie wahrscheinlich eine solche Veränderung ist, hängt davon ab, wie gefestigt das Literaturkonzept ist und wie groß die Bereitschaft ist, sich auf Texte einzulassen, die sich nicht ohne weiteres in das Konzept integrieren lassen.
2.2.2 Abgrenzungen In der Literaturwissenschaft und der Rezeptionsforschung existieren zahlreiche Begriffe, die zu dem hier explizierten Begriff des »Literaturkonzepts« inhaltliche Überschneidungen aufweisen. Es ist daher geraten, einige Abgrenzungen vor184 Literaturkonzepte, zumal solche von Kollektiven, lassen sich insofern als »invisible hand«Phänomene begreifen. Ein Literaturkonzept resultiert demnach »aus zahlreichen einzelnen Handlungen (Mikroebene), die jede für sich einen anderen Zweck haben als den, ein Literaturkonzept zu bilden, und die unter Ausnutzung allgemeiner Prämissen einen Prozess in Gang gesetzt haben, der es (auf der Makroebene) dennoch entstehen lässt« (Simone Winko: Literatur-Kanon als invisible hand-Phänomen, in: Heinz Ludwig Arnold, Hermann Korte (Hg.): Literarische Kanonbildung, München 2002, S. 9–24, hier S. 11; an den kursiv markierten Stellen habe ich den im Original stehenden Begriff des Kanons durch den Begriff des Literaturkonzepts bzw. das entsprechende Pronomen ersetzt). Vgl. hierzu auch die folgende Abgrenzung des Literaturkonzept-Begriffs von dem der Literaturtheorie.
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zunehmen, um möglichen Missverständnissen vorzubeugen und den Begriff des »Literaturkonzepts« weiter zu präzisieren. Die Auswahl der Begriffe orientiert sich an der Häufigkeit ihres Gebrauchs oder ihrem zentralen Stellenwert innerhalb der literaturwissenschaftlichen Terminologie beziehungsweise an der Exemplarität der dahinterstehenden theoretischen Konzepte. Hinweise zu methodischen Aspekten sollen dazu dienen, Möglichkeiten zur Rekonstruktion von Literaturkonzepten zu entwickeln und gegenüber anderen Methoden der Rezeptionsforschung zu profilieren.
Literaturtheorie Die erste Abgrenzung soll auf Grundlage einschlägiger Einführungen und Handbücher gegenüber dem Begriff der »Literaturtheorie« erfolgen. Peter Zima und Friedmann Harzer explizieren in ihrem Eintrag im »Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft« »Literaturtheorie« als »Sammelbegriff für Theoriemodelle, die sich mit der Produktion, Beschaffenheit, Rezeption und Funktion von Literatur befassen sowie – als Metatheorien – den historischen und systematischen Stellenwert solcher Modelle untersuchen«.185 Beide Aspekte des Theorie-Begriffs sind im vorliegenden Zusammenhang relevant: der Sammelbegriff insofern, als die unter ihn subsumierten Formen der Auseinandersetzung mit Literatur sich in spezifischer Weise von Literaturkonzepten unterscheiden lassen sollten; Literaturtheorie als Metatheorie insofern, als in diesem Zweig der Literaturwissenschaft Antworten darauf zu finden sein sollten, was den Status einer Theorie als Theorie begründet. Zunächst einmal lässt sich festhalten, dass der Unterschied zwischen Literaturtheorien und Literaturkonzepten nicht auf der Objektebene zu finden ist. Beide haben literarische Texte zum Gegenstand, beide können Aussagen über die Produktion, Beschaffenheit, Rezeption, Funktion und Wirkung von Literatur machen, beide können sich sowohl auf Werke der Vergangenheit als auch der Gegenwart beziehen und dabei auch auf literaturexterne Aspekte zurückgreifen. Wenn aber keine Differenz in Bezug auf den Objektbereich festzustellen ist, so liegt es nahe, nach Unterschieden in der Entstehung und Anwendung von Literaturtheorien und Literaturkonzepten zu suchen. Oliver Jahraus bezeichnet »Theorie [als] das Beobachtungsinstrument der 185 Peter Zima, Friedemann Harzer: Art. Literaturtheorie, in: Fricke (Hg.) Reallexikon, S. 482– 485, hier S. 482. Vgl. außerdem Köppe, Winko: Literaturtheorien, S. 6. Sie unterscheiden zwischen »Literaturtheorie« im Singular als Teildisziplin der Literaturwissenschaft, die »sich mit Grundlagenproblemen der Theoriebildung und Methodologie [befasst]« und »Literaturtheorien« im (Plural) als »den verschiedenen gegenstandsbezogenen Theorien, die über die Bedingungen der Produktion und Rezeption sowie über ihre Beschaffenheit und ihre Funktionen aufgestellt worden sind«.
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Wissenschaft«.186 Nimmt man die Rede vom Instrument ernst, und versteht hierunter ein zu einem bestimmten Zweck geschaffenes Werkzeug,187 so lässt sich hierin eine erste grundlegende Differenz erkennen zwischen Literaturtheorien und Literaturkonzepten. Unter 6. habe ich oben festgestellt, dass Literaturkonzepte selten intentionale Gebilde sind. Dies ist bei Literaturtheorien anders. Sie werden von Wissenschaftlerinnen eigens zu dem Zweck entwickelt, Literatur und das Verhalten der Akteure im Literatursystem beschreiben zu können. Das bedeutet nicht, dass Literaturwissenschaftlerinnen die Genese ihrer eigenen Theorie vollends bewusst sein müsste. Wohl aber bedeutet es, dass sie Theorien absichtsvoll entwickeln mit dem Anspruch, Phänomene der Literatur erklären zu können. Der Erkenntnisanspruch von Literaturtheorien wird in einigen Einführungen dahingehend präzisiert, dass es sich bei ihnen um eine Kritik des »common sense« handelt,188 an Vorstellungen, »welche im Alltag als völlig evident angesehen werden. Die impliziten Annahmen, die bislang als selbstverständlich galten, werden in Frage gestellt«.189 Die damit einhergehende erhöhte Reflexi-
186 Jahraus: Literaturtheorie, S. 6. 187 Dies ist die Grundlage zur Explikation von Literaturtheorien von Peter Finke: Konstruktiver Funktionalismus. Die wissenschaftstheoretische Basis einer empirischen Theorie der Literatur, Braunschweig u. a. 1982, S. 24, dessen Explikation von »Konzepten« bzw. »Konzeptionen« jedoch von meiner Explikation des »Literaturkonzepts« abweicht. Für ihn sind, S. 26, »Konzeptionen […] eine Teilklasse der möglichen Metatheorien einer Theorie, nämlich genau diejenige Teilklasse, die die möglichen und faktischen Systeme von Rahmenbedingungen, unter denen die objekttheoretische Forschung in einer Disziplin möglich wird, definieren«, was für ihn darüber hinaus einen synonymen Gebrauch des »Paradigma«-Begriffs von Thomas Kuhn rechtfertigt. 188 So Jonathan Culler: Literary Theory. A Very Short Introduction, Oxford u. a. 1997, S. 15. 189 So Martin Sexl: Einführung: Literatur, Theorie, Literaturtheorie, in: ders. (Hg.): Einführung in die Literaturtheorie, Wien 2004, S. 9–30, hier S. 23. Ähnlich auch Löck, Urbich: Einleitung, S. 2: »Nun ist ein stillschweigendes Akzeptieren von bestimmten Vorstellungen gerade keine Theoriebildung. Theoriebildung kann erst einsetzen, wo Fragen explizit gestellt und stillschweigend akzeptierte Antworten systematisch hinterfragt und auf dieser Basis begründet oder verworfen werden«. Vgl. außerdem Jahraus: Literaturtheorie, S. 72f. Die Ausführungen von Sexl sind im vorliegenden Zusammenhang allerdings nicht unproblematisch, insofern er selbst mehrfach von »Konzepten« spricht. Diese scheinen für ihn eine bestimmte, unterscheidbare Klasse von Überzeugungen zu sein. So definiert er Theorie als die Menge aller »konzeptuellen, mehr oder weniger exakten Überlegungen und Voraussetzungen, welche Phänomene der Literatur und der Literarizität abstecken, beschreiben und strukturieren« (S. 20, ähnlich zuvor auch S. 9 und S. 19); gleichzeitig beschreibt er »Literaturtheorie nach den 1960er Jahren« als »eine Kritik an Konzepten, die man gemeinhin als natürlich versteht« (S. 23). Auffällig ist, dass Konzepte sowohl im theoriegeleiteten als auch im nicht theoriegeleiteten Denken vorkommen. Eine Explikation der Ausdrücke »Konzept« und »konzeptuelle Überlegung« findet sich bei Sexl bedauerlicherweise nicht. Ein Vergleich mit der in der vorliegenden Studie verwendeten Terminologie ist aus diesem Grund prekär, weswegen noch einmal betont werden soll, dass »Lite-
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vität von Literaturtheorien lässt sich als weiteres Differenzkriterium gegenüber Literaturkonzepten ausmachen, die durch ihre spontane Entstehung im Verlauf der Lesesozialisation gerade eine deutliche Nähe zum Alltagsverständnis aufweisen können.190 Zum Erklärungsanspruch von Literaturtheorien gehört auch, dass sie bestimmten Bedingungen genügen müssen, wenn sie diesen einlösen wollen. Das gilt umso mehr, wenn »›Theorie‹ […] als ein normativer (restriktiver) Begriff« verstanden wird, wie dies in der Einführung in »Neuere Literaturtheorien« von Simone Winko und Tilman Köppe der Fall ist.191 Winko und Köppe nennen als »Minimalbedingungen«, die »Überlegungen zum Gegenstand Literatur erfüllen [müssen], um als ›Literaturtheorie‹ gelten zu können«,192 deren Abstraktionsgrad, spezifische Funktionen und Leistungen, Systematizität und Explizitheit.193 »Literaturtheorien«, schreiben Köppe und Winko zur Bedingung der Abstraktion, »sind nicht mit der Beschreibung, Auslegung oder Kommentierung einzelner literarischer Texte befasst, sondern bestimmen vielmehr die Begriffe, Modelle und Methoden, die eine Auseinandersetzung mit Einzeltexten leisten. […] [I]hr Anspruch ist es, auf mehrere, eventuell sogar alle Einzelphänomene eines bestimmten Typs zuzutreffen«.194 Dies ist aber auch bei Literaturkonzepten der Fall, die ja ebenfalls gerade die Einstellungen umfassen sollen, die über den einzelnen Lektüreakt hinaus Bestand haben und diesen beeinflussen. Die Funktion »[l]iteraturtheoretische[r] Äußerungen« sehen Winko und Köppe in »der Zusammenfassung, Koordination, Erklärung und Voraussage allgemeiner literarischer Phänomene«.195 Diese Leistung können Literaturkonzepte zumindest im Ansatz erfüllen. Erneut ist der Unterschied in der Genese zu betonen: Literaturkonzepte entstehen normalerweise, ohne dass dies intendiert wäre, während Literaturtheorien zum Zweck der ihr zugedachten Funktionen entwickelt werden. Unter 2. habe ich als Bedingung für Literaturkonzepte ein hinreichendes Maß
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raturkonzept« und »Literaturtheorie« in dieser Arbeit nicht deckungsgleich verwendet werden. Einschränkend ist zu sagen, dass dies kein notwendiges Kriterium ist. Professionelle Literaturkritiker dürften in der Regel ein reflektiertes und elaboriertes Literaturkonzept besitzen, das über ein literarisches Alltagsverständnis hinausgeht, ohne jedoch als stringente Theorie bezeichnet werden zu können. Köppe, Winko: Literaturtheorien, S. 7. Ebd., S. 8. Ähnlich auch Jahraus: Literaturtheorie, S. 6, der den wissenschaftlichen Charakter von Literaturtheorie betont, indem er sie charakterisiert als »eine geordnete Rede über ihren Gegenstand. Sie bemüht sich um Intersubjektivität, um ein festes und nachvollziehbares Beschreibungsinstrumentarium, also um eine Methode, mit der sie ihre Aussagen formuliert«. Köppe, Winko: Literaturtheorien, S. 8. Ebd.
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an Kohärenz genannt, das auf den ersten Blick mit der von Literaturtheorien geforderten Bedingung der Systematizität zu korrespondieren scheint. Winko und Köppe meinen damit, dass die Aussagen einer Literaturtheorie »folgerichtig aufeinander bezogen sein [müssen], was im Einzelnen bedeutet, dass sie z. B. in argumentativen oder explikativen Beziehungen zueinander stehen«.196 In diesem Punkt sind die Unterschiede zwischen Literaturtheorien und Literaturkonzepten graduell. Beziehungen zwischen den zu einem Literaturkonzept gehörenden Einstellungen sind zwar vorhanden, doch bauen diese nicht notwendigerweise argumentationslogisch aufeinander auf und können mitunter auch willkürlich oder sogar widersprüchlich sein. Dass dies mitunter auch bei Literaturtheorien der Fall ist, lässt sich schlechterdings kaum bestreiten. Jedoch gilt für Theorien ein Ideal von Widerspruchsfreiheit und logischer Stringenz, das für Literaturkonzepte aufgrund ihres nicht-wissenschaftlichen Status’ nicht gilt. Damit geht der mit Literaturtheorien verbundene Anspruch der Intersubjektivität einher, den Literaturkonzepte für sich nicht einzulösen beanspruchen müssen.197 Die Bedingung der Systematizität impliziert in der Regel eine entsprechende Darstellungs- und Publikationsweise. Um als Theorie (an)erkannt zu werden, müssen entsprechende Überlegungen hinreichend systematisch präsentiert und veröffentlicht werden.198 Ein Literaturkonzept hingegen kann auch unsystematisch zum Ausdruck gebracht werden, zum Beispiel in zahlreichen einzelnen Rezensionen eines Kritikers, Autors oder einer vorrangig mit Interpretationen beschäftigten Literaturwissenschaftlerin oder eben in den Publikationen eines Kollektivs. Um intersubjektiv nachvollziehbar zu sein, müssen Literaturtheorien schließlich die Bedingung der Explizitheit erfüllen: »Die wichtigsten Begriffe einer Theorie sollten im Rahmen der Theorie expliziert sein, oder die Explikation muss aus der Theorie mit hinreichender Deutlichkeit hervorgehen«.199 Dies ist für Literaturkonzepte nicht erforderlich, was erneut mit dem fehlenden Anspruch auf Intersubjektivität zusammenhängt. Die zu einem Konzept gehörenden Einstellungen, Kategorien und zentralen Begriffe können diffus sein und
196 Ebd. 197 Vgl. hierzu auch Löck, Urbich: Einleitung, S. 2f.: »Während das Verständnis von Literatur, das einer privaten Lektüre zugrunde liegt, […] prinzipiell Privatsache ist, steht der Literaturwissenschaftler diesbezüglich unter anderem Rechtfertigungsdruck. Seine Lektüreergebnisse sind in dem Moment keine Privatangelegenheit mehr, in dem sie intersubjektive Gültigkeit beanspruchen«. 198 Normalerweise wird dies in schriftlicher Form geschehen, aber auch eine Vorlesungsreihe kann beispielsweise der Veröffentlichung einer Theorie dienen, sofern sie die anderen theoriedefinierenden Bedingungen erfüllt. 199 Köppe, Winko: Literaturtheorien, S. 9.
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voller Widersprüche und dennoch im Konzept miteinander in Verbindung stehen und auf den Rezeptionsakt einwirken.
Literaturbegriff Die nächste Unterscheidung, die ich treffen möchte, ist die zwischen »Literaturkonzept« und »Literaturbegriff«. Beide können mitunter synonym verwendet werden. So schreiben Fotis Jannidis, Gerhard Lauer und Simone Winko von »bildungsbürgerliche[n] Annahmen über den hohen kulturellen Wert der Beschäftigung mit Literatur, etwa für die Bildung der Persönlichkeit«, bei denen »der Literaturbegriff nicht allein als klassifikatorisches, sondern auch als wertendes Konzept eingesetzt« wird.200 Im Rahmen der in der vorliegenden Untersuchung eingeführten Terminologie schlage ich vor, in solchen Fällen davon zu sprechen, dass ein bestimmter Literaturbegriff Teil eines umfassenden Literaturkonzeptes ist und den Terminus »Literaturbegriff« nur dann zu verwenden, wenn »nach der Weite der Begriffsbestimmung und dem Umfang des ›Literatur‹ genannten Gegenstandsbereichs«201 gefragt wird. Hierbei spielt die Annahme eine Rolle, dass ein derart verstandener Literaturbegriff Teil eines Literaturkonzeptes sein kann, aber nicht sein muss. Insbesondere reagiert diese Unterscheidung darauf, dass es nicht nur in historischer Perspektive Gesellschaften gibt, die mit keinem dem modernen Literaturbegriff vergleichbaren Abstraktum operieren,202 sondern dies für die allermeisten nicht-professionellen Leser jeder Zeit gelten dürfte. Zumindest ist davon auszugehen, dass für die meisten Leser die Frage nach Extension und Intension des Literaturbegriffs wenn überhaupt eine unwichtige ist. Vielmehr stellt sie ein Problem dar, das vor allem Literaturwissenschaftlerinnen interessiert vor dem Hintergrund der Eingrenzung ihres Forschungsbereichs.203 Wenn im Rahmen der Rekonstruktion eines Literaturkonzeptes von »Literatur« gesprochen wird, muss insofern zweierlei unterschieden werden. Einerseits der Begriff von Literatur, den das untersuchte Individuum oder Kollektiv 200 Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Simone Winko: Radikal historisiert: Für einen pragmatischen Literaturbegriff, in: dies. (Hg.): Grenzen der Literatur. Zu Begriff und Phänomen des Literarischen, Berlin u. a. 2009, S. 3–37, hier S. 28. 201 Ebd., S. 5. 202 Vgl. ebd., S. 13. 203 Allerdings machen sich auch innerhalb der Literaturwissenschaft regelmäßig Stimmen bemerkbar, die die Relevanz der Frage selbst für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Literatur bestreiten; vgl. unter anderem Tilmann Köppe: Über Literatur, ihre Geschichte und Funktionen und über die Definierbarkeit des Literaturbegriffs, in: Löck, Urbich: Begriff, S. 137–149, hier S. 147f. und Stefan Matuschek: Literatur und Lebenswelt. Zum Verhältnis von wissenschaftlichem und nicht-wissenschaftlichem Literaturverständnis, in: ebd., S. 289–308.
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auf Grund der Äußerungen in Rezeptionszeugnissen womöglich erkennen lässt.204 Andererseits ein metasprachlicher Literaturbegriff als Heuristik, um die Klasse der Texte (vorläufig) einzugrenzen, an Hand derer Literaturkonzepte rekonstruiert werden sollen. Ein pragmatischer Literaturbegriff, wie ihn Jannidis, Lauer und Winko vorschlagen,205 ist somit notwendige Vorbedingung der Untersuchung von Literaturkonzepten.206
Subjektive Theorien »Keine Leserin und kein Leser kann ›theoriefrei‹ Literatur lesen, geschweige denn interpretieren. Auch wer den Eindruck hat, sich ganz ohne Voraussetzungen auf einen Text einzulassen, bringt tatsächlich zumindest sog. ›Subjektive Theorien‹ in Anschlag, die die Wahrnehmung und das Verständnis des Textes leiten«.207 Die inhaltliche Nähe des Terminus »Subjektive Theorien« zum hier explizierten Begriff des »Literaturkonzepts« ist nicht zu übersehen und wird noch deutlicher angesichts der von Tilmann Köppe und Simone Winko nachgereichten Erläuterung: »›Subjektive Theorie‹ ist ein Fachbegriff, mit dem komplexe Zusammenhänge von Konzepten gemeint sind, die durch mindestens implizite argumentative Strukturen miteinander verbunden sind und mit deren Hilfe Menschen unter anderem Dinge bzw. Sachverhalte [darunter eben auch Literatur bzw. literarische Texte, M.L.] erklären oder prognostizieren«.208 Entwickelt wurde das Konstrukt »Subjektive Theorie« innerhalb der Psychologie in Abgrenzung zu behavioristischen Modellen der Verhaltenserklärung. Menschen, so die Annahme des dort vertretenen »epistemologischen Subjektmodells«, reagieren nicht einfach nur auf Reize aus der Umwelt, sondern handeln bewusst vor dem Hintergrund reflexiver Entscheidungen und kon204 Dabei sind auch intensional und extensional verwandte Begriffe zu beachten: »Poesie«, »Dichtung«, »Schrifttum« usw., die jedoch selbst wiederum wertende Implikationen mit sich führen können; vgl. hierzu weiter unten das Kapitel über Autorschaft. 205 Jannidis, Lauer, Winko: Literaturbegriff, S. 29–33. Ein solcher pragmatischer Literaturbegriff sollte auf historische Situationen anwendbar sein, die keinen oder einen anderen Literaturbegriff kennen als den heute üblichen, an die für die meisten Explikationen des Literaturbegriffs zentralen Kategorien der Fiktionalität und der Poetizität anschließbar sein und die Möglichkeit eröffnen, verschiedenste Kontexte von Texten und Literatursystemen einzubeziehen. 206 Zu den Konsequenzen für diese Arbeit vgl. das Kapitel zur Literaturkritik in den jugendbewegten Zeitschriften, S. 127. 207 Köppe, Winko: Literaturtheorien, S. 1. 208 Ebd. Das Zitat paraphrasiert Groeben, Wahl, Schlee u. a.: Subjektive Theorien, S. 18f. Zur Verwendung des Konstruktes der Subjektiven Theorien in der Rezeptionsforschung vgl. zum Beispiel Werner Graf: Der Sinn des Lesens. Modi der literarischen Rezeptionskompetenz, Münster 2004, besonders S. 20.
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struktiver Sinnzuschreibungen.209 Eingedenk der im vorherigen Kapitel dargestellten konstruktivistischen Kritik am behavioristischen stimulus-responseModell hätte es nahegelegen, sich am Konstrukt der Subjektiven Theorien zu orientieren. Auch die Unterscheidung zwischen Subjektiven Theorien und den »objektiven Theorien« der Wissenschaft folgt ähnlichen Kategorien wie die zuvor erörterte Differenz zwischen Literaturkonzepten und Literaturtheorien.210 Die Präferenz für den Begriff des »Literaturkonzeptes« beruht insofern nicht auf grundsätzlichen inhaltlichen Differenzen, sondern auf der leichteren Übertragbarkeit auf Kollektive. Während das theoretische Modell der Subjektiven Theorien primär auf subjektive Kognitionen abzielt, lassen sich mit dem Modell des Literaturkonzeptes gleichermaßen individuelle wie kollektive Vorstellungen über Literatur beschreiben. Darüber hinaus ist durch die Begriffswahl von vornherein eine deutlichere Grenze zu »objektiven Theorien« markiert, was insbesondere bei der Rekonstruktion der Literaturkonzepte professioneller Literaturkritiker hilfreich sein dürfte.
Diskurs Während das Konstrukt der Subjektiven Theorien auf Individuen und ihre Kognitionen abzielt, geht es in der Diskursanalyse um überindividuelle Strukturen. In einer Definition, die wesentliche Aspekte der kaum noch zu überblickenden Diskussionen um den Diskurs-Begriff bündelt, versteht Simone Winko ihn als »Bezeichnung für ein ›System des Denkens und Argumentierens‹ […], das durch einen gemeinsamen ›Redegegenstand‹, durch ›Regularitäten der Rede‹ und durch ›Relationen zu anderen Diskursen‹ bestimmt ist«.211 Auch hier sind Parallelen zum »Literaturkonzept« nicht zu übersehen. Bei der Rekonstruktion eines Literaturkonzeptes liegt der Fokus ebenfalls weniger auf einzelnen literaturkritischen Texten, einzelnen Rezeptions- bzw. Rezensionsobjekten oder einzelnen Autoren literaturkritischer Texte, sondern auf den Gemeinsamkeiten einer sich unter Umständen über einen langen Zeitraum erstreckenden »Rede« über Literatur, die im Fall eines kollektiven Literaturkonzepts von zahlreichen Autoren in zahlreichen Texten produziert wird. 209 Vgl. Groeben, Wahl, Schlee u. a.: Subjektive Theorien, S. 11–17. Eine Anwendung innerhalb der Lesepsychologie findet das Konstrukt bei Emil Schmalohr : Das Erlebnis des Lesens. Grundlagen einer erzählenden Lesepsychologie, Stuttgart 1997, v. a. S. 42–44, der es allerdings nur im Hinblick auf »Leseweisen«, d. h. Methoden des Lesens verwendet und keine umfassenderen Auffassungen über Literatur berücksichtigt. 210 Vgl. Groeben, Wahl, Schlee u. a.: Subjektive Theorien, S. 23f. 211 Simone Winko: Diskursanalyse, Diskursgeschichte, in: Heinz-Ludwig Arnold, Heinrich Detering (Hg.): Grundzüge der Literaturwissenschaft, München 2005, S. 463–478, hier S. 464.
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Für die Wahl des Literaturkonzept-Konstruktes spricht im Wesentlichen die Möglichkeit, einen weniger problematischen Übergang von kollektiven Literaturkonzepten zu idiosynkratischen Aspekten bei einzelnen Mitgliedern des Untersuchungskollektivs herzustellen. Gleichzeitig ist mit der Verwendung des Begriffs »Literaturkonzept« die Möglichkeit gegeben, sowohl bei der Untersuchung von Kollektiven als auch von Individuen nur einen einzigen Terminus zu verwenden, gibt es doch per definitionem keinen »Privatdiskurs« oder »Individualdiskurs«.212 Die Gründe gegen eine Übernahme des Diskursbegriffs korrespondieren also mit umgekehrtem Vorzeichen den Gründen gegen die Übernahme des Konstrukts der Subjektiven Theorien. Schließlich lässt sich gegen die Verwendung des Diskursbegriffs aber auch wissenschaftspragmatisch argumentieren. Angesichts seiner vielfach unspezifischen, jedenfalls äußerst heterogenen Verwendung bietet der Rückgriff auf einen bislang selten genutzten Begriff wie den des Literaturkonzeptes die Möglichkeit, potentiellen Missverständnissen bereits im Vorfeld aus dem Weg zu gehen. Lesestrategien und Rezeptionsmodi Innerhalb der empirischen Rezeptionsforschung gibt es verschiedene Ansätze, die spezifischen Rezeptionsweisen konkreter Leser zu analysieren und zu beschreiben. Unter diesen möchte ich das Modell der »Lesestrategien« sowie das Modell der »Rezeptionsmodi« hervorheben und an diesen die Unterschiede zum Modell des »Literaturkonzepts« erläutern. Der Begriff der »Lesestrategie« gilt in der kognitionspsychologischen Leserforschung als »central and well-established construct«, das zum Beispiel in den PISA-Studien zur Anwendung gekommen ist.213 Unterscheiden lässt sich eine enge und eine weite Verwendung des Begriffs. In der engen Auslegung werden darunter kognitive Operationen verstanden, »which serve for the understanding of single text passages, the production of overall meaning coherence, and the evaluation of the content as well as the form of a given text«.214 In seiner weiteren Auslegung fallen darüber hinaus unter den Begriffsumfang »social actions of
212 Auch wenn nicht übersehen werden darf, dass ein Diskurs »immer nur in Gestalt individueller Produkte in Erscheinung tritt«, wie Siegfried Jäger : Kritische Diskursanalyse. Eine Einführung, Münster 2004, S. 173, zu Recht feststellt. 213 Vgl. Michael Charlton, Corinna Pette, Christina Burbaum: Reading Strategies in Everyday Life: Different Ways of Reading a Novel Which Make a Distinction, in: Poetics Today, 2004, Jg. 25, S. 241–263, hier S. 242. 214 Ebd.
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readers before and after reading, such as interpersonal communication about literary texts«.215 Grundlegend ist die Annahme, dass Leser »kognitives, emotionales und/oder soziales Handeln […] situationsspezifisch zeig[en], um die mit dem Lesen antizipierten, für [sie] spezifischen Gratifikationen zu erlangen«.216 Von einer Strategie des Lesens wird demnach deshalb gesprochen, weil Leser entsprechend ihren Bedürfnissen und Interessen bewusst bestimmte Handlungsentscheidungen treffen, um diese zu befriedigen. Pette unterscheidet anhand dieses Kriteriums dann auch »Lesestrategien« von »Lesetechniken«, bei denen es sich um nicht intendiertes Verhalten handele.217 Der Begriff der »Lesestrategie« zielt vor allem auf solche individuellen Handlungen im Umgang mit Literatur, die bei der Rekonstruktion eines »Literaturkonzeptes« nur mittelbar eine Rolle spielen. Wie bereits unter Punkt 5 der Explikation deutlich gemacht, lässt sich die Frage, ob die Exponenten eines Literaturkonzeptes bei der konkreten Lektüre tatsächlich von diesem geleitet werden, nicht ohne weiteres entscheiden. Dies gilt umso mehr bei historischen Rezipienten(gruppen), die einer Untersuchung mittels entsprechend konzipierter qualitativer Interviews oder ähnlicher empirischer Methoden nicht mehr zur Verfügung stehen. Aber auch jenseits solcher pragmatischen Gründe, die sich zum Teil durch eine Erweiterung des Quellenmaterials auf (Gruppen)Tagebücher und ähnliche Dokumente aus der Welt schaffen ließen, muss eine größere Nähe des Literaturkonzept-Modells zum Diskursbegriff konstatiert werden als zu dem der Lesestrategie. Durch die Konzentration auf Überzeugungen und Einstellungen, die jenseits des einzelnen Lektüreaktes Bestand haben, und unter Ausschluss einer expliziten Thematisierung von Handlungen ist der Begriff des »Literaturkonzeptes« erheblich enger gefasst als der der »Lesestrategie«. Worum es geht, sind jene regelartigen und regelmäßigen Formen des Redens/Schreibens über Literatur, auf die auch eine Diskursanalyse abzielen würde, die expliziten und impliziten sprachlichen Handlungen des Wertens und der Zuschreibung von Funktionen und der Kontextualisierung. Diesen ist überdies zumeist ein höheres Maß an Normativität zu eigen, das sich vom bloß funktionalen der Lesestrategie unterscheidet. Der Begriff des »Rezeptionsmodus«, der in den Studien von Werner Graf eine zentrale Rolle spielt, scheint zunächst enger gefasst. Unter »Rezeptionsmodi« versteht Graf »in der literarischen Sozialisation erworbene Handlungsdispositionen, die spezifische Rezeptionsweisen ermöglichen, um Texte subjektbezo215 Ebd. Zur Explikation des Terminus vgl. auch Corinna Pette: Psychologie des Romanlesens. Lesestrategien zur subjektiven Aneignung eines literarischen Textes, Weinheim u. a. 2001, S. 50. 216 Ebd. 217 Vgl. ebd.
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gen zu nutzen, also um beispielsweise Bedürfnisse zu befriedigen, um Interessen zu realisieren oder um Notwendiges zu bearbeiten«.218 Diesen vorgelagert seien »Leseattitüden«, Einstellungen des Rezipienten, die bereits vor Beginn der Lektüre eine bestimmte Haltung gegenüber dem Text zum Ausdruck bringen und dementsprechend Einfluss auf die Rezeption und das Rezeptionsergebnis ausüben.219 Wie im Modell der »Lesestrategien« können auch in Grafs Modell dem Rezeptionsakt vorausliegende und nachfolgende Handlungen eine Rolle spielen,220 weshalb die inhaltliche Differenz zum Modell des »Literaturkonzeptes« nicht zu wiederholt werden braucht. Allerdings halte ich den Begriff des »Rezeptionsmodus« auch im Rahmen einer Rekonstruktion von Literaturkonzepten für hilfreich, möchte ihn jedoch in einem engeren Sinn als Graf verwenden. Dabei möchte ich insbesondere deutlicher zwischen Funktionen, die Literatur zugeschrieben werden, und Rezeptionsmodi unterscheiden, die bei Graf, wie gezeigt, aufeinander verwiesen sind. Es lässt sich jedoch zumindest auf analytischer Ebene eine schärfere Trennung zwischen beiden vornehmen mit dem Effekt, auch bei den Rezeptionsmodi stärker differenzieren zu können. Als Rezeptionsmodi werde ich im Folgenden daher keine »Handlungsdispositionen« verstehen, sondern ausschließlich Aspekte, die als Antwort auf die Frage gelten können, wie eine Person einen Text liest. Dies kann sich auf das Maß an Aufmerksamkeit beziehen, mit der ein Leser sich einem Text widmet, auf bestimmte emotionale Qualitäten, die mit der Lektüre einhergehen oder der Fokussierung auf einzelne Aspekte eines Textes. Normalerweise ist von einer Kongruenz zwischen Funktion oder Zweck der Lektüre und dem Rezeptionsmodus auszugehen. Dies geht aber nicht soweit, dass der Zweck einen bestimmten Rezepti218 Graf: Lektüre, S. 202. 219 Graf: Sinn des Lesens, S. 20 nennt als Beispiele eine Abwertung des Textes als »Quatsch«, die Distanzierung, ein Text würde nur gelesen, um »die Zeit totzuschlagen« oder auch eine statusorientierte Lektüre einer bestimmten Zeitung. Nicht einsichtig ist allerdings Grafs ebd. vorgebrachte Erklärung, solche Leseattitüden würden »die Ausbildung eines Lesemodus unterdrück[en]«. Plausibel ist vielmehr die Annahme, dass mit Leseattitüden spezifische Rezeptionsmodi einhergehen. Problematisch erscheint auch Grafs Explikation von »Leseattitüden« in Graf: Lektüre, S. 202, wo er diese als »erfahrungsvermittelte Einstellungen, aus denen die Bereitschaft resultiert, auf bestimmte Medienangebote in spezifischer Form zu reagieren« versteht. Einerseits bleibt unklar, ob ein Unterschied besteht zwischen den Leseattitüden als »Einstellungen« und den Rezeptionsmodi als »Dispositionen«. Andererseits ist die spätere, beispielgestützte Explikation in Graf: Sinn des Lesens, insofern plausibler, als gerade situationsbedingte Attitüden sich schwerlich als »erfahrungsvermittelt« begreifen lassen. 220 Vgl. zum Beispiel die Ausführungen zum »Lesemodus« der Partizipation bei Graf: Lektüre, S. 206. Dieser Modus ist »durch soziale und kommunikative Teilhabe sowie Transfer in den Alltag gekennzeichnet ist« und dementsprechend gerade auf (kommunikative) Anschlusshandlungen ausgelegt. Ausführlicher hierzu ebd., S. 208–211.
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onsmodus zwingend determiniert. Zwar geht auch Graf von »variationsreiche[n] Mischform[en]« der Rezeptionsmodi bei konkreten Lesern aus.221 Die analytische Trennung zwischen Funktionen und Rezeptionsmodi soll jedoch dazu beitragen, den Blick dafür zu schärfen, dass die mit der Lektüre eines bestimmten Textes verbundenen Intentionen eines Lesers unter Umständen auf ganz verschiedene Weisen zum Ausdruck kommen können.
2.2.3 Konsequenzen für die Methode Die Forschung zur Literaturrezeption der Jugendbewegung ist bislang zumeist von einem vordefinierten literarischen Textkorpus ausgegangen, indem sie sich entweder auf die Rezeption eines einzelnen Autors konzentriert hat oder auf eine zuvor aus inhaltlichen Gründen festgelegte Textgruppe. Die im Folgenden zu leistende Analyse des jugendbewegten Literaturkonzepts setzt demgegenüber auf einer anderen Ebene an. Es geht nicht um die Interpretation und Wirkung dieses oder jenes einzelnen Werkes in der Jugendbewegung, sondern um die Texte und Autoren übergreifenden, relativ stabilen Einstellungen jugendbewegter Leser gegenüber Literatur und literarischen Texten. Wie die zuvor skizzierten Ergebnisse der Rezeptions- und Textverstehensforschung gezeigt haben, lassen sich solche Einstellungen aus gelesenen literarischen Texten höchstens mittelbar erschließen. Dies ist sowohl durch die Bedeutungsoffenheit literarischer Texte bedingt wie durch die Tatsache, dass es sich beim Lesen nicht um einen Akt passiver Aufnahme von Informationen handelt, sondern um einen kreativen und unter Umständen auch willkürlichen Vorgang, der die normativen Grenzen eines gemessen am Text adäquaten Verstehens durchaus sprengen kann. Das Verstehen und Interpretieren von Texten muss daher als hochkomplexer Prozess begriffen werden, innerhalb dessen Interessen, Lebensumstände und Idiokultur eine ebenso große Rolle spielen können wie vom Rezipienten weitgehend unbeeinflusste Aspekte wie die Rezeptionsgeschichte eines Buches oder auch die politische Zeitgeschichte. Wo Leserinnen und Leser stumm geblieben sind und ihre Lektüreeindrücke und Wertungen nicht schriftlich fixiert haben, sind Schlüsse vom Buchinhalt auf Lektüregründe und Lektürepräferenzen zwar unausweichlich.222 Die Jugendbewegung war jedoch ganz im Gegenteil äußerst beredt, und dies gilt auch für ihren Umgang mit Literatur. Die von ihr in ihren Zeitschriften hinterlassenen Re221 Ebd., S. 222. 222 Vgl. hierzu beispielsweise Schenda: Volk. Die Rezipienten populärer Literatur, mit denen er es im Rahmen seiner Studie zu tun hat, haben nur in wenigen Ausnahmefällen Rezeptionszeugnisse hinterlassen.
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zeptionsdokumente stellen daher eine unerlässliche Quelle für jegliche wissenschaftliche Auseinandersetzung mit ihrem Rezeptionsverhalten dar. Die Analysekategorien, die in den Kapiteln über Inhalt und Struktur des jugendbewegten Literaturkonzepts zur Anwendung kommen – dies sind im wesentlichen Wirkung, Autorschaft, Funktion und Wertung – bewegen sich auf einer abstrakteren Ebene als derjenigen der einzelnen Rezension. In der Form, in der sie als Teil des Literaturkonzepts in den Zeitschriften der Jugendbewegung konkret werden, lassen sie sich auf eine umfangreiche Menge von Texten applizieren, unter Umständen auf jeden beliebigen Text. Dies hat zur Folge, dass auf eine detaillierte Analyse der Rezeption einzelner Autoren oder Texte verzichtet wurde. Bei der Erhebung und Auswertung des Quellenmaterials – ausgewertet wurden über 1500 Rezensionen und zahlreiche weitere literaturkritische Texte – war vielmehr die Exemplarität der zutage tretenden Rezeptionshandlungen leitend, die die Voraussetzungen jugendbewegter Literaturkritik und Literaturrezeption sichtbar machen. Die vorliegenden Untersuchungen können daher als Prolegomena weiterer, detaillierter Einzelstudien zur jugendbewegten Literaturrezeption gelten. Nichtsdestotrotz bedarf es zur Rekonstruktion des Literaturkonzepts der Auseinandersetzung mit literaturkritischen Texten, die die Rezeption einzelner Texte dokumentieren. Im Gegensatz zur literaturwissenschaftlichen Praxis ist die literaturkritische Praxis weitgehend dadurch gekennzeichnet, dass Maßstäbe der Wertung und Selektionsmechanismen nur in Ausnahmefällen expliziert werden. Das Literaturkonzept der Jugendbewegung ist insofern ein Abstraktum, das als Akkumulation der in dokumentierten Rezeptionshandlungen wie Interpretationen, Funktionszuschreibungen und Wertungen zum Ausdruck kommenden Einstellungen zu Literatur verstanden werden muss.223 Gerade darum war es notwendig, ein möglichst umfangreiches Korpus an literaturkritischen Texten zur Grundlage der Untersuchung zu machen: Erst durch die Lektüre und Auswertung zahlreicher Rezensionen wird sichtbar, was 223 Vgl. hierzu Winko: Literatur-Kanon, S. 18f., die der »Akkumulation von Wertungen« bei Kanonisierungsprozessen eine zentrale Rolle zuschreibt. Einzelne Urteile fielen dabei zwar auch ins Gewicht; wichtiger als der qualitative Aspekt sei jedoch der quantitative Aspekt: Erst »die Vielzahl der gleichen oder doch in weiten Teilen ähnlichen Wertungen sprachlicher oder motivationaler Art« bewirke die Stabilität des Kernbereichs literarischer Kanones. Dies lässt sich auf die Entstehung kollektiver Literaturkonzepte übertragen, mit dem Unterschied, dass nicht ein materiales Textkorpus als Kanon entsteht, sondern bestimmte Muster der Wertung, Interpretation und Funktionalisierung. Vgl. dazu auch Sabine Buck: Literatur als moralfreier Raum? Zur zeitgenössischen Wertungspraxis deutschsprachiger Literaturkritik, Paderborn 2011, S. 76–78. Vgl. hierzu außerdem in systematischer Hinsicht Willand: Lesermodelle, v. a. S. 68. Innerhalb der von ihm entworfenen Kategorisierung der ontologischen Beschreibung von Lesermodellen lässt sich das in dieser Arbeit entworfene Literaturkonzept am ehesten als »probabilistisch« begreifen, da es sich um einen reflektierten und abstrahierten Zugriff auf die Dokumente realer Leser handelt.
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sich weder einer zufälligen Laune oder idiosynkratischen Vorlieben eines Rezensenten verdankt oder aber in Sprache und Wertung überwiegend dem Rezensionsobjekt zuzuschreiben ist, sondern welche Einstellungen wiederholt und im Zusammenhang mit verschiedenen Texten und Textsorten vorgebracht werden. Von diesem Ansatz aus können dann auch literaturkritische Texte für die Rezeptionshistorikerin interessant werden, die auf den ersten Blick – aufgrund der vermeintlichen Trivialität des Urteils oder der literaturhistorischen Irrelevanz des Rezensionsobjektes – belanglos zu sein scheinen. Aufgrund der Komplexität des Literaturkonzepts wurde von einer statistischen Auswertung und Darstellung der Analyse, wie sie beispielsweise Michaela Köhler in ihrer Untersuchung der »Wertung in der Literaturkritik« vorgenommen hat,224 zugunsten hermeneutischer Interpretationsarbeit verzichtet. Im Fokus stehen nicht lediglich einzelne Wertausdrücke, sondern wiederkehrende Argumentationsmuster und Kontextualisierungen, die die einzelnen literaturkritischen Texte als Teil eines kohärenten Literaturkonzeptes ausweisen. Die Funktionszuschreibungen an Literatur und die Wertungen von Literatur, die in den folgenden Kapiteln dieser Arbeit vorgestellt werden, lassen sich im Anschluss an die bislang erarbeitete Terminologie als Kontextualisierungen beschreiben, mittels derer literarische Texte von ihren Lesern in weitere Zusammenhänge gestellt werden. Neben diesen interpretativ zu rekonstruierenden Kontextualisierungen seitens jugendbewegter Literaturkritiker wird es darüber hinaus Aufgabe sein, die Kontexte des Literaturkonzepts selbst zu rekonstruieren: die historischen, politischen, sozialen, sozial- und individualpsychologischen, literaturhistorischen, mentalitätsgeschichtlichen und jugendbewegten Zusammenhänge, innerhalb derer die Rezeption von Literatur steht. Dem Kohärenzcharakter des Literaturkonzepts wird durch zahlreiche Querverweise zwischen den einzelnen Kapiteln Rechnung getragen, die die Verbindungen zwischen den kategorialen Strukturen deutlich machen. Ausführliche Zitate, mitunter länger, als es die wissenschaftlichen Gepflogenheiten vorsehen, sollen ausreichend Möglichkeit geben, Sprache und Duktus der jugendbewegten Literaturkritik trotz aller vorausliegenden Selektion aus erster Hand wahrzunehmen, sind die jugendbewegten Zeitschriften doch nicht jederzeit und allerorten verfügbar. Vor der inhaltlichen Analyse der Literaturkritiken ist die ausführliche Darstellung des Quellenmaterials, also der Zeitschriften der Jugendbewegung und der mit ihnen zusammenhängenden Organisationen, nötig, ist doch die zum Teil 224 Michaela Köhler : Wertung in der Literaturkritik. Bewertungskriterien und sprachliche Ausdrucksmöglichkeiten des Bewertens in journalistischen Rezensionen zeitgenössischer Literatur, Würzburg 1999. Köhler geht es allerdings auch primär um eine semantische Untersuchung literaturkritischer Praxis, während in der vorliegenden Studie Kontexte und Kontextualisierungen im Mittelpunkt stehen.
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ungerechtfertigte Homogenisierung der Jugendbewegung ein Problem der bisherigen Forschung zur Literaturrezeption der Jugendbewegung gewesen. In einem Kapitel über die Literaturkritik in den jugendbewegten Zeitschriften sollen anschließend die Formen und Regeln des Schreibens über Literatur in der Jugendbewegung dargestellt werden. Dies gehört zu den Voraussetzungen einer quellenkritischen Rezeptionsforschung, handelt es sich bei literaturkritischen Texten doch zumeist nicht um nach Gutdünken verfasste Texte. Vielmehr folgen sie der Programmtik des publizierenden Mediums und orientieren sich an den vermuteten oder tatsächlichen Lesern. Bleiben die daraus folgenden Restriktionen des Schreibens für eine (jugendbewegte) Zeitschrift unberücksichtigt, sitzt jegliche Auseinandersetzung mit den dokumentierten Rezeptionszeugnissen leicht Missverständnissen auf.
3.
Das Quellenmaterial
Das Literaturkonzept der bürgerlichen deutschen Jugendbewegung soll anhand der zahlreichen literaturkritischen Texte in ihren Zeitschriften untersucht werden, da hier eine gruppenübergreifende Auseinandersetzung mit Literatur stattfindet.225 Erkenntnisse über das Literaturkonzept ließen sich zwar auch über eine Analyse von teilweise oder vollständig in den Zeitschriften abgedruckten literarischen Texten gewinnen. Im Gegensatz zu den literaturkritischen Texten findet dabei jedoch in der Regel keine verbalisierte Wertung statt, so dass sich die Frage nach den jeweiligen Gründen für einen Abdruck höchstens spekulativ beantworten lässt und die Frage nach bestimmten Rezeptionsmodi und Kontextualisierungen gänzlich unbeantwortet bleiben muss. Auf eine systematische Auswertung dieses Teils der Zeitschriften wurde daher verzichtet. Bei der Auseinandersetzung mit Literaturkritiken ist grundsätzlich zu beachten, dass Kritiker in aller Regel weder in der Wahl ihrer Rezensionsobjekte noch beim Schreiben ihrer Texte vollkommen nach eigenem Gutdünken handeln können. Ihre Gestaltungsmöglichkeiten sind vielmehr abhängig vom »Korsett« der »medialen Bedingungen« des Publikationsortes,226 wozu insbesondere das inhaltliche Profil des Publikationsortes und – damit häufig Hand in Hand gehend – die zur Verfügung stehende Zeichenzahl gehören.227 Das bedeutet, dass es sich bei literaturkritischen Texten nicht um den un225 Vgl. auch Hermand: Dichterbünde, S. 180, der die literaturkritischen Texte in den Zeitschriften der Jugendbewegung als Versuch interpretiert, ein »literarisch beeinflußtes Gruppenbewußtsein« herzustellen. Demgegenüber dient die Rekonstruktion des Literaturkonzepts der Jugendbewegung allererst dem Nachweis, dass es ein gemeinsames, kommunikativ hergestelltes Verständnis von Literatur in der Jugendbewegung gegeben hat, dessen Einflüsse auf ein kollektives Gruppenbewusstsein an konkreten Fällen und Wirkungsweisen spezifiziert werden soll. 226 Brigitte Schwens-Harrant: »Es könnte wahrlich auch anders sein«. Fragen und Anmerkungen zur Vermittlung der Literaturkritik, in: Stefan Neuhaus, Oliver Ruf (Hg.): Perspektiven der Literaturvermittlung, Innsbruck 2011, S. 163–173, hier S. 169. 227 Vgl. ebd. sowie Thomas Anz: Literaturkritik, in: Dieter Hess (Hg.): Kulturjournalismus. Ein Handbuch für Ausbildung und Praxis, München 1997, S. 59–68, hier S. 61f.
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Das Quellenmaterial
mittelbaren Ausdruck eines »Leseerlebnisses« handelt, sondern um Artikel und Aufsätze, die zu einem bestimmten Zweck und für ein bestimmtes Publikum geschrieben werden. Rezensionen und andere literaturkritische Textsorten sind Formen der »reproduzierenden Rezeption«228 bzw. »Tertiärzeugnisse der Rezeption«229. Während Hannelore Link mit ihrer Begriffswahl als entscheidendes Differenzkriterium gegenüber anderen Formen der Rezeption die »Herstellung eines weiteren sekundären Rezeptionsgegenstands« betont,230 gilt Gunter Grimm als das entscheidende Merkmal »tertiärer Rezeptionszeugnisse« ihre Zweckgebundenheit: »Im Unterschied zu den primären und sekundären Zeugnissen, in denen der Hauptakzent auf der Besonderheit einer individuellen Rezeption liegt, das rezipierende Subjekt also im Mittelpunkt des Berichtes steht, herrscht bei den tertiären Zeugnissen der finale Aspekt vor. Diese Dokumente sollen nicht Zeugnis ablegen von einer ganz bestimmten Rezeption, sie sind auf ein Publikum gerichtet zum Zweck der Information, der Belehrung oder Unterhaltung. Tertiärzeugnisse sind also subjektrelationale, nicht subjektzentrierte Dokumente.«231
Damit ist freilich nicht ausgeschlossen, dass es sich bei Rezensionen nicht auch um Dokumente handeln kann, in denen unmittelbare und höchst subjektive Eindrücke verbalisiert werden. Gerade bei Publikationen, die nur für einen kleinen Kreis von Nutzern produziert werden, sowie bei Rezensenten, die nur zum Vergnügen über Bücher schreiben,232 ist der Verdacht schnell bei der Hand, dass bei ihnen ein erhöhtes Maß an Subjektivität profunde Kenntnisse der Literatur, eine einschlägige Ausbildung im Umgang mit literarischen Texten und daran gewonnene Wertungsmaßstäbe ersetzt. Rückschlüsse vom Rezeptionsdokument auf etwaige Dispositionen des Rezipienten oder auf kausale Wir228 Hannelore Link: Rezeptionsforschung. Eine Einführung in Methoden und Probleme, Stuttgart u. a. 1980, S. 89–92; vgl. zur Literaturkritik als spezifischer Form der reproduzierenden Rezeption S. 90. Link unterscheidet generell zwischen »produktiver Rezeption«, »reproduzierender Rezeption« und »passiver Rezeption«; vgl. hierzu ebd., S. 86–99. 229 Grimm: Rezeptionsgeschichte, S. 112–114. Grimm unterscheidet diese erstens von »Primärzeugnissen« der Rezeption wie Notizen in Büchern, Tagebucheinträgen und Briefen, aber auch entsprechende Passagen in Autobiographien. Kennzeichnend ist hier, dass der »Rezipient […] Verfasser des die Rezeption dokumentierenden Textes« ist (S. 110). Zweitens unterscheidet Grimm »Sekundärzeugnisse« der Rezeption. Hier ist »der Produzent des Metatextes mit dem Rezipienten nicht identisch«, hat aber persönlichen Kontakt mit ihm gehabt. Beispielhaft nennt Grimm »Aufzeichnungen von mündlichen Äußerungen oder Gesprächen« (S. 111). 230 Link: Rezeptionsforschung, S. 89. 231 Grimm: Rezeptionsgeschichte, S. 112. 232 Hierzu gehört beispielsweise die wachsende Zahl von Lesern, die die Möglichkeiten des Internets zur Publikation sogenannter »Laienkritiken« nutzt, wobei aufgrund verschiedener Vermarktungsstrategien der »Laienrezensenten« auch hier die Grenzen zur professionellen Literaturkritik mehr und mehr verwischen.
Eingrenzungen: Die Bürgerliche deutsche Jugendbewegung
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kungen des Textes auf den Rezipienten haben dennoch höchstens eine gewisse Wahrscheinlichkeit für sich und können nicht ohne weiteres als objektive Fakten appliziert werden. Ebenso wenig können anhand literaturkritischer Texte Aussagen darüber getroffen werden, inwieweit die in ihnen zum Ausdruck gebrachten Rezeptionsweisen auch dann eine Rolle spielen, wenn die Lektüre nicht dem Zweck dient, eine Rezeption zu verfassen. Immerhin muss die Möglichkeit in Betracht gezogen werden, dass die Autoren literaturkritischer Texte sich beim Schreiben an tatsächlichen oder vermeintlichen Erwartungen der Leser oder der Herausgeber des Publikationsortes orientieren, die unter Umständen von den persönlichen Erwartungen oder Vorlieben abweichen können. Die spezifischen Regeln literaturkritischen Schreibens in den Zeitschriften der Jugendbewegung sollen später erörtert werden. Zuvor soll die Auswahl der untersuchten Zeitschriften begründet und die Publikationen im Einzelnen vorgestellt werden, da das jeweilige Profil und die jeweiligen Zielgruppen unmittelbare Auswirkungen auf die Auseinandersetzung mit Literatur haben.
3.1
Eingrenzungen: Die Bürgerliche deutsche Jugendbewegung
Wenn in dieser Studie von der bürgerlichen Jugendbewegung in Deutschland die Rede ist, dann sind damit die verschiedenen Gruppen und Bünde des Wandervogels gemeint; ferner die Freideutsche Jugend, ein Zusammenschluss vorwiegend studentischer Vereinigungen, deren Mitglieder sich zu einem nicht geringen Teil aus den Gruppen des Wandervogels rekrutierten, dem aber auch einige der zahlreichen Wandervogelbünde geschlossen angehörten und einige andere Verbände und Gruppierungen; schließlich Gruppen der Bündischen Jugend, ein Sammelbegriff für all jene Organisationen, die nach dem Ende des Ersten Weltkriegs entstanden sind und der Jugendbewegung durch neue Praktiken und Vergemeinschaftungsformen und eine gewandelte Ästhetik ein verändertes Gesicht gaben. Die Mitglieder dieser verschiedenen Gruppierungen entstammten zum großen Teil dem Bürgertum.233 Es ist vor allem dieses soziologische Kriterium, das diese Jugendbewegung als eine bürgerliche kennzeichnet. Gleichzeitig bedingt ihre Herkunft aber auch – ohne einer Homogenisierung des »Bürgertums« das Wort reden zu wollen – spezifisch bürgerliche Lebenserfahrungen und Sozialisationsbedingungen, die Partizipation in größeren bürgerlichen Netzwerken und die Bezugnahme auf und Beteiligung an vor allem vom Bürgertum ge233 Zur sozialen Herkunft der Wandervögel vgl. Ulrich Aufmuth: Die deutsche Wandervogelbewegung unter soziologischem Aspekt, Göttingen 1979, S. 106–112.
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Das Quellenmaterial
führten Diskursen und Diskussionen. Ich werde auf diesen Punkt bei der Analyse des Literaturkonzepts der Jugendbewegung wiederholt zurückkommen. Die bürgerliche Jugendbewegung war nicht der einzige Versuch im frühen 20. Jahrhundert, spezifisch jugendliche Formen der Gemeinschaft zu entwickeln. Daneben existierten zahlreiche staatliche, kirchliche, parteiliche, sportliche und unabhängige Ansätze zu eigenen Organisationsformen der Jugend oder für die Jugend.234 Wenn es auch mitunter Parallelen zwischen diesen Verbänden und der hier untersuchten bürgerlichen Jugendbewegung gibt, es mitunter dazu kommt, dass Praktiken voneinander übernommen werden, Mitglieder im Laufe ihrer jugendlichen Sozialisation hier und dort zu Hause sind, gibt es doch einige markante Unterschiede. Ein wesentlicher Unterschied des Wandervogels zu den meisten anderen Jugendverbänden habe darin bestanden, so Neuloh und Zilius, »daß er keine ausgesprochenen Ziele verfolgte. Er hatte kein Programm und diente nicht bestimmten Zwecken, wie etwa die Sportvereine. Das war ein Stück seiner Freiheit, sich nicht als ›nützlich‹ zu verstehen. Die Erwachsenen mögen im Tun und Treiben der Wandervögel bald ein sinnvolles Unterfangen erkannt haben, sei es aus der Perspektive der körperlichen Ertüchtigung, der Naturliebe oder anderer idealer Vorstellungen. Die Wandervögel selbst dachten nicht an dergleichen, sie lebten in der Freude, die ihnen das Gruppenleben bereitete«.235
In den »Erinnerungen« des späteren SPD-Politikers Carlo Schmid wird diese Interpretation scheinbar gestützt: »So wurde ich Mitglied des ›Alt-Wandervogel Württemberg‹ und damit […] aktives Mitglied der ›Jugendbewegung‹. […] Wir wollten eigentlich gar nichts bewegen! Wir wollten wandern, uns in Volkstänzen tummeln, singen und ein freies Leben führen.«236
Schmid berichtet jedoch weiter, dass er auch ganz andere Erfahrungen im Wandervogel machen konnte: »Bald erfuhr ich, dass es neben meinem AWV noch einen anderen WV gab, den Wandervogel e.V. Ich ging auch dorthin, um mich umzusehen, und hier, spürte ich sogleich, wehte eine andere Luft. Man war ›intellektueller‹; man hielt sich den ›Anfang‹, 234 Knappe Überblicksdarstellungen der verschiedenen Jugendverbände finden sich bei Thomas Nipperdey : Deutsche Geschichte 1866–1918, Erster Band: Arbeitswelt und Bürgergeist, München 1991, S. 112–124 und bei Hans-Ulrich Wehler : Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Dritter Band: Von der »Deutschen Doppelrevolution« bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges 1849–1914, München 1995, S. 1097–1104, obgleich auch hier der Schwerpunkt jeweils auf der bürgerlichen Jugendbewegung ruht. Pross: Jugend, widmet anderen Jugendverbänden als denen der bürgerlichen Jugendbewegung längere Abschnitte und Kapitel. 235 Neuloh, Zilius: Wandervögel, S. 67. 236 Zitiert nach: Petra Weber : Carlo Schmid, in: Stambolis, Jugendbewegt geprägt, S. 623–632, hier S. 624. Die Auslassungen und die Orthographie sind von dort übernommen.
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eine Zeitschrift für entschiedene Schulreform, die in Wien erschien und recht gewagte Artikel brachte. Auf jedem unserer Nestabende sprach man von einem gewissen Gustav Wyneken […].«237
Damit ist ein Spektrum unterschiedlicher Interessen in der bürgerlichen Jugendbewegung angezeigt, dass schon deswegen kaum überraschen kann, als bereits vor dem Ersten Weltkrieg mindestens zwei Generationen junger Menschen in der Jugendbewegung aktiv waren.238 Unterschiede im Gruppenalltag werden so nicht nur durch jeweils andere Praktiken und Interessen in den verschiedenen Organisationen erklärbar, sondern auch durch eine immer weiter ausdifferenzierte Altersstruktur. Von daher ist es angebracht, pauschalen Urteilen über Sinn und Zweck der Jugendbewegung mit Vorsicht zu begegnen. Nichtsdestotrotz haben Otto Neuloh und Wilhelm Zilius insofern Recht, als die Jugendbewegung nicht derart eindeutig auf konkrete Ziele festgelegt werden kann, wie dies zum Beispiel bei den Sportvereinen der Fall ist. Am besten hat dies vielleicht Harry Pross erkannt, der davor gewarnt hat, »die Jugend mit der Bewegung aus[zu]schütten«239 und in seiner Darstellung mehrfach anmahnt, das Gruppenleben der dreizehn- bis siebzehnjährigen nicht mit dem »Gedankengut« der Bewegung zu verwechseln.240 Von Anfang an aber – und das längst nicht nur durch außenstehende Erwachsene – gab es Bemühungen, dem Treiben in der Jugendbewegung über das selbstzweckhafte Wandern und das Gruppenerlebnis hinaus Bedeutung beizumessen. Es bedarf daher stets der Frage nach Autor und Ort, mithin des Kontextes, um Aussagen über die »Zweckfreiheit« der Jugendbewegung einordnen zu können. Mit diesem Schlagwort konnte durchaus ein jugendlicher, autonomer Freiraum gemeint sein. Es konnte jedoch ebenfalls auf eine Idee des Unpolitischen bezogen sein, die sowohl im Wilhelminischen Kaiserreich als auch in der Weimarer Republik über die Jugendbewegung hinaus weite Verbreitung fand und handfeste ideologische Implikationen mit sich führte.241 237 Ebd., S. 624f. 238 Vgl. Wolfgang Kaschuba: Volkslied und Volksmythos – Der »Zupfgeigenhansl« als Liedund Leitbuch der deutschen Jugendbewegung, in: Jahrbuch für Volksliedforschung, 1989, Bd. 34, S. 41–55, hier S. 54. 239 Pross: Jugend, S. 12. 240 Vgl. ebd. Ähnlich S. 100 und S. 108. 241 Vgl. allgemein zum Thema Fritz Stern: Die politische Folgen des unpolitischen Deutschen, in: Michael Stürmer (Hg.): Das kaiserliche Deutschland. Politik und Gesellschaft 1870– 1918, Düsseldorf 1970, S. 168–186. Vgl. außerdem die Feststellung von Laqueur : Jugendbewegung, S. 17, dass die Mitglieder der Jugendbewegung unter ihrer propagierten Distanz zum politischen Geschehen, »jeder Diskussion und Überprüfung entzogen, viele Grundsätze der offiziellen Ideologie als Glaubenssätze akzeptiert [hatten], Ideen, die in der Schule, im Elternhaus und anderswo propagiert wurden«. Prominente Verwendung fand die Ideologie des Unpolitischen in Thomas Manns »Bekenntnissen eines Unpolitischen«.
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Mit ihrer wenigstens programmatischen Freiheit von politischen Zwecken unterschied sich die bürgerliche Jugendbewegung jedenfalls deutlich von den verschiedenen Organisationen der Arbeiterjugendbewegung, zu deren Ansprüchen auch eine politische Auseinandersetzung mit den Verhältnissen und deren politische Veränderung gehörten, wenn ihre Aktivitäten auch nicht darauf beschränkt sind. Für die verschiedenen Voraussetzungen, mit denen es bürgerliche Jugendbewegung und Arbeiterjugendbewegung in ihren Anfängen zu tun hatten, hat wiederum Harry Pross eine einprägsame Formel gefunden, indem er ein entsprechendes Kapitel seiner Darstellung mit dem Gegensatz »Zeitvertreib – Kampf um Freizeit« überschrieb.242 Sicherlich lassen sich die Aktivitäten der bürgerlichen Jugendbewegung nicht auf den Aspekt der Freizeitgestaltung reduzieren.243 Immerhin aber stand den Mitgliedern des Wandervogels mit den Nachmittagen nach Schulschluss und den Ferien ein hohes Maß an Freizeit zur Verfügung, während ihre proletarischen Altersgenossen durch ihre Arbeit oder Ausbildung mit deutlich weniger Zeit zur eigenen Disposition auskommen mussten.244 Ebenso wenig wie die Arbeiterjugendbewegung wird die jüdische Jugendbewegung Gegenstand dieser Arbeit sein, zu der mit Verbänden wie Blau-Weiß, Bund für jüdisches Jugendwandern und den Kameraden, deutsch-jüdischer Wanderbund auch Organisationen zählen, die in ihrem Stil und ihren Praktiken wesentlich vom Wandervogel beeinflusst waren.245 Entstanden waren die Vereine der jüdischen Jugendbewegung einerseits in Reaktion auf antisemitisch motivierte Diskriminierung und den Ausschluss jüdischer Schüler von anderen Vereinen und Organisationen,246 andererseits aber auch als eigenständige Ju242 Pross: Jugend, S. 87. 243 Dass selbst dieser Aspekt in seiner Bedeutung nicht unterschätzt werden darf, macht Aufmuth: Wandervogelbewegung, S. 190 deutlich, wenn er die Reklamation eines Anrechts »auf Freizeit im Sinne eines von Zugriffen und Anforderungen der Erwachsenen befreiten Zeitkontingents« durch die Jugendbewegung als entscheidenden Schritt bei der Etablierung des modernen Rollenmusters »Jugendlicher« interpretiert. Von den verschiedenen, auch politischen Zwecken, die sich die Jugendbewegung im Laufe der Jahre dann doch zuschrieb und zugeschrieben bekam, wird wiederum in diesem und den folgenden Kapiteln des Öfteren die Rede sein. 244 Vgl. zur Arbeiterjugendbewegung den knappen Überblick bei Pross: Jugend, S. 87–89. 245 Vgl. zur jüdischen Jugendbewegung die knappe Darstellung von Moshe Zimmermann: Juden jugendbewegt, in: G. Ulrich Großmann (Hg.): Aufbruch der Jugend. Deutsche Jugendbewegung zwischen Selbstbestimmung und Verführung. Ausstellung im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg, Nürnberg 2013, S. 105–112 und die dort angegebene weiterführende Literatur. 246 Zum Antisemitismus der bürgerlichen Jugendbewegung vgl. grundlegend Andreas Winnecken: Ein Fall von Antisemitismus. Zur Geschichte der deutschen Jugendbewegung vor dem Ersten Weltkrieg, Köln 1991, sowie den Sammelband von Gideon Botsch und Josef Haverkamp (Hg.): Jugendbewegung, Antisemitismus und rechtsradikale Politik. Vom »Freideutschen Jugendtag« bis zur Gegenwart, Berlin u. a. 2014.
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gendorganisationen innerhalb der zionistischen Bewegung. Wenngleich die Untersuchung der Funktion von Literatur für diese Gruppen, zum Beispiel hinsichtlich der Entwicklung einer kollektiven jüdischen oder deutsch-jüdischen Identität, ebenfalls ein wichtiges Thema wäre, werden sie innerhalb dieser Studie nicht berücksichtigt.247 Ein Vergleich des Umgangs mit Literatur in jüdischer und nicht-jüdischer Jugendbewegung, womöglich auch unter Berücksichtigung der Publikationen der Arbeiterjugendbewegung, könnte überdies Erkenntnisse darüber befördern, was im frühen 20. Jahrhundert als typisch jugendlicher Umgang mit Literatur gelten kann und wo sich im Gegenteil die Spezifika des jeweiligen Milieus bemerkbar machen. Vergleichende Untersuchungen dieser Art waren im Rahmen vorliegender Untersuchung jedoch nicht möglich. Auch die Jugendkulturbewegung, deren prominenteste Vertreter Walter Benjamin und Siegfried Bernfeld sind, ist nicht Gegenstand dieser Arbeit. Zwischen Jugendbewegung und Jugendkulturbewegung gibt es zwar zahlreiche Parallelen und teilweise personelle und organisatorische Überschneidungen. Auch stammen die Mitglieder beider Bewegungen aus demselben Milieu.248 Anhänger der Jugendkulturbewegung sind überdies im Umfeld des Freideutschen Jugendtages aktiv und zeitweise in die Entwicklung der Freideutschen Jugend involviert.249 »Der Anfang«, eine Zeitschrift, die wesentlich von den Zielen und Ideen der Jugendkulturbewegung geprägt ist und deren Mitarbeiter und Autoren zu dieser gehören, wird auch in der Jugendbewegung rezipiert, wenigstens in deren freideutschen, studentischen Kreisen. Auseinandersetzungen um den »Anfang« sind es jedoch gleichzeitig, die die Spannungen und Differenzen deutlich hervortreten lassen. Als im Januar 1914 ein Abgeordneter der Zentrums-Partei im bayerischen Landtag heftige Vorwürfe gegen die Jugendbewegung vortrug, bezog er wesentliche Aspekte seiner Anklage aus dem »Anfang«. Die kurz darauf einberufene »Aufklärungsversammlung« in der Münchner Tonhalle, vor allem aber der im März abgehaltene »Vertretertag« der Freideutschen Jugend in Marburg führten zu Entschlüssen, die nicht nur alle »Älterenverbände«, sondern auch alle »Zweckverbände« aus der Freideutschen 247 Vgl. hierzu aber die knappen Hinweise bei Zimmermann: Juden, S. 107, zur Wahrnehmung Dietrich von Berns als Vorbild jüdischer Jugendlicher in Blau-Weiß und S. 110f. zur Adaption der »Wacht am Rhein« als »Wacht am Jordan«. 248 Es handelt sich, wie Peter Dudek: Fetisch Jugend. Walter Benjamin und Siegfried Bernfeld – Jugendprotest am Vorabend des Ersten Weltkrieges, Bad Heilbrunn 2002, S. 74, feststellt, um »Jugendliche des unteren und mittleren Bürgertums […], die sich vorwiegend aus Gymnasiasten der mittleren und höheren Klassen rekrutierten«. Der Anteil jüdischer Schüler war in der Jugendkulturbewegung jedoch deutlich höher als im Wandervogel. Vgl. zum Verhältnis von Jugendbewegung und Jugendkulturbewegung auch Heinrich Kupffer : Gustav Wyneken, Stuttgart 1970, S. 74–80. 249 Vgl. zur Freideutschen Jugend ausführlich weiter unten, S. 105–110.
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Jugend ausschlossen. Diese Abwehrmaßnahmen und Distanzierungen galten nicht zuletzt Gustav Wyneken, der sowohl im Zentrum der Vorwürfe der Öffentlichkeit stand als auch innerhalb des Verbandes der Freideutschen Jugend entschieden Einfluss zu nehmen versuchte.250 Damit ging die Distanzierung vom »Anfang« einher, dessen Mentor Wyneken war und dessen Bund für Freie Schulgemeinden ebenfalls ein wichtiger Bezugspunkt für das dem »Anfang« nahestehende Akademische Comit8 für Schulreform war.251 Spätestens jetzt wurde deutlich, dass der Wandervogel – und mit ihm bis zu einem gewissen Punkt auch die Freideutsche Jugend – »die Nischen im Prozeß der Sozialdisziplinierung der Jugend suchte«, während »sich die Aktivitäten der Jugendkulturbewegung eher als einen Angriff auf jenen Prozeß interpretieren [lassen], der entsprechend repressive Reaktionen auslöste«.252
3.2
Das Zeitschriftenkorpus
In das Untersuchungskorpus sind Zeitschriften der Jugendbewegung eingegangen, die zwischen 1904 und 1923 entstanden sind. Quellen außerhalb dieses Zeitraums wurden nur sporadisch und vor allem aus der Entstehungszeit des Wandervogels berücksichtigt, allerdings nicht systematisch erfasst. 1904 erschien mit dem »Wandervogel. Illustrierte Monatsschrift« die erste regelmäßige Publikation des Wandervogels. Derart einschlägige Gründe lassen sich für die Wahl des Jahres 1923 als zweiter zeitlicher Eingrenzung des Untersuchungszeitraumes nicht anführen. Immerhin aber fand damals anlässlich des zehnjährigen Jubiläums der »Zweite Freideutsche Jugendtag« statt, der im Ergebnis die endgültige Zersplitterung der Freideutschen Jugend in unterschiedliche politische Lager zeitigte.253 Bereits ein Jahr zuvor hatte die gleichnamige Zeitschrift ihr Erscheinen eingestellt. Es sind nicht zuletzt pragmatische Gründe, die zu der Entscheidung geführt 250 Die Entwicklungen rund um die Debatte im bayerischen Landtag, die »Aufklärungsversammlung« und den Marburger Vertretertag schildert ausführlich Dietmar Schenk: Die Freideutsche Jugend 1913–1919/20. Eine Jugendbewegung in Krieg, Revolution und Krise, Münster 1989, S. 69–87. Vgl. außerdem Klaus Laermann: Der Skandal um den Anfang. Ein Versuch jugendlicher Gegenöffentlichkeit im Kaiserreich, in: Koebner, Janz, Trommel (Hg.): Mythos, S. 360–381. 251 Vgl. zum Akademischen Comit8 für Schulreform Dudek: Fetisch, S. 149–161; vgl. sowohl zum A.C.S. als auch zur Jugendkulturbewegung außerdem Ulrich Herrmann: Die Jugendkulturbewegung. Der Kampf um die höhere Schule, in: Koebner, Janz, Trommel (Hg.): Mythos, S. 224–244. 252 So das Fazit von Dudek: Fetisch, S. 96. 253 Vgl. Heinrich Steinbrinker : Kurzchronik [Die Freideutsche Jugend 1919–1923], in: Kindt (Hg.), Bündische Zeit, S. 252f., hier S. 253.
Das Zeitschriftenkorpus
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haben, die Untersuchung gerade mit diesem Jahr enden zu lassen und die vor allem gegen eine frühere zeitliche Eingrenzung sprachen. So konnten mehrere Jahrgänge des »Weißen Ritters«, einer Zeitschrift, die auf die Jugendbewegung nach dem Ersten Weltkrieg einen gewissen Einfluß ausübte und beispielhaft für die beginnende »bündische Zeit« der Jugendbewegung steht, in die Auswertung einbezogen werden.254 Auch die Zeitschrift »Junge Menschen«, die bis heute als eine der interessantesten der Jugendbewegung gilt und politisch eher auf ihrem linken Flügel zu verorten ist, konnte so mit mehreren Jahrgängen berücksichtigt werden. Gegen eine Ausdehnung des Untersuchungszeitraums, womöglich bis zum Verbot der Bünde und deren Integration in die Hitlerjugend 1933, sprach die Materialfülle, deren Berücksichtigung auf Kosten inhaltlicher Tiefe bei der Auswertung gegangen wäre. Mit ihren Bundeszeitschriften sind die großen Wandervogelbünde vertreten, die Freideutsche Jugend durch die gleichnamige Zeitschrift. Die »Wandervogelführerzeitung« repräsentiert den völkischen Flügel der Jugendbewegung.255 Mit der Bundeszeitschrift des Deutsche Mädchen-Wanderbund wurde die Publikation des ersten unabhängigen Mädchenbundes der Jugendbewegung in das Korpus aufgenommen. Als eine der größten überbündischen Zeitschriften der Nachkriegszeit, die dem Austausch über die individuelle wie kollektive Zukunft insbesondere der älteren, aus dem Krieg zurückgekehrten Wandervögel diente, wurde der »Zwiespruch« in die Analyse einbezogen. Damit ist nur ein Bruchteil der immensen Zeitschriftenproduktion erfasst. 254 Skeptisch gegenüber der in der Erinnerungsliteratur und der Forschung wiederholt behaupteten Vorbildfunktion des »Weißen Ritter« für die Profilbildung der Bünde der Weimarer Zeit äußert sich nun allerdings Ahrens: Bündische Jugend, S. 121, dessen Untersuchung einer breiten Materialmenge keine Hinweise auf »eindeutige Aneignungsprozesse« der in der Zeitschrift vertretenen Ideen erkennen lässt. 255 Der Begriff des »Völkischen« ist in der Forschung umstritten. Einen Überblick über die Diskussion bietet Stefan Breuer: Die Völkischen in Deutschland. Kaiserreich und Weimarer Republik, Darmstadt 2008, S. 7–22; vgl. zu den Problemen, die Interferenzen zwischen Jugendbewegung und völkischer Bewegung inhaltlich festzumachen ebd., S. 212f. Für die Einordnung der »Führerzeitung« als Sprachrohr eines völkischen Flügels der Jugendbewegung ist die Beschreibung zentraler Elemente völkischen Denkens bei Breuer zwar hilfreich. In den Artikeln der »Führerzeitung« wird immer wieder ein ethnischer Nationalismus ebenso wie ein rassischer Antisemitismus zum Ausdruck gebracht, und auch die »Kritik der reflexiven Modernisierung«, von Breuer ebd., S. 12f., als eines der Kernelemente völkischer Ideologie identifiziert, fehlt nicht. Allerdings hat die »Führerzeitung« auf diese Aspekte kein Monopol. Sie finden sich vielfach auch in anderen Publikationen der Jugendbewegung. Wichtiger ist daher die Einbindung der Zeitschrift, ihrer Herausgeber und ihrer maßgeblichen Autoren in das Netzwerk der völkischen Bewegung, die in Gruppenmitgliedschaften zum Ausdruck kommt, aber auch im Abdruck von Artikeln ihrer ideologischen Vordenker und in einer Präferenz, Bücher aus ›szenenahen‹ Verlagen zu rezensieren und zu bewerben. Einen Überblick über Ideologie, Personen, Vereine und Netzwerke bieten die Beiträge in Uwe Puschner, Walter Schmitz, Justus H. Ulbricht (Hg.): Handbuch zur »Völkischen Bewegung« 1871–1918, München 1996.
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Vollständigkeit wäre angesichts der unzähligen Publikationen auch gar nicht möglich gewesen, weswegen von vornherein eine repräsentative Auswahl angestrebt wurde. So ziemlich jeder größere und kleinere Bund versorgte seine Mitglieder mit einer eigenen Zeitschrift, meist auch zusätzlich die regionalen Unterorganisationen der Bünde. Hinzu kamen zahlreiche überbündische Zeitschriften, von denen es manche nur auf wenige Ausgaben, andere hingegen auf mehrere Jahrgänge brachten, so dass sich Pross zu dem Kommentar veranlasst sah, dass »[n]och nie […] eine Jugend einen solchen Haufen Papier zusammengetragen [hat]«.256 Bei der einzigen Studie, die sich bislang umfassend mit den Zeitschriften der Jugendbewegung beschäftigt hat, handelt es sich um eine Dissertation von 1938. Die Dissertationsschrift bietet zwar immer noch einen guten Überblick über die einzelnen Publikationen und einiges an detailliertem Faktenwissen. Die inhaltlichen Analysen bleiben jedoch weitgehend oberflächlich. Darüber hinaus finden sich zahlreiche Passagen, in denen die Geschichte der Jugendbewegung ausschließlich aus der Perspektive des Nationalsozialismus interpretiert wird,257 oder einseitig Hans Blühers Interpretation der Jugendbewegung als revolutionärem Akt das Wort geredet wird.258 In Anbetracht der problematischen Aspekte jener Arbeit kann eine umfassende Untersuchung der Zeitschriften der Jugendbewegung weiterhin als Forschungsdesiderat gelten, das umso dringlicher ist, als keine gründliche wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Jugendbewegung auf ein Studium ihrer Zeitschriften verzichten kann.259 256 Pross: Jugend, S. 72. 257 Vgl. Herbert Schierer : Das Zeitschriftenwesen der Jugendbewegung. Ein Beitrag zur Geschichte der Jugendzeitschrift, Charlottenburg 1938, bspw. S. 108, wo der Verfasser es bedauert, dass trotz aller Übernahme völkischer und nationalsozialistischer Ideen »diese Jugendbewegung – als Ganzes – nie den Mut fand, sich der Jugend des Führers anzuschließen«. Gleichzeitig sei zu seinen Gunsten jedoch auf S. 52 verwiesen, wo er im Hinblick auf die »Wandervogelführerzeitung« von »eine[r] gewisse[n] Einseitigkeit der Zeitschrift in ihrer Haltung zur Judenfrage« spricht und ihr eine »krasse antisemitische Haltung« attestiert. Die kritische Haltung gegenüber der »Führerzeitung« könnte freilich auch Ausdruck der Distanz des Nationalsozialismus gegenüber der völkischen Bewegung sein. Immerhin aber werden die dem linken Flügel der Jugendbewegung zugehörigen Zeitschriften ebenfalls aufgeführt und weitgehend objektiv beschrieben. 258 Vgl. beispielsweise ebd., S. 14. Schierer behauptet hier, dass die »Bestrebungen der Jugend nicht nur keine Billigung fanden, sondern ihr die bittersten Anfeindungen eintrugen. Da der Abwehr solcher Angriffe verständlicherweise auch nicht die Spalten der Presse zur Verfügung gestellt wurden, mußte sich die Jugend aus dem Nichts heraus das publizistische Mittel schaffen, das die einzige Möglichkeit bot, […] Verleumdungen entgegenzutreten«. Der These von der Entstehung der Jugendbewegung aus einer »Empörung« gegen die Welt der Erwachsenen, die Hans Blüher in seiner Geschichte des Wandervogels wirkungsvoll vorgetragen hatte, widerspricht zuerst nachdrücklich Aufmuth: Wandervogelbewegung. 259 Das Forschungsdesiderat benennt auch Ivonne Meybohm: Krisenwahrnehmung im Wandervogel (1907–1914), in: Michel Grunewald, Uwe Puschner (Hg.): Krisenwahrnehmungen
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Dieses Desiderat kann hier nicht beseitigt werden. Im Folgenden sollen lediglich die untersuchten Zeitschriften in groben Zügen vorgestellt werden, um auf dieser Grundlage der Frage nachzugehen, warum überhaupt literaturkritische Texte geschrieben und veröffentlicht werden. Parallel zur Charakterisierung der Zeitschriften soll die Geschichte und das Profil der mit ihnen verbundenen Organisationen und Bünde skizziert werden, soweit sie in den Zeitraum dieser Untersuchung fallen.
3.3
Die Zeitschriften der Wandervogelbünde
Die untersuchten Zeitschriften der Wandervogelbünde unterscheiden sich in ihrem Profil nur marginal. Es bietet sich daher an, sie gemeinsam vorzustellen, dabei jedoch nicht die Besonderheiten der jeweiligen Bünde aus den Augen zu verlieren. Als im März 1904 mit dem »Wandervogel. Illustrierte Monatsschrift«260 die erste Zeitschrift des Wandervogels erscheint, lag die offizielle Gründung des Wandervogel, Ausschuß für Schülerfahrten (AfS) bereits mehr als zwei Jahre zurück. In einem vom Herausgeber der Zeitschrift erbetenen Geleitwort äußert sich der Schriftsteller und Sozialreformer Heinrich Albrecht zu den Zwecken der neugegründeten Publikation, die er in engem Zusammenhang mit einem im Wandervogel wirksamen »sozial-ethische[n] Gedanke[n]« sieht, welcher darin bestehe, »ganze Männer zu erziehen« und der Entwicklung eines »nervöse[n] Geschlecht[s]« entgegenzuwirken: »Durch welche Mittel dieses Ziel erreicht werden soll, davon werden diese Blätter Kunde geben. Sie sollen das einigende Band herstellen zwischen den geistigen Leitern des Unternehmens und seiner Anhängerschaft, die sich allmählich weit über den engeren Kreis auszudehnen beginnt, von dem es seinen Ausgang genommen hat. Sie wollen zugleich werben helfen, diesen Kreis stetig zu erweitern.«261
Einige der von Albrecht genannten Gesichtspunkte tauchen erneut in einer nur mit den Initialen H.K. unterzeichneten Zuschrift auf, die ebenfalls in der Erstlingsnummer abgedruckt ist und deren Verfasser sich unter der Überschrift »Unsere Zeitschrift« Gedanken über die neue Publikation macht: in Deutschland um 1900. Zeitschriften als Foren der Umbruchszeit im wilhelminischen Reich, Bern 2010, S. 509–522, hier S. 512. 260 Der vollständige Titel der Zeitschrift lautet »Wandervogel. Illustrierte Monatsschrift. Herausgegeben unter Mitwirkung namhafter Schriftsteller von Fritz A. Meyen. Amtliches Organ der Geschäftsleitung des Ausschusses für Schülerfahrten ›Wandervogel‹«. Ab der Ausgabe 6 (1904) zeichnet auch der »Oberbachant« Karl Fischer als Mitherausgeber. 261 H.[einrich] Albrecht: Geleitwort, in: Wandervogel Illustrierte Monatsschrift, 1904, H. 9, S. 2.
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»Der ›Wandervogel‹ [die Zeitschrift, M.L.] soll den Gedanken der Einheit aller ›Wandervögel‹ in alle Gaue tragen; er soll für alles Schöne und Hohe begeistern, das der Wanderer mit und durch ›Schusters Rappen‹ erleben und geniessen darf; er soll werben für die immer tiefer werdende Erkenntnis der kulturellen Mission des Jugendwanderns im allgemeinen; er soll aber auch seinen Lesern ein praktischer und verlässlicher Ratgeber sein, er soll in allen Fragen belehrend und klärend wirken; kurzum, er soll der stets freudig begrüsste Freund der Angehörigen des ›Wandervogels‹ sein. Dann steht er auf der Höhe seiner Aufgabe; dann ist er die herrlichste Einrichtung unseres Bundes, weil er Allgemeingut im wahren Sinne des Wortes ist. Und dann ist er auch ein Bindeund Propagandamittel vornehmster Art; als eine Zeitung wirklicher Gediegenheit wird er sich und dem Bund Freunde erwerben, wohin ihn der Stephansbote tragen mag.«262
Dass die Zeitschrift diesen weitreichenden Ansprüchen nicht gerecht werden konnte, ist kaum überraschend. Die erste Ausgabe bringt zunächst den Text des »Wandervogel-Bundesliedes« »Grün-Rot-Gold« und das genannte Geleitwort von Heinrich Albrecht. Es folgt ein Aufsatz über »Meine erste Seereise«. Sprachlich und inhaltlich an eine Broschüre für Touristen erinnernd, schildert der Verfasser eine anhand einer topographischen Karte imaginierte Seereise, die er jedoch mit einigen Wandervögeln in die Realität umzusetzen gedenke. Weiter werden Amtliche Bekanntmachungen des Vereins abgedruckt und Wanderungen angekündigt. Die Rubrik »Briefkasten« beantwortet nicht publizierte Einsendungen. Den Abschluss bilden Anzeigen diverser Firmen.263 Die Qualität nicht nur des ersten Heftes, sondern der gesamten Zeitschrift erregte das Missfallen der ersten Chronisten und Interpreten der Jugendbewegung. Hans Blüher sieht »[m]it dem Erscheinen dieser Zeitschrift […] fast augenblicklich die Periode der Geschmacklosigkeit und der Reklamesucht [beginnen]. […] Plump, gemütlos, eitel, streberisch, gedruckt. Das war die literarische Physiognomie der ersten Wandervogel-Zeitschrift«.264 Treffender noch ist das Urteil Hugo Schomburgs: »Jeder, der die literarischen Erzeugnisse der ersten 262 H. K.: Unsere Zeitschrift, in: Wandervogel Illustrierte Monatsschrift, 1904, H. 1, S. 6–8, hier S. 7. Bereits in diesen beiden programmatischen Geleit- und Grußworten erweist sich die Zweckfreiheit des Wandervogels als Chimäre. Während in der Zuschrift von H.K. vage von einer »kulturellen Mission« des Wandervogels die Rede ist, erklärt Albrecht das Jugendwandern zu einem Therapeutikum gegen das kulturkritisch diagnostizierte ›nervöse Zeitalter‹. Vgl. hierzu auch Joachim Radkau: Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler, München 1998. 263 Vgl. zu den Anzeigen in den Zeitschriften der Jugendbewegung Schierer : Zeitschriftenwesen, S. 93–95. Die Annoncen würden nicht nur einen hervorragenden kulturhistorischen Forschungsgegenstand abgeben, sondern auch für eine Untersuchung der Literaturrezeption der Jugendbewegung hilfreich sein, insofern wenigstens in späteren Jahren Verlage zu den häufigsten Anzeigenkunden gehören. Die Quellenlage jedoch ist problematisch, da in den archivierten gebundenen Jahrgängen von ihren vormaligen Besitzern oftmals der Anzeigenteil entfernt wurde. Daher wurde in dieser Arbeit darauf verzichtet, die Annoncen in das Quellenmaterial einzubeziehen. 264 Blüher: Wandervogel I, S. 155.
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Jahre des Wandervogels durchblättert, wird entsetzt sein über die Dürftigkeit des Inhalts. Schülerzeitung! Nachrichtenblätter! Farblose Schilderungen von Wanderfahrten wechseln ab mit Witzen und schlechten Geschichten«.265 Ungeachtet aller berechtigten Kritik lassen sowohl die zitierten programmatischen Aussagen als auch die Zeitschriftennummer selbst bereits Funktionen erkennen, die fortan alle Zeitschriften der Wandervogelbünde zu erfüllen hatten: Sie sollten die Bindung zwischen den Mitgliedern des Wandervogels herstellen und festigen; sie sollten Werbung für den Wandervogel machen; und schließlich sollten sie »ein praktischer und verlässlicher Ratgeber« sein, wenn hier auch noch nicht recht deutlich wird, welcher Art die erwünschten Unterweisungen sein sollen. Denn dass die Zeitschriften schlichtweg in allen Fragen »belehrend und klärend wirken« könnten, dürfte selbst der Verfasser des Beitrags nicht ernsthaft erwartet haben. Die Funktion, »ein Band um alle Wandervögel […] zu schlingen«,266 wurde nötig, da der Ausschuß für Schülerfahrten mittlerweile nicht nur an Mitgliedern gewachsen war, sondern in Lüneburg und Posen auch die ersten Gruppen außerhalb des Großraums Berlin gegründet worden waren.267 Da ein persönlicher Austausch nicht mehr ohne weiteres und unter allen Mitgliedern möglich war, bedurfte es des Mediums der Zeitschrift, um die Kommunikation zwischen den Mitgliedern zu ermöglichen. Die Zeitschrift dient so zunächst einmal als Informationsmedium, in dem die Gründung neuer Gruppen oder die Ernennung von Gruppenleitern vermeldet wird, die einzelnen Gruppen über ihre Treffen und Wanderungen berichten können oder – häufig tabellarisch angeordnete – statistische Angaben über die Mitgliederentwicklung und die Reiseaktivität des Wandervogels Auskunft geben. Insofern lassen sich die Wandervogelzeitschriften als Vereinszeitschriften verstehen. Als solche dienen sie gleichzeitig dazu, der interessierten Öffentlichkeit gegenüber Rechenschaft abzulegen sowie neue Mitglieder und Unterstützer zu werben. Zum Kreis der potentiellen Leser gehören nicht nur die aktiven Wandervögel, sondern wohl auch deren Freunde, Mitschüler und Geschwister sowie Eltern, Lehrer, Politiker und Beamte und überhaupt die interessierte Öffentlichkeit im Allgemeinen.268 Sollte der Wandervogel weiter wachsen, war hierfür 265 H.[ugo] E. Schomburg: Der Wandervogel, seine Freunde und Gegner, Wolfenbüttel 1917, S. 23. 266 Anonym: An unsere Leser, in: Nachrichtenblatt, 1911, H. 3, S. 40. Die Formulierung von 1911 belegt, dass diese Funktion über die Anfangszeit des Wandervogels hinaus relevant bleibt. 267 Vgl. Walther Gerber, Heinrich Ahrens: Kurzchronik [Wandervogel, Ausschuß für Schülerfahrten; Zweite Phase (1901–1904)], in: Kindt (Hg.): Wandervogelzeit, S. 40–41, hier S. 41. 268 Angesichts der breiten und heterogenen Leserschaft dürfte die Leserzahl in den meisten Fällen deutlich über der in den Zeitschriften genannten Auflagenzahl gelegen haben. Justus
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das Wohlwollen erwachsener Autoritäten notwendig. Inwieweit derartige Rücksichtnahme die Beiträger beim Schreiben beeinflusst hat oder die Redakteure bei der Auswahl der Beiträge geleitet hat, lässt sich im Einzelnen schwer nachvollziehen. Dass hieraus aber mitunter Interessenkonflikte entstehen konnten, hält eine anonym bleibende Autorin in der Erstausgabe des »MädchenRundbriefs« fest, der seine Entstehung unter anderem dem Wunsch einiger Mitglieder des Deutsche Mädchen-Wanderbundes verdankt, ohne Rücksicht auf die Interessen des Bundes in einen Meinungsaustausch treten zu können: »Vielleicht ist eine freie Aussprache im Rahmen einer bestimmten Bundeszeitung überhaupt nicht möglich, weil immer wieder gefordert wird, daß ein solches Blatt nicht nur Spiegel der Bewegung sein möge, sondern gleichsam ein makelloses Wappenschild gemäß dem festgelegten Ziel des betreffenden Bundes.«269
Auseinandersetzungen um die Ausrichtung der Zeitschriften werden ebenso durch die heterogene Altersstruktur der Leserschaft und der Autoren befördert. Immer wieder neu steht zur Debatte, ob sich die Zeitschriften eher an die jüngeren oder an die älteren Mitglieder der Bünde richten sollen oder ob sich beides miteinander verbinden lässt. Zur Disposition steht das Profil der Zeitschriften als Jugendzeitschriften. Die Ansichten reichen von der Feststellung, dass »[u]nsere Zeitung […] eine Zeitung des Bundes [ist], bestimmt für alle Mitglieder von 12 bis über 90 Jahren«,270 bis hin zur Forderung, die Bundeszeitschrift solle »in erster Linie für die Jüngeren da sein. Nicht die Führer und Studenten dürfen ihren Inhalt bestimmen«.271 Wenn eine der Zeitschriften sich inhaltlich zu einseitig auf ihre älteren oder jüngeren Leser konzentriert, werden schnell Stimmen laut, die Änderungen einklagen.272 Die Wünsche und Ansprüche der gesamten Leserschaft zu
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H. Ulbricht: Ein »Weißer Ritter« im Kampf um das Buch. Das Verlagsunternehmen von Franz Ludwig Habbel und der Bund Deutscher Neupfadfinder, in: Walter Schmitz, Herbert Schneidler (Hg.): Expressionismus in Regensburg, Regensburg 1991, S. 149–174, hier S. 169, geht davon aus, dass »in der Jugendbewegung schätzungsweise auf einen Abonnenten 10 bis 15 Leser, wenn nicht noch mehr«, gekommen sind: »Oftmals haben die Führer ein Exemplar einer Zeitschrift für ihre gesamte Gruppe bestellt, in der die Bücher eifrig zirkulierten oder in der Nestbücherei auslagen«. Anonym: Zum Geleit, in: Mädchenrundbrief, 1922, H. 1, S. 1f., hier S. 2. Konrad Wislicenus: Grundsätzliches, in: Alt-Wandervogel, 1913, H. 12, S. 289–292, hier S. 291. Albrecht Meyen: Fahrtenblatt, Gaublatt und Bundeszeitung, in: Alt-Wandervogel, 1915, H. 10, S. 194–194, hier S. 196. Vgl. unter anderem Konrad Wislicenus: Zum Geleit, in: Alt-Wandervogel, 1913, H. 1/2, S. 1–5, hier S. 2, der als neuer »Schriftleiter« der Zeitschrift des Alt-Wandervogels dem ersten von ihm verantworteten Heft die Überlegungen voranstellt, dass »[d]ie Verbandszeitung […] sich doch eigentlich nur an den einen Teil unserer Leser, an die Jüngeren [wandte]. Die Erwachsenen kamen zu kurz. Die Folge davon war dann, daß nur die wenigsten von ihnen sie überhaupt lasen; oder sie sahen nur die sehr spärlichen Bemerkungen über die Bewegung und etwa noch die Mitteilungen der Leitungen an. Wir wollen daran denken, daß doch unsere Mitglieder nach den Satzungen und den Tatsachen die Erwach-
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befriedigen, scheint ein aussichtsloses Unterfangen gewesen zu sein. Dementsprechend heterogen sind auch die Inhalte der Hefte, die über Vereinsverlautbarungen hinausgehen. In der Anfangszeit sind dies vor allem Reiseberichte, »Schulhumor«, Stilblüten aus Zeitungen und volkskundliche Artikel. Letztere sind Hinweis darauf, dass das Wandern nicht nur als Selbstzweck verstanden wurde, sondern auch dazu dienen sollte, die »Heimat« kennenzulernen und in patriotischer Absicht die »Liebe« zu ihr zu wecken. Beachtenswert ist in der Zeitschrift des Ausschuß für Schülerfahrten in literaturhistorischer Hinsicht der in fünf Fortsetzungen erfolgte Abdruck der Erzählung »Vater Gründlings Wanderfahrt« des Schriftstellers und Stellvertretenden Vorsitzenden des AfS Heinrich Sohnrey, zeugt sie doch von der engen persönlichen Vernetzung der Jugendbewegung mit der Heimat(kunst)bewegung.273 Als die letzten Teile dieser Erzählung veröffentlicht werden, existiert zwar die Zeitschrift noch, der Ausschuß für Schülerfahrten jedoch ist aufgelöst. An seiner Stelle existieren seit dem 2. November 1904 der Wandervogel, Eingetragener Verein zu Steglitz bei Berlin (Steglitzer EV) und seit dem 26. Januar 1905 der AltWandervogel (AWV). Vorausgegangen waren der Spaltung Differenzen über den Führungsstil des »Oberbachanten« Karl Fischer, über den Stil der Wanderungen und wohl auch persönliche Animositäten.274 Die frühere Zeitschrift des AfS erscheint nach der Auflösung zunächst unverändert weiter, wenn auch der neue Untertitel »Zentral-Organ zur Förderung des Jugendwanderns« vom Anspruch Karl Fischers zeugt, weiterhin die entscheidende Autorität in Sachen des Wandervogels zu sein. Nach der offiziellen Neugründung des Alt-Wandervogels bleibt der Name der Zeitschrift weiterhin
senen sind, die wir nicht vernachlässigen dürfen, wollen wir nicht unserer Bewegung schwer schaden«. Vgl. andererseits den Leserbrief von Gerhard Weißer : Von der Zeitung, in: Wandervogel Monatsschrift, 1915, H. 2, S. 63, der – selber 16 Jahre alt – ein deutliches Übergewicht der älteren Wandervögel unter den Autoren der Zeitschrift bemängelt und den Wunsch äußert, andere seiner Altersgruppe möchten es ihm gleichtun und Beiträge einsenden. Ebenso fordert Willibald Hahn: Sächsischer Führertag in Hellerau, in: Wandervogel Monatsschrift 1915, H. 4, S. 109: »Die Zeitung darf nur für die jungen Wandervögel da sein, die alten Wandervögel, die Mitglieder oder die Außenstehenden dürfen nicht ihren Inhalt bestimmen«. 273 Vgl. hierzu auch weiter unten das Kapitel zu Literatur als Landes- und Heimatkunde. Vgl. zum Schriftsteller, Publizisten, Volkskundler und Volkspädagogen Sohnrey Gerd Busse: Zwischen Hütte und Schloss. Heinrich Sohnrey. Schriftsteller, Sozialreformer, Volkskundler, Holzminden 2009, sowie Niemeyer : Seiten, S. 70–75, der sich insbesondere antisemitischen und völkischen Positionen Sohnreys widmet. Vgl. dazu auch Dirk Schumann: Gutachterliche Stellungnahme zum Ehrenbürger (1934) der Georg-August-Universität Heinrich Sohnrey (1859–1948). Veröffentlicht auf: http://www.uni-goettingen.de/ de/110554.html. 274 Einen Überblick bieten Gerber, Ahrens: Kurzchronik, S. 40f. und Copalle, Ahrens: Chronik, S. 18–25.
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»Wandervogel. Illustrierte Monatsschrift« und erhält den Untertitel »Amtliche Mitteilungen für den ›Alt-Wandervogel‹ (Bund für Jugendwanderungen)«.275 Der Steglitzer EV gibt seit September 1904 eine eigene Zeitschrift unter dem Titel »Nachrichtenblatt des ›Wandervogel‹, Eingetragener Verein zu Steglitz bei Berlin« heraus, für die zunächst der bereits erwähnte Heinrich Albrecht verantwortlich zeichnet, vom Dezember 1908 an Frank Fischer.276 Im ersten Jahrgang 275 Vollständig heißt die Zeitschrift seit der Ausgabe 1 (1905) »Wandervogel. Illustrierte Monatsschrift. Herausgegeben unter Mitwirkung namhafter Schriftsteller von Fritz A. Meyen und Karl Fischer. Zentral-Organ zur Förderung des Jugendwanderns. Amtliche Mitteilungen für den ›Alt-Wandervogel‹ (Bund für Jugendwanderungen). Beirat: Schriftsteller Wolfgang Kirchbach«. Im August 1906 geht die Zeitschrift aus dem Privatverlag von Meyen und Fischer in die Hände der neuen Bundesleitung über, die durch die seit April desselben Jahres beschlossene Satzung den »Großbachanten« als Entscheidungsgremium des AWV ersetzt hatte. Fritz Meyen wurde aus dem AWV ausgeschlossen, Karl Fischer trat aus. Die Zeitschrift trägt von da an den Titel »Der Wandervogel. Zeitschrift des Bundes für Jugendwanderungen ›Alt-Wandervogel‹. Herausgegeben von der Bundesleitung des AltWandervogels« Vgl. hierzu auch die Ausführungen im Namen der Bundesleitung von Ernst Semmelroth: Geleitwort, in: Alt-Wandervogel, 1906, H. 7, S. 1–3. Die Auflage der Zeitschrift betrug 1907 2000 Exemplare im Monat und steigerte sich bis 1910 auf 5000 monatliche Exemplare. 276 Frank Fischer (1884–1914), seit 1904 Mitglied im Steglitzer EV, war promovierter Germanist und Mitarbeiter am Grimmschen Wörterbuch. Neben seiner Tätigkeit als Herausgeber und Autor von Wandervogelzeitschriften trug er sich auch gemeinsam mit Siegfried Co-
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bildet den deutlichsten Unterschied zu den Zeitschriften des AfS und des AWV der häufige und gezielte Einsatz von Photographien, die vor allem zur Illustration von Reiseberichten eingesetzt werden, wobei mitunter auch auf Reproduktionen aus Buchpublikationen zurückgegriffen wird. Bereits zu Beginn des zweiten Jahrgangs bleibt die graphische Gestaltung der Zeitschrift jedoch weitgehend auf den sporadischen Gebrauch von kleinen Vignetten beschränkt. Mit der Aufspaltung des Wandervogels in zwei miteinander konkurrierende Vereine bringen die Zeitschriften nun auch häufiger programmatische Aufsätze, die sich mit dem Wesen und dem Ziel des Wandervogels auseinandersetzen. Beispielhaft hierfür seien zwei Aufsätze Frank Fischers genannt: »Oratio pro domo«, der die Unterschiede zwischen dem Wandern als »Tourist« und dem Wandern als »Wandervogel« betont,277 und »Unser Wandern (Eine Parteischrift)«, der den Differenzen zwischen den verschiedenen Wandervogelbünden gilt.278 Die Zeitschriften etablieren sich so als Foren, in denen öffentlich darüber geschrieben und gestritten wird, was der Wandervogel ist und was er sein soll. In diesem Rahmen wird ebenso das Verhältnis zu anderen Strömungen und Organisationen aus dem breiten Spektrum der Lebensreform-, Heimat- und Naturschutzbewegung und der anderen Jugendverbände diskutiert,279 die Bedeutung staatlicher Bemühungen um die Jugendpflege erörtert und das Bild vom Wandervogel in der Öffentlichkeit besprochen. Wo es um den Wandervogel selbst geht, reichen die behandelten Fragen von eher harmlosen Aspekten des »richtigen Wanderns« bis hin zu Themen mit weitreichenden ideologischen Voraussetzungen und gesellschaftlichen Folgen wie in den Debatten um die Aufnahme von jüdischen Schülern, von Volksschülern und von Mädchen in den Wandervogel. An der Frage des »Mädchenwanderns« entzündet sich dann auch der Streit, der zur nächsten Spaltung des Wandervogels führt. Ferdinand Vetter,280 Gründer
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palle und Bruno Thiede als Herausgeber des ersten »Wandervogel-Liederbuches« in die Annalen der Jugendbewegung ein. Vgl. zu Fischer die Kurzbiographie in Kindt (Hg.): Grundschriften, S. 563. Auflagenzahlen der Zeitschrift des Steglitzer EV finden sich erst in ihrem letzten Jahrgang. Die Juni-Ausgabe 2 (1912) nennt 1100 Exemplare, die Ausgaben 3 und 4 (1912) im September und Dezember jeweils 1400 Exemplare. Frank Fischer : Oratio pro domo, in: Nachrichtenblatt, 1908, H. 4, S. 37–40. Fischer : Unser Wandern. Beide Aufsätze sind erneut abgedruckt in Frank Fischer : Wandern und Schauen, Göttingen 1918. Vgl. zu den zeitgenössischen Reformbewegungen grundsätzlich Kai Buchholz (Hg.): Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900, 2 Bde., Darmstadt 2001, sowie Diethart Kerbs, Jürgen Reulecke (Hg.): Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880–1933, Wuppertal 1998. Ferdinand Vetter (1877–1915), studierter Ingenieur, war zunächst als Erzieher in den Landerziehungsheimen Haubinda und Ilsenburg tätig, bevor er ein Studium der Naturwissenschaft begann und gleichzeitig Unterricht an der Höheren Mädchenschule in Jena erteilte. Als Mitglied des Deutschen Bundes abstinenter Studenten in enger Verbindung zu entsprechenden Strömungen innerhalb der Lebensreformbewegung stehend, versuchte er
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der Jenaer Ortsgruppe des AWV, beantragt 1907 auf dessen Bundeshauptversammlung nicht nur die Erlaubnis zur Aufnahme von Mädchen, sondern überdies ein satzungsmäßiges Alkoholverbot für den Wandervogel. Nach der Ablehnung beider Anträge tritt die Gruppe um Vetter aus dem AWV aus und gründet wenig später den Wandervogel, Deutscher Bund für Jugendwanderungen (WVDB). Alkohol wird hier auf den gemeinsamen Aktivitäten verboten, der Bund öffnet sich für Volksschüler und Mädchen, wobei es den Ortsgruppen freigestellt bleibt, ob sie männliche und weibliche Mitglieder nur getrennt oder auch gemeinsam wandern lassen wollen. Die erste Ausgabe der Zeitschrift des WVDB erscheint im April 1907 unter dem Titel »Blätter für den Wandervogel, Deutscher Bund für Jugendwanderungen«, ab der dritten Nummer erscheint sie als »Wandervogel – Monatsschrift des ›Wandervogel‹ Deutschen Bundes für Jugendwanderungen«.281 Anfangs unterscheidet sich die Zeitschrift nicht sonderlich von den anderen Wandervogelzeitschriften. Das ändert sich mit der zweiten Ausgabe des Jahres 1908, von der an ein von Hermann Pfeiffer entwickeltes Layout mit lateinischen Lettern und zahlreichen Scherenschnitten das Erscheinungsbild der Zeitschrift prägt, das auch auf die Zeitschriften der anderen Bünde Einfluss gewinnt.282 Erkennbar wird dieser Einfluss an der seit Dezember 1910 erscheinenden Zeitschrift des Jung-Wandervogel (JWV), die sich in ihrem Layout stark an der Gestaltung der Zeitschrift des WVDB orientiert. Der Jung-Wandervogel, Bund mit der Gründung des WVDB in diesem Sinne auch auf den Wandervogel einzuwirken. Vgl. zu Vetter Kindt (Hg.): Wandervogelzeit, S. 1069 sowie Copalle, Ahrens: Chronik, S. 33. 281 Die Auflagenzahlen der Zeitschrift schwanken zwischen 1500 Exemplaren und 5000 Exemplaren im Monat. 282 Vgl. zu Hermann Pfeiffer, der mit seinen Scherenschnitten für den »Zupfgeigenhansl« weit über die Jugendbewegung hinaus bekannt wurde, Ortrud Wörner-Heil: Kunstreform, Jugendbewegung, Siedlung. Anmerkungen zu Leben und Werk Hermann Pfeiffers (1883– 1964), in: Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung, 1999–2001, Bd. 19, S. 86– 118.
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für Jugendwanderungen war im November desselben Jahres als Abspaltung vom AWV entstanden. Hintergrund waren bereits das ganze Jahr währende Streitigkeiten über eine in Aussicht stehende Vereinigung der Wandervogelbünde sowie Meinungsverschiedenheiten über die Person Wilhelm »Willie« Jansens. Jansen, Jahrgang 1866, war dem Wandervogel bereits mehrere Jahre lang eng verbunden283 und seit 1905 offizielles Mitglied im AWV. Gegen ihn wurden Vorwürfe laut, gegen den § 175 StGB verstoßen zu haben und den Wandervogel lediglich zu nutzen, um seine Homosexualität auszuleben. Aufforderungen, von seinen Führungsämtern zurückzutreten, kam er jedoch nicht nach, woraufhin der AWV in eine schwere Krise stürzte, infolge derer es zeitweise zwei konkurrierende Bundesführungen gab.284 Anhänger Jansens forcierten den Austritt aus dem AWV und die Neugründung des JWV.285 Der JWV verstand sich explizit als Jugendbund, in dem der Einfluss Erwachsener – insbesondere der immer wieder verspotteten »Oberlehrer« – re-
283 Vgl. hierzu die Darstellung bei Blüher : Wandervogel II, vor allem S. 48–64, der in der ›Sache Jansen‹ allerdings auch Partei für Jansen ergreift. 284 Damit ging überdies die Publikation zwei verschiedener Zeitschriften einher, jeweils von den konkurrierenden Bundesleitungen herausgegeben. Es handelt sich hierbei um die Ausgaben 7, 8 und 9 (1910). 285 Zu den Entwicklungen im AWV vgl. Walther Gerber : Kurzchronik und Zeittafel [Der AltWandervogel], in: Kindt (Hg.): Wandervogelzeit, S. 104–116, hier S. 109–112; zur Entstehung des JWV ders.: Kurzchronik und Zeittafel [Der Jungwandervogel 1910–1916], in: ebd., S. 183–187, hier S. 183f. Vgl. außerdem Copalle, Ahrens: Chronik, S. 37–39.
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duziert werden sollte und plädierten in diesem Zusammenhang für einen »›WV ohne gewollte Zwecke‹«.286 Die Zeitschrift, »Jung-Wandervogel. Zeitschrift des Bundes für Jugendwandern ›Jung-Wandervogel‹«, hebt sich inhaltlich nicht sonderlich von den bisher genannten Publikationen ab.287 Durch die Veröffentlichungen Hans Blühers in dieser Zeitschrift ist sie allerdings auch über die Historiographie der Jugendbewegung hinaus relevant.
Der Wunsch zur Einigung der verschiedenen Wandervogelbünde entstand bereits seit 1909 und wurde insbesondere von Vertretern des WVDB und des AWV forciert. Erste Schritte in diese Richtung wurden beim »Sachsenburger Allgemeinen Kundenkonvent« im Mai 1910 erzielt, bei der der Wille zur Einigung bekräftigt und ein Gremium einberufen wurde, um die Details auszuarbeiten. Im Januar 1911 entstand zunächst der Verband Deutscher Wandervögel (VDW), dem anfangs nur die beiden genannten Bünde angehören, dem sich dann aber auch der Steglitzer EV, der Österreichische Wandervogel und einige kleinere Bünde anschließen. Im Januar 1911 erschienen letztmalig die Zeitschriften des WVDB und des AWV. Ab der zweiten Ausgabe dieses Jahres existierte die gemeinsame Zeitschrift »Wandervogel – Monatsschrift für deutsches Jugendwandern«, die, wenn auch mit Beteiligung verschiedener Bünde und später unter anderem Namen, eine der 286 Vgl. Copalle, Ahrens: Chronik, S. 38. 287 Die Zeitschrift nennt keine Auflagenzahlen. Da jedes Bundesmitglied zur Abnahme einer Zeitschrift verpflichtet war, dürfte die Auflage allerdings zwischen 1000 und 2000 Exemplaren gelegen haben. Vgl. die Hinweise zu den Mitgliederzahlen des JWV bei Kindt (Hg.): Wandervogelzeit, S. 1076f.
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auflagenstärksten und langlebigsten Zeitschriften der Jugendbewegung werden sollte.288 Die Zeitschrift des Steglitzer EV besteht zunächst parallel weiter, erscheint jedoch seltener und soll nur noch über die wichtigsten Vereinsangelegenheiten berichten; für alles darüber Hinausgehende dient nun die gemeinsame Verbandszeitung. Zum Jahresende 1912 stellt auch sie ihr Erscheinen ein. Während die Struktur des VDW locker ist und die einzelnen Bünde noch selbständig bestehen, ändert sich dies mit dem 1912 gegründeten Wandervogel, Bund für Deutsches Jugendwandern, e.V. (WVeV). Sowohl der Steglitzer EV als auch der WVDB lösen sich auf, ihre Gruppen werden in den WVeVeingegliedert. Im AWV bleibt die Vereinigung umstritten. Von den ungefähr 5000 Mitgliedern des Bundes treten nur etwa 3500 dem »Einigungsbund« bei, während der Rest im AWV verbleibt. Diese gründen auch ihre Zeitschrift neu, die nun unter dem Namen »Alt-Wandervogel. Monatsschrift für deutsches Jugendwandern« erscheint. Der JWV tritt dem WVeV nicht bei, seine Zeitschrift erscheint unverändert weiter. Ab 1921 wird dessen Zeitschrift für die vorliegende Untersuchung jedoch weitgehend irrelevant, da sich der Inhalt zunehmend auf Vereinsverlautbarungen beschränkt.
3.4
Die Zeitschriften des Deutsche Mädchen-Wanderbund (DMWB)
Am 21. 06. 1914 wurde mit dem Deutsche Mädchen-Wanderbund der erste autonome Mädchenbund der Jugendbewegung gegründet. Mädchen und Frauen hatte es zwar auch zuvor schon in einigen Bünden der Jugendbewegung gegeben, doch waren es stets Vereine, in denen männliche und weibliche Jugendliche gemeinsam organisiert waren. Die Gründung des DMWB stellte insofern eine Neuheit dar.289 Im Gegensatz zu den Wandervogelbünden bestand der DMWB zunächst vor allem aus älteren Mitgliedern zwischen 16 und 28 Jahren, wobei mit der Zeit auch »Küken-Gruppen« für die 12–16-jährigen Mädchen entstanden.290 288 Die Zeitschrift hatte in der Zeit zwischen 1911 und 1920 eine Auflage zwischen 10.000 und 30.000 Exemplaren. 289 Mit dem Bund der Wanderschwestern gab es allerdings bereits seit 1905 einen kurzlebigen und weitgehend folgenlosen Versuch zur Gründung einer weiblichen Gruppe innerhalb der Jugendbewegung. Treibende Kraft war die Schriftstellerin Marie Luise Becker, die als Ehefrau Wolfgang Kirchbachs mit dem Wandervogel in Kontakt gekommen war. Zum Bund der Wanderschwestern und weiteren Gruppen der weiblichen Jugendbewegung vgl. Magdalena Musial: Die Mädchenbünde in der Jugendbewegung. Eine Bestandsaufnahme, in: Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung, 1984/85, H. 15, S. 13–36. 290 Vgl. Luise Walbrodt: Kurzchronik [Deutsche Mädchen-Wanderbund], in: Kindt (Hg.): Wandervogelzeit, S. 716f., hier S. 716 sowie Antje Harms: Antisemitismus und völkisches Denken im Deutsche Mädchen-Wanderbund 1914–1926, in: Historische Jugendforschung.
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Der Altersstruktur entsprechend handelte es sich bei den Mitgliedern des DMWB primär um junge Frauen in der Ausbildung oder im Berufsleben.291 Die Entwicklung des Bundes ist in den Anfangsjahren maßgeblich durch die »Patenschaft«292 der Fahrenden Gesellen geprägt, einer Gruppe innerhalb des Deutschnationalen Handlungsgehilfenverbandes, die dem Wandervogel wesentliche Impulse verdankt und dem völkischen Flügel der Jugendbewegung zuzurechnen ist. Ideologische und persönliche Beziehungen bestanden nicht nur zu den Fahrenden Gesellen, sondern auch zu anderen Gruppen und Persönlichkeiten, die den DMWB als »Teil des völkischen Netzwerks in der Jugendbewegung« ausweisen.293 Sichtbarer Ausdruck der völkischen Ausrichtung war das bis 1920 als Bundeszeichen getragene Hakenkreuz. Der Antisemitismus wurde aber auch in der Bundesordnung manifest, in der ein Paragraph festlegte: »Die Mitgliedschaft können nur deutsche Mädchen erwerben, die in keinem Gegensatz zu den völkischen Anschauungen des Bundes stehen«.294 Ebenso sind die Vorstellungen von »Weiblichkeit« im DMWB zunächst ganz entscheidend durch völkische Positionen geprägt und verbinden sich zu einem Ideal der »deutschen Mutter«.295 Nach Kriegsende setzte innerhalb des DMWB eine Diskussion sowohl über das Frauenbild als auch über die antisemitische und völkische Positionierung des Bundes ein. Angeregt durch das mit der Weimarer Verfassung etablierte Wahlrecht für Frauen politisierte sich der DMWB und näherte sich Ideen der bürgerlichen Frauenbewegung an. Überdies wurde ein Konzept der »Mädchengemeinschaft« entwickelt, »in der die Mädchen unberührt von allen äußeren Einflüssen zu ihrem wahren weiblichen ›Wesenskern‹ finden sollten. Diese Konzeption enthielt den Ausschluss des ›Männlichen‹, betonte die Unabhängigkeit und Selbstständigkeit des Frauenkollektivs«.296 Die so entstandene Kluft zu den Fahrenden Gesellen vergrößerte sich noch durch die seit 1921 beginnende Auseinandersetzung mit dem eigenen Antisemitismus. 1922 wurde zunächst eine Satzungsänderung beschlossen, die auf eine Abschaffung des »Judenparagraphen« hinausgelaufen wäre. Die anschließende Diskussion in der Bundesversammlung sorgte jedoch dafür, dass sich die Antragstellerinnen dazu entschlossen, ihr Anliegen zurückzuziehen. Auch wenn damit die Diskussion beendet schien, trat in der Folgezeit der Großteil der
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Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung, 2005, N. F. 2, S. 197–212, hier S. 198. Luise Walbrodt war seit der Gründung des DMWB bis 1921 dessen Bundesleiterin. Vgl. Walbrodt: Kurzchronik, S. 716. So Walbrodt ebd. Harms: Mädchen-Wanderbund, S. 202f. Zitiert nach: Satzungen des Deutschen Mädchen-Wanderbundes, in: Landfahrer, 1919, H. 10, S. 14f., hier S. 15. Vgl. Harms: Mädchen-Wanderbund, S. 203. Ebd., S. 200; vgl. zur Entwicklung der Weiblichkeitskonzeptionen im DMWB ebd., S. 199f.
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völkischen Mitglieder aus und gründete einen eigenen Bund, wodurch von den vormals 1400 Mitgliedern nur noch etwa 300 im DMWB verblieben.297 Seit 1915 veröffentlichte der Bund eine eigene Zeitschrift unter dem Titel »Der Landfahrer. Blätter des deutschen Mädchen-Wanderbundes«, wodurch der DMWB »bis in die Weimarer Republik auch der einzige Mädchenbund [ist], der eine eigene, kontinuierlich erscheinende Zeitschrift herausgab«.298
Von den zuvor beschriebenen Zeitschriften der Wandervogelbünde unterscheidet sich »Der Landfahrer« zunächst kaum: den inhaltlichen Schwerpunkt der Hefte bilden Reiseberichte, Bundesnachrichten, Artikel volkskundlichen Inhalts, Gedichte. Gleichwohl widmen sich deutlich häufiger Artikel der späteren Lebensführung und Themen der Berufswahl, der Ehe und der Mutterschaft. Im Zuge der Politisierung des Bundes verstärkt sich diese Ausrichtung noch mehr. Zahlreiche Artikel diskutieren nun die Rolle der Frau im öffentlichen Leben und Möglichkeiten zur politischen Partizipation. Durch die Aufnahme jüngerer Mitglieder sehen sich auch hier die Herausgeberinnen vor die Aufgabe gestellt, den mit der ausdifferenzierten Altersstruktur einhergehenden unterschiedlichen Erwartungen gerecht zu werden. Seit der Ausgabe 11 (1919) geschieht dies durch eine Zweiteilung des »Landfahrers«. Ein Teil über »Unser Wollen und Wirken« soll den älteren Bundesangehörigen zur Auseinandersetzung »mit der Umwelt und ihren gärenden Fragen« zur Verfügung stehen. Der zweite Teil »Vom Wandern und Schauen« hingegen soll vorrangig für Fahrtenberichte reserviert sein. Während die älteren Mitglieder beide Teile erhalten, erhalten die jüngeren nur den zweiten Teil als Sonderdruck.299 . Gleichzeitig gibt die »Schriftleiterin«300 Ilse Kaiser bekannt, dass die Zeit297 298 299 300
Vgl. hierzu ebd., S. 205–208. Ebd., S. 198. Vgl. Ilse Kaiser : Über die Zweiteilung des Landfahrers, in: Landfahrer, 1919, H. 11, S. 15f. Dass die Herausgeber bzw. Redakteure der Zeitschriften sich nicht genauso nennen, sondern den Ausdruck des »Schriftleiters« bzw. der »Schriftleiterin« wählen, ist weniger dem zeitgenössischen Sprachgebrauch geschuldet als vielmehr sprachpuristischen bzw. sprachnationalistischen Tendenzen in der Jugendbewegung. Vgl. zur Geschichte der Begriffsverwendung von »Schriftleiter« vom späten 19. Jahrhundert bis zum Nationalsozia-
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schrift einen neuen Namen erhalten soll, »schon aus dem Grunde, daß in Leipzig ein Bund ›der Landfahrer‹ besteht, der neuerdings auch eine gleichbenannte Zeitschrift herausgibt. Der Vorschlag, ›Deutscher Mädchen-Wanderbund‹ als Namen zu wählen, wird wohl nicht viel Zustimmung haben. Überlegt auch Ihr einmal und macht uns Vorschläge«.301 Dessen ungeachtet erschien die Zeitschrift von der Ausgabe 1 (1920) bis zu ihrer Einstellung 1922 just unter diesem Namen als »Deutscher Mädchen-Wanderbund«. Seit 1922 veröffentlichten Mitglieder des DMWB überdies in unregelmäßigen Abständen die Zeitschrift »Der Mädchen-Rundbrief. Blätter für freien Meinungsaustausch in Mädchen- und Frauenfragen. Herausgegeben vom Deutsche Mädchen-Wanderbund«. Diese Publikation sollte nicht nur dem DMWB zur Verfügung stehen, sondern »verfolgt das Ziel, der weiblichen Wandervogeljugend ein geistiges Band zu sein«.302 Es handelt sich also um eine überbündische Mädchen- und Frauenzeitschrift der Jugendbewegung, die sich wiederum vorrangig an ältere Mitglieder der Jugendbewegung richtet.
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Die Wandervogel-Führerzeitung303
Innerhalb des Wandervogels führt die Frage, wie mit den für die jüngeren Mitglieder wenig interessanten Grundsatzdebatten umgegangen werden soll, 1912 zur Gründung der »Wandervogel-Führerzeitung«. Ihren Zweck erläutert lismus Cornelia Schmitz-Berning: Vokabular des Nationalsozialismus, Berlin u. a., S. 559– 561. 301 Kaiser : Zweiteilung, S. 16. 302 Anonym: Geleit, S. 1. 303 Vgl. zur »Wandervogel-Führerzeitung« auch Christian Niemeyer : Jugendbewegung zwischen Reform und Restauration. Eine exemplarische Studie anhand der Debatten in der Wandervogelführerzeitung zwischen 1912 und 1920, in: Karl Neumann, Hermann Giesecke (Hg.): Pädagogik zwischen Reform und Restauration, Weinheim 2001, S. 71–98.
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der erste »Schriftleiter« Friedrich Wilhelm Fulda folgendermaßen: »Die Zeitschrift soll einen Meinungs-Austausch der Wandervogelführer über brennende Fragen unserer Bewegung vermitteln. Es handelt sich also gewissermaßen um ein vertrauliches Rundschreiben, welches die Wandervogelführer angeht – nicht aber unsere Scholaren«.304 Als primäre Zielgruppe gelten die 16–26-jährigen Mitglieder der Wandervogelbünde.305 Während in der Zeitschrift zunächst tatsächlich »auch die zu Wort kommen […], mit deren Ansicht die meine [F.W. Fuldas, M.L.] nicht übereinstimmt«,306 dient sie seit dem Herbst 1913 mehr und mehr ausschließlich dem völkischen und antisemitischen Flügel der Jugendbewegung als Sprachrohr. Im Mai 1913 wurde einer jüdischen Schülerin in Zittau aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit – bzw. ihrer »Rasse« – der Zugang zum Wandervogel verwehrt. Dieser Fall wurde zunächst in der Tagespresse publik gemacht, bevor sich in der »Führerzeitung« mit Karl Wilker ein Kritiker der Zittauer Entscheidung zu Wort meldete. Drei Ausgaben später publizierte Fulda die geballte Empörung über Wilkers Aufsatz und die öffentliche Presse in der »Judennummer« der »Führerzeitung«, in der sich zahlreiche Wandervögel mit rassistisch-antisemitischen Äußerungen hervortaten und den Wandervogel als »rein deutsches« und »germanisches« Phänomen beschrieben. In der Folge ging die Bundesführung des Wandervogel e.V., die die »Führerzeitung« bislang über ihre Bundesgeschäftsstelle verbreitet hatte, auf Distanz und behauptete, es handele sich bei ihr um »eine ›rein private‹ Angelegenheit Fuldas«.307 Nicht immer gelten diese auch in der Folgezeit immer wieder verbreiteten Distanzierungen308 von der »Füh-
304 Friedrich Wilhelm Fulda: [Ohne Titel], in: Führerzeitung, 1912/13, Heft 1, S. 1. Fulda gehörte zu den führenden Vertretern des völkischen Flügels innerhalb der Jugendbewegung. 1885 geboren, gehörte er dem Wandervogel bereits unter der Leitung Karl Fischers an und wurde später stellvertretender Bundesführer des WVDB. Nach dem Ende des Weltkriegs beendet er sein Studium der Pädagogik, der Philosophie und der neueren Sprachen und war seit 1919 als Lehrer tätig. Innerhalb des Zeitschriftenwesens der Jugendbewegung trat Fulda nicht nur als Gründer und »Schriftleiter« der »Führerzeitung« hervor, sondern war von 1922 bis 1927 auch »Schriftleiter« des »Zwiespruch«. Vgl. zu Fulda die Kurzbiographie bei Kindt (Hg.): Wandervogelzeit, S. 1053f. 305 Vgl. Gerlach: Entwicklung, S. 163. 306 Fulda: [Ohne Titel], S. 1. 307 Winnecken: Antisemitismus, S. 74; vgl. ebd., S. 45–100, auch die ausführliche Rekonstruktion des »Zittauer Ereignisses« und der folgenden Auseinandersetzungen. Vgl. hierzu neuerdings auch mit kritischen Anmerkungen zur Einschätzung des »Falls« in der Jugendbewegungsforschung Niemeyer : Seiten, S. 143–145. 308 Vgl. zum Beispiel Walter Fischer : Führerzeitung, in: Wandervogel Monatsschrift, 1916, H. 3, S. 64, der darauf insistiert, »daß diese Zeitschrift trotz der Unterbezeichnung ›Wandervogelführerzeitung‹ nichts mit dem Bunde zu tun hat, sondern ein persönliches Unternehmen ist, auf das wir nicht den geringsten Einfluß haben«.
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rerzeitung« grundsätzlich deren Antisemitismus, sondern eher dem radikalen Ton, in dem dieser vorgebracht wurde.309 Die Positionierung als »völkisches Jugendkampfblatt«310 und die Orientierung an einem über den Wandervogel hinausweisenden nationalistischen Programm wird nach der Übernahme der »Schriftleitung« durch Dankwart Gerlach zum Jahresbeginn 1916 noch deutlicher.311 Im Eröffnungsbeitrag zur ersten Nummer unter seiner Verantwortung beschreibt Gerlach die »Aufgabe der Führerzeitung«, »kein Unterhaltungsblatt [zu] sein für die, welche zufällig einen Teil ihrer Freizeit damit hinbringen, mit Wandervögeln durch die Gegend zu spazieren«, sondern »am Wachsen und Werden eines innerlich größeren und reineren und damit auch äußerlich kräftigeren und tüchtigeren Deutschland zu arbeiten, hierbei nicht ängstlich auf die Grenzen des Wandervogels bedacht, sondern, ihn erkennend als Teil eines größeren und allgemeineren Wollens, bestrebt, diesen Zusammenhang stets zu wahren und den Wandervogel über seine Grenzen hinaus zu immer klarerem Wesen und größerem Wachsen zu führen«.312
Von einem »freien Meinungsaustausch« ist hier schon längst nicht mehr die Rede. Diese ursprüngliche Intention der »Führerzeitung« kann Gerlach zwar nicht leugnen, doch solle diese Wendung nicht dahingehend verstanden werden, »als hätte jeder ein Recht darauf, seine Kuckuckseier der Schriftleitung ins Nest zu legen. Dann würde ich vorschlagen, einen Vorschüler mit der Schriftleitung zu betrauen. Ich habe höheren Ehrgeiz. Auch der früheren Schriftleitung lag nichts ferner als Farb- und Charakterlosigkeit«.313 Sichtbar gemacht wird die Zuspitzung des Inhalts durch eine veränderte Namenswahl: Seit der ersten Ausgabe 1916 trägt die Zeitschrift den Titel »Führerzeitung für die deutschen Wandervogelführer« und macht damit kenntlich, dass der Adressatenkreis zwar weiterhin vornehmlich die »Führer« der Wandervogelgruppen sind, der Führungsanspruch sich aber durchaus über die Wandervogelbewegung hinaus erstreckt.314 Als Ausdruck der politischen 309 So auch Winnecken: Antisemitismus, S. 74 und Niemeyer : Seiten, S. 145. 310 Dankwart Gerlach: Führerzeitung, in: Führerzeitung, 1920, H. 7/8/9, S. 81–85, hier S. 83. 311 Als Herausgeber zeichnet weiter Friedrich Wilhelm Fulda, der jedoch – vermutlich aufgrund seines Kriegseinsatzes – die Schriftleitung an Gerlach übertrug. Der Architekt Dankwart Gerlach (1890–1979) entwickelte sich in diesem Amt zu einem der aktivsten Literaturkritiker nicht nur des völkischen Flügels, sondern der Jugendbewegung überhaupt. 312 Dankwart Gerlach: Was ist und will die Führerzeitung?, in: Führerzeitung, 1916, H. 1/2, S. 1f. 313 Ebd., S. 1. Der polemische Ton der Äußerung ist ebenso charakteristisch für die »Führerzeitung« wie im Besonderen für Dankwart Gerlach. 314 Die wechselnden Untertitel der Zeitschrift – von der Ausgabe 5/6 (1916) an trägt sie den Zusatz »Von allen Bünden unabhängige Zeitschrift der Wandervogelbewegung, von Wan-
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Ausrichtung der Zeitschrift erscheint seit der Ausgabe 4/5 (1914) ein mottohaftes Zitat Friedrich Ludwig Jahns auf dem Titelblatt, das Dankwart Gerlach als Verpflichtung für die Schriftleitung verstanden wissen wollte: »Den Deutschen kann nur durch Deutsche geholfen werden; fremde Helfer bringen uns immer tiefer ins Verderben«.315
1920 stellt die Führerzeitung ihr Erscheinen mit der Nummer 7/8/9 ein. Die Nachrichten- und Informationsfunktion erfüllt nun der »Zwiespruch«, während die kommentierende Funktion der »Führerzeitung« von einer Zeitschriftenneugründung unter dem Titel »Der neue Bund« übernommen werden sollte, wobei es sich jedoch nur um ein kurzfristiges Projekt handelte.316 Die »Führerzeitung« unterscheidet sich von den bislang beschriebenen Zeitschriften nicht nur durch ihre radikale antisemitische und völkische Ausrichtung, sondern auch durch ihre Beschränkung auf programmatische Artikel. Fahrtenberichte fehlen hier völlig, und die Entwicklungen in den verschiedenen Bünden werden weniger berichtet als kommentiert und bewertet. Die Autoren der »Führerzeitung« widmen sich in ihren Beiträgen zum einen Themen, die speziell die Jugendbewegung betreffen, wie die »Älterenfrage« – also den Umgang mit den älteren Mitgliedern des Wandervogels und ihrer Rolle innerhalb dervögeln geleitet«, ab der Ausgabe 1/2 (1918) den Zusatz »Unabhängige Zeitschrift der Wandervogelbewegung« – zeugt nicht nur vom Anspruch, eine überbündische Zeitschrift sein zu wollen, sondern auch von der umstrittenen Position innerhalb der Jugendbewegung. 315 Das Zitat erscheint mit wenigen Ausnahmen bis Ende 1917 im Titelblatt. Ab 1918 werden an seiner Stelle wechselnde Zitate abgedruckt. Vgl. zum Jahn-Zitat Gerlach: Führerzeitung [1916], S. 1. 316 Vgl. Schierer : Zeitschriftenwesen, S. 57 sowie die Ankündigung von D. W.: Die »Führerzeitung« und der »Neue Bund«, in: Führerzeitung, 1920, Sonderheft »Jugendbewegung und Volksgemeinschaft«, S. 112–114.
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und außerhalb der Bünde – oder dem gemeinsamen Wandern von Jungen und Mädchen. Zum anderen finden sich Aufsätze, die zwar eine Verbindung zu in der Jugendbewegung geführten Diskussionen aufweisen, aber über den Wandervogel hinausweisen und eine Relevanz für die gesamte Gesellschaft beanspruchen, darunter solche zur »Rassenfrage« oder zu Problemen der Pädagogik.
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Als sich im Oktober 1913 zwei- bis dreitausend zumeist junge Menschen auf dem Meißner, einem Berg in der Nähe von Kassel, versammelten, um den ersten Freideutschen Jugendtag zu feiern, formulierten sie als gemeinsames Bekenntnis die sogenannte »Meißner Formel«: »Die Freideutsche Jugend will aus eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortung, mit innerer Wahrhaftigkeit ihr Leben gestalten. Für diese Freiheit tritt sie unter allen Umständen geschlossen ein.«317
Was die sich in dieser Bekundung äußernde Freideutsche Jugend ist, wer zu ihr gehört, war jedoch weder zu diesem Zeitpunkt noch später eindeutig zu bestimmen. Zu dem Fest auf dem Meißner hatten zahlreiche Verbände aufgerufen. Darunter waren solche, denen es um eine allgemeine Lebensreform ging wie dem Deutschen Vortruppbund, reformpädagogische Projekte wie die Freie Schulgemeinde Wickersdorf um Gustav Wyneken und der Bund für freie Schulgemeinden, vor allem jedoch jugendbewegt-studentische Gruppen wie die Deutsche Akademische Freischar und der Jenaer Sera-Kreis um Eugen Diederichs.318 317 Zitiert nach Winfried Mogge, Jürgen Reulecke: Hoher Meißner 1913. Der Erste Freideutsche Jugendtag in Dokumenten, Deutungen und Bildern, Köln 1988, S. 52. Vgl. zum Ersten Freideutschen Jugendtag und zu den nachfolgenden Jugendtagen auf dem Meißner jetzt auch die Dokumentation von Barbara Stambolis, Jürgen Reulecke: 100 Jahre Hoher Meißner (1913–2013). Quellen zur Geschichte der Jugendbewegung, Göttingen 2015. 318 Diese reformstudentischen Organisationen waren in Konkurrenz und in Abgrenzung zu den traditionellen Korporationen entstanden, deren Gemeinschaftspraktiken abgelehnt und deren Alleinvertretungsanspruch der Studentenschaft kritisiert wurde. Zwischen den Wandervogelbünden und den jugendbewegt-studentischen Gruppierungen gab es zahlreiche Beziehungen, die zunächst daraus resultierten, dass studierende Wandervögel in diesen Gruppen eine neue Heimat fanden. Darüber hinaus gab es inhaltliche Gemeinsamkeiten hinsichtlich des Wunsches nach einer Reform des gesellschaftlichen Lebens, die jedoch auch nicht als zu weitgehend gedacht werden dürfen. Die Wandervogelbünde blieben größtenteils sehr distanziert, wenn es um konkrete gesellschaftliche Reformvorhaben ging. Vgl. allgemein zu diesem Thema Sigrid Bias-Engels: Zwischen Wandervogel und Wissenschaft. Zur Geschichte von Jugendbewegung und Studentenschaft 1896–1920, Köln 1988; zum Sera-Kreis Justus H. Ulbricht: Feste der Jugend und der Kunst. Eugen Diederichs und der Sera-Kreis, in: Buchholz, Lebensreform, Bd. 1, S. 419–424 sowie Maike
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Der Wandervogel war offiziell durch den JWV und den Österreichischen Wandervogel vertreten. Bereits im Juni 1913 hatte es in Jena eine Vorbesprechung der beteiligten Gruppen und Bünde gegeben in der Absicht, anlässlich der Hundertjahrfeier der »Völkerschlacht« ein Jubiläum zu begehen, das sich von den offiziellen Feierlichkeiten in Leipzig unterscheiden sollte.319 Pläne des ebenfalls in die Vorbereitungen involvierten Eugen Diederichs, ein Kulturfest in Jena, Weimar und Leipzig zu begehen, wurden verworfen, und statt dessen – wohl in Rücksicht auf die beteiligten Wandervogelbünde – ein Fest in der Natur auf der Bergkuppe des Meißners konzipiert.320 Im Hintergrund stand dabei auch der Wunsch, die verschiedenen jugendbewegten und lebensreformerischen Gruppierungen enger zusammenzuschließen. So war der Freideutsche Jugendtag gleichzeitig »Säkularfeier der Leipziger Völkerschlacht«, »eine Demonstration gegen die offiziellen Feierlichkeiten« und »der symbolische Gründungsakt der Freideutschen Jugend«.321 Zwar war im Vorfeld ein Rahmenprogramm für das Fest erstellt worden, eine Einigung über eine mögliche engere Verbandsstruktur oder etwaige gesellschaftliche oder politische Ziele bestand jedoch nicht. Diese offenen Fragen konnte auch eine am Vorabend des Festes stattfindende Versammlung nicht lösen. Lediglich die Meißner Formel wurde eher als Notlösung beschlossen, während alles andere auf die Zukunft vertagt wurde. Schon im Februar des folgenden Jahres wurde die Freideutsche Jugend jedoch von jenen Ereignissen eingeholt, die bereits zuvor im Zusammenhang mit dem »Anfang« skizziert wurden und die zum Ausschluss aller Älteren- und Zweckverbände führte.322 Der WVeV, der sich bereits nach der Jenaer Vorbesprechung von den Vorbereitungen zum Meißner-Fest zurückgezogen hatte, beschloss, dem neuen Verband ebenfalls fernzubleiben, wofür neben taktischen auch ideologische Gründe eine Rolle spielten.323
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G. Werner : Die Erneuerung des Lebens durch ästhetische Praxis. Lebensreform, Jugend und Festkultur im Eugen Diederichs Verlag, in: Gangolf Hübinger (Hg.): Versammlungsort moderner Geister. Der Eugen Diederichs Verlag – Aufbruch ins Jahrhundert der Extreme, München 1996, S. 222–242. Ein pazifistisches Friedensfest war der Freideutsche Jugendtag dennoch keineswegs. Vgl. hierzu die pointierte Kritik von Pross: Jugend, S. 150–152 an den patriotisch-chauvinistischen Tendenzen; vgl. auch die ausführliche Kritik von Niemeyer : Seiten, S. 175–191 am Freideutschen Jugendtag und der nachfolgenden Rezeption der Meißner Formel in der Jugendbewegung. Vgl. hierzu Schenk: Freideutsche Jugend, S. 60–63. Ebd., S. 57. Vgl. oben, S. 81f. Einerseits galt es, in Anbetracht der für das Schülerwandern benötigten Unterstützung der Schulen gegenüber der in die öffentliche Kritik geratenen Freideutschen Jugend Distanz zu wahren. Andererseits wurden auch nationalistische Stimmen gegen den vermeintlichen
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Mit dem Beginn des Weltkriegs kamen auch bei den verbleibenden Gruppen alle Pläne zu einem engeren Zusammenschluss zum Erliegen. Erst 1916 wurden entsprechende Verhandlungen wiederaufgenommen. Zeit ihres Bestehens blieb die Freideutsche Jugend institutionell in der Schwebe zwischen einem Verband mit festen Satzungen und einem losen Zusammenschluss einzelner Gruppierungen mit wechselnder Zusammensetzung und wechselnden programmatischen Ideen, deren Gemeinsamkeit sich höchstens unter dem Schlagwort, eine jugendliche Selbsterziehungsgemeinschaft sein zu wollen, zusammenfassen lässt.324 Die Versuche, eine engere Bindung der einzelnen Verbände unter dem Dach der Freideutschen Jugend zu ermöglichen, wurden durch eine seit der Mitte des Weltkriegs einsetzende kritische Auseinandersetzung mit dem Kriegsgeschehen in Teilen der Bewegung zusätzlich erschwert, insofern sie zu einer Polarisierung der Mitglieder führte. Unter dem Eindruck von Revolution und demokratischer Neuordnung brach die Bewegung endgültig in einen linken und einen rechten, völkischen Flügel auseinander.325 Die politischen Differenzen ließen sich nicht mehr überbrücken, so dass sich die Freideutsche Jugend zu Beginn der 1920er Jahre nach und nach auflöste. Pläne zu einer gemeinsamen Zeitschrift hatte es bereits vor dem Beginn des Kriegs gegeben.326 Die erste Nummer erscheint jedoch erst im Dezember 1914 im Freideutschen Jugendverlag Adolf Saal327 unter dem Titel »Freideutsche Jugend.
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»Kosmopolitismus« der Freideutschen Jugend und gegenüber lebensreformerischen Tendenzen laut. Den älteren Wandervögeln wurde gleichwohl nahegelegt, persönlich und unabhängig vom Wandervogel den Anschluss an die Freideutsche Jugend zu suchen. Vgl. hierzu Schenk: Freideutsche Jugend, S. 82–84. Vgl. hierzu einen Programm- und Satzungsentwurf der Freideutschen Jugend, in: Die Marburger Tagung der Freideutschen Jugend. Bericht über die Verhandlungen und Entwurf für das Programm und die Satzungen, Hamburg 1914, S. 36–38. Der Entwurf hält fest: »Wir wollen Vertretertage und Jugendtage zu gemeinsamer Arbeit und Feier abhalten. Alle Wege und Ziele der einzelnen Verbände jedoch soll unser Zusammenschluß nicht berühren«, wodurch die einzelnen Bünde auch ihre institutionelle Unabhängigkeit bewahrten. Vgl. zur Politisierung des linken Flügels der Freideutschen Jugend Reinhard Preuß: Verlorene Söhne des Bürgertums. Linke Strömungen in der deutschen Jugendbewegung 1913– 1919, Köln 1991, v. a. S. 133–222; zur Entwicklung der Freideutschen Jugend insgesamt Schenk: Freideutsche Jugend, S. 87–137. Vgl. Erich Viehöfer : Hoffnungen auf die »neue Jugend«. Eugen Diederichs und die deutsche Jugendbewegung, in: Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung, 1984/85, Bd. 15, S. 261–286, hier S. 275, zu diesbezüglichen Verhandlungen mit dem Jenaer Verleger, sowie Schenk: Freideutsche Jugend, S. 91, zu Unterredungen des Freideutschen Bruno Lemke mit Ferdinand Avenarius, dem Verleger des »Kunstwart«. Ebd., S. 91f. findet sich auch ein kurzer Abriss über die Entwicklung der Zeitschrift »Freideutsche Jugend«. Der Buchhändler und Verleger Adolf Saal (1886–1969) kam über den Bund deutscher Wanderer zur Jugendbewegung. In seinem 1913 gegründeten Freideutschen Jugendverlag erschienen neben der Zeitschrift die Publikationen des Verbandes und Veröffentlichungen seiner wichtigsten Wortführer. Vgl. zu Saal die Kurzbiographie bei Kindt (Hg.): Wandervogelzeit, S. 1065f.; zu seinem Verlag den Eintrag in Reinhard Würffel: Lexikon deutscher Verlage von A–Z, Berlin 2000, S. 730.
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Eine Monatsschrift«.328 Institutionell stand hinter der Zeitschrift anfangs die Hamburger Freideutsche Jugend, seit 1916 der Gesamtverband, während als Person zunächst Adolf Saal als Herausgeber zeichnete, nach dessen Einberufung zum Kriegsdienst im Frühjahr 1915 Knud Ahlborn.329 Die Zeitschrift sollte vorrangig den Zweck erfüllen, ein gemeinsames Publikationsorgan für die in der Freideutschen Jugend zusammengeschlossenen Verbände zu haben und Informationen über dort stattfindende Ereignisse und Diskussionen zu liefern. Die Notwendigkeit, eine »regelmäßige Nachrichtenvermittlung« zu schaffen, wurde durch den Krieg umso drängender, wie die Herausgeber in einem programmatischen Editorial zur ersten Ausgabe betonen: »Unseren Freunden im Felde ist es nicht möglich, alle die einzelnen Sonderzeitschriften der verschiedenen freideutschen Verbände auch im Felde zu lesen, da soll die ›Freideutsche Jugend‹ sie neben ihrer eigenen Bundeszeitschrift über die Vorgänge bei den befreundeten Verbänden und die Gesamtarbeit in unserer Bewegung unterrichten.«330
In einem gegenüber der Nummer 1 leicht veränderten Editorial fehlt der Hinweis auf die Funktion der Nachrichtenvermittlung. Stattdessen wird nun die Hauptaufgabe darin gesehen, eine »Vermittlung der Aussprache zwischen der freideutschen Jugend im Felde und Daheim zu ermöglichen«.331 Diesen Aspekt noch einmal aufgreifend, heißt es weiter : »Über den Krieg hinaus wird sie dann auf Grund ihrer Vermittlung einer freien und furchtlosen Aussprache in der freideutschen Jugend die Aufgabe haben, unsere gemeinsamen Grundideale immer klarer zum Ausdruck zu bringen.«332
Information und Diskussion sind in der Tat die zentralen Inhalte der »Freideutschen Jugend« und bleiben es bis zu ihrer Einstellung.333 Im Vergleich zu den 328 Vgl. zur Gründung des Verlags einen Vertragsentwurf von Christian Schneehagen und Adolf Saal vom Februar 1914 und den endgültigen, zwischen Saal und Knud Ahlborn, Friedrich Schlünz und Helmut Tormin abgeschlossenen Vertrag im AdJB (N123–20). Der Verband behielt sich danach ein inhaltliches Mitsprache- und Vetorecht bei der Publikation von Broschüren und Büchern im Verlag vor, während Saal aus ökonomischen Gründen die Publikation eines Textes verweigern durfte. Überdies wurde die finanzielle Beteiligung des Verbandes geregelt, der nach Abzug von Honoraren einen Anteil von mindestens 25 % des Reingewinns erhalten sollte. 329 Von der Ausgabe 3 (1918) bis zur Ausgabe 3 (1919) war erneut Saal der Herausgeber, dann – bis zur Ausgabe 12 (1920) wiederum Ahlborn. Dieser legte die Schriftleitung schließlich nieder, um sich dem Aufbau seines Freideutschen Lager Klappholttal auf Sylt zu widmen. Von der Ausgabe 1 (1921) bis zur Einstellung der Zeitschrift am Jahresende 1922 war Bruno Lemke verantwortlicher Herausgeber. 330 Freideutsche Jugend: [Editorial I], in: Freideutsche Jugend, 1914/15, H. 1, o. S. 331 Freideutsche Jugend: [Editorial II], in: Freideutsche Jugend 1914/15, H. 2, o. S. Hervorhebung von mir, M.L. 332 Ebd. 333 Vgl. zum Beispiel auch den programmatischen Artikel von Knud Ahlborn: Die Aufgaben
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Zeitschriften der Wandervogelbünde ist das Niveau der veröffentlichten Texte anspruchsvoller, da hier vorwiegend studentische AutorInnen für ein vorwiegend studentisches Publikum schreiben. Reiseberichte und ähnliche Rubriken, wie sie von und für die Schüler des Wandervogels geschrieben werden, sucht man vergeblich. Stattdessen dominieren Fragen der Gesellschaft, der Politik und der Kultur. Jede Ausgabe wird mit einem Hauptteil eröffnet, der für politische, religiöse, weltanschauliche, ästhetische und pädagogische Beiträge zur Verfügung steht, die sich ebenso der Jugendbewegung widmen können wie weiter ausgreifenden Problemen der Gesellschaft oder eines ihrer Teilbereiche. Im Hintergrund steht der Anspruch, nicht nur die Diskussion über die Ziele und Gemeinsamkeiten der Bewegung zu befördern; vielmehr solle »der Gesamtheit unseres Volkes nach und nach immer deutlicher der Ernst unserer Lebensart und ihre Bedeutung für das deutsche Volkstum vor Augen treten«.334 In einem zweiten Teil, graphisch durch ein engeres und kleineres Schriftbild abgesetzt, finden sich neben amtlichen Bekanntmachungen des Verbandes der Freideutschen Jugend die Nachrichten aus den einzelnen Verbänden und anderen reformorientierten Vereinigungen oder Informationen über solche Bewegungen, deren Ziele und Programme im Widerspruch zu den eigenen stehen.
3.7
Der Zwiespruch
»Der Zwiespruch« wurde 1917 als »Gaublatt der Wandervögel zwischen Maas und Mosel« gegründet und in den ersten drei Ausgaben handschriftlich verfasst und in Kopien verbreitet. Von der vierten Ausgabe an trägt die Zeitschrift den Untertitel »(Ein) Rundbrief der Feldwandervögel im Westen«335, von der achten Ausgabe an herausgegeben vom Feldbundesamt-West der Wandervögel. Dieser »Rundbrief« sollte zunächst die Aufgabe erfüllen, den Kontakt zwischen den zahlreichen verstreuten Wandervögeln an der Westfront und den nicht im Krieg stehenden Jugendbewegten aufrechtzuerhalten. Die eigentliche Geschichte des »Zwiespruch«, in der er zeitweise zum »größten[n] aller überbündischen Blät-
unserer Zeitschrift, in: Freideutsche Jugend, 1916, H. 1, S. 4–8, in dem er anlässlich des Beginns des zweiten Jahrgangs der »Freideutschen Jugend« die bisherige Entwicklung rekapituliert und ihre zukünftige Entwicklung und ihre Aufgaben skizziert. 334 Freideutsche Jugend: [Editorial II], o. S. Der über die Jugendbewegung hinausweisende Anspruch einer Reform der Gesellschaft behält auch dann seine Gültigkeit, als nach 1918 nicht mehr unbedingt das »Volkstum« im Zentrum der Bemühungen stand, sondern universalistische Forderungen erhoben wurden. 335 Der unbestimmte Artikel wurde bereits bei der Ausgabe 5 (1917/18) fallengelassen.
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ter« werden sollte,336 beginnt erst nach Kriegsende, als die Herausgeber ihn als »Unabhängige Zeitung für die Wanderbünde, Nachrichtenblatt der W.-V.-Ämter und Anzeiger unseres wirtschaftlichen Lebens« neu konzipieren.337 Die Herausgeber, Richard-Franz Heiling und Otto Schaaf, formulieren den veränderten Anspruch in einem Editorial zur ersten Ausgabe 1919: »Das, was gemeinsam allen Bewegungen noch fehlte, das schnell unterrichtende Blatt, die Zeitung, die, über allen Bünden stehend, unparteiisch in knapper Form über die Geschehnisse der Bewegung berichtet – die soll unser ›Zwiespruch‹ werden! Er wird nicht einer Partei oder einem einseitigen Interesse dienen, sondern die Quelle sein, aus der jeder das schöpfen kann, was er wissen muß, um selbst in der ratternden Hast der Arbeit ganz in der aufwärtsstrebenden Bewegung stehen zu können.«338
Nicht das behäbige Publikationsformat der Zeitschrift, die Ereignisse über einen längeren Zeitraum beobachtet und erst dann kommentiert ist das Vorbild des »Zwiespruch«, sondern die Zeitung, die über aktuelle Geschehnisse so schnell und aktuell wie möglich informieren kann. Darüber hinaus solle der »Zwiespruch« als Anzeigenblatt für den »aufwärtsstrebende[n] Wirtschaftsmarkt unserer Bewegung« fungieren.339 Um diesen Zielen gerecht zu werden, erscheint die Zeitung 14-tägig340 und bietet tatsächlich in jeder Ausgabe unzählige Annoncen von Kleinanzeigen über private Bekanntmachungen wie Verlobungen und Hochzeiten bis zu Stellenangeboten und -gesuchen. Hinzu kommen Anzeigen professioneller und halbprofessioneller Händler und Hersteller vorwiegend jugendbewegter Provenienz. Gerade das Anzeigenwesen des »Zwiespruch« brachte der Zeitschrift einigen Spott ein,341 erfüllte aber nichtsdestotrotz in der unmittelbaren Nachkriegszeit die wichtige Funktion gegenseitiger wirtschaftlicher Hilfe durch die Vermittlung von Arbeitsmöglichkeiten und Aufträgen. Neben diesem Anzeigenteil findet sich in jeder Ausgabe auch ein Teil mit Aufsätzen, die, in aller Regel nach Rubriken sortiert (zum Beispiel »Die Älterenbewegung«, »Wandern und Bleiben«, »Tagungen und Feste«, »Unsere Kleidung«, »Die Frau«, »Erziehung und Schule«), über Tagesfragen und besondere Ereignisse innerhalb der Jugendbewegung ebenso berichten wie zur Diskussion grundsätzlicher Fragen offen stehen. 336 Schierer : Zeitschriftenwesen, S. 55. Die Auflagenzahl liegt, sofern sie angegeben ist, zwischen 3000 Exemplaren und 8000 Exemplaren. 337 Dies der Titelzusatz seit der Ausgabe 1 (1919). 338 Richard-Franz Heiling, Otto Schaaf: Zwiespruchsoldaten! / Zwiespruchleser!, in: Zwiespruch, 1919, H. 1, o. S. 339 Ebd. 340 Von der Ausgabe 19 (1920) an wird sogar auf eine wöchentliche Erscheinungsweise umgestellt. 341 Vgl. zum Beispiel die nur in zwei Ausgaben publizierte satirische Antwort auf den »Zwiespruch«, den »Einspruch«.
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Die Entwicklung des »Zwiespruch« hin zum wichtigsten überbündischen Anzeigen- und Nachrichtenblatt der Jugendbewegung in der Nachkriegszeit ist eng verbunden mit dem Aufbau der Bundeskanzlei Hartenstein (BuHa) in Sachsen. Bereits während des Krieges waren Pläne entstanden, eine zentrale Organisations- und Verwaltungsstelle für den W Ve V aufzubauen, die 1918 zunächst als Bundesgeschäftsstelle und seit 1919 als überbündische »Wandervogelkanzlei« in die Realität umgesetzt wurden. Hartenstein entstand als »wirtschaftliche[s], soziale[s] und kulturelle[s] Selbsthilfeprojekt des Nachkriegs-Wandervogels«,342 für das der »Zwiespruch« das zentrale Medium war.343 Neben Projekten wie einer Vertriebsstelle für Ausrüstungsgegenstände, einem Wandervogelarchiv, einem »Lichtbilderamt« und einer Sparkasse wurden in Hartenstein auch zwei Verlage gegründet: zum einen der Zwiespruch-Verlag, dessen hauptsächliche Aufgabe die Publikation der Zeitschrift war, zum anderen der Greifen-Verlag, der sich unter der Leitung von Karl Dietz zu einem der wichtigsten Verlage der Jugendbewegung entwickelte.344 Mit der Auflösung der Bundeskanzlei 1921 und dem Umzug des Greifen-Verlags nach Rudolstadt wechselte auch der »Zwiespruch« seinen Verlagsort.
3.8
Junge Menschen
Keine andere der hier untersuchten Zeitschriften ist derart eng mit einer einzigen Person verbunden wie die »Jungen Menschen« mit ihrem Herausgeber Walter Hammer. Gleichzeitig sind die »Jungen Menschen« diejenige Publikation der Jugendbewegung, die am häufigsten Gegenstand eigenständiger wissenschaftlicher Publikationen geworden ist, was sich sowohl ihrem Inhalt als auch der Biographie ihres Herausgebers verdankt, der mit seinem 1922 gegründeten 342 So Susanne Günther : Aufstieg und Fall der Bundeskanzlei Hartenstein (BUHA) in den Jahren 1918–1922. Ein Versuch wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Selbsthilfe des Nachkriegs-Wandervogels, Leipzig 1993, S. 4, deren Diplomarbeit bislang den einzigen ausführlichen Ansatz zu einer wissenschaftlichen Untersuchung dieses Teils der Geschichte der Jugendbewegung darstellt. Vgl. aber auch knapp Justus H. Ulbricht: Bücher für die »Kinder der neuen Zeit«. Ansätze zu einer Verlagsgeschichte der deutschen Jugendbewegung, in: Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung, 1986/87, Bd. 16, S. 111– 156, hier S. 84–86. Zu den Erinnerungen eines Zeitzeugen vgl. Wilhelm Geißler : Hoffnung und Erfüllung. Erinnerungen an die Frühzeit des Greifenverlages, in: Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung, 1970, Bd. 2, S. 78–90. 343 Ein ähnliches Projekt entstand in Hamburg mit dem »Freideutschen Haus«, in dem neben der Hauptgeschäftsstelle der Freideutschen Jugend eine »Jugendhochschulgemeinde« sowie eine Bücher- und Warenstube untergebracht waren. Vgl. Jürgen Kolk: Mit dem Symbol des Fackelreiters. Walter Hammer (1888–1966). Verleger der Jugendbewegung – Pionier der Widerstandsforschung, Berlin 2013, S. 65. 344 Vgl. zum Greifen-Verlag Ulbricht: Ansätze, S. 84–92.
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Fackelreiter-Verlag zu den »aktivsten Pazifisten« der Weimarer Republik zählt345 und nach 1945 einer der Pioniere der Widerstandsforschung in Deutschland wurde.346 Hammer (1888–1966), mit bürgerlichem Namen Walter Hösterey, der sich seinen Schriftstellernamen wohl in Verehrung Nietzsches wählte,347 war 1908 zum Wandervogel gekommen und zudem aktives Mitglied im Vortrupp, einer lebensreformerisch geprägten Organisation der Abstinenzbewegung. Neben der Mitarbeit in verschiedenen meist ebenfalls lebensreformerisch oder kulturkritisch geprägten Zeitschriften publizierte Hammer seit 1906 eigene Schriften zu politischen Fragen, zur Lebensreform, zum Pressewesen, aber auch zum Wintersport. Zu seinen vor dem Weltkrieg entwickelten Grundpositionen zählen eine »unentschiedene Position zwischen Sozialismus und Liberalismus, die Vorstellung einer umfassenden Lebensreform […] sowie eine ethische Begründung seines ›Sozialismus‹, der selbst ziemlich unbestimmt bleibt«.348 Wie viele seiner Zeitgenossen war Hammers Position zum Krieg zunächst positiv und vom Glauben an dessen Notwendigkeit geprägt, was seinen Ausdruck in der propagandistischen Tätigkeit für ein Werbeamt für Kriegsernährung fand. Seit 1916 bis zum Ende des Krieges war er Soldat an der Westfront.349 Zweifel am Krieg scheinen sich erst spät und unter dem Einfluss Hans Paasches350 entwickelt zu haben. 345 Axel Flake, Heiko Schmidt: Jugendbewegung – Pazifismus – Widerstand. Der linksbürgerliche Verleger und Publizist Walter Hammer (1888–1966), in: Die Vitrine. Fachblatt für linke Bibliomanie, 2003, H. 8, S. 8–48, hier S. 8. 346 Vgl. zu den »Jungen Menschen« und Walter Hammer neben der hier in den Fußnoten genannten Literatur auch den kommentierten und mit Reprints versehenen Auswahlband des Walter-Hammer-Kreises (Hg.): Junge Menschen. Monatshefte für Politik, Kunst, Literatur und Leben aus dem Geiste der jungen Generation der zwanziger Jahre 1920–1927, Frankfurt a. M. 1981; das allerdings hagiographische Züge tragende Gedenkbuch von Erna Hammer-Hösterey, Hugo Sieker (Hg.): Die bleibende Spur. Ein Gedenkbuch für Walter Hammer 1888–1966, Hamburg 1967; sowie Hans-Joachim Eick: Geschichtsbewußtsein und Gegenwartsdeutung Jugendlicher in der Weimarer Republik im Spiegel der Zeitschrift »Junge Menschen« (1920–1927). Darstellungen und Interpretation quellenbezogener Kulturaspekte, Aachen 1994. 347 Vgl. Niemeyer : Seiten, S. 92 und Kolk: Walter Hammer, S. 27. Hammers Auseinandersetzung mit Nietzsche fand publizistischen Niederschlag in seinem 1914 veröffentlichten Buch »Nietzsche als Erzieher«. 348 Flake, Schmidt: Walter Hammer, S. 11. 349 Vgl. hierzu Kolk: Walter Hammer, S. 42–62. 350 Vgl. ebd., S. 56f. Hans Paasche (1881–1920), Sohn eines nationalliberalen Politikers und Wirtschaftswissenschaftlers, entwickelte sich vom Kolonialoffizier zum Lebensreformer und Pazifisten. Gemeinsam mit Hermann Popert gründete er 1912 den lebensreformerischjugendbewegten Deutschen Vortruppbund. Sein bekanntestes literarisches Werk sind die 1912 und 1913 zunächst in der Zeitschrift des Vortruppbundes veröffentlichten »Briefe des Negers Lukanga Mukara« (seit 1921 gesammelt publiziert unter dem Titel »Die Forschungsreise des Afrikaners Lukanga Mukara ins innerste Deutschland«). 1920 wurde er
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Die Zeitschrift »Junge Menschen« gründete Hammer gemeinsam mit Knud Ahlborn und Fritz Klatt im Dezember 1919, in der ersten Ausgabe im Untertitel als »Halbmonatsschrift für die Jugend Deutschlands« ausgewiesen, ab der zweiten Ausgabe dann als »Blatt der deutschen Jugend. Stimme des neuen Jugendwillens«.351 Durch ihre Herausgeber und Mitarbeiter steht die Zeitschrift zwar in engem Zusammenhang mit der Jugendbewegung und setzt auch in der kommentierenden Berichterstattung über Ereignisse aus deren Umfeld einen inhaltlichen Schwerpunkt. Wichtiger und raumgreifender sind jedoch die kulturellen, politischen und lebensreformerischen Zielsetzungen der Zeitschrift. Wie kein anderer Publizist der Jugendbewegung nach dem Ersten Weltkrieg setzt sich Hammer für die Weimarer Republik ein, indem er in Rubriken wie der »Rundschau«, der »Klassenbuchergänzung« und dem »Pranger« reaktionäre Tendenzen in der Gesellschaft, dem Schulwesen, der Politik und der zeitgenössischen Presse aufzeigt und der Kritik unterzieht.352 Auch die streitbare Polemik für Ideale und Ideen der Lebensreformbewegung (bei Hammer ist dies insbesondere der Kampf gegen die als »Nikarnalken« verspotteten Konsumenten von Nikotin, Fleisch und Alkohol) findet sich in den Zeitschriften der eigentlichen Jugendbewegung eher nicht. Dieses Engagement Hammers ist vor allem im hinteren Teil der »Jungen Menschen« dokumentiert, der kleiner gesetzt ist und in dem nicht nur seine Glossen abgedruckt werden, sondern auch Kleinanzeigen und Nachrichten aus der Jugendbewegung und anderen Bewegungen. Der erste Teil hingegen zeigt die Zeitschrift – »unterhaltend, belehrend und zugleich bekennerhaft«353 – als Kulturzeitschrift mit einem breiten Spektrum an von Freikorpssoldaten ermordet. Vgl. zu Paasche unter anderem Helmut Donat: Hans Paasche – ein deutscher Revolutionär, in: Hans Paasche: »Ändert euren Sinn!« Schriften eines Revolutionärs, Bremen 1992, S. 10–51. 351 Seit November 1923 trug die Zeitschrift den Untertitel »Monatshefte für Politik, Kunst, Literatur und Leben aus dem Geiste der Jungen Generation«. Wenig vorher war im August bereits der Anzeigenteil und die Berichterstattung über aktuelle Ereignisse weitgehend in die Beilage »Junge Gemeinde. Von Wille, Weg und Werk der Jungen Generation« ausgelagert worden, während sich die »Jungen Menschen« auf im weitesten Sinn kulturelle Themen konzentrieren sollten. Vgl. hierzu auch Kolk: Walter Hammer, S. 84–88. Die Auflagenhöhe der »Jungen Menschen« bewegt sich im untersuchten Zeitraum zwischen 8000 und 15.000 Exemplaren. 352 Seine Vorstellungen einer freien, unabhängigen Presse hatte er bereits vor dem Weltkrieg in Walter Hammer : Die Generalanzeiger-Presse kritisch beurteilt als ein Herd der Korruption, Leipzig 1912, vorgetragen, die mit dem Anspruch auf Aufklärung und Bildung viel von dem erkennen lässt, was er in den »Jungen Menschen« umsetzte. Damals hatte er seine Kritik an den kapitalistischen Strukturen des Pressewesens allerdings noch mit antisemitischen und antifeministischen Stereotypen verbunden, was in den »Jungen Menschen« nicht mehr der Fall ist. 353 So die programmatische Aussage der Herausgeber in einem Editorial zur ersten Ausgabe der Zeitschrift.
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Textsorten und Themen: Gedichte stehen neben kurzen Prosatexten und als »Denker-Worten« ausgewiesenen Zitaten, politische neben feuilletonistischen Texten. Spezielle Themenhefte widmen sich einzelnen Künstlern (unter anderem Hermann Hesse, Ernst Toller, Hans Paasche) oder Künstlergruppen (unter anderem »Arbeiterdichtern«), Politikern und Philosophen (unter anderem Pjotr Kropotkin, Rabindranath Tagore, Gustav Landauer, Walther Rathenau), die zum einen durch den Abdruck als zentral oder beispielhaft eingeschätzter Texte selbst zu Wort kommen, zum anderen von Mitarbeitern der Zeitschrift in Beiträgen vorgestellt und in ihrer Bedeutung gewürdigt werden.354 Zwar ist die Auswahl der portraitierten Personen ebenso wie der politische und weltanschauliche Konsens durchaus dem republikanischen Politikverständnis und dem Pazifismus des Herausgebers verpflichtet und ergreift Partei in den aktuellen Zeitläuften.355 Eine einmütige Meinung, ein festes politisches oder weltanschauliches Programm wird darüber hinaus jedoch nicht sichtbar, wie Wolfgang Schuchart aufgrund seiner Analyse der politischen Inhalte der »Jungen Menschen« feststellt. Seine Methode ist jedoch insofern problematisch, als er auf die Nennung der Verfasser der von ihm untersuchten Artikel verzichtet und derart den Eindruck eines homogenen Autorenkollektivs erweckt.356 Treffender, zumal in der Anfangszeit der Zeitschrift, ist die Einschätzung von Flake und Schmidt, die vom »Forum-Charakter der ›Jungen Menschen‹« sprechen,357 so dass, trotz allen Bekenntnisses zum Pazifismus und zur Republik, auch ein Text wie Walter Flex’ »Wanderer zwischen beiden Welten« wohlwollend besprochen werden kann358 oder sich ein Themenheft dem Maler Hugo Höppener, genannt Fidus, widmet, dessen künstlerisches Engagement spätestens während des Ersten Weltkriegs mehr und mehr völkischen Ideen galt.359
354 Zur Zweiteilung der »Jungen Menschen« vgl. auch das »Programm der Jungen Menschen« in der Nummer 1, nach der sich die Zeitschrift in einen »allgemeinen Teil« und den »Rundblick« gliedert. 355 Vgl. zum Beispiel das Rathenauheft 15/16 (1922) als Kommentar zur Ermordung des Außenministers. 356 Wolfgang Schuchart: Sozialismus und Pazifismus. Skizzen zum politischen Programm der Zeitschrift »Junge Menschen«, in: Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung, 1988–1992, Bd. 17, S. 141–162. 357 Flake, Schmidt: Walter Hammer, S. 20. 358 Vgl. Erich Kühn: [Rezension zu:] Walther Flex, Der Wanderer zwischen beiden Welten, in: Junge Menschen, 1920, H. 19, S. 192. 359 Vgl. die Ausgabe 6 (1921) der »Jungen Menschen«. Vgl. zu Fidus die noch immer grundlegende Arbeit von Janos Frecot, Johann Friedrich Geist, Diethart Kerbs: Fidus 1868–1948. Zur ästhetischen Praxis bürgerlicher Fluchtbewegungen, Hamburg 1997.
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3.9
Das Quellenmaterial
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Die Pfadfinderbewegung, um 1900 in England begründet, fand auch in Deutschland seit 1909 rasche Verbreitung.360 Der Wandervogel pflegte zu dieser neuen Bewegung ein distanziertes Verhältnis, das sich gleichermaßen aus gegen England gerichteten Ressentiments und der elitären Vorstellung speiste, die besseren Formen jugendlichen Zusammenlebens entwickelt zu haben.361 Zwischen der in Deutschland entstandenen Jugendbewegung um den Wandervogel und der Pfadfinderbewegung gab es in der Tat beträchtliche Unterschiede. Dieser fehlte das Jugendpathos ebenso wie das diffuse Konzept einer jugendlichen Selbsterziehungsgemeinschaft. Im 1911 gegründeten Deutschen Pfadfinderbund (DPB) entwickelten sich die Pfadfinder in Deutschland vielmehr zu einem »vormilitärischen Ertüchtigungsverein«, orientiert an militärischem Drill, Rangordnungen und einer straffen Disziplin, »uniformierte[m] Heldentum« und einer staatstragenden Einstellung, aufgrund derer sich »der DPB selber […] zur staatlich geförderten Jugendpflege zählte«.362 Nach Kriegsende setzte aber auch hier eine Neuorientierung ein: »Die ehemaligen Pfadfinder fanden den Weg in die Jugendbewegung; man kann sagen, daß sie die Jugendbewegung als ein Interregnum übernahmen und daß sich der
360 Vgl. zur Geschichte der Pfadfinderbewegung in Deutschland allgemein die Beiträge in Historische Jugendforschung. Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung, 2009, N. F. 6, mit dem Schwerpunktthema »Hundert Jahre Pfadfinden in Deutschland«. 361 Vgl. beispielhaft die Rezension des »Pfadfinderbuchs« von Alexander Lion, einer freien und an die Verhältnisse in Deutschland angeglichenen Übersetzung von Robert Baden-Powells Gründungsschrift der Pfadfinderbewegung »Scouting for Boys« im »Wandervogel, Monatsschrift für deutsches Jugendwandern«, 1911, H. 12, abgedruckt in Kindt (Hg.): Wandervogelzeit, S. 778f.: »Baden-Powell hat als trefflicher Mensch und genialer Erzieher viel nach dem Herzen der Jungen in sein Scouting for boys gelegt […]. Uns Wandervögeln mag das Gewollte, Beabsichtigte der Übungen und ihr erwähnter Erziehungszweck etwas Verstimmung aufnötigen, aber in Wirklichkeit ist ja das alles längst unser Eigentum gewesen, von jeher haben wir mit Lagern und Zelten umzugehen Veranlassung gehabt und mehr an Erfahrung gesammelt, als hier niedergelegt ist. […] Der moralische Beigeschmack ist nicht nach unserm Sinn, aber für die meisten Leute ist es doch nötig, zu betonen, wie notwendig als Grundlage einer Jugendbildung es ist, allezeit ein anständiger, ehrlicher, höflicher, bescheidener, tüchtiger Kerl zu sein. Das greift alles eins ins andere, wir reden nur auf eigene deutsche Art nicht soviel davon. Kurz und gut, das neue Pfadfinderbuch muß jeder Führer kennen und von innen heraus zu verstehen sich bemühen, dann wird er auch mit Nachsicht über das hinweggleiten, was an Schulmeisterei, Arztspiel und überkanalem Beigeschmack noch stört«. Vgl. hierzu auch Ulbricht: »Weißer Ritter«, S. 153. Vgl. zum Verhältnis von Wandervogel- und Pfadfinderbewegung vor dem Ersten Weltkrieg auch Ulrich Herrmann: »Fahrt« oder »Camp« – Wandervogel und Scout. Distanz und Nähe zweier Jugendkulturen vor dem Ersten Weltkrieg, in: Historische Jugendforschung. Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung, 2009, N.F 6, S. 13–27. 362 Pross: Jugend, S. 106.
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Das Quellenmaterial
Charakter der Bewegung unter ihrem Einfluß änderte«.363 Es handelt sich um den Beginn der »bündischen Zeit« der Jugendbewegung. Die treibenden Kräfte bei dieser Entwicklung waren vor allem Franz Ludwig Habbel,364 Ludwig Voggenreiter365 und Martin Voelkel366, die zunächst eine Reform innerhalb des DPB anstrebten, nach diversen gescheiterten Vermittlungsversuchen mit der Bundesführung jedoch ausgeschlossen wurden und sich als Bund der Neupfadfinder neu konstituierten.367 Zentrales Medium des Kreises war die Zeitschrift »Der Weiße Ritter. Eine Führerzeitung«, die seit 1919 im gleichnamigen Verlag erschien.368 In einem »Geleitwort« zur ersten Ausgabe des »Weißen Ritters« sprechen die Herausgeber Habbel, Voggenreiter und Karl Sonntag gleichermaßen von den Zielen der Neupfadfinder wie vom Programm der neuen Zeitschrift: »Der Weiße Ritter ist eine Pfadfinderzeitung. Aber ein Pfadfinder ist nicht das, was die Öffentlichkeit sich heute auf Grund des Augenscheins darunter vorstellt. Ein Pfadfinder ist ein Mensch, der nach dem inneren Ich sucht und nach dem Weg des Lebens, um wirklich dann ein Pfadfinder zu werden und ein Mensch, der für jeden anderen, ehrlich Strebenden und Suchenden Achtung aufzubringen versteht. Solche Pfadfinder 363 Laqueur : Jugendbewegung, S. 149. 364 Franz Ludwig Habbel (1894–1964), Sohn des Verlegers Josef Habbel, war vor der Gründung der Neupfadfinder Mitglied im Bayerischen Wehrkraftverein, dem dortigen Ableger der Pfadfinderbewegung. Seit den 1920er-Jahren arbeitet er zeitweise als Verleger, zeitweise in der Luftfahrtindustrie. Vgl. zu Habbel die Kurzbiographie bei Kindt (Hg.): Grundschriften, S. 566f. 365 Ludwig Voggenreiter (1898–1947) war ebenfalls zunächst Mitglied des Bayerischen Wehrkraftvereins. Gemeinsam mit Habbel gründet er 1919 die Firma Der Weiße Ritter Verlag und publiziert neben den Schriften der Neupfadfinderbewegung philosophische Titel, Jugendliteratur, Musikalia, Belletristik und Sachbücher. 1922 scheidet Habbel aus dem Verlag aus, 1925 erfolgt die Umbenennung in Ludwig Voggenreiter Verlag, der als Voggenreiter Verlag bis heute Bestand hat. Vgl. zu den verlegerischen Aktivitäten Habbels und Voggenreiters vor allem Ulbricht: »Weißer Ritter«; zum Voggenreiter Verlag auch den Eintrag in Würffel: Lexikon, S. 947f.; zu Habbel und seinen weiteren verlegerischen Aktivitäten ebd., S. 304. 366 Martin Voelkel (1884–1950) kam als evangelischer Pfarrer zur Pfadfinderbewegung. Vgl. die Kurzbiographie bei Kindt (Hg.): Grundschriften, S. 579f. 367 Vgl. zur Chronologie der Ereignisse unter anderem Ulbricht: »Weißer Ritter«, S. 154–159 sowie Jürgen Reulecke: Hie Wandervogel – hie Pfadfinder. Die Meißnerformel 1913, das Prunner Gelöbnis und die Reformer Franz Ludwig Habbel und Ludwig Voelkel, in: Historische Jugendforschung. Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung, 2009, H. 6, S. 61–75. Die älteren Darstellungen von Karl Seidelmann: Kurzchronik [Bund Deutscher Neupfadfinder], in: Kindt (Hg.) Bündische Zeit, S. 389–392, und von Hermann Siefert: Der bündische Aufbruch 1918–1923, Bad Godesberg 1963, v. a. S. 22–54, sind jenseits der chronologischen Fakten mit Vorsicht zu behandeln. Karl Seidelmann war selbst im Bund der Neupfadfinder aktiv und in die Entwicklungen involviert; Sieferts Studie fehlt es an einer durchgehenden wissenschaftlichen Distanz zum Gegenstand. 368 »Der Weiße Ritter« setzte eine bereits 1918 gegründete Zeitschrift mit dem Titel »Der Aufbruch« fort, die allerdings nicht für die Auswertung herangezogen wurde.
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sind wir, die Neudeutschen. Aus dem Geiste dieser Jugendbewegung entstanden, deren Ideale Reinheit und Ritterlichkeit der Gesinnung sind, wendet sich Der Weiße Ritter an alle, die sich ehrlich und überzeugt zu Trägern dieser Ideale machen und in einer Zeit, in der sie zu Boden getreten sind, für sie kämpfen wollen. […] Der Weiße Ritter steht allen Bestrebungen, die Jugend für die Parteipolitik der einen oder anderen Richtung zu gewinnen, fern. Er sieht in diesen Versuchen ein unverantwortliches Verbrechen an dem höchsten Recht der Jugend, der freien Entscheidung über ihre Einstellung zum Staate, dessen zerrinnende Gemeinschaft sie selbst sich wird neu aufbauen müssen. […] Sie sei Jugend schlechthin und die Grundlage, auf der sie sich durch alle hergebrachten Klassenunterschiede hindurch zur gemeinsamen Neugestaltung des Lebens finden muß, ist die der sozialen Hilfsbereitschaft, der ritterlichen und reinen Nächstenliebe, des Volks- und Menschheitsbewußtseins.«369
Die Letztorientierung am staatlichen Gemeinwesen als Erbteil des Pfadfindertums ist hier zwar noch zu erkennen. Gleichzeitig jedoch kündet die Suche nach »dem inneren Ich« und dem »Weg des Lebens«, die im Rückzugsraum der Jugendgemeinschaft stattfinden sollen ebenso von einer Aufnahme spezifisch jugendbewegter Ideen wie der Wunsch, von den realpolitischen Entscheidungen des Parteiensystems unbehelligt zu bleiben.370 Neu waren dabei nicht nur Symbole wie die des Ritters, neben den diffuse und schillernde Begriffe wie der des »Reiches« und des »Grals« traten.371 Neu war vor allem die Idee und der zentrale Stellenwert des Bundes als Keimzelle des »neuen Menschen«372 und der neuen Gesellschaft. In diesem galt »die Gemeinschaft mehr als der einzelne. Es
369 Franz Habbel, Karl Sonntag, Ludwig Voggenreiter : Ein Geleitwort, in: Weißer Ritter, 1919/ 20, H. 1, S. 4–6, hier S. 5f. 370 Fraglos spielen auch zeithistorische Aspekte eine Rolle: die im Bürgertum verbreitete Skepsis bzw. offene Ablehnung des neuen, demokratischen Systems ebenso wie die noch immer verbreitete Ideologie des Unpolitischen. 371 Vgl. Laqueur: Jugendbewegung, S. 149; vgl. zum Leitbild des »Weißen Ritters« v. a. Ulbricht 991: »Weißer Ritter«, S. 150–154. 372 Der Topos des »neuen Menschen« wird von Habbel, Sonntag, Voggenreiter : Geleitwort, S. 5, eingeführt, in dem sie schreiben, dass die Jugend »eine andere Aufgabe hat, als sich in das heutige politische Leben hineinziehen zu lassen, nämlich Jugend bleiben und ein neuer Mensch zu werden.« Vgl. allgemein zu diesem Thema Gottfried Küenzlen: Der neue Mensch. Eine Untersuchung zur säkularen Religionsgeschichte der Moderne, München 1994; zur Bedeutung der Idee im »Weißen Ritter« und bei den Neupfadfindern Siefert: Aufbruch, S. 37–40. Vgl. zur Ideologie des »Weißen Ritter« unter besonderer Berücksichtigung religiöser Aspekte auch Sandra Franz: Die Religion des Grals. Entwürfe arteigener Religiosität im Spektrum von völkischer Bewegung, Lebensreform, Okkultismus, Neuheidentum und Jugendbewegung (1871–1945), Schalbach/Ts. 2009, S. 448–464 sowie Rainer Kolk: Literarische Gruppenbildung. Am Beispiel des George-Kreises 1890–1945, Tübingen 1998, S. 444–449, der sich auf Analogien und Parallelen zum Denken im George-Kreis konzentriert.
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Das Quellenmaterial
herrschte strengere Disziplin, und man sah im Bund eine allumfassende Verpflichtung, die den einzelnen für den Rest seines Lebens total beanspruchte«.373 Der »Weiße Ritter« dient der Diskussion entsprechender Konzepte, die selten nüchtern vorgetragen werden, sondern vor Pathos und Sendungsbewusstsein strotzen. Angereichert sind die programmatischen Texte mit einer religiösen Metaphorik, Vorstellungen von einem idealisierten – mit Laqueur : unhistorischen374 – Mittelalter, einem elitären Selbstverständnis375 und selbst indianischen Motiven.376 Die Herausgeber des »Weißen Ritters« verstanden ihre Zeitschrift als überbündische Führerzeitung, deren Inhalte keineswegs auf die Pfadfinderei oder auf den Bund der Neupfadfinder beschränkt bleiben sollten, obgleich sich der Kreis der Beiträger im Wesentlichen aus dessen Mitgliedern zusammensetzt. Ihrem reformatorischen Eifer folgend, intendierten sie mit ihrer Publikation nicht nur auf die gesamte Jugendbewegung Einfluss zu nehmen, sondern gleichfalls weit über diese hinaus wirksam zu sein und eine »Führeraufgabe« zu erfüllen.377 Diese Aufgabe sollte »auf allen Gebieten des jugendlichen Lebens« wahrgenommen werden: »Wenn den Hauptraum auch die Aussprachen innerhalb der Jugendbewegung einnehmen werden, so wird er sich doch nie in trockenen Erörterungen verlieren, sondern immer Platz haben für schöngeistige Beiträge dichterischer und bildnerischer Art, die aus dem Wesen der Jugend entsprungen sind oder zu ihm weisen.«378
373 Laqueur : Jugendbewegung, S. 150. 374 Ebd., S. 156. 375 Ebd., S. 152. Laqueur sieht hier einen möglichen Einfluss Stefan Georges, betont gleichzeitig aber die Unterschiede. Vgl. hierzu auch die Charakterisierung des »Weißen Ritters« durch Franz Habbel: Vom Schrifttum der Jugendbewegung, in: Weißer Ritter 1919/20, H. 7, S. 157–159, hier S. 158, als »geistige Aristokratie in Reinkultur« und den Wunsch nach einem elitären Leserkreis bei Franz Habbel: Schriftleitung, in: Weißer Ritter 1919/20, H. 11/ 12, S. 263f., dessen Exklusivität durchaus Parallelen zu den »Blättern für die Kunst« des George-Kreises aufweist. 376 Vgl. Laqueur: Jugendbewegung. Die indianischen Motive gelangten durch den englischen Reformer des Pfadfindertums John Hargrave und sein Buch »Kibbo Kift, the Woodcraft Kindred« in das Gedankengut der Neupfadfinder. Die Einschätzung der im »Weißen Ritter« propagierten Ideenwelt in der Forschung ist ambivalent. Während Niemeyer : Seiten, S. 48– 52, die ideologische Nähe der führenden Neupfadfinder zur NS-Ideologie betont und insbesondere auf völkische Versatzstücke, eine mythische Blut- und Bodenmetaphorik und ein soldatisches Heldenethos hervorhebt, erinnern Pross: Jugend, S. 235, und Laqueur : Jugendbewegung, S. 155–159 an die mit der Übernahme der Ideen Hargraves einhergehenden positiven Impulse für die Jugendbewegung. Besonders Laqueur setzt sich überdies dafür ein, zwischen der Praxis der Neupfadfinder und den ideologischen Vorstellungen ihrer Vordenker strikt zu unterscheiden, da diese im Alltag der Gruppen und des Bundes kaum zur Anwendung gekommen seien. 377 Habbel, Sonntag, Voggenreiter : Geleitwort, S. 5. Vgl. auch Ulbricht: »Weißer Ritter«, S. 166. 378 Habbel, Sonntag, Voggenreiter : Geleitwort, S. 5.
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Mehr und mehr waren die Herausgeber bemüht, sich aus der Berichterstattung über die Entwicklungen innerhalb der Jugendbewegung vollständig zurückzuziehen und den »Weißen Ritter« zu einer »Zeitlosschrift«379 zu machen: »Nur was an den Menschen rührt, nur was irgend den wesenhaften Grund der Dinge trifft, soll noch in den Ring«.380 Angesichts der wachsenden Differenzen innerhalb des DPB sahen sie sich zwar nicht imstande, vollends auf die Auseinandersetzung mit ihrem Bund und ihren Kritikern zu verzichten. Dennoch verfolgten sie ihren Plan weiter, indem sie 1920 zusätzlich zur eigentlichen Zeitschrift die »Beiblätter zum Weißen Ritter« einführten, die vorrangig der Kommentierung aktueller Ereignisse innerhalb der Jugendbewegung dienen sollte.381
379 Habbel: Schriftleitung, S. 263. 380 Karl Sonntag: Der Weiße Ritter, in: Weißer Ritter 1919/20, H. 7, S. 159–163, hier S. 160. 381 Vgl. Franz Habbel: Zur Neugestaltung des Weißen Ritter, in: Beiblätter 1920/21, Zwischenheft vom 1. November 1920, S. 1f.
4.
Literaturkritik in den Zeitschriften der Jugendbewegung
Dass Zeitschriften und Zeitungen über Literatur berichten, ist keine Selbstverständlichkeit. Ob und in welchem Umfang dies geschieht, ist abhängig vom Profil des Publikationsorgans.382 Die Darstellung der Zeitschriften der Jugendbewegung im vorangehenden Kapitel konnte auch deswegen ohne die Berücksichtigung von Literaturkritik auskommen, weil sie nicht zu deren Kernthemen gehört. Dennoch verzichtet keine der analysierten Publikationen völlig auf eine Auseinandersetzung mit Literatur, wenngleich es quantitative Unterschiede gibt. Eine ad-hoc-Erklärung für den Abdruck literaturkritischer Texte383 kann hier nicht erfolgen. Vielmehr gilt es im Verlauf dieser Arbeit die These zu entfalten und zu begründen, dass die Beschäftigung mit Literatur in der Jugendbewegung unauflöslich mit den Funktionen verknüpft ist, die ihr von den Mitgliedern der Jugendbewegung zugeschrieben werden und die den Abdruck literaturkritischer Texte in den Zeitschriften legitimieren und prägen. Rezensionen finden sich in den analysierten Zeitschriften zumeist am Heftende, vom restlichen Inhalt auch durch ein kleineres Satzbild abgegrenzt. Sie 382 Die kulturhistorischen Gründe für die Entstehung, Etablierung und Ausdifferenzierung von Literaturkritik und Literaturjournalismus können hier vernachlässigt werden. Vgl. zur Geschichte der Literaturkritik v. a. Peter Uwe Hohendahl (Hg.): Geschichte der deutschen Literaturkritik (1730–1980), Stuttgart 1985 sowie die historischen Beiträge in Thomas Anz, Rainer Baasner (Hg.): Literaturkritik. Geschichte – Theorie – Praxis, München 2004. 383 »Literaturkritische Texte« dient im Folgenden als Sammelbegriff für alle Formen von schriftlicher Literaturkritik, unter denen die Rezension zwar diejenige mit der weitesten Verbreitung ist, jedoch bei weitem nicht die einzige. Vgl. zu den verschiedenen Textsorten der Literaturkritik u. a. Wolfgang Albrecht: Literaturkritik, Stuttgart 2001, S. 50–59; Thomas Anz: Theorien und Analysen zur Literaturkritik und zur Wertung, in: Anz, Baasner : Literaturkritik, S. 194–219, hier S. 217f.; Stefan Neuhaus: Literaturkritik. Eine Einführung, Göttingen 2004, S. 133–138. Eine Unterscheidung zwischen »Literaturkritik« und »Buchkritik«, wie sie mit unterschiedlichen Definitionen unter anderem von Petra Altmann: Der Buchkritiker in deutschen Massenmedien. Selbstverständnis und Selektionskriterien bei Buchbesprechungen, München 1983, S. 22–24, und von Stefan Neuhaus: Literaturvermittlung, Konstanz 2009, S. 204, vorgeschlagen werden, erfolgt in der vorliegenden Untersuchung nicht.
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Literaturkritik in den Zeitschriften der Jugendbewegung
unterscheiden sich in Länge und Stil mitunter erheblich. Das Spektrum reicht von kürzesten Kaufempfehlungen über knappe Inhaltsangaben bis hin zu ausführlichen, zum Teil mehrere Seiten langen Besprechungen, die sich wertend mit Autor und Werk beschäftigen. Wird einer Neuerscheinung besondere Relevanz zugesprochen, so kommt es mitunter vor, dass im Hauptteil des Heftes Raum für eine Rezension zur Verfügung gestellt wird.384 In diesen Fällen weichen klassische Rezensionen häufig anderen Textsorten der Literaturkritik, zum Beispiel dem Essay, oder es wird in Form einer Debatte von mehreren Autoren und unter Umständen über mehrere Ausgaben verteilt eine Einschätzung des Buches oder eines Schriftstellers versucht. Dies ist besonders oft in den Zeitschriften für die Älteren der Bewegung der Fall, namentlich in der »Freideutschen Jugend« und in der »Wandervogel-Führerzeitung«. Besondere Anlässe wie Geburtstage oder Todestage berühmter Dichter können ebenfalls ein Grund sein, literaturkritische Texte im Hauptteil zu bringen. Auch in Themenheften, die sich beispielsweise einer bestimmten Landschaft widmen, wird passende Literatur in ausführlicheren Artikeln vorgestellt. Wiederum verstärkt in den Älterenzeitschriften, vor allem in der »Freideutschen Jugend« und im »Weißen Ritter«, findet eine Auseinandersetzung mit Literatur auch in Aufsätzen statt, die sich generellen ästhetischen und poetologischen Fragen widmen oder zeitgenössische Autoren beziehungsweise Autorengruppen einzuordnen und zu verstehen suchen. Die »Jungen Menschen«, die sich mehr als alle anderen Zeitschriften als über die Tagesfragen der Jugendbewegung hinaus interessierte Kulturzeitschrift positioniert, bringt beinahe alle literaturkritischen Texte im Hauptteil. Gleichzeitig ist es diejenige Zeitschrift, die am wenigsten von der Textsorte der Rezension Gebrauch macht und eher auf Porträts setzt, die meist durch Textbeispiele der vorgestellten Schriftsteller ergänzt werden.385 So wenig Literaturkritik den Hauptbestandteil der Hefte ausmacht, so wenig ist die Buchkritik auf literarische Texte im engeren Sinn beschränkt. Die Beschäftigung mit Sachbüchern aus den verschiedensten Bereichen, mit philosophischer Literatur und Weltanschauungsliteratur, mit Liederbüchern und Notenheften nimmt demgegenüber sogar deutlich mehr Platz in Anspruch.386 Eine 384 Ein Beispiel hierfür sind die Schriften von Hans Blüher, dem als (ehemaligem) Wandervogel und Autor einer Geschichte des Wandervogels erhebliche Prominenz in der Bewegung zukommt. Vgl. hierzu auch den Hinweis des Schriftleiters der »Wandervogel-Führerzeitung«, Dankwart Gerlach: Von der Mitarbeit, in: Führerzeitung 1917, H. 5/6, S. 96, an seine Leser, dass aus Platzgründen Rezensionen nicht länger als eine halbe Druckseite sein sollten; Bücher hingegen, die »in hervorragender Weise geeignet [sind] das Wandervogelleben zu beeinflussen« in einem »›richtiggehenden‹ Aufsatz« besprochen werden könnten. 385 Vgl. zur literaturkritischen Textsorte des Porträts Albrecht: Literaturkritik, S. 55f. 386 Als Grund hierfür können eine in der Jugendbewegung weit verbreitete Fiktionalitätskritik und ein daraus resultierender Legitimationszwang bei der Lektüre fiktionaler Texte gelten,
Rezensionsexemplare und Privatlektüre
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räumliche Trennung zwischen Rezensionen von Sachbüchern und von literarischen Neuerscheinungen findet in der Regel nicht statt. Eine Ausnahme bildet der »Zwiespruch«, dessen relativ strikte Gliederung in verschiedene Rubriken auch die Besprechung von thematisch zugehörigen Büchern im jeweiligen Teil mit sich führt. Für literarische Titel wird dort die Rubrik »Das Bücherbord« etabliert.387 Entsprechend dieser Praxis liegt auch dieser Arbeit kein starrer, festumgrenzter Literaturbegriff zugrunde, sondern ein pragmatisches Verständnis von »Literatur«.388 Systematisch ausgewertet wurden literaturkritische Texte, die sich mit epischen, lyrischen und dramatischen Texten oder deren Autoren auseinandersetzen. Rezensionen von Sach- und Liederbüchern konnten nur teilweise berücksichtigt werden. Auf sie wird in der folgenden Darstellung dann zurückgegriffen, wenn sich hieraus weiterführende oder ergänzende Erkenntnisse für den Umgang mit literarischen Texten in der Jugendbewegung ergeben. Gleiches gilt für »Mischgattungen« wie Essays, (Auto-)Biographien, philosophische Traktate, Manifeste usw.
4.1
Rezensionsexemplare und Privatlektüre
Woher kommen die Bücher, die in den Zeitschriften der Jugendbewegung besprochen werden? Die Frage ist weniger trivial, als sie zunächst scheinen mag. Professionelle Literaturkritiker lassen sich damals wie heute von Verlagen mit Rezensionsexemplaren aktueller Neuerscheinungen versorgen, normalerweise vermittelt über die Zeitungen oder Zeitschriften, in denen sie publizieren. Das bedeutet für die meisten Rezensionsorgane eine weitgehende Konzentration auf den aktuellen Buchmarkt; ältere Publikationen bleiben in aller Regel unberücksichtigt, sofern nicht wegweisende Editionen oder Neuübersetzungen auf den Markt kommen.389 Auch die Zeitschriften der Jugendbewegung orientieren sich in ihren Rezensionsteilen hauptsächlich am zeitgenössischen Buchmarkt und erhalten von die auf das Schreiben über Literatur in den Zeitschriften zurückwirken. Vgl. hierzu weiter unten das Kapitel über Die Gefahren des Lesens. 387 Auch andere der untersuchten Zeitschriften nutzen zumindest zeitweise eine ähnliche räumliche Trennung, ohne diese Praxis aber über mehrere Jahrgänge hinweg aufrechtzuerhalten. Anders verhält es sich mit der Besprechung von Zeitschriften, die häufig von der Kritik von Buchpublikationen getrennt wird. 388 Vgl. hierzu auch oben, S. 64f., und Jannidis, Lauer, Winko: Literaturbegriff. 389 Im Gegensatz hierzu besprechen die zahllosen Hobbyrezensenten im Internet alles, was ihnen in die Finger kommt, seien es Bücher, die als Privatlektüre gekauft und gelesen wurden, seien es Pflichtlektüren für Schule, Studium oder Beruf, so dass auch ältere Titel massenhaft rezensiert werden.
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Literaturkritik in den Zeitschriften der Jugendbewegung
Verlagen Rezensionsexemplare. Somit gilt, was Ralf Schneider im Rahmen seiner Untersuchung feministischer Literaturkritik im viktorianischen England geschrieben hat, auch hier : »Da journalistische Kritik vorrangig auf den jüngsten Buchmarkt ausgerichtet ist, […] werden […] häufig Autorinnen und Autoren besprochen, die im heutigen, akademisch sanktionierten Kanon keinen Platz mehr finden«,390 ohne dass sich aus diesem Faktum gleich eine Einschätzung über die Qualität zugrundeliegender Selektionsmechanismen ziehen ließe. Gleichwohl werden in den untersuchten Zeitschriften der Jugendbewegung nicht ausschließlich Neuerscheinungen vorgestellt. Vor allem Themenhefte und Jubiläen dienen als Anlass, ältere Literatur und verstorbene Autoren in Erinnerung zu rufen. Doch auch jenseits besonderer Anlässe werden gelegentlich Artikel veröffentlicht, deren Verfasser ein Buch einzig und allein deswegen besprechen, weil es ihnen als wichtig erscheint.391 Gleichzeitig bedeutet die Orientierung am aktuellen Buchmarkt, dass nicht unbedingt diejenigen Bücher im Rezensionsteil auftauchen müssen, die die Mitglieder der Jugendbewegung tatsächlich allein zu Hause gelesen oder in den Gruppen diskutiert haben. Ebenso lässt sich der Einfluss der Rezensionen auf das Kaufverhalten ihrer Leser schlechterdings nicht ermitteln. Die Rezensionen eignen sich aufgrund der Wertungen und Funktionszuschreibungen zwar zur Analyse des Literaturkonzepts. Einschätzungen über die Verbreitung einzelner Bücher und ihren allgemeinen Bekanntheitsgrad lassen sich aus ihnen jedoch
390 Schneider: Literaturkonzeptionen, S. 457. Vgl. außerdem die Überlegungen von Ludwig Fischer : Literatur und sozialgeschichtliche Phase, in: ders.(Hg): Literatur der Bundesrepublik Deutschland bis 1967 (Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Bd. 10), München u. a. 1986, S. 17–26, hier S. 19f., zu den Bedingungen und Möglichkeiten einer konsequenten Sozialgeschichtsschreibung der Literatur, der darauf aufmerksam macht, dass »[f]ür eine bestimmte sozialgeschichtliche Phase […] erst einmal Produktion und faktischer Gebrauch nicht nur der neu hervorgebrachten, sondern vor allem der aus früheren Phasen wiederaufgelegten und bereitgestellten Literatur zuverlässig untersucht werden [müßten]«. Die Konzentration lediglich auf die je zeitgenössischen Neuerscheinungen, noch dazu auf die ästhetisch avanciertesten, würde lediglich eine »normative Prämisse der bürgerlichen Kunstliteratur-Praxis reproduzieren«. 391 Vgl. hierzu beispielsweise Hans Lehmann: [Rezension zu:] [Edward] Bellamy, Ein Rückblick aus dem Jahre 2000 auf 1887, in: Freideutsche Jugend, 1919, H. 2, S. 93, der seine Rezension einleitend damit rechtfertigt, dass es sich zwar »hier um keine Neuerscheinung [handelt], doch erfüllt eine Besprechung auch ihren Zweck, wenn sie nur auf ältere Schriften aufmerksam macht«; das Buch selbst gilt dem Rezensenten als relevanter Beitrag zur in der Freideutschen Jugend geführten Auseinandersetzung mit dem Sozialismus.Vgl. außerdem Schriftleitung: Bücherbesprechungen, in: Junge Menschen, 1920, H. 2/3, S. 16, wo als Ziel der Literaturkritik in der Zeitschrift ausgegeben wird, grundsätzlich Bücher zu besprechen, »die für junge Menschen wesentlich sind, unbekümmert darum, ob sie erst jüngst erschienen oder ob sie schon zum altehrwürdigen Teil unseres Schrifttums gehören«.
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nur bedingt gewinnen. Dass sich Verlage – und teilweise auch Autoren392 – von der Besprechung ihrer Bücher in den Zeitschriften der stetig wachsenden Jugendbewegung eine Absatzsteigerung versprechen, lässt sich dennoch annehmen, da der Bezug von Rezensionsexemplaren im gesamten Untersuchungszeitraum nachzuweisen ist. So wird gelegentlich darauf aufmerksam gemacht, welche Bücher als Rezensionsexemplare über die Redaktionen der Zeitschriften bezogen werden können.393 Einen einheitlichen Umgang mit Rezensionsexemplaren gibt es jedoch nicht. Die Zeitschrift des Alt-Wandervogels druckt wenigstens zeitweise ausschließlich Rezensionen von solchen Büchern ab, die zunächst der Schriftleitung zugegangen sind,394 und auch der »Zwiespruch« handhabt seinen Rezensionsteil auf diese Weise, wenngleich den Lesern die Möglichkeit eingeräumt wird, die Redaktion auf interessante Bücher hinzuweisen, »von wo aus das Weitere veranlaßt werden wird«.395 Im Hintergrund dürfte dabei einerseits der Wunsch gestanden haben, aktuelle oder potentielle Anzeigenkunden durch den Schriftverkehr mit den Herausgebern der Zeitschrift an sich zu binden. Andererseits ist denkbar, dass etwaigem Missbrauch vorgebeugt werden sollte, da sich dieser Art niemand unter Berufung auf eine der Zeitschriften Rezensionsexemplare erschleichen konnte. Im »Weißen Ritter« gibt man sich hingegen betont unabhängig von Rezensionsexemplaren und unterstreicht damit gleichzeitig die Unbestechlichkeit des literarischen Urteils. So schreibt der Herausgeber Franz Habbel in einem programmatischen Vorwort zur Rubrik »Bücherbrett« in der ersten Nummer der Zeitschrift:
392 Vgl. Karl Albrecht: [Rezension zu:] Prof. Dr. [Hugo] Conwentz, Die Heimatkunde in der Schule, in: Wandervogel Illustrierte Monatsschrift, 1904, H. 9, S. 83 und Wolf Heyer: [Rezension zu:] Ludwig Finckh, Hindurch mit Freuden! Der deutschen Jugend gewidmet, in: Wandervogel Monatsschrift, 1919, H. 6, S. 177f., hier S. 177. Grundsätzlich sind hierin auch Versuche zur Etablierung von Netzwerken zu erkennen, die über ein lediglich ökonomisches Interesse an verbreiterten Absatzmöglichkeiten hinausgehen und stattdessen auf ideologische Wirkungsmöglichkeiten abzielen. Je nach Zeitschrift bzw. Autoren und Verlagen können diese (reform)pädagogischer, politischer oder auch kulturkritischer Natur sein. 393 Vgl. zum Beispiel Alt-Wandervogel 1906, H. 2, S. 29, wo unter der Überschrift »Bücherschau. Eingesandte Bücher« eine Liste derjenigen Bücher zu finden ist, die als Rezensionsexemplare eingegangen sind, wobei bereits zur Besprechung verteilte Bücher markiert sind. In der Regel dürften die Rezensionsexemplare jedoch in allen Zeitschriften an einen kleineren Kreis von regelmäßigen Mitarbeitern vergeben worden sein. Rezensionsexemplare werden dann nur aufgeführt, wenn von dieser Seite keinerlei Interesse besteht. Für den »Zwiespruch« macht auf diese Praxis aufmerksam Friedrich Wilhelm Fulda: Zum Bücherbord, in: Zwiespruch, 1922, H. 12, Bücherbord 3, S. 1. 394 Vgl. Schriftleitung 1914: [Ohne Titel], in: Alt-Wandervogel, 1914, H. 5, S. 128. 395 Lothar Heberer : Aus der Arbeitsstube des »Bücherbord«, in: Zwiespruch, 1920, H. 6.
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Literaturkritik in den Zeitschriften der Jugendbewegung
»Die Auswahl der besprochenen Bücher kann in keiner Weise beeinflußt werden; für Besprechungsstücke ist die Schriftleitung dankbar, aber sie übernimmt durch sie ebensowenig eine Verpflichtung zur Besprechung, wie sie diese von der Übersendung abhängig macht.«396
Tatsächlich findet sich bereits in der folgenden Nummer des »Weißen Ritter« eine Rezension, deren Entstehung sich gleichermaßen einem Zufall wie persönlichen Vorlieben verdankt: »Beim Stöbern in meinem Bücherschrank fällt mir ein Buch in die Hände, das ich schon oft gelesen und das mich jedesmal von neuem zu fesseln weiß: Klaus Bismarck von Walter Flex«.397 Dass hier jemand jenseits aller Rezensentenpflicht zum Stift greift, um ein ihm wichtiges Buch vorzustellen, zeugt von der besonderen Wertschätzung des Titels und signalisiert den Lesern damit auch, dass es sich nicht um eine beliebige Buchbesprechung handelt. Ähnlich verhält es sich in einer von Erich Matthes für die »Führerzeitung« verfassten Rezension, die das Rezensionsobjekt aus der Masse anderer Publikationen hervorhebt, die dadurch zusätzlich als irrelevant qualifiziert werden: »Vor vierzehn Tagen war ich auf Urlaub in der Heimat. Studierte so nebenbei Bücherlisten und die Auslagen der Buchhändler. Unter den Neuerscheinungen des Jahres ist so gut wie nichts Wertvolles. Meistens Kriegsliteratur, der die Geschäftsmache und Spekulation auf den ersten Blick anzusehen ist. Da kam mir, kurz bevor ich wieder zur Front mußte, ein Buch in die Hand, das es verdient, genauer betrachtet zu werden.«398
Im Nebeneinander der Besprechung von Rezensionsexemplaren und der Empfehlung privater Lektüre werden die zwei Gesichter der jugendbewegten Zeitschriften deutlich. Einerseits handelt es sich um Unternehmungen, die einen zumindest annähernd professionellen Organisationsgrad mit einer entsprechend aufgezogenen Vertriebsstruktur und Anzeigenkunden aufweisen, die andererseits aber auch von der Mitarbeit ihrer (jugendlichen) Leser leben, welche hier ihre ersten oder einzigen Erfahrungen als Autoren einer Zeitschrift sammeln. Die »Jungen Menschen« rufen in diesem Sinn explizit zur Mitarbeit an der Beurteilung einer Reihe von Büchern auf: »Wir nennen hier eine Anzahl von Büchern, die allen jungen Menschen ans Herz wachsen müßten, und fordern unsere Leser auf, uns über das eine oder andere dieser Bücher knapp gehaltene Besprechungen zu schicken; besonders müßte darin hervorgehoben werden, welche Werte gerade für die Jugend unserer Tage darin ruhen.«399 396 Franz Habbel: [Ohne Titel], in: Weißer Ritter, 1919/20, H. 1, S. 25. 397 Robert Strigel: [Rezension zu:] Walter Flex, Klaus Bismarck, Eine Erzählung. Aus klaren Quellen, in: Weißer Ritter, 1919/20, H. 2, S. 50–51, hier S. 50. 398 Erich Matthes: [Rezension zu:] Max Jungnickel, Trotz Tod und Tränen. Ein fröhliches Buch, in: Führerzeitung, 1915, H. 11, S. 152–154, hier S. 152. 399 Anonym: Bücherbesprechungen, in: Junge Menschen, 1920, H. 2/3, S. 16. Zu den genannten
Selektionskriterien
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Wenn die Leser unaufgefordert literaturkritische Beiträge einsenden, impliziert dies bereits ein positives Werturteil. Beim Stöbern im eigenen Bücherregal oder in Buchhandlungen greifen sich die Rezensenten ein einziges Buch heraus, über das sie schreiben und das sie damit anderen Lesern empfehlen wollen. Aber auch unter den eingesandten Rezensionsexemplaren wird selektiert: »Diejenigen Bücher und Zeitschriften, die uns zugesandt werden, werden jedesmal genau durchgesehen und Spreu vom Weizen gesondert«.400 Damit erfüllen die jugendbewegten Zeitschriften die für Literaturkritik zentrale Aufgabe als ›gatekeeper‹401, indem sie unter den zahllosen Neuerscheinungen diejenigen herausgreifen, die für die Zielgruppe als relevant eingeschätzt werden.
4.2
Selektionskriterien
Alle möglichen Neuerscheinungen zu selektieren ist schon aus Gründen des begrenzten Platzes unabdingbar, der in einer Zeitung oder Zeitschrift zur Verfügung steht. Ludwig Tschuncky, von 1914 bis 1918 Schriftleiter der Zeitschrift des Alt-Wandervogels, erläutert seinen Lesern unter Berücksichtigung dieses Faktums die Arbeitsweise der Redaktion beim Rezensionsteil: »Unter der Überschrift ›Bücher‹ bringen wir fast in jeder Nummer einige Bücherbesprechungen, bei denen es dem einen oder anderen schon öfter aufgefallen sein mag, daß diese Bücher fast alle unsern W.V. empfohlen werden und daß somit eigentlich keine Kritik geübt werde. Das ist nun nicht richtig. […] Wegen Raumersparnisses bringen wir nur diejenigen Besprechungen, die für unsere Wandervögel Wert haben, während wir bei schlechten eine Besprechung ablehnen.«402
Ein beträchtlicher Teil der literaturkritischen Arbeit findet demnach bereits vor der Niederschrift von Rezensionen statt und ist damit dem Augenmerk und der Beurteilung der Leser – und mit ihnen der Rezeptionshistorikerin – entzogen. Deshalb finden sich zwar keine Begründungen für das Ausbleiben einer Rezension zu dieser oder jener bestimmten Neuerscheinung, wohl aber Äußerungen, die zu den Selektionskriterien auf einer allgemeineren Ebene Stellung beziehen. In einem Artikel Walter Fischers in seiner Funktion als »Schriftleiter« äußert Büchern zählen so unterschiedliche Titel wie Thomas Manns »Buddenbrooks«, Frank Wedekinds »Frühlings Erwachen«, Hermann Hesses »Zarathustras Wiederkehr«, Hermann Poperts »Helmut Harringa«, Peter Roseggers »Als ich noch ein Waldbauernbub« war, Hermann Löns’ »Wehrwolf«, Walter Flex »Wanderer zwischen beiden Welten« und Leonhard Franks »Der Mensch ist gut«, um nur einige der bekannten zu nennen. 400 H. [ugo] Tsch.[uncky]: [Bücher], in: Alt-Wandervogel, 1915, H. 8/9, S. 172. 401 Vgl. hierzu Neuhaus: Literaturkritik, S. 20. 402 Tsch.[uncky]: [Bücher], S. 172.
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Literaturkritik in den Zeitschriften der Jugendbewegung
er sich unter anderem über den literaturkritischen Teil der »Wandervogel Monatsschrift«: »Wir geben allem den Vorzug, was mit dem Wandern zusammenhängt. Drum halten wir es auch für außerhalb unsrer Aufgabe liegend, Bücher, Bilder und Noten zu besprechen, die uns nichts angehen. Das verwirrt nur und bringt niemandem Nutzen. Freilich ist es schwer, eine Grenze zu ziehen, und die Meinungen darüber werden stets auseinander gehen. Rein schöngeistige Werke zu besprechen, etwa der Kraft oder Neuheit ihrer Sprache wegen, müssen wir uns versagen. Zeitschrift für Jugendwandern! Denkt ihr denn, daß auch nur ein jüngerer Wandervogel solch ein Buch kauft? Nur ältere kommen dafür in Betracht, und die können sich in der Führerzeitung oder in einem literarischen Blatte unterrichten.«403
Fischer positioniert die Zeitschrift hinsichtlich ihrer Aufgaben und ihres Adressatenkreises auf dem gesamten Zeitschriftenmarkt und schließt auf dieser Grundlage bestimmte Bücher von vornherein aus der Menge möglicher Rezensionsobjekte aus. Zwei verschiedene Ausschlusskriterien lassen sich unterscheiden. Da sich die Zeitschrift vor allem als Zeitschrift für die jüngeren Wandervögel versteht, sollen solche Bücher nicht besprochen werden, die erst für ältere Menschen geeignet oder von Interesse sind. Zum anderen findet ein Ausschluss auf Grund von inhaltlichen Aspekten statt: alles, was für den Wandervogel als Wandervogel ohne Belang ist, soll keine Beachtung finden. Während die für jüngere Wandervögel ungeeigneten Bücher der Führerzeitung überlassen werden sollen, sollten nach dem Willen Fischers »rein schöngeistige« Werke in keiner Wandervogel-Publikation einen Platz finden. Gemäß dieser Positionierung begründet Walter Fischer in seinem Artikel auch die Ablehnung des Abdrucks von Gedichten ungeachtet ihrer literarischen Qualitäten mit der Gefahr, »in das Fahrwasser einer ästhetisierenden, literarischen Zeitschrift zu geraten«.404 Dem korrespondieren die ebenfalls vielfach in den Zeitschriften abgedruckten Anleitungen und Hinweise zur Einrichtung von »Wandervogel-Büchereien«, also kleinen Buchbeständen in den gemeinsamen Treffpunkten der Wandervogelgruppen. In einer solchen Anleitung heißt es apodiktisch: »Als Grundsatz stelle ich hin: Die Wandervogel-Büchereien müssen streng Fachbüchereien sein; und was wir als Wandervogel brauchen können, das darf hinein, sonst nichts! Daß es außerhalb dieses Rahmens noch gute lesenswerte Bücher gibt, bestreite ich natürlich keineswegs; doch dafür haben wir Schulbüchereien und große öffentliche Bibliotheken. Für unsere W.-V.-Büchereien ist alles, was außerhalb des WandervogelRahmens steht, beschwerender Ballast und gehört über Bord!«405 403 Walter Fischer: Von der Zeitung, in: Wandervogel Monatsschrift, 1916, H. 1, S. 20–23, hier S. 21. 404 Ebd. 405 Waldemar Seidel: Über Wandervogel-Büchereien, in: Wandervogel Monatsschrift
Selektionskriterien
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Insofern die Rezensionen in den Zeitschriften der Wandervogelbünde stets auch als Hilfe zur Zusammenstellung von Bibliotheken dienen sollen – Floskeln wie »gehört in jede WV-Bücherei« sind Legion und ersetzen mitunter sogar eine weitergehende Darstellung und Würdigung – sind Rückschlüsse von Artikeln über die Bibliothek auf Kriterien der Buchbesprechungen voll und ganz berechtigt. Analog zur Forderung Seidels nach »Fachbüchereien« lässt sich erkennen, dass die Zeitschriften der Wandervogelbünde Fachzeitschriften sein wollen. In diesem Sinn sollen in den Zeitschriften nur Bücher besprochen werden, die in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Wandervogel stehen. Diese Bestimmung lässt allerdings einen weiten Raum an Möglichkeiten offen, da die Aufgaben und Ziele des Wandervogels selbst steter Quell von Auseinandersetzungen innerhalb der Bewegung sind. Während Seidel in seinem Aufsatz die Bibliothek noch lediglich in Bücher über das Wandern und Bücher über Landeskunde aufgeteilt wissen will, fordert ein anderer Autor fünf Jahre später in derselben Zeitschrift: »Entsprechend der Erweiterung unserer Tätigkeit über die Fahrt hinaus auf unsere gesamte Lebensführung muß die Bücherei sich über alle uns fesselnden Gebiete erstrecken. Deshalb nimmt auch das Fahrtentechnische und Heimatkundliche nur ein Fach ein, während die übrigen Fächer Bücher über Kunst, Wissenschaft und Technik und selbstverständlich schöne Literatur enthalten.«406
Zwei Argumente sprechen demnach dafür, auch über »schöne Literatur« zu berichten: Erstens das einem großen Teil der Wandervögel unterstellte Interesse an literarischen Texte, und zweitens die Tatsache, dass die Jugendbewegung im Laufe der Zeit mehr und mehr dazu übergeht, nicht nur einen Erlebnisraum für (WVDB), 1911, H. 1, S. 6–9, hier S. 6. Vgl. auch Gerhard Weißer 1916: Ortsgruppenleben I, in: Wandervogel Monatsschrift, 1916, H. 11, S. 71–76, hier S. 71, der den Grundsatz aufstellt, dass eine Gruppenbücherei »erstens eine W.-V.–, zweitens eine Jugend-Bücherei« sein soll und aus dieser Bestimmung Richtlinien zur inhaltlichen Ausrichtung des Bestands entwickelt. Weißer weist auch dem »Bücherwart« der Gruppe die Rolle des »gate-keepers« zu, wenn er ebd., S. 72, über dessen gleichermaßen verantwortungsvolle wie anspruchsvolle Aufgabe schreibt: »Der muß aus den Besten der Gruppe gewählt werden, muß genau die geistigen Bedürfnisse der Wandervögel überhaupt und der einzelnen Altersstufen in unserem Bunde kennen und muß Schriften und Bücher genug kennen, die diese Bedürfnisse befriedigen; und vor allem: er muß imstande sein, den Wandervögeln die Bücher aufzudrängen und sie so zum Lesen dessen, was sie als Wandervögel fördert, erziehen.« 406 Fritz Popitz: Die Bücherei, in: Wandervogel Monatsschrift, 1916, H. 4, S. 67–69, hier S. 67f. Seine Ausführungen bleiben allerdings nicht unwidersprochen. Walter Fischer nutzt seine Position als Schriftleiter der Zeitschrift, um ebd., S. 69, seiner eigenen Ausdruck zu verleihen, dass die Beschäftigung mit Literatur nur in den eigenen Grenzen des Wandervogels stattfinden sollte und – unter Verweis auf den älteren Aufsatz Seidels – die Behauptung aufzustellen: »Vorherrschend besteht wohl die Ansicht, daß wir Bücher, die in fast allen Volks- und Schulbüchereien zu finden sind, nicht brauchen, sondern den Hauptwert auf eine reichhaltige Fachbücherei legen müssen, da die Schriften dieser Art in den unsern Wandervögeln sonst zugänglichen Sammlungen meist recht spärlich vertreten sind.«
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Literaturkritik in den Zeitschriften der Jugendbewegung
die Freizeitgestaltung anzubieten, sondern zur kulturellen Erneuerung der Gesellschaft beitragen will. Dies gilt mehr noch für die verschiedenen Älterenverbände der Jugendbewegung. Aber auch deren Zeitschriften sind bemüht, den literaturkritischen Teil nicht beliebig werden zu lassen. Lothar Heberer, von 1920 bis 1921 im »Zwiespruch« verantwortlich für das »Bücherbord«, schreibt: »Ohne Zweifel Bücher unserer Bewegung haben ein Vorrecht in die Spalten dieser ›Zwiespruch‹-Beilage. Aber wie ein Mensch ›Wandervogel‹ sein kann, ohne durch die Schule irgendeines Bundes gegangen zu sein, so finden [!] sich im Getümmel des Büchermarktes zuweilen das eine oder andere Buch, in welchem das Zeichen des goldenen Greif auf blauem Grund stehen könnte.«407
Alfred Kurella, der Jahrzehnte später als Vorsitzender der Kulturkommission beim SED-Politbüro und als Vizepräsident der Akademie der Künste eine wesentliche Rolle als Kulturpolitiker in der DDR spielen sollte, notiert in der »Freideutschen Jugend« zur zeitgenössischen Literatur : »Die zeitgenössische Dichtung ist für den Neuling ein Irrgarten […]. Es liegen in ihr aber Kräfte, die gerade der Jugendbewegung aufgeschlossen werden müssen. Denn wenn auch die Ausdrucksformen anfangs fremd anmuten, oft gar abstoßen, der Geist, aus dem sie geboren sind, ist unserer Bewegung nahe verwandt.«408
Einigkeit besteht unter den Herausgebern und Autoren der Zeitschriften demnach darin, dass alle in den Zeitschriften besprochene Literatur in irgendeinem Zusammenhang mit der Jugendbewegung stehen soll. Welcher Art diese Beziehung sein soll, wird freilich nicht letztgültig geklärt. Hiergegen spricht die propagierte Zweckfreiheit der Jugendbewegung, deren Resultat eine weitreichende Offenheit gegenüber unterschiedlichen Programmen, Zielen, Zwecken und Kulturobjekten ist, aber auch die Uneinigkeit und Unentschiedenheit über dergleichen Fragen unter den verantwortlichen Mitgliedern der Jugendbewegung. Während die Hinweise in den Wandervogel-Zeitschriften aber vor allem von einem funktionalen Interesse an solchen Büchern zeugen, die sich für den Wandervogelalltag nutzbar machen lassen, zeigt sich in den Zeitschriften für die älteren Mitglieder der Bewegung verstärkt der Wunsch nach einer Auseinandersetzung »mit solchen Büchern […] welche uns Freideutschen bleibende 407 Heberer : Arbeitsstube. Der Greif ist eines der verbreitetsten Symbole des Wandervogels. Ob sich Heberer hier auf einen bestimmten Bund oder eine überbündische Organisation bezieht, war nicht zu ermitteln. 408 Alfred Kurella: Zur Besprechung literarischer Kunstwerke, in: Freideutsche Jugend, 1918, H. 3, S. 123. Vgl. zu Kurellas Lebensweg und seiner jugendbewegten Prägung Rolf Koerber, Bettina Kurella: Alfred Kurella, in: Stambolis (Hg.): Jugendbewegt geprägt, S. 433–441. Als der Artikel erschien, hatte Kurellas Abwendung von der bürgerlichen Jugendbewegung bereits eingesetzt mit seiner Zuwendung zur Freien Sozialistischen Jugend und seinem Eintritt in die Kommunistische Partei 1918.
Kritikverbote – Kritikgebote
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Werte vermitteln«.409 Damit ist freilich lediglich eine Tendenz bezeichnet; Ausnahmen finden sich in beide Richtungen.
4.3
Kritikverbote – Kritikgebote
Wie gezeigt, besteht in den jugendbewegten Zeitschriften ein weitgehender Konsens darüber, dass negative Kritiken, sogenannte »Verrisse«, schon aus Gründen des knapp bemessenen Platzes nicht gedruckt werden sollten. Unter bestimmten Umständen gibt es von diesem Verbot Ausnahmen. Gleichzeitig findet sich aber auch eine aus verschiedenen Quellen gespeiste Skepsis gegenüber jeder Form der kritischen Auseinandersetzung mit Kunstwerken als einer »Praxis des Sezierens«410, in deren Folge Kritik versagt oder verweigert wird. Es handelt sich hierbei sowohl um Formen der »stummen Kritik«,411 deren Verfasser sich angesichts des Rezensionsobjektes für unfähig erklären, dem Gegenstand sprachlich und analytisch gerecht zu werden, als auch um Positionen, die eine kritische Auseinandersetzung mit literarischen Texten grundsätzlich für unangemessen erklären. Als Mitglieder der Freideutschen Jugend 1919 unter dem Titel »Flugblätter an die deutsche Jugend« im Verlag von Eugen Diederichs Auszüge aus Werken von Herder, Goethe, Ernst Moritz Arndt, Tolstoi und anderer Autoren publizieren, sieht sich der Rezensent in der »Wandervogel Monatsschrift« vor einige Probleme gestellt: »Es ist schwer, dies Werk der freien Studenten zu beurteilen; ein Einzelheft zu besprechen, wäre vermessen, denn die tiefsten Menschen aller Zeiten sprechen zu uns in kurzen, aber wundervoll in sich abgeschlossenen Bruchstücken größerer Werke. Nur von dem Geist, der in dem ganzen Beginnen als Gesamtheit waltet, kann ich sagen.«412
Dem Autor bereitet es kein Problem, eine Sammelrezension zu schreiben, hält er sich doch durchaus für befähigt, Gemeinsamkeiten zwischen den Texten zu benennen. Es ist vielmehr eine Ehrfurcht vor den »tiefsten Menschen aller Zeiten«, auf Grund derer er sich außerstande sieht, ein einzelnes der Hefte 409 Werner Schabert: Zum Ausbau dieses Abschnitts, in: Freideutsche Jugend, 1917, H. 1/2, S. 60. 410 Christoph Schmitt-Maaß: Gespräch oder Geschwätzigkeit? Salonkultur im WorldWideWeb – Internet-Literaturkritik als Form der (Selbst-)Verständigung. Mit einem Seitenblick auf Friedrich Schleiermachen und Friedrich Schlegel, in: Sylvie Grimm-Hamen, FranÅoise Willmann (Hg.): Die Kunst geht auch nach Brot! Wahrnehmung und Wertschätzung von Literatur, Berlin 2010, S. 89–105, hier S. 90. 411 Vgl. Roland Barthes 1964: Mythen des Alltags, Frankfurt a. M. 1964, S. 33. 412 Gerhard Friese: [Rezension zu:] Flugblätter an die deutsche Jugend, in: Wandervogel Monatsschrift, 1919, H. 5, S. 146.
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Literaturkritik in den Zeitschriften der Jugendbewegung
detailliert zu besprechen. Ganz ähnlich ergeht es einem Rezensenten von Hermann Hesses »Unterm Rad« und »Peter Camenzind«, der angesichts der Texte lediglich feststellt: »Eingehend von diesen Meisterwerken zu sprechen, kommt mir nicht zu […]«.413 Solche Reaktionen lassen sich nicht nur im Umgang mit bis heute kanonisierter Literatur beobachten. Auch ein Rezensent der gesammelten Aufsätze des Wandervogels Frank Fischer kann nur sein Unvermögen äußern, sich mit dem Band kritisch auseinanderzusetzen: »Ich will mich zu keiner Kritik aufschwingen, das kann nur einer, der geistig höher als Frank Fischer steht, und der dürfte im W.V. nicht so leicht zu finden sein. Ich kann nur loben, loben und wieder loben.«414
Es handelt sich dabei nicht einfach um ein rhetorisches Stilmittel. Sichtbar wird stattdessen eine Haltung der Demut gegenüber Literatur, die ihren Ursprung unter anderem im zeitgenössischen Deutschunterricht gehabt haben dürfte: »Unsere Schüler sollen und dürfen nicht zu Ästhetikern und Kritikern erzogen werden. Es ist im Gegenteil Pflicht der Schule […], jede kritische Regung, die der Litteratur gegenüber dem Schüler erwachsen will, zurückzuhalten. […] Da der Schüler nur in das Hervorragendste und das Beste der Litteratur eingeführt wird, darf darüber gar keine Frage mehr entstehen, daß das vorliegende Werk eben ein vorzügliches sei, […], man soll dem Schüler nicht erst beweisen, was ihm von vornherein als Axiom feststeht und keines Beweises mehr bedarf.«415
Über das Unvermögen, sich in kritischer Distanz mit dem literarischen Gegenstand auseinanderzusetzen, ließe sich unter Verweis auf das junge Alter der Rezensenten, den geringen Umfang literarischer Kenntnisse und die Tatsache, dass es sich schlicht nicht um professionelle Leser, sondern um Laien handelt, hinwegsehen, auch wenn heutige Leserinnen der jugendbewegten Literaturkritik ein Bedauern ankommen mag angesichts des fehlenden Mutes, der mangelnden Lust am gleichwie unbegründeten und waghalsigen Ausdruck der eigenen Meinung. Doch schlägt das Unvermögen mitunter um in einen Unwillen, in 413 Werner Firle: Etwas von Büchern, in: Jung-Wandervogel, 1910/11, H. 1, S. 12f., hier S. 13. 414 Rudolf Kneip: [Rezension zu:] Frank Fischer, Wandern und Schauen. Gesammelte Aufsätze, in: Zwiespruch, 1921, H. 7, Bücherbord 4, o. S. 415 Paul Klauke: Deutsche Aufsätze und Dispositionen, deren Stoff Lessing, Schiller und Goethe entnommen ist, Berlin 1881, S. 35; zitiert nach Kristina Popp: Goethe: Vorbild oder Denkbild? Goetherezeption im Deutschunterricht des späten 19. Jahrhunderts und im aktuellen Literaturunterricht, Frankfurt a. M. 2005, S. 118. Einsprüche gegen diese Form der Pädagogik finden sich bei Gustav Wyneken, der in der Kritikfeindlichkeit der Pädagogen vor allem eine Angst vor Autoritätsverlust erkennt. Sein eigenes pädagogisches Programm sieht nicht nur eine Förderung der Bewunderung für Kunst vor, sondern in gleichem Maße die Unterstützung kritischer Regungen der Schüler; vgl. Gustav Wyneken: Schule und Jugendkultur, Jena 1919, S. 156f.
Kritikverbote – Kritikgebote
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schroffe Ablehnung jeglicher Kritik, wie sie beispielhaft in einem Aufsatz über den Expressionismus in der »Freideutschen Jugend« zum Ausdruck kommt: »Es gibt immer noch Menschen, die die Kunst bekämpfen wollen – sie sagen, sie kritisieren. Sie stellen sich von Anfang an auf einen anderen Boden als der Künstler, sehen an dem Stofflichen und Gegenständlichen, Technischem herum und vergessen das Wesen des Menschen, der da schuf, indem er sich, sein Wesen hingab, schenkte. – Pfui über euch, die ihr auf Hingabe mit Kritik antwortet, die ihr Liebe mit Gerechtigkeit bezähmen wollt.«416
Hier steht nicht etwa die Bewunderung für einen als »Meisterwerk« klassifizierten Text einer eingehenden kritischen Auseinandersetzung mit dem Gegenstand entgegen. Der Autor des Artikels eröffnet eine grundsätzliche, strikte Dichotomie zwischen zwei verschiedenen Möglichkeiten im Umgang mit Literatur, deren eine als Kunstobjekten inadäquat begriffen wird. »Kritik« gilt dem Verfasser lediglich als Euphemismus für eine kunstfeindliche Haltung, die den Bedingungen der Kunst in keiner Weise entspreche. Es gehe in der Beschäftigung mit Kunst nicht um das artistische Vermögen des Künstlers, wie es sich einer kritischen Analyse des Werks erschließt, sondern einzig um den Charakter des Künstlers, zu dessen Erkenntnis es einer emphatischen, emotionalen Rezeption des Werks bedürfe.417 Die Unterscheidung findet sich überraschend konkret in einer Gegenüberstellung wieder, mit der Norbert Mecklenburg eine »traditionelle Einstellung« gegenüber Literatur von einer »kritischen Einstellung« unterscheidet. Während sich die kritische Einstellung durch Rationalität, Reflexivität, Dialogizität und ein Streben nach Erkenntnis auszeichne, weise die traditionelle Einstellung eine Tendenz zur Irrationalität auf, die in einer »passiven Hingabe an den Text« zum Ausdruck komme und durch den Wunsch nach Erlebnis, Einfühlung und Offenbarungen geprägt werde.418 Auch wenn die Bezeichnung als »traditionelle« Form des Umgangs mit Literatur ein wenig unglücklich gewählt ist, insofern es sich nicht um eine ältere, vormoderne und eine neuere, moderne Art handelt, literarische Texte zu rezipieren, sondern um zwei immer vorhandene Möglichkeiten der Kunstrezeption, weist Mecklenburgs Unterscheidung auf den im vorliegenden Fall wichtigen Zusammenhang zwischen einer emotionalisierten, distanzlosen Rezeption von Literatur und der generellen Ablehnung von Kritik als differenziertem Urteil über Inhalt und Technik eines literarischen Textes hin. 416 Max Tepp: Vom Ursinn der Ausdrucksformen. Etwas vom Expressionismus, in: Freideutsche Jugend, 1919, H. 7, S. 280–288, hier S. 280. 417 Autorschaftskonzepte der Jugendbewegung, wie sie hier und andernorts zum Ausdruck kommen, werden weiter unten im Kapitel über Autorschaft erörtert. 418 Norbert Mecklenburg: Kritisches Interpretieren. Untersuchungen zur Theorie der Literaturkritik, München 1972, S. 47.
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Literaturkritik in den Zeitschriften der Jugendbewegung
Mit immer wiederkehrenden Wendungen werden »Liebe«, »Erlebnis« und »Genuss« gegen ein »objektives« Verstehen literarischer Texte ausgespielt: »Über Geliebtes vermögen wir nicht ›objektiv‹ zu sprechen. Und ich liebe diese beiden Bücher von ganzem Herzen«;419 »Gedanklich mag ich überhaupt kein Kunstwerk verarbeiten, besonders wenn es ein modernes ist. Ein Kunstwerk genau so verstehen zu wollen, wie es der Künstler meinte, ist eine mühsame und meist verfehlte Rekonstruktionsaufgabe. Ich will aber mit Mathematik mir den Genuß irgendeiner Kunst nicht verpatzen«;420 »Man kann nicht Kunst ›kritisieren‹. Wer kritisiert, stellt sich auf einen Standpunkt außerhalb des Werkes, versucht durch Auflösung, Zergliederung und durch Vergleichen mit anderen Werken zu intellektuellen Feststellungen zu kommen«;421 »Durch Kritik an diesem Werke würde ich alles, was es mir gegeben hat, entheiligen. Ich habe es sozusagen ›erlebt‹. Ich möchte es euch nur empfehlen«.422 Die Ablehnung eines kritischen Umgangs mit Literatur steigert sich im bereits zuvor zitierten Aufsatz von Max Tepp über den »Ursinn der Ausdrucksformen« in einen Furor gegen die Aufklärung: »Ich kann natürlich keine Einführung in dieses oder jenes expressionistische Gedicht geben. Natürlich nicht! Es ist ja das Wesen der nicht-expressionistischen Zeit, daß sie von Lessing an alles erklären konnte; nichts war ihr heilig; sie legte ihre unreine Hand an alles, selbst an Bibel und Mystiker. Die Aufklärung ist ein Fluch, denn der Mensch, der sie beherrschen sollte, läßt sich heute von ihr beherrschen: Wissen ist Macht!«423
Die angeführten Beispiele zeugen von der Wirksamkeit jenes gesamtgesellschaftlich verbreiteten »antikritischen Schema[s]« in der Jugendbewegung, dass »sich aus den Momenten der Kritikfeindschaft, des Irrationalismus und hermeneutischen Passivismus, der Sakralisierung der Dichtung und der musealen Bildung zusammen[setzte]«424. Letzte Konsequenz dieser Vorstellung war 419 Helmut Tormin: [Rezension zu:] Gustav Landauer, Die Revolution; Ders., Aufruf zum Sozialismus, in: Freideutsche Jugend, 1919, H. 3, S. 136. 420 Franz Christ: Zu Rudolf Sievers Bild »Der Krieg«, in: Freideutsche Jugend, 1916, H. 8/9, S. 231f., hier S. 231. 421 Walter Hölscher : [Rezension zu:] Arnolt Bronnen, Vatermord, in: Junge Menschen, 1921, H. 17, S. 260. 422 F. Degenhardt: [Rezension zu:] [Heinrich] Lhotzky, Vom Erleben Gottes, in: Alt-Wandervogel, 1919, H. 8/9, o. S. 423 Tepp: Ursinn, S. 283. Vgl. zum Volksschullehrer Max Tepp (1891–1975), der sich gemeinsam mit anderen jugendbewegten Lehrern aus Gewissensgründen und unter Berufung auf ihr pädagogisches Selbstverständnis, welches keinem Staat, sondern einzig dem Menschen verpflichtet sei, weigerte, den Amtseid auf die Weimarer Verfassung abzulegen und daraufhin nach mehreren Prozessen aus dem Schuldienst entlassen wurde Peter Dudek: Der Freideutsche Max Tepp und sein verweigerter Amtseid im Namen »innerer Wahrhaftigkeit«, in: Zeitschrift für Sozialpädagogik, 2013, Jg. 11, H. 3, S. 229–248. 424 Mecklenburg: Interpretieren, S. 16.
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schließlich Goebbels Verbot der Kunstkritik zugunsten des »Kunstberichts«.425 Zur Disposition steht die Rolle des Kritikers als »Richter«, der souverän und unabhängig Urteile über literarische Texte spricht und nicht davor zurückscheut, einen Autor der schlechten Arbeit zu überführen. Wo in der Jugendbewegung Widerstand gegen diese Form der Literaturkritik auftritt, wird sie ersetzt durch reine Inhaltsangaben, stumme Bewunderung, pathetische Begeisterung oder die Aufforderung, Kritik durch »Mitarbeit« zu ersetzen. Letzteres ist insbesondere dann der Fall, wenn es sich um Publikationen von Mitgliedern einer jugendbewegten Organisation handelt, beispielsweise bei Friedrich Wilhelm Fulda und seiner 1913 veröffentlichten »Sonnenwende. Ein Büchlein vom Wandervogel und seiner Arbeit«. Die Diskussion des Buches in Wandervogelkreisen erregt Rudolf Sievers, Schriftleiter der »Wandervogel Monatsschrift« derart, dass er seine Meinung hierzu nicht im hinteren Teil, bei den übrigen Rezensionen, kundtut, sondern in einem quasi offiziellen Artikel im vorderen Teil der Zeitschrift: »Es ist keine rühmliche Kunst, Mängel und Unvollkommenheiten zu sehen und zu brandmarken; Wert hat solche Erkenntnis erst, wenn der Wille einsetzt, Wege zur Besserung zu finden und zu beschreiten. Sieht man sich um nach dem Wesen, das im Wandervogel zur Herrschaft kommen will, dann ist es gar nicht so ungeheuerlich, wenn man im ersten Schrecken auf den Gedanken kommt, daß der vielgenannte Wandervogelgeist lange schon begraben oder ausgezogen ist. Kritik heißt der neue Geist, der seine unfruchtbaren Glieder auf alles wälzt, was frisch und unbekümmert wachsen möchte. Kritik und Besserwissen. Wo bleibt das Bessermachen? Freilich ist es ein gutes Zeichen, wenn die Leute das, was ihnen geboten wird, nicht ohne Urteil einfach hinnehmen, sondern selbst versuchen, den Gründen zu seiner Berechtigung nachzugehen. Aber was jetzt im Wandervogel spukt, ist etwas anderes. Da hat zum Beispiel der Fulda ein Büchlein herausgegeben, die ›Sonnenwende‹. Gleich stürzt sich der Drache Kritik darauf, dreht es und zerfrißt es und stellt triumphierend fest, daß der Umschlag mißlungen, das Satzbild hier und da entstellt ist, der Druck an manchen Stellen versagt hat und der Inhalt – nun, dessen Wert Ansichtssache ist. Und wirklich erreicht er, daß dieser und jener es sich »nochmal überlegt«, ob er das Büchlein seinem Freunde schenken soll. Wer aber ernsthaft urteilt und nach Mängeln forscht, um sie abzustellen, der setzt sich 425 Vgl. hierzu ebd., S. 15–17, sowie Sigrid Löffler : Die versalzene Suppe und deren Köche, in: Wendelin Schmidt-Dengler, Nicole Katja Streitler (Hg.): Literaturkritik. Theorie und Praxis, Innsbruck 1999, S. 27–39, hier S. 31–34. Vgl. zum nationalsozialistischen Kritikverbot außerdem die Dokumentation bei Joseph Wulf: Die bildenden Künste im Dritten Reich. Eine Dokumentation, Frankfurt a. M. 1989, S. 127–129. Diese Tendenzen in der Literaturkritik reihen sich ein in ein umfassenderes Misstrauen in rationale Methoden der Erkenntnis und einen verbreiteten Antiintellektualismus; vgl. hierzu den knappen Überblick bei Schmitz-Berning: Vokabular, S. 315f.
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Literaturkritik in den Zeitschriften der Jugendbewegung
hin und schreibt an den Herausgeber : ›Hör mal, das und das in deinem Buche gefällt mir nicht. Willst du nicht bei der nächsten Auflage dies und das ändern, da weglassen und hier noch ergänzen und statt des Textes Seite so und soviel vielleicht das einfügen, was ich hier mitschicke?[‹] So oder ähnlich wird er an der Verbesserung mitarbeiten, wird sich aber durch Mängel, die er entdeckt hat, die Freude an dem Buche nicht verderben […].«426
Es zeugt von Fairness und Redlichkeit, dass Sievers einklagt, gegenüber einem anderen Wandervogel zunächst einmal den persönlichen Kontakt zu suchen und ihn wohlwollend auf Mängel des Buches hinzuweisen. Doch gleichzeitig wird die Ablehnung von Kritik auch hier über den in Frage stehenden Fall hinaus verallgemeinert, indem sie grundsätzlich als unproduktiv gebrandmarkt wird. Die von Sievers aufgerufenen Wortfelder des Frischen, Unbekümmerten und Wachsenden sind in der zeitgenössischen Semantik, besonders im Umfeld der Jugendbewegung, eng verbunden mit der Vorstellung von Jugend und Jugendlichkeit, womit »Kritik« im Umkehrschluss als »unjugendlich« markiert wird. Trotz derartiger Versuche, Schriftsteller aus den eigenen Reihen vor berechtigten oder unberechtigten Angriffen zu schützen, klagt ein Wandervogel: »Wir sind bisher überkritisch gewesen und haben die Dichter in unseren Reihen verdammt, ein- und verschüchtert. Sie durften es gar nicht wagen, vor uns hinzutreten«.427 Mit so viel Protektionismus sind dann aber doch nicht alle einverstanden. In der Antwort Hallenser Wandervögel heißt es: »Sehr wohl, die bisherige poetische Wandervogelliteratur war Spielerei, um nicht zu sagen Kitsch. Woran liegt das? An der bitterbösen Kritik? O nein, das liegt, für alle hoffenden Dichter sei’s gesagt, das liegt an der gänzlichen Unfähigkeit des betreffenden Individuums. Ein großer Dichter, ein starkes Talent setzt sich immer durch, aller Kritik
426 Rudolf Sievers: Vom Bundestag und anderen Dingen, in: Wandervogel Monatsschrift, 1913, H. 7, S. 213–217, hier S. 214f. Aber auch in Rezensionen von Büchern, die außerhalb jugendbewegter Kreise entstanden sind, finden sich mitunter Ratschläge und Hinweise zur Verbesserung etwaiger Neuauflagen. Jörg Köppler: [Rezension zu:] Sophie Reinheimer, Von Sonne, Regen, Schnee und Wind – Bunte Blumen – Aus des Tannenwaldes Kinderstube, in: Führerzeitung, 1917, H. 2/3, S. 40, empfiehlt die besprochenen Bücher zwar zum Vorlesen für die jüngsten Wandervögel, schränkt sein Lob jedoch ein, indem er sich als »Sprachreiniger« zu erkennen gibt und dementsprechend fordert: »Nur müßten auch die paar Fremdwörter noch heraus. Wenn ich sie so nebeneinandersetze, sehen sie ganz abscheulich aus. (Toilette, adieu, direkt, egal.) Man fragt sich wohl, wie die in so artige Gesellschaft schlichter deutscher Wörter hineingeraten sind. Wir hoffen auf eine baldige Neuauflage der schönen Bücher, in denen dann hoffentlich aller Unrat entfernt ist. (Auch die ›Mama‹ hat in einem deutschen Haus noch nicht einmal ihr Altenteil.)« 427 Lud. Wutschke: Unser eigenes Lied (Einige Gedanken), in: Wandervogel Monatsschrift, 1917, H. 1, S. 2f. Persönliche Kränkung scheint bei dieser Einschätzung allerdings ein wichtiges Motiv gewesen zu sein, insofern er ebd., S. 3, zur Bekräftigung seiner Meinung die negativen Urteile über einen von ihm geschriebenen Tanz anführt.
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zum Trotz. Der braucht keinen Mäzen in Gestalt der Bundeszeitung, wo die ersten verunglückten Kinder seines Geistes liebevoll schützend aufgenommen werden.«428
Grundsätzlicher Widerspruch gegen die dogmatische Abwehr jeglicher Kritik wird nur selten laut. In einer 1916 in der »Freideutschen Jugend« veröffentlichten Auseinandersetzung mit der völkischen Richtung der Jugendbewegung polemisiert Max Hodann429 auch gegen die dort verbreitete Kritikfeindschaft und den einhergehenden Antiintellektualismus,430 indem er deren Argumente wütend zusammenfasst: »Aber was sage ich ›Kritisierung‹. ›Kritik‹ ist ja zerstörend, zerstörend ist gleich ›jüdisch‹ (meist wird der umgekehrte Schluß zitiert), jüdisch ist ›undeutsch‹, und ›deutsch‹ sind ›wir‹. Wie darf man da noch nach Kritik verlangen?«431
Hodann hat Recht, wenn er die antisemitischen Tendenzen in den Auffassungen der Kritikfeinde betont, obgleich die Verbindung nicht immer derart offensichtlich ist. Häufig ist es nur die Verwendung von Schlagworten wie dem der »Zersetzung« oder dem der »Zerstörung«, die Zugänge zum Diskurs des Antisemitismus öffnen, ohne dass tatsächlich judenfeindliche Äußerungen getätigt würden. Hodanns bittere Feststellung, dass »[d]iese ganze Jugend unkritisch [ist], zum Teil bewußt und willentlich«,432 es sich bei ihr um Menschen handele, die »gegen eine exakte Kritik im Namen ihrer ›Gefühle‹ Verwahrung einlegen«,433 ist zwar in ihrer Generalisierung angreifbar. Grundsätzlich unbestreitbar ist jedoch, dass weite Teile der Jugendbewegung, und dabei nicht ausschließlich ihr politisch rechts stehender Flügel,434 einem von Emotionen ge428 Ortgruppe Halle 4: »Unser eigenes Lied«, in: Wandervogel Monatsschrift, 1917, H. 3/4, S. 76f., hier S. 76. 429 Hodann (1894–1946), der sich später als Sexualpädagoge und -wissenschaftler, unter anderem als Mitarbeiter an Magnus Hirschfelds Institut für Sexualwissenschaft, einen Namen machen sollte, allerdings mit seinen eugenischen und »rassenhygienischen« Schriften auch fatale Anschlüsse an den Zeitgeist fand, stand beim Druck des Artikel bereits in einiger Distanz zu den in dieser Arbeit behandelten Gruppierungen der Jugendbewegung. Um 1910 zum Wandervogel gekommen, bewegte er sich während seines Studiums in Berlin im Kreis um den von Ernst Jo[l herausgegebenen »Aufbruch«, eine Gruppe freideutscher Studenten, die sich früh sozialistischen Ideen öffnete und Kontakte zur Arbeiterjugendbewegung herstellen wollte. Vgl. zu Hodann vor allem Wilfried Wolff: Max Hodann (1894–1946). Sozialist und Sexualreformer, Hamburg 1993, besonders S. 20–29; vgl. zum »Aufbruch« auch Preuß: Söhne, S. 108–110. 430 Vgl. zum Antiintellektualismus in der Jugendbewegung auch Niemeyer : Jugendbewegung, S. 135–143. 431 Max Hodann: Jugend und »Intellektualismus«. Eine Auseinandersetzung mit dem Greifenbund, in: Freideutsche Jugend, 1916, H. 3/4, S. 85–91, hier S. 86. 432 Ebd., S. 89. 433 Ebd., S. 91. 434 Auch in der »Wandervogel-Führerzeitung« wird mitunter ein Ungenügen an den literaturkritischen Texten zum Ausdruck gebracht, so von Martin Otto Johannes: Wandervogel
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Literaturkritik in den Zeitschriften der Jugendbewegung
leiteten Schreiben über Literatur den Vorzug geben vor einer kritisch-distanzierten Literaturkritik. Ausnahmen vom Kritikverbot sind nun nicht von den dogmatischen Kritikverächtern zu erwarten, sondern von denjenigen, die die Ablehnung von Verrissen pragmatisch mit dem begrenzten Platz der Zeitschriften begründen. Dem Grundsatz folgend, dass in den Zeitschriften der Jugendbewegung vor allem die Besprechung von Büchern ermöglicht werden soll, die in einem Zusammenhang mit der Jugendbewegung stehen, werden auch Negativkritiken vorrangig dann gedruckt, wenn es sich um Publikationen mit einem unmittelbaren Bezug zum Wandervogel oder einer verwandten Gruppierung handelt. Dies ist der Fall bei einem »Wandervögel-Liederbuch«, welches den anonymen Rezensenten derart empört, dass er von der üblichen Praxis abweicht: »Wandervogelliederbücher scheinen jetzt gangbare Artikel zu sein, deshalb hat auch Carl Rühles Musik-Verlag es für nötig befunden, eins zu machen. Sonst pflegen wir nur gute Bücher hier zu besprechen. Wenn aber etwas ausdrücklich den Wandervögeln gewidmet wird, müssen wir uns leider auch mit dem ärgsten Schund befassen. Rühles Verlag hat den Wandervogelnamen sicherlich nicht ohne Absicht aufs Titelblatt gesetzt und unseren Ortsgruppen den Bezug partienweise empfohlen, wir sind also genötigt, dazu Stellung zu nehmen.«435
Der Rezensent wirft dem Verlag vor, sein Liederbuch lediglich aus kommerziellen Erwägungen mit dem Namen des Wandervogels versehen zu haben. Mit den Ideen des Wandervogels habe die Sammlung jedoch ebenso wenig etwas zu tun wie mit den Vorstellungen der Jugendbewegung vom Volkslied. Dies gilt erstens für die Inhalte der Lieder, die dem Rezensenten allzu oft vom Konsum alkoholischer Getränke und – mit pikanten Andeutungen versehen – von Begegnungen mit weiblichen Jugendlichen handeln. Zweitens wird aber auch und Schrifttum. Streiflichter, in: Führerzeitung, 1920, H. 3/4, S. 40–42, hier S. 41, der in den »Wandervogel-Kritiken meist nur […] rhapsodische Ausrufungen, Bewunderungsseufzer, Hymnen und dergleichen« zu entdecken vermag. 435 Anonym: [Rezension zu:] Wandervögel-Liederbuch für ein oder zwei Singstimmen, in: Wandervogel Monatsschrift, 1912, H. 6, S. 189f. Für einen gleichgearteten Fall vgl. auch Anonym: [Rezension zu:] Wanderlied der Wandervögel, gedichtet von Dr. Oppenheimer, allen Wandervögeln gewidmet von Adolph Meyer, in: Wandervogel Monatsschrift, 1912, H. 3, S. 94: »Diese Hymne ist besonders dadurch ganz berückend gestaltet, daß die Worte grün, rot gold hineinverarbeitet sind. Für die Umschlagzeichnung sind außer einigen Fudern Eichenlaub Pfeiffers fünf Wandervögel im Karnevalskostüm von Olympräubern verwendet. Das Ganze ist bei weitem das Entsetzlichste, was uns bisher an Wandervogelwidmungen zugemutet worden ist. Helfen denn die allergröbsten Verwahrungen nichts, daß wir ständig zum Zielpunkt solcher Geschmacklosigkeiten dienen müssen? Können wir es nur als Taktlosigkeit bezeichnen, vor Druck der Widmung nicht anzufragen, ob wir damit einverstanden sind, müssen wir es uns gefallen lassen, in allen Schaufenstern mit diesem Dinge vor der Öffentlichkeit verhöhnt zu werden, so wollen wir wenigstens die unsern hiermit vor dem Kauf behüten«.
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kritisiert, dass es sich vielfach nicht um überlieferte Volkslieder handelt, sondern um qualitativ minderwertige Kontrafakturen. Ausführliche Zitate sollen den Nachweis der »Geschmacklosigkeit« des Liederbuches führen und die Texte dem Spott der Leser preisgeben.436 Zum Abschluss seines vernichtenden Urteils will der Rezensent dann auch die Bücher selbst der physischen Vernichtung anheimgeben: »Wenn sich irgend wohin ein solches Wandervogel-Liederbuch verirrt haben sollte, etwa als Einladung zum Partiebezug, dann nehmt’s mit zur Sonnenwendfeier … Flamme empor!«437 Die Ausnahme vom Kritikverbot wird in diesem Fall dadurch gerechtfertigt, dass die üblichen Mechanismen des »gate-keeping« nicht zu greifen drohen. In Anbetracht eines massiv bei Wandervögeln um Abnehmer werbenden Verlags sieht sich die Zeitschrift genötigt, ebenfalls in die Offensive zu gehen und mit Hilfe des Verrisses vor dem Buch zu warnen.438 Für Empörung sorgt auch der Roman »Lebenssucher« von Lily Braun.439 Es könnte eigentlich eine Geschichte ganz nach dem Geschmack des Wandervogels sein. Ein junger Mensch, Konrad Hochseß, Sprössling deutschen und italienischen Adels, lebt im Gefühl seiner Andersartigkeit gegenüber der breiten Masse. Unzufrieden mit der Gegenwart, sucht er verzweifelt nach dem »Leben« und Idealen, denen nachzustreben sich lohnen würde. Er begegnet Sozialisten und Anarchisten, Frauenrechtlerinnen und Tänzerinnen, Künstlern und BohHmiens, dem heroinsüchtigen Propheten einer neuen Religion und sucht sein Glück in zahlreichen Liebesaffären, bis er es endlich im Krieg und der gefühlten Volksgemeinschaft findet. Während der Zeit seiner Suche begegnet Konrad auch einigen Wandervögeln beiderlei Geschlechts und unternimmt mit ihnen eine eintägige Wanderung. Diesen Abschnitt will der Rezensent Hanns Heeren nicht unwidersprochen lassen: »Über die Dichtung als solche soll hier kein Urteil abgegeben werden. Aber in dem Buch ist durch zehn Seiten […] von den Wandervögeln und ihrem Wesen die Rede. Hier wird eine Fahrt beider Geschlechter zum Johannisfeuer erzählt und die Vorgänge am Feuer selbst beschrieben. […] Vor einigen Jährlein hat man uns zu Bremen in einem ›wunderschönen Lustspiel‹ auf 436 Anonym: Wandervögel-Liederbuch, S. 190. 437 Ebd. 438 Als »Warnungen« werden Rezensionen von ihren Verfassern des Öfteren bezeichnet. Vgl. zum Beispiel M.[arie] B.[uchhold]: [Rezension zu:] Annemarie von Nathusius, Eros. Roman, in: Freideutsche Jugend, 1921, H. 1, S. 37f., hier S. 37 und Otto Riedel: [Rezension zu:] [Walter Hammer], Nietzsche als Erzieher, in: Führerzeitung, 1914, H. 3, S. 66f., hier S. 66. 439 Über das Leben und das literarische und politische Werk der gemäßigten Sozialistin, Frauenrechtlerin und Schriftstellerin Lily Braun (1865–1916) informiert Ute Lischke: Lily Braun: 1865–1916. German Writer, Feminist, Socialist, Rochester u. a. 2000; vgl. zum Roman »Lebenssucher« v. a. S. 111–115.
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Literaturkritik in den Zeitschriften der Jugendbewegung
die Bühne gebracht, dann versuchten ehrgeizige Reformer, uns in ihren Karren zu spannen, und jetzt, wo alles glücklich überwunden ist, erscheint der Roman von Lily Braun. Derartige Zerrbilder können wir uns nicht entschieden genug verbitten. Was wir sind, sagt unser Name: Wandervögel. Wer uns nicht kennt, soll seine Finger davon lassen, über uns zu schreiben.«440
Der Abschnitt des Romans könnte dabei durchaus für ein wirklichkeitsnahes Bild des Wandervogels gelten. Die Mädchen und Jungen singen volkstümliche Lieder, unterbrechen ihr Singen für Diskussionen »über Ziel und Inhalt der Jugendbewegung«,441 halten Feuerreden und verbrennen symbolisch »Schulmeister«, »Philister«, »Protzen«, die »Vaterlandslosen«, »Ausbeuter«, »Dirnen« und »Intellektuelle«.442 Schließlich, nachdem der ideologische Teil des Abends beendet ist, springen sie gemeinsam über die Flammen und Konrad entlockt einem Wandervogelmädchen flirtend das Geständnis, dass sie von der in der Jugendbewegung verbreiteten Idee der Kameradschaft zwischen den Geschlechtern nur wenig hält: »Liebhaben sollen wir uns, ohne Getue – liebhaben, ohne daß die Mädchen kokett und die Jungens gemein werden«.443 Heerens Artikel wird gemeinsam mit den Verrissen zweier Liederbücher unter der Überschrift »Irreführung der Öffentlichkeit« publiziert und erhält eine offizielle Note, indem er »[i]m Namen der Wandervogelbünde: Wandervogel E.V., Alt-Wandervogel und Jungwandervogel« unterzeichnet wird. Die Andeutung körperlicher Annäherung zwischen den Wandervögeln im Roman übergeht der Kritiker stillschweigend. Es genügt ihm schon der Eindruck, es handele sich bei ihnen um einen Haufen streitlustiger junger Menschen. Mit Nachdruck bestreitet er Lily Braun das Recht, über die Jugendbewegung zu schreiben: »Kurz gesagt: Wir haben hier eine Schriftstellerin vor uns, die irgendwie und irgendwo einmal einen flüchtigen Einblick in unseren Betrieb getan hat. Flüchtig, denn wir alle werden für die meisten der angeführten Ziele und Probleme heute nur ein Lächeln haben. Aber sie sind nur allzu geeignet, den Fernstehenden ein falsches Bild zu zeichnen und viel, viel Vorurteil zu schaffen. Und darum:
440 H.[anns] Heeren: [Rezension zu:] Lily Braun, Lebenssucher, in: Freideutsche Jugend, 1916, H. 3/4, S. 105. 441 Lily Braun: Lebenssucher, München 1915, S. 121: »Für die Freiheit der Persönlichkeit, für gemeinsame Erziehung der Geschlechter, für freie Schule, für Bodenreform und Abstinenz waren die Fünfzehn- und Sechzehnjährigen gegeneinander eifernd eingetreten […]. Dann aber wurde der Sturm zum Orkan: gegen die Lehrer, gegen die Eltern, gegen Juden und Sozialdemokraten, gegen Schule und Religion tobten sie und überschrien einander […].« 442 Ebd., S. 122. 443 Ebd., S. 127; vgl. zur Kameradschaftsideologie in der Jugendbewegung Sabine Andresen: Mädchen und Frauen in der bürgerlichen Jugendbewegung. Soziale Konstruktion von Mädchenjugend, Neuwied u. a. 1997, S. 231–248.
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Wir legen Verwahrung ein, daß jemand, der uns nicht wirklich kennt, über uns urteilt und sein daher falsches Urteil unter die dankbaren Leser bringt.«444
Grundsätzlich offener für Negativkritiken zeigen sich die »Jungen Menschen«, die auf eine nähere Begründung von Verrissen verzichten. Dies ist zum einem dem Umstand geschuldet, dass das Interesse von Hammer und seinen Mitarbeitern weit über den engeren Kreis der Jugendbewegung hinausreicht und sich das Feld potentieller Rezensionsobjekte dadurch ungemein ausdehnt. Zum anderen verschreiben sie sich dezidiert dem »Kampf« gegen »Kitsch«445 und sehen ihre Aufgabe also nicht zuletzt in einer Schulung des Geschmacks ihrer Leser, wofür sie die Auseinandersetzung mit einer als minderwertig ausgezeichneten Literatur als probates Mittel einschätzen. Es ist hier auch weniger die Rezension, die zum Einsatz kommt, um Bücher zu verreißen, als vielmehr die Parodie und die Satire. Deutlich wird die Vorgehensweise der Zeitschrift in der Auseinandersetzung mit der in der Jugendbewegung vielgelesenen Schriftstellerin Getrud Prellwitz,446 deren Bekanntheit sich vor allem ihrer »Drude«-Trilogie verdankt. In den drei Bänden fiktionalisiert sie das Leben der jung verstorbenen Tochter von Fidus, dem gleichfalls in der Jugendbewegung begeistert rezipierten Maler Hugo Höppener, insbesondere deren Erlebnisse in einem Landschulheim, für das die Odenwaldschule Pate stand. Nachdem bereits in der Ausgabe 5 (1922) eine polemische Rezension zu Prellwitz’ Roman »Ruth« erschienen war, deren Verfasser nicht nur über Stil, Erzählung und Verfasserin spottete, sondern auch gleich den Geschmack weiter Teile der Jugendbewegung in Frage zog,447 widmen sich in der Ausgabe 9/10 (1922) gleich drei Artikel Gertrud Prellwitz. Es handelt sich hierbei um einen Artikel des Schriftstellers und Satirikers Hans Reimann,448 von dem gelegentlich Beiträge in den »Jungen Menschen« publiziert werden, und einen weiteren satirischen Artikel, der in Form eines Leserbriefes auf den Verriss von »Ruth« antwortet.449 Beide Artikel rahmen einen mit »Aphorismen aus ›Drude‹« überschriebenen Text – beginnend und endend mit dem bezeichnenden Zitat: »Ach, 444 Heeren: Lily Braun, Lebenssucher, S. 105. 445 Vgl. Anonym: [Editorial], in: Junge Menschen, 1920, H. 1, o. S. Vgl. hierzu außerdem S. 160f. dieser Arbeit. 446 Vgl. zu Getrud Prellwitz auch Peter Morris-Keitel: Der Schein der schönen Jugend. Zu Gertrud Prellwitz’ erzählerischem Werk, in: Marc Cluet (Hg.) Le Culte de la jeunesse et de l’enfance en Allemagne 1870–1933, Rennes 2003, S. 129–146. 447 Hans Schumann: [Rezension zu:] Gertrud Prellwitz, Ruth, in: Junge Menschen, 1922, H. 5, S. 76. Schumann konstatiert wohlwollend die breite Ablehnung der Bücher von Hedwig Courths-Maler, macht sich jedoch über die gleichzeitige Begeisterung für Gertrud Prellwitz lustig, deren Werke er der gleichen Tendenz zum Kitsch zeiht. 448 Hans Reimann: Optimosa, in: Junge Menschen, 1922, H. 9/10, S. 135f. 449 Käthe Vordtriede: Edelsteine aus dem tiefen Schacht Prellwitz’scher Weisheit heraufgeholt und ins richtige Licht gebracht, in: Junge Menschen, 1922, H. 9/10, S. 136f.
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Literaturkritik in den Zeitschriften der Jugendbewegung
wie schön! Wie schön!« –, der den Lesern der Zeitschrift den Stil als Kitsch und den Inhalt als unsinnig vorführen soll.450 Die Texte verfolgen mehrere Ziele. Erstens geht es den Autoren darum, den Inhalt der Bücher der Lächerlichkeit Preis zu geben. Zweitens soll Getrud Prellwitz selbst desavouiert werden, indem sie mit Hedwig Courths-Maler verglichen und in Anlehnung an ihre eigene Selbststilisierung als »Tante Gertrud« in den »Drude«-Romanen wiederholt als »Oma Getrud Prellwitz« verspottet wird. Und schließlich geht es darum, mittels eines intensiven Gebrauchs von Zitaten und von Parodien auf den Stil von Prellwitz Sprachkritik zu betreiben. Diese Form der Sprachkritik durch das entlarvende Zitat gehört zum Standardrepertoire des Herausgebers der »Jungen Menschen«, Walter Hammer, die er auch in seinen Glossen an den Heftenden der Zeitschrift immer wieder anwendet. Ein Fall in der »Wandervogel Monatsschrift« macht sichtbar, dass auch presserechtliche Probleme bei der Veröffentlichung von Negativkritiken zu bedenken waren. Es beginnt mit der Rezension einer Sammlung von Volksliedern mit Gitarrenbegleitung, bei der es erneut der Bezug auf den Wandervogel ist, der den Rezensenten Friedrich Wilhelm Rittinghaus besonders empört, obgleich er auch sonst kein gutes Haar am Buch lässt. Nicht nur die Lieder selbst verfallen der Kritik: »Ich brauche bloß noch auf den saumäßigen Druck, die geschmacklose Umschlagzeichnung und die Schrumschrum-Instrumentierung hinzuweisen und könnte das Machwerk in den Ofen stecken. Für mich als Volksliedfreund und als Wandervogel ist es tot. Aber es hat sich Krücken geborgt, mit denen es in einen einträglichen Buchhandel hineinzuhopfen versucht, hat sie geborgt, ungefragt, von wem? vom Wandervogel! ›Den deutschen Wandervögeln gewidmet‹ läßt der Zusammensteller drauf drucken. […] Doch verschone man fernerhin uns Wandervögel, Gevatter zu stehn bei solchem – Schund.«451 450 Vgl. Aphorismen aus »Drude«, in: Junge Menschen, 1922, H. 9/10, S 136. 451 Friedrich Wilhelm Rittinghaus: [Rezension zu:] R.[einhold] Vorpahl, Das deutsche Volkslied zur Guitarre, 1. Sammlung, in: Wandervogel Monatsschrift, 1912, H. 2, S. 60. Friedrich Wilhelm Rittinghaus (1891–1915) studierte Neuere Sprachen, Volkskunde und Geschichte in Leipzig. Nach einer Dissertation über Heinrich von Treitschke ging er 1913 als Austauschlehrer in die USA. Seit 1914 war er als Dozent an der Universität von Texas in Austin tätig. Seine Versuche, nach Kriegsausbruch zurück nach Deutschland zu reisen um als Freiwilliger am Krieg teilzunehmen, scheiterten. Dies stürzte ihn in eine derart tiefe Depression, dass er sich im Januar 1915 erschoss. Vgl. hierzu und vor allem zu Rittinghaus’ volkskundlichen Arbeiten zwischen Jugendbewegung und Wissenschaft Christina Niem: »Wir haben das Volkslied zum Träger unserer Stimmungen gemacht«. Wissenschaftliche Neuromantik im Umkreis des Verlegers Eugen Diederichs, in: Michael Simon, Wolfgang Seidenspinner, Christina Niem (Hg.): Episteme der Romantik. Volkskundliche Erkundungen, Münster 2014, S. 151–175.
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Trotz aller Injurien ist, was da folgt, durchaus überraschend. Das erste Heft des folgenden Jahres beginnt mit einer von »Schriftleitung und Verfasser« unterzeichneten Bekanntmachung, abgedruckt auf der Rückseite des Titelblatts: »In unserer Zeitschrift ›Wandervogel‹ […] befindet sich eine von Rittinghaus verfaßte Kritik des Buches von R. Vorpahl: ›Das deutsche Volkslied zur Gitarre‹. Wir sprechen über Ton und Form dieser Kritik unser Bedauern aus und nehmen hierdurch die in dieser Kritik in bezug auf Druck, Instrumentation und Inhalt der Lieder gebrauchten verletzenden Äußerungen zurück.«452
Den Lesern dieser Zeitschrift bleiben die Gründe verborgen, die zur Rücknahme des Verrisses geführt haben. Allerdings werden sie in der »Führerzeitung« von Erich Matthes erläutert, der bei den Ausgaben 10 (1912) bis 2 (1913) für den Anzeigenteil der »Monatsschrift« zuständig war und insofern über Informationen aus erster Hand verfügte: »Die meisten haben wohl auf der zweiten Seite der Januar-Bundeszeitschrift die Erklärung der Schriftleitung gelesen, daß alles reumütig zurückgenommen wird, was Rittinghuser gegen das Vorpahlsche Büchel geschrieben hat. Mancher Wandervogel ist darüber erbost gewesen, manche fühlten sich veranlaßt der Schriftleitung Rückgratlosigkeit vorzuwerfen. Ich halte es deshalb für angebracht einige aufklärende Zeilen zu schreiben: Juristisch lag der Fall so: Das Gericht erblickte in den Ausführungen Rittinghusers Beleidigungen. Es gab nur eine Möglichkeit der Verurteilung zu entgehen, nämlich, daß die Angriffe gegen Vorpahl zur ›Wahrung berechtigter Interessen‹ gerichtet waren. Dies wurde aber vom Gericht verneint, weil der Verband nicht eingetragener Verein und die Schriftleitung nicht zur Wahrung unserer Interessen verpflichtet war, sondern es auf eigene Faust getan hatte, also keine gesetzliche Verpflichtung hatte, gegen all den Schund aufzutreten, den man uns zumutet. Um einer Verurteilung zu entgehen (auch sogenannte Ehrenstrafen sind kein schmückendes Anhängsel) wurde ein Vergleich angestrebt. Ergebnis: Zurücknahme in der Zeitung und einen Teil der Gerichts- und Anwaltskosten.«453
Aus dem weitgehenden Verzicht auf Negativkritiken ergibt sich für die Untersuchung des Literaturkonzepts eine markante Leerstelle in den Zeitschriften der Jugendbewegung, da die Gründe für die ausbleibende Berücksichtigung bestimmter Texte oder Textgruppen höchstens mittelbar zu erschließen sind. Die Leerstelle könnte durchaus auch solche Texte beinhalten, die zwar zur privaten Lektüre gehört haben, deren Darstellung in den Zeitschriften allerdings in Form 452 Schriftleitung: [Bekanntmachung], in: Wandervogel Monatsschrift, 1913, H. 1, o. S. 453 Erich Matthes: Wandervogel und Tragik, in: Führerzeitung, 1912/13, H. 6, S. 116. Matthes konnte sich nicht enthalten, auch noch eine kleine Spitze gegen die Urteilskompetenz des Richters einzufügen: »Ferner ist der Druck des Büchleins vom Richter, der doch kein Fachmann ist, als vornehm und klar bezeichnet worden. Wer das Buch kennt wird sich vielleicht darüber wundern.«
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Literaturkritik in den Zeitschriften der Jugendbewegung
einer Selbstzensur aus Rücksichtnahme auf Eltern, Lehrer und Behörden unterbleibt. Hans Blüher gibt in seinen Erinnerungen ein Beispiel, das in dieser Hinsicht zu denken gibt: »Robert Lück [der Direktor des Steglitzer Gymnasiums, M.L.] aber war ein pädagogischer Exponent der damals sinkenden Kirche. Dieser sonst so besonnene Greis geriet ins Predigen und Schimpfen, wenn er auf den Namen Nietzsche stieß – den er nie gelesen hatte. […] Als würdige Lektüre aber außerhalb der Schule und zur Förderung der sittlichen Reife, wie es hieß, empfahl er ›Dichtung und Wahrheit‹. Diese Strafversetzung jugendlicher Gemüter in Goethesche Altersprosa hatte natürlich den entgegengesetzten Erfolg: man kaufte sich von seinem Taschengelde ›Also sprach Zarathustra‹ – und der Abfall war geschehen. Mir jedenfalls erging es so.«454
Ob Blühers Verhalten und seine Nietzsche-Lektüre in irgendeiner Weise repräsentativ für die Jugendbewegung sind, steht hier nicht zur Disposition. Es zeigt lediglich, dass es gute Gründe geben konnte, die Auseinandersetzung mit bestimmten Texten, Autoren und Themen nicht in der Öffentlichkeit der Zeitschrift zu führen, sondern auf die Diskussion im privaten Kreis zu beschränken. Sicherlich, »[a]uch die Fehlanzeige« der Rezeption bestimmter Textgruppen kann »eine Aussage über die Ideologeme einer Bewegung« sein455 – nur fragt sich im Einzelfall, welche Aussage dies tatsächlich ist, wenn explizite Äußerungen der betreffenden Personen fehlen. Warum einzelne Texte nicht in den Zeitschriften auftauchen, ist, wenn überhaupt, nur schwer zu entscheiden. Selbstzensur kann dabei ebenso eine Rolle spielen wie Desinteresse, Ablehnung oder fehlende Kenntnis. Für die Rekonstruktion des Literaturkonzepts bedeutet das, dass sie sich vor allem an den positiven Äußerungen orientieren muss, an literarischen Vorlieben und zustimmenden Wertungen.
454 Hans Blüher : Werke und Tage. Geschichte eines Denkers, München 1953, S. 18. 455 Mogge: Wandervögel, S. 91.
5.
Die Wirkung von Literatur
Theorien über die Wirkung von Literatur gehören seit den Anfängen philosophischen Nachdenkens über die Künste in der Antike zu den Grundproblemen der Ästhetik. In der modernen Literaturwissenschaft gewann die Frage nach der Wirkung von Literatur allerdings erst seit den 1960er Jahren mit der Entwicklung der Rezeptionsforschung zunehmend an Bedeutung. Innerhalb der rezeptionswissenschaftlichen Wirkungsforschung ist grundsätzlich zwischen der Rezeption und der Wirkung literarischer Texte zu unterscheiden: »Unter ›Rezeption‹ sind auf höchstem Abstraktionsniveau zunächst einmal all diejenigen psychischen Prozesse zu verstehen, die während des Lesens eines Textes stattfinden, wohingehend der Begriff ›Wirkung‹ die Folgen des Lesens bezeichnet, die sich nach der Rezeption etwa im Denken oder Handeln der Leser manifestieren.«456
Ähnlich, wenngleich insofern angemessener, als »Folgen des Lesens« bereits während der Lektüre einsetzen können, definiert Andreas Böhn im »Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft« »Wirkung« als »die den aktuellen Rezeptionsakt überdauernden Veränderungen in der individuellen wie gesellschaftlichen Aufnahme eines Textes«.457 Die so verstandene Wirkung von Literatur ist ein hochkomplexes Phänomen, da sie sich nicht als »eingleisige[r] Bezug zwischen Text und Leser«, als »monokausale Verbindung zwischen beiden« verstehen lässt.458 Vielmehr handelt es sich um ein »Geflecht […] vieler Faktoren und Subfaktoren, die […] in gegenseitiger Abhängigkeit und Verschränkung stehen […]«.459 In Sahrs kommunikationstheoretisch orientiertem Ansatz der literarischen Wirkungsforschung 456 Groeben, Vorderer: Leserpsychologie, S. 192. 457 Andreas Böhn: Art. Wirkung, in: Jan-Dirk Müller u. a. (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 3: P-Z, Berlin u. a., S. 849–851, hier S. 849. 458 Michael Sahr : Lesewirkungen aus kommunikationstheoretischer Sicht, in: Horst Schaller (Hg.): Umstrittene Jugendliteratur. Fragen zu Funktion und Wirkung, Bad Heilbrunn/ Obb. 1976, S. 166–190, hier S. 169. 459 Ebd.
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Die Wirkung von Literatur
tritt daher an die Stelle eines »einseitig-linearen Wirkungsverständnisses« und eines »simplen Ursache-Wirkungs-Modells« ein »netzartig-verschränktes Wirkungsverständnis, welches einen Faktorenkomplex umfaßt« und sich als »Interdependenzmodell« der Wirkung von Literatur bezeichnen lässt.460 Dieses komplexe Modell macht es notwendig, zwischen »Wirkungsintentionen« als den tatsächlichen oder vermeintlichen Absichten von Autoren, Herausgebern und Verlegern, den »Wirkungspotentialen« der Texte und den realen »Wirkungsergebnissen« auf Seiten der Leser zu unterscheiden.461 Die tatsächlichen Wirkungen von Literatur können auf verschiedenen Ebenen stattfinden. Eine basale Differenzierung lässt sich zunächst vornehmen zwischen der Wirkung von Literatur auf ganze Gesellschaften oder Teilbereiche einer Gesellschaft und der Wirkung von Literatur auf einzelne Leserinnen.462 Ebenso basal ist die Unterscheidung zwischen einer innerliterarischen Wirkung eines Textes durch den Einfluss auf andere Texte und Autorinnen – dies ist das klassische Forschungsgebiet der Wirkungsgeschichte – und einer außerliterarischen Wirkung, beispielsweise auf politische, philosophische oder religiöse Diskurse oder auf das Denken und Handeln einer einzelnen Leserin. Wichtiger für den Aufbau dieser Arbeit ist die grundlegende Unterscheidung zwischen Funktionen von Literatur und ihren Wirkungen. Während der Begriff der Wirkung auf beabsichtigte oder unbeabsichtigte Folgen des Lesens für einen einzelnen Leser oder größere Gruppen abzielt, dient der Begriff der Funktion von Literatur primär der Beschreibung der Zwecke und Aufgaben, die Texte für eine Gesellschaft oder ein Individuum – Leser, Autor oder eine mit der Vermittlung von Literatur beschäftigte Person – erfüllen sollen. Unter Umständen konvergieren Funktion und Wirkung, nämlich dann, wenn der Text die Wirkung gemessen an der gewünschten Funktion adäquat erfüllt. Funktionen dienen demnach als Soll-Werte, die Literatur insgesamt oder einzelnen Texten oder Textgruppen unbesehen der tatsächlichen Inhalte bestimmter Texte zuge460 Ebd., S. 173. Die Grundannahme dieses Interdependenzmodell korrespondiert sowohl der im Abschnitt Textverstehen vorgestellten Grundannahme des kognitiven Konstruktivismus, nach der das Textverstehen nicht eindirektional durch den Text determiniert wird, sondern durch die Interaktion von leser- und textseitigen Faktoren, als auch der im Abschnitt Kontexte – Kontextualisierungen erörterten Relevanz von Kontexten und Kontextualisierungen bei der Konstruktion von Sinn und Bedeutung bei der Lektüre. 461 Vgl. Groeben, Vorderer: Leserpsychologie, S. 221–223. Überdies wären vor allem aus literaturdidaktischer Perspektive die Wirkungsvoraussetzungen zu unterscheiden, die Leser mitbringen müssen, damit sich bestimmte Wirkungspotentiale des Textes während und nach der Lektüre entfalten können, d. h. bestimmte hermeneutische Kompetenzen, sprachliche Kompetenzen, real- und literaturhistorische Kenntnisse usw. 462 Auch hier sind wiederum Binnendifferenzierungen möglich. So unterscheidet Sahr : Lesewirkungen, S. 173, den Einfluss von Texten auf individuelle Leser hinsichtlich ihrer Wirkung auf den »Bereich des Wissens«, den »Bereich der Einstellungen« und den »Bereich des Verhaltens«.
Die Gefahren des Lesens
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schrieben werden. Sie lassen sich immer auch zumindest potentiell als Wertungskategorien begreifen, anhand derer sich Texte aufgrund ihrer Eignung zur Erfüllung bestimmter Aufgaben messen lassen.463 Im Gegensatz dazu dient der Begriff der Wirkung zur Beschreibung eines empirischen Sachverhalts, der Kennzeichnung einer Seite einer Kausalrelation, deren andere Seite, die der Ursache(n), entsprechend des Interdependenzmodells hochkomplexe Verbindungen von text- und leserseitigen Faktoren, von Textkontexten und Lektürekontexten umfassen kann. In diesem Kapitel wird es nun nicht darum gehen, die Wirkungen von Literatur auf die Mitglieder der Jugendbewegung nachzuvollziehen. Vielmehr sollen die in der Jugendbewegung verbreiteten Überzeugungen von der Wirkung literarischer Texte analysiert werden und die sich daran anschließenden Versuche, Gefahren des Lesens zu minimieren und das positive Potential des Lesens zu fördern. Thesen zur Wirkung von Literatur auf ihre jugendbewegten Leser sollen erst im Analyseteil über die Funktionen von Literatur und vor allem im Kapitel über Literatur und Politik formuliert werden.
5.1
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Die Mitglieder der Jugendbewegung sind weit davon entfernt, dem Lesen per se einen positiven Wert zuzuschreiben. Immer wieder erscheinen in den Zeitschriften Artikel, aus denen mindestens eine gewisse Skepsis gegenüber Sinn und Zweck des Lesens spricht, und mitunter wird ausdrücklich auf die Gefahren hingewiesen, die vom Lesen ausgehen. In einem in der »Wandervogel-Führerzeitung« veröffentlichten Artikel vergleicht Walter Groothoff verschiedene Aktivitäten hinsichtlich ihrer Eignung zur »Selbsterziehung« des Studenten. Die Ergebnisse präsentiert er in Form einer Tabelle. Rundum positive Auswirkungen vermag Groothoff lediglich dem Wandern zuzusprechen. Ganz und gar schädliche Auswirkungen zeitigt in seinen Augen hingegen der Besuch der Kneipe.464 Über das Lesen schreibt er in seinen Erläuterungen: »Viele meinen, Lesen erzieht. Das dürfte wohl ein Irrtum sein. Nun so ›bildet es doch wenigstens‹. Ja, wenn man unter Bildung ›Vielgelesen-haben‹ versteht. Das ist aber heute nicht mehr modern. Man kann mit wenig Wissen auch sehr gebildet sein. Es ist 463 Vgl. zum Begriff der »Funktion« auch die Einleitung in den Analyseteil über die Funktionen von Literatur. 464 Unklar bleibt, ob Groothoff hiermit ein öffentliches, alkoholausschenkendes Gasthaus meint oder aber die gleichnamige Feier innerhalb einer Studentenverbindung.
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Die Wirkung von Literatur
»Wo ein + steht wirkt dieses Mittel gut, wo ein – steht schlecht, wo ein X steht verschieden. Ein . bedeutet daß es auf diese Rubrik nicht oder nur sehr wenig einwirkt«
nicht zu leugnen, daß das Lesen sehr viele Bildungswerte vermitteln kann; aber die Wirkung ist stets ungewiß. Stets hängt sie von der augenblicklichen Laune des Lesenden ab und ist mal so, mal so. Man sollte das Lesen nur als Unterhaltung oder Vermittlung von Tatsachen, wie es in der Wissenschaft nicht besser möglich ist, gelten lassen. Erzieherischen Wert hat das Lesen nicht.«465
In keiner der von ihm aufgeführten Kategorien hält Groothoff das Lesen für uneingeschränkt wertvoll. Nur in Beziehung auf die »Denkkraft« und das Gefühl kann es unter Umständen – Groothoff denkt hier wohl an entsprechend ausgewählte Lektüre, womöglich an Fachbücher einerseits und fiktionale Werke andererseits – positiv einwirken. Im Vergleich zu anderen Zeugnissen sind Groothoffs Thesen jedoch geradezu wohlwollend. Gefahren für das Denken wittert Paul Kauders in den »Jungen Menschen«: »Nichts ist schädlicher, als allzuvieles Lesen. Wenn es unausgesetzt betrieben wird, wenn man, wie es heißt, Bücher ›verschlingt‹, wird dem Geiste schließlich die Fähigkeit genommen, selbst zu denken. Das ist der Fehler, an dem viele Menschen heute leiden. 465 Walther Groothoff: Selbst-Erziehung! Ein Mahnwort an Abiturienten, in: Führerzeitung, 1912/13, H. 4, S. 67–73, hier S. 72.
Die Gefahren des Lesens
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Sie ersticken durch das Lesen ihre eigenen Gedanken und ihre Phantasie, und kommen schließlich in ihrem Eifer so weit, daß ihre Meinungen unwillkürlich ganz vom Gelesenen beeinflußt werden. Ihre Gedanken stumpfen mit der Zeit immer mehr ab und verlieren an Geschmeidigkeit. Es zeugt auch von großer Geistesarmut, in jedem freien Augenblicke nach einem Buche zu greifen, wie wenn man nicht imstande wäre, in Muße eigene Gedanken zu bilden. –«466
Und ein Karl Heinz Walz beschreibt in einem Beitrag zu einer über mehrere Ausgaben derselben Zeitschrift geführten Debatte über Karl May dramatisch die schädlichen Folgen, die dessen Bücher auf die Emotionen seiner Leser haben: »Sieh sie Dir an, die Leser K. Mays, wie sie dasitzen: die Köpfe puterrot und glühend vor Begeisterung, die Hände nervös Seite um Seite haltend, um ja noch vor Abend fertig zu werden. Nachts träumen sie von ihm und seinen ›gewaltigen‹ Taten. Beim Lesen sind sie mürrisch und zänkisch, wenn sie von ihrem ›geliebten, vergötterten‹ Karl May gescheucht werden; sie bringen Streit und Ärger in die Familie und laden den Zorn der ›gestrengen‹ Lehrer auf sich – –«467
Wenn Carola Groppe »als idealtypisches Merkmal der bildungsbürgerlichen Jugend […] deren intensives Lesen, deren geradezu euphorische Literaturrezeption« ausmacht,468 dann bedarf diese Charakterisierung im Licht der hier zitierten Beiträge zumindest einer Relativierung. Es ist schwer einzuschätzen, wie hoch der Anteil exzessiver Leser in der Jugendbewegung war. Deutlich ist aber, dass sich zahlreiche Stimmen gegen eine exzessive Lektüre erheben und ganz im Gegenteil einen sehr bedachten und gemäßigten Buchkonsum propagieren. Inhaltlich lassen sich die angeführten Äußerungen jenem »Bedrohungsdis466 Paul Kauders: Über das Lesen, in: Junge Menschen, 1920, H. 21, S. 223. 467 Karl Heinz Walz: »Für Karl May« (Eine Erwiderung in Briefform), in: Junge Menschen, 1920, H. 2/3, S. 9. Walz antwortet mit seinem Artikel auf das Plädoyer für Karl May von Karl August Wittfogel 1920: Für Karl May. Ein Brief, in: Junge Menschen, 1920, H. 1, S. 21–23. Vgl. zur May-Rezeption außerhalb der Jugendbewegung Christoph F. Lorenz: Streiflichter zur May-Rezeption in der Zeitungskritik, in der wissenschaftlichen Forschung und in der Literatur, in: Walther Ilmer, Christoph F. Lorenz (Hg.): Exemplarisches zu Karl May, Frankfurt a. M. 1993, S. 229–268, der in der zeitgenössischen Diskussion einen »MayKampf« ausmacht. Ganz kommt dieser allerdings auch nicht ohne jugendbewegte Beteiligung aus, wie ebd., S. 234f. zu sehen ist. Karl Wilker, Verfasser einer 1910 veröffentlichten Broschüre gegen Karl May, war Mitglied des Vortrupp sowie Vorsitzender der Germania, Abstinentenbund an deutschen Schulen, Teilnehmer am Freideutschen Jugendtag auf dem Meißner und in der Vorkriegszeit häufiger Autor in der »Wandervogel-Führerzeitung«. Ludwig Gurlitt veröffentlichte 1919 eine Publikation mit dem Titel »Gerechtigkeit für Karl May!« und war seit 1925 Mitherausgeber der »Karl-May-Jahrbücher«. Vgl. hierzu Christiane Reuter-Boysen: Im Widerstreit: Karl May, in: Puschner, Schmitz, Ulbricht (Hg.): Handbuch, S. 699–710, hier S. 706–708. 468 Carola Groppe: Die Macht der Bildung. Das deutsche Bürgertum und der George-Kreis 1890–1933, Köln u. a. 1997, S. 334.
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Die Wirkung von Literatur
kurs[…] Lesesucht« zuordnen, der im 18. Jahrhundert entstand und dessen Argumente – angepasst an die Veränderungen und Diversifizierungen der Medienlandschaft – bis in die Gegenwart hinein immer wieder vorgetragen werden.469 Henning Wrage unterscheidet innerhalb dieser frühesten Debatte um einen »Jugendmedienschutz« »zwei Stoßrichtungen. Eine richtet sich gegen die schiere Menge der Lektüre […]. In dieser Variante bedeutet Lesesucht eine Obsession an jedem beliebigen Text […]. Die Kritik richtet sich zunächst nicht gegen die Qualität der Texte, sondern gegen ihre exzessive Rezeption […]«.470 In der anderen Variante werden stattdessen die Inhalte der suchtartig verschlungenen Bücher zum Gegenstand der Kritik.471 Beide Momente finden sich in den oben wiedergegebenen Passagen wieder : Die Äußerung von Kauders lässt sich der ersten Richtung zuordnen, diejenige von Walz der zweiten. Auch für die in der Lesesuchtdebatte häufig anzutreffende Fiktionskritik472 als einer Kritik an ›bloß Erfundenem‹ im Gegensatz zu selbst Erlebtem oder historisch Beglaubigtem lassen sich in den Zeitschriften der Jugendbewegung Beispiele finden. So heißt es in einem weiteren Beitrag zur Karl-May-Diskussion in den »Jungen Menschen«: »Wir Jugend wollen nicht mit Traumgebilden für unser Recht kämpfen, denn, tun wir das, so werden wir einst, wenn die Wirklichkeit und das wahre Leben an uns herantreten, einsehen, daß unsere Kampfmittel uns selbst schlagen werden, da sie den Beweis liefern, daß die Jugend die Wirklichkeit der Dinge gar nicht sieht.«473
469 Henning Wrage: Jene Fabrik der Bücher. Über Lesesucht, ein Phantasma des medialen Ursprungs und die Kinder- und Jugendliteratur der Aufklärung, in: Monatshefte für deutschsprachige Literatur und Kultur, 2010, Jg. 102, H. 1, S. 1–21, hier S. 2. Vgl. zur »funktionale[n] Äquivalenz der Argumente« auch ebd., S. 12. Vgl. hierzu außerdem Kaspar Maase: Die soziale Konstruktion der Massenkünste: Der Kampf gegen Schmutz und Schund 1907–1918. Eine Skizze, in: Martin Papenbrock, Gisela Schirmer, Anette Sohn u. a. (Hg.): Kunst und Sozialgeschichte, Pfaffenweiler 1995, S. 262–278, hier S. 263 sowie ders.: »Schundliteratur« und das deutsche Problem der Unterhaltung, in: Franz-Heinrich Hackel (Hg.): Die schwere Kunst der leichten Unterhaltung, Bergisch Gladbach 2004, S. 208–214, hier S. 212. Vgl. zur Geschichte der Lesesucht-Debatte aus der Perspektive der Lesergeschichte Schenda: Volk ohne Buch, S. 50–85; mit kritischen Anmerkungen zu Schendas Thesen Helmut Kreuzer : Gefährliche Lesesucht? Bemerkungen zu politischer Lektürekritik im ausgehenden 18. Jahrhundert, in: Leser und Lesen im 18. Jahrhundert. Colloquium der Arbeitsstelle Achtzehntes Jahrhundert, Heidelberg 1977, S. 62–75. Vgl. zur Lesesucht-Debatte um 1800 und ihrer Einbindung in eine umfassendere Lesedebatte Dominik von König: Lesesucht und Lesewut, in: Herbert G. Göpfert (Hg.): Buch und Leser, Hamburg 1977, S. 89– 112. Vorwiegend literarisches Belegmaterial präsentiert Thomas Anz: Literatur und Lust. Glück und Unglück beim Lesen, München 1998, S. 11–16. 470 Wrage: Lesesucht, S. 10. 471 Vgl. ebd., S. 11. 472 Vgl. ebd.; vgl. außerdem Gerhard Sauder : Argumente der Fiktionskritik 1680–1730 und 1960–1970, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift, 1976, N. F. 26, S. 129–140. 473 Walter Rubli: Gegen Karl May, in: Junge Menschen, 1920, H. 5/6, S. 35.
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Die Lektüre fiktionaler Literatur wird pauschal als Realitätsflucht beschrieben, die eine Auseinandersetzung mit den realen Problemen der Gegenwart verhindere. Im Hintergrund der Diskussionen um eine missbräuchliche Mediennutzung insbesondere Kinder und Jugendlicher steht, »egal ob im 18. oder 21. Jahrhundert, stets ein Modell direkter Medienwirkung«,474 das auch die Überzeugungen über die Wirkung von Literatur in der Jugendbewegung prägt475 – und in gewisser Weise noch die der Forschung über die Jugendbewegung, wenn sie sich ohne weitere Auseinandersetzung mit Rezeptionsdokumenten über die Wirkungen von Literatur auf die Gruppen auslässt. In einem Beitrag in den »Beiblättern zum Weißen Ritter« über die »Überschätzung der Kunst« sieht der Verfasser die »Gefährlichkeit« zeitgenössischer Literatur darin begründet, dass sie von ihren Lesern als »Lehrbuch für das Leben, als nachahmenswerte Beispiele vorführend« verstanden wird.476 Dabei handelt es sich allerdings lediglich um eine Kritik an einer bestimmten, von ihm als zeittypisch wahrgenommenen Rezeptionshaltung. Als Argument für die von Literatur ausgehenden Gefahren benötigt der Verfasser des Artikels sie eigentlich gar nicht. Denn zugleich präsentiert er eine rezeptionsästhetische Auffassung vom identifikatorischen Potential literarischer Texte, nach der »es gleichgültig [ist], ob der Verfasser selbst zu seinem Helden eine bejahende oder verneinende Stellung einnimmt, da die Hauptfigur einer Dichtung auf jeden Fall sich die Sympathien der Leser bis zu einem gewissen Grade erobert«.477 Seine Brisanz erhält dieser als Faktum präsentierte Sachverhalt durch die Inhalte zeitgenössischer Literatur, da »[d]er überwiegende Teil gerade des zur hohen Kunst gerechneten Schrifttums […] nämlich nur von richtigen Trotteln [handelt]«.478 Als exponierte Beispiele solcher literarischen Figuren nennt der Autor die Protagonisten der Werke Henrik Ibsens, Richard Wagners, Leonhard Franks und vor allem Thomas Manns. Die Folge ihrer »Trottelpoesie« in Verbindung mit der unmäßigen Überschätzung der Kunst sei, dass der »trottelhafte, lebensun-
474 Wrage: Lesesucht, S. 2. 475 Maase: Massenkünste, S. 263, hat darauf hingewiesen, dass das Bürgertum der soziale Ort und das Wilhelminische Kaiserreich die Zeit war, in der sich die Vorstellung von der »bösen Macht [der populären Künste], die Sinne zu verwirren, die Vernunft auszuschalten und die niederen Triebe des Menschen zur schändlichen Tat zu reizen« zu einem »Deutungsmuster des Alltagsbewußtseins« entwickelte. Die hier zitierten Aussagen aus den jugendbewegten Zeitschriften können insofern als zeittypisch gelten. Wie sehr die entsprechenden Auffassungen im Bewusstsein der bürgerlichen Jugend verwurzelt waren, zeigt nicht zuletzt die Tatsache, dass sie nicht auf die Kritik an populärer Kunst beschränkt bleiben. 476 S.: Die Überschätzung der Kunst, in: Beiblätter, 1920/21, H. 4, S. 163–168, hier S. 164. 477 Ebd. Hervorhebung von mir, M.L. 478 Ebd.
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Die Wirkung von Literatur
tüchtige Mensch […] sich nun plötzlich hoch über den Gesunden, Tüchtigen, Natürlichen erhoben [sieht]«.479 Die »unmittelbarste, wirkungshafteste« Kunst,480 die Literatur, wird in den Zeitschriften der Jugendbewegung aber nicht nur in ihren negativen Auswirkungen, sondern ebenso in ihren positiven Folgen beschrieben. In einem Beitrag über Arbeiterdichtung in den »Jungen Menschen« heißt es über deren Autoren: »Sie fassen darum auch tief in die Behaglichkeit des Lesenden und Hörenden hinein, zwingen zum Aufhorchen, zum Insichsehen, sogar zum Denken – vielleicht auch zum Ändern«.481 Den Rezensenten von Leonhard Franks 1917 erstmals erschienenem Band »Der Mensch ist« gut scheinen keinerlei Zweifel darüber anzukommen, dass allein die Lektüre des Buches ausreichend wäre, um den Weltfrieden herzustellen: »Wir aber wollen daran denken, daß die Jugend, daß alle Menschen dieses Buch lesen. Wenn der letzte es gelesen hat, wird es keinen mehr auf der Erde geben, der nicht den Krieg haßt und den Frieden liebt mit aller Kraft seines Herzens. Denn ›der Mensch ist gut!‹«482
Nicht immer sind es derart einschneidende Veränderungen, die von Büchern ausgehen sollen. Es kann auch lediglich die Schilderung eines »kleinen Schwabennestchen[s]« derart »lieb und traut« geraten sein, »daß einem gleich die Wandersehnsucht in die Glieder fährt«.483 Auch hier findet sich die Überzeugung von der unmittelbaren Wirkung der Literatur. Wrage hat in den von ihm untersuchten Dokumenten ganz ähnliche Aussagen vorgefunden und erkennt in ihnen »das – mal positiv, mal verheerend negativ gedachte – mediale Paradigma der Aufklärung. […] Die Furcht vor der Lesesucht ist mithin nur die Kehrseite des als wirkmächtig gehandelten Werkzeugs Buch«.484 Beides ist in der Jugendbewegung allerorten spürbar und bedingt einen Gutteil der Relevanz, die den Diskussionen über Literatur zukommt. Die richtigen Bücher können Indi479 Ebd., S. 165. 480 Carl Maria Weber 1918: Walter Hasenclevers dramatische Sendung, in: Freideutsche Jugend, 1918, H. 6, S. 221. 481 Anonym: Das Wort Arbeiterdichtung, in: Junge Menschen, 1922, H. 7, S. 98. Hervorhebung von mir, M.L. 482 Walter Fabian: [Rezension zu:] Leonhard Frank, Der Mensch ist gut, in: Junge Menschen, 1920, H. 5/6, S. 34. 483 Luise Walbrodt: [Rezension zu:] Sophie Reuschle, Das schwäbische Herz, in: Deutscher Mädchen-Wanderbund, 1920, H. 3, S. 49f., hier S. 49. Hervorhebung von mir, M.L. 484 Wrage: Lesesucht, S. 3. Bei anderen jugendbewegten Autoren findet sich das Modell einer unmittelbaren Medienwirkung auch übertragen auf andere Künste. Fritz Jöde: Ein Stück Kriegsarbeit. Eine Übersicht über die deutsche Kriegsliteratur, in: Freideutsche Jugend, 1914/15, H. 2, S. 39–43, der vor allem als führender Vertreter der Jugendmusikbewegung bekannt ist, spricht auf S. 40f. zunächst dem Volks- und Soldatenlied eine direkte Wirkung auf dessen Rezipienten zu und auf S. 43 überdies der Malerei.
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viduen und ganze Gesellschaften in die Richtung einer erträumten Zukunft befördern. Gleichzeitig können sie von den falschen Büchern in den Abgrund gestoßen werden. Dadurch wird die Rede vom »Werkzeug Buch« auch in Bezug auf die Jugendbewegung sinnvoll. Literatur gilt ihren Mitgliedern nicht schon an sich als wertvoll, sondern nur, soweit sie literaturexternen Funktionen nutzbar gemacht werden kann. Sichtbar wird dies dort, wo Kunst und Moral miteinander in Widerspruch geraten und sich nicht miteinander versöhnen lassen, wie in folgendem Fall einer Auseinandersetzung mit Artur Schnitzlers »Reigen«: »Ist die Kunst – Musik, Dichtkunst, Malerei, Bildhauerei, Baukunst oder erstarrte Musik,485 Tanz und seine Abart, die Schauspielkunst – ist sie Selbstzweck oder hat sie als Tochter der Religion eine höhere Aufgabe zu erfüllen, hat sie der Veredelung der Menschheit zu dienen? Muß nicht die Wahrnehmung, daß die Kunst, sobald sie Selbstzweck sein will, zersetzend wirkt, in uns den Glauben an ihre sittliche Bestimmung stärken, an ihre Aufgabe, den suchenden Menschen in reinen Weihestunden die Reihe [!] zu erschließen, bei deren Schauen das Alltagskleid sich verwandelt in ein lichtgewebtes Frühlingsgewand, das uns hinanträgt an den Altar unserer Ideale? – Manchen werden in letzter Zeit diese Fragen beschäftigt haben, und zwar besonders in Hinsicht auf die Schauspielkunst, aus Anlaß des Kampfes gegen Schnitzlers ›Reigen‹. Welche Einstellung haben wir letzterem gegenüber zu nehmen? Zugegeben die Feinheiten der psychologischen Analyse, der teilweise ganz köstliche Humor und die unverkennbare Identität der Dialoge mit dem wirklichen Leben, so erregt doch der groberotische Stoff schwere Bedenken. Denn diese poetische Verklärung unerlaubter sexueller Vorgänge scheint letzteren das Wort zu reden, wenigstens ist eine entgegengesetzte Tendenz nicht zu erkennen.«486
Aus diesen Zeilen spricht zwar ein gewisses Verständnis für die Ästhetik des Stücks, doch unter Verweis auf die problematischen Wirkungsmechanismen von Literatur plädiert der Autor des Artikels schließlich für eine Zensur zum Wohle der Gesellschaft: »Obgleich ein reifer Mensch sicherlich einen künstlerischen Genuß an der Eleganz und Grazie der flottgeschriebenen Liebesszenen hat, so wird auf sittlich nicht gefestigte Charaktere unzweifelhaft die Wirkung des Stofflichen bei weitem vor jener des künstlerischen Beiwerks vorherrschen. Und das Theaterpublikum von heute steht 485 Es ist durchaus unklar, woher der Verfasser die Wendung von der ›Baukunst als erstarrter Musik‹ hat, die wohl erstmals von Schelling schriftlich publiziert wurde, deren Ursprung aber in die Antike weist. Ob der Verfasser aber Schelling gelesen hat oder schlicht und einfach am kanonisierten, bürgerlichen Zitatenschatz partizipiert, lässt sich nicht entscheiden. Immerhin finden sich in der 23. Auflage des »Büchmann« von 1907 gleich mehrere Nachweise für die Wendung, neben Schelling unter anderem von Görres, Goethe und Brentano. Vgl. Georg Büchmann: Geflügelte Worte. Der Zitatenschatz des deutschen Volkes, Berlin 1907, S. 356f. 486 Ormud 1921: »Schnitzlers Reigen«, in: Zwiespruch, 1921, H. 51, S. 6.
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Die Wirkung von Literatur
durchschnittlich moralisch nicht allzu hoch. Überdies hat für Menschen, die ein Kunstwerk erleben wollen, unsere Bühne wirklich keinen Mangel an Stücken, bei dem sich auch der dargestellte Stoff in würdiger Weise einer dichterisch wertvollen Form anpaßt. Schon lieber ein wenig einem einzelnen Künstler die Hände binden, als das sowieso schon mürbe sittliche Fundament weiter Kreise unseres Volkes noch mehr untergraben.«487
Zensur ist nur eine der Waffen, die zur Abwehr der von Literatur ausgehenden Gefahren eingefordert werden. Das ganze Arsenal wird sichtbar im zeitgenössischen Kampf gegen »Schmutz« und »Schund«, der auch von der Jugendbewegung geführt wird.
5.2
Der Kampf gegen »Schmutz« und »Schund«
1926 brachte der »Ausschuß beim Jugendamt Hamburg zum Kampf gegen Schmutz und Schund in Wort und Bild« »im Einvernehmen mit dem Landesjugendamt Hamburg und der Hamburgischen Oberschulbehörde« eine Schrift über »Hamburg und de[n] Schundkampf« heraus. Der Autor Hermann Popert erfreute sich als Verfasser des Romans »Helmut Harringa« in der Jugendbewegung großer Bekanntheit und Beliebtheit und war überdies als Richter am Amtsgericht Hamburg tätig.488 Dem eigentlichen Text voran steht einleitend eine Abgrenzung und Zielbestimmung dessen, was unter dem »Kampf gegen Schmutz und Schund« zu verstehen sei: »Es geht nicht um ›Sittlichkeitsbewegung‹. Es geht auch nicht um Ausbau des Strafrechts. Und es geht am allerwenigsten um Bevormundung der Kunst oder auch nur des Geschmacks. – Es geht nur um Hilfe für unsere Jugend. Und zwar um eine Hilfe, die diese Jugend selbst, durch ihre selbstgewählten Wortführer, seit Jahren dringend fordert.«489
Poperts Abwehrrhetorik zum Trotz ging es im »Schundkampf« durchaus um eine Verschärfung des Strafrechts und um die Durchsetzung sittlicher Normvorstellungen. Wichtiger ist im vorliegenden Zusammenhang aber, dass die 487 Ebd. 488 Hermann Popert (1871–1932) war von 1903–1910 zunächst Land-, dann Amtsrichter in Hamburg. Nach dem Erfolg des 1910 publizierten »Helmut Harringa« gab er seine Tätigkeit als Landrichter auf und widmete sich ganz dem gemeinsam mit Hans Paasche gegründeten Vortrupp-Bund und der Abstinenzbewegung. Erst 1923 kehrte er auf Grund finanzieller Schwierigkeiten in Folge der Inflation in seine Position als Amtsrichter zurück; die Angaben nach Uwe Schneider: Art. Popert, Hermann Martin, in: Neue deutsche Biographie, Bd. 20, Berlin 2001, S. 619f. 489 Hermann Popert: Hamburg und der Schundkampf, Erstes Buch, Schmutz- und Schundliteratur, Hamburg 1926, S. 1.
Der Kampf gegen »Schmutz« und »Schund«
159
Berufung auf eine um Hilfe suchende Jugend nicht lediglich ein rhetorisches Mittel zur Inszenierung der Rolle des selbstlosen Helfers ist. Die Versuche zur Steuerung der Rezeption insbesondere der »populären Künste«490 wurden tatsächlich nicht nur durch Erwachsene auf Kosten jugendlichen Rezeptionsverhaltens geführt, sondern auch von Seiten der Jugend selbst, und mit ihr der Jugendbewegung. Nach der Jahrhundertwende entwickelte sich in Deutschland eine »soziale Bewegung«, die sich aus Sorge um »moralisch-ästhetische und politische Fehlentwicklungen der Massen«491 gegen die Verbreitung von »Schmutz« und »Schund« wandte. Zunächst galten die Bedenken besonders dem sich rasch ausbreitenden neuen Medium Film in den Kinos und der Unterhaltungsliteratur in Form der »Groschenhefte«, dann aber auch anderen Formen von als bedenklich oder unerwünscht eingestufter Literatur. Einen wesentlichen Beitrag zur Etablierung dieser Bewegung leistete die Überzeugung von der unmittelbaren Wirkung von Literatur, die durch die »Entstehung einer SchundkampfFolklore«, der »unablässige[n] Variation eines relativ kleinen Fundus von Motiven und Geschichten«, innerhalb der die Rezeption eines »Schundprodukts« ein »sensationelle[s] Verbrechen« zur Folge hat, wirksam im Bewusstsein breiter Teile der Bevölkerung verankert wurde.492 Wenngleich eine grobe Unterscheidung zu erkennen ist, nach der »›Schmutz‹ sittlich Anstößiges und sexualmoralisch Problematisches, ›Schund‹ ästhetisch Minderwertiges und sozialmoralisch Unerwünschtes (insbesondere die vermutete Verführung zu Kriminalität und Rohheit)« meint,493 herrscht in den Reihen der »Schundkämpfer« keineswegs Einigkeit darüber, nach welchen Kriterien Kulturprodukte einer der Kategorien zuzuordnen sind: »Untersucht man, was zu wechselnden Zeiten von wechselnden Stimmen als Schund abqualifiziert worden ist, dann stellt man fest: Es gibt keinen einzigen Maßstab, der wirklich konsequent angelegt wurde, um Schund von Nichtschund zu unterscheiden. Schund diente als stigmatisierendes Argument, um unerwünschte Texte, Bilder, Filme usw. aus dem Verkehr zu ziehen oder zu marginalisieren.«494
Der Grund für diese Uneindeutigkeit dürfte nicht zuletzt in der Heterogenität der beteiligten Personen und Gruppen und ihrer jeweiligen Interessen zu sehen sein. Kaspar Maase erkennt zwar immerhin »zwei Hauptgruppen« des 490 Maase: Massenkünste, S. 263. 491 Ebd., S. 266. 492 Ebd., S. 269. Vgl. hierzu auch die ebd., S. 262f. angeführten Beispiele aus der zeitgenössischen Literatur. Zahlreiche Beispiele finden sich überdies in den Glossen der Jungen Menschen. 493 Maase: Schundliteratur, S. 210. Vgl. als zeitgenössisches Beispiel einer dementsprechenden Unterscheidungspraxis Popert: Schundkampf, S. 3. 494 Maase: Schundliteratur, S. 210.
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Die Wirkung von Literatur
»Schundkampfes«: Einerseits handelt es sich um die Strömung um die Jugendschriftenbewegung, der es vorrangig um eine Verbesserung der ästhetischen Qualität der Lektüre von Kindern und Jugendlichen zu tun war, andererseits um einen »konservativen, zunehmend völkischen Flügel«, dessen Argumentation sich auf moralische, weltanschauliche und politische Ideen stützt.495 Aber auch innerhalb dieser Großgruppen lässt sich kaum ein uneingeschränkter Konsens ausmachen. Dies gilt auch für die Diskussionen innerhalb der Jugendbewegung. Zum festen Bestandteil des Programms wird der »Schmutz-und-SchundKampf« in den »Jungen Menschen«. Im Editorial zur ersten Ausgabe erklären die Herausgeber : »Das Blatt ist keiner Partei dienstbar. Einzig gegen Schundliteratur und Kitsch, gegen seelisches und leibliches Gift jeder Art richtet sich sein Kampf. Kampfmittel ist Darbietung des Kraftzeugend-Wertvollen.«496
Bemerkenswert ist vor allem, wie »Schundliteratur« und »Kitsch« als »seelische Gifte« in einen engen Zusammenhang mit »leiblichen Giften« gebracht werden, mit Suchtmitteln wie Alkohol und Nikotin. So sinnes- und willensbetäubend wie ein Rauschgift denkt man sich die fatale Wirkung von »Schundliteratur«. Entsprechend hatte sich Hammer auch bereits in seiner 1912 veröffentlichten Polemik gegen die Generalanzeiger-Presse geäußert: »Diese Presse und das Bier lassen den Deutschen so schicksallos leben, so unpersönlich, oftmals bar jedes ernsten Lebensinhaltes und ideellen Strebens, erpicht lediglich auf materiellen Genuß«.497 Bei der Wahl der »Kampfmittel« beschränken sich die »Jungen Menschen« keineswegs auf die Publikation von »wertvoller« Literatur bzw. die Information über lohnende Kunst, wenngleich dieses Vorgehen angesichts der von »Schundliteratur« ausgehenden Gefahren verständlich wäre, um nur ja niemanden in Versuchung zu führen. Doch die Herausgeber halten ihre Leser offenbar für gefestigt genug, um ihnen auch Aufklärung über schädliche Literatur zukommen zu lassen. Im vorangehenden Kapitel wurde bereits auf die Auseinandersetzung mit Gertrud Prellwitz hingewiesen, in der der Stil ihrer Werke durch Zitate und Parodien vorgeführt wird. Aber auch in Form direkter Interventionen wendet sich Walter Hammer gegen »Schmutz« und »Schund«. An495 Masse: Massenkünste, S. 272. Vgl. zur Jugendschriftenbewegung und der in ihr geführten Diskussion um eine angemessene Jugendliteratur Gisela Wilkending: Die Kommerzialisierung der Jugendliteratur und die Jugendschriftenbewegung um 1900, in: Kaspar Maase, Wolfgang Kaschuba (Hg.): Schund und Schönheit. Populäre Kultur um 1900, Köln u. a. 2001, S. 218–251. 496 Anonym: [Editorial], o.S. 497 Hammer : Generalanzeiger-Presse, S. 36.
Der Kampf gegen »Schmutz« und »Schund«
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lässlich von Aktionen in Leipzig und Berlin, bei der Kinos zum Teil unter Beteiligung von Wandervögeln aus Protest gegen das gesendete Programm gestürmt wurden, in anderen Fällen auch nur das Gespräch mit Kinobesitzern gesucht wurde, verfasst Hammer einen Aufruf, der bezeichnenderweise im Titel nicht etwa den Wandervogel führt, sondern metaphorisch auf den Wind und Wetter trotzenden Sturmvogel Bezug nimmt: »Dort, wo man seit nunmehr zwei Jahrzehnten im engsten Anschluß an die Natur einen neuen Lebensstil der Jugend sich erarbeitet, neue Quellen der Freude erschlossen und neue Formen des Festefeierns gefunden hat, im Wandervogel ist es bereits in mehreren Großstädten zu einer Empörung dieser Jugend gegen jene ›Kunst‹ gekommen, die von erwerbstüchtigen Unternehmern einer nach herzstärkender Freude dürstenden Jugend feilgeboten wird. Steine statt Brot! Gift statt Balsam!«498
Das Pathos noch weiter steigernd, ruft er die Jugend dazu auf, fortzufahren im Kampf gegen das Kino, indem er gleichzeitig unter Rückgriff auf das ganze argumentative, rhetorische und semantische Arsenal des »Schmutz-undSchundkampfes« das Bedrohungspotential des Films ausbreitet: »Junge Menschen, geht nicht in diese seelenlosen Betriebe hinein! Was da an der weißen Wand herumzittert, das sind nicht Menschen, die uns Vorbild sein können! Sind es überhaupt Menschen? Sind es nicht bloße Puppen, die aufgezogen werden, um tolle Sprünge und unmögliche Ereignisse uns vorzugaukeln? Kann dieser Abschaum der Menschheit, der da seine Verbrecherkünste vorführt, uns jungen Menschen etwas geben? Verbrecherhochschule hat man diese Kintöppe genannt. Menschen, die überflüssig sind, die ein Drohnendasein führen, sollen da als liebenswert und heldenhaft unsern Herzen nahegebracht werden. Frauenzimmer in dirnenhaftem Aufputz schänden in solchen Flimmervorführungen das Bild des gesunden, schlichten deutschen Mädchens. Armselige Jugend, die – zumal, wenn sie im Beruf eintöniger Beschäftigung nachgeht – ihr Weltbild in solchen ›Kunsttempeln‹ gestalten läßt! Flitter statt Seele! Rausch statt Nahrung! […] Schund und Gift und Lüge!«499
Was schließlich die Wahl der Mittel angeht, ist Hammer nicht gerade zimperlich und lässt seinen Lesern vollkommen freie Hand: »Ob mit oder ohne Gewaltanwendung: die Jugend hat eine für das ganze Volk wichtige Angelegenheit selbst in die Hand genommen, in der die Erwachsenen versagt haben«.500 Wenn Hermann Popert auf eine um Hilfe suchende Jugend verweist, dann kann er sich auf Sätze wie diesen berufen. Die Störung von Kino- und Theateraufführungen gehörte zum Standardrepertoire der »Schundkämpfer«. In der »Freideutschen Jugend« wird über einen Fall berichtet, bei dem Mitglieder und Freunde der Jugendbewegung lautstark 498 Hammer : Sturmvogels Rundflug, in: Junge Menschen, 1920, H. 1, S. 25–27, hier S. 25. 499 Ebd. 500 Ebd., S. 27.
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ihre Empörung über das Lustspiel »Wandervögel« kundtaten. Da weitere Inszenierungen des Stückes auch in anderen Städten angekündigt waren, wurden die Leser der Zeitschrift mit Ratschlägen versorgt, wie damit umzugehen sei: »Vor Aufführung des Stückes bringt Schriftsätze über den Wandervogel in die Tageszeitungen, die klar und eindeutig unser Wollen darstellen. Macht die Kritik auf uns aufmerksam […]. Geht am Abend zahlreich ins Theater, vor allem auch gesellschaftsmäßig auf fremde Plätze. Schickt eure Eltern und Freunde ins Theater. Verhaltet euch während des Spiels ruhig, aber auch völlig ruhig, zischt, wenn geklatscht wird gründlich oder klatscht den Beifall durch taktmäßiges Klatschen nieder. Bei der Szene, in der die betrunkenen Münchener Wandervögel den nachthemdbekleideten Kammerherrn auf dem Fasse (welch liebliches Bild!) umtorkeln, stehe ein redegewandter Vertreter von euch im Parkett auf und spreche kurz ein paar ernste Worte gegen eine solche Beschimpfung deutscher Jugend. Alle stehen bei den Worten auf und verlassen, wenn die Aussprache geendet, leise das Theater. Laßt euch auf nichts mehr ein. Es ist unser heiliges Recht, solche Werke mit scharfem Hieb zu Fall zu bringen.«501
Zu den Waffen der »Schundkämpfer« zählen weiter Boykottkampagnen gegen die Produzenten und Anbieter von »Schmutz« und »Schund«.502 Neben den Kinobetreibern geraten vor allem Buchhändler ins Blickfeld der Wandervögel, so dass vor ihnen ausdrücklich gewarnt wird: »Wenn Du Dir ein Buch kaufen willst, das Dir ein Freund werden soll, so möchte ich Dich zu allererst warnen, Dich nicht durch die Auslagen unserer Buchhandlungen verwirren oder durch das, was unsere Zeitungshäuschen Dir anbieten, Dich verleiten zu lassen, Dein Geld ihnen unbedacht zu opfern. Erstere bieten (in den Fenstern zumeist und drinnen nicht selten) wenig für Deine Bedürfnisse und letztere verkaufen neben den Tageszeitungen leider gar zu oft den schlimmsten Schund.«503
Deutlichere Worte über die Situation des zeitgenössischen Buchhandels findet noch der Schriftsteller, Buchhändler und Verleger Karl Rauch,504 der zunächst 501 [Friedrich] Schlünz: Wandervögel »ein lustiges Spiel« und Wandervogel, in: Freideutsche Jugend, 1914/15, H. 3, S. 66f. Bei dem Stück handelt es sich um Paul Georg Münchs »Wandervögel. Ein fröhliches Spiel in 3 Aufzügen«. 502 Vgl. Maase: Massenkünste, S. 269f. Dort findet sich auch ein Überblick über weitere Formen des »Schmutz-und-Schund-Kampfes«. 503 Karl Gruber : Eine erste Bücherauswahl für einfache Leser, in: Junge Menschen, 1920, H. 19, S. 188. 504 Vgl. zu Rauch Ulbricht: Ansätze, S. 92–101 und Stambolis: Karl Rauch, in: dies. (Hg.): Jugendbewegt geprägt, S. 533–544. Rauch (1897–1966) begann seine berufliche Laufbahn als Mitarbeiter im Freideutschen Jugendverlag von Adolf Saal. Eine 1921 eröffnete »Kunstund Bücherstube« wurde zur Grundlage der eigenen Verlagsgründung 1923. Hier erschienen sowohl Publikationen aus dem Umfeld der Lebensreformbewegung, expressionistische und kulturkritische Texte, jugendbewegte Publikationen und literarische Zeitschriften. Nach zahlreichen Unterbrechungen aufgrund wirtschaftlicher Krisen in der Anfangszeit existiert der Karl-Rauch-Verlag bis heute und verlegt unter anderem das Gesamtwerk von Antoine de Saint-Exup8ry.
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Wandervogel war und sich nach dem Ersten Weltkrieg den Neupfadfindern zuwandte: »Die vergangenen Jahrhunderte, deren materialistisch-merkantiler Anstrich auch den vertreibenden Buchhandel stark belastete, ließen seine persönliche Verantwortlichkeit und Wirkungskraft nur gering sichtbar werden. Während die in fast allen wesentlichen Fragen zersplitterte Jugendbewegung gerade in dem Punkte der Bekämpfung des Buchschundes in nahezu geschlossener Einheitsfront vorzugehen vermochte und bei aller Ungeschicklichkeit und mangelnden Reife erfolgreich durchhieb, sah der berufsmäßige Buchhandel untätig zu, ja, fand sich oft noch bereit, verantwortungslos genug um seichten Massenerfolgs willen, Schund und Lesebrei zu propagieren – und die ihm offene Möglichkeit der Volkserziehung in ihr Gegenteil umzukehren. Bei solchem Gang der Dinge mußte es notwendigerweise dazu kommen, daß die Jugend sich aus den Buchläden zurückzog und nun auf eigene Faust allerorten – ohne Berufskenntnisse, aber mit um so mehr gutem Willen und innerem Eifer – eigene Buchläden begründete.«505
Rauch bedient sich hier eines topischen Arguments der Schundkämpfer, nach der es sich beim »Buchschund« nicht um im emphatischen Sinn ›Literatur‹ handelt, sondern um industriell hergestellte Massenprodukte, die ihre Entstehung einzig und allein kapitalistischen Produktions- und Vermarktungsbedingungen verdankten.506 Im Hintergrund wirkt eine weiterverbreitete dichotomische Unterscheidung zwischen einer marktorientieren Kultur und einer Kultur, deren Ideal der geniale, von einer Idee beseelte Dichter ist.507 Rauch plädiert dafür, sich innerhalb der Jugendbewegung durch die Gründung und Etablierung eigener Produktions- und Vertriebsstrukturen von einem System unabhängig zu machen, in dem der Buchhändler darauf bedacht ist, »daß er warenmäßig Bücher umsetzt und nach Angebot und Nachfrage vertreibt«.508 505 Karl Rauch: Die kulturellen Aufgaben und Möglichkeiten des Jungbuchhändlers im Sortiment, in: Weißer Ritter, 1922/23, H. 4/5/6, S. 224–228, hier S. 225. 506 Vgl. hierzu ebd., S. 258. 507 Vgl. ebd. Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch die in der zeitgenössischen Diskussion omnipräsente, kulturkritisch imprägnierte Dichotomie von Kultur und Bildung auf der einen, Zivilisation auf der anderen Seite. Vgl. hierzu insbesondere Georg Bollenbeck: Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters, Frankfurt a. M. u. a. 1994 und ders.: Eine Geschichte der Kulturkritik. Von J.J. Rousseau bis G. Anders, München 2007. 508 Rauch: Jungbuchhändler, S. 226f. Immerhin ist Rauch realistisch genug, dass er ebd., S. 226, den ökonomischen Aspekt des Buchhandels nicht ganz aus den Augen lässt: »Daneben ist die Beherrschung des Kaufmännischen und Wirtschaftlichen für ihn ebenso unumgänglich wie für irgend einen anderen Stand des Handels – und der Wirtschaft wie dem Geiste gleicherweise dienstbar sein, stellt oft vor schwere Belastungsproben«. Vgl. zu dieser Spannung auch Ulbricht: »Weißer Ritter«, S. 168f. und die Anmerkungen zum Kreis um den »Weißen Ritter« im folgenden Abschnitt vorliegender Arbeit. Vgl. außerdem Ulbricht: Ansätze, S. 79f., dessen Forschungen ihn zum Ergebnis geführt haben, »daß ein Großteil der Klein- und Kleinstverlage der Jugendbewegung neben oder gar in bewußtem
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Die Wirkung von Literatur
Vielmehr soll er als »Mittelstelle […] zwischen der geistigen Führerschaft des Volkes und diesem selbst« fungieren,509 »den Suchenden zu dem Buche hinführen, das er gerade in diesem Augenblick braucht«, mehr noch, »einen Kreis von Menschen zu schaffen, eine Gemeinde, die nicht nur Bücher kauft, sondern mit ihm und seinen Büchern lebt!«510 Die Buchhandlung soll derart unter der Führung des um seine verantwortungsvolle Aufgabe wissenden Händlers die »Stätte der Sammlung der Menschen inmitten der Stadt mit Lesezimmer, Festraum und Klosterzelle, die Heimstätte und Kraftquelle des Neuen Menschen« werden.511 Auch wenn weitgehende Einigkeit in Bezug auf die Reformbedürftigkeit des Buchhandels und hinsichtlich dessen zentraler Rolle bei der Reform von Gesellschaft und Menschen besteht, gibt es durchaus Widerspruch gegen die von Rauch und anderen verfolgte Verselbständigung des jugendbewegten Verlagsund Buchhandelswesens. Im »Zwiespruch« bemängelt Kurt Richter, dass auf diese Weise nur im »geschlossenen Kreise« der Jugendbewegung Wirkung erzielt würde, wenn es nicht gänzlich auf ein preaching to the converted hinausläuft. Stattdessen erhebt er die Forderung, »den Sortimentsbuchhandel durch unsere Nachfrage [zu] zwingen, die von uns verlangten Sachen zu führen. Er wird dann, wenn ein Teil von uns hinter ihm steht, diese Sachen stets am Lager haben und so auch all den anderen Leuten zu Gesicht bringen. […] Dabei gewinnen wir auch den Einfluß, die heute so massenhaft auf den Markt geworfene, die Auswirkung der Zeit bildende, schlechte, üble Literatur beseitigen zu können«.512
Einen gleichlautenden Vorschlag macht der Geschäftsleiter des Steglitzer EV, wobei er sehr konkrete Vorstellungen davon hat, welche Titel auf diese Weise in den Verkauf gelangen sollen: »Wandervögel, die Zeitschrift des Verbandes ›Wandervogel‹ und unser ›Zupfgeigenhansl‹ müssen noch eine viel breitere Verbreitung erfahren. Das sind Dinge, die ins Volk getragen, die unbedingt durch Buch- und Zeitungshandel verbreitet werden müssen. Unsere Kräfte reichen dazu nicht aus. Deshalb stürmt die Buchhandlungen und die Zeitungskioske mit Nachfragen, auf daß diese Leutchen endlich nachgeben und sich dieselben […] bestellen. Es muß ein jeder von Euch mithelfen, nur die Masse kann es machen. Abgesehen von der Bequemlichkeit des Bezuges wird hierdurch die Werbearbeit außerordentlich gefördert, das Ansehen der Bewegung an und für sich
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Gegensatz zu dem im Börsenverein des deutschen Buchhandels korporierten Buchhandel existiert hat«. Rauch: Jungbuchhändler, S. 225. Ebd., S. 227. Ebd. Kurt Richter : Buchhandel und Jugendbewegung, in: Zwiespruch, 1921, H. 6, Bücherbord 3, S. 6.
Der Kampf gegen »Schmutz« und »Schund«
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wird wachsen, und endlich bringt die größere Auflage auch bessere Ausstattung und größere Einnahmen mit sich.«513
Obwohl zuletzt insbesondere pragmatische Gründe ins Feld geführt werden, klingt doch auch hier die kulturmissionarische Perspektive der gesamten jugendbewegten Diskussion um den Buchhandel an, insofern durch die Bewegung »ins Volk« mittels der Publikationen für die Ziele und Ideale des Wandervogels geworben werden soll. Je nachdem, wer spricht, verbinden sich hiermit weitreichende Konzepte einer reformerischen oder revolutionären Umgestaltung der Gesellschaft. Wie die bisherigen Hinweise auf die angeblich sittenverderbende Macht des Kinos und entsprechender Bücher bereits deutlich gemacht haben dürften, geht es beim jugendbewegten »Schundkampf« nicht lediglich um den Versuch, den allgemeinen Geschmack zu heben und ästhetisch mangelhafte Lektüre durch anspruchsvolle zu ersetzen. Meist geht es mindestens beiläufig, häufig aber auch ausschließlich um die Durchsetzung eigener Moral- und sozialpolitischer Ordnungsvorstellungen. Die Beschreibung des »Schundkampfes« als Kampf rivalisierender Kulturen erweist sich so nicht nur als Auseinandersetzung zwischen einer marktkonformen Kultur und einer vorgeblich rein ideellen Kultur. Vielmehr wird um den Erhalt oder die (Wieder-)Herstellung der bürgerlichen Sozialordnung schlechthin gerungen,514 »einer intakten nationalkulturellen Identität«.515 Im Hintergrund wirkt die Wahrnehmung »reale[r] Krisenphänomene«516 wie dem »Elend der neuen Großstädte, die bis in unser Jahrhundert hinein oftmals katastrophalen hygienischen Zustände in den Massenwohnquartieren«, die mit »zeitgeisttypische[n] (sozial-)darwinistische[n] und degenerationstheoretische[n] Diskurse[n]« verbunden werden.517 Einzelne Kunstwerke und ganze Kunstrichtungen gelten »ihren konservativen und völkischen Verächtern nicht nur als Ausdruck der katastrophischen Moderne, sondern vielmehr als eine der Ursachen für den degenerativen Verfall bürgerlicher Kunst und Kultur – und damit des angeblichen deutschen Niedergangs überhaupt«.518 Die Bemühungen gegen »Schmutz« und »Schund« gewinnen dadurch eine politische Dimension, die für antisemitische Positionen offen ist, auch wenn der »Schundkampf« als ganzer nicht vom Antisemitismus geprägt wurde.519 Aber 513 Geschäftsleiter : Ein Aufruf!, in: Nachrichtenblatt, 1911, H. 3, S. 39. 514 Vgl. Reuveni: Reading Germany, S. 250. 515 Justus H. Ulbricht: Gegen »Kotkunst«, Schmutz und Schund. Sauberkeitsphantasien in kunst- und kulturkritischen Diskursen, in: Sozialwissenschaftliche Informationen, 1997, Jg. 26, S. 28–35, hier S. 28. 516 Ebd. 517 Ebd., S. 29. 518 Ebd. 519 Vgl. Reuveni: Reading Germany, S. 251.
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Die Wirkung von Literatur
bereits Walter Hammer zog vor dem Ersten Weltkrieg – auch wenn er sich in den »Jungen Menschen« dann vehement gegen antisemitische Tendenzen in Jugendbewegung und Gesellschaft einsetzen sollte und selbst Opfer einer antisemitischen Kampagne wurde – eine Verbindung zwischen der als »Schundliteratur« identifizierten Generalanzeiger-Presse und dem »handelsjüdischen Geist der Inserenten«.520 Spätestens aber, wenn die »Teutobolde«521 Deutschlands Zukunft in Gefahr sehen, werden die jüdischen Mitbürger als Urheber und Personifikation aller Bedrohungen vorgeführt. Beispielhaft hierfür ist die Hetzkampagne gegen Gustav Meyrink. Auslöser war ein im April 1917 in der Zeitschrift »Deutsches Volkstum« publizierter Artikel von Albert Zimmermann, einem Mitglied des Deutschnationalen Handlungsgehilfenverbands. Zimmermann echauffierte sich über Meyrinks satirische Abrechnung mit dem deutschen Militarismus und zieh ihn der antinationalen Gesinnung. Mehr noch empörte ihn aber die Darstellung protestantischer Pastorenfrauen, die ihm als eine »Verhöhnung deutscher Frauen« insgesamt erschien.522 Diese Anschuldigungen verband er mit der als Diffamierung gemeinten falschen Behauptung, es handele sich bei Meyrink um einen jüdischen Autor. Den ursprünglich nur sechsseitigen Artikel publizierte Zimmermann einige Monate später deutlich erweitert als eigenständige Broschüre unter dem Titel »Gustav Meyrink und seine Freunde«, in der er nicht nur seine Angriffe wiederholte und ergänzte, sondern gleichzeitig einen unterdessen veröffentlichten Protestbrief des Schutzverbandes deutscher Schriftsteller attackierte, zu dessen Unterzeichnern unter anderem Heinrich Mann und Frank Wedekind zählten. Gegen diese Protestnote richtete sich wiederum eine Erklärung völkischer und konservativer Kreise, und auch die Fichte-Gesellschaft 520 Hammer : Generalanzeiger-Presse, S. 39. Die deutlichste Kennzeichnung der Generalanzeiger-Presse als »Schundliteratur« findet sich ebd., S. 29: »Zwar wird in ihr die verbummfiedelte Kunigunde nicht unter die Wurst gehackt, wie das in den bluttriefenden Schundheften geschieht, aber auch sie verdirbt den Geschmack und ist eine VerbrechensUrsache gerade so, wie jene andere Schundliteratur, an deren Bekämpfung sich gerade die Generalanzeiger-Presse so tapfer beteiligt, nur um durch laute Entrüstung den kritischen Blick von sich abzulenken. Auch hier haben wir wieder jenes laut betonte, pharisäerhafte Besser-sein-wollen, das diese Preßgattung charakterisiert«. Spätestens nach dem Ende des Ersten Weltkriegs werden die Aktionsformen des »Schundkampfes« auch Teil der politischen Auseinandersetzung in der jungen Weimarer Republik. Vgl. hierzu neben zahlreichen Hinweisen in den »Jungen Menschen« unter anderem Walter Hölscher : Trillerpfeife, Goethe und der Vaterlandsverräter, in: Freideutsche Jugend, 1920, H. 4, S. 148f. Hölscher berichtet von einem Gastspiel des seinerzeit berühmten Schauspielers Alexander Moissi in Hamburg, bei dem es unter beidseitiger Beteiligung Jugendbewegter zu einer tumultartigen Auseinandersetzung zwischen linken und rechten Studenten kommt. 521 Gustav Meyrink in der Schaubühne vom 19. 07. 1917; hier zitiert nach Hartmut Binder : Gustav Meyrink. Ein Leben im Bann der Magie, Prag 2009, S. 563. 522 Zitiert nach Binder : Gustav Meyrink, S. 559. Ich folge auch sonst an dieser Stelle der Darstellung der Hetzkampagne ebd., S. 558–567.
Der Kampf gegen »Schmutz« und »Schund«
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schaltete sich zur Unterstützung Zimmermanns ein, indem sie Separatdrucke seines Artikels verschickte und dazu aufforderte, eine Gegenerklärung gegen den Protestbrief des Schutzverbandes zu unterzeichnen. Für Meyrink hatte dies unangenehme Folgen, vom Verschwinden seiner Bücher aus zahlreichen Buchhandlungen bis hin zu körperlichen Angriffen. In der Jugendbewegung fiel die Kampagne gegen Meyrink auf fruchtbaren Boden und prägte die Wahrnehmung des buchinteressierten Publikums. Im »Landfahrer« berichtet eine anonym bleibende Autorin in einem Artikel, der sich den Titel von Zimmermanns Broschüre leiht, über eine zufällige Begegnung mit den Werken des verfemten Autors: »Vor etwa einem halben Jahr kam ich an der größten Verlags-Buchhandlung vorbei, um nach einem Geschenk Ausschau zu halten. Es war ein Jammer was man da alles zu sehen bekam. Von den spannenden Detektiv-Geschichten für unreife Burschen bis zum schmachtenden Backfischroman für verdrehte Mädchen – alles in reichlicher Auswahl vorhanden. Und für die ›Reiferen und die gebildeteren Klassen‹: Meyrink ›Golem‹, ›Das grüne Gesicht‹. – Meyrink – der Name war mir nur allzu bekannt aus einem Aufsatze von A. Zimmermann im ›Deutschen Volkstum‹.«523
Falls es dessen überhaupt bedurfte, ist die Autorin bemüht, durch die Verbindung mit stereotypischen Hinweisen auf die Schunddebatte im Voraus eine ablehnende Stimmung gegenüber Meyrink bei ihren Leserinnen zu erzeugen. Denn im Kern geht es auch ihr um die Auseinandersetzung zwischen den »reinen und vornehmen Menschen«524 bzw. »jede[m] anständig denkenden Menschen«525 und den Schriften Meyrinks als »Gipfelpunkt des Gemeinen und Schmutzigen«.526 Sich gegen »einen solchen Gegner des Deutschtums«527 und den »allem Völkischen feindlich gesinnte[n] Geist«528 zur Wehr zu setzen, sei gerade Aufgabe der Frauen, »[g]eht doch uns dieser Kampf gegen die Schädlinge im deutschen Schrifttum ganz besonders an. Gilt es doch, unser Vaterland, Heim und unsere eigene Ehre von Schmutz reinzuhalten«.529 Die von der Verfasserin 523 524 525 526 527 528 529
Anonym: Gustav Meyrink und seine Freunde, in: Landfahrer, 1918, H. 2, S. 9–11, hier S. 9. Ebd., S. 10. Ebd., S. 9. Ebd., S. 10. Ebd., S. 9. Ebd., S. 11. Ebd. Überall in diesem Aufsatz ist die Anwesenheit jener Schmutz- und Sauberkeitsphantasien zu erkennen, die nach Ulbricht: Sauberkeitsphantasien, den gesamten Kampf gegen »Schmutz« und »Schund« durchziehen und auch von Jörg Köppler: Gustav Meyrink und der Wandervogel, in: Führerzeitung, 1917, H. 10/11, S. 161–163, hier S. 163 zum Ausdruck gebracht werden: »In diesem Punkt seid ihr Euch doch einig mit uns, daß man Dreck Dreck nennen darf und sich nicht besudelt damit? Dann helft uns, wo Ihr könnt, diesen – Dichter unschädlich zu machen«. Auf diesen Artikel bezieht sich wohlwollend und in voller Übereinstimmung Hermann Ziegler : Vom Lesen, in: Führerzeitung, 1918, H. 1/2, S. 12f.
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des Artikels vorgeschlagene Maßnahme geht wieder einmal zu Lasten der leidgeprüften Buchhändler : »Opfern wir ruhig einmal 60 Pfg. und senden wir Zimmermanns Aufsatz überall in die Buchhandlungen, wo wir ein Meyrinkbuch entdecken. Der Erfolg wird nicht ausbleiben«.530 Gipfelpunkt des Diffamierungswillens – es geht in der Tat noch schlimmer – ist ein Artikel von Karl Wilker über die Ankündigung zur Publikation des »Anfang«. Als hätte er den Auftrag gehabt, so viele Klischees und Schauermärchen über Juden, Großstadt und »Dekadenz« zu verwenden wie irgend möglich, schreibt er reißerisch: »Ich glaube weiter, daß diese neue Zeitschrift nicht so sehr eine Waffe in der Hand der unterdrückten Jugend werden wird (was ja sehr gefährlich klingt, aber ganz ungefährlich ist!) als vielmehr ein Organ einer gewissen Dekadenz, die im engen Zusammenhang mit dem Semitismus steht, der ein Feind alles Deutschen, alles Urwüchsigen ist. Ich glaube weiter, daß dieses Organ sich nach und nach zu einem Organ entwickeln wird, das eine Spezies Schundliteratur herzüchtet, die in gewissen Großstadtvierteln sehr beliebt ist, die sich hier und da in den Boudoirs bei schwülem Parfüm in mit spitzigen Fingern angefaßten zarten Bändchen (es gibt sogar solche in Menschenleder) anbietet.«531
Die Verbindung der Kritik an der Literatur und Kunst der Moderne mit dem Schunddiskurs ist durchaus üblich und macht noch einmal deutlich, dass politische, weltanschauliche und ethische Momente den jugendbewegten »Schundkampf« weithin prägen. Zum Abschluss sei jedoch darauf hingewiesen, dass der Schundbegriff mitunter auch von Anhängern der modernen Literatur verwendet wird. So der Fall in einer Rezension von Klabunds »Deutscher Lite-
530 Anonym: Gustav Meyrink, S. 11. 531 Karl Wilker : An die Jugend, in: Führerzeitung, 1912/13, H. 7, S. 129f. In Anbetracht dieses Artikels ist es mehr als überraschend, dass Wilker in der folgenden Nummer der »Führerzeitung« mit einem Aufsatz als Kritiker der »Zittauer Entscheidung« hervortreten sollte, eine Jüdin aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit nicht in den Wandervogel aufzunehmen. Sofern nicht ein plötzlicher Gesinnungswandel unterstellt werden soll und Wilkers Intervention nicht lediglich als Kalkül angesichts einer teils empörten Öffentlichkeit verstanden werden soll, liegt es nahe, seinen Antisemitismus als »kulturellen Rassismus« zu interpretieren, der dem Verständnis von »Rasse als Natur« der meisten anderen Autoren der »Führerzeitung« gegenübersteht. Vgl. zu dieser Unterscheidung Bernhard Giesen: Kollektive Identität. Die Intellektuellen und die Nation 2, Frankfurt a. M. 1999, S. 277–284; zu Wilker und seiner Rolle in der Diskussion um die Ereignisse in Zittau Winnecken: Antisemitismus, v. a. S. 52–59. Vgl. außerdem Christian Niemeyer : Klassiker der Sozialpädagogik. Einführung in die Theoriegeschichte einer Wissenschaft, Weinheim u. a. 2010, S. 180–191, der Wilkers Rolle in der Sozialpädagogik der Weimarer Republik darstellt; zu Wilkers Rolle in der Auseinandersetzung um die »Zittauer Entscheidung« auch Niemeyer : Jugendbewegung.
Anleitungen zum richtigen Lesen
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raturgeschichte in einer Stunde« im »Zwiespruch«, die auch deswegen bemerkenswert ist, weil erneut Gustav Meyrink genannt wird: »Manch’ hohle Größe wird hier auf das richtige Maß zurückgeschraubt (Freytag, Geibel, Wildenbruch u. a.) und mancher, von einer bürgerlichen Kritik heruntergemachter Dichter findet hier seine richtige, gebührende Beurteilung, wie Heine, Meyrink, Wedekind u. a. Für eine Leserwelt, die in Freytags, Dahns und Dieters Romanen den Höhepunkt der deutschen Dichtung sieht, und deren Herz in Tränen schwimmt (feines Bild!) bei Caesar Flaischlens Gedichten oder ähnlichem Schund, wird Klabunds Literaturgeschichte unverständlich, ja gemein wegen der Kritik Klabunds am ›bürgerlichen‹ Geschmack erscheinen. Jedem anderen aber, der in der Kunst sich nicht mit Ersatzstoffen begnügen kann, wird Klabund viel geben.«532
Daran bewahrheitet sich die zuvor formulierte These, dass in der Jugendbewegung zwar Einigkeit herrscht bezüglich der Notwendigkeit, »Schund« zu bekämpfen, nicht jedoch hinsichtlich der Kriterien, die ein Kulturprodukt zum Schundobjekt machen. Zweifellos ist die Mehrheit der jugendbewegten Schundkämpfer ästhetisch und sozialpolitisch auf der Seite der Traditionalisten und Konservativen, doch gibt es eben auch Ausnahmen.
5.3
Anleitungen zum richtigen Lesen
Neben den meist restriktiven Maßnahmen des »Schmutz-und-Schund-Kampfes« gibt es überdies Versuche, durch Anleitungen zum richtigen Umgang mit Büchern vorbeugend auf die Leser einzuwirken.533 Der am häufigsten wiederholte Ratschlag ist es, nicht zu viele Bücher zu lesen. In der »WandervogelFührerzeitung« antwortet Dietrich Bernhardi auf eine Anfrage des »Schriftleiters« Dankwart Gerlach mit einem entsprechenden Hinweis: »Du fragst bei mir an wegen guter nachdenklicher Bücher. Da muß ich Dir gleich zu Anfang bekennen: ich habe es – mit Ausnahme gewisser Knabenjahre, wo man jedes Buch verschlingt, vor allem solches, worin das vorkommt, was dem heutigen Jungen so sehr fehlt, nämlich Handlung, Geschehen – nie mit dem Viellesen gehalten, sondern mehr mit dem Gutlesen.«534 532 K. Klatte: [Rezension zu:] Klabund, Deutsche Literaturgeschichte in einer Stunde, in: Zwiespruch, 1921, H. 7, Bücherbord 4, o.S. 533 Auch Wrage: Lesesucht, S. 12, nennt »Lektüreanweisungen« als eines der Mittel im Kampf gegen die »Lesesucht«. Als Teilaspekt von Volksbildungsbestrebungen im Kaiserreich beschreibt Andreas Schumann: Nation und Literaturgeschichte. Romantik-Rezeption im deutschen Kaiserreich zwischen Nation und Apologie, München 1991, S. 92–103 sowohl Ratgeber zur »richtigen Art« des Lesens als auch Leselisten zur Auswahl guter Bücher. 534 Dietrich Bernhardi: [Ohne Titel], in: Führerzeitung, 1916, H. 12, S. 178–180, hier S. 178. Der Lektürekanon, den Bernhardi im Anschluss vorschlägt, zeigt allerdings, dass es ihm weniger um die Güte der Bücher ankommt, als vielmehr auf die Ideologie: Friedrich Ludwig
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Wilhelm Hagen wartet in derselben Zeitschrift mit dem gleichen Hinweis auf: »Es kommt nicht auf Viel-lesen an, wenn’s auch wunderschön ist, zu anderen Menschen zu gehen; denn was anderes ist das Lesen ja eigentlich nicht. Es kommt drauf an, was man herausliest aus einem Buch. Und daß man es verdaut, d. h. in sich verarbeitet.«535
Im Gegensatz zur extensiven Lektüre möglichst vieler Bücher wird die intensive Lektüre einzelner, weniger Bücher propagiert.536 Der Rückgriff auf eine Metaphorik, die ihre Bilder aus dem Bereich des Essens entlehnt – im Voranstehenden das »Verschlingen« und das »Verdauen« – lässt sich als Erbteil medizinischer Diätetik identifizieren,537 die zu einer der Ursprungsdisziplinen der LesesuchtDebatte gehört und auch in den Warnungen vor einer Beeinträchtigung der körperlichen Fitness durch zu häufige Lektüre nachwirkt. Insofern ist es kaum ein Zufall, wenn Wandern und Lesen wie im Folgenden in einen Zusammenhang gebracht werden: »Da man beim Wandern Zeit und Gelegenheit genug hat, den aufgenommenen Stoff zu durchdenken, so wird man die Erfahrung machen, daß man alles, was man auf der Wanderung liest, ganz besonders gut verdaut. Überhaupt gibt man durch die Lektüre erst Veranlassung zum Denken.«538
Grundsätzlich geht es um ein bewusstes Maßhalten: So, wie das Essen zuallererst den Hunger stillen soll, soll auch das Lesen von Büchern zweckgebunden sein. Bernhardis Erinnerung, er habe in seiner Kindheit gerade dasjenige gelesen, »was dem heutigen Jungen so sehr fehlt, nämlich Handlung, Geschehen«, kann als Warnung davor gelten, Lesen als Ersatzhandlung für einen Mangel an Erlebnissen jenseits der Welt der Bücher zu missbrauchen, so wie sich eben auch davor warnen ließe, sich nicht aus Langeweile den Bauch vollzuschlagen. Maßvoll zu lesen setzt jedoch sowohl Kenntnisse der älteren Literatur wie auch des unübersichtlichen zeitgenössischen Buchmarktes voraus. Als Hilfestellung dienen nicht nur die Rezensionsteile der jugendbewegten Zeitschriften
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Jahn, Paul de Lagarde, Johann Gottlieb Fichte, Daniel Freymann und Julius Langbehn empfiehlt er nachdrücklich und fügt ebd., S. 180 hinzu: »Ich freue mich für Jeden, der sich mit diesen fünf Deutschen bekannt macht, auf die überraschenden Überblicke und Zusammenhänge, die sie ihn [!] plötzlich eröffnen werden. Weitere, näher liegenden, brauchbaren als Cicero, Socrates, MoliHre, Diekens [!] u. a. Herren, mit denen der deutsche Jüngling unsrer Zeit seine besten Jugendjahre verhockt«. Wilhelm Hagen: Entwicklung und Bücher, in: Führerzeitung, 1917, H. 5/6, S. 84–86, hier S. 86. Vgl. zur Durchsetzung der »extensiven Lektüre« gegenüber der »intensiven Lektüre« in historischer Perspektive Engelsing: Perioden; mit kritischen Anmerkungen zu Engelsings Thesen Erich Schön: Der Verlust der Sinnlichkeit oder Die Verwandlungen des Lesers. Mentalitätswandel um 1800, Stuttgart 1987, S. 298–300. Vgl. König: Lesesucht, S. 90. Fr. Koch: Unser Buch, in: Wandervogel Monatsschrift, 1912, H. 5, S. 142–143, hier S. 142.
Anleitungen zum richtigen Lesen
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und teils kommentierte, teils unkommentierte Listen relevanter Literatur zu einem bestimmten Thema, sondern ebenso Verweise auf neuerschienene Leselisten verschiedener Provenienz in Buchform.539 In der »Wandervogel-Führerzeitung« berichtet ein Rezensent von seinen Erfahrungen mit überforderten lesehungrigen jüngeren Wandervögeln: »Wie oft wird man von Jüngeren, die gern in die deutsche Literatur eindringen möchten, die aber vor der Übermenge des Stoffes nicht aus noch ein wissen, um Rat gefragt, was sie nun eigentlich lesen sollten. Am besten ist’s ja sicher dann, wenn man aus eigener Kenntnis und Erfahrung helfen kann; doch dürfte jedem dieser Ratsuchenden ein Büchlein, wie das oben genannte, lieb sein.«540
Beim genannten Buch handelt es sich um »Die besten deutschen Romane«, den »auf Rassereinheit geprüften Werkkanon« des wichtigsten Literaturkritikers der völkischen Bewegung, Adolf Bartels.541 Die Orientierung an einem völkischen Literaturkanon soll an dieser Stelle nicht weiter thematisiert werden, und auch von Bartels wird an anderer Stelle dieser Arbeit noch eingehender zu sprechen sein. Hier soll es lediglich um das Bedürfnis nach Orientierungshilfen auf dem Buchmarkt gehen, das derart groß ist, dass es andernorts nicht einmal einer näheren Vorstellung zweier Bücher bedarf: »Ratgeber bei der Auswahl guter Bücher sind: ›Heb mich auf‹ ›Billiger Lesestoff für Lazarette und Feldtruppen‹, Flugschrift Nr. 130 Beide herausgegeben vom Dürerbund, Verlag Georg D.W. Callwey in München.542
Die Nennung der Titel und der Hinweis, worum es sich bei den genannten Publikationen handelt, reichen in den Augen der Herausgeber offenkundig aus, um den Lesern zu signalisieren, dass die Anschaffung unter Umständen lohnenswert sein könnte. Zu den Ratschlägen zum Umgang mit Büchern gehört es auch, vor einer zu frühen oder unvorbereiteten Lektüre zu warnen: »Wer gerade keine Gelegenheit hat, praktische oder mündliche Unterweisung zur Wanderkunst zu erhalten, der will wenigstens die reichen Schätze der Bücher aus der Bewegung – für die Bewegung zu Rate ziehen. Wir wissen, daß wir das Lernen aus Büchern, insbesondere das Erlernen einer Kunst, nicht allzu hoch veranschlagen 539 Vgl. zur Gattung der Leselisten auch Engelsing: Perioden, S. 993f. 540 Rudolf Schmidt: [Rezension zu:] Adolf Bartels, Die besten deutschen Romane, in: Führerzeitung, 1917, H. 12, S. 181. Vgl. zu Bartels’ Literaturkanon auch Oliver Pfohlmann: Literaturkritik in der literarischen Moderne, in: Anz, Baasner (Hg.): Literaturkritik, S. 94–113, hier S. 109. 541 Pfohlmann: Literaturkritik, S. 109. 542 Wandervogel Monatsschrift 1916, H. 3, S. 60. Dort sind darüber hinaus lediglich die hier nicht wiedergegebenen Preise der Bücher genannt.
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Die Wirkung von Literatur
dürfen. Vor allem für die ersten Anfänge nicht. Sind wir dagegen erst in der lebendigen Erprobung ein wenig ›erfahren‹, so kann uns dies oder jenes Buch als ›Hilfsbuch‹ immerhin allerhand Nutzen bringen.«543
Zwar geht es hier um Bücher, die bei der fachgerechten Durchführung einer Wandervogelfahrt helfen sollen, doch lässt sich die Aussage generalisieren und auf andere Gattungen übertragen: Bücher können und sollen kein Ersatz für Erlebnisse und Erfahrungen sein, die im »wirklichen Leben« zu machen sind. So stellt Albrecht Meyen in einer Auseinandersetzung mit der Bedeutung Hermann Löns’ für den Wandervogel fest: »Im allgemeinen wird man aus Büchern die Natur wenig kennen lernen. Liebe und Freude lassen sich nicht ›lernen‹ noch in ein bewährtes Schema pressen, sie wollen erlebt sein. Auch aus den Lönsschen Schilderungen, so prächtig sie sind, kann man nicht Naturlernen. Doch sind sie in hohem Grade dazu geeignet, anregend zu wirken und in uns die Freude an die Natur wiederzuerwecken.«544
Trotz des enormen Wirkungspotentials, das Literatur zugeschrieben wird, sind Äußerungen wie die jenes Freideutschen selten, für den »[n]achhaltiger als vorbeirauschende Rede, einmal gehörter Vortrag, […] lebendig gewordenes Buch [wirkt]« und der seine Leser aus diesem Grund auffordert, ihren Freunden Bücher zu schenken, »die euch trafen, erweckten, erneuerten«.545 Häufiger ist eine skeptische Haltung gegenüber Büchern anzutreffen, deren Ambivalenz und Widersprüchlichkeit im »Weißen Ritter« mit seinen VerlegerHerausgebern Ludwig Voggenreiter und Friedrich Habbel besonders deutlich wird.546 Einer bei ihnen zu erkennenden »Aversion gegen jedes ›Literatentum‹« – worunter gleichermaßen solche Texte zu verstehen sind, die ihre Entstehung lediglich ökonomischen Gründen verdanken als auch solche, die nur einer aktuellen Mode folgen547 – steht als »Legitimationsstrategie« entgegen, »das eigene Werk nicht als ›Literatur‹, sondern als Lebenswirklichkeit zu klassifizieren«,
543 Friedrich Wilhelm Fulda: Hilfsbücher für Wanderführer, in: Zwiespruch, 1922, H. 19, Bücherbord 5, S. 1–3, hier S. 1. 544 Albrecht Meyen: Hermann Löns – und wir, in: Alt-Wandervogel, 1919, H. 6/7, S. 94–96, hier S. 96. 545 Erich Mohr: Das Buch im Dienste der Ideenwerbung, in: Freideutsche Jugend, 1919, H. 4, S. 186. 546 Hierauf hat bereits Ulbricht: »Weißer Ritter«, S. 168f. hingewiesen. 547 Vgl. hierzu auch Voggenreiter : Verlag und Jugendbewegung, in: Weißer Ritter, 1922/23, H. 4/5/6, S. 228–231, hier S. 230: »War nicht bisher der meist übliche Gedankengang etwa folgender : Hier vermute oder kenne ich ein bereits vorhandenes Bedürfnis, also kann ich soviel an Verlagswerken wagen. Nun aber entsteht vor der Feststellung des Bedürfnisses ein Wissen um eine Notwendigkeit und nach ihm ein unbedenkliches gutgläubiges Wagen«. Vgl. zur Kritik am »Literatentum« auch das folgende Kapitel über Autorschaft.
Anleitungen zum richtigen Lesen
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wofür sie sich kulturkritischer und lebensphilosophischer Maximen bedienen.548 Im Hintergrund steht im Kreis um den »Weißen Ritter« eine Idee charismatischen Führertums,549 das auf persönlichen Kontakt ausgelegt ist und zu dessen Ausübung es doch der Schrift bedarf. Bereits im programmatischen »Geleitwort« zur ersten Nummer der Zeitschrift geben die Herausgeber ihrem sich aus diesem Widerspruch ergebenden Kummer Ausdruck: »Es gehört zum Peinlichsten, was es für uns gibt, daß die geistige Bewegung, der wir dienen, nicht auf die gewöhnlichen Mittel verzichten kann, um die Verbindung zwischen ihren Trägern herzustellen und ihren Gedankeninhalt weiter zu verbreiten.«550
Ihrer Feststellung, dass es »[heute] [d]as geschrieben Worte ist […], das zu den Menschen dringt und sie aufzufinden versteht und das ihnen am nachhaltigsten gegenwärtig bleibt«,551 ist ein Bedauern inhärent, das Trost in der Hoffnung findet, dass dieser Zustand sich einst ändern möchte. Im Anschluss an das »Geleitwort« kommt Ludwig Voggenreiter erneut in einem weiteren programmatischen Beitrag »Von dem Schrifttum« zu Wort, den er mit seiner grundsätzlichen Ansicht eröffnet, »daß eine geistige Bewegung wie unsere in Wahrheit sich nur von Mensch zu Mensch fortpflanzen könne«.552 Aber auch in diesem Artikel argumentiert Voggenreiter dennoch für die Notwendigkeit des gedruckten Wortes: »Vor allem halte ich nicht unbedingt daran fest, daß dieses Wort: Von Mensch zu Mensch durchaus in wörtlichem Sinne gebraucht werden muß. Freilich, das ist sicher, auf geistige und körperliche Bindungen durch Personen ist unsere Bewegung angewiesen, mehr als ein oberflächlicher Beobachter zu erkennen vermag, aber das schließt nicht aus, daß es noch eine andere Möglichkeit der Bindung und Führung, der Verbreitung der Idee gibt, und die liegt im Schrifttum. Man muß sich vor dem Irrtum hüten, es wäre möglich, durch das Schrifttum Menschen für die Idee zu gewinnen, die zu ihrer Erfassung unfähig sind. Es ist immer unnütze Kraftverschwendung sich dieser Täuschung hinzugeben. Das Schrifttum kann nur dazu dienen denjenigen Menschen, 548 Ulbricht: »Weißer Ritter«, S. 168. 549 So auch Siefert: Aufbruch, S. 50–54, dessen Ausführungen – es sei erneut gesagt – zwar der kritischen Distanz des Wissenschaftlers entbehren, durch eine Fülle an Zitaten allerdings einen guten Eindruck der um »Führertum und Gefolgschaft« kreisenden Gedanken der Neupfadfinder vermittelt. Vgl. darüber hinaus Reulecke: Hie Wandervogel – hie Pfadfinder, S. 64 sowie S. 69, der zeigt, dass gerade in der Ablösung einer »[h]ierarchische[n] Feldmeisterordnung mit Gehorsamsverpflichtung« durch ein »charismatisches Führertum mit treuer Gefolgschaft« ein wesentlicher Unterschied zwischen dem älteren Pfadfindertum und den Ideen der Neupfadfinder zu suchen ist. 550 Habbel, Sonntag, Voggenreiter : Geleitwort, S. 4. Ulbricht: »Weißer Ritter«, S. 166, stellt dieses Zitat einem Abschnitt seines Aufsatzes zur Zeitschrift voran. 551 Habbel, Sonntag, Voggenreiter : Geleitwort, S. 5. 552 Ludwig Voggenreiter : Von dem Schrifttum, in: Weißer Ritter, 1919/20, H. 1, S. 7.
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Die Wirkung von Literatur
die zur Aufnahme des Ideengehalts befähigt oder bestimmt sind, das Finden zu erleichtern und die Verbindung zwischen Gleichstrebenden herzustellen, ohne deren Wege deswegen zusammenlegen zu wollen. Und das Dritte ist, daß der Führer zu seinem Volk sprechen kann. Der wahre Führer wird zwar diese Möglichkeit stets für das halten, was sie ist, für einen Behelf, denn er weiß, daß es besser ist, wenn der die Menschen, die er zu binden vermag, um sich versammelt hat und in der Gemeinschaft zu ihnen sprechen kann, aber er wird nicht auf das Behelfsmittel verzichten, wenn ihm das andere versagt ist.«553
An der Idee einer sich in und durch körperliche Anwesenheit ausübenden Führerschaft hält Voggenreiter demnach fest. Aber angesichts einer weitverzweigten Gruppierung wie der der Neupfadfinder, die schon in ihren Anfängen regionale Zentren mit einer erheblichen geographischen Distanz in Regensburg, Berlin und Sachsen hatte, lässt sich schwerlich auf das »gewöhnliche Mittel« der Kommunikation qua Zeitschrift und Buch verzichten, um untereinander in Kontakt zu bleiben und die Ideen und Ideale des Führungskreises weiter zu verbreiten. Voggenreiter lässt jedoch keinen Zweifel daran, dass das Medium der Schrift nur ein unumgänglicher Notbehelf ist, dessen Einflussmöglichkeiten er überdies einschränkt. Im Gegensatz zum verbreiteten Glauben an die unmittelbare Wirkung von Literatur versteht er das »Schrifttum« lediglich als Resonanzkörper, der eine zuvor schon vorhandene Empfänglichkeit für bestimmte Ideen verstärken kann, sie jedoch nicht auszulösen vermag. Dieses ambivalente Verhältnis des Verlegers Voggenreiter zum Buch wird ebenso in einem wenige Jahre später veröffentlichten Artikel über die Aufgaben und Möglichkeiten eines jugendbewegten Verlagsbuchhändlers deutlich: »[…] Es ist Notzeit in Deutschland! […] in der gerade die umbrandete Jugendbewegung einen Rückhalt und dauernde Verbindung so dringend wie das tägliche Brot braucht, nachdem sie bisher der Überwindung ihres lokalen Getrenntseins wenn überhaupt, so nur wenige Schritte näherzukommen ist [!]. Es ist also offensichtlich, daß hier [im Verlagswesen, M.L.] eine der stärksten Positionen der Jugendbewegung gehalten und ausgebaut werden muß, vor deren Unterschätzung und Nichtbeachtung ebenso wie vor deren Überschätzung zu warnen ist, wenn sie glauben sollte, ohne das entscheidende, immer abseits von Büchern stehende bluthafte Leben etwas durchsetzen zu können.«554
Was hier bei Voggenreiter als Dichotomie zwischen den Büchern und dem »bluthaften« Leben erscheint, durchzieht als Unterscheidung zwischen »Kunst« und »Leben« die gesamte Debatte um Nutzen und Nachteil des Lesens in der Jugendbewegung. Damit greift sie eine durchaus zeittypische Diskurslage auf, 553 Ebd. 554 Voggenreiter : Verlag, S. 231. Der Artikel ist Teil eines Heftschwerpunktes über Berufe, zu dem unter anderem auch der bereits zitierte Aufsatz von Karl Rauch über »Die kulturellen Aufgaben und Möglichkeiten des Jungbuchhändlers im Sortiment« gehört.
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die vom l’art pour l’art und den künstlichen Welten des Ästhetizismus, den Forderungen nach einer lebensnahen Sprache und lebensnahen Handlungsorten und Figuren im Naturalismus, den Diskussionen in den literarischen Gruppen im Umfeld der Lebensreformbewegung, der Entwicklung Stefan Georges zum pädagogisch wirkenden »Meister« bis hin zum Lebenspathos des Expressionismus reicht.555 Manche der Beiträge in den Zeitschriften der Jugendbewegung, namentlich die nach dem Weltkrieg entstandenen, wirken dabei zwar mitunter, als seien sie um ein weniges aus der Zeit gefallen, als würden Schattengefechte gegen eine »Kunst um der Kunst willen« geführt, die es so schon nicht mehr gibt. Gewiss ist auch viel Vorurteil im Spiel, einer nur flüchtigen Kenntnis zeitgenössischer Kunst geschuldet, die mehr als nur einmal lediglich aus zweiter oder dritter Hand stammen mag, ebenso ein genereller Unwille, sich überhaupt auf innovative Neuerscheinungen einzulassen. Dieser unzeitgemäße Aspekt der Diskussion um Literatur in der Jugendbewegung ist sicherlich nicht irrelevant. Vorwürfe sind innerhalb der Rezeptionsgeschichtsforschung jedoch wenig hilfreich, und so muss an dieser Stelle die Entgegensetzung von »Kunst« und »Leben« als dauerhaftes Argument innerhalb des Literaturkonzeptes der Jugendbewegung konstatiert werden, gleichwie treffend es in Bezug auf die je neueste zeitgenössische Literatur sein mag. Wenn auch teilweise radikale Lösungen gefordert werden, die Hoffnung auf einen »Büchersturm« ausgesprochen und die »Vernichtung der Bibliothek von Alexandrien durch Cäsar« als »verdienstvollste Tat der alexandrinischen Epoche« gefeiert wird,556 gibt es doch zahlreiche Ansätze zu einer Vermittlung von ›Kunst‹ und ›Leben‹, die für das Literaturkonzept der Jugendbewegung als zentral gelten können. Sie reichen von der produktionsästhetisch gedachten Auflösung des Gegensatzes im ›authentischen Kunstwerk‹ über den rezeptionsästhetisch gedachten Wunsch nach einem ›Lesen als Erlebnis‹ bis hin zum konsequenten Lebensbezug jeder Literatur, genauer, dem Bezug jedes Lesens auf das eigene Leben. Dies wird in den folgenden Analysekapiteln
555 Martin Lindner: Leben in der Krise. Zeitromane der Neuen Sachlichkeit und die intellektuelle Mentalität der klassischen Moderne, Stuttgart u. a. 1994 vertritt die These, dass die zugrundeliegende Weltanschauung bis in die 1950er Jahre wirksam bleibe. Es handelt sich um eine »Lebensideologie«, deren zentrale Denkstruktur einen Gegensatz zwischen »›starrer‹ Oberflächen-›Form‹ und der dahinter / darunter befindlichen nichtindividuellen und dynamischen ›Ganzheit‹ des ›Lebens‹« (S. 5) konstruiert, die bei Voggenreiter eben als Polarität von Büchern und »bluthaftem« Leben wiederkehrt. 556 S.: Überschätzung, S. 167. Ein Wunsch und eine Forderung überdies, die bereits vom »Rembrandtdeutschen« formuliert wurden. Vgl. [Julius Langbehn]: Rembrandt als Erzieher. Von einem Deutschen, Leipzig 1925, S. 47, wo er voller Hoffnung Zeichen für eine »Erlösung vom papiernen Zeitalter« erkennt.
6.
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Der Schriftsteller und Journalist Manfred Hausmann konnte bereits auf ein beachtliches Œuvre zurückblicken, als er sich im Alter von 54 Jahren für ein Merian-Heft über das Werratal an seine Jugenderlebnisse im Wandervogel erinnerte: »Wenn ich nicht durch die deutsche Jugendbewegung während meiner Göttinger Schuljahre mit der Landschaft, dem Volkslied, dem Laienspiel auf das innigste bekannt geworden wäre, würde mein Leben wohl einen anderen Verlauf genommen haben. Ich möchte meinen, daß der Wandervogel mich davor bewahrt hat, ein ›Literat‹ zu werden.«557
Beim abschätzigen Urteil über den Beruf des »Literaten« handelt es sich im Kontext der Jugendbewegung keineswegs um eine Idiosynkrasie Hausmanns, dessen Sozialisation im Wandervogel immerhin nicht einer späteren Karriere als »Dichter« im Weg stand. Vielmehr gehört die abfällige Rede vom »Literaten« zu den topischen Aspekten jugendbewegter Literaturkritik. Bereits dreißig Jahre zuvor brachte der Verfasser jener schon im vorigen Kapitel zitierten Warnung vor einer »Überschätzung der Kunst« sein Urteil über diesen Schriftstellertypus mit der Forderung zum Ausdruck: »Jeder Literat sei von vornherein mit Verachtung belegt, die ausdrücklich bestehen bleibt, wenn er wirklich nur Literat ist. Nur was einer als Mensch ist, gilt; was er sonst noch treibt, ist völlig belanglos.«558
S. verbindet damit die Hoffnung, dass »alles Unkraut verschwinden« werde, »wo man mit der Kunst weder Geld noch Ruhm mehr erwerben« könne.559 Deutlich wird eine Nähe zu den Boykottaufrufen des Schmutz- und Schundkampfes, dessen Semantik auch in anderer Hinsicht aufscheint. Die unter den Schund557 Zitiert nach Jürgen Reulecke: Manfred Hausmann, in: Stambolis (Hg.): Jugendbewegt geprägt, S. 357–367, hier S. 359. 558 S.: Überschätzung, S. 166. 559 Ebd., S. 166f.
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kämpfern verbreitete Unterscheidung zwischen einer markt- und konsumorientierten Kultur einerseits und einer an ideellen Werten orientierten Kultur andererseits gehört zur konnotativen Umgebung der in beiden Zitaten aufgerufenen »deutsche[n] Besonderheit«560, zwischen »Dichtung« und »Literatur«, zwischen dem »Dichter« und dem »Literaten« bzw. dem »Schriftsteller« zu unterscheiden. Die Entstehungszeit dieser Dichotomie ist in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu suchen und sie erlebt um 1900 eine Blütezeit.561 Im Laufe von einem Jahrhundert war »[d]er jüngere Begriff des ›Schriftstellers‹ zum Peiorativ geworden, der alte Begriff des ›Dichters‹ wurde enger spezifiziert, des Charakters einer Berufsbezeichnung entkleidet und zur Würde eines Titels erhoben«.562 Wesentlich ist der Entgegensetzung die Irrationalisierung des Arbeitsprozesses des »Dichters«, während dem »Literaten« eine übermäßige Betonung rationaler Momente zu Lasten des Gefühls angekreidet wird, die Darstellung der »schlechten Wirklichkeit« statt der Offenbarung eines Ideals und schließlich das Schreiben einzig um des Gelderwerbes willen.563 Für S., den Verfasser jenes Artikels aus dem »Weißen Ritter«, ist Thomas Mann das markanteste Beispiel für den inkriminierten Schriftstellertyp des »Literaten«: »Bei ihm ist auch die letzte und seltsamste Blüte dieses Literatentums zu studieren, nämlich die ganz ernsthaft auftretende Meinung, daß die Kunst eine Leistung sei, daß also ein Mensch, wenn er nun einmal trottelhaft und lebensuntüchtig geboren ist, dies durch Schilderung seiner unglücklichen Existenz in möglichst meisterhafter Form, oder überhaupt durch Anfertigung von trefflichen Kunstwerken ausgleichen könne. Die Kunst tritt hier in scharfen Gegensatz zum Leben, sie ist aus der Not heraus geboren und eigens für die Menschen da, die es im Leben zu nichts bringen. Das Schaffen eines Kunstwerks gilt bei Thomas Mann als ethische Leistung, die einen ethischen Lebenswandel ersetzen kann.«564
Die Ausführungen erinnern in bemerkenswerter Weise an Nietzsches Theorie des Ressentiments, wie er sie vor allem in seiner »Genealogie der Moral« entwickelt hat. Während dort die Entstehung der christlichen Moral auf das Moment sozialer Schwäche und Unterordnung zurückgeführt wird, die in Akten der Umwertung in positive Werte umgedeutet werden, führt S. die Ausbildung des 560 Wolf Lepenies: Die drei Kulturen. Soziologie zwischen Literatur und Wissenschaft, Reinbek bei Hamburg 1988, S. 265. Vgl. zum ideengeschichtlichen und konnotativen Umfeld außerdem Bollenbeck: Bildung. 561 Vgl. Lepenies: Kulturen, S. 265–272, der dies anhand Stefan Georges, Rudolf Borchardts und Hugo von Hofmannsthals exemplifiziert. 562 Klaus Schröter : Der Dichter, der Schriftsteller. Eine deutsche Genealogie, in: Akzente. Zeitschrift für Literatur, 1973, Jg. 20, S. 168–188, hier S. 168. 563 Vgl. hierzu ebd. 564 S.: Überschätzung, S. 165.
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»Literatentums« auf das Moment individuellen, biographischen Scheiterns zurück. Die Schilderung der Folgen lässt einen Einfluss Nietzsches bis in die Wortwahl hinein erkennen: »Der trottelhafte, lebensuntüchtige Mensch sieht sich nun plötzlich hoch über den Gesunden, Tüchtigen, Natürlichen erhoben: das Mittel, das ihm zu dieser Ehrenstellung verholfen hat, ist die Kunst. Das Absurde einer solchen Einstellung braucht gar nicht dargelegt werden. Sie stellt so ziemlich alles Vernünftige und Natürliche auf den Kopf und läuft schließlich auf die Herrschaft der Mißratenen und Schwachen über die Gesunden und Tüchtigen hinaus.«565
Die bereits bekannte Kritik des Kreises um den »Weißen Ritter« am Prinzip der l’art pour l’art findet hierin ihre Fortsetzung und wird ergänzt um eine moralisch aufgeladene Kritik am Autor, die sich sowohl auf seinen Charakter als auch auf seine Arbeitsweise und seine Dichtung erstreckt. In Verkennung der Differenz von Autor und Figuren und unter Missachtung aller Ironie,566 die das Werk Thomas Manns prägt, werden seine Texte als »Bekenntnisdichtungen«567 interpretiert, deren Protagonisten die zweifelhafte psychische Konstitution und Lebensführung ihres Schöpfers widerspiegelten – wobei Zweifel angebracht sind, ob sich das Urteil von S. tatsächlich eigener Lektüre verdankt oder lediglich auf Hörensagen beruht. Auch wenn die Polemik durch ihre Radikalität im untersuchten Zeitschriftenkorpus heraussticht, lassen sich in diesem Aufsatz bereits wesentliche Züge jugendbewegter Vorstellungen von Autorschaft erkennen. In deren Zentrum steht die Annahme eines autobiographischen Entstehungshintergrundes von Literatur, die in der normativen Forderung nach einer Einheit von »Kunst« und »Leben« mündet. Allerdings ist der geforderte Zusammenhang von »Kunst« und »Leben« hierarchisch strukturiert. Lebensweltliche Standards werden bei der Wertung von literarischen Texten kunstinternen Wertungskriterien vorgezogen, indem ein Primat des »Lebens« vor der »Kunst« behauptet wird: »Das Leben, und das gilt in ganz besonderem Maße für unsere Zeit, ist wichtiger als die Kunst. Die Gestaltung des Lebens, das freie, ethische, adelige Dasein ist die Voraussetzung für eine gleiche Gestaltung des Weltbildes in der Kunst. Kunst um der Kunst willen bedeutet Entartung […].«568 565 Ebd. 566 Es entbehrt wiederum selbst nicht einer gewissen Ironie, dass Thomas Mann in seinen »Betrachtungen eines Unpolitischen« von der Unterscheidung zwischen dem »Dichter« und dem »Literaten« – genauer : dem »Zivilisationsliteraten« – Gebrauch macht. 567 S.: Überschätzung, S. 165. 568 Ebd., S. 167. Es fällt schwer, in den Ideen und der Semantik von S. anderes zu sehen als Vorboten des Nationalsozialismus. Dies hat sich bereits bei den im vorigen Kapitel erwähnten Phantasien umfangreicher Bücherverbrennungen angedeutet und findet in den hier zitierten Passagen seine Fortsetzung. Die Vernichtungsphantasien bleiben nicht ein-
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Das hat Folgen für die Beurteilung einzelner Bücher, aber auch das Lesens generell: Beides geschieht stets in Rücksicht auf die Funktionen für das individuelle Leben jenseits der Lektüre, die, wie im vorigen Kapitel gezeigt, vielfach skeptisch eingeschätzt werden. Die Beziehung zwischen Autor und Text, die im Zentrum von Theorien der Autorschaft steht,569 wird daher in der Jugendbewegung nicht als quasi objektives Verhältnis konzeptualisiert. Sie ist als elementarer Bestandteil des gesamten Literaturkonzeptes auf dessen andere Elemente, insbesondere auf die Funktionalität von Literatur bezogen, was nichts daran ändert, dass die jugendbewegten Aussagen über Autorschaft als objektive Wahrheiten über Literatur, Kunst und ihren Entstehungsprozess ausgestellt werden. Die Hierarchisierung von »Kunst« und »Leben« wird dort besonders deutlich, wo Schriftsteller selbst zum Objekt der literaturkritischen Wertung werden, indem beispielsweise gefragt wird, ob Autoren den Ansprüchen an ein »ethisches Dasein« genügen.570 Dabei werden teilweise Rückschlüsse von Texten auf ihre Verfasser gezogen, teilweise werden Autoren aber auch weitgehend unabhängig von ihrem Werk allein aufgrund biographischer Kenntnisse oder Mutmaßungen über die Schriftstellerbiographie bewertet. Das Primat des Lebens gilt allerdings auch produktionsästhetisch, und auch hier ist der Dreh- und Angelpunkt die funktionale Nutzung und Aneignung von Literatur. Immer wieder begegnet in den literaturkritischen Texten der Jugendbewegung – als Wunsch oder als Tatsachenbehauptung – die Vorstellung, es handele sich bei den in Frage stehenden Texten um den Ausdruck des ›Erlebens‹ oder der ›Persönlichkeit‹ ihrer Verfasser. Innerhalb dieses produktionsästhetischen Paradigmas lassen sich zwei Modelle unterscheiden. Das eine Modell zielt auf ein Ideal der »Referenzauthentizität«, bei dem es um die Faktizität des Erzählten geht und bei der der Autor als Referenzinstanz fungiert. Durch seine erworbenen Kenntnisse tritt er als Experte auf und gewährleistet gleichzeitig die Wahrheit des Erzählten. Das andere Modell verweist auf ein Ideal künstlerischer »Subjektauthentizität«, das durch den unmittelbaren Ausdruck der Persön-
mal auf Bücher beschränkt, sondern richten sich auch gegen Menschen, wenn der Verfasser ebd., S. 166, sich wünscht, dass die »ganze heillose Bande« der Freideutschen Jugend, »welche in Baretten auf Universitäten herumzieht und dort in meist völlig unbrauchbaren literarischen, philosophischen und kunsthistorischen Vorlesungen sielt, […] restlos ausgerottet werden [sollte]«. 569 Vgl. Matthias Schaffrick: In der Gesellschaft des Autors. Religiöse und politische Inszenierungen von Autorschaft, Heidelberg 2014, S. 32. 570 Dass es dabei meist um die Bestätigung der eigenen Moralvorstellungen und des eigenen Weltbildes ging, hat bereits Pross: Jugend, S. 338f. in einem launigen Kommentar zum Aufsatz über die »Überschätzung der Kunst« festgestellt.
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lichkeit, des »Wesens« des Autors im literarischen Werk, verwirklicht werden soll.571
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Unter dem Titel »Etwas von Büchern« veröffentlicht die Bundeszeitschrift des Jung-Wandervogel in ihrer ersten Nummer einen Artikel von Werner Firle, der seinen Aufsatz mit der Annahme einleitet, »daß alle meine Wanderbrüder gern lesen, und zwar mit Vorliebe Bücher, die vom Wandern handeln«.572 Auch wenn das Motiv des Wanderns in den empfohlenen Büchern mitunter lediglich einen Nebenaspekt darstellt – so wird neben »Peter Camenzind« auch Hesses »Unterm Rad« gelobt, das wohl kaum als »Wanderliteratur« gelten kann, und mit John Henry Mackays Roman »Der Schwimmer« ein Buch, dessen Handlung um den Wassersport kreist – ist eine grundsätzliche Affinität des Wandervogels zu wandernden Protagonisten literarischer Texte nicht zu leugnen. Zum Schluss des Artikels ruft Firle seinen Lesern zu: »Ihr Jüngeren! Interessiert euch nicht nur immer für Karl May, F. Treller, Cooper, Ferry usw. Scheffel-Romane passen für die deutsche Jugend viel mehr als diese verlogenen Indianergeschichten, die man das erstemal mit glühenden Wangen liest, die man aber später still im Winkel verschwinden läßt.«573
In der Besprechung einer Neuauflage von Karl Stielers kulturhistorischen Reiseschilderungen »Bilder aus Bayern« wiederum sieht sich der anonyme Rezensent in der »Monatsschrift« dazu veranlasst, eingangs einige allgemeine Bemerkungen zur Reiseliteratur zu machen: »Wenn jemand sich für eine Reise vorbereitet, so darf man wohl glauben, nimmt er nicht nur den trockenen Reiseführer, sondern sucht wohl auch nach Büchern, die ihm in wissenschaftlicher Richtung weiteren Aufschluß über das bereiste Gebiet gewähren. Die alten Schriftsteller sind nicht die ungeeignetsten, man soll sie zu solchem Zwecke viel eher hervorsuchen, als moderne Effektdichter und Feuilletonschreiber. Sie sind meist gründlicher, dabei wanderfreudiger und lebenswahrer als alles, was in unserem Reisezeitalter so geschwind gesehen, geschrieben und gedruckt wird.«574
Die Autoren verlogener Indianergeschichten, Effektdichter und Feuilletonschreiber auf der einen Seite, wanderfreudige und lebenswahre alte Schriftsteller 571 Vgl. zur Terminologie Susanne Knaller : Ein Wort aus der Fremde. Geschichte und Theorie des Begriffs Authentizität, Heidelberg 2007, S. 21f. 572 Firle: Etwas von Büchern, S. 12. 573 Ebd. 574 Anonym: [Rezension zu:] Karl Stieler, Bilder aus Bayern, in: Wandervogel Monatsschrift, 1912, H. 6, S. 189.
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auf der anderen Seite: Anhand dieser einfachen, autorbezogenen Opposition, die ihre Kategorien im Wesentlichen dem Schundkampf entlehnt, erfolgt die Wertung von Reise- und Wanderliteratur. Was diese jenen voraushaben sollen, ist zunächst und vor allem, dass sie von Dingen schreiben, die sie selbst erlebt und erfahren haben, statt über Dinge, die lediglich ihrer Phantasie entsprungen seien. Mit dem Schlagwort der »Effektschreiberei« ist darüber hinaus der Vorwurf verbunden, entsprechende Autoren würden ihre Texte lediglich im Hinblick auf eine affektive Wirkung verfassen statt sich an den Kriterien der »Lebenswahrheit« und der »Gründlichkeit« zu orientieren. Dass zu den solcherart gelobten Schriftstellern Theodor Fontane gehört, ist wenig überraschend. Seine »Wanderungen durch die Mark Brandenburg« tragen bereits im Titel die in der Jugendbewegung bevorzugte Art der Fortbewegung, und die von ihm beschriebene Landschaft ist hinreichend nah am Epizentrum des Wandervogels, um schon in der Frühzeit der Bewegung ein vielbeachtetes Werk zu sein, ganz zu schweigen von Fontanes Status als renommiertem und etabliertem Autor.575 In einem Artikel anlässlich seines 100. Geburtstags wird er im »Landfahrer« gerühmt als »[e]in Wanderer durch fremde Lande und heimische Auen, durch alle Wechselfälle der Zeit und das bunte Getriebe der Städte, ein Wanderer durch sein eigenes Leben. Mit gelassener, philosophierender Heiterkeit und feinem Humor, mit scharfen hellen Augen und warmer ungeteilter Liebe schritt er zu den Dingen und Menschen, die er beschreiben wollte … beschrieb, was Schauen und Lauschen ihm schenkte«.576
Auch wenn andere genauer sind in ihrer Lektüre und die Vorstellung von Fontane als wanderndem Dichter dahingehend einschränken, dass er eigentlich »›nicht das Glück hatte, zu den Dichterläufern zu gehören‹ und sich infolgedessen per Achse von Ort zu Ort auf miserablen Sandwegen dahintrudeln lassen musste«,577 ist die Bewunderung für seine Methode, nur das aufzuschreiben, was 575 Fontanes Erfolg stellte sich freilich erst spät ein und verdankte sich kaum seinen Reiseschilderungen, sondern den erst spät in seinem Leben entstandenen Romanen. Vgl. hierzu Bernd W. Seiler : Theodor Fontane oder Die neue Bescheidenheit, in: Wolfgang Braungart (Hg.): Verehrung, Kult, Distanz. Vom Umgang mit dem Dichter um 1900, Tübingen 2004, S. 259–278. 576 H. K.: Theodor Fontane. Zu seinem hundertsten Geburtstag am 30. Julmonds 1919, in: Landfahrer, 1919, H. 12, S. 8–10, hier S. 8. 577 Siegfried Copalle: Eine Winterwanderung. Gedanken und Bilder, in: Nachrichtenblatt, 1905, H. 1, S. 8–10, hier S. 8f., der die Vorrede zur zweiten Auflage der »Wanderungen« zitiert. Vgl. hierzu auch Blüher : Wandervogel II, S. 11, der über eine Fahrt unter der Leitung von Siegfried Copalle berichtet: »Er [Copalle, M.L.] verbreitete Meinungen und Lehren, die den orthodoxen Fischer-Freunden [den Anhängern Karl Fischers, M.L.] höchst befremdlich vorkommen mußten, so viel Gutes auch sonst an ihnen war. ›Die Landschaft‹, so sagte er einmal, ›kann man eigentlich nicht recht genießen, wenn man zu Fuß reist. Die beste Art ist immer der Wagen. Man kann da von einer höheren Warte aus Bäume und Felder unter sich liegen sehen. Dieses Hetzen zu Fuß ist recht barbarisch. Fontane reiste immer im
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er selbst gesehen und gehört habe, uneingeschränkt. Gleiches gilt für den wiederholt in einem Atemzug mit Fontane genannten August Trinius.578 Der Wunsch, Reiseberichte möchten von echten Kennern der Materie geschrieben sein, die sich nicht nur am Schreibtisch über Geographie, Kulturgeschichte, Bräuche und Sagen einer Region informiert haben, sondern während eigener Aufenthalte und intensiver Recherchen vor Ort, gehört zu den Anforderungen des Genres.579 Autorschaft präsentiert sich dabei als Vermögen einer mimetischen Beschreibungskunst der Wirklichkeit, die zwar changiert zwischen der Vorstellung reiner Abbildung einerseits (paradigmatisch der auf ein Gerüst von Fakten reduzierte Reiseführer) und ästhetisch durchformter Darstellung andererseits (paradigmatisch der literarisch anspruchsvolle Reisebericht). Sie bleibt jedoch stets auf die durch eigene Reisen erworbenen Kenntnisse des Schriftstellers bezogen. Der Autor garantiert die Faktizität des Berichteten. Immer wieder wird in diesem Zusammenhang mit Oppositionen argumentiert, die in ihrer Eindrücklichkeit keinerlei Zweifel aufkommen lassen, auf welcher Grundlage ein gutes Buch zu schreiben sei: »Mit Freuden las ich, was er [der Verfasser des rezensierten Buches, M.L.] über das rechte Rasten auf den Fahrten sagte, wie genußreich und wertvoll auch die Ruhe auf dem Marsche ist. Dabei fiel mir die Verfügung einer Behörde in Münster ein, die auf dem umgekehrten Standpunkt bestand. Aber hier war es Schreibtischweisheit, nicht wie bei jenem, erlebt und erwandert.«580
Was derart als ideales Modell von Autorschaft präsentiert wird, ist das des »h&stor, der in seiner älteren Wortbedeutung beansprucht, das Vorfindliche selbst erkundet und in Augenschein genommen zu haben«, und damit als »Gegenfigur des Theoretikers« etabliert wird.581 Erneut kommt jene bereits im vorigen Kapitel beschriebene Theorie- und Buchskepsis zum Ausdruck, deren untergründige Quellen sich in diesem Fall bis ins 17. Jahrhundert zu Francis
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Wagen«. Auch hier handelt es sich um eine Paraphrase jener Vorrede. Fraglich ist aber, ob sich die Geschichte tatsächlich so zugetragen hat oder ob sich Blüher lediglich bei Copalles Aufsatz bedient hat. Vgl. hierzu Anonym 1909: Eine Wandervogelbücherei, in: Nachrichtenblatt, 1909, H. 6, S. 38–42, hier S. 39 sowie H-r [d.i. vermutlich Lothar Hebererer]: [Rezension zu:] August Trinius, Vom eigenen Haus und Leben. Erinnerungsblätter, in: Zwiespruch, 1920, H. 22, Bücherbord, o.S. Der Sonderfall von Reiseberichten aus fiktionalen Welten kann hier ausgeklammert bleiben. Vgl. grundsätzlich zu Fragen der Authentizität und Medialität von Reiseberichten Ansgar Nünning: Zur mehrfachen Präfiguration / Prämediation der Wirklichkeit im Reisebericht: Grundzüge einer narratologischen Theorie, Typologie und Poetik der Reiseliteratur, in: Marion Gymnich, Ansgar Nünning, Vera Nünning u. a.: Points of arrival: Travels in time, space and self, Tübingen 2008, S. 11–32. Der olle Heß: [Rezension zu:] H.[ermann] Raydt, Fröhlich Wandern, in: Jung-Wandervogel, 1912, H. 7, S. 109f., hier S. 110. Ralf Konersmann (Hg.): Kritik des Sehens, Leipzig 1997, S. 23.
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Autorschaft
Bacon und Galileo Galilei zurückverfolgen lassen. Wissenschaftshistorisch ist es die Optik, deren Entwicklungen das Vokabular und die Argumente liefert: »Mit dem Sehen kommt eine Konkurrenz zum literarisch verbürgten Wissen auf, das diesem Wissen an Reichweite und Mannigfaltigkeit überlegen ist«.582 Auch die entsprechenden jugendbewegten Literaturkritiken sind von optischen Metaphern durchzogen, die gelegentlich um solche der Akustik ergänzt werden, beispielsweise im »Schauen und Lauschen« Fontanes. Wo sich dieses Modell nicht in reflexartiger Fiktionalitätskritik erschöpft, zielt es im Wesentlichen auf die Referentialisierbarkeit von Texten, deren Zweck in der Möglichkeit zu Anschlusshandlungen an die Lektüre liegt. Nachprüfbarkeit, Exaktheit und Treue gegenüber dem außerliterarischen Referenzmodell, die Philippe Lejeune zu den einklagbaren Kriterien referentieller Textsorten zählt,583 sind für die Jugendbewegung deshalb so wichtig, weil ihre Mitglieder sich von Texten Anregungen zu eigenen Handlungen, insbesondere eigenen Reisen erhoffen, die weitgehend ohne Abschläge gegenüber der textuellen Vorlage erfolgen sollen.584
6.2
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Naheliegender als derartige Reminiszenzen an die Wissenschaftsgeschichte ist allerdings die zeitgenössische Mediengeschichte für die Kontextualisierung des jugendbewegten Konzepts von Autorschaft. Mit der Erfindung, Weiterentwicklung und Verbreitung der Photographie wurden neue Standards in der Abbildung und medialen Wiedergabe von Wirklichkeit gesetzt. Susanne Knaller geht soweit, von der Entwicklung eines neuen »Authentizitätskonzepts« zu sprechen, »mit dem Mimesis und Referentialität durch die Vorstellung von Aufzeichnung und identischer Kopie ergänzt werden«.585 Literarisch schlägt sich dies zunächst in der Poetik des Naturalismus nieder, später, im 20. Jahrhundert, auch in einem Ideal des Dokumentarischen, das der nüchternen Wiedergabe von Fakten und Beobachtungen verpflichtet ist. Von derartigen Ansätzen ist der Wandervogel allerdings weit entfernt, wie Zeitschriftenbeiträge zur photographischen Praxis zeigen: »Es gibt eben etwas höheres als kopistische Genauigkeit, es ist die Umwandlung der stummen – blinden Landschaft in ein Bild, das nunmehr für alle Menschen ver582 Ebd., S. 36. Vgl. zu diesem Aspekt auch ebd., S. 28–33. 583 Philippe Lejeune: Der autobiographische Pakt, Frankfurt a. M. 1994, S. 39–41. 584 Vgl. zur Funktionalisierung von literarischen Texten zur Vorbereitung und Durchführung von Wanderungen auch das Kapitel über Literatur als Landes- und Heimatkunde. 585 Knaller : Wort, S. 73.
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ständlich ist, eben weil es von Menschenaugen, von einem fühlenden Menschenherzen da draußen gesehen wurde.«586
Die Distanz zum Dokumentarischen und zum naturalistischen Konzept einer an den Naturwissenschaften orientierten objektiven Wiedergabe empirischer Realität wird aller okularen Rhetorik zum Trotz auch außerhalb des Photographiekonzepts der Jugendbewegung sichtbar. Im Teilabdruck eines Buches über das Landschaftszeichnen von Anna Rinneberg in der »Monatsschrift« wird dies beispielhaft deutlich: »Wie man aber sehen und nicht sehen muß, das schildert der Dichter Anastasius Grün sehr ergötzlich in jenen beiden Wanderern, die bei ihrer Heimkehr von den Ihrigen bestürmt werden mit der Frage: was sie denn gesehen. Der eine drauf mit Gähnen spricht: ›Was wir gesehn? Viel Seltnes nicht! Ach, Bäume, Wiesen, Bach und Hain Und blauen Himmel und Sonnenschein.‹ Und der andere drauf lächelnd dasselbe spricht, Doch leuchtenden Blicks, mit verklärtem Gesicht: ›Ei, Bäume, Wiesen, Bach und Hain Und blauen Himmel und Sonnenschein.‹ Der hatte was gesehen, der hatte all die Schönheit, die er da beschreibt, nicht nur oberflächlich angeschaut, nein, der hatte sie erlebt, mit fröhlichem Herzen, während der andere wie durch einen grauen Regentag an ihr vorübergelaufen war.«587
Als Gegensatz zur »oberflächlichen Anschauung« gilt ihr weder der wissenschaftlich-analytische noch der reflektiert-ästhetische Blick, sondern das emotionale Erlebnis der Naturschönheit. Auch andere Gegenstände der Erfahrung sind von diesem normativen Modell der Wahrnehmung und Darstellung betroffen. Seine Rezension zu Hans Blühers Geschichte des Wandervogels beginnt Otto Piper mit grundsätzlichen Erwägungen über die Bedingungen und Möglichkeiten jugendbewegter Historiographie:
586 Hans Breuer : Lichtbildkunst, in: Wandervogel Monatsschrift 1910, H. 12, S. 189–193, hier S. 191; zitiert nach Sven Reiß 2012: Fotografie im »Wandervogel«. Zur privaten Praxis bürgerlicher Fotografie im Kaiserreich, Kiel 2012, S. 51. Vgl. zur Photographie in der Jugendbewegung neben der Schrift von Reiß auch Winfried Mogge: Bilder aus dem Wandervogel-Leben. Die bürgerliche Jugendbewegung in Fotos von Julius Groß 1913–1933, Köln 1991. 587 A.[nna] Rinneberg: Sehen und Zeichnen. Aus des Verfassers Büchlein »Skizzierendes Landschaftszeichnen und Malen«, in: Wandervogel Monatsschrift 1911, H. 8, S. 181–183, hier S. 181.
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Autorschaft
»Es ist klar, daß eine solche Geschichte nur von jemandem geschrieben werden konnte, der von Anfang an in der Bewegung stand, und der sie nicht nur mitgemacht hat, sondern scharf beobachtet und innerlich erlebt hat.«588
Eine gute Beobachtungsgabe als Voraussetzung gelungenen Schreibens und historischer Exaktheit genügt Piper nicht. Mindestens ebenso wichtig ist ihm das ›innerliche Erlebnis‹ des darzustellenden Gegenstandes.589 Ähnlich ist es in einer anonym publizierten Rezension zu einer vom Dürerbund herausgegebenen Mappe von »Meisterbildern«, deren Verfasser die Leser an seinen Überzeugungen von der Entstehung von Kunst teilhaben lässt: »Aber im Grunde kommt es auf den Stoff gar nicht so sehr an, sondern darauf, wie der Künstler den Stoff behandelt hat, auf die künstlerische Behandlung, ob er imstande gewesen ist, die Wirklichkeit so darzustellen, daß wir sie als echt, naturwahr und -treu, daß wir das Wesentliche erkennen, oder anders: ob der Künstler seine ganze Seele in das Kunstwerk gelegt hat. Dieses seelische Moment ist das eigentlich Künstlerische.«590
Sowohl in dem Dickicht von Schlagwörtern in dieser Rezension als auch in der Rezension Otto Pipers lassen sich zwei verschiedene Formen von Auktorialität unterscheiden, die mit unterschiedlichen Authentizitätskonzepten in Zusammenhang stehen. Zum einen handelt es sich um ein Konzept von »Referenzauthentizität«,591 welches bei Piper als Prinzip »scharfer Beobachtung« produktionsästhetisch gewendet wird und beim anonymen Rezensenten der »Meisterbilder« als Möglichkeit zur Wahrnehmung von »Naturtreue« rezeptionsästhetisch. Beiden ist gemeinsam, dass sie auf die Faktizität des künstlerischen Materials verweisen und auf die adäquate Wiedergabe von Wirklichkeit im Kunstwerk. Funktional dient diesem Kriterium der Referenzauthentizität genügende Literatur in der Jugendbewegung der Belehrung und als Quelle von Informationen.592 588 Otto Piper: [Rezension zu:] Hans Blüher, Wandervogel. Geschichte einer Jugendbewegung. Erster Teil: Heimat und Aufgang, in: Jung-Wandervogel, 1912, H. 9, S. 134. 589 Vgl. hierzu auch neuerlich H. K.: Theodor Fontane, S. 8. Die bereits zuvor zitierte Verfasserin rühmt Fontane nicht nur aufgrund einer vorbildlich ausgebildeten Fähigkeit, im »Schauen und Lauschen« die Dinge passiv wahrzunehmen. Zugleich betont sie das aktive Moment in der Vorbereitung auf den auktorialen Schaffensprozess, wenn sie ihm zuschreibt, mit »warmer ungeteilter Liebe […] zu den Dingen und Menschen [geschritten]« zu sein. Auf das dabei zutage tretende emotionale Verhältnis zu den beobachteten Objekten wird als produktionsästhetisches und rezipientenseitiges Phänomen im Abschnitt über Literatur als Landes- und Heimatkunde zurückzukommen sein. 590 Anonym: [Rezension zu:] Meisterbilder und Kunstrißmappen des Kunstwartes, in: Wandervogel Monatsschrift, 1912, H. 2, S. 61f., hier S. 62. 591 Vgl. zu verschiedenen Formen von Authentizität Knaller : Wort, S. 21f., die Referenzauthentizität, Kunstauthentizität und Subjektauthentizität unterscheidet. 592 Vgl. auch hierzu die ausführliche Diskussion im Kapitel über Literatur als Landes- und Heimatkunde.
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Zum anderen findet sich in beiden Rezensionen ein bestimmtes Modell von Kunstauthentizität, die die subjektive Figuration von Wirklichkeit durch das »Erlebnis« des Autors betont. Das Zusammenspiel beider Authentizitätskonzepte lässt sich auf unterschiedlichen Ebenen kontextualisieren. Die jugendbewegten Literaturkritiker sehen in der Verbindung intensiver Kenntnisse durch Beobachtung und der emotionalen Erfassung eines Gegenstandes durch Beteiligung offenbar die besten Voraussetzungen zur Verwirklichung ihrer Version des prodesse et delectare. Über Wilhelm Kotzdes593 Roman »Frau Harke geht durchs Land« weiß der Rezensent Georg Stapel zu berichten: »Kotzde kennt wie kein zweiter die Havellandschaft und lehrt sie uns sehen, wirklich sehen, aber nicht in trockenem Lehrton, sondern so, daß sie lebendig vor uns wird«.594 Der produktionsästhetischen Annahme, der Autor gründe seinen Schreibprozess auf selbsterworbenem gründlichem Wissen über eine Region, korrespondiert eine Feststellung über die Wirkung des Textes, wobei sich annehmen lässt, dass es sich um einen kausalen Zusammenhang handelt: Weil der Autor seinen Gegenstand derart gut kennt, ist es ihm möglich, ihn nicht nur innerhalb eines auf die bloße Vermittlung von Fakten abgestelltem Fachbuch darzustellen, sondern in einer Weise, die dem Leser den anschaulichen Nachvollzug mittels seines Vorstellungsvermögens erlaubt. So sollen Wissenserwerb und Unterhaltung gleichermaßen garantiert sein, was sich auch in der Wertung nicht-fiktionaler Bücher niederschlägt. Der Verfasser einer Einleitung zu einem Rezensionsschwerpunkt über »Naturbücher« in der »Freideutschen Jugend« erklärt: »Sicher, wir lesen vielzuviel schöne Literatur. Die Folge ist eine übermäßige Trainierung der Phantasie, der Reflexion, der Sensibilität im Tausch mit einer Verschrumpfung der Anschauungskraft und des Gefühls. Ein Mensch, der glaubt, die Verantwortung für seine Bildung selbst tragen zu können, darf sich solche Einseitigkeit nicht zuschulden kommen lassen. […] Freilich ist an lesbaren Büchern über Natur und ihre Gebiete im deutschen Schrifttum immer noch Mangel, an Schriften, die den Ton
593 Vgl. zum Volksschullehrer und späteren Schriftsteller Wilhelm Kotzde (1878–1948), der zunächst im Wandervogel aktiv war, dann den völkischen Jugendbund der Adler und Falken gründete und darüber hinaus als prominenter Organisator innerhalb der völkischen Bewegung der 1920er Jahre in Erscheinung trat Breuer: Die Völkischen, S. 211–219. 594 Georg Stapel: [Rezension zu:] Wilhelm Kotzde, Frau Harke geht durchs Land, in: AltWandervogel, 1918, H. 6, S. 80. Vgl. außerdem [Hugo] Tsch.[uncky]: [Rezension zu:] E.[dmund] Neuendorff, Hinaus in die Ferne. Wanderfahrten deutscher Jungen, in: AltWandervogel, 1914, H. 5, S. 126: »Ganz schlicht ist hier erzählt, was deutsche Jungens auf zwei großen Fahrten erlebten, von denen die eine Berlin, die andere Wien als Endziel hatte. Das sind wirkliche Erlebnisse ohne jede Ausschmückung, die uns da berichtet werden, nicht trocken und langweilig, sondern lustig und fesselnd, und dabei ist gar mancher praktische Wink mit eingeflochten«.
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Autorschaft
zwischen trockener Gelehrsamkeit und gerührt schwatzender Popularität zu treffen wissen.«595
Auch wenn die vom Verfasser verwendete Terminologie widersprüchlich erscheint, lässt sich doch erkennen, dass die Wertung von Sachbüchern ebenfalls an einem Ausgleich von Wissensvermittlung und Unterhaltung orientiert ist. Wenngleich an dieser Stelle keine Aussagen über produktionsästhetische Voraussetzungen zur Realisierung dieses Ideals getroffen werden, liegt die Vermutung nahe, dass die Vorstellungen hierüber analog zu jenen über die Entstehung fiktionaler Literatur sind, also auch die Verfasser von Sachbüchern im optimalen Fall über Faktenwissen verfügen, das durch leibhaftigen und emotionalen Nachvollzug im »Erlebnis« ergänzt wird. Die literarische Darstellung von Emotionen und die emotionalisierte Darstellung von Figuren, Handlungen und Gegenständen können gleichzeitig als Bedingungen für den Eindruck referentieller Authentizität interpretiert werden. Wie Simone Winko gezeigt hat, gelten in der professionellen zeitgenössischen Literaturkritik »Emotionen als Garanten für die Authentizität des Dargestellten«,596 als Hinweis auf ein dem Prozess des Schreibens zugrundeliegendes ›Erlebnis‹ des Dichters.597 Es scheint plausibel, dass die Jugendbewegung an dieser Tendenz partizipiert und sie in ihr eigenes Literaturkonzept integriert. Das gilt auch für zeitgenössische kulturkritische, lebensreformerische und reformpädagogische Ansätzen, die ebenfalls Gefühl, Erlebnis und Körperlichkeit aufwerten wollen gegenüber der vermeintlich einseitigen Ausbildung intellektueller Kompetenzen des »büchergelehrten Städters«598. Im jugendbewegten Literaturkonzept schlägt sich dies insbesondere in der bereits mehrfach beschriebenen grundsätzlich skeptischen Haltung gegenüber dem Nutzen von Schrift und Buch nieder : »Im allgemeinen wird man aus Büchern die Natur wenig kennen lernen. Liebe und Freude lassen sich nicht ›lernen‹ noch in ein bewährtes Schema pressen, sie wollen erlebt sein«.599 Nicht der Erwerb von Wissen allein soll demnach den Umgang mit der Umwelt – nicht nur im Sinn von »Natur«, sondern der gesamten Lebenswelt – leiten. Es geht vielmehr darum, eine affektive und emotionale Beziehung zu den Gegenständen zu gewinnen. Meyen zufolge kann Literatur in diesem Zusammenhang jedoch einzig eine anregende und anleitende Funktion übernehmen und die eigene leibliche Erfahrung mit den Dingen nicht ersetzen.600 Wenn er dennoch auf dem Modell von 595 Anonym: Naturbücher, in: Freideutsche Jugend, 1921, H. 5, S. 158. 596 Simone Winko: Kodierte Gefühle. Zu einer Poetik der Emotionen in lyrischen und poetologischen Texten um 1900, Berlin 2003, S. 305. 597 Ebd., S. 295f. 598 Gurlitt: Bericht, S. 56. 599 Meyen: Hermann Löns, S. 96. 600 Vgl. ebd.: »Auch aus den Lönsschen Schilderungen, so prächtig sie sind, kann man nicht
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Autorschaft aus Erleben beharrt, ist dies dem Umstand geschuldet, dass die durch den Autor verbürgte Faktizität des Erzählten eine Referentialisierbarkeit des Textes verbürgen soll, die die Möglichkeit zum eigenen Nachvollzug zu gewährleisten scheint.601 Ein weiterer Aspekt tritt in einer Fontane-Interpretation Gerhard Sprees zutage. Wie die Autorin im »Landfahrer« rühmt auch er zunächst die »Kunst des Schauens« als poetologische Grundlage der »Wanderungen durch die Mark Brandenburg«, betont aber deutlicher den subjektiven Aspekt der Darstellung: »Nicht was man erlebt, sondern wie man erlebt, ist ihm [Fontane, M.L.] von höchster Wichtigkeit. Daher verliert sich nicht seine Teilnahme in den Erscheinungen, sondern alles geht durch ihn hindurch und wird in seiner Eigenart und Wesentlichkeit von ihm neubelebt und klargestellt.«602
Während der Wissenschaft und dem Intellekt sich alles in den »Erscheinungen« zergliedert, geht es dem Dichter um das »Wesen« der Erscheinungen. Dem kalten, analysierenden Blick wird der »menschliche« Blick gegenüber gestellt, der durch eine emotionale Beteiligung – durch ein »fühlendes Menschenherz« – gekennzeichnet ist. Dahinter verbirgt sich nicht nur eine kulturkritische Spitze gegen die vermeintlich einseitige Orientierung des ›Zeitgeistes‹ an den Erkenntnisformen der Naturwissenschaften. Literaturhistorisch lässt sich in dieser Position ein Nachwirken von ästhetischen Postulaten des bürgerlichen Realismus erkennen. Gemeinsam ist die Ablehnung einer photographisch genauen Wiedergabe der außerliterarischen Wirklichkeit, die zwar das Material für die
Naturlernen. Doch sind sie in hohem Grade dazu geeignet, anregend zu wirken und in uns die Freude an die Natur wiederzuerwecken«. Vgl. außerdem Kurt Kammerer : Naturaufnahmen, in: Wandervogel Monatsschrift, 1916, H. 7, S. 148f., hier S. 148, der Löns nach eigener Aussage ebenfalls die Liebe zur Natur verdankt: »Hermann Löns hat das meiste dazu beigetragen, daß ich die Natur lieb gewann. Seit eine lange Krankheit mich das Stadtleben hassen lehrte, seit ich seine Naturschilderungen las, da weiß ich, was mir not tut. Seit der Zeit kehre ich der Stadt den Rücken, sooft sie mich losläßt, und erlebe da draußen, was ich zu Hause nur las, und mache es mir zu eigen.« 601 Damit ist nicht gesagt, dass in allen Fällen ein Nacherleben des Erzählten in Form eines »Nachspielens« oder Nachreisens sich tatsächlich auch ereignet. Durch ihre Realitätsnähe und weitreichende Referentialisierbarkeit laden die unter diesem Authentizitätsmodus rezipierten Texte ihre jugendbewegten Leser lediglich dazu ein, vergleichbare Reisen an lokalisierbaren Handlungsorten zu unternehmen oder Naturräume aufzusuchen in der Hoffnung, vergleichbare Naturbeobachtungen zu machen und Naturgefühle zu evozieren. Die Analogie zwischen Autor und Rezipient ist damit weitergehend, als dies beim ›literarischen Erleben‹ in Form von durch Literatur ausgelösten Emotionen der Fall ist. Das angestrebte Erlebnis soll nicht nur Leseerlebnis bleiben, sondern leibhaftiges Erlebnis motivieren. 602 Gerhard Spree: Theodor Fontane zu seinem hundertsten Geburtstag (30. Dezember 1919), in: Alt-Wandervogel, 1919, H. 8/9, S. 176f., hier S. 176.
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Kunst zur Verfügung stellen soll, aber der »Verklärung« durch den subjektiven Blick des Schriftstellers bedarf.603 Die Differenzierung zwischen Gegenstand und Modus der Wahrnehmung bedingt bei Spree mittelbar auch eine Verschiebung des Rezeptionsinteresses. Der Inhalt der »Wanderungen« ist ihm zwar nicht gleichgültig. Mehr noch interessiert ihn aber der Autor selbst. Innerhalb dieses autorzentrierten Rezeptionsmodus erscheint Spree die Lektüre der fiktionalen Werke Fontanes als irrelevant: »Wer hierin [in den »Wanderungen«, M.L.] feinfühlig und achtsam zu lesen versteht, lernt den großen Dichter schon so genau kennen, daß ihm all die vielen Romane und Erzählungen und die Gedichte nichts Neues mehr über sein Wesen sagen können.«604
Dasselbe Phänomen ist in einer Rezension von Otto Gutknecht zu Marcel Dorniers Erstlingswerk »Urax und Rezabell« zu beobachten. Gutknecht zeigt sich zunächst begeistert von der Darstellung des Alpenvorlandes und scheut dabei nicht einmal vor einem Vergleich mit dem seinerzeit hochberühmten Joseph Victor von Scheffel zurück, um dann, ins allgemeine gewendet, fortzufahren: »Aus je größeren Seelentiefen ein Dichter schöpft, desto lebenswahrer sind seine Gestaltung und ihre Atmosphäre. Dornier hat das, was den echten Dichter ausmacht: Kraft der Empfindung, welche die Phantasie beflügelt und den Gestaltungswillen beseelt, ein seherisches zusammenschauendes Auge, schöpferische Gestaltungskraft. Gleich dieses vom Stimmungszauber durchwobene erste Werk, mit dem er hervortritt, legt Zeugnis ab für ihn als einen Zusammenschauer und deutschen Seelenkünder seltener Art. Herrlich ist dieses Epos, in dem er uns durch seine Bildkraft teilhaben läßt an seinem reichen Herzen.«605
Trotz Beibehaltung optischer Metaphorik zielt Gutknechts Dichtungsbegriff nur bedingt auf die mimetische Abbildung einer Landschaft, sondern vielmehr auf Synthesis, wie sie das Weltanschauungsdenken der Zeit um und nach 1900 603 Vgl. hierzu grundsätzlich Sabina Becker: Bürgerlicher Realismus. Literatur und Kultur im bürgerlichen Zeitalter 1848–1900, Basel 2003, S. 96–144. Wenn es für diese Parallele noch eines weiteren Beleges bedarf, stellt das Fazit der Rezension von Georg Stapel: [Rezension zu:] Wilhelm Kotzde, Wilhelm Drömers Siegessang. Eine Lebensgeschichte, in: Alt-Wandervogel, 1918, H. 6, S. 80f., hier S. 81, den bündigsten Beweis für die Richtigkeit der These dar : »Erdkräftige Gestalten und wirkliches Leben schildert uns Kotzde, ohne Schönfärberei, und doch liegt über der Erzählung ein eigener Schimmer und eine stille Freude, deren Glanz uns noch lange in den Alltag begleitet.« 604 Spree: Theodor Fontane, S. 176. Darüber hinaus wird an diesem Artikel eine Korrespondenz von Schreib- und Lektürehaltung sichtbar. Die vorbildlichen Schriftstellern unterstellte genaue Beobachtungsgabe wird vom Verfasser auch von den Lesern verlangt: Nur wer »feinfühlig« und »achtsam« liest, gelangt zum intendierten Rezeptionsergebnis. 605 Otto Gutknecht: [Rezension zu:] Marzel Dornier, Urax und Rezabell, in: Zwiespruch, 1922, H. 29, S. 4.
Autorschaft aus »innerem Erleben«
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weithin prägt.606 Innerhalb des Literaturkonzepts der Jugendbewegung wird dieses Moment vor allem durch eine lebensbiographische Einheit von Autor und Werk garantiert, was letztlich in einer Aufhebung der Kunst als eigenständigem Teilbereich in der funktional ausdifferenzierten Gesellschaft mündet. Hierfür bedarf es allerdings sowohl eines veränderten Konzepts der Textgenese als auch eines anderen Authentizitätskonzepts als bei den bislang analysierten literaturkritischen Äußerungen. Als grundsätzliche Wertungskategorie erscheint zwar auch hier das Schlagwort von der »Lebenswahrheit«. Die Wahrheit des dichterischen Wortes legitimiert sich aber nicht mehr über die Fakten produzierende Wahrnehmung mit den äußeren Sinnen, sondern durch die »Sprache des Herzens«.607
6.3
Autorschaft aus »innerem Erleben«
In einer Sammelrezension zu mehreren Publikationen von Gertrud Prellwitz schwärmt Alexander Münch: »Gertrud Prellwitz spricht und schreibt, was sie erlebt hat, erlebt im Innersten als unzweifelhafte und beseligende Gewißheit. […] Aber aus jedem Worte spricht ihre ganze Persönlichkeit; aus jeder Zeile strahlt uns der unermeßliche Reichtum ihrer Seele entgegen, den sie als unverlierbares Eigentum besitzt, und von dem sie mit vollen Händen verschenken möchte, an jeden, der zu empfangen bereit ist.«608
Das Material der Literatur sind in diesem Modell von Autorschaft nicht Sachverhalte, die außerhalb des Subjekts liegen, sondern das Subjekt selbst wird zum Gegenstand der Literatur. An Stelle der Anschauung und des Erlebnisses faktischer Gegebenheiten der Sinnenwelt tritt die Introspektion. Die paradigmatische Gattung für dieses Modell von Autorschaft ist zwar die Autobiographie, insbesondere in ihrem für die Neuzeit von Rousseau in seinen »Confessions« etablierten Paradigma des ›Bekenntnisses‹, doch wird es im Literaturkonzept der Jugendbewegung auch auf andere Gattungen übertragen, sofern sich ein auto606 Vgl. hierzu Hans Thom8: Art. Weltanschauung, in: Joachim Ritter, Karlfried Gründer, Gottfried Gabriel (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 12: W–Z, Darmstadt 2004, Sp. 453–460, hier Sp. 455f. Auch innerhalb der Weltanschauungsliteratur spielt Autorschaft eine wichtige Rolle. Um die »Aporie von Subjektivität und Geltungsanspruch« aufzulösen, werden die Texte mit »autobiographischen Bekenntnissen« angereichert, die »den Autor zu einer Persönlichkeit von besonderer Wahrheitsmächtigkeit [stilisieren]«; vgl. ebd., Sp. 456. 607 Vgl. zur Tradition des verbum cordis Erich Kleinschmidt: Autorschaft. Konzepte einer Theorie, Tübingen u. a. 1998, S. 60, sowie Jutta Schlich: Literarische Authentizität. Prinzip und Geschichte, Tübingen 2002, S. 55f. 608 Alexander Münch: Zwei Bücher von der Neuen Zeit von Gertrud Prellwitz, in: Freideutsche Jugend, 1916, H. 8/9, S. 267–269, hier S. 267.
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Autorschaft
biographischer Hintergrund des in Frage stehenden Textes erkennen oder wenigstens konstruieren lässt. Zwei literaturhistorische Faktoren dürften diesen biographischen Rezeptionsmodus begünstigt haben. Zum einen wurde der auf den Autor rekurrierende Begriff des »Erlebens« durch die philologischen Theorien Wilhelm Scherers und Wilhelm Diltheys für die Interpretation von Literatur verfügbar.609 Durch seine semantische Nähe zum in der Zeit um die Jahrhundertwende überall präsenten Schlagwort des »Lebens« erhält er zusätzliche positive Konnotationen. Zum anderen stellen zahlreiche der in der Jugendbewegung gelesenen Texte ostentativ Parallelen zum Leben ihrer Autoren aus, wo die Autoren nicht selbst Teil der erzählten Welt werden.610 Die Ursprünge einer »lebensthematisch begründeten Darstellungsweise«611 reichen allerdings ins 18. Jahrhundert. Der damals einsetzende Geltungsverlust von Überlieferung und Tradition bedingt eine Aufwertung der Rolle des Individuums, das nun mehr und mehr in der Position ist, Sinnhaftigkeit und Wahrheit selbst zu begründen und zu beglaubigen. Unter anderem hierauf lässt sich die Entstehung der Genieästhetik zurückführen, innerhalb derer Autorschaft nicht länger durch die Variation konventioneller Stilformen, Erzählmuster und Topoi bestimmt, sondern als Ausdruck des sich selbst setzenden und bestimmenden Individuums gedacht wird. Gleichzeitig entsteht in dieser Zeit eine literarische »Erlebniskonvention«,612 die unabhängig vom Gegenstand der Literatur auf eine »wahrnehmungsmimetische Erzählstruktur«613 abzielt und das Erleben eines »individualisierte[n] Sprecher-Ich[s]« in den Mittelpunkt li609 Vgl. hierzu auch Popp: Goethe, S. 47–49, die auf die trivialisierte Anwendung der von Dilthey und Scherer entlehnten Kategorie des »Erlebens« im Deutschunterricht des Kaiserreichs aufmerksam macht. Darüber hinaus lassen sich in der zeitgenössischen Kultur zahlreiche Ansätze zu einer (Auto-)Biographisierung von Literatur erkennen. Diese reichen von der positivistischen Goethe-Philologie bis zum Kult der großen Persönlichkeit bei Julius Langbehn oder im George-Kreis. 610 Eine Typologie literarischen Erzählens im Umfeld der Lebensreformbewegung und vielleicht auch anderer zeitgenössischer sozialer Bewegungen müsste diesen Aspekt notwendig einbeziehen. Beispiele stellen nicht nur die immerhin noch am Rande des literaturwissenschaftlichen Kanons stehenden Schlüsselromane »Der Weg des Thomas Truck« von Felix Hollaender und »Herrn Dames Aufzeichnungen« von Franziska zu Reventlow dar, sondern vor allem die spezifische Weltanschauungsliteratur der Lebensreformbewegung. Gertrud Prellwitz’ »Drude«-Trilogie beruht nicht nur sehr frei auf den Tagebüchern der Fidus-Tochter, auch Fidus selbst ist ebenso Figur der Handlung wie Getrud Prellwitz; im »Wiltfeber« von Hermann Burte begegnet der Protagonist dem Autor. Die Beispiele ließen sich fortsetzen. 611 Kleinschmidt: Autorschaft, S. 59. 612 Katja Mellmann: Emotionalisierung – Von der Nebenstundenpoesie zum Buch als Freund. Eine emotionspsychologische Analyse der Literatur der Aufklärungsepoche, Paderborn 2006, S. 354. 613 Ebd., S. 363–367.
Autorschaft aus »innerem Erleben«
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terarischer Darstellung rückt614. Sozialhistorisch reagiert diese neue Form des literarischen Erzählens auf die funktionale Gesellschaftsdifferenzierung, in deren Verlauf die Individuen nicht länger durch Herkunft und Berufswahl in die Totalität stabilisierender gesellschaftlicher Sinnsysteme eingebunden sind. An deren Stelle treten zahlreiche ausdifferenzierte Subsysteme. Die bürgerliche Vorstellung von Subjektivität und Individualität, von Einzigartigkeit »jenseits aller sozialen Bezugnahmen« lässt sich als Reaktion auf diesen Prozess interpretieren, durch die trotz der Disparatheit der Lebens- und Gesellschaftsbereiche eine Integration »biographische[r] Entscheidungen […] und Sinnhorizonte« ermöglicht werden soll. Die Veränderungen innerhalb der Literatur, die in der »Bereitstellung einer emotionalisierten Lyrik« und später auch weiterer emotionalisierter Gattungen kulminieren, dienen in diesem Zusammenhang als »sinnliche Basis«, sich das »virtuelle Ich« zu vergegenwärtigen und sich seiner Existenz zu vergewissern.615 Schließlich etabliert sich ebenfalls im späten 18. Jahrhundert ein Diskurs der Natürlichkeit, der sich gegen höfische Etikette wendet und die Rollenhaftigkeit adligen Verhaltens durch den Bezug auf ein vorgesellschaftliches Ich zu unterlaufen sucht. Literarischen Ausdruck finden diese Konzepte vor allem in den erzählenden Texten der Empfindsamkeit und in den Romanen und philosophischen Texten Rousseaus. Sie verdichten sich zu einer Vorstellung von »Subjektauthentizität«, bei der »Form und Selbst« in eins fallen: »mediale Selbstdarstellung und Kommunikation entsprechen idealerweise den biografischen, psychologischen und physischen Besonderheiten« des Individuums.616 Wie die skizzierten sozialhistorischen Prozesse um 1900 längst nicht abgeschlossen waren, hatten auch die mehr als hundert Jahre zuvor angestoßenen Entwicklungen in der Literatur noch Folgen für das Literaturkonzept der Jugendbewegung, obgleich ein unmittelbarer Einfluss aufklärerischer, empfindsamer, klassischer und romantischer Poetiken zweifelhaft ist und einige relevante Modifikationen festzustellen sind. Zentral für dieses Autorschaftsmodell ist die Forderung nach einer »existentialisierten Textproduktivität des Individuums«, für Erich Kleinschmidt einer der Eckpunkte der Genieästhetik,617 nach der Literatur Ausdruck der individuellen Persönlichkeit ihres Verfassers sein soll. Die Kategorien der »Lebenswahrheit« und des »Erlebens«, die in der Jugendbewegung zur Grundlage auktorialer Handlungen gemacht werden, folgen diesem Postulat. Literatur wird so bereits im Zuge ihrer Produktion an etwas außerhalb der reinen Textlichkeit 614 Ebd., S. 367. 615 Vgl. ebd., S. 371–374. 616 Vgl. Knaller : Wort, S. 22. Zu Konzepten der Authentizität bei Rousseau und in der Empfindsamkeit ebd., S. 37–69. 617 Vgl. Kleinschmidt: Autorschaft, S. 60.
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liegendes zurückgebunden, »Kunst« und »Leben« untrennbar miteinander verzahnt. Zuschreibungen dieser Art richten sich gleichermaßen fiktionskritisch gegen das »Unwahre« in der Kunst wie gegen eine Beliebigkeit des Sinns und der Bedeutung von Literatur, die den Literaturkritikern der Jugendbewegung zufolge Auswüchse der Trennung von »Kunst« und »Leben« sind. Wenn sie sich in ihren Rezensionen und Aufsätzen immer wieder auf Mutmaßungen zu den biographischen Hintergründen der Textgenese stützen oder autobiographische Züge in literarischen Texten aufzudecken suchen, dient dies nicht zuletzt als Mittel gegen eine »tiefgehende Skepsis gegen die Indifferenz der sprachlichen Zeichenwelt, hinter der Begriffe und Verantwortung zerfließen«.618 Der Autor als »Referenzinstanz« signalisiert demgegenüber eine Relevanz und Bedeutsamkeit literarischer Texte, die sich ihrer behaupteten Unmittelbarkeit verdankt. Literatur soll demnach nicht nur einen losen Zusammenhang mit dem Leben ihres Verfassers aufweisen, sondern »unverdünnt protokolliertes Herzblut« sein.619 Zur Bekräftigung dieses Ideals wird in der Jugendbewegung auf organische Metaphern wie die des »Quellens« zurückgegriffen620 oder auf die Vorstellung eines »inneren Zwangs«,621 der sich in der Textproduktion entlade. Für das eigene »Schrifttum« der Jugendbewegung fordert Ludwig Voggenreiter : »Aus einer inneren Notwendigkeit heraus muß es geschrieben sein und nicht aus äußeren nüchternen Überlegungen, denn sonst spricht nicht Mensch zu Mensch, sondern Verstand zu Verstand. Wenn es so wäre, daß man bei uns schreiben wollte und nicht vielmehr schreiben müßte und zwar so wie mit rotem Herzblut, dann wäre alles, was wir schafften, eine üble Verbreiterung. Kein Wert würde in der Vertiefung geschaffen, der Fluß der Ideen würde versanden und versumpfen und – alles wäre umsonst.«622 618 Ebd. 619 Andra Köhler : Reisender Schnee oder Realismus ohne Resignation. Die deutschsprachige Literatur und das »Authentische«, in: NZZ, 1996, Nr. 280, 30.11/01.12., S. 65f., hier S. 65. Vgl. hierzu auch Wolfgang Braungart: Ritual und Literatur, Tübingen 1996, S. 197, der die Fragen der Zuhörer von heutigen Dichterlesungen nach dem Zusammenhang von Leben und Werk als Forderung versteht: »Ein Autor muß schon mit seinem Leben für sein Werk einstehen«. 620 Vgl. Richard Schapke: Walther Britting. Etwas mehr als eine Buchbesprechung, in: Führerzeitung, 1918, H. 7/8, S. 120–122, der auf S. 120 über Brittings Lyrik schreibt: »Es ist nichts Gesuchtes, nichts Anempfundenes, alles quillt aus dem Schatze reichen Erlebens und Schauens […]«. 621 So wörtlich erneut Richard Schapke: Hermann Löns, in: Führerzeitung, 1917, H. 4, S. 58f., hier S. 58. 622 Voggenreiter : Schrifttum, S. 7. Zu den klassischen Emotionstopoi zur Beglaubigung von Authentizität gehört der Schmerz, der in seiner Reflexartigkeit untrügliches Zeichen »echten« Erlebens sein soll. Vgl. hierzu Jan Berg: Techniken der medialen Authentifizierung Jahrhunderte vor der Erfindung des ›Dokumentarischen‹, in: Ursula Keitz (Hg.): Die Einübung des dokumentarischen Blicks. »Fiction-Film« und »Non-Fiction-Film« zwischen Wahrheitsanspruch und expressiver Sachlichkeit 1895–1945, Marburg 2010, S. 51–70, hier
Autorschaft aus »innerem Erleben«
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Die unübersehbare Rationalitätskritik Voggenreiters ist zugleich eine Kritik an der Medialität von Literatur.623 Alle Zitate deuten auf den Wunsch nach einer vorreflexiven, »naiven« Kunst, in der gemäß Knallers Explikation von »Subjektauthentizität« Form und auktoriales Selbst zusammenfallen sollen. Literarische Texte sollen nicht nur unmittelbarer, sondern ebenso unvermittelter Ausdruck der Persönlichkeit des Autors sein. Wo eine heftige emotionale Bewegtheit Grundlage des Schreibens ist, so die These, da muss zwangsläufig etwas von der ›wahren Persönlichkeit‹ des Autors im Text zu finden sein, kann es sich nicht um eine literarische Maske oder ein Rollenspiel handeln.624 Der ästhetische Charakter von Literatur gerät dabei mitunter gerade in Verdacht, die Person des Schriftstellers zu verbergen. Wo die Poetizität und Literarizität eines Textes derart im Vordergrund steht, dass das Werk als Artefakt, als ›Gemachtes‹ zu erkennen ist,625 wird der Zusammenhang von Leben und Schreiben brüchig und damit auch die Funktionalisierung von Literatur für das Leben ihrer jugendbewegten Leser erschwert. Marie Buchhold sieht aus diesem Grund nicht das schriftstellerische Werk Tolstois als maßgeblich an, sondern seine Tagebücher :
S. 55f. Die in der Jugendbewegung präsente Metaphorik lässt ebenfalls die Vorstellung der authentischen Schreibhandlung als reflexartigem Ausdruck emotionaler Programme erkennen. Wo das Individuum nicht selbst derart heftige Emotionen erfährt, die es zum Schreiben drängen, bedarf es äußerer Anlässe, um Erschütterungen zu provozieren. Jöde: Kriegsarbeit, S. 41, erfährt den Krieg euphorisiert als Ereignis, das »uns […] hat wachsen lassen, indem er wie lange keine Zeit das Bedürfnis nach Mitteilung des seelischen Erlebens gegenüber dem ganzen Volke jäh erweckte«. 623 Auch dies gehört zu den Topoi des literarischen Authentizitätsdiskurses. Vgl. zum Zusammenhang von Medialität und Authentizität grundlegend Berg: Techniken. 624 Vgl. hierzu auch Winko: Gefühle, S. 295, die im zeitgenössischen Diskurs über Literatur ein Konzept »emotionaler Authentizität« erkennt. Eine Steigerung erfährt das Erlebnis-Paradigma bei Hein Doering: Künstler, in: Freideutsche Jugend, 1919, H. 7, S. 288f., der auf S. 288 schreibt: »Der Künstler erleidet seine Werke«. Hier ist der Künstler nur noch das Medium einer vorgängigen Wahrheit, die sich durch ihn und sein Werk kundtut. Die Kritik an der Rollenhaftigkeit von Literatur wurde erstmal prominent von Rousseau vorgetragen, insbesondere in seiner Auseinandersetzung mit dem Theater im »Brief an d’Alembert«. Durch die Notwendigkeit für Schauspieler und Zuschauer, sich in fremde Rollen hineinzuversetzen, befördere sie die Entfremdung des Individuums von sich selbst. Vgl. hierzu Lionel Trilling 1980: Das Ende der Aufrichtigkeit, München u. a., S. 64 und Jochen Mecke: Der Prozess der Authentizität. Strukturen, Paradoxien und Funktionen einer zentralen Kategorie moderner Literatur, in: Susanne Knaller, Harro Müller (Hg.): Authentizität. Diskussion eines ästhetischen Begriffs, München 2006, S. 82–114, hier S. 87f. 625 Das richtet sich unausgesprochen auch gegen jene »Poetik der Nüchternheit, sogar der Kälte und des mathematischen Kalküls, die sich von Poe bis Bense entfaltet, mit dem Insistieren darauf, dass Kunstwerke gemacht werden (Benn)«, wie Wolfgang Braungart: Sinn und Leben der Stelle, in: ders., Joachim Jacob: Stellen, schöne Stellen. Oder : Wo das Verstehen beginnt, Göttingen 2012, S. 64–143, hier S. 103, einen bestimmten Zweig moderner Poetologie konzis zusammenfasst.
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Autorschaft
»Die Bedeutung von Tolstois geistiger Gestalt als Erscheinung an der Wende des 19. Jahrhunderts wird wohl aus seinen Tagebuchaufzeichnungen am besten klar. Über diese Aufzeichnungen sei hier nur Anzeigendes gesagt für diejenigen, die von dem Menschen, der gerungen hat, wissen wollen. Es steht drin, ganz offen und nicht mehr in Kunstform verborgen oder offenbart, sondern ohne die Verhüllung durch künstlerische Symbole. Denn mit der Kunst geht es nicht mehr, sie hat das im Schillerschen Sinne ›Bildende‹ verloren, oder anders: das Publikum ist auf diese Weise nicht mehr bildungsfähig, warum? – weil es, von der ästhetischen Kunstfigur verdorben, nur Kunst sieht, wo weit mehr als Kunst sich ereignet.«626
Das ist gleichermaßen Kritik an der l’art pour l’art selbst sowie an einer Lesehaltung, die Literatur nur aus einem Interesse am Kunstgenuss konsumiert. Gegenüber der genieästhetischen Forderung nach einer »darstellerisch freizügige[n] Verfremdungsautonomie«, nach einer »ausdrucksseitige[n] Differenz« zur literaturhistorischen Tradition, die die Autonomie des Subjekts auch sprachlich repräsentiert,627 zeigen sich die Mitglieder der Jugendbewegung gleichwohl merklich reserviert. Ihre literarischen Vorlieben bewegen sich zumeist in den Bahnen traditioneller Erzählformen und Darstellungsmittel. Zu ästhetischen Experimenten verhalten sie sich skeptisch bis ablehnend, wo sie denn überhaupt wahrgenommen werden. Ausnahmen finden sich erst im Zuge der spät einsetzenden Expressionismusrezeption.628 626 Marie Buchhold: Leo Tolstoi. Die Bedeutung eines gütigen Menschenlebens, in: Freideutsche Jugend, 1920, H. 4, S. 117–119, hier S. 117. Vgl. auch die Ausführungen derselben Verfasserin zu Stefan George in Marie Buchhold: Neue Dichtung und Sprachformung, in: Heinrich Deiters (Hg.): Die Schule der Gemeinschaft, Leipzig 1925, S. 39–45, hier S. 40: »Seine [die des »Stern des Bundes«, M.L.] Wirkung ist keineswegs ästhetisch zu werten, seine Wirkung war magisch, d. h. die Tafeln des Buches drangen in Form und Inhalt ein in eine Jugend, die neue Form und neuen Inhalt verlangte […]«. Allem begeisterten Pathos zum Trotz stellt Buchholds Aufsatz ebenso ein Zeugnis für die Distanz dar, mit der die Jugendbewegung George begegnete. Ebd., S. 41, wirft sie George einesteils den Rückzug aus der Öffentlichkeit in eine »Inselsphäre der Einbildung« vor, anderenteils seine Rolle als »Meister« seines Kreises, die zur »geistigen Versklavung« seiner Anhänger geführt habe. Auf Buchholds Kritik an autonomieästhetischen Postulaten werde ich unten im Kapitel über Literatur und Politik zurückkommen. 627 Kleinschmidt: Autorschaft, S. 58. Kleinschmidt stellt ebd. allerdings auch fest, dass dieser Anspruch zunächst mehr postuliert als tatsächlich eingelöst wird. 628 Vgl. hierzu beispielsweise Walter Fabian: [Rezension zu:] Stefan Zweig, Jeremias, in: Junge Menschen, 1922, H. 7, S. 111, der in Anlehnung an die Erlebniskonvention schreibt: »Wunderbar ist die Sprache dieses Buches. Prosa und doch so voll des natürlichsten Rhythmus innerst erlebten Sprachschöpfertums« [Hervorhebung von mir, M.L.]. Widersprüchlich – mit einigem Wohlwollen ambivalent – äußert sich in dieser Frage hingegen Marlis Philips: »Werfels« Einander, in: Freideutsche Jugend, 1920, S. 235–238, die dem Dichter auf S. 237 zwar »das Recht zu seiner Sprache« zugesteht, »denn sie ist sein Ausdruck, der einzige Ausdruck seines eigenen, ganz einzigen Wesens«, dann wiederum aber kritisch einwendet: »Allerdings kann man sich bei Werfel des Eindrucks nicht erwehren, daß er öfter einmal in seine eigene Manier verfällt«. Vgl. zur Expressionismusrezeption der Jugendbewegung ausführlich Kapitel 7.4.
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Literatur soll zwar Ausdruck der ›Persönlichkeit‹ des Autors sein. Allerdings ist das auktoriale Subjekt im Literaturkonzept der Jugendbewegung häufig nicht das geniale, sich selbst setzende Individuum. Wie in der Aufklärung, wo die Stimme des authentischen Subjekts bei Rousseau an die »Natur«, bei Kant an die »Vernunft« gebunden ist, wird Subjektauthentizität auch in der Jugendbewegung nicht »autologisch« gedacht, sondern als »verliehene Authentizität«.629 Das Subjekt bleibt hier zumeist an das Kollektiv des ›Volkes‹ gebunden, wo nicht – wie in der Auseinandersetzung mit dem Volkslied – das ›Volk‹ selbst in die Position des Autors rückt. Deutlich ist das zu erkennen, wenn Dankwart Gerlach mit deutschvölkischem Pathos über Eberhard König und seine Legende vom »Wasser des Lebens« schreibt: »Eine Dichtung, geboren, wie jede Dichtung – o, wie alle Kunst! – aus der seelischen Not eines Menschen! Eines deutschen Menschen! Die Not seines Volkes, unseres Volkes erlebte König, so wurde sie seine Not«.630 Dabei handelt es sich weder um eine Besonderheit der völkischen Strömung innerhalb der Jugendbewegung noch der Jugendbewegung überhaupt. Versuche zu einer »Versöhnung von Kunst und Gesellschaft«, zu einer »Verbindung des genialen Künstlers mit dem kunstbegeisterten Volk« sind vor und nach der Jahrhundertwende vielfach belegt und reichen von der Kulturkritik eines Julius Langbehn bis zu den Konzepten des frühen Bauhaus.631 Die Verknüpfung von Autorschaft mit dem völkischen Kollektiv dient in der Jugendbewegung als Mittel, die freie, schöpferische Genialität zu bändigen,632 um so einer allerorts beklagten Tendenz zum Individualismus in der Gegenwartskultur Einhalt zu gebieten. Authentisch, und das heißt in diesem Fall: nicht durch die Modernisierungsprozesse von seinen ›Wurzeln‹ entfremdet, ist das Subjekt innerhalb dieser Vorstellungswelt dank des Bezugs auf das »Volkhafte«.633 Die Zeit um 1800 gilt schließlich als Zeitpunkt, in der der Künstler eine Aufwertung zum Paradigma menschlicher – oder zumindest männlich-bür629 Vgl. Mecke: Prozess, S. 83. 630 Dankwart Gerlach: Eberhard König, Das Wasser des Lebens. Eine Legende, in: Wandervogel Monatsschrift, 1915, H. 3, S. 88. 631 Vgl. hierzu knapp Diethart Kerbs: Kunsterziehungsbewegung und Kulturreform, in: Maase, Kaschuba (Hg.): Schund, S. 378–397, hier S. 386f. sowie Peter Ulrich Hein: Künstlerische Avantgarde zwischen Kulturkritik und Faschismus, in: Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung, 1999–2001, Bd. 19, S. 18–35. 632 Vgl. auch Regina Bendix: In Search of Authenticity. The formation of folklore studies, Wisconsin 1997, S. 54f., die die Verortung authentischer Seinsweisen im idealisierten, ahistorischen ›Volk‹ als Versuch versteht, zwischen dem modernen Individualismus und dem Göttlich-Ewigen zu vermitteln. Ohne Berufung auf ein ›völkisches Wesen‹ findet sich dasselbe Modell von Autorschaft bei Doering: Künstler. Hier wird auf historisch ältere Vorstellungen von der göttlichen Inspiration des Künstlers zurückgegriffen. 633 Die Formulierung verwende ich in Anlehnung an Mecke: Prozess, S. 83, der zu Descartes Form der »Protoauthentizität« erläutert: »Authentisch ist das radikal zweifelnde Individuum dank des Bezugs auf die Quelle der Vernunft«.
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gerlicher – Selbstverwirklichung erfährt.634. Auch die Jugendbewegung ist mit dieser Zuschreibung noch beschäftigt, wenn sie den Zusammenhang von Leben und Werk des Schriftstellers thematisiert. Die zu Beginn dieses Kapitels zitierten Vorwürfe gegen Thomas Mann lassen sich hier einreihen, geht es dem Verfasser S. doch gerade um den Vorwurf, dass der Künstler unter dem Primat einer verabsolutierten Kunst nicht länger mehr als ethisches Vorbild für das Leben des Lesers gelten könne. Was vom Künstler hingegen gefordert wird, ist, Muster zu sein für authentische Selbstentwürfe des Individuums, in dem die Widersprüche der Moderne versöhnt oder aufgelöst sind. Als Antipode zu Thomas Mann erscheint der jugendbewegten Literaturkritik in dieser Perspektive Stefan George, über den es unter Berufung auf Friedrich Gundolfs George-Biographie heißt: »Da wird in erster Linie die irrige Ansicht vom ›Ästheten‹ George gründlich und überzeugend zerstört, was ja bei der immer noch währenden Verkennung seiner Art durchaus nötig ist. Er tritt uns in allen Wandlungen als der große Gesamtmensch entgegen, der ewiges, überzeitliches Menschentum gestaltet und selbst verkörpert.«635
Nicht die Gestaltung von Georges Lyrik ist es, die Arnold Borks Bewunderung hervorruft, sondern die Gestaltung und Formung seiner Persönlichkeit zum »überzeitlichen Gesamtmenschen«. Es ist gerade diese Rolle, in der neben George auch zahlreiche andere Schriftsteller und Künstler zu »Führern«, »Freunden« und Vorbildern für die Jugendbewegung werden.
6.4
Freunde, Führer, Vorbilder
Fotis Jannidis hat Verwendungen des Autorbegriffs in literaturwissenschaftlichen Arbeiten als »Problemlösungsmechanismen innerhalb der Aufgabenstellung des Diskurses« analysiert, mit deren Hilfe Antworten auf leitende Frage634 Vgl. unter anderem Charles Taylor : The Ethics of Authenticity, Cambridge 1995, S. 62. 635 Arnold Bork: [Rezension zu:] Friedrich Gundolf, George, in: Beiblätter, 1920/21, H. 6, S. 301–303, hier S. 303. Nichtsdestotrotz bleibt Borks Wertung von Gundolfs Buch ambivalent. Er würdigt es zwar als große, zeitnotwendige Syntheseleistung, mag ihm jedoch weder in der »Überhöhung« Georges folgen noch in der kritiklosen Bewunderung sämtlicher Gedichte. Vgl. zur George-Rezeption in der Jugendbewegung unter anderem Gerhard Ziemer : Zum Verhältnis Jugendbewegung und Stefan George, in: Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung, 1971, Bd. 3, S. 8–11; Wilhelm Riegger, Otto Weise: Stefan George und die Jugendbewegung. Begegnungen und Kontakte, in: Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung, 1981, Bd. 13, S. 129–134; sowie Kolk: Gruppenbildung, S. 441–449, der sich auf die Freie Schulgemeinde in Wickersdorf und den »Weißen Ritter« konzentriert. Kolks Feststellung, dass es sich beim Verhältnis zwischen George-Kreis und Jugendbewegung um ein »sozialhistorische[s] Desiderat« handelt (ebd., S. 441), gilt allerdings weitgehend bis heute.
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stellungen gefunden werden sollen.636 Spezifische Autorfigurationen, verstanden als Ensemble von Merkmalen, die Autoren zugeschrieben werden,637 existieren jedoch auch jenseits der Literaturwissenschaft. Während in den von Jannidis untersuchten literaturhistorischen Texten Bezüge auf historische Autoren dazu dienen, Aussagen über Genese und Bedeutung von Texten zu treffen, sind die Autorfigurationen der Jugendbewegung darüber hinaus eng mit den lebensweltlichen Funktionen verknüpft, die Literatur für ihre jugendbewegten Leser erfüllen soll. Es geht ihnen nur selten darum, einen objektiven Sinn des Textes zu erkennen, sondern einen Sinn der Texte für sich selbst. In vielen Fällen genügt es bereits, den Autor hierfür als Referenzinstanz einzuführen, um den von ihm verfassten Text als »wahr«, »glaubwürdig« oder »bedeutsam« auszuweisen, ohne dass der Autor in all seiner Individualität eine Rolle spielte. Anschlüsse an das eigene Leben werden über den Text hergestellt, nicht über die Person des Autors. Unterscheiden lässt sich hiervon die Suche nach Vorbildern innerhalb der Künstlerschaft. Der Autor als individuelle Person mit seiner Biographie jenseits des literarischen Werks rückt dabei derart in den Vordergrund, dass die Kunstwerke selbst mitunter zur Nebensache werden. In einer Würdigung des Lebensreform-Künstlers Karl Wilhelm Diefenbach fordert Paul Vogler : »Diefenbach muß uns mehr werden, als er uns ist« – nicht nur der Schöpfer seines bekanntesten Werkes, des gemeinsam mit seinem Schüler Fidus erstellten Frieses »Per aspera ad astra«, sondern »Vorbild und Führer«. »Wie er nie etwas gegen den einmal gefundenen Lebensstil getan hat, wie er keine Konzessionen an Herkommen und Unnatur machte und sein ganzes Leben seiner Idee weihte, selbst mit der Tat beginnend, das hat er uns zu lehren.«638
Vogler verhehlt zwar nicht seine Freude an Diefenbachs Kunst, doch bleiben seine Ausführungen in dieser Hinsicht bemerkenswert knapp. Wichtiger ist ihm der Hinweis auf dessen Aktivitäten als Vorkämpfer der Lebensreformbewegung, den Einsatz für »Kleidungs- und Ernährungsreform, für Gartenstädte, Frei636 Fotis Jannidis: Der nützliche Autor. Möglichkeiten eines Begriffs zwischen Text und historischem Kontext, in: Ders., Gerhard Lauer, Mat&as Mart&nez u. a. (Hg.): Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs, Tübingen 1999, S. 353–389, hier S. 359. Vgl. hierzu auch Simone Winko: Autor-Funktionen. Zur argumentativen Verwendung von Autorkonzepten in der gegenwärtigen literaturwissenschaftlichen Interpretationspraxis, in: Heinrich Detering (Hg.): Autorschaft. Positionen und Revisionen, Stuttgart u. a. 2002, S. 334–354. 637 Vgl. Jannidis: Autor, S. 359, der seinen Begriff der »Autorfiguration« in Auseinandersetzung mit dem Foucaultschen Begriff der »Autorfunktion« entwickelt. 638 Paul Vogler : Karl Wilhelm Diefenbach, in: Alt-Wandervogel, 1917, H. 7, S. 152–155, hier S. 154. Vgl. zu Diefenbach v. a. den Katalog von Michael Buhrs (Hg.): Lieber sterben als meine Ideale verleugnen! Karl Wilhelm Diefenbach (1851–1913), München 2009.
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luftbäder, Freiluftspiele, Freilichttheater«.639 Diefenbachs Eignung als Vorbild verdankt sich demnach nicht seinen Gemälden und deren Wirkung auf die Rezipienten, sondern seinem besonderen »Lebensstil«, den Vogler als bedingungslose Verpflichtung auf eine Idee beschreibt. Derart kunstfern sind die autorbezogenen Äußerungen in der Jugendbewegung selten, aber stets liegt die Betonung darauf, dass »mehr als Kunst sich ereignet«, um an Buchholds Wendung aus ihrem Tolstoi-Aufsatz zu erinnern. Der Rezensent von Leonhard Franks »Der Mensch ist gut« stellt, expressionistisches Menschheitspathos aufgreifend, die rhetorische Frage: »Ob Leonhard Frank ein Dichter ist? Wer weiß es? Er ist ein Mensch! Und das ist das Größte«.640 Der offengehaltene Status Franks als »Dichter« meint sowohl sein artistisches Vermögen als auch die Ästhetik seines Buches. Mit der unbeantworteten Frage enthält sich der Rezensent eines literarischen Urteils und nennt als einzig relevante Größe bei der Beurteilung eines Textes den moralischen Status des Schriftstellers als ›Mensch‹, wenngleich in diesem Fall der literarische Text und nicht die Person des Autors Grundlage der Wertzuschreibung ist. Noch näher am Kunstwerk bleibt Willi Wolfradt in einer Gesamtwürdigung des bisherigen Werks von Franz Werfel in der »Freideutschen Jugend«. Werfel zeichne sich vor den anderen Künstlern seiner Generation dadurch aus, »daß er nicht Nur-Dichter« sei, sondern »zart und kühn letztes l’art pour l’art beiseite schiebt, um den Einbruch des Jünglings in die Literatur zu vollziehen, um in sich uns, unser Leid, unser Begehren, unseren Jubel durchzusetzen gegen kalte NurForm, in aufstürmend-abgründigem Gesang«.641 Ebenso bringt Gustav Wehrt in den »Jungen Menschen« seine Bewunderung für den verstorbenen Cäsar Flaischlen zum Ausdruck: »Sein Lebenswerk, als Ganzes überblickt, ist so wenig Nur-Kunst, daß wohl erst die Bezeichnung als Dichterethiker ihm ganz gerecht wird. Ein aufrechtes, vorbildliches Menschentum, eine starke, kampf-, sieg- und lichtliebende Persönlichkeit leuchtet uns aus jeder Zeile entgegen, die er geschrieben.«642
639 Vogler : Diefenbach, S. 153. 640 Walter Fabian: [Rezension zu:] Leonhard Frank, Der Mensch ist gut, in: Junge Menschen, 1920, H. 5/6, S. 34. 641 Willi Wolfradt: Franz Werfel, in: Freideutsche Jugend, 1918, H. 3, S. 123f., hier S. 123. Wolfradts Wendung gegen die »kalte Nur-Form« entspricht der zu überwindenden lebensideologischen Unterscheidung zwischen »Form« und »ganzheitlichem Leben«; vgl. hierzu Lindner: Leben, S. 5f. und öfter. 642 Gustav Wehrt: Zum Tode Cäsar Flaischlens, in: Junge Menschen, 1920, H. 21, S. 220f. Derartige Verbindungen zwischen Werk und Leben, aufgrund derer ein Autor sich als moralische Instanz etabliert, lassen sich bis in die Gegenwart hinein verfolgen. Aufschlussreich ist in dieser Hinsicht das Beispiel Günter Grass’, dessen enthüllte Mitgliedschaft in der Waffen-SS ähnliche Zweifel an seinem vorbildlichen Status aufkommen lassen, wie dies in der Jugendbewegung im Fall von Hermann Löns und dessen Alkoholismus der
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Gemeinsam ist diesen Äußerungen neben den fast gleichlautenden Wendungen die nachdrücklich wiederholte Totalitätsemphase. Das richtet sich nur zum Teil gegen einen als Argument stets präsenten Ästhetizismus. Im Kern geht es um das Menschenbild der Jugendbewegung und ihr Subjektverständnis. Die berauschte Feststellung, dass es sich bei einzelnen Autoren nicht »nur« um Künstler, sondern vor allem um vorbildlich lebende »Gesamtmenschen« handelt, verweist auf ein Ideal der Einheit des Subjekts und wendet sich gegen ein Gefühl der »Ichdissoziation«, das Silvio Vietta als Mittelpunkt expressionistischer Modernitätswahrnehmung beschrieben hat,643 dessen Ursprünge sich aber mindestens bis zur Literatur der Jahrhundertwende und zur entstehenden Psychologie bei Freud zurückverfolgen lassen.644 Zwar erreichen die jugendbewegten Autoren nie die reflexive Höhe, die einzelne expressionistische Autoren kennzeichnet, und sie lassen die Problemlage auch nur ex negativo, durch die Benennung oder Umschreibung eines gegenteiligen Ideals erkennen, doch ist die Bewusstseinslage dieselbe. Der Ausdifferenzierung der Gesellschaft nach funktionalen Kriterien in einzelne Subsysteme und damit einhergehend der Festlegung des Individuums auf unterschiedliche Rollen setzt die Jugendbewegung als Wille und Vorstellung die Integration des Lebensvollzugs unter eine einheitliche Idee entgegen. Erst von hier aus gewinnt die Ablehnung ästhetizistischer Tendenzen in der Gegenwartskunst ihre volle Relevanz für die Jugendbewegung. Exemplarisch für gesamtgesellschaftliche Prozesse wird die Etablierung eines vom Rest des Lebens und der Gemeinschaft geschiedenen Subsystems Kunst kritisiert, dessen Rückführung in den Lebensvollzug als Einheit von »Kunst« und »Leben« gefordert wird. Gemeinsam ist den Künstler-Vorbildern, dass ihre Persönlichkeit den jugendbewegten Menschen als Resultat einer bewussten und willentlichen Formung erscheint. Während die Gestaltung der Werke sich zwangsläufig und folgerichtig aus ihrem Charakter ergebe, sei der Charakter selbst Ergebnis absichtsvoller, ziel- und zweckgerichteter Planung und Setzung und nicht des Zusammenwirkens anonymer gesellschaftlicher Kräfte und Sozialisierungsinstanzen.645 Die Mitglieder der Jugendbewegung suchen unter den Künstlern Fall ist. Vgl. hierzu unten, S. 206f. Vgl. zu Günter Grass’ Vergangenheit in der Waffen-SS und dem medialen Echo bspw. Matthias N. Lorenz: »von Katz und Maus und mea culpa«. Über Günter Grass’ Waffen-SS-Vergangenheit und Die Blechtrommel als moralische Zäsur, in: Ders., Maurizio Pirro (Hg.): Wendejahr 1959? Die literarische Inszenierung von Kontinuitäten und Brüchen in gesellschaftlichen und kulturellen Kontexten der 1950er Jahre, Bielefeld 2011, S. 281–305. 643 Vgl. Silvio Vietta, Hans-Georg Kemper : Expressionismus, München 1997, S. 22–185. 644 Vgl. hierzu bspw. den Überblick über »lebensideologische Psychologie« bei Lindner : Leben, S. 24–39. 645 Ich werde auf diesen kultur- und sozialhistorischen Aspekt im Kapitel über Literatur und Identität ausführlich zurückkommen.
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nach Menschen, deren Biographie eine Einheit von Ideal und Lebenspraxis erkennen lässt und so die moralische Integrität des Autors garantiert. Kunst soll mehr sein als ein Spiel mit Rollen, nämlich unmittelbarer Ausdruck der eigenen Persönlichkeit. Fraglos ist aber auch, dass der Toleranz der Jugendbewegung bei der Lektüre moralische und weltanschauliche Grenzen gesetzt sind. In seiner Kritik Thomas Manns behauptet S. zwar auch einen engen Zusammenhang von Person und Werk, doch folgt beides den falschen moralischen Grundsätzen. In dieser Problemlage dürfte einer der Gründe für die weitgehend ausbleibende Rezeption der literarischen Moderne in der Jugendbewegung zu suchen sein, die sich nicht nur Annahmen über die fatale Wirkung jener Texte verdankt, sondern auch dem identifikatorischen Schluss vom literarischen Text auf Charakter und Persönlichkeit der Verfasser.646 Von der Suche nach Vorbildern bleibt das auch in der Forschung immer wieder thematisierte Selbstverständnis der Jugendbewegung als Selbsterziehungsgemeinschaft647 der Tendenz nach weitgehend unberührt. Zu den Kerngedanken dieses pädagogischen Konzeptes gehört als Ziel eine Persönlichkeitsbildung, die jeglicher Festlegung auf ein bestimmtes politisches oder weltanschauliches Programm vorgängig sein soll. Innerhalb dieses Konzepts dienen die Künstler-Vorbilder lediglich als Muster vorbildlichen Lebens. Sie sollen die Möglichkeit aufzeigen, dass die Verwirklichung einer einheitlichen Identität im Verlauf des Erwachsenwerdens unter den Bedingungen der Moderne überhaupt noch zu leisten ist.648 Dies geschieht weitgehend unabhängig von den spezifischen Zielen der bewunderten Persönlichkeiten.649 646 Hinzu kommt, dass es sich bei der literarischen Moderne häufig um Formen »negativer Ästhetik« handelt. Renate von Heydebrand: Ethische contra ästhetische Legitimation von Literatur, in: Walter Haug (Hg.): Ethische contra ästhetische Legitimation von Literatur, Tübingen 1986, S. 3–11, hier S. 9, bestimmt diese im Anschluss an Adorno »als illusionslose, leidgeborene Antwort auf den erfahrenen Sinnverlust« in der Moderne, in der Literatur sich weigert, »auch nur im Schein noch das ›ganze Wahre‹ zu repräsentieren und eine Perspektive auf positive ›Sittlichkeit‹ zu eröffnen«. Wie sie weiterhin feststellt, ist eine solche Form von Ästhetik »nur von ›positiver‹ Ethik bzw. Religion angreifbar […]«. Dies aber ist genau der jugendbewegte Standpunkt. In ihrer Literaturkritik beharren sie auf der Funktion von Literatur, ethische Werte zu vermitteln und kritisieren von hier aus eine »Absolutsetzung des Ästhetischen« – das heißt nicht nur die Vermittlung anderer moralischer Grundsätze als ihrer eigenen, sondern das tatsächliche oder vermeintliche Fehlen moralischer Grundsätze in der Literatur überhaupt. 647 Vgl. unter vielen anderen Friedhelm F. Musall: Frühe Jugendbewegung, Sexualität und adoleszente Politisierung. Pädagogisch-sozialpsychologische Untersuchungen zu Entstehung und Verlauf der deutschen Jugendbewegung bis 1920, Frankfurt a. M. 1987, S. 118–132 und Schenk: Freideutsche Jugend, S. 151–154. 648 Vgl. hierzu auch Christian Klein, Hubert Winkels: »Biographismus ist eine andere Art der Kontingenzbekämpfung«. Der Literaturkritiker Hubert Winkels über die »gute Biographie«, ihr Verhältnis zu Roman und Realität sowie den Erfolg des Genres, in: Christian Klein
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Dass sich das Orientierungsbedürfnis der jungen Menschen mitunter auch auf die konkreten Ideale der gewählten Vorbilder erstreckt, soll nun zwar nicht geleugnet werden. Auch wenn später noch von einer genuin politischen Wertung von Literatur zu reden sein wird, kann die Auseinandersetzung mit der Herkunft und Adaption von politischen und weltanschaulichen Ideen der Jugendbewegung aber doch primär der historischen Sozial-, Politik und Religionsforschung überlassen bleiben.650 Die politischen Ideen der Jugendbewegung sind diffus und heterogen und decken in unterschiedlichem Maß das gesamte zeitgenössische Parteienspektrum ab, was sich auch in der Auswahl und Wertung literarischer Texte niederschlägt. Unabhängig davon, und damit Teil des umfassenden Literaturkonzepts der Jugendbewegung, ist allerdings die hier ausgewiesene Personalisierung und Biographisierung von Autorschaft, deren Ziel es ist, vorbildhafte Lebensläufe zu entdecken. Literaturhistorisch war die Zeit für derartige Lektürepraktiken günstig, liefen doch die »Self-Fashioning-Strategien« zahlreicher Schriftsteller und Künstler darauf hinaus, sich als »Propheten« und »Priester«, »Heilige« und Erlöser«,651 als »charismatische Führer«652 und als »Erzieher«653 zu produzieren. Friedhelm Marx hat in diesen Selbstinszenierungspraktiken – trotz aller die Konzepte im Detail unterscheidenden Aspekte – Versuche erkannt, »die Rückbindung der isolierten Künstlerexistenz an die Gemeinschaft im Ritual des Lesens, in der
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(Hg.): Biographie, Hannover 2013, S. 105–111. Hubert Winkels gibt im Interview seine Ansicht zu Protokoll, dass es sich beim »Biographismus [um] eine andere Art von Kontingenzbekämpfung« handelt, die als »Rückzugsort der sinnhaften Lebenserzählung« fungiert, nachdem »die strukturelle Geschichtsbetrachtung mit ihren gelegentlich kontraintuitiven Elementen an Suggestivkraft verloren hat« (S. 109). Wenn die Jugendbewegung über Biographien hinaus immer wieder einen biographischen Rezeptionsmodus erkennen lässt, dann lässt sich dies auf eine entsprechende Suche nach sinnhaften Lebenszusammenhängen zurückbeziehen. In diesem Sinn werden nicht nur Autoren wahrgenommen, sondern auch fiktive Figuren. Unter diesem Gesichtspunkt wird das Problem ausführlich im Abschnitt über Literatur und Identität Gegenstand vorliegender Arbeit sein. Auch für die genannten Disziplinen sind Rezensionen in den Zeitschriften der Jugendbewegung eine bislang noch kaum wahrgenommene Quelle: Die Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Diskursen findet nicht nur in eigenständigen Beiträgen im Hauptteil der Hefte statt, sondern ebenso in der kritischen oder affirmativen Besprechung von in dieser Arbeit nur am Rande behandelten Sachbüchern im Rezensionsteil. Friedhelm Marx: Heilige Autorschaft? Self-Fashioning-Strategien in der Literatur der Moderne, in: Detering (Hg.): Autorschaft, S. 107–120. Dies die bekannte Kategorie Max Webers, der sie vor allem in Auseinandersetzung mit Stefan George und seinem Kreis entwickelte. Die Prominenz dieser Vorstellung wird bereits in zahlreichen zeitgenössischen Buchtiteln sichtbar. Im Nachklang zu Nietzsches »Schopenhauer als Erzieher« (1874) publizierte Julius Langbehn sein »Rembrandt als Erzieher« (1890), der Mindener Verlag J.C.C. Bruns veröffentlichte eine Broschüre unter dem Titel »Fidus als Erzieher« (1902) und Walter Hammer sein »Nietzsche als Erzieher« (1914).
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Autorschaft
Verkündigung des Wortes oder in der Form vorbildlichen Lebens« zu gewährleisten.654 Der Wunsch nach einer Gemeinschaft zwischen Schriftsteller und Leser ist ebenso auf der Seite der Rezipienten zu erkennen, und die Jugendbewegung steht hiermit sicherlich nicht alleine.655 Gegenüber Marx ist aber zu präzisieren, dass der Wunsch nach einer intensiven und intimen Verbindung nicht beim stets nur temporären Gefühl der Nähe im Akt des Lesens stehen bleibt, sondern gerade durch die Bezugnahme auf den Autor auf Dauer angelegt ist. Davon zeugt nicht zuletzt die emotionalisierte Semantik, die in diesem Zusammenhang in den Zeitschriften der Jugendbewegung immer wieder verwendet wird: »Freunde« und »Führer« sind eben nichts, was mit der Tageslaune gewechselt wird. Gleichzeitig lassen die Begriffe durchscheinen, dass sie von den Mitgliedern der Jugendbewegung in Analogie zu ihrer jugendlichen Lebenswelt gebildet werden. Sicherlich handelt es sich bei »Freundschaft« nicht um eine Erfindung der Jugendbewegung, so wie es sich beim »Führertum« um eine zentrale zeitgenössische Kategorie handelt, die ihre Wirkung weit über die Jugendbewegung hinaus entfaltet. Ebenso gewiss ist aber, dass beiden in der Jugendbewegung eine entscheidende Rolle zukommt.656 Während die Suche nach »Freunden« eine Gleichberechtigung der Beziehung impliziert, deutet die Kategorie des »Führers« ein Distanzgefälle an.657 Die Suche nach Vorbildern als 654 Marx: Autorschaft, S. 119. 655 Vgl. unter anderem die Analyse von Briefen von Lesern an Gustav Frenssen bei Uwe-K. Ketelsen: Frenssens Werk und die deutsche Literatur der ersten Jahrzehnte unseres Jahrhunderts. Zuordnungen, Parallelen, Abgrenzungen, in: Kay Dohnke, Dietrich Stein (Hg.): Gustav Frenssen in seiner Zeit. Von der Massenliteratur im Kaiserreich zur Massenideologie im NS-Staat, Heide 1997, S. 152–181, hier S. 160–171, die sich Rat und Hilfe suchend an den berühmten Autor gewandt haben. Vgl. außerdem die Beiträge im Sammelband von Braungart (Hg.): Verehrung, zum »Umgang mit dem Dichter im 19. Jahrhundert«. 656 Die Begriffe der »Freundschaft« und des »Führers« werden nicht nur auf Autoren angewendet, sondern ebenso auf Bücher. Ergänzung findet dieses Phänomen in der Beschreibung des Lesens als »Erlebnis«, worin eine Analogie zur »Fahrt als Erlebnis« sichtbar wird. Aufgrund des häufigen Vorkommens derart emotionalisierter Semantik in literaturkritischen Texten soll dieses Phänomen weiter unten in einem eigenen Abschnitt behandelt werden; vgl. Kapitel 7.5. 657 Es ist wenig hilfreich, den Begriff des »Führers« im Kontext der Jugendbewegung grundsätzlich von Hitler her begreifen zu wollen. In der Jugendbewegung kursierten zahlreiche Vorstellungen von »Führerschaft«, die längst nicht alle Autorität und blinde Gefolgschaft in den Mittelpunkt rückten, und auch die allermeisten Gruppenleiter dürften kaum diesem Typus entsprochen haben. Mitunter wird der Wunsch nach einer »Freundin« und einer »Führerin« auch in einer Person vereinigt, so bei Münch: Bücher, S. 267. Münch fordert seine Leser dazu auf, Getrud Prellwitz’ »Freundschaft« zu suchen: »Denn hier spricht zu uns eine große Dichterin, eine gottbegnadete Seherin und eine Führerin zur neuen Zeit«. Allerdings trägt die positive Konnotation und die emotionale Aufladung des »Führer«-Begriffs in der Jugendbewegung dazu bei, die rasche Akzeptanz des NS-Vokabulars zu erklären.
Freunde, Führer, Vorbilder
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»Führern« innerhalb der Künstlerschaft ist so auch deutlich als Sehnsucht nach erwachsenen Vorbildern zu sehen, die zu einer Überwindung der Unsicherheit darüber beigetragen haben dürften, mit den entwickelten Formen des Zusammenlebens in den jugendbewegten Gruppen und mit den ethischen Ansprüchen auf dem richtigen Weg zu sein. Beispielhaft hierfür steht ein in den »Jungen Menschen« publizierter Artikel über »Hermann Hesse und die neue Jugend«, in dem Hesses herausragende Bedeutung – »keinen der vorhergehenden Generation fühlen wir uns so verbunden wie ihn« – damit erklärt wird, dass »hier ein Mensch die Entwicklung einer Generation vorauslebte, weil er Mann ist, heute, wo wir noch in suchendem Ringen, weil er gefestigt, ohne erstarrt zu sein«.658 In Anbetracht des fordernden Pathos überrascht es nicht, dass die jugendbewegten Leser und Literaturkritiker mitunter heftig auf Brüche zwischen der realen Biographie des Autors und der »biographischen Legende«659 reagieren. Seinen Status als »Star-Autor«660 verdankte Hermann Löns auch in der Jugendbewegung nicht zuletzt der scheinbaren Einheit, die das Wissen um seine Person und der Inhalt seiner Werke bildeten. Dass das öffentliche Bild von Löns als einsamem Wanderer in der Heide, als Jäger auf der Pirsch durchaus nicht der Wahrheit entsprach, hat Thomas Dupke in seiner Studie über den »Löns-Mythos« herausgearbeitet: Weder stammte Löns aus der Heide noch hatte er dort seinen Lebensmittelpunkt – dieser lag vielmehr in Hannover, bereits damals eine Großstadt – und er ging auch nicht beruflich der Jagd nach, sondern verdiente sein Geld als Schriftsteller und Journalist.661 In der Jugendbewegung aber erinnert man sich seiner weitgehend ungebrochen als eines »rechten Wandervogel[s]«: »Wandern war ihm Lebenskunst, die Kunst, sich nicht für lange von der falschen Überkultur unserer Tage unterkriegen zu lassen. So war Löns ein Revolutionär gegen die Unnatur der Stadt und ihrer Scheinsitten, ein sonnenfroher Verehrer alles Gesunden, Starken und Natürlichen […].«662 658 Karl Rauch: Hermann Hesse und die neue Jugend, in: Junge Menschen, 1921, H. 4, S. 50–52, hier S. 50. 659 Vgl. zur Unterscheidung von realer Schriftstellerbiographie und biographischer Legende Boris Tomasˇevskij: Literatur und Biographie, in: Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Mat&as Mart&nez u. a. (Hg.): Texte zur Theorie der Autorschaft, Stuttgart 2000, S. 46–61. 660 Thomas Dupke: Mythos Löns. Heimat, Volk und Natur im Werk von Hermann Löns, Wiesbaden 1993, S. 22. 661 Vgl. ebd., v. a. S. 46–50; vgl. außerdem ebd., S. 88f., zur Löns-Rezeption in der Jugendbewegung. 662 Meyen: Hermann Löns, S. 95. Meyen bedient sich hier zentraler Schlagworte des Authentizitätsdiskurses, wenn er die »Unnatur« und die »Scheinsitten« der Stadt geißelt, der im Umkehrschluss die »wahre« Natur und die »wahren« Sitten dörflicher Regionen und ihrer Bevölkerung gegenüberstehen. Vgl. hierzu auch Bendix: Authenticity, S. 9, die darauf aufmerksam macht, dass die Ausweisung von Authentizität grundsätzlich mit der Markierung von Grenzen zum Inauthentischen einhergeht.
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Autorschaft
Albrecht Meyen sieht deshalb fünf Jahre nach dem Tod des »Heidedichters« eine doppelte Verpflichtung für die Jugendbewegung: »Wir Wandervögel sind dazu berufen, das Vermächtnis Hermann Löns’ anzutreten. Wohlan, machen wir es uns aber auch zur Dankespflicht, ihm nachleben.«663
Diese uneingeschränkte Bewunderung für Hermann Löns war wenige Jahre zuvor ins Wanken geraten. Grund war ein Artikel Dankwart Gerlachs in der »Führerzeitung«. Gerlach hebt dort zunächst zum topischen Lob des Schriftstellers an, wobei er zwar die Nähe zum Wandervogel ausstellt, gleichzeitig aber eine grundsätzliche Differenz markiert: »Löns hatte, das wissen alle, die Sachen von ihm gelesen haben, ein sehr starkes Naturgefühl, das ihn, aus der heutigen Welt herausgerissen, zu Dingen von einer Unmittelbarkeit führte, die uns so zu uns gehörig und verwandt scheint, die wir freudig bewundern. Nur kam er ganz anders dazu als wir, die Unmittelbarkeit bei ihm war nicht unsre, die alle Schlacken von sich wirft und dann kahl und bloß vor der Natur steht, ein Stück von ihr.«664
Gerlach berichtet, dass er von Freunden Löns’ von dessen Alkoholismus erfahren habe, der derart wirksam auf seine Arbeit gewesen sei, dass er den Alkohol zum Schreiben regelrecht gebraucht habe. Gerlach selbst bereitet dieser Umstand nur geringes Kopfzerbrechen. Trotz des »Umwegs« über den Alkohol sei Löns und den Wandervögeln doch die Suche gemeinsam nach dem »Unnüchternen, das nicht von dieser Welt eines groben, kalten Alltags« sei, nach »Dingen […], die über das Heute hinausführen und Leben haben«.665 Anders steht es mit Richard Schapke, der sich zu einer wütenden Replik auf Gerlachs Artikel genötigt sieht, in der Unglaube und Unwille sich zu empörtem Trotz verdichten: »Ich wende mich gegen die Auffassung, daß Löns zum Schaffen der Inspiration des Alkohols bedurfte, trotz des zufälligen Umstandes, daß manches von ihm nach einer langen Nacht entstanden sein mag. Es ist nicht wahr, daß der Dichter nicht der Mensch Löns war. Hermann Löns war ganz und gar ein Dichter, der aus seinem großen Erleben heraus unter einem inneren Zwange seine Werke schrieb. Er ist ganz einer der Unseren, ihn trieb wie uns eine tiefe Sehnsucht zu allem Ursprünglichen, Echten und Natürlichen.«666
Derart unangenehm ist Schapke die ganze Sache, dass er den unterstellten Zusammenhang von Alkoholkonsum und Schreiben hinter dem Euphemismus 663 Meyen: Hermann Löns, S. 96. 664 Dankwart Gerlach: Etwas über Hermann Löns, in: Führerzeitung, 1916, H. 9, S. 120f., hier S. 120. 665 Ebd., S. 121. 666 Schapke: Hermann Löns, S. 58.
Biographische Interpretationen oder Biographismus?
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»einer langen Nacht« verdrängt. Problematisch ist ihm die als »Auffassung« bezeichnete Tatsache schon aufgrund der damit einhergehenden Bedrohung der ethischen Vorbildhaftigkeit Löns’, war die Jugendbewegung doch in weiten Teilen abstinent.667 Das moralische Problem ist jedoch gleichzeitig ein mediales Problem, durch das die Eignung von Löns als Vorbild gemäß des jugendbewegten Literaturkonzepts massiv in Frage gestellt wird. Schapkes heftige Reaktion zeigt, dass er es in diesem Fall weit mehr internalisiert hat als Gerlach. Durch die Verbindung von auktorialer Produktivität und Alkohol wird die Vorstellung vom Schaffen aus »großem Erleben« und aus »innerem Zwang« bedroht, die Einheit des ›Dichters‹ und des ›Menschen‹ in Frage gestellt: Die Unmittelbarkeit des Schreibens und damit auch des Textes zur Person des Autors wird verfremdet durch die berauschende und sinnesveränderne Kraft des Rausches, so dass nicht länger klar ist, wo das »echte« Fühlen und Denken des Verfassers und wo der Einfluss des Alkohols zu lesen ist.
6.5
Biographische Interpretationen oder Biographismus?
Die bislang in diesem Kapitel vorgestellten autorbezogenen Äußerungen in den literaturkritischen Texten der Jugendbewegung lassen auf eine weite Verbreitung biographischer Rezeptionsmodi schließen, bei denen in unterschiedlicher Weise die Person des Autors im Fokus der Rezipienten steht.668 Grundsätzlich lässt sich hierbei unterscheiden zwischen einem Interesse am Text, für dessen Interpretation, Funktionalisierung und Wertung Informationen über Autoren herangezogen werden, und einem Interesse am Menschen hinter dem Autornamen, zu dessen Befriedigung literarische Texte lediglich neben anderen Quellen benützt werden. Für den ersten Fall, also die Verwendung biographischer Informationen über den Autor zur Interpretation eines Textes, lässt sich aus literaturwissenschaftlicher Perspektive noch eine weitere Differenzierung vornehmen. Tom Kindt und Hans-Harald Müller unterscheiden terminologisch zwischen einer »biographischen Interpretation« von Texten und einem »Biographismus«. Nach ihnen handelt es sich beim »Biographismus« um die missbräuchliche Übertreibung von Methoden der Textinterpretation, die sich auf Faktenwissen um die Biographie eines Autors stützen.669 »Als ›mißbräuchlich‹ und also ›biographis667 Für die Alkoholabstinenz der Jugendbewegung gab es freilich nicht in allen Fällen ideologische Gründe. Insbesondere in der Frühzeit der Jugendbewegung war die Abstinenz häufig eher pragmatischer Natur. Vgl. hierzu Pross: Jugend, S. 140. 668 Vgl. zum Begriff des »Rezeptionsmodus« oben, S. 68–70. 669 Tom Kindt, Hans-Harald Müller : Was war eigentlich der Biographismus – und was ist aus ihm geworden? Eine Untersuchung, in: Detering (Hg.): Autorschaft, S. 355–375. Gegen
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Autorschaft
tisch‹« definieren sie »nur solche Anwendungen des biographischen Prinzips […], die isolierte Teile von Werken auf das Leben ihrer Verfasser zurückführen, ohne die Relevanz solcher Verknüpfungen für die Konzeption und integrative Deutung des Werks auszuweisen«.670 Wo es sich beim Untersuchungsgegenstand wie hier weitgehend um die Literaturrezeption von Laien handelt, sind reflektiert-methodische Interpretationen allerdings die Ausnahme, weswegen in den meisten Fällen auch der explizite Nachweis einer Relevanz biographischer Informationen für die Werkanalyse ausbleibt. Die Unterscheidung lässt sich dennoch aufrechterhalten, indem erst dort von biographistischen Lektüren im engeren Sinn gesprochen wird, wo sich die jugendbewegten Literaturkritiker vollends auf Vermutungen über autobiographische Hintergründe eines Textes einlassen und keinerlei Zusammenhang zur Textgenese mehr hergestellt wird. Das tangiert auch grundsätzlich die Frage nach den Quellen, auf denen die Zuschreibungen von auktorialer, medialer und referentieller Authentizität seitens der jugendbewegten Literaturkritiker beruhen. Zum Teil handelt es sich um paratextuelle Hinweise wie die Vorworte zu Fontanes »Wanderungen durch die Mark Brandenburg«, deren Hinweise und Ratschläge für Reisende die Glaubwürdigkeit des Verfassers suggerieren. Mit Phillipe Lejeunes prominenter Wendung ist von einem »autobiographischen Pakt« zwischen Autor und Lesern auszugehen,671 der die Identität des reisenden Erzählers mit dem auf dem Buchumschlag genannten Verfasser garantiert. Andernorts, zum Beispiel in einem Artikel über Joseph Victor von »Scheffel als ›fahrender Schüler‹«, wird mit intertextuellen Hinweisen operiert, die einen biographischen Hintergrund von Scheffels »Trompeter von Säckingen« nahelegen sollen.672 Meist jedoch verdankt sich die These, dass ein Text auf Erlebnissen des Autors beruhe, wie im folgenden Fall rein textuellen Merkmalen: biographische Methoden der Textinterpretation »lassen sich keine empirischen oder logischen, sondern allenfalls normative Einwände vorbringen«, so Kindt und Müller ebd., S. 374, weswegen sie sich für jene terminologische Trennung stark machen. 670 Ebd., S. 374f. Damit definieren sie »Biographismus« enger als Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Mat&as Mart&nez u. a.: Einleitung. Autor und Interpretation, in: dies.: Texte, S. 7–29, hier S. 11, die jede Position darunter subsumieren, nach der »zwischen Leben und Werk eines Autors ein so enges Bedingungsverhältnis besteh[t], dass eine Analyse der biographischen Fakten Aufschluss über die Bedeutung des literarischen Textes g[ibt]«. Diese Auffassung findet sich in der Jugendbewegung jedoch allerorten, weswegen diese Definition nicht zur Differenzierung der dort vorfindlichen Unterschiede geeignet ist. 671 Vgl. Lejeune: Pakt. 672 Vgl. Anonym: Viktor Scheffel als »fahrender Schüler«, in: Alt-Wandervogel, 1910, H. 3, S. 72: »Wie Jung-Werner, der Trompeter von Säkkingen, ist auch der junge Josef Victor Scheffel, mit dem Ranzen auf dem Rücken, durch die schöne Gottesnatur gezogen. Das geht aus einem interessanten Reisebrief an seinen innigen Jugendfreund und Studiengenossen Friedrich Eggers hervor […]«.
Biographische Interpretationen oder Biographismus?
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»Man merkt es dieser Lyrik an, daß ihr Verfasser selbst richtig zu wandern weiß und man kann ihn nur beneiden um die Gabe, der Natur ihr Schönstes und Geheimstes abzulauschen.«673
Der argumentativen Logik der Rezensionen folgend, bedarf es zur Überprüfung dieser These auch keinerlei weiterer Belege: So, wie diese Texte verfasst sind, kann eben nur jemand schreiben, der nicht nur »Literat« ist, sondern sich die Welt mit eigenen Augen angesehen hat und mit seinem Leben, seiner Biographie und seinen Erlebnissen für die Wahrheit und Wahrhaftigkeit des Erzählten einsteht. Die einzelnen Rezensionen sind meist zu knapp gehalten und ermangeln ausreichend detaillierter Ausführungen über die formale Gestaltung der besprochenen Titel, um Aussagen darüber treffen zu können, welche Kriterien für jugendbewegte Literaturkritiker erfüllt sein müssen, damit eine solche Schlussfolgerung erfolgt. Dennoch ist die Annahme naheliegend, dass es vor allem Wirkungseffekte sind, die die Rezensenten an sich selbst beobachten und von denen sie auf vergleichbare Erlebnisqualitäten des Autors schließen.674 So ist auch in einer Rezension zu Hermann Hesses »Musik des Einsamen« die Vorstellung zu erkennen, dass die Entstehung von Literatur unmittelbar an die Erlebnisse des Verfassers gekoppelt sei: »Auch will ich euch sagen, daß eine frühere Gedichtsammlung Hesses fast ausschließlich von Liebesweh, Sehnsucht nach der Heimat und Weltschmerz singt. Darüber erhebt sich sein Denken und Fühlen allmählich, er hat aus diesen Erfahrungen, die ihn vielleicht wer weiß wie tief erschüttert haben, ein kindlich zaghaftes Gottvertrauen gewonnen und steht nun wohl mit weitem, hilfreichen, schönheitoffenen Herzen in der Welt.«675
Mutmaßungen über neue Erfahrungen, veränderte persönliche Verhältnisse Hesses bilden die Grundlage zur Erklärung nicht nur zur Entstehung eines einzelnen Werkes, sondern einer Entwicklung seines Schaffens. Dies geschieht aber nicht aufgrund persönlicher Bekanntschaft mit seinen Lebensverhältnis673 [Hugo] Tsch.[uncky]: [Rezension zu:] Rudolf Baumbach, Reise- und Wanderlieder, in: AltWandervogel, 1914, H. 8, S. 217f. 674 Zur Bekräftigung dieser Vermutung sei an die bereits zuvor zitierte Rezension von Wilhelm Kotzdes Frau Harke erinnert, deren Verfasser die »Lebendigkeit« der Darstellung in einen kausalen Zusammenhang mit dem erlebten Wissen Kotzdes bringt. Siehe hierzu oben, S. 187. Es handelt sich bei den Wirkungseffekten näherhin um »Authentizitätseffekte«, wie sie Christian Klein: Kultbücher. Theoretische Zugänge und exemplarische Analysen, Göttingen 2014, beschrieben hat. Diese gliedern sich in eine »(a) Authentizität der Darstellung, (b) Wahrhaftigkeit des Dargestellten und (c) Kongruenz des Dargestellten mit den Erfahrungen der Leser. Keiner der Aspekte wird hier im ontologischen oder normativen Sinne verstanden, vielmehr handelt es sich um Zuschreibungen der Leser« (S. 35). 675 Gerhard Spree: [Rezension zu:] Hermann Hesse, Musik des Einsamen. Gedichte, in: AltWandervogel, 1918, H. 11, S. 164.
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Autorschaft
sen. Registriert wird eine Veränderung der Motive und Themen in der Lyrik Hesses, die spekulativ (»vielleicht«) auf biographische Veränderungen bezogen werden. Der Verfasser eines Aufsatzes über das von Prager Studenten gesungene Lied »Nach Süden nun sich lenken« in Eichendorffs »Taugenichts« bietet hingegen sein kulturhistorisches Wissen auf, um einen Zusammenhang zur Biographie des Autors herzustellen: »Ein verfeinertes Überbleibsel des alten Goliardentums hat dem Dichter drunten in der Hauptstadt des Böhmerlandes einst die Anregung gegeben. Es hatten sich dort nämlich seit der Mitte des 18. Jahrhunderts, während der Blütezeit des italianisierenden Kirchengesanges, die ärmeren Akademiker zu Chören vereinigt, um in den Kirchen und den Hauskapellen der Adligen sich durch ihre Kunst den Lebensunterhalt zu erwerben. […] Oft taten sich dann in den Ferien ganze Orchester zusammen, zogen weit durchs Land von Ort zu Ort und ließen für klingenden oder eß- und trinkbaren Lohn ihre Weisen erschallen. Sie müssen zuweilen recht gutes geleistet haben, denn Schubart rühmt ausdrücklich die Leistungsfähigkeit dieser akademisch gebildeten Musikbanden. Eichendorff hat während seines Prager Aufenthaltes diese »Herren Studenten« kennen gelernt, ist vielleicht auch mal mit ihnen zum Tor hinausgezogen und hat dem Gedenken dieser Fahrenden sein Lied geweiht.«676
Die Authentizität des Erzählten wird hier auf zwei verschiedene Weisen behauptet. Zunächst, als historische Authentizität, durch die Übereinstimmung der erzählten Welt mit dem Wissen des jugendbewegten Verfassers über das Prag des frühen 19. Jahrhunderts. Das Wissen um die Biographie des Autors Eichendorff wiederum wird als Vergleichsmoment herangezogen, um auch eine biographische Authentizität plausibel zu machen. Anders als im vorherigen Beispiel dient die nicht weiter belegte Annahme einer Begegnung Eichendorffs mit den »Herren Studenten« aber nicht dem Verständnis der Spezifik des Textes. Wenn sie überhaupt einen Zweck erfüllt, dann ist dieser literaturextern.677 Schließlich gibt es in den Zeitschriften der Jugendbewegung auch noch jene Fälle, in denen die Kunstwerke gegenüber ihren Schöpfern vollends ins Hintertreffen geraten, wozu insbesondere jene Beispiele zählen, in denen Künstler um ihres Vorbildcharakters wertgeschätzt werden. Die Grenze dessen, was sich noch füglich als Biographismus bezeichnen ließe, wird dabei überschritten, wenn die Kunstwerke, wie im Fall der Diefenbach-Würdigung Paul Voglers, nur 676 W.: Ein Herbstlied, in: Alt-Wandervogel, 1907, H. 10, S. 148f., hier S. 149. 677 Tatsächlich ist der Verfasser bemüht, eine spezifisch deutsche Tradition musizierender Studenten in Böhmen zu konstruieren und diese für die zeitgenössischen kulturellen und politischen Konflikte zu instrumentalisieren. Am Ende seines Aufsatzes empfiehlt er ebd., S. 149, seinen Lesern: »Kommt Ihr mal auf einer Fahrt in jenes von Deutschen und Tschechen so heiß umstrittene Gebiet, dann singt auch wie wir beim Scheiden von Prag und von dem gastfreien deutschen Handwerkerhause am Wenzels-Platz gleichsam als Trutzwehr das liebe Eichendorffsche Lied ›Von der Prager Studenten Wanderschaft‹«.
Biographische Interpretationen oder Biographismus?
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noch als ein biographisches Moment unter vielen aufgeführt werden, die Biographie des Künstlers unverbunden neben seinen Kunstwerken steht. Die Frage, ob es sich in den literaturkritischen Texten der Jugendbewegung um biographische Interpretationen oder um Formen des Biographismus handelt oder Kunst und Literatur ohnehin nur sekundär sind gegenüber dem Autor, lässt sich somit nicht allgemeingültig beantworten. Ohne Zweifel ist Autorschaft jedoch eine zentrale Kategorie des jugendbewegten Literaturkonzeptes, die es in verschiedener Hinsicht erlauben soll, Verbindungen zwischen Text und Lebenswelt herzustellen. Damit steht sie nicht alleine. Andere Möglichkeiten, literarische Texte an die Lebenswelt zurückzubinden, sollen in den folgenden Kapiteln als Funktionszuschreibungen untersucht werden.
7.
Funktionen von Literatur
Bereits in den einleitenden Überlegungen zum Kapitel über die Wirkung von Literatur wurde die Rede von den Funktionen von Literatur dahingehend expliziert, dass mit ihr die Zwecke und Aufgaben gemeint sind, die literarische Texte für ein Kollektiv oder ein Individuum erfüllen sollen. Von Wirkungen unterscheiden sich Funktionen dadurch, dass jene einen empirisch nachweisbaren oder wenigstens behaupteten Effekt der Lektüre auf Leser bezeichnen. Im Folgenden wird es insofern um die Frage gehen, welche Leistungen Literatur für ihre jugendbewegten Leser erfüllen soll und welche spezifischen Interessen durch das Lesen befriedigt werden sollen. Bevor diese Aspekte des jugendbewegten Literaturkonzeptes exemplarisch am Zusammenhang von Literatur und Wissen, Literatur und Geschichte, der Vorbildfunktion von Literatur und emotionalen Funktionen vorgestellt und analysiert werden, sollen auf der Grundlage der literaturwissenschaftlichen Forschung der letzten Jahre relevante Binnendifferenzierungen des Funktionsbegriffs vorgenommen werden.678 Im Rahmen des dieser Arbeit zugrundeliegenden Konstruktivismus ist davon auszugehen, dass literarische Texte nicht einfach eine oder mehrere Funktionen haben, die Leser wahrnehmen, sondern dass Leser literarischen Texten Funktionen zuschreiben.679 Anders formuliert nutzen Leser Texte zu bestimmten 678 Erste Orientierungen zum literaturwissenschaftlichen Funktionsbegriff bieten neben Artikeln in den einschlägigen Handbüchern und Lexika sowohl in systematischer als auch historischer Hinsicht die Sammelbände von Rüdiger Ahrens, Laurenz Volkmann (Hg.): Why Literature Matters. Theories and Functions of Literature, Heidelberg 1996; Bernd Kleimann, Reinold Schmücker (Hg.): Wozu Kunst? Die Frage nach ihren Funktionen, Darmstadt 2001; Marion Gymnich, Ansgar Nünning (Hg.): Funktionen von Literatur. Theoretische Grundlagen und Modellinterpretationen, Trier 2005; Daniel M. Feige, Tilmann Köppe, Gesa zur Nieden (Hg.): Funktionen von Kunst, Frankfurt a. M. 2009. 679 Vgl. hierzu auch Roy Sommer : Funktionsgeschichten. Überlegungen zur Verwendung des Funktionsbegriffs in der Literaturwissenschaft und Anregungen zu seiner terminologischen Differenzierung, in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 2000, Bd. 41, S. 319–341, der auf S. 333–339 die literaturwissenschaftliche Kategorie der »Funktion« nicht als »Wesensmerkmale der zu untersuchenden Phänomene« verstanden wissen will, sondern als »Beobachterkategorie[…]«.
214
Funktionen von Literatur
Zwecken, was sich auf Auswahl, Wertung und Lesemodus auswirkt. Bereits Rudolf Schenda hatte in seiner Studie über das »Volk ohne Buch« vorgeschlagen, eine Funktionstheorie der Literatur vom Leser her zu entwickeln, »der Forderungen an die Literatur stellt«.680 Dem entspricht die von Werner Graf im Anschluss an seine empirischen Rezeptionsforschungen formulierte Warnung, Textfunktionen aus bestimmten Textsorten zu deduzieren681 und damit kreative und »unkonventionelle Rezeptionspraktiken« zu übersehen.682 Dem wird hier Rechnung getragen, indem die jugendbewegten Funktionszuschreibungen an Literatur aus den literaturkritischen Texten hergeleitet werden und nicht aus den gelesenen und besprochenen Werken. Gleichzeitig ist jedoch an den Interaktionscharakter des Lesens zu erinnern. Der Bedeutung von Texten bei der Zuschreibung von Funktionen wird man gerecht, indem man ihnen ein Funktionspotential attestiert, das sowohl »gattungs- und medienspezifische Darstellungsverfahren« als auch »den nacherzählbaren Inhalt eines literarischen Textes« umfasst.683 Die Berücksichtigung der (literarischen) Texte bei der Funktionsanalyse ermöglicht so auch eine Beantwortung der Frage, wie die spezifische Ästhetik eines Textes oder einer Gattung für die Zuschreibung von Funktionen relevant wird und, allgemeiner, worin das »besondere Leistungsvermögen literarischer Texte« liegt,684 das anderen Texten oder anderen kulturellen Praktiken und Objekten nicht eigen ist. Textanalysen allein können jedoch nicht mehr zutage fördern als Funktionshypothesen, die der Ergänzung um empirische Untersuchungen bedürfen, um ihre Realisierung durch Rezipienten zu überprüfen.685 Die Auffassung von Funktionszuschreibungen als Funktionshypothesen trifft jedoch nur einen Aspekt des Umgangs mit Literatur, der vor allem in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit literarischen Texten und Textgruppen eine Rolle spielt. Im Fall der Selbstbeobachtung von Lesern – gleich ob es sich um professionelle Leser oder um Laienleser handelt –, die über die Funktionen des Lesens und literarischer Texte für ihr eigenes Leben Rechenschaft ablegen, dürften Funktionsaussagen keineswegs den Status einer bloßen Hypothese haben. 680 Schenda: Volk ohne Buch, S. 471. 681 Vgl. Graf: Sinn, S. 18. Vgl. hierzu auch Marion Gymnich, Ansgar Nünning: Funktionsgeschichtliche Ansätze: Terminologische Grundlagen und Funktionsbestimmungen von Literatur, in: dies. (Hg.): Funktionen, S. 3–27, hier S. 16, die die Aufmerksamkeit auf historische Differenzen in der Zuschreibung von Funktionen von einzelnen Texten, Gattungen oder Literatur allgemein lenken. 682 Graf: Sinn, S. 120f. Die von ihm untersuchten Lesezeugnisse »belegen eindrucksvoll unkonventionelle Rezeptionspraktiken wie die unterhaltende Lektüre von Sach- (= Informations-) Texten oder die informatorische von Romanen«. 683 Gymnich, Nünning: Ansätze, S. 8. 684 Ebd., S. 13. 685 Vgl. ebd., S. 11.
Funktionen von Literatur
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Vielmehr ist durch die Einbindung in die eigene Lektürepraxis von einer unmittelbaren Realisierung jener Funktionen im Leseprozess auszugehen. Dadurch wird dann aber auch die Wirkung von Literatur thematisch, indem erfüllte Funktionen eine bestimmte Wirkung bedingen. Funktionszuschreibung und tatsächliche Wirkung können nichtsdestotrotz voneinander divergieren, weswegen die analytische Trennung notwendig ist. Ebenso können zusätzliche Wirkungen eintreten, die bei der ursprünglichen Funktionszuschreibung nicht intendiert waren oder zumindest nicht im Mittelpunkt standen. Schließlich ist drittens zu berücksichtigen, dass Funktionsaussagen häufig einen normativen Charakter haben, was für die Analyse des jugendbewegten Literaturkonzeptes entscheidend sein wird. Hier dienen verallgemeinerte Funktionszuschreibungen nicht dazu, Hypothesen über Zweck und Wirkung von literarischen Texten aufzustellen, sondern Aussagen darüber zu treffen, welche Funktionen gute Literatur erfüllen soll. In den Analysen dieses Kapitels wird allerdings zu unterscheiden sein zwischen den normativen Aussagen einzelner jugendbewegter Literaturkritiker und normativen Funktionsaussagen als Teil des übergreifenden Literaturkonzeptes, die durch Abstraktion von deskriptiven und normativen Aussagen in den literaturkritischen Texten gewonnen werden. Auch deskriptive Sätze können im Zusammenhang mit Funktionszuschreibungen innerhalb literaturkritischer Texte jedoch normativen Charakter erhalten. Besonders deutlich ist dies dann der Fall, wenn eine Rezension gleichzeitig als Rezeptionsanleitung verstanden werden muss, mit der die Leser aufgefordert werden, einen Text entsprechend einer bestimmten Funktion zu interpretieren und dementsprechende Selektions- und Kontextualisierungsprozesse in Gang zu setzen. Die Funktionen, die im Verlauf dieses Kapitels vorgestellt werden, lassen sich als externe Funktionen bezeichnen, womit in der literaturwissenschaftlichen Terminologie allerdings zwei verschiedene Sachverhalte gemeint sein können. Nach der von Harald Fricke vorgeschlagenen Terminologie handelt es sich bei internen Funktionen um das Verhältnis einzelner Elemente eines Textes zu anderen Elementen desselben Textes oder zum Textganzen.686 Es »handelt sich somit um ein Konzept, das auf die textinterne Ebene referiert«, wie Marion Gymnich und Ansgar Nünning festhalten.687 Externe Funktionen eines Textes oder eines Textelements liegen in dieser Terminologie dann vor, wenn diese in Beziehung zu einem außertextuellen Sachverhalt stehen. Dies können andere Texte ebenso sein wie literaturgeschichtliche Zusammenhänge oder außerhalb des literarischen Feldes liegende Aspekte. Da der Fokus der jugendbewegten 686 Harald Fricke: Art. Funktion, in: Klaus Weimar (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 1: A–G, Berlin u. a. 1997, S. 643–646, hier S. 643. 687 Gymnich, Nünning: Ansätze, S. 9.
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Funktionen von Literatur
Literaturkritiker ganz eindeutig auf der Wertung und Interpretation vollständiger Texte liegt und nicht auf einer strukturalistischen Beschreibung des Verhältnisses einzelner Textelemente zueinander, wird sich auch die Darstellung der von ihnen gemachten Funktionszuschreibungen ganz auf die sogenannten externen Funktionen konzentrieren können. Eine andere Differenzierung schlägt Reinold Schmücker vor. Er expliziert kunstinterne Funktionen als diejenigen Aspekte eines Kunstwerks, die »zur Fortführung und Weiterentwicklung von Themen- und Problemstellungen, Formen, Gestaltungs- und Verfahrensweisen beitragen«.688 Hier wird also nicht wie bei Fricke das Kriterium der Textimmanenz zur Identifizierung von internen Funktionen vorgeschlagen, sondern die Bindung an das Kunstsystem als Ganzes. Externe Funktionen sind bei Schmücker dementsprechend solche, die auf außerhalb des Kunstsystems liegende Zusammenhänge verweisen.689 Innerhalb des Literaturkonzepts der Jugendbewegung sind auch nach dieser Terminologie externe Funktionen dominant. Beide Arten von Funktionen gehören, dies ist eine weitere Ausdifferenzierung des Funktionsbegriffs bei Schmücker, zur Klasse der potentiellen Funktionen eines Kunstwerks. Auf dieser Ebene unterscheidet er sie von generellen Funktionen und kunstkonstitutiven Funktionen. Diese beiden Formen können im vorliegenden Zusammenhang ebenfalls vernachlässigt werden, da die Frage, was einen literarischen Text zu einem Kunstwerk macht, zwar gelegentlich in den literaturkritischen Texten der Jugendbewegung thematisch wird, gegenüber den Funktionen dieser Texte für Individuum und Kollektiv aber nur marginal ist.690 Während kunstkonstitutive Funktionen lediglich ein generelles Interesse für Kunst begründen, sind es gerade die potentiellen Funktionen, die Interesse für ein bestimmtes Kunstwerk 688 Reinold Schmücker : Lob der Kunst als Zeug, in: Feige, Köppen, zur Nieden (Hg.): Funktionen, S. 17–30, hier S. 20. 689 Vgl. für eine Übersicht externer Funktionen die Tafel bei Reinold Schmücker : Funktionen der Kunst, in: Kleimann, Schmücker (Hg.): Kunst, S. 13–33, hier S. 28. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit unterscheidet er die kunstinternen Funktionen nach ihrer Traditionsbildungsfunktion, Innovationsfunktion, Reflexionsfunktion und Überlieferungsfunktion; die externen Funktionen unterscheidet er nach kommunikativen, dispositiven, sozialen, kognitiven, mimetisch-mnestischen sowie dekorativen Funktionen, wobei auf kategorial niedrigeren Ebenen wiederum weitere Differenzierungen folgen. 690 Als generelle Funktion eines Kunstwerks bezeichnet Schmücker ebd., S. 23, »die Funktion, eine ästhetische Erfahrung hervorzurufen«. Da dies aber auch für das Naturschöne zutreffe, sei erst eine »ästhetische Erfahrung, die in ein Verstehen einmünden kann und will«, konstitutiv für die Kunst, wie Schmücker weiter ausführt. Abgesehen von möglichen anderen Definitionen des Kunstwerks, die zu anderen Funktionszuschreibungen führen können, sind generelle und kunstkonstitutive Funktionen des Kunstwerks nach dieser Erklärung für das Literaturkonzept der Jugendbewegung auch deswegen irrelevant, da längst nicht alle rezipierten Texte diesem Anspruch genügen können. Es werden eben nicht nur literarische Kunstwerke gelesen, sondern auch triviale und banale Texte.
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wecken.691 Hier sind, wie Schmücker betont, die größten Differenzen in der Beurteilung literarischer Texte zu erwarten692 – und auch die Gründe zu suchen, aus denen Literatur unterschiedlich rezipiert wird, wie aus rezeptionswissenschaftlicher Perspektive zu ergänzen ist.
7.1
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1918 veröffentlicht der »Zwiespruch« eine Rezension Walter Hammers. Dem Profil der Zeitschrift als »Rundbrief« für die Wandervögel im französischen Kriegsgebiet entsprechend, wendet er sich mit seiner Literaturkritik an die »Freideutschen im Westen« und möchte ihnen das besprochene Buch aus zwei Gründen ans Herz legen: »Erstens: Da die Geschichte im nordfranzösischen Kohlengebiet zwischen Lille, Valenciennes und Douai, an der Ufern der Scarpe spielt, kann sie unsere eigene, meist nur flüchtig-oberflächliche Anschauung vertiefen, zu gründlichem Verständnis von Land und Leuten verhelfen und insbesondere noch die Augen öffnen für die Quellen der hier so außerordentlich großen sittlichen Verkommenheit.«693
Was derart als Beitrag zur Vermittlung landeskundlicher Kenntnisse empfohlen wird, ist, der Ort der Handlung lässt es immerhin erahnen, Pmile Zolas »Germinal«. Hammer setzt seine Rezension fort und unterbreitet seinen Lesern das zweite Argument für die Lektüre: »Eben diese Verkommenheit, an der wir bisher fast alle nichtsahnend vorübergegangen sind, wurzelt hier unausbleiblich in wirtschaftlicher Not, von der wir, die wir vorzugsweise an der Sonnenseite des Lebens wohnen durften, ebenfalls kaum eine Ahnung gehabt haben. Unverblümt läßt Zola, der krasse Naturalist, der es sich nicht hat verdrießen lassen, studienhalber sechs Monate lang unter den Bergleuten zu leben, die Wirklichkeit auf uns wirken.«694
Noch mitten im Kriegsgeschehen stehend, sollten die Kriegswandervögel sich mittels eines damals immerhin mehr als 30 Jahre alten literarischen Textes die Hintergrundinformationen über die nordfranzösische Bevölkerung holen, die dem eigenen flüchtigen Blick entgangen sind. Ob ein derartiges Interesse überhaupt bestand und die Soldaten nicht vielleicht mehr Sorgen um ihr eigenes Leben hatten oder recht zufrieden damit waren, in schlichten Freund-FeindKategorien denken zu können, sei hier nicht weiter erörtert. Auch die Frage, 691 Vgl. ebd., S. 25. 692 Ebd., S. 25f. 693 Walter Hammer : [Rezension zu:] Emil Zola: Germinal, in: Zwiespruch, 1917/18, H. 17, S. 317. 694 Ebd.
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inwiefern die durch die Zola-Lektüre beförderte moralische Verdammung der Franzosen zumindest bei den Lesern des »Zwiespruch« nicht eher ein Gefühl der Überlegenheit geweckt und damit lediglich die Legitimation der Kriegshandlungen befördert haben könnte, statt Verständnis und Interesse zu wecken, soll hier nur erwogen, nicht aber ausdiskutiert werden. An dieser Stelle soll das Augenmerk vielmehr auf der Tatsache liegen, dass Hammer Zolas Roman als landeskundlichen Text präsentiert. Für die Literaturkritik der Jugendbewegung ist dies weder überraschend noch ungewöhnlich.695 Literarische Texte derart als Quelle von Wissen vorzustellen und zu lesen ist ein wesentlicher Bestandteil des jugendbewegten Literaturkonzepts, und es sind nicht zuletzt Kenntnisse über »Land und Leute« – wie Hammer in Anlehnung an Wilhelm Heinrich Riehls gleichnamige, populäre Publikation formuliert –, die in der Literatur gesucht werden. Als Bestandteil einer gründlichen Reisevorbereitung wird deshalb immer wieder die Lektüre literarischer Texte empfohlen. So findet sich in einer kommentieren und nach Sachgruppen sortierten Auswahl von Büchern über Ostpreußen auch eine Rubrik mit »Erzählenden Schriften, deren Schauplatz der Osten ist«, nebst einem Hinweis des Verfassers: »Wer sich eingehend mit dem Lande seiner Fahrt bekannt machen, wer es wirklich lieb gewinnen will, der sollte auch einige erzählende Schriften darüber lesen.«696
Literatur als Mittel zur Informationsgewinnung über geographische oder historische Zusammenhänge zu funktionalisieren, dürfte den Wandervögeln bereits aus der Schule geläufig gewesen sein. Wie Kristina Popp in ihrer Studie über die Goethe-Rezeption im Deutschunterricht des Wilhelminischen Kaiserreichs gezeigt hat, wurden gerade in jüngeren Jahrgangsstufen literarische Texte vor allem als »Medium der Wissensvermittlung« genutzt, wobei die gleichzeitige Reflexion der literarischen und ästhetischen Mittel nicht einmal angestrebt wurde.697 In der Regel scheint solcher Art interessegeleitete Lektüre in der Jugendbewegung der Auswahl eines Reisegebietes nachgängig zu sein und damit nicht dem zu entsprechen, was sich als »Literaturtourismus« bezeichnen lässt. Bei diesem orientieren sich die Reisenden an für einen Autor biographisch rele695 Hammer greift mit seiner Rezension überdies eine der Funktionen des gesamten Frontzeitschriftenwesens auf, zu deren Aufgaben eben auch die Vermittlung von Informationen über die Bevölkerung in den besetzten Gebieten gehörte; vgl. hierzu Richard L. Nelson: Deutsche Kameraden – Slawische Huren. Geschlechterbilder in den deutschen Feldzeitungen des Ersten Weltkrieges, in: Karen Hagemann, Stefanie Schüler-Springorum (Hg.): Heimat – Front. Militär und Geschlechterverhältnisse im Zeitalter der Weltkriege, Frankfurt a. M. u. a., S. 91–107, hier S. 92. 696 Felix Simon: Gau Preußen, in: Wandervogel Monatsschrift, 1919, H. 8/9, S. 253–255, hier S. 255. 697 Vgl. Popp: Goethe, S. 86–95.
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vanten Plätzen oder an bedeutsamen Handlungsräumen literarischer Texte,698 um an Ort und Stelle den initiierenden Text erneut zu lesen oder um tatsächliche oder vermeintliche »Originalschauplätze« zu besichtigen.699 Gleichwohl gibt es Ausnahmen, die auch von dieser Praktik zeugen. Hierzu gehören zunächst »Literaturlandschaften«, die in der zeitgenössischen literarischen Topographie eng mit dem Schaffen eines Autors verbunden sind: allen voran die von Fontane bereiste Mark Brandenburg, aber auch das Elsass, das mit Friedrich Lienhard verbunden wird, oder das mit August Trinius in Verbindung gebrachte Thüringen.700 Durch die Prominenz der Autoren und die Bekanntheit ihrer Werke ist es in diesen Fällen für die jugendbewegten Wanderer beinahe unmöglich, nicht bis zu einem gewissen Grad auch als Literaturtouristen unterwegs zu sein. Für den Böhmerwald wiederum wird in einem Aufsatz über das »Heimatschrifttum« der »Deutsch-Österreicher« Adalbert Stifter als Reisebegleiter empfohlen: »Die südböhmisch-österreichische Grenzlandschaft, der einsam stille, noch wenig durchwanderte Böhmer Wald hat seinen Sänger, den Verkünder seiner naturheiligen Stille gefunden in Adalbert Stifter […]. Es sind so rechte Bücher der Einkehr und Rast, naturverwobener Stille. Kauft euch die lieben Stifterbände […], wie sie im leichten Taschenformat bei Amelang in Leipzig erschienen sind, und tragt sie bereit im Rucksack mit, wenn ihr herüberpilgert ins Waldland Stifters.«701
Stifters Texte fungieren zunächst als Mittel, den »noch wenig durchwanderten« Böhmerwald als Reiseziel allererst ins Bewusstsein zu rücken. Darüber hinaus soll die Wahrnehmung des Reiseziels aber auch bereits im Voraus durch die Stifter-Lektüre in eine bestimmte Richtung gelenkt werden, indem eine als »naturheilig« und »naturverwoben« qualifizierte »Stille« als wesentliches Charakteristikum der Landschaft präsentiert wird. Die Möglichkeit, den Böhmerwald primär als »Grenzlandschaft« zu erkunden, wird umgehend überdeckt 698 Vgl. Maria Piatti: Die Geographie der Literatur. Schauplätze, Handlungsräume, Raumphantasien, Göttingen 2008, S. 270. 699 Ebd., S. 270f. 700 Vgl. H-r [Heberer]: Trinius, Haus und Leben. Vgl. hierzu auch die Ausführungen zum Rennstieg als Literaturlandschaft bei Hans Möller : Der Rennstieg des Thüringer Waldes. Seine Vergangenheit und geschichtliche Bedeutung, in: Jung-Wandervogel, 1910/11, H. 3, S. 34–38, hier S. 37, die eingebunden sind in eine umfangreichere kulturhistorische Darstellung. 701 Otto Jungmair : Deutsch-Österreichisch Land u. Leute im Heimatschrifttum, in: Wandervogel Monatsschrift, 1918, H. 5/6, S. 127–129, hier S. 127. Bei den von ihm genannten Stifter-Texten handelt es sich um die »Studien I und II«, die »Bunten Steine« und die »Feldblumen«. Der Hinweis auf eine bestimmte Ausgabe, die durch ihre Größe und ihr Gewicht besonders zur Mitnahme auf die Reise geeignet ist, verweist auf einen engen Zusammenhang von Wertung und Lektürepraxis, der in einem eigenen Kapitel weiter unten in dieser Arbeit ausführlich besprochen werden soll.
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durch die Konzentration auf die Natur, ihn als Handelsroute, Kulturlandschaft oder früheres Zentrum der Glasherstellung zu bereisen nicht in Erwägung gezogen. Die Präformation des (touristischen) Blicks durch Literatur wird auch in der Rezension einer Bildermappe ersichtlich. Aus den enthaltenen Bildern »strömt ein gemütlicher Hauch, so eine Art Kleinstadtgeist […], den man von Berlin am wenigsten erwartet hätte. Man sieht eben, daß es neben dem Berlin als Großstadt, dem Berlin der Volksbeauftragten und Spartakisten auch noch ein Berlin Wilhelm Raabes und Heinrich Seidels gibt«.702
Wenngleich es sich hier nicht um eine Reisebeschreibung handelt, lässt die Rezension doch erahnen, dass dieselbe textuelle Prägung des Blicks – Maria Piatti spricht vom Text, der sich wie eine »Folie« oder ein »Filter« vor die Wahrnehmung des reisenden Lesers schiebt703 – bei einer tatsächlichen touristischen Erkundung Berlin statthaben könnte.704 Allerdings bleibt es auch nicht aus, dass literarische Ortsbeschreibungen und außertextuelle Wirklichkeit nicht in Deckung zu bringen sind. Das kann zu 702 Hans Vogel: [Rezension zu:] Bruno Bielefeldt, Unsere Heimat Berlin. Fünfzehn Bilder, in: Wandervogel Monatsschrift, 1919, H. 5, S. 146. Die Nennung Heinrich Seidels und Wilhelm Raabes im selben Atemzug lässt zwar fehlendes Gespür für literarische Qualität erkennen, ist insofern jedoch nicht allzu überraschend, als Seidels zwischen Idylle und leiser Fortschrittskritik angesiedelte Erzählungen rund um die Titelfigur Leberecht Hühnchen tatsächlich einige Ähnlichkeiten zu Raabes Erzählungen erkennen lassen, ohne aber dessen Doppelbödigkeit auch nur annähernd zu erreichen. Die Rezension enthält darüber hinaus eine politische Dimension, indem Berlin als Großstadt mit der radikalen Politik der »Volksbeauftragten und Spartakisten« identifiziert wird, während Berlin als Kleinstadt immer noch den ›guten, alten‹ Geist des 19. Jahrhunderts erahnen lässt. 703 Vgl. Piatti: Geographie, S. 292. 704 Es bedürfte einer eingehenden Analyse der ebenfalls in den Zeitschriften abgedruckten Reiseberichte und des Vergleichs mit der Landschaftsdarstellung in rezipierten Texten, um eine fundierte Einschätzung über die tatsächliche Wirkung von Literatur machen zu können, wobei selbst dann noch in Betracht gezogen werden muss, dass Parallelen sich erst der nachträglichen schriftlichen Verarbeitung verdanken könnten. Eine solche vergleichende Analyse war im Rahmen dieser Arbeit nicht möglich. Wie sehr literarische und außerliterarische Erfahrung miteinander verwoben sein können, zeigt aber Anonym: [Rezension zu:] A.[ugust] Trinus, Der Rennstieg, in: Alt-Wandervogel, 1907, H. 10, S. 147: »Lest das Buch, bevor ihr in den Thüringer Wald hinauszieht und schaut dann mit dem von Trinius geschärften Auge. Ihr werdet um manchen Genuß und manches Wissen reicher heimkehren, und an langen Wintertagen wird das Buch eine liebe Erinnerung an luftige Sommertage bilden«. Der Text soll demnach gleichzeitig der Vorbereitung von eigenen Reisen und der Erinnerung an eigene Reisen dienen. Vgl. außerdem die Erinnerungen von Else Stroh: »Dort auf jenem Berge«, in: Wandervogel Monatsschrift, 1915, H. 8, S. 217f., an einen auf der Burgruine Weibertreu verbrachten Abend, die von literarischen Erinnerungen an Uhland, Mörike und Lenau überlagert werden. Durch das »Steinerne Album« auf der Ruine – in Stein gemeißelte Gedichte – liegt eine solche Verbindung in diesem Fall auch nahe.
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Enttäuschungen führen, ebenso aber zu positiven Überraschungen.705 So ergeht es den Teilnehmern einer Reise auf Hallig Hooge, die mit schlimmsten Befürchtungen dorthin gereist waren und deren literarisch vorgeprägte Erwartungen sich nicht erfüllen sollten: »Nun waren wir schon fast eine Woche auf der Hallig, von der man uns prophezeit hatte, wir hielten es keine drei Tage dort aus. Alles grau in grau, ein schlammiges Meer, ein trüber Himmel, kein Strand, keine Pflanze, sehr wortkarge Bewohner, keine Lebensmittel und dergleichen mehr Schrecknisse. So hatte man uns gesagt, so kannten wir’s aus Biernatzkis Werk: ›Die Hallig‹. Und wie ganz anders war es doch.«706
Im Gegensatz zu den Halligreisenden, die Johann Christoph Biernatzkis Novelle offenkundig vor ihrer Reise zum Zweck der Vorbereitung und Einstimmung gelesen haben, fordert Otto Jungmair seine Leser wie gesehen dazu auf, die von ihm empfohlenen Texte Stifters auf der Wanderung bei sich zu tragen und auch vor Ort zu lesen. Als »Bücher der Einkehr und Rast« sind sie doppelt markiert. Gemeint ist sowohl der Inhalt als auch die ideale Lesesituation. Ziel einer Lektüre vor Ort scheint jedoch weniger ein intensiveres Verständnis oder Erlebnis der Texte zu sein als vielmehr eine Intensivierung des Naturerlebnisses, das angesichts der in der Rezension verwendeten Semantik eine religiös aufgeladene Stimmung evozieren soll.707 Während in diesem Fall der literarische Text also lediglich Mittel zu einer gesteigerten Wahrnehmung der außerliterarischen Wirklichkeit ist, sind Rezeptionssituation und Text andernorts derart eng miteinander verknüpft, dass die Wahl des richtigen Ortes geradezu zur notwendigen Voraussetzung eines adäquaten Verständnisses des Textes wird. Kiplings »Dschungelbuch« »will
705 Erinnert sei in diesem Zusammenhang auch an die in der Einleitung zitierten Äußerungen Hermann Hoffmanns, der die Realitätserfahrung auf den Wanderungen ironisch mit lyrischen Naturbildern kontrastiert. 706 Enno Narten: Von der Nord- und Ostseeküste, in: Wandervogel Monatsschrift, 1911, H. 9, S. 200–204, hier S. 201. 707 Ein »intensiveres Erleben von Text und Landschaft«, wie es Piatti: Geographie, S. 292, als Ziel des Literaturtouristen beschreibt, scheint demnach nicht unbedingt intendiert. Der Text dient nur als Auslöser und Verstärker des eigentlich angestrebten Naturerlebnisses. Ebenso verhält es sich bei Frank Fischer : Deutsche Vergangenheit, in: Wandervogel Monatsschrift, 1913, H. 10, S. 285–289, hier S. 289, der empfiehlt, bei einer Besichtigung des Straßburger Münsters Goethes »Von deutscher Baukunst« zu lesen, aber nicht, um diesen »Hymnus« besser zu verstehen, sondern um »die Beseelung und Vergeistigung des Steines bis in alle Nerven hinein mit[zu]erleben«. Dem entspricht die allgemeine These von Meyen: Hermann Löns, S. 96, dass Literatur zwar dazu anregen kann, »die Freude an der Natur wiederzuentdecken«, sich die eigentliche Freude aber erst bei eigenem Erleben der Natur einstelle. Vgl. zum Lesen im Freien als »ästhetisches Motiv« auch Schön: Verlust, S. 123– 168.
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freilich im Walde gelesen werden«708 und das Volkslied gilt es nicht »im geschlossenen Zimmer«, sondern in der Natur zu »erleben«709 Hierin lassen sich Parallelen zu Tendenzen in der zeitgenössischen Kunsterziehungsbewegung und ihren Bemühungen um eine Reform des Literaturunterrichts erkennen. Am Beginn der schulischen Auseinandersetzung mit einem Stück Literatur sollte demnach nicht die rationale Erörterung von Inhalt und ästhetischen Mitteln stehen, sondern »Einstimmung« und »Nacherleben« der vom Autor verarbeiteten und evozierten »Stimmung«. Dieses Ziel zu erreichen, gilt der eigene Nachvollzug des Erlebnisses des Dichters durch die Schüler als probates Mittel, wobei die Vorstellung im Hintergrund steht, dass es sich bei weiten Teilen der Literatur um »Erlebnisliteratur« handelt. Entsprechend wird von Seiten der Kunsterzieher mitunter die Forderung erhoben, im Rahmen des Deutschunterrichts Ausflüge zu unternehmen, um die Schüler mit Hilfe eindrücklicher Erlebnisse auf die Rezeption von Literatur vorzubereiten.710 Solche pädagogischen Konzepte und die entsprechenden Äußerungen jugendbewegter Literaturkritiker zielen allerdings nicht mehr auf einen primär wissensgestützten Rezeptionsmodus, weswegen auch die vorgeschlagenen Rezeptionsorte denkbar unkonkret sind. Es muss nicht gleich der indische Dschungel oder eine bestimmte Waldregion in Deutschland sein, sondern es genügt, einen beliebigen Wald aufzusuchen, um zu einem Verständnis des Textes in erlebnishaftem Nachvollzug zu kommen. Eigentlicher Literaturtourismus spielt in der Jugendbewegung also nur eine untergeordnete Rolle, was nichts daran ändert, dass die Strukturierung der Wahrnehmung des Reiseziels durch vorherige oder gleichzeitige Lektüre nachweisbar ist. Die lesende Auseinandersetzung mit einer Stadt, einer Region, einem Land dient so zwar vorrangig der umfassenden Information als Versuch, durch eine gründliche Vorbereitung umso mehr von den durchwanderten Ortschaften verstehen und entdecken zu können. Die Lektüren produzieren jedoch mehr als bloßes Faktenwissen, das sich propositional abbilden ließe. Da Wissen ebenso wie seine Vermittlung und Aneignung immer schon strukturiert und in »komplexe soziale Praktiken« eingebunden ist,711 ist nun genauer danach zu fragen, welche Formen das Wissen annimmt, das die Jugendbewegung bei der Rezeption literarischer Texte gewinnt. Im bereits zitierten Artikel über Ostpreußen scheint sich die Auswahl der 708 Anonym: Wandervogelbücherei, S. 38. 709 Luise Walbrodt: Bei einer Löns-Feier gesprochen, in: Landfahrer, 1917, H. 6, S. 9f., hier S. 9. 710 Vgl. hierzu Horst Jochim Frank: Geschichte des Deutschunterrichts. Von den Anfängen bis 1945, München 1973, S. 336–345. Vgl. zu nahestehenden Konzepten der zeitgenössischen Einfühlungsästhetik auch Winko: Gefühle, S. 190–202. 711 Ralf Klausnitzer : Literatur und Wissen. Zugänge – Modelle – Analysen, Berlin u. a. 2008, S. 24.
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genannten Titel gänzlich am Ort der Handlung als Kriterium zu orientieren. Das belegt nicht nur die Abschnittsüberschrift, die vom »Osten« als »Schauplatz« spricht, sondern ebenso die dort angeführten Autoren, von denen lediglich E.T.A. Hoffmann und Ernst Wichert in Königsberg geboren sind, während Johann von Wildenrath und Gustav Freytag nicht aus den historischen Gebieten Ostpreußens stammen. Die Intention ist offenkundig, Bücher zu präsentieren, die mittels unterhaltender Lektüre Kenntnisse ostpreußischer Geschichte vermitteln können. Darüber hinaus geschieht aber noch ein anderes. Hoffmanns »Artushof«, der zu den genannten Titeln gehört, ist, trotz einzelner Beschreibungen der dortigen Kunstwerke, als Kunstführer für den Danziger Börsenplatz eine eher schlechte Wahl. Für den vorliegenden Zusammenhang könnte sie jedoch kaum besser sein. Die serapiontische Gesellschaft, in deren Kreis die Geschichte erzählt wird, diskutiert unmittelbar vorher den Zweck einer genauen Lokalisierung fiktionaler Handlungen. Eines der Mitglieder dieser Gesellschaft lässt Hoffmann dozieren, »daß das Ganze dadurch einen Schein von historischer Wahrheit erhält der einer trägen Phantasie aufhilft« und, »zumal für den, der mit dem als Schauplatz genannten Orte bekannt ist, ungemein an Lebendigkeit und Frische [gewinnt]«.712 Nun wäre es angesichts der knappen Angaben kaum gerechtfertigt, dem Verfasser des Zeitschriftenartikels einen Mangel an lebendiger Phantasie vorzuwerfen, und wie es um seine Ortskenntnisse bestellt ist, lässt sich ebenso wenig feststellen. Adressaten des Zeitschriftenartikels sind aber wohl auch weniger Personen, die Danzig und seinen Artushof bereits kennen als vielmehr solche, die die Stadt bereisen wollen oder es wenigstens in Erwägung ziehen. Die Lektüre von Hoffmanns Erzählung brächte im Fall einer Realisierung solcher Reisepläne nicht nur die Möglichkeit zum Vergleich zwischen der Realität und der Darstellung des Ortes in der fiktionalen Erzählung mit sich. Die Nutzung einer fiktionalen Erzählung als Führer zur Kulturhistorie reichert den in Frage stehenden Ort überdies mit einer ›Geschichte‹ an. Dadurch ist das Potential gegeben, ihm nicht nur mit kunsthistorischem Interesse zu begegnen, sondern eine emotionale Beziehung aufzubauen, die durch eine Erinnerung an das zuvor Gelesene oder vor Ort erneut Gelesene beziehungsweise Nacherzählte noch gesteigert werden kann. Es geht eben nicht nur darum, sich mit einem Reiseziel »bekannt [zu] machen«, sondern auch darum, »es wirklich lieb [zu] gewinnen«.713 712 E.T.A. Hoffmann: Die Serapions-Brüder, München 1993, S. 144. 713 Simon: Gau Preußen, S. 255. Hervorhebung von mir, M.L. Vgl. hierzu auch die Rezension von Rudolf Schmidt: [Rezension zu:] Adolf Bartels, Die Dithmarscher. Historischer Roman in vier Büchern, in: Führerzeitung, 1918, H. 1/2, S. 31f., dessen Fazit auf S. 32 alle wesentlichen bislang genannten Aspekte in einer positiven Wertung zusammenführt: »Vor
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Der emotionale Bezug zu Orten und Landschaften zieht sich als roter Faden durch diejenigen literaturkritischen Beiträge, in denen die Wissensfunktion der Literatur zur Sprache kommt. Gleichzeitig ist er wesentlicher Teil des Wanderkonzepts der Jugendbewegung. Bereits Hermann Hoffmann hatte den Sinn des Schülerwanderns nicht zuletzt darin gesehen, durch die wachsende Vertrautheit mit den »Bewohnern, mit Bauern und Gebirgsleuten« des »lieben deutschen Vaterlandes« selbiges »wahrhaft lieben [zu] lernen« und der neuen Bewegung damit von Beginn an eine patriotische Legitimation und Begründung eingeschrieben.714 Im selben Sinn äußert sich Ludwig Gurlitt als Vorsitzender des Steglitzer E.V., wenn er den Wandervögeln zuspricht, »sich mit einer lebendigen Kenntnis eine innige Liebe für ihr Vaterland [zu erwandern]«.715 Den Kern dieser Erziehung zur Heimatliebe bildet das Erleben von Natur und Dörfern beim Wandern. Auf dieses pädagogische Ziel hin ist auch das Lesen literarischer Texte bezogen und erfüllt mindestens eine unterstützende Funktion, indem zusätzliche Informationen zur Verfügung gestellt werden und durch Geschichten und Figuren die Möglichkeit einer weitergehenden emotionalen Bindung an Landschaften und ihre Bevölkerungen besteht. Gurlitt wendet sich nun zwar weiter wörtlich gegen »partikularistische Beschränktheit« und fordert mit Ernst Moritz Arndts Gedicht von »Des deutschen Vaterland« »Das ganze Deutschland soll es sein!«716 Trotz dieser Orientierung auf einen den gesamten deutschsprachigen Raum umfassenden Patriotismus ist die geographische Wahrnehmung allerdings regionalistisch strukturiert. Nicht umsonst zitiert er das besonders durch die Vertonung von Gustav Reichardt im Bürgertum äußerst populär gewordene Gedicht Arndts noch ausführlicher und ist hierin paradigmatisch für die Jugendbewegung: »Den ›Wandervögeln‹ begegnet man im Preußenland, im Schwabenland, da, wo am Rhein die Rebe blüht, da, wo am Belt die Möve zieht, und wo des Marses Rind sich streckt, und wo der Märker Eisen reckt, im Pommerland, Westfalenland, da, wo der Sand der Dünen weht und wo die Donau brausend geht.«717
Hiervon ist auch die literaturkritische Wertungspraxis der Jugendbewegung betroffen. In einer Sammelrezension zu zwei Volkstanzsammlungen erhält
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allem sollten die Wandervögel das Buch nicht ungelesen lassen. Sie sollten sich solcher Dichtergaben freuen, in denen die Fähigkeit wohnt, deutsches Land, das sie durchwandern, zu beleben, und deutsches Volk, mit dem sie in Berührung kommen, ihnen näher zu bringen; die es ihnen möglich machen, daß sie die einzelnen Stämme an ihrer Geschichte messen und um so besser verstehen lernen.« Hoffmann: Hoch das Wandern, S. 33. Ludwig Gurlitt: Lehrer, Eltern, Freunde der Jugend! [1904], in: Kindt (Hg.): Wandervogelzeit, S. 68f., hier S. 69. Ebd. Ebd., S. 68f.
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beispielsweise diejenige den Vorzug, die die Tänze einer einzigen Region versammelt, anstatt wie die andere Sammlung solche aus dem gesamten deutschsprachigen Raum und noch dazu Schwedens zu präsentieren.718 Literaturgeschichtlich war die Zeit günstig für eine an regionalen Gesichtspunkten orientierte Rezeption von Literatur719 : In der Mitte des 19. Jahrhunderts etabliert sich als neues Genre die literarische Landesbeschreibung, die einzelne Landschaften mit spezifischen Besonderheiten »als eigenständige Regionen überhaupt erst konstituiert« und damit zu einer »Neukartierung der nationalen Geographie« beiträgt;720 in der Naturlyrik ebenso wie in der Wandererlyrik setzt zur gleichen Zeit ein Trend ein, Figuren und Motive zu »entsymbolisieren«721 und das Setting in enge lokale und vor allem lokalisierbare Bereiche zu verlegen722 ; Konzepte und Ideen aus dem Umfeld der Heimatkunstbewegung stellen ein Raster regionalistischer Literaturrezeption bereit, nach dem mehr und mehr auch nicht dieser Strömung zuzurechnende Texte rezipiert werden;723 und mit August Sauers »Literaturgeschichte und Volkskunde« hielt in der germanistischen Philologie eine Tendenz zur Systematisierung von Literatur nach regionalen Gesichtspunkten Einzug, die in der »Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften« von Sauers Schüler Adolf Nadler kulminierte, aber auch in der ausschließlich rassischen Kriterien folgenden Literaturkritik und Literaturgeschichtsschreibung Adolf Bartels’ ihre Fortsetzung fand.724 All diese
718 Vgl. J. Beltz: [Sammelrezension zu:] Volkstänze, in: Wandervogel Monatsschrift, 1911, H. 9, S. 228. 719 Vgl. hierzu auch die Feststellung von Peter Ulrich Hein: Völkische Kunstkritik, in: Puschner, Schmitz, Ulbricht (Hg.): Handbuch, S. 613–633, hier S. 616, dass seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert wie sonst nirgends in Europa »in Österreich und Deutschland der sogenannte Nationalcharakter zu einer zentralen Frage des künstlerischen Schaffens [avanciert]«. 720 Wolfgang Behschnitt: »Wenn Vaterlandsliebe in einem heimathlichen Boden wurzelte«. Zur Konstruktion nationaler und regionaler Identitäten in literarischen Landesbeschreibungen um die Mitte des 19. Jahrhunderts, in: Peter Haslinger (Hg.): Regionale und nationale Identitäten. Wechselwirkungen und Spannungsfelder im Zeitalter moderner Staatlichkeit, Würzburg 2000, S. 53–67, hier S. 59. Beispielhaft für das neue Genre sind unter anderem Fontanes »Wanderungen durch die Mark Brandenburg« und Levin Schückings und Ferdinand Freiligraths »Das malerische und romantische Westphalen«. 721 Georg Bollenbeck: »Mich lockt der Wald mit grünen Zweigen aus dumpfer Stadt und trüber Luft«. Zu Trivialisierungstendenzen des Wanderermotivs in der Lyrik des 19. Jahrhunderts, in: Sprachkunst, 1978, Jg. 9, S. 241–271, hier S. 252. 722 Ebd., S. 257. 723 Vgl. Kay Dohnke: Völkische Literatur und Heimatliteratur 1870–1918, in: Puschner, Schmitz, Ulbricht (Hg.): Handbuch, S. 651–684, hier S. 662f. 724 Vgl. zu den entsprechenden Tendenzen in der zeitgenössischen Philologie den Überblick von Schumann 1996: Völkische Tendenzen in Germanistik und Philologie, in: Puschner, Schmitz, Ulbricht (Hg.): Handbuch, S. 859–873, v. a. S. 866–868 und die dort genannte weiterführende Literatur. Vgl. zu Adolf Bartels Rösner : Adolf Bartels, in: ebd., S. 874–894.
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Tendenzen finden schließlich Eingang in den schulischen Deutschunterricht, der als »Deutschkunde« zur Lehre von der »deutschen Wesensart« wird.725 In seiner 1907 publizierten Rektoratsrede plädierte der Prager Germanist August Sauer für eine »landschaftliche« und »stammheitliche« Literaturgeschichtsschreibung auf Grundlage einer »Charakterologie des deutschen Volkes«.726 Organologische Vorstellungen aus dem Umfeld der Romantik, Elemente des soziologischen727 und literaturwissenschaftlichen Positivismus sowie der Vererbungslehre integrierend, geht Sauer davon aus, dass historische, klimatische, geographische, politische, religiöse und soziale Faktoren nicht nur zur Entstehung einzelner »Stämme« im deutschen Sprachraum geführt hätten,728 sondern dass sich ein determinierender Einfluss der jeweiligen Stammescharakteristika auch im einzelnen Menschen bemerkbar mache. Sauer folgt daher dem Ziel der zeitgenössischen Volkskunde, Nachweise für das »organische Erwachsen des Volkstumes aus dem Boden« zu erbringen,729 indem er es auf die Literaturgeschichte überträgt und den »stammheitlichen, landschaftlichen, volkstümlichen Einschlag[…] im Wesen des einzelnen Dichters« aufzuspüren trachtet.730 Ganz ähnliche Vorstellungen kursieren bei den Autoren der Heimatliteratur und werden von ihr in literarischen Texten ebenso wie in Zeitschriften731 und 725 Vgl. hierzu Frank: Geschichte des Deutschunterrichts, v. a. S. 527–533; zu den Grundlagen in der akademischen Germanistik Karl Otto Conrady : Deutsche Literaturwissenschaft und Drittes Reich, in: Germanistik – eine deutsche Wissenschaft, Frankfurt a. M. 1967, S. 71– 109. 726 August Sauer: Literaturgeschichte und Volkskunde, Prag 1907, S. 19f. Vgl. hierzu auch die umfangreiche Studie von Per Leo: Der Wille zum Wesen. Weltanschauungskultur, charakterologisches Denken und Judenfeindschaft in Deutschland 1890–1940, Berlin 2013, über das charakterologische Denken, das in Sauers Studie und der an ihn anknüpfenden Germanistik eine bei Leo unbeachtet bleibende Anwendung findet. 727 Neben Ansätzen bei Wilhelm Heinrich Riehl ist vor allem an die deterministischen Konzepte Hippolyte Taines zu erinnern. 728 Vgl. Sauer : Literaturgeschichte, S. 4. 729 Wilhelm Heinrich Riehl: Wanderbuch, als zweiter Teil zu »Land und Leute«, Stuttgart u. a. 1925, S. 32. 730 Sauer : Literaturgeschichte, S. 17. 731 Die wichtigste Zeitschrift der Heimatkunstbewegung war die 1900 unter anderem von Friedrich Lienhard und Adolf Bartels begründete »Die Heimat. Blätter für Literatur und Volkstum«, die schon im Untertitel die Nähe erkennen lässt, die zu den Ideen Sauers besteht. Vgl. zur »Heimat« Karlheinz Rossbacher : Heimatkunstbewegung und Heimatroman. Zu einer Literatursoziologie der Jahrhundertwende, Stuttgart 1975, S. 17; zu Friedrich Lienhard Hildegard Ch.tellier : Friedrich Lienhhard, in: Puschner, Schmitz, Ulbricht (Hg.): Handbuch, S. 114–130. Auch Ferdinand Avenarius’ »Kunstwart« und der von ihm begründete Dürer-Bund sind Teil des entstehenden Netzwerks. Mit Wolfgang Kirchbach und Heinrich Sohnrey sind überdies zwei prominente Autoren der Heimatkunstbewegung an der Konstituierung des Wandervogels als Verein beteiligt. Beide gehören als außenstehende Erwachsene dem 1901 gegründeten Ausschuß für Schülerfahrten an. Auch wenn ihr tat-
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Traktaten verbreitet und popularisiert.732 Den Texten dieser »erste[n] große[n] literarische[n] Sammlungsbewegung von rechts«733 sind insbesondere der ländliche Handlungsraum und ein ländliches Figurenensemble gemeinsam, die in der Darstellung idealisiert und der Großstadt als »Ort der Dekadenz, als sozialer Sumpf und kulturelle Niederung«734 gegenübergestellt werden. »Stadt« und »Land« fungieren als »Chiffren kultureller Werte«735, in denen sich in Form zahlreicher, hieran anschließender Antinomien die gesamte Kritik an »Zivilisation« und Moderne verdichtet.736 Entscheidend für den vorliegenden Zusammenhang ist vor allem die »Schollenideologie« der Heimatliteraten, die vielfach präfaschistische Formen annimmt und an die die Blut-und-Boden-Ideologie des Nationalsozialismus anknüpfen kann. Die Urbanisierung im Laufe des späten 19. Jahrhunderts war gleichbedeutend mit einer Landflucht insbesondere der unterbäuerlichen Schichten in die Städte, wo sie sich in den Augen des konservativen, kulturkritischen Bürgertums in die amorphe Masse der Industriearbeiterschaft verwandelten. Als Sinnbild für eine noch nicht von den Veränderungen der Moderne betroffene Gegenwelt737, die als »sentimentale und ideologische Größe« unter dem Namen »Heimat« geführt wird,738 erscheint diesem Blick der Bauer : »Geschichtslos und von jeder Veränderung unberührt, haust er auf seiner Scholle, ein Hort der Beharrung gegenüber dem unfruchtbaren, nomadischen
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sächlicher Einfluss auf die Entwicklung der Jugendgruppen schwer feststellbar ist – skeptisch äußert sich diesbezüglich Jürgen Reulecke: Wo liegt Fallado? Überlegungen zum Verhältnis von Jugendbewegung und Heimatbewegung vor dem Ersten Weltkrieg, in: Edeltraud Klueting (Hg.): Antimodernismus und Reform. Zur Geschichte der deutschen Heimatbewegung, Darmstadt 1991, S. 1–19, hier S. 12 – dürfte ihrerseits durchaus ein Interesse daran bestanden haben, »den Nachwuchs in das von den Vätern geknüpfte Netzwerk der Reformverbände einzubinden«, wie Mogge: Wandervögel, S. 24 konstatiert. Vgl. zum folgenden auch Richard Hamann, Jost Hermand: Stilkunst um 1900, München 1973, S. 326–347. Peter Zimmermann: Der Bauernroman. Antifeudalismus – Konservativismus – Faschismus, Stuttgart 1975, S. 57. Rossbacher : Heimatkunstbewegung, S. 30. Reinhard Farkas: Roseggers Heimgarten – Literarische Texte im Spannungsfeld übergreifender Dispositive Lebensreform, Heimatdiskurs – Reagrarisierung, in: Oskar Panagl, Walter Weiss (Hg.): Noch einmal Dichtung und Politik. Vom Text zum politisch-sozialen Kontext, und zurück, Wien u. a. S. 177–193, hier S. 180. Vgl. zum Denken der Heimatkunstbewegung in Antinomien Dohnke: Völkische Literatur, S. 660f. Als »Gegenwelten« bezeichnet Zimmermann: Bauernroman, S. 36f. auch die Handlungsräume der Bauernepik. Vgl. Wolfgang Lipp: Heimatbewegung, Regionalismus. Pfade aus der Moderne?, in: Friedhelm Neidhardt, Rainer M. Lepsius, Johannes Weiss (Hg.): Kultur und Gesellschaft, Opladen 1986, S. 331–355, hier S. 335.
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Zivilisationsmenschen«.739 In einer Zeit rasanter gesellschaftlicher Veränderungen dient der idealisierte Landmann – dem tatsächlichen Wandel des »Bauern« zum »Landwirt«, zum »Agrarökonomen« zum Trotz740 – als Figur der Beständigkeit. Die Bezugnahme auf den Bauernstand erlaubt einen imaginären Drop-Out aus der Geschichte, an deren Zweckhaftigkeit und Zielgerichtetheit Teilen des Bürgertums Zweifel kommen, nachdem die Begeisterung über Reichsgründung und gründerzeitlichen Wirtschaftsaufschwung verflogen war. Die fortschreitende Modernisierung zeigte unübersehbar, dass die Weltgeschichte keineswegs mit Sedan »in ihr glorreiches Grab gesunken« war, wie Walter Benjamin im Rückblick die von Reichseinigkeit beseelte Gefühlslage beschrieb.741 Zu Recht gilt Peter Zimmermann die Bauernepik als »Kernstück der Heimatkunstbewegung«,742 in der der Landmann zum »wirtschaftlichen, rassischen und moralischen Kern der Nation« überhöht wird.743 Ökonomische Zusammenhänge ignorierend, wird mit Hilfe organologischer Metaphorik die »Verwurzelung« des Bauern im Boden betont: »Die Bindung ist nicht geschäftlicher, sondern organischer Art. Regression aus der sozialen in die natürliche Realität ist das oberste Ziel dieser und ähnlicher Vorstellungen«.744 Die Idee der organischen Verbindung mit dem »Heimatboden« gewinnt für gesellschaftspolitische Konzepte Modellcharakter, kommt aber ebenso in den literarischen Konzepten der Heimatkunstbewegung zum Ausdruck. Vorläufer finden sich bereits in den »Volksgeist«-Vorstellungen von Johann Gottfried Herder und mehr noch der Brüder Grimm,745 werden aber vor allem in Julius Langbehns »Rembrandt als Erzieher« wirkungsvoll vorgetragen.746 Nicht nur der Bauer wurzelt in Langbehns Konzept in der Scholle, sondern auch der bedeutende Künstler. Wenngleich Langbehns Denken beständig um den außerge739 Rolf Peter Sieferle: Fortschrittsfeinde? Opposition gegen Technik und Industrie von der Romantik bis zur Gegenwart, München 1984, S. 188. 740 Vgl. hierzu ebd., S. 184. 741 Walter Benjamin: Berliner Kindheit um Neunzehnhundert, Frankfurt a. M. 1979, S. 18f. 742 Zimmermann: Bauernroman, S. 5. 743 Ebd., S. 1. 744 Ebd., S. 101. Vorstellungen wie diese stehen im Zentrum der Mythos-Theorie von Roland Barthes, nach der die Dinge im Mythos enthistorisiert werden und Geschichte zur Natur wird; Vgl. Barthes: Mythen. 745 Vgl. Wolfgang Emmerich: Zur Kritik der Volkstumsideologie, Frankfurt a. M. 1971, S. 29– 40. Vgl. zum Beginn einer sich am Kriterium der Regionalität orientierenden Literaturrezeption in der Romantik und deren nationalistischer Aufladung bei Riehl, Lagarde und Langbehn auch Armin von Ungern-Sternberg: »Erzählregionen«. Überlegungen zu literarischen Räumen mit Blick auf die deutsche Literatur des Baltikums, das Baltikum und die deutsche Literatur, Bielefeld 2003, S. 46. Vgl. zu Herder Franz-Josef Deiters: Das Volk als Autor? Der Ursprung einer kulturgeschichtlichen Fiktion im Werk Johann Gottfried Herders, in: Detering (Hg.): Autorschaft, S. 181–201. 746 Vgl. Stern: Kulturpessimismus, S. 168–172; zur Bauernideologie bei Langbehn ebd., S. 182f.
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wöhnlichen Künstler kreist, ist der Ziel- und Endpunkt doch stets die »völkische Gebundenheit von Kunst und Gesellschaft, […] das Wirken des Völkischen, gar der Rasse […] im Einzelmenschen«747: »Der Kulminationspunkt dieses Konzeptes ist dann zwar der einzelne Künstler, also Rembrandt, Shakespeare oder Goethe, aber eben nur insofern und in dem Maße, in dem er ein bestimmtes Volkstum verkörpert«748 und in seinen Schriften zum Ausdruck bringt. Was zunächst produktionsästhetisch gedacht ist, lässt sich umkehren auf die Rezeptionssituation. Wenn literarische Texte als Ausdruck des »Volksgeistes«, des »Volkstums« gelten, dann, so die Annahme eines großen Teils der jugendbewegten Leser, müsste dieser »Volksgeist« sich auch in der Lektüre erkennen und erfassen lassen. Damit ist nicht zuletzt ein weiterer Grund für den zentralen Stellenwert von Autorschaft im Literaturkonzept der Jugendbewegung gegeben. Der Logik dieser Vorstellungswelt folgend, bietet die Herkunft eines Schriftstellers bereits Anhaltspunkte dafür, welche Charaktereigenschaften und Eigentümlichkeiten sein Werk kennzeichnen. Ebenso soll die Biographie des Dichters darüber Auskunft geben, ob dieser tatsächlich noch im »Heimatboden festwurzel[t]«749 oder seiner Heimat bereits entfremdet ist. Besonders deutlich wird dieser Aspekt des jugendbewegten Literaturkonzepts in der Rezeption von Märchen und Volksliedern, in der auch Spuren des Grimmschen Konzeptes von »Volkspoesie« nachzuweisen sind.750 Wenngleich in der Jugendbewegung durchaus keine Einigkeit darüber herrscht, ob die Rede von der Entstehung des Volksliedes im »Volk« wörtlich zu verstehen ist und eine gemeinschaftliche Produktion impliziert oder von einer individuellen Produktion ausgegangen werden muss und nur die Überlieferung gemeinschaftlich und anonym stattfindet, sicher ist man sich, dass es »dem Volke, der Mutter Erde [entsprossen]« ist.751 »Zusammen mit Volkslied und Volksbuch bildet das 747 Anja Lobenstein-Reichmann: Julius Langbehns »Rembrandt als Erzieher«. Diskursive Traditionen und begriffliche Fäden eines nicht ungefährlichen Buches, in: Marcus Müller, Sandra Kluwe (Hg.): Identitätsentwürfe in der Kunstkommunikation. Studien zur Praxis der sprachlichen und multimodalen Positionierung im Interaktionsraum ›Kunst‹, Berlin u. a. 2012, S. 295–318, hier S. 303. 748 Ebd., S. 311. 749 Jungmair : Deutsch-Österreichisch Land, S. 127. 750 Vgl. hierzu und zu den sich anschließenden Sammlungsbemühungen der Jugendbewegung ausführlich Malte Lorenzen: »Denkt an die Arbeit der Brüder Grimm« – Die Jugendbewegung und das Märchen, in: Claudia Brinker-von der Heyde, Holger Ehrhardt, HansHeino Ewers u. a. (Hg.): Märchen, Mythen und Moderne. 200 Jahre Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm, Frankfurt a. M. 2005, Bd. 2, S. 813–824. Vgl. außerdem Niem: Volkslied, die am Beispiel von Friedrich Wilhelm Rittinghaus und Karl Brügmann die jugendbewegten Bemühungen um das Volkslied zwischen Wissenschaft und populärer Wiederbelebung beschreibt. 751 Anonym: Unser eigenes Lied (Andere Gedanken), in: Wandervogel Monatsschrift, 1917, H. 3/4, S. 75.
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Volksmärchen einen richtigen Schlüssel zum Verständnis des Empfindungslebens unseres Volkes«,752 denn »Sprache, Lied und Märchen spiegeln sein Innerstes, seine Seele wider. Die ganze schlichte, gerade Denkungsart des deutschen Volkes tritt hierin klar zutage«.753 Voraussetzung hierfür ist eine ontologisierte, ahistorische Vorstellung vom ›Volk‹. Jahrzehnte- oder jahrhundertealte Texte können als Reiseführer funktionalisiert werden, weil das ›Wesen‹ einer Population als unveränderlich gedacht wird. Wie stark die Mitglieder der Jugendbewegung von diesen Vorstellungen geprägt sind, zeigt sich aber erst dort, wo der Zusammenhang zur Idee eines ›Volksgeistes‹ nicht bereits durch die Genealogie des Konzepts vorgeprägt ist wie im Fall von Liedern und Märchen. Beispielhaft ist ein Aufsatz aus der »Freideutschen Jugend« über die Dramatik des Expressionismus, in dem dieser Gedanke trotz Zeitgenossenschaft und bekannter Autorschaft aktiviert wird: »Sie zeugt wieder Vorgänge und Taten, die, wie die Mythen, sich in ihrer Enthobenheit und Verklärtheit niemals ereigneten, die aber als Gestalten der in den Dichtern schöpferischen Volksseele wirklich sind, Gestalten, in denen die Gemeinschaftsseele denkt, sich erfühlt und selber trägt […].«754
In einer Studie über Landschaftsideale und Formen der Naturaneignung in der Jugendbewegung kommt Joachim Wolschke-Bulmahn zu dem Ergebnis, dass »[d]ie regionalistische Vorstellung vom prägenden Einfluß der Landschaft auf Individuum, Gesellschaft und damit auch auf die Kultur […] vor allem in der bürgerlichen Jugendbewegung auf breite Resonanz stieß. […] Die Wanderungen der Jugendbewegung, auf denen vorindustrielle Landschafts- und auch Gesellschaftszustände als Heimatorte gesucht wurden, haben zur Manifestation solcher Ideologeme vermutlich beigetragen«.755 Nun lässt sich allerdings kaum ein zwingender Zusammenhang zwischen Wanderungen in scheinbar von der 752 Dr. H.: [Rezension zu:] Das Märchen der Weltliteratur. Hrsg. von Friedr.[ich] von der Legen [eigtl.: Leyen, M.L.] und Paul Zaunert, in: Alt-Wandervogel, 1913, H. 6, S. 148f., hier S. 149. 753 Erich Langenberg: Vom Wesen und Wollen des Wandervogels, in: Wandervogel Monatsschrift, 1919, H. 10/11, S. 294–296, hier S. 295. Hieran zeigt sich deutlich, wie Märchen für eine Ontologie und Charakterologie des ›deutschen Volkes‹ fruchtbar gemacht werden. Von der erzählerischen »Schlichtheit« des Märchens wird auf die ›schlichte Einfachheit‹ des ›Volks‹ geschlossen. Dies geschieht vor dem Hintergrund einer zeitgenössischen Alltagscharakterologie, in der insbesondere Franzosen und Juden als Gegenbild zu ›dem Deutschen‹ erscheinen und vor dem Hintergrund popularisierter Dekadenztheorien, innerhalb der die Kunst der Moderne Ausdruck einer Entfremdung von jenem ›Wesen‹ sei. Vgl. hierzu auch Leo: Wille. 754 Theodor-Wilhelm Danzel: Zur neuen Dramatik, in: Freideutsche Jugend, 1920, H. 7, S. 229– 231, hier S. 230. 755 Joachim Wolschke-Bulmahn: Auf der Suche nach Arkadien. Zu Landschaftsidealen und Formen der Naturaneignung in der Jugendbewegung und ihrer Bedeutung für die Landespflege, München 1990, S. 83.
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Moderne unberührten Landschaften und der Übernahme konservativer, statischer Gesellschaftsbilder behaupten.756 Entscheidend ist vielmehr die strukturierte Wahrnehmung des ländlichen Raumes, die in der Jugendbewegung von literarischen Texten wie von zeitgenössischen regionalistischen Konzepten geprägt ist. So merkt auch Wolschke-Bulmahn weiter an, dass das in der Jugendbewegung verbreitete Landschaftsideal mit »Symbolcharakter […] für eine harmonische Gesellschaft mit unveränderlichen naturgegebenen Strukturen« Bestätigung in der romantischen Landschaftsmalerei und in »entsprechende[n] literarische[n] Landschaftsschilderungen« gefunden habe.757 Das ist, wie auch die in diesem Kapitel angeführten Beispiele zeigen, zweifellos richtig; allerdings bestätigen die rezipierten Kunstwerke nicht einfach ein vorgefertigtes Landschaftsbild, sondern sie prägen es entscheidend mit. Gleichzeitig wird die Auswahl literarischer Texte wiederum hiervon beeinflusst: Gesucht werden solche Publikationen, auf die sich das eigene Naturbild applizieren lässt und die dem Interesse am ›Volkscharakter‹ entgegenzukommen scheinen. Es handelt sich also weder in die eine noch in die andere Richtung um eine Einbahnstraße. Literarische Texte prägen außerliterarische Vorstellungen und umgekehrt. Dass die Jugendbewegung sich bevorzugt traditionellen – das heißt in der Zeit nach 1900 häufig auch epigonalen – Formen des Erzählens zuwendet und nicht der ästhetischen Moderne und den literarischen Avantgarden,758 hängt neben ihrer weitgehenden Ablehnung künstlerischer Experimente und häufig hervortretenden antisemitischen Ressentiments auch damit zusammen, dass sie dort diejenigen Handlungsräume finden konnte, in denen sich ihre gemeinsame Freizeit abspielte.759 Die literarische Moderne hingegen fand ihre Ausdrucks756 Anderenfalls wären junge Menschen dringend von Wäldern fernzuhalten. Hier liegt m. E. ein grundsätzliches Problem der Forschung zur Jugendbewegung. Allzu oft entsteht der Eindruck, als sei bereits die »Flucht in die Wälder« selbst Ausdruck eines falschen Bewusstseins, ohne den jugendlichen Wunsch nach räumlicher Distanz zur Welt der Eltern, die abenteuerlichen Möglichkeiten eines kurzzeitigen Lebens in den Wäldern und den ganz pragmatischen Aspekt zu beachten, dass das Reisen mit Zelt und Kochgeschirr weitaus angenehmer und kostengünstiger in der ›Natur‹ zu bewerkstelligen ist als in der Stadt. 757 Wolschke-Bulmahn: Suche, S. 91. 758 Ganz abgesehen davon dürfte es für die meisten Jugendlichen auch nicht gerade einfach gewesen zu sein, Zugänge zur neuesten Literatur zu erhalten, die weder in der Schule noch in den meisten Elternhäusern ein Thema war. Wie Thomas Anz: Literatur des Expressionismus, Stuttgart 2002, S. 24, angemerkt hat, war beispielsweise der Expressionismus selbst »für die Feuilletons damaliger Zeitungen bis zur Mitte des Jahrzehnts nahezu inexistent und noch bis 1918 ein wenig beachtetes Phänomen«. 759 Beispiele für eine unbefangene Annäherung an das Phänomen Großstadt sind in der Jugendbewegung selten. Ein beeindruckendes Gegenbeispiel bietet Frank Fischer : Ziele, in: Führerzeitung, 1912/13, H. 12, S. 225–230, hier S. 230: »Man mißversteht die Großstadt, oft die Stadt überhaupt gegenüber dem Ländlichen, Idyllischen. Nürnberg etwa und den Rhein besonders oft, indem man sich zwingen will, nur das Romantische, nicht das Lebendiggroße zu sehen. Wer das Bild des Rheines nicht mit den vier Schienensträngen und den
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möglichkeiten nicht zuletzt in Auseinandersetzung mit der Erfahrung der Großstadt.760 Wo doch der ländliche Raum zur literarischen Darstellung kommt, findet sich die »bewußt registrierte[…] Unmöglichkeit, Natur naiv noch zu erfahren«.761 Gerade hierauf beharren Mitglieder der Jugendbewegung aber. Der Rezensent von Wilhelm Kotzdes »Frau Harke geht durchs Land« weiß seinen Lesern zu erklären, dass es sich bei der Titelfigur um Frau Holle bzw. die germanische Göttin Freya handele und knüpft daran an: »Einst ging sie segnend durchs Land, die Fleißigen belohnend, den faulen Spinnerinnen das Garn verwirrend. Nun ist sie wohl verschwunden, nur Sonntagskindern, Menschen, denen das Märchen nicht gestorben ist, begegnet sie noch, im langen grünen Kleid, das Haar goldgelb wie Weizen, die Augen leuchtend wie der blaue Himmel. Solche Märchenaugen haben die Wandervögel, […] mit solchen Märchenaugen sieht auch Kotzde selbst die Natur an […].«762
Dieser die Natur verklärende Blick unter Einbezug der Märchen- und Sagenwelt lässt sich nicht anders denn sentimental nennen. Dennoch wohnt dieser trotzigen Behauptung noch ex negativo jenes Bewusstsein von der die Wahrnehmung von Grund auf verändernden neuen Erfahrung der Großstadt inne.763 Für die Jugendbewegung gestaltet sich diese Erkenntnis als bedrohliche Entfremdung, so dass der Rückzug in die Natur als Heilmittel behauptet wird, in der sich das Sehen wieder erlernen lasse: »Es ist aber eine alte Geschichte, daß auch das Sehen gelernt sein will. Nicht so, als ob der natürliche Mensch es nicht in hohem Maße könnte, wir alten Städter aber sind ja erst wieder auf dem Wege zur Natur, und die Mauern der Stadt haben uns durch Geschlechter Scheuklappen vor die Augen gelegt, daß wir an den rätselhaftesten und feinsten Dingen vorbeigehn und merken nichts.«764
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rauchenden niederländischen Schloten aufnehmen kann, hat noch nicht unbefangen sehen gelernt. […] Die Kunst, Wandervögel etwa durch Berlin zu führen und sie etwas von der berauschenden Gewaltigkeit der Riesenstadt fühlen zu lassen, werden noch nicht viele Führer verstehen«. Berlin zu verstehen hätte es neben städtischen Erkundungsreisen freilich kaum besserer Möglichkeiten gehabt, als sich intensiv mit der neuen Großstadtliteratur auseinanderzusetzen und auf sich auf sie einzulassen. Vgl. zu großstadtinteressierten Positionen in der Jugendbewegung auch Reulecke: Jugendbewegung, S. 12–15. Vgl. zum Zusammenhang von ästhetischer Moderne und Urbanität Sabina Becker: Urbanität und Moderne. Studien zur Großstadtwahrnehmung in der deutschen Literatur 1900– 1930, St. Ingbert 1993 und Arturo Larcati: »Großstädte der Intellektualität!« Inhaltliche und methodologische Überlegungen zum Verhältnis von Großstadt und Moderne im frühen 20. Jahrhundert, in: Panagl, Weiss (Hg.): Dichtung, S. 195–219. Vietta, Kemper : Expressionismus, S. 44. Stapel: Wilhelm Kotzde, Frau Harke, S. 80. Vgl. hierzu neben der bereits in Fußnote 760 genannten Literatur vor allem Vietta, Kemper : Expressionismus, S. 30–40. Dankwart Gerlach: Heimische Alterskunde, in: Führerzeitung, 1915, H. 9/10, S. 130f., hier S. 130.
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Als Wegweiser zu einem »natürlichen Sehen« dienen nicht zuletzt auch literarische Texte, die eine »Andacht zum Unbedeutenden« vorbereiten helfen sollen.765 Die Emotionalisierung des Interesses an landeskundlichen Informationen und an der Kultur und Geschichte eines Reiseziels gewinnt damit eine kulturkritische Dimension.766 »Landeskunde« wird zur »Heimatkunde«: Nicht geographisch oder politisch strukturierte und abgegrenzte Regionen stehen im Mittelpunkt, sondern traditionell und organologisch gewordene und beständige »Heimat(en)«.767 In den Romanen und Erzählungen der Heimatliteraten erleben die jugendbewegten Leser »Heimat« als bedrohten, aber sehnsuchtsvoll angestrebten »Satisfaktionsraum«768. »Heimatkunde« entwickelt sich so weiter zum »Heimatprinzip«, das sich einesteils (positiver) Stereotypen zur Beschreibung einer Bevölkerung bedient und anderenteils den heimatlich strukturierten Raum zum Glücksversprechen macht.769 In Frage gestellt werden die Grundannahmen des Regionalismus und des mit ihm einhergehenden charakterologischen Denkens nur selten. Gegen die absolute Determination des schriftstellerischen Werkes protestiert immerhin Bruno Lemke in einer Rezension der 1920 in deutscher Sprache erschienenen Erinnerungen der Dostojewski-Tochter Ljubow an ihren Vater : »Was sie an Hypothesen zur Erklärung des Phänomens Dostojewski vorbringt, ist dürftig und besteht im Grunde / sowohl für ihn wie für seine Frauen, Freunde und Verwandte / in einer Untersuchung seiner Abstammung. Für sie erklärt sich alles höchst einfach daraus, daß D.[ostojewski] Litauer väterlicherseits war und daß der Geist (oder die Geister) dieser Vorfahren in ihm lebendig wurden. […] Ich glaube nicht, daß die biographische Forschung sich diese etwas antiquierte Anschauungsweise restlos zu eigen machen wird.«770
Seine Hoffnung hinsichtlich der biographischen Forschung wurde spätestens mit Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft enttäuscht, unter der Abstammung und Herkunft nach rassischen Kriterien zu einem der zentralen Instrumente literaturwissenschaftlicher und literaturkritischer Praxis werden 765 Die Wendung taucht in einer Würdigung zu Ludwig Uhlands 50. Todestag bei Karl Brügmann: Zu Uhlands Gedächtnis. 13. November 1862, in: Wandervogel Monatsschrift, 1912, H. 11, S. 323 auf; vgl. zu Herkunft und Geschichte der Wendung Ulrich Wyss: Die wilde Philologie. Jacob Grimm und der Historismus, München 1979, S. 14. 766 Das von Bollenbeck: Kulturkritik, beschriebene temporale Grundmodell der Kulturkritik, die ein wesentliches Argument aus der Antinomie von vergangenem goldenen Zeitalter und defizitärer Gegenwart bezieht, wird dabei gleichsam in ein räumliches Modell transformiert. 767 Vgl. hierzu Ina-Maria Greverus: Auf der Suche nach Heimat, München 1979, S. 36. 768 Ebd. 769 Vgl. ebd., S. 10. 770 [Bruno] L.[emke]: [Rezension zu:] Dostojewski. Geschildert von seiner Tochter, in: Freideutsche Jugend, 1921, H. 11, S. 366.
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sollte.771 Dass Lemkes Wahrnehmung literarischer Texte jedoch ebenfalls nicht völlig frei vom Konzept einer ›Volksseele‹ gewesen ist, deutet eine Rezension zu Gogols »Toten Seelen« an: »Wer Rußland kennen will, das große, unerschöpfliche, weite Rußland, der muß zu diesem Buch greifen. Nicht das Russentum Dostojewskis, das gärende, brodelnde, Blase auf Blase aufwerfende Seelen- und Schattenreich wird hier erahnt, nicht das liebenswürdig romantische, frisch aus Frankreich und Deutschland bezogene Gesellschaftskleid Puschkins anprobiert, auch nicht der langhinrollende pathetische Ton tolstoischer Asketenschwermut angeschlagen (obgleich eine Empfindung alles dessen auch hierin mitschwingt), sondern das breite und vielfarbige Leben russischer Kleinstädte und Gutshöfe rollt sich ab, schiebt sich sachte vorbei an den Fenstern des bequemen Reisewagens, in dem Tschitschikow sein Rußland bereist.«772
Es fällt zumindest schwer zu verstehen, wie sonst ein zum Zeitpunkt des Erscheinens der Rezension bald achtzig Jahre alter Roman zum Reiseführer auserkoren werden könnte.
7.2
Literatur und Geschichte
Leser, so eine der im Theorieteil vorgestellten Erkenntnisse der Rezeptionsforschung, verfahren in ihrer Wahrnehmung literarischer Texte selektiv. Damit ist nicht nur die Auswahl von Büchern gemeint, die überhaupt aus dem Regal der Buchhandlung genommen, gekauft und gelesen werden. Auch die Rezeption tatsächlich gelesener Texte ist selektiv in dem Sinne, dass einzelne Aspekte eines Textes in den Fokus des Lesers rücken, während andere aufgrund mangelnder Aufmerksamkeit, fehlender Vorkenntnisse oder bestimmter Rezeptionsinteressen kaum oder gar nicht wahrgenommen werden. Eine interessengeleitete Selektion sowohl gesamter Bücher als auch des Inhalts einzelner Texte lässt sich in der Jugendbewegung an ihrem Umgang mit historischer Reiseliteratur erkennen. Bevor dieser Aspekt des jugendbewegten Literaturkonzepts vorgestellt wird, soll zuvor einleitend in einem knappen Exkurs die selektive Präsentation literarischer Texte in den Zeitschriften vorgestellt werden. Damit soll nicht zuletzt erneut der Umstand in Erinnerung gerufen werden, dass die Auseinandersetzung mit Literatur in den Zeitschriften der Jugendbewegung nicht voraussetzungslos und um ihrer selbst willen stattfindet, sondern sich am Profil der jeweiligen Publikation und ihrer Zielgruppe orientiert.
771 Vgl. zu diesem Aspekt auch das Kapitel über Literatur und Politik. 772 [Bruno] L.[emke]: [Rezension zu:] Gogol, Die toten Seelen, in: Freideutsche Jugend, 1921, H. 4, S. 120f., hier S. 120.
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Das Juniheft der »Wandervogel Monatsschrift« eröffnet 1911 mit einer Schulferienidylle: »So müssen Sommerferien sein! Über den Bergen ein enzianblauer Himmel, wochenlang ein strahlend heißer Tag am andern, nur zuweilen ein heftiges, kurzes Gewitter. Der Fluß, obwohl er seinen Weg durch so viel Sandsteinfelsen und Tannenschatten und enge Täler hat, war so erwärmt, daß man noch spät am Abend baden konnte.«773
Zitiert werden noch einige Sätze mehr, von reifenden Feldern, einer üppigen, sommerlichen Blumenlandschaft, von Eichhörnchen und Eidechsen und damit wohl genau das richtige, um die Leser der Zeitschrift auf die unterrichtsfreie Zeit einzustimmen. Wer nachschauen möchte, wie sich die Darstellung der Szenerie im Original weiterliest, braucht hierzu nicht erst ein Exemplar der »Monatsschrift« aufzutreiben. Vermutlich reicht ein Griff in das private Bücherregal, handelt es sich doch um den Anfang des zweiten Kapitels von Hermann Hesses »Unterm Rad«.774 Vom Leiden des Protagonisten Hans Giebenrath erfahren die Leser aus der zitierten Passage allerdings nichts, ebenso wenig von der Schulkritik der Erzählung und ihrem bitteren Ende. Der Abdruck endet, bevor sogar in dieser Szene mit einem Hinweis auf »die zwei Fabriken« die Idylle sanft gebrochen wird.775 Ein erklärender Kommentar, der den Textauszug in die weitere Handlung einordnen würde, fehlt. Jörg Seifert hat dies als Hinweis auf die eher jüngere Zielgruppe der »Monatsschrift« gedeutet,776 was durch eine anderen Orts publizierte Rezension der Erzählung zusätzliche Plausibilität erhält, die sie erst für Leser »von 18 Jahren an« empfiehlt.777 Die der Auswahl des Abdrucks zugrundeliegende Selektionsleistung lässt sich aber auch anders erklären. In den Zeitschriften der Jugendbewegung finden sich zahlreiche Belege für die nicht weiter kommentierte Veröffentlichung von Textpartien, die sich in der einen oder anderen Weise auf die Lebenswelt der Leser beziehen lassen. Für den Abdruck aus »Unterm Rad« wäre dieser Bezug in diesem Fall nicht ein etwaig vorhandenes Leiden unter dem Schulalltag, sondern schlicht und einfach der Beginn der Sommerferien. Unter der Überschrift »Rechte Erzählweise vom Reisen« bringt Hans Lißner als Herausgeber der »Monatsschrift« einen Auszug aus Jean Pauls »Komet«: 773 Hermann Hesse: So müssen Sommerferien sein!, in: Wandervogel Monatsschrift, 1911, H. 6, S. 137. 774 Hermann Hesse: Unterm Rad, Frankfurt a. M. 1972, S. 32. 775 Vgl. ebd., S. 33. 776 Seifert: Literaturrezeption, S. 50; vgl. außerdem Völpel: Hermann Hesse, S. 194, die eine Reduktion der Werke Hesses »auf die Bedürfnisse der Jugend« in der Jugendbewegung konstatiert. 777 Firle: Etwas von Büchern, S. 13. Für ein Beispiel einer unbefangenen literaturkritischen Rezeption Hesses vgl. unten, S. 263f.
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»Soll ich denn aber jedesmal berichten und ausrufen: Von Geschwend ging’s nach Wölfis, von da nach Trebsen, von Hohenfehra nach Niederfehra (denn Mittelfehra blieb seitwärts), von Sabitz nach Zarbitz, von da nach Fürberg, dann noch vielen Lumpennestern, durch die man hindurchschießt, ohne nach ihrem Namen zu fragen, endlich von Scheitweiler nach Strahlau und nach Nikopolis… Gleichwohl nehme ich gern ohne Keifen Geographisches in die Erzählung hinein, sofern sich in ihm Geschichtliches begibt.«
Das Zitat ist ein gutes Beispiel für Jean Pauls Witz und seine Ironie, für sein selbstreflexives Schreiben, und so durchaus geeignet, die Lust zu wecken, das Original in Gänze zu lesen. Das aber ist nicht die explizierte Absicht des Herausgebers. Er präsentiert diese »alte Fahrtenspiegelweisheit« in der Hoffnung, die stilistische Qualität der eingesandten Berichte von Wanderungen möchte sich ein wenig bessern, wenn sich deren Verfasser die Worte des Dichters zu Herzen nähmen.778 Eine derart selektive Präsentation von Gedichten oder Auszügen aus längeren erzählenden Texten ist zwar nicht ausnahmslos der Fall. Mitunter sind es auch Abschnitte aus Büchern, die im selben Heft rezensiert werden und auf diese Weise besonders hervorgehoben und empfohlen werden. In anderen Fällen stehen sie in einem Zusammenhang mit einem Schwerpunktthema des jeweiligen Heftes, erfüllen dekorative Zwecke oder sollen vielleicht manchmal einfach nur das Heft füllen. Schließlich finden sich kürzere, aphoristische Zitate, die zum Nachdenken anregen sollen. Dennoch sind Fälle wie die zuvor gezeigten derart häufig, dass es einer Überprüfung ihrer Signifikanz bedarf. Ohne Nennung einer Ausgabe und auch ohne sonstige weiterführende Erläuterungen publiziert die »Monatsschrift« just im Anschluss an Hesses Sommerferienidylle »Reiseregeln aus der Edda«. In vier vierzeiligen Strophen werden die Leser mit alten Wanderweisheiten konfrontiert: nicht zu viel Gepäck mit sich herumzutragen, sich gründlich vorzubereiten, offenen Sinnes zu wandern und Alkohol zu meiden sind die Lehren, die sich aus ihnen ziehen lassen.779 Die Reduktion komplexer und umfangreicher Werke auf leicht handhabbare Regeln und Sentenzen erinnert an den großen Erfolg von Georg Büchmanns »Geflügelten Worten«, denen zwar andere Selektionskriterien zugrunde liegen, die aber einer vergleichbaren Selektionspraxis folgen.780 An solchen Beispielen wird er778 Vgl. [Hans Lissner]: Rechte Erzählweise vom Reisen, in: Wandervogel Monatsschrift, 1912, H. 2, S. 68. 779 Vgl. Reiseregeln aus der Edda, in: Wandervogel Monatsschrift, 1911, H. 6, S. 138. 780 Vgl. außerdem Popp: Goethe, S. 127f., die die Präsentation von »›Aussprüche[n]‹ als Memorierstoff« als »Bestandteil zahlreicher Schulausgaben und Erläuterungsschriften« in der Zeit des Kaiserreichs herausgearbeitet hat. Ziel ist die »Ausbildung eines ›Bildungsdialekts‹«, die »Vermittlung sich selbst bestätigenden Bildungswissens«. Konterkariert wird dies teilweise durch den Aufruf von Leopold Fulda: Der Seelenspiegel, in: Wandervogel Monatsschrift, 1912, H. 7, S. 212f., der dazu aufruft, sich analog zum »Büchmann« einen
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neut die starke Zielgruppenorientierung der jugendbewegten Herausgeber sichtbar, die sich funktional an den Kriterien des Bezugs zur Lebenswelt der Leser, der Unterhaltung und der Belehrung ausrichten. Gerade das Moment der Belehrung ist im Fall der »Edda«-Auszüge hoch. In den zahllosen praktischen Wanderratschlägen, die die Zeitschriften der Wandervogelbünde füllen, finden sich kaum andere Ratschläge als in jenen Exzerpten. Gleichzeitig aber erhält das Wandern durch den Hinweis auf die Edda-Strophen eine historische Dimension, deren Umfang zu erkunden die Wandervögel sehr bemüht waren. Die Spannung zwischen dem Selbstverständnis, neue Formen der Gemeinschaft junger Menschen gefunden zu haben, dem Pathos jugendlichen Aufbruchs und dem dennoch beständig in die Vergangenheit gerichteten Blick war einigen unter ihnen durchaus bewusst und konnte so zum Gegenstand ironischer Selbstbetrachtung werden: »Jetzt ist’s einmal Mode geworden, daß der Wandervogel in alten filzigen Urkunden gräbt; und während ihm die Motten ums blonde Haupt taumeln und der Staub an seinen Fingern klebt, wird es ihm leise bewußt, daß er in absichtsloser Liebhaberei seinen eigenen Stammbaum aufspürt. Da steht, was bisher funkelnagelneu und nackt erschienen war, plötzlich da im Mantel der Überlieferung und als ein Wesen, das in all seinen Einzelstücken gewachsen ist wie ein Baum: mit Wurzeln so verzweigt wie seine Äste.«781
Winfried Mogge hat die Lektüregewohnheiten der Jugendbewegung dahingehend analysiert, dass »[m]it auswählender Sympathie […] solche Autoren als geistesverwandt [betrachtet wurden], die das Wandern als Überschreiten konventioneller Grenzen und Ausschöpfen neuer Lebenserfahrungen zum Thema gemacht hatten«: Als Beispiele nennt er Jörg Wickram, Thomas Platter, Grimmelshausen, Seume, Brentano, Gottfried Keller und Hermann Hesse.782 Die These scheint mir nicht grundsätzlich falsch zu sein. Der Versuch, das Motiv des Wanderns in den literarischen Texten auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, orientiert sich jedoch noch zu sehr an den Texten selbst und nicht an der Selektionspraxis der Jugendbewegung. Die Quellenlage lässt vielmehr darauf schließen, dass schlicht alles gesucht, gesammelt und gelesen wurde, was auch nur im Entferntesten mit dem Wandern in Zusammenhang zu bringen war.783 eigenen, idiosynkratrischen Zitatenschatz aufzubauen, der nicht nur der leichteren Erinnerung an »›goldene Worte‹« dienen, sondern gleichzeitig als »Seelenspiegel« Ausdruck der eigenen »›seelische[n] Entwicklung‹« sein soll. Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Ansätze zu einer Poetik und Rezeptionsästhetik der literarischen »Stelle« von Wolfgang Braungart: Stelle. 781 Hans Schmiede: Ein Lutherbrief, in: Wandervogel Monatsschrift, 1911, H. 12, S. 308f., hier S. 308. 782 Mogge: Wandervögel, S. 58. 783 Skeptisch in Bezug auf Gemeinsamkeiten hinsichtlich des Wandermotivs in den in Frage stehenden Texten äußert sich auch John Neubauer : Romantische Wandervögel, in: Günter
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Es sind durchaus nicht nur bekannte und kanonisierte Texte, die die Wandervögel aufgreifen, mitunter nicht einmal publizierte. Im Novemberheft 1911 der »Monatsschrift«, fortgesetzt im Dezemberheft, finden sich unter dem Titel »Bemerkungen auf einer Reise durch Sachsen, Hannover, Braunschweig und Preußen in den Jahren 1800, 1801, 1802, 1803« die Reisebeschreibungen eines Apoldaer Handwerksgesellen, welche, sofern es sich bei der Einleitung nicht um eine Herausgeberfiktion handelt, von einem Wandervogel aus Hannover unter den Papieren seiner Familie entdeckt und einem Leipziger Studenten zur Transkription übergeben wurde.784 Und Friedrich Wilhelm Fulda bringt in der ersten Nummer des Jahres 1912 »Aus der Mappe meines Großvaters« Gedanken »Über die Erziehung zur Natursinnigkeit«, nicht ohne einige Hinweise auf das Verhältnis des Wandervogels zur Tradition beizufügen: »Hat nicht der Wandervogel die rechte Methode der Erziehung zur Natursinnigkeit gepachtet? Nein, mehr, hat er sie nicht erfunden und ausgebaut? In allerjüngster Zeit erst, der neunmalkluge Vogel? Sind wir nicht ganz besonders stolz auf diese unsere Erziehung zur Natursinnigkeit? Darauf, daß wir Wandervögel sind, etwas, was es nie gegeben hat, was eben erst durch uns geworden ist? Freilich! Aber das sage ich Euch doch, rechte Wandervögel hat es zu allen Zeiten gegeben. Viele sind mir begegnet, in allen Zeiten, bald mehr bald weniger echt vom alten Diogenes an bis auf die noch lebende Generation, die jung war, da der Name Wandervogel noch kein Programm bedeutete.«785
Fahrende Schüler, romantische Taugenichtse, Handwerksburschen, philosophierende Großväter und individualistische Landstreicher : die Liste der Vorbilder und Einflüsse ist derart facettenreich und widersprüchlich, dass es kaum möglich ist, hier noch von Eklektizismus zu sprechen. Insofern ist zumindest Skepsis angebracht, wenn Mogge weiter schreibt, dass »[e]s galt, die Gegensätze im Angebot der Vorbilder zu vereinen«.786 Wie mit einem Schleppnetz fischen die Wandervögel in der Literatur und holen alles hervor, was auch nur im Entferntesten mit dem Wandern in früheren Zeiten zu tun hat,787 ohne dass
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Oesterle (Hg.): Jugend – ein romantisches Konzept?, Würzburg 2009, S. 333–353, hier S. 343f. Bemerkungen auf einer Reise durch Sachsen, Hannover, Braunschweig und Preußen in den Jahren 1800, 1801, 1802, 1803, in: Wandervogel Monatsschrift, 1911, H. 11, S. 269–276, hier S. 269. Friedrich [Wilhelm] Fulda: Aus der Mappe meines Großvaters, in: Wandervogel Monatsschrift, 1912, H. 1, S. 14–16, hier S. 14. Mogge: Wandervögel, S. 79. Konrad Wislicenus: Geleit, S. 3, ruft die Leser der Zeitschrift des Alt-Wandervogels dementsprechend zur Mitarbeit an der Zeitschrift auf: »Ihr Älteren aber lest ja Bücher. Da findet Ihr manches schöne Wort über das Wandern im allgemeinen, über den Wandervogel insbesondere vielleicht auch. Schreibt sie heraus und sendet sie ein. Ist der Verfasser über 30 Jahre tot, so dürfen wir es ohne weiteres abdrucken, lebt er noch, so bitten wir um die
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Versuche zu erkennen wären, ein kohärentes und widerspruchsfreies Ideal zu konstruieren.788 Das war vielleicht auch gar nicht intendiert. Im Mittelpunkt scheint vielmehr die Lust an der Imagination früherer Zeiten und früherer Wandererschicksale zu stehen, gleich ob diese real oder fiktional sind. In vielen Fällen dürfte die Lektüre auf ein »Hineinversetzen«789 in eine Geschichte abgezielt haben, auf eine »Ich–Versetzung« der Leser in von der Gegenwart und Lebenswelt unterschiedene textuelle Welten, die das Lesen »selbst zum Abenteuer werden« lassen.790 So, wie andere Kinder und Jugendliche der Zeit sich beim »Indianer«-Spiel vergnügen,791 spielen die Jugendlichen des Wandervogels
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Erlaubnis dazu.« Eine weitere inhaltliche Einordnung erwünschter Literatur und Aussprüche findet nicht statt. Justus H. Ulbricht: »Lebensbücher, nicht Lesebücher!« Buchhandelsgeschichtliche Ansichten der bildungsbürgerlichen Reformbewegungen um 1900, in: Mark Lehmstedt, Andreas Herzog (Hg.): Das bewegte Buch. Buchwesen und soziale, nationale und kulturelle Bewegungen um 1900, S. 135–151, hier S. 140, wählt das Bild des Schwamms, um den »ideologisch-ästhetischen Eklektizismus« der Jugendbewegung zu beschreiben. Er zieht dabei eine Parallele zu »Thomas Nipperdeys Kategorie der ›vagierenden Religiosität‹, die man – ausgedehnt auch auf profane Bereiche der Kultur – ebenfalls für das kulturelle Rezeptionsverhalten insbesondere der ›jungen Generation‹ fruchtbar machen könnte«. Der Aspekt der Sinnsuche mit Hilfe von Literatur in einer Zeit erodierender Traditionen und übergreifender Sinnzusammenhänge soll im folgenden Abschnitt über Literatur und Identität behandelt werden. Vgl. zu dieser Form der Lektüre Graf: Sinn, S. 55. Vgl. hierzu Werner Wunderlich, Andreas Härter : Nibelungenhelden? Zur Vorbildwirkung von Heldensagen auf jugendliche Leser, in: dies. (Hg.): »Waz sider da geschach«. DeutschAmerikanische Studien zum Nibelungenlied. Werk und Rezeption, Göppingen 1992, S. 231–247, hier S. 237f., für die die Faszination jugendlicher Leser für Heldensagen bedingt ist durch die »Spannung zwischen dem Wiedererkennen vertrauter Momente und der Konfrontation mit den unvertrauten Aspekten, Verhältnissen und Begebenheiten […]«. Vgl. hierzu auch die verschiedentlichen Hinweise von Hans Blüher : Wandervogel I, der die Entstehung der Jugendbewegung mit solchen lektüreinduzierten Kinder- und Jugendspielen und kurzzeitigen Ausbrüchen aus dem Elternhaus in Verbindung bringt. So beschreibt er S. 12f. den vor den Toren von Steglitz gelegenen »rauhen Berg« als Tummelplatz für »Heldentaten der Indianerzeit«, wo »Winnetou und sein unermüdlicher Freund […] Orgien ihres Heroendranges [feiern]« und bringt S. 73 jenes von ihm als Movens der Jugendbewegung benannte »romantische Gefühl« erneut in Verbindung mit »den phantastischen Indianerspielen« und den »Karl-Moor-Erlebnissen«. Das ist, es sei erneut betont, zum größten Teil denkbar harmlose Spielerei, kann aber durchaus ins Fragwürdige und Abgründige umkippen, wofür es nicht einmal einer postkolonial informierten Kritik am »Indianerspiel« bedarf. Ebenfalls auf S. 12 berichtet Blüher weiter von »Klassenkämpfe[n] zwischen Gymnasiasten und Gemeindeschülern« und weiter von »jugendliche[n] Religionskriege[n] und Judenverfolgungen«. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Johannes Nixdorf: Mein Weg zu Karl May und zur Jugendbewegung, in: Karl-May-Jahrbuch, 1921, Bd. 4, S. 158–167. Nixdorf, zunächst Mitglied in einem privaten Freundschaftsbund mit dem Namen Verein der Freunde Karl Mays und später Mitglied im Breslauer Alt-Wandervogel, stellt S. 166 die Frage, »ob nicht die ganze Entstehung des Wandervogels und der ganzen romantischen Jugendbewegung überhaupt erst durch Karl May veranlaßt wurde«. Zumindest erkennt er ebd. deutliche Parallelen zwischen »Mays Art, zu reisen«, und der »Art, wie der Wandervogel seine Reisen unternimmt« und hält es überdies für mehr als nur
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»Scholar« oder »Wanderbursche« und lesen auch davon. Wie vieles, was diese Jugendbewegung treibt, ist das zunächst vielfach völlig naiv und harmlos. Ihren besonderen Reiz entfaltet die Wanderliteratur auf ihre jugendbewegten Leser zunächst wohl einfach durch die Spannung zwischen dem Wiedererkennen des auf eigenen Wanderungen Erlebten und der Situierung der Texte in zum Teil fremden oder fremdgewordenen erzählten Welten.792 Zur Ideologie oder einer »Flucht in die Geschichtsmythen«793 wird das erst dort, wo das unreflektierte Spiel auf Dauer gestellt wird, wo nicht mehr die spielerische Performanz und das gemeinsam erlebte Abenteuer im Mittelpunkt steht, sondern der regressive Wunsch, dass es tatsächlich wieder so werden möge wie in den rezipierten und imaginierten Geschichten.794 Nichtsdestotrotz sind in den Blicken in die Vergangenheit zweifellos Versuche zu erkennen, gleichzeitig eine Geschichte und Tradition des Wanderns zu erfinden und sich in diese einzuschreiben.795 Verbunden sind die einzelnen Stationen dieser Geschichte durch das Label »Wandervogel«, das jedoch nicht einer
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Zufall, »daß der Beginn der Karl-May-Bewegung und die Entstehung des Wandervogels in die neunziger Jahre des verflossenen Jahrhunderts […] fielen. Jeder, der es weiß, wie barbarisch man mit Seele und Geist der damals heranwachsenden Jugend umgesprungen ist, wird dies nicht weiter verwunderlich finden. Es war ganz selbstverständlich« (S. 163). Ursprung und Gefühl der mit Freunden unter dem Einfluss Karl Mays gemachten Entdeckungs- und Abenteuerausflügen vergleicht er überdies, S. 161f., mit Blühers »Romantik«. Vgl. hierzu auch den Aufsatz von Reuter-Boysen: Karl May, S. 708f., in dem sie nicht nur auf den Aufsatz von Nixdorf hinweist, sondern ebenso auf die Rolle Ludwig Gurlitts bei der Rehabilitierung Mays. Vgl. Wunderlich, Härter : Nibelungenhelden, S. 237. Kaschuba: Volkslied, S. 45. Alternativ wird gleich eine »Fluchtbewegung aus der Realität« erkannt; vgl. Mogge: Wandervögel, S. 59, dessen Argumentation an dieser Stelle überdies den wunden Punkt aufweist, einen Nachweis schuldig zu bleiben, warum die Suche nach »Gegenbilder[n] zur modernen Welt der arbeitsteiligen Dienstleistungsgesellschaft« per se verwerflich sein sollte. Im Zweifelsfall lässt sich ohnehin kaum zweifelsfrei bestimmen, ob es sich im Einzelnen um kindlich-jugendliche Phantasie, Sentimentalität oder regressive Flucht handelt. Wer vermöchte dies zu entscheiden angesichts des Aufrufs zu einem Wandervogeltag auf Schloss Burg, der den Adressaten den Ort in lebhaften Bildern vor Augen führt: »Die alten Denkmäler der Geschichte, die sind des Wandervogels wahre Heimat. Hier im Burgzimmer, wenn sich der Strom der Menschen verlaufen hat, träumt der Scholar sich zurück in die Glanzzeit des deutschen Rittertums: Im traulichen Erkerstübchen sitzt er und lauscht den Sagen und Märchen der erzählenden Ahne, während aus der Ferne die Jagdhörner erschallen, wo Vater und Bruder den flüchtigen Hirsch spüren. Im Schloßhof muß der alte Burgvogt ihn den Gebrauch der Waffen lehren, und seine Wangen röten sich und die Augen blitzen: Er denkt an männermordende Schlacht und kühne Ritterturniere. Im Geiste sieht er sich schon vor der holdselig erglühenden Herzogstochter, die ihm, dem Sieger, den Eichenkranz bietet« (Anonym: II. westdeutscher Wandervogeltag auf Schloß Burg a. d. Wupper, in: Wandervogel Monatsschrift, 1912, H. 8, S. 253f.). Vgl. hierzu die Analyse der Mittelalter-Rezeption in der Freideutschen Jugend, S. 289–291 dieser Arbeit. Vgl. hierzu grundsätzlich Eric Hobsbawm, Terence Ranger : The Invention of Tradition, Cambridge u. a. 1983.
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eindeutigen Definition unterliegt, sondern durch Familienähnlichkeiten im Sinne Wittgensteins zusammengehalten wird. Einer derjenigen, die für den Typus des »Urwandervogels«796 in Frage kommen, ist Johann Gottfried Seume: »Seume ist ein richtiger oller Pachant aus der Zeit vor 100 Jahren, der mit reinen und gesunden Sinnen […] nach unserer Art getippelt ist. […] Ich bin froh, solch feines Buch gefunden zu haben, und lese es gewiß auf meiner nächsten Fahrt in der Heimat den Jungen vor.«797
Das identifikatorische Potential, das Seumes »Spaziergang nach Syrakus« für die jungen Wandervögel bereithielt, lässt sich beispielsweise dort erkennen, wo der Reisebericht das Unverständnis der Umwelt über die ungewöhnliche Art zu Reisen festhält: »Zu Abend traf ich im Wirtshause ein Paar ziemlich reiche Mailänder, die mit schöner Equipage von Neapel kamen, und wir aßen zusammen. Die Herren waren ganz verblüfft zu hören, daß ich von Leipzig nach Agrigent tornistern wollte, bloß um an dem südlichen Ufer Siziliens etwas herumzuschlendern und etwa junge Mandeln und ganz frische Apfelsinen dort zu essen.«798
Auch das Gespräch mit dem Präsidenten der italienischen Kanzlei in Wien, das Seume wiedergibt, ist in dieser Hinsicht aufschlussreich: »›Wu wüll Ähr weiter hünn?‹ Vorzüglich nach Sizilien. Er glotzte von neuem, und fragte: ›Waß wüll Ähr da machen?‹ Hätte ich ihm nun die reine platte Wahrheit gesagt, daß ich bloß spazierengehen wollte, um mir das Zwerchfell auseinanderzuwandern, das ich mir über dem Druck von Klopstocks Oden etwas zusammengesessen hatte, so hätte der Mann höchst wahrscheinlich gar keinen Begriff davon gehabt, und geglaubt, ich sei irgendeinem Bedlam
796 E.[rich] M.[atthes]: [Rezension zu:] Erlebtes und Erschautes. Band 7. Aus dem Leben eines Wandervogels. Johann Gottfried Seume, sein Leben und seine Wanderungen, in: Wandervogel Monatsschrift, 1914, H. 11/12, S. 302f., hier S. 303. 797 Bruno Paul: [Rezension zu:] Erlebtes und Erschautes. Band 7. Aus dem Leben eines Wandervogels. Johann Gottfried Seume, sein Leben und seine Wanderungen, in: Führerzeitung, 1918, H. 7/8, S. 125f., hier S. 126; Hervorhebung von mir, M.L. Es handelt sich bei dem rezensierten Buch um eine Auswahl aus Seumes Reiseberichten. Die Rezeption Seumes als »Urwandervogel« wurde freilich auch dadurch befeuert, dass jene hier besprochene Sammlung von autobiographischen Dokumenten und Reiseberichten bereits seit 1880 vom Leipziger Verlag Voigtländer unter dem Titel »Aus dem Leben eines Wandervogels« herausgegeben wurde, deren spätere Auflagen dann als Rezensionsexemplare in den Redaktionsstuben der Wandervogelzeitschriften landeten. 798 Johann Gottfried Seume: Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802, München 1994, S. 102.
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entlaufen. Ich will den Theokrit studieren, sagte ich.«799
Wandern um des Wanderns willen, ein Überdruss an der »Stubenhockerei«800, die Überzeugung von den physischen Beeinträchtigungen durch zu lange Buchlektüre – wenngleich Seumes Äußerung wohl eher ironischen Charakter hat –, eine nachträgliche und lediglich vorgebliche Zwecksetzung des Reisens, um dem Unverständnis der Außenstehenden zu entgehen: Da dürften die Wandervögel das Gefühl gehabt haben, hier spreche ihnen jemand aus der Seele.801 Die Erfindung einer Ahnenkette für den Wandervogel, die Beteuerung, dass jemand wie Seume schon »nach unserer Art getippelt ist«, verweist auf ein zumal in der frühen Jugendbewegung offenbar weitverbreitetes Bedürfnis nach Selbstvergewisserung und Bestätigung. Dabei geht es »kaum um eine intellektuelle Auseinandersetzung mit geschichtlichen Figuren, sondern um permanente Selbstinterpretation im Klischee des historischen Vorbilds«,802 die im Ergebnis antagonistisch ist.803 Seume wird nicht nur als Schriftsteller gelesen, in 799 Ebd., S. 25. 800 Gurlitt: Bericht, S. 53. 801 Dieses »Nähe-Erlebnis«, hervorgerufen durch einen Text, der »vermeintlich tatsächliche Erlebnisse und Gedanken des Autors präsentiert« und dabei »eigene Erfahrungen bzw. das eigene Lebensgefühl« der Leser »auf besondere Art und Weise artikuliert«, wurde von Klein: Kultbücher, S. 339 u. ö., als wichtiges Charakteristikum von »Kultbüchern« herausgearbeitet. Von einem »prototypischen Kultbuch« im Sinne Kleins unterscheidet sich Seumes »Spaziergang« – wie vermutlich viele andere ›Kultbuch-Kandidaten‹ der Jugendbewegung auch – dadurch, dass sie nicht das Kriterium der »Unabhängigkeit der Lektüre von der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe« (ebd., S. 71) erfüllen. Seinen Status gewinnt Seumes Reisebericht für die Jugendbewegung erst durch und innerhalb der bereits etablierten Formen jugendbewegten Reisens. Die Frage, ob es sich bei Seumes Text dennoch um ein »gruppenspezifisches Kultbuch« oder vielmehr um einen »gruppenspezifischen Selbstverständigungstext« handelt, hängt davon ab, ob dem Text von seinen jugendbewegten Lesern »Charisma« zugeschrieben wird oder nicht. Vgl. hierzu die Unterscheidung verschiedener Kultbuch-Typen bei Klein: Kultbuch, S. 73f. 802 Hermann Korte: Expressionismus und Jugendbewegung, in: IASL, 1988, Jg. 13, S. 70–106, hier S. 80. 803 Die Differenz der Gegenwart gegenüber der Vergangenheit betont allerdings E. Ledermann: Die Ahnen der Wandervögel, in: Alt-Wandervogel, 1907, H. 2, S. 21–23. Ausgehend von der Lektüre von Brentanos »Chronicka« und der Rezeption der Lieder Rudolf Baumbachs versucht er sich im Rahmen einer knappen »kulturhistorischen« Skizze an der Darstellung des Lebens der fahrenden Schüler des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit. Wenngleich seine Schilderungen durchweg einen Hang zur naiven Sentimentalisierung der Geschichte zeigen, lässt sein Fazit, S. 23, eine grundsätzliche Differenzerfahrung erkennen: »Wie grundverschieden von diesem unsteten Wandertrieb der Schüler vergangener Zeiten ist die fröhliche Wanderlust der in geordneten Verhältnissen lebenden ›Wandervögel‹, die nur ihre Ferien und schulfreien Tage dazu verwenden, ihren Gesichtskreis zu erweitern, Land und Leute ihrer Heimat, und neue schöne Gegenden kennen zu lernen.« Zurückgenommen wird die Erkenntnis einer Differenz dann jedoch zum Teil wieder von Jahn:
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dessen Schriften sich die eigene Situation auf den Wanderungen gespiegelt fände, sondern zugleich für die in der Jugendbewegung kursierende Kulturkritik und für die Ablehnung des modernen Tourismus in Dienst genommen: »Sein Temperament, [!] ließ ihn die Dinge ruhig genießen, ohne die Hetzjagd, die uns leider beinahe natürlich geworden ist, ohne Gedanken an Sport im heutigen Sinn, der so leicht in Rekordjägerei ausartet.«804
So wird durch die »Aneignung […] historischer […] Idealbilder [das] eigene Selbstbild[…] konkret«.805 Der publizistische Umgang mit den gewählten Vorbildern ist aber nicht nur als Versuch zu werten, das eigene Selbstverständnis als »Wandervögel« zu festigen. Mindestens genauso wichtig dürfte die Reaktion auf den Blick von außen seitens einer neugierigen Öffentlichkeit und interessierter Eltern und Lehrer gewesen sein. Trotz aller positiven Resonanz gab es genug Skeptiker und Kritiker der Jugendbewegung. Diesen mit dem Hinweis begegnen zu können, »daß wir die rechte Art des Wanderns und Reisens eigentlich von Goethe hätten«,806 dürfte in einer Zeit weitgehend uneingeschränkter GoetheVerehrung einiges an Gewicht gehabt haben: »Wieviel ernstzunehmender war doch ein pubertärer Mentalitätsanspruch, wenn er durch etablierte Autoritäten formuliert wurde«.807 Auch die propagierte Zweckfreiheit des Wandervogels wird so durch den Verweis auf Kant zu adeln und jeglicher Kritik zu entziehen versucht: »Der W.-V. ist entstanden als eine Selbstbefreiung der Jugend aus mancherlei Bedrückung und Belastung mit unverstandenen Zwecken, als eine Selbstbefreiung in reinem, wenngleich tiefernstem Spiel, ›zweckmäßig, ohne Zwecke‹.«808
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Vagantenlieder, in: Alt-Wandervogel, 1907, H. 7, S. 104f., hier S. 104, der unter Berufung auf Ledermanns Aufsatz die These aufstellt, dass die fahrenden Schüler des Mittelalters »ebenso sangeslustige Gesellen gewesen zu sein [scheinen] wie unsere heutigen Wandervögel«. Vgl. hierzu auch unten in diesem Kapitel die Analyse historisierender und aktualisierender Rezeptionsmodi. Walther Unus: Seume. Ein Wandervogel in düsterer Zeit, in: Jung-Wandervogel, 1910/11, H. 9, S. 139–143, hier S. 141. Korte: Expressionismus und Jugendbewegung, S. 79f. Hellmut Mebes: Auf Fahrt Geschichte erleben, in: Wandervogel Monatsschrift, 1918, H. 9/ 10, S. 193. Die Biographie Schillers hingegen gibt Anlass, die Notwendigkeit des Wanderns überhaupt zu erkennen; vgl. Ottomar Beta: Schiller und das Wandern, in: Wandervogel Illustrierte Monatsschrift, 1905, H. 5, S. 53–55, der Schillers frühen Tod auf fehlende Wanderaktivitäten in der Jugend zurückführt. Wolfgang Lindner : Jugendbewegung als Äußerung lebensideologischer Mentalität. Die mentalitätsgeschichtlichen Präferenzen der deutschen Jugendbewegung im Spiegel ihrer Liedertexte, Hamburg 2003, S. 88. Hans Wix: Der Wandervogel am Scheidewege, in: Wandervogel Monatsschrift, 1914, H. 2, S. 46–49, hier S. 47. Dass das Zitat zwar als Zitat kenntlich gemacht, nicht aber dessen Herkunft benannt wird, ist deutliches Zeichen des bürgerlichen Herkunftsmilieus wie bürgerlichen Distinktionsbewusstseins sowohl des Autors als auch der Herausgeber und Leser der »Monatsschrift«.
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Spätestens, als die Wandervögel anfangen, sich in über den Zusammenhalt einer Freundesgruppe hinausweisenden Bünden zu organisieren, sich die Jugendbewegung über immer größere geographische Räume ausbreitet, immer mehr ältere, dem Schulalter entwachsene Mitglieder die Entwicklung prägen und die Gruppen mehr und mehr im Fokus der Öffentlichkeit stehen, genügt die kurzfristige Identifikation mit realen und fiktionalen Wanderern der Geschichte und die spielerische Performanz des Nachlebens für die Dauer gemeinsamer Wanderungen nicht mehr zur Gestaltung des Selbstbilds. Gerade in der Berufung auf Autoritäten vom Rang eines Goethe oder Kant, aber auch eines Friedrich Ludwig Jahn oder Ernst Moritz Arndt wird sichtbar, dass die Orientierung an zum Vorbild oder Vorfahren stilisierten Figuren und Personen vergangener Zeiten nicht lediglich der Konstruktion einer idiosynkratischen Wandervogeltradition dient. Vermittelt über die Geschichte schreibt sich der Wandervogel in die Tradition(en) des wilhelminischen Bürgertums ein und partizipiert an dessen kulturellem Gedächtnis. Das kulturelle Gedächtnis, von Jan Assmann definiert als »den jeder Gesellschaft und jeder Epoche eigentümlichen Bestand an Wiedergebrauchs-Texten, -Bildern und -Riten, in deren ›Pflege‹ sie ihr Selbstbild stabilisiert und vermittelt«,809 wirkt in der Jugendbewegung so in zweifacher Hinsicht »identitätskonkret«.810 Zum einen holen sich ihre Mitglieder aus dessen Beständen, was für die Konstruktion des Selbstverständnisses als »Wandervögel« notwendig und brauchbar ist. Zum anderen erklären sie sich selbst zu einer Jugendbewegung, die in ihren Idealen dem bürgerlichen Wertehorizont verhaftet ist. Auch wenn mitunter eine gewisse trotzige Verweigerungshaltung gegenüber den Empfehlungen der Elterngeneration gezeigt wird811 – die Jugendbewegung folgt dem literaturhistorischen Kanon812 und setzt sich selbst in den Rang des eigentlichen 809 Jan Assmann: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität, in: ders., Tonio Hölscher (Hg.): Kultur und Gedächtnis, Frankfurt a. M. 1988, S. 9–19, hier S. 15; vgl. hierzu ausführlich Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1999. 810 Mit dem Terminus meint Assmann: Kollektives Gedächtnis, S. 12, den Sachverhalt, »daß eine Gruppe ein Bewußtsein ihrer Einheit und Eigenart auf dieses [im kulturellen Gedächtnis gespeicherte, M.L.] Wissen stützt und aus diesem Wissen die formativen und normativen Kräfte bezieht, um ihre Identität zu reproduzieren«. 811 Vgl. zum Beispiel die bereits zitierte Rezension von Paul: Seume, der seine Kritik auf S. 125f. mit einer Anekdote beginnen lässt: »Schon als Primaner wurde mir Seume vom dem Deutsch-Professor warm empfohlen, weil er auch ein rechter Wandervogel gewesen sei. Aber auf solche Empfehlungen gibt man bekanntlich nicht viel.« Doch auch hier wird durch die dann doch erfolgte Lektüre, die daraus hervorgehende Begeisterung für Seume und die Bestätigung des Urteils und der Einschätzung des Lehrers die ältere Generation umgehend wieder rehabilitiert. 812 Kaschuba: Volkslied, S. 46 hat ebenfalls darauf aufmerksam gemacht, dass sich in den in der Jugendbewegung verbreiteten »Mythen- und Geschichtsszenarien« das »sozialmoralische
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Erbwalters und Nachfolgers der Klassiker bürgerlicher Literatur und der Heroen der Geschichte. In der Einleitung zum Abdruck einiger Auszüge aus den Reclam-Ausgaben der Werke Friedrich Ludwig Jahns – auch er ein »Wandervogelvater«813 – appelliert Hans Lissner an die Leser der »Monatsschrift«: »Wir Wandervögel wollen aber diese Schön- und Kraftgestalt unserer deutschen Geschichte nicht als Kalenderheiligen hinnehmen! Wir sollten ihn auch gründlicher kennen, nicht allein den Ersinner der Turnkunst in ihm sehen, was freilich unsterblichen Verdienstes genug wäre. Kennen und lieben lernen wir Friedrich Ludwig Jahn am vollkommensten durch seine unvergleichlichen Schriften. Die sollten ständige Fahrtbegleiter eines Wandervogels sein, sollten ihm zur Waldrast Erbauungsstunden, am Lagerfeuer, im Landheim, zu Haus und im Freundeskreis Stoff zum Vorlesen und Lauschen geben. Das sollten sie wirklich! An Ernst und Aufrichtigkeit, Frische und Frohsinn, Schönheit und Deutschheit haben sie nicht ihresgleichen.«814
Deutlich artikuliert sich hier ein Vorwurf an die offizielle Geschichts- und Gedächtniskultur. Deren Form des Gedenkens erschöpfe sich in Lippenbekenntnissen, ohne den Objekten der Verehrung nacheifern zu wollen oder sich wenigstens um eine eingehende Kenntnis ihrer Taten und Werke zu bemühen.815 Lissner fordert dementsprechend dazu auf, sich durch intensive Lektüre mit Jahn auseinanderzusetzen. Dass es nicht dabei bleiben soll, deutet der Katalog an Milieu« des wilhelminischen Bürgertums erkennen lasse: »Unverkennbar speist sich der Ideenhorizont des Wandervogel aus […] Bildungspotentialen, die über den engeren Bereich der Schulcurricula hinaus die gesamte Sozialisationssphäre des deutschen Bildungsbürgertums prägen«. Dieser bürgerliche Bildungshorizont wird in der Jugendbewegung tatsächlich nicht nur gefestigt, sondern auch vorausgesetzt. Ein triviales Beispiel, das vielleicht gerade deswegen so signifikant ist, ist ein Rätsel, bei dem jedem von acht knappen Sätzen aus Gedichten Körners ein Wort entnommen werden soll, um den Beginn eines weiteren Gedichtes von Körner zu erhalten; vgl. Anonym 1913: Körner-Rätsel, in: AltWandervogel, 1913, H. 5, S. 110. Gegen die distanzlose Begeisterung der Jugendbewegung für die Lyrik der Befreiungskriege polemisierte unter den Zeitgenossen Gustav Wyneken: Solche Ansichten können wir nicht dulden, in: ders.: Der Kampf für die Jugend. Gesammelte Aufsätze, Jena 1919, S. 67–80, hier S. 74, der glaubte, »[e]iner geistig besser genährten Jugend« als dieser dürfe man nicht »mit der Körnerfütterung […] kommen«. 813 Hans Lissner : Etwas von dem Alten im Bart, in: Wandervogel Monatsschrift, 1911, H. 7, S. 159f., hier S. 159. 814 Ebd. 815 Prominent wurde diese Kritik eines »philisterhaften« Umgangs mit den »Klassikern« deutscher Literatur und Geschichte erstmals von Nietzsche in seiner ersten »Unzeitgemäßen Betrachtung« formuliert. Friedrich Nietzsche: Unzeitgemässe Betrachtungen, Erstes Stück: David Strauss der Bekenner und Schriftsteller, in: ders.: Kritische Studienausgabe, Bd. 1, München 1999, S. 157–242, hier S. 168, erhebt den Vorwurf, es fehle überhaupt an einer Kenntnis der »Klassiker«, »[d]enn sonst müsste man wissen, dass es nur Eine Art giebt, sie zu ehren, nämlich dadurch, dass man fortfährt, in ihrem Geiste und mit ihrem Muthe zu suchen und dabei nicht müde wird«. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Frank: Geschichte des Deutschunterrichts, S. 312–314.
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Tugenden an, den es nicht nur in den Texten wiederzuerkennen, sondern dem es im Zuge der eigenen Persönlichkeitsbildung nachzustreben gelte.816 Gerade im Umfeld des hundertjährigen Jubiläums der Leipziger ›Völkerschlacht‹ und des Freideutschen Jugendtages werden diese Positionen besonders deutlich sichtbar. Das Fest auf dem Meißner war zwar als Gegenveranstaltung zu den offiziellen Feierlichkeiten gedacht, nichtsdestotrotz fühlten sich die Veranstalter und Teilnehmer dem ›Geist von 1813‹ verpflichtet. In einem Grundsatzartikel fragt Hans Breuer im Oktober 1913: »Was hat das Volk vor hundert Jahren groß gemacht? Der tief gefühlte Drang, des unwürdigen Zustandes Herr zu werden, Treue gegen sich selbst, das ist der Wille zur Tat; nicht dieses oder jenes Ideal, sondern die Fähigkeit, Ideale zu haben überhaupt, kurz: der deutsche Idealismus. Hatten wir nicht auch, als wir im öden Häusergrau der Großstadt erwachten, eine weite, ideale Welt in uns gebaut, die ganze Welt des sterbenden Götz: Himmlische Luft, Freiheit, Freiheit! Und sahen uns schnöde betrogen? Hatten wir nicht, wie Schößlinge verschorener und verpfropfter Bäume eine starke Ader angeerbter Art in uns gespürt, mehr dumpf und triebartig, aber mit dem eingeborenen, unerschütterlichen Rechte, ihr zu leben? Wuchsen wir nicht damit hinein in die fortschreitende Entdeutschung der Umwelt?«817
Munter mischt Breuer den deutschen Idealismus und das Volk der ›Befreiungskriege‹ mit Goethes »Götz von Berlichingen« zusammen, um mit dieser Melange die Jugendbewegung auf ihre ›nationale Aufgabe‹ vorzubereiten. Es sind nicht die Traditionen des politischen bürgerlichen Liberalismus, an die angeknüpft wird, sondern die der antifranzösischen, prävölkischen Richtung, als deren Helden der Jugendbewegung neben Jahn vor allem Ernst Moritz Arndt und Johann Gottlieb Fichte gelten.818 Wo das Gefühl einer »Entdeutschung« groß 816 Es ist wenig überraschend, dass bei einer Person wie Friedrich Ludwig Jahn gerade dessen »Deutschheit« gerühmt wird. Ebenso wenig überrascht es, dass der Ausdruck in Lissners Augen offenkundig keinerlei Erklärung bedarf. Der Begriff des »Deutschen« fungiert nicht nur in den radikal völkischen Kreisen des Wandervogels als nicht weiter erläuterungsbedürftiger positiver axiologischer Wert. Lissner greift damit ein Gedenkmodell auf, dass in der Dichterverehrung seit dem 19. Jahrhundert einen festen Platz einnimmt. Wulf Wülfing: »In weiten Bahnen zieht der leuchtende Genius«. Zur Rhetorik der Dichterverehrung im 19. Jahrhundert am Beispiel von Ludwig Börne und Berthold Auerbach, in: Braungart (Hg.): Verehrung, S. 203–218, formuliert auf S. 210 die diesbezügliche These, dass »Dichterfeiern im 19. Jahrhundert […] als Foren genutzt werden [können], nationale ›Identität‹ zu definieren. Dabei wird in der Regel der zu Feiernde präsentiert als der ›wahre‹ Deutsche, dessen Leben und Wirken als ›Vermächtnis‹ interpretiert wird; als ein ›Erbe‹, das man anzutreten und zur ›Vollendung‹ zu führen habe«. 817 Hans Breuer : Herbstschau 1913. Plus ultra, in: Wandervogel Monatsschrift, 1913, H. 10, S. 282–285, hier S. 282f. 818 Vgl. zur Fichte-Rezeption im Wilhelminischen Kaiserreich und im Ersten Weltkrieg Jens Nordalm: Fichte und der »Geist von 1914«. Kulturgeschichtliche Aspekte eines Beispiels politischer Wirkung philosophischer Ideen in Deutschland, in: Fichte-Studien, 1999,
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ist, da besinnt man sich – siehe oben – auf die Männer der Vergangenheit und ihre »Deutschheit«. Derart dienen Erinnerungskultur und textuell vermittelte Vergangenheit nicht nur zur Entwicklung einer kollektiven Identität als bürgerliche Jugendbewegung. Literarische und andere Texte tragen zur Vergewisserung bei, Teil des größeren Kollektivs des »deutschen Volkes« zu sein. So kommt auch Thomas Nicklas zu dem ernüchternden Fazit, dass das Gedenken an die ›Völkerschlacht‹ im Umfeld des Freideutschen Jugendtages eine Gemeinschaft stiftete durch die »Berufung auf die Legitimationsquelle nationalistischer Konventionen«.819 Weit mehr als die Rezeption der Wanderliteratur, die vor allem die junge Bewegung zu begründen und zu legitimieren vermag, dient die Berufung auf »1813« der Sinnstiftung, indem die Wandervögel dort eine unerledigte historische Aufgabe für sich zu erkennen vermeinen.820 Die Parallelisierung der Situation von 1813 und der Gegenwart von 1913, wie sie in Breuers Artikel zum Ausdruck kommt, dient der Aufladung eines allgemeinen Krisenbewusstseins mit einer Stimmung der Kampf- und Opferbereitschaft. Die Jugendbewegung stellt darin keinen Sonderfall in der wilhelminiBd. 15, S. 211–232. Vgl. zur Fichte-Rezeption im Umfeld des Meißnerfestes Ernst Keller : Nationalismus und Literatur. Langemarck Weimar Stalingrad, Bern u. a. 1970, S. 14f. An die republikanische Tradition des 19. Jahrhunderts versucht Walter Hammer anzuknüpfen, wenn er, Schriftleitung: Deutsche Republik. Erfüllung oder Aufgabe?, in: Junge Menschen, 1921, H. 8, S. 125f., hier S. 125, das Erbe Fichtes und der »Freiheitskämpfer« von 1813 im selben Atemzug mit den »Freiheitskämpfer[n] der 48er Jahre« für die Ideale der Weimarer Republik zu reklamieren versucht. Vgl. hierzu auch erneut Wülfing: Dichterverehrung, S. 214, nach dem sich derartige Versuche zur Kanonbildung verstehen lassen als Versuch, »das Feld der nationalen ›Identität‹ dadurch semantisch zu besetzen, daß [definiert wird], was ›deutsche Geschichte‹ ist. Eines der wohl wichtigsten Mittel, eine solche Definition durchzusetzen, ist die Kanonbildung: Welcher der Dichter und Denker gehört zum ›nationalen Erbe‹«. Unmittelbar anschaulich wird ein solcher Versuch zur Definition des »Deutschen« durch den Bezug auf einen einzelnen Autor beim Übersetzer von Arthur de Gobineau, Martin Otto Johannes 1920: [Rezension zu:] Ludwig Schemann, Paul de Lagarde. Ein Lebens- und Erinnerungsbild, in: Führerzeitung, 1920, H. 3/4, S. 33–35, hier S. 33: »Das Wesen unseres deutschen Volkstums zu fassen und zu erkennen, gibt es kein anderes geeignetes Mittel als die Bekanntschaft mit seinen hervorragendsten Einzelvertretern. Denn wie eine Gemeinschaft in Wahrheit nur von Einzelnen geführt und gefördert wird, so prägt sich auch ihr höchster Gehalt mit all seinen Tugenden (und Fehlern!) nur ein Einzelnen vollkommen aus.« 819 Thomas Nicklas: 18. Oktober 1813: Blutige Selbstfindung einer Nation, in: Eckart Conze, Thomas Nicklas (Hg.): Tage deutscher Geschichte. Von der Reformation bis zur Wiedervereinigung, Darmstadt 2004, S. 99–118, hier S. 114. Der Artikel bietet darüber hinaus eine lesenswerte Zusammenfassung der Formen des Gedenkens an den Tag der ›Völkerschlacht‹ von 1814 bis in die Zeit der deutschen Teilung. 820 Vgl. zur historischen Selbstvergewisserung durch die Berufung auf 1813 im Umfeld des Meißnerfestes auch Schenk: Freideutsche Jugend, S. 146. Vgl. grundsätzlich zum Zusammenhang von Erzählungen und der Erzeugung kollektiver Identität und kollektiver Sinnmuster Barbara Schaff: Erzählen und kollektive Identität, in: Mat&as Mart&nez (Hg.): Handbuch Erzählliteratur. Theorie, Analyse, Geschichte, Stuttgart 2011, S. 89–97.
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schen Gesellschaft dar, aber es hilft zu erklären, wieso sich auch aus den Wandervogelbünden zigtausende junger Menschen beim Beginn des Ersten Weltkriegs als Freiwillige meldeten. Das von Breuer angewandte Modell der Parallelisierung bildet allerdings nur einen Modus des Umgangs mit Geschichte und mit in der Vergangenheit angesiedelten literarischen Stoffen in der Jugendbewegung. Daneben existieren noch weitere, zwischen den Polen der Aktualisierung, der Historisierung und der Enthistorisierung angesiedelte Rezeptionsmodi, die im Folgenden näher untersucht werden sollen. Während zuletzt Autoren nicht-fiktionaler Werke im Mittelpunkt dieses Kapitels standen, soll das Augenmerk nun wieder verstärkt auf fiktionaler Literatur liegen, namentlich auf historischen Romanen und Erzählungen. Historische Literatur als »geschichtserzählende Literatur« ist ein »hybrides Gebilde« aus einem vorgegebenen historischen Ereignis als Referenzobjekt und fiktiven Elementen.821 Das erzählerische Interesse in diesem Genre gilt jedoch nicht allein dem historischen Ereignis als in einer näheren oder ferneren Vergangenheit angesiedeltem Faktum. Vielmehr wird häufig durch textuelle oder paratextuelle Signale und Verweise ein mehr oder weniger expliziter Bezug zur Gegenwart des Autors hergestellt.822 Gleichermaßen verdankt sich das Interesse des Rezipienten für historische Literatur zu einem nicht geringen Teil derartigen Bezügen.823 Das gilt im Großen und Ganzen zwar auch in der Jugendbewegung. Es gibt jedoch ebenso Beispiele, in denen ein Interesse an der Vergangenheit an sich zum Ausdruck kommt und gerade deren Differenz zur Gegenwart betont wird. Dies ist vor allem bei der Lektüre historischer Erzählungen im Sinne nicht-zeitgenössischer Erzählungen der Fall. Als historisches Zeugnis präsentiert Friedrich Wilhelm Rittinghaus Grimmelshausens »Simplizissismus« ebenso wie den »Springinsfeld« und die »Landstörtzerin Courasche«. Sie gelten ihm als »eine der besten Gelegenheiten, deutsches Leben der Vergangenheit kennen zu lernen«.824 Darin unterscheidet sich sein Rezeptionsmodus eminent von den zuvor vorgestellten Formen der Aneignung von historischer Wanderliteratur zum Zweck der Traditionsbildung. 821 Gabriele von Glasenapp: »Was ist Historie? Mit Historie will man was«. Geschichtsdarstellungen in der neueren Kinder- und Jugendliteratur, in: dies., Gisela Wilkending (Hg.): Geschichte und Geschichten. Die Kinder- und Jugendliteratur und das kulturelle und politische Gedächtnis, Frankfurt a. M. 2005, S. 15–40, hier S. 17. 822 Vgl. ebd., S. 18f. und Helmut Vallery : Führer, Volk und Charisma. Der nationalsozialistische historische Roman, Köln 1980, S. 139–184. 823 Vgl. Glasenapp: Geschichtsdarstellungen, S. 19. 824 F.[riedrich] W.[ilhelm] Rittinghaus: [Sammelrezension:] [Bücher aus dem Verlag Martin Mörike:] Fröhliche Abenteuer ; Grimmelshausens »Simplizius Simplizissimus«, »Landstörtzerin Courage«; Don Quixote mit Bildern von Dor8, in: Wandervogel Monatsschrift, 1913, H. 3, S. 95f., hier S. 96.
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Grundsätzlich problematisch ist Rudolf Piper der unbefangene Umgang mit historischen Liedtexten im Wandervogel. Ausgehend von der Forderung, Literatur bzw. Lieder sollten »Bekenntnis unseres Fühlens« werden, kritisiert er den »Zupfgeigenhansl« aufgrund seiner Beschränkung auf das ihm unzeitgemäß erscheinende Volkslied. Während andernorts gerade dessen »Zeitlosigkeit« gerühmt wird, beharrt er darauf, dass die Wandervögel keine »Menschen des 16. Jahrhunderts oder Musketiere von 1870 sind« und verwahrt sich demgemäß sowohl gegen eine ihm unstatthafte Parallelisierung verschiedener Epochen wie gegen eine die Ungleichheit der Zeiten übergehende identifikatorische Lektüre.825 Dass aber auch ein Interesse an historischer Literatur im Sinne Glasenapps sich lediglich auf die Vermittlung geschichtlicher Vorgänge beschränken kann, soll ein weiteres Beispiel zeigen. Luise Walbrodt hält Hermann Löns’ »Wehrwolf« für »ein starkes, schönes Buch. Alles echt, wahrhaftig, manchmal etwas derb, aber das muß so sein. Ich kenne kein besseres Buch, das uns die schwerste Zeit unseres Vaterlandes so lebendig und wahrhaftig schildert«.826
Beinahe hat es den Eindruck, als würde Walbrodt den Roman tatsächlich für ein historisches Dokument aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges halten, wenn sie ihn mit Standardvokabeln des Authentizitätsdiskurses wie »echt« und »wahrhaftig« rühmt und die Lebendigkeit der Erzählung hervorhebt. Auffällig ist jedenfalls, dass sie naheliegende Vergleiche zwischen der bedrohten Dorfgemeinschaft der Fiktion und der Situation Deutschlands im Ersten Weltkrieg nicht zieht.827 Implizit werden derartige Interpretationen sogar ausgeschlossen, indem die Kriegshandlungen des 17. Jahrhunderts als »schwerste Zeit« apostrophiert werden – die Rezension ist immerhin 1917 geschrieben – und durch diesen Superlativ die Inkommensurabilität der Ereignisse betont wird. Im 825 Rudolf Piper : Etwas vom Zupfgeigenhansl, in: Wandervogel Monatsschrift, 1915, H. 11, S. 308f., hier S. 309. Die geforderte Koinzidenz von eigener Lebenssituation und im Lied zum Ausdruck gebrachter Situation und Emotion geht bei Piper soweit, dass er ebd., S. 309, auch das Singen von Soldatenliedern unter Sechzehnjährigen kritisiert, weil es »da zu sehr nach patriotischen Phrasen, die wir doch allzeit verachtet haben« klänge. Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Position von Frank Fischer : Vergangenheit, S. 286, im Vorfeld der Hundertjahrfeier der »Völkerschlacht« und des Freideutschen Jugendtages: »Von der in lautester Öffentlichkeit üblichen Art, die Früchte der Geschichte zu brechen, haben wir uns halb instinktiv abgewandt. Auch unsere Hundertjahrfeier soll, – so schwebt es mindestens als Verlangen vor, nicht mit dreisten Händen grundverschiedene Zeiten mischen, soll nur eine Stunde des Selbstbesinnens sein«. 826 Walbrodt: Löns-Feier, S. 10. 827 Vgl. hierzu Dupke: Mythos Löns, S. 158, der auf den Zusammenhang zwischen der bereits vor 1914 in der wilhelminischen Gesellschaft verbreiteten »Einkreisungsphobie« und der Romanhandlung des »Wehrwolf« aufmerksam macht.
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Zentrum steht bei ihr ebenso wie bei Rittinghaus der Aspekt der unterhaltsamen Belehrung über die Vergangenheit. Im Gegensatz dazu interpretiert Else Haeder den »Wehrwolf« als Appell an die Jugend: »Was an dem Buche so fesselt, ist das harte, zähe Ringen um die Heimatscholle, ist das Füreinanderstehen – kurzum alles das, was wir Jungen in unserem Vaterlande jetzt so schmerzlich vermissen und um das wir, gleich Harm Wulf, kämpfen wollen und müssen, wenn wir uns nicht selbst verlieren wollen: Vaterlandsliebe, Eintracht und Treue.«828
Nicht eine als spannend empfundene Romanhandlung oder die mitunter drastischen Gewaltdarstellungen werden von ihr als entscheidendes Kriterium zur Bewertung angeführt, sondern der ethische Vorbildcharakter der handelnden Figuren. In dieser Perspektive ist die historische Verortung des Romans nebensächlich, da es um die Darstellung von als universell gedachten Werten und Handlungsmaximen geht. Ein derartiger Zug zur Enthistorisierung historischer Literatur ist in der Jugendbewegung allerdings selten. Häufiger ist der Wunsch nach einer selbst bereits »zeitlosen« Kunst, der, wie erwähnt, vor allem in der Rezeption des Volksliedes Erfüllung findet. »Zeitlose Kunst« zeichne sich demnach durch das Fehlen jeglicher konkreter Zeitbezüge aus und diene nicht dem Lob zeitspezifischer Institutionen, sondern zeitloser »Gefühle wie ›Freundschaft, Treue, Liebe, Kampfesmut, Stolz, Zorn, Vaterlandsliebe …‹«. Grundsätzlich gelte: »[…] wenn alle Beziehungen zur Zeit des Liedes verloren, alle Erinnerungen an die Begebnisse verblaßt oder vergessen sind, dann soll ein echtes Lied immer noch seine Wirkung ausüben kraft der Empfindung, die in ihm liegt. Die Sprache eines Liedes von dauerndem Wert muß zu jeder Zeit verständlich sein, also keine historischen Kenntnisse voraussetzen«.829 Bezeichnenderweise rühmt dieser Autor auch nicht Löns’ »Wehrwolf«, sondern dessen Märchen und Lieder.830 Zumeist ist das Verhältnis der Jugendbewegung zu historischer Literatur aber durch Prozesse der Aktualisierung gekennzeichnet, was sich sowohl an historischen Texten als auch an historischen Handlungsräumen zeitgenössischer Literatur ablesen lässt. Hierzu zählt unter anderem der zuvor zitierte Aufsatz von Hans Breuer. Mit Hilfe einer Parallelisierung der Situation um 1800 und der Situation um 1900 ist er bestrebt, die damaligen Probleme als noch immer aktuell darzustellen. In der Rezension eines vom Dürer-Bund herausgegebenen 828 Else Haeder : [Rezension zu:] Hermann Löns, Der Wehrwolf, in: Junge Menschen, 1920, H. 5/ 6, S. 34. 829 Karl von Binder-Krieglstein: Unser eigenes Lied, in: Wandervogel Monatsschrift, 1917, H. 5, S. 112–114, hier S. 112. 830 Ebd.
Literatur und Geschichte
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Kalenders von Hermann Buddensieg ist die Ausgangslage ähnlich. Auch er setzt sich mit der Frage auseinander, welche Bedeutung die dort präsentierten »Großen des deutschen Frühlings vor hundert Jahren« noch haben. Die Argumentation zur Rechtfertigung ihrer bleibenden Relevanz ist aber eine andere als die Breuers: »Was die Großen vor hundert Jahren zu unserem Volke geredet haben, vieles gilt noch heute wie damals, viele ihrer Wünsche sind noch unerfüllt. In ihren Worten liegt nicht nur Vergangenheit, auch Gegenwart und Zukunft. Wenn wir jene Zeit würdig feiern wollen, so muß uns die Erinnerung zum Ansporn werden, nun unsererseits das durchzusetzen, was unseren Ahnen zu Ende zu führen nicht vergönnt war.«831
Während Breuer es dabei belässt, eine Gleichartigkeit der Zeitprobleme zu behaupten und lediglich den Vorbildcharakter der Akteure von ›1813‹ hervorhebt, unterstellt Buddensieg eine Kontinuität der Probleme, die nie aufgehört hätten, zu existieren. Geschichte und Literatur werden so aktualisiert, die eigene Gegenwart dagegen historisiert.832 Zugleich wird die ›Nation‹ hierdurch in der Wahrnehmung zu einer fortzusetzenden Aufgabe, nicht zu etwas, was mit der Reichsgründung von 1871 beendet wäre. Offen ist diese Position dann für ganz unterschiedliche Besetzungen, für kulturelle Optionen ebenso wie für militärische, für völkisch-antisemitische wie für liberale.833 Auch eine Sammelrezension zu Büchern über das »Studentenleben vor 150 Jahren«, innerhalb der unter anderem Karl Philipp Moritz’ »Anton Reiser« besprochen wird, operiert mit der Darstellung einer Kontinuität. Otto Piper, der Rezensent, würdigt Moritz’ Roman nicht nur aufgrund seiner vermeintlichen Autobiographik als wichtiges kulturhistorisches Dokument. Da sich
831 Hermann Buddensieg: [Rezension zu:] Gesundbrunnen 1914. Kalender des Dürerbundes, in: Jung-Wandervogel, 1913, H. 9, S. 135f., hier S. 136. 832 Vgl. zur Unterscheidung von »Aktualisierung« der Vergangenheit und »Historisierung« der Gegenwart Ernst Schulin: Vorwort, in: ders.: Arbeit an der Geschichte. Etappen der Historisierung auf dem Wege zur Moderne, Frankfurt a. M. u. a. 1997, S. 7–11, hier S. 8. 833 Einen Versuch, an liberale Traditionen anzuknüpfen, ohne das Modell des Vergangenheitsbezugs zu verändern, stellt eine zur Hundertjahrfeier des Wartburgfestes von Max Hodann und Walther Koch herausgegebene Anthologie über die Urburschenschaft dar. Max Hodann: Zum Geleit, in: ders., Walther Koch (Hg.): Die Urburschenschaft als Jugendbewegung. In zeitgenössischen Berichten zur Jahrhundertfeier des Wartburgfestes, Jena 1917, S. 3f., wendet sich in seinem Vorwort unter Berufung auf Heinrich Heine gegen reaktionäre Tendenzen in der historischen Burschenschaft und in den zeitgenössischen Studentenverbindungen: »So geben wir diese Blätter heraus, nicht als eine historischkritische Urkundensammlung, sondern als ein lebendiges Zeichen des Geistes, der vor hundert Jahren in der Jugend lebte, und der verpflichtend sein soll für uns Heutige: ein Denkmal der Freiheit, das ewig daran erinnert, was noch nicht getan ward, und was getan werden muß, sollen wir unseren Namen als freie deutsche Menschen verdienen«.
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Funktionen von Literatur
»[d]ie ganzen Verhältnisse, so kraß sie […] erscheinen, […] bis jetzt nur wenig geändert [haben], […] bilden die Bücher eine stille, aber gewaltige Anklage gegen unser jetziges akademisches Leben«.834
Der »Anton Reiser« wird zwar historisch eingeordnet. Ein Teil der Handlung, den der Rezensent vermutlich aufgrund seiner eigenen Lebenssituation und in der Erwartung einschlägiger Erlebnisse wenigstens eines Teils der Leser herausgreift, wird aber gleichzeitig als aktuell und zeitgemäß betont. Auf diese Weise soll nicht nur ein identifikatorisches Potential des Textes aufgezeigt werden. Moritz’ Roman soll vielmehr eine Rolle im tagespolitischen Kampf um die Verbesserung der Lebensbedingungen der Studentenschaft erhalten, indem er für ihre Probleme sensibilisiert. Wo immer in literarisch vermittelter Historie Anschlüsse an die eigene Lebenswelt möglich sind, werden diese in selektiver Auslassung und in einer Verengung des Text-Kontextes den Lesern der Zeitschriften präsentiert. Das gilt zuvörderst für die Suche nach Darstellungen des Wanderns in der Literaturgeschichte, aber auch für die zuletzt zitierte Rezension Otto Pipers. Die Funktion solcher Selektionsprozesse besteht zunächst darin, Literatur für ein offenkundig weitverbreitetes Bedürfnis nach Identifikationsfiguren und -momenten handhabbar zu machen, von dem im folgenden Abschnitt ausführlich zu handeln sein wird. Dabei kann die einfache Freude am Wiedererkennen vertrauter Situationen eine Rolle spielen oder die Lust an der Imagination vergangener Zeiten. Ungeklärt bleibt die Frage, ob die in den Zeitschriften dokumentierte Selektivität sich auch in der tatsächlichen Lektürepraxis wiederspiegelt oder lediglich der Zielgruppenorientierung der Herausgeber und Autoren geschuldet ist. Während die Momente der Identifikation und des Hineinversetzens in die erzählte Welt zu elementaren Aspekten jeder phantasie- und lustvollen Lektüre zählen können, weisen die anderen Umgangsweisen mit historischer Literatur eine deutlich größere Zweckgebundenheit auf. Dies reicht von der Erfindung einer Tradition des Wandervogels über die Legitimation der Jugendbewegung durch das Einschreiben in bürgerliche Traditionszusammenhänge bis hin zur Instrumentalisierung für politische Probleme. In diesen Fällen lässt sich allerdings nicht feststellen, dass die Literarizität der Texte relevant wäre. Dieselben Aufgaben werden auch faktualen historischen Darstellungen zugesprochen und durch sie erfüllt. Bei der Funktion der Vermittlung historischer Kenntnisse spielt die Qualität von Texten als Literatur allerdings eine entscheidende Rolle, wie sich bereits im Abschnitt über Literatur als Landeskunde gezeigt hat. Dadurch, dass nicht nur 834 Otto Piper : Studentenleben vor 150 Jahren. [Sammelrezension zu:] Magister Lauckhardt. Sein Leben und seine Schicksale / Karl Philipp Moritz: Anton Reiser, in: Jung-Wandervogel, 1912, H. 5, S. 71.
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»die« Geschichte erzählt wird, sondern eine Geschichte, entsteht die Möglichkeit zum emotionalen Nachvollzug historischer Ereignisse. Schließlich gilt auch für die enthistorisierte Rezeption historischer Literatur, dass sie andere Funktionen erfüllt als die Geschichtsschreibung. Während es dieser um die Darstellung singulärer Ereignisse geht, kann jene universelle Werte vermitteln.835
7.3
Literatur und Identität
Ulrich Aufmuth hat die These aufgestellt, dass es sich bei der Jugendbewegung um eine Reaktion auf ein »kollektiv-psychologische[s] Krisensyndrom[…]« gehandelt habe, »das als verschärfte und in wesentlichen Aspekten historisch einmalige jugendliche Identitätskrise zu verstehen ist«.836 Wie dieses Kapitel zeigen soll, dienen literarische Texte den Mitgliedern der Jugendbewegung dazu, Lösungen dieser Identitätskrise zu entwickeln. Während in den voranstehenden Abschnitten die Funktionen von Literatur für die Wandervogelgruppen im Mittelpunkt standen, sind es nun die erhofften Leistungen von Literatur für die Mitglieder als Individuen. Es gehört allerdings zu den wesentlichen und von ihm in zahlreichen Publikationen variierten Erkenntnissen Erik Eriksons – trotz aller mittlerweile vorgebrachten Kritik bis heute einer der einflussreichsten Theoretiker der Identitätsforschung – dass »die Identitätskrise im individuellen Leben und die zeitgenössischen Krisen in der historischen Entwicklung [nicht] voneinander [zu] trennen« sind.837 Folgerichtig hatte bereits Aufmuth darauf insistiert, dass die Jugendbewegung nicht aus einem universellen, ahistorischen jugendlichen Trieb zu erklären sei, sondern die von ihm benannte Identitätskrise vor dem Hintergrund weit »umfassender[er] sozioökonomische[r] Umbruchsvorgänge« zu deuten ist.838 Der bereits im Autorschafts-Kapitel839 skizzierte gesellschaftliche Strukturwandel innerhalb der wilhelminischen Gesellschaft soll daher nun noch einmal im Licht der neueren Identitätsforschung beschrieben werden, um von hier aus die Identitätsfrage als Kontext jugendbewegter Literaturrezeption beschreiben zu können. Mit Jürgen Straub soll »Identität« in dieser Arbeit als »subjekttheoretischer 835 Eine Position, die bereits von Aristoteles vertreten wurde. Vgl. Aristoteles: Poetik, Stuttgart 1982, S. 29: »[…] denn die Dichtung teilt mehr das Allgemeine, die Geschichtsschreibung hingegen das Besondere mit«. 836 Aufmuth: Wandervogelbewegung, S. 87; vgl. auch Musall: Jugendbewegung, S. 3, der die Jugendbewegung »als eine ganz besondere Figurationsform von individualpsychologischen Adoleszenzproblemen und gesamtgesellschaftlicher Situation« interpretiert. 837 Erik H. Erikson: Jugend und Krise. Die Psychodynamik im sozialen Wandel, Stuttgart 1970, S. 19. 838 Aufmuth: Wandervogelbewegung, S. 47. 839 Vgl. S. 192f.
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Funktionen von Literatur
Reflexionsbegriff« verstanden werden, der die Form bezeichnet, mit der sich Personen auf sich selbst und ihre Welt beziehen.840 Konkret zielt der Begriff auf Antworten auf die Frage, wer jemand ist und sein möchte, aber auch wie er geworden ist, wie er ist.841 Trotz aller in den vergangenen Jahrzehnten vorgebrachten Kritik am Identitätsbegriff, die insbesondere die ihn begleitenden »Essentialisierungen und Verdinglichungen«842 betreffen, soll für den vorliegenden Zusammenhang an ihm festgehalten werden, statt auf eines der zahlreichen Konzepte zurückzugreifen, die das Phänomen unter Umgehung der ihm inhärenten Probleme zu beschreiben versuchen. Zahlreiche der Vorbehalte gegenüber dem Identitätsbegriff resultieren nicht zuletzt aus politischen und moralischen Wertsetzungen, die berechtigte Einwände gegenüber gesellschaftlichen Normalitätsentwürfen und Exklusionsmechanismen erheben, die sich an Konzepten kollektiver Identität anlagern. Der entscheidende Vorteil des Identitätsbegriffs besteht für diese Arbeit jedoch darin, dass er umfassender ist und – wie zu zeigen sind wird – bestimmte Aspekte des jugendbewegten Literaturkonzepts besser trifft als alternative Begriffe.843 In traditionellen, vormodernen Gesellschaften stellt die Frage nach der Identität kein Problem dar. Der Einzelne ist durch die Familientradition, durch eine strikt hierarchisch gegliederte Gesellschaft und durch ein das ganze Leben, den Tod und alle Gesellschaftsteile umfassendes Weltbild hineingeboren in einen Kosmos von Erwartungen, der keine tiefgreifenden Erschütterungen zulässt. Das ändert sich mit dem Beginn der Moderne.844 Für die Identitätsfrage erweist sich insbesondere die von Ulrich Beck und Elisabeth Beck-Gernsheim beschriebene Individualisierung als entscheidend, die von ihnen als »Ensemble gesellschaftlicher Entwicklungen und Erfahrungen« beschrieben wird, die eine 840 Jürgen Straub: Personale und kollektive Identität. Zur Analyse eines theoretischen Begriffs, in: Aleida Assmann, Heidrun Friese (Hg.) Identitäten. Erinnerung, Geschichte, Identität 3, Frankfurt a. M. 1998, S. 73–104, hier S. 82. 841 Vgl. Heinz Abels: Identität. Über die Entstehung des Gedankens, dass der Mensch ein Individuum ist, den nicht leicht zu verwirklichenden Anspruch auf Individualität und die Tatsache, dass Identität in Zeiten der Individualisierung von der Hand in den Mund lebt, Wiesbaden 2006, S. 14, der »Identität« als »soziologische[n] Begriff für die Antwort auf die Frage, wer wir sind«, bezeichnet. 842 Joanna Pfaff-Czarnecka: Zugehörigkeit in der mobilen Welt. Politiken der Verortung, Göttingen 2012, S. 23. 843 Dies meint zum Beispiel die weiter unten zu erörternde voluntative und teleologische Dimension des Identitätsbegriffs. Überdies gilt selbst dort, wo andere Begriffe und Konzepte diskutiert werden, der Identitätsbegriff nicht als obsolet, sondern wird als Teil eines Kontinuums verschiedener Möglichkeiten der Selbstzuschreibung und sozialen Verortung begriffen; vgl. bspw. Pfaff-Czernacka: Zugehörigkeit, insbesondere S. 23–28. 844 Damit ist an dieser Stelle kein genau datierbarer Zeitpunkt gemeint, sondern ein längerer Zeitraum, in dem die beschriebenen Prozesse statthaben und deren Durchsetzung sich zeitlich mit regionalen und sozialen Unterschieden ereignet.
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»Auflösung vorgegebener sozialer Lebensformen« mit sich führen.845 Der vor allem durch die Begleiterscheinungen der Industrialisierung bedingte gesellschaftliche Strukturwandel entbindet den Einzelnen mehr und mehr von einer »Normalbiographie«846, da neue Berufe entstehen, alte Berufe verschwinden oder einem Anpassungsdruck an veränderte technische und ökonomische Verhältnisse ausgesetzt sind, »identitätssichernde Lebenswelten und Milieus ihre Verbindlichkeit verlieren«847 oder sich auflösen: »Das Leben verliert seine Selbstverständlichkeit«.848 Verstärkt wird dieser Verlust an Sicherheiten und Orientierungen durch die Erschütterungen der religiösen Glaubenssysteme durch die Philosophie und die Naturwissenschaften, an deren Ende die »transzendentale Obdachlosigkeit« (Georg Luk#cs) steht. Gleichzeitig werden die modernen Naturwissenschaften selbst immer mehr zu zentralen Instanzen der Welterklärung, wobei ihre auf Innovation und Fortschritt gegründeten Methoden symptomatisch sind für »Wandlungsbeschleunigung und Erfahrungsentwertung« als »Signum der modernen Gesellschaft des neunzehnten Jahrhunderts«.849 Die divergierenden Einschätzungen dieser Entwicklungen, gerade innerhalb des Bürgertums, lassen sich nicht zuletzt an den Auseinandersetzungen um das Schulwesen ablesen. Während das alte Bildungsbürgertum vehement auf den Privilegien und dem Bildungskanon des neuhumanistischen Gymnasiums beharrt und geprägt ist von der Angst vor der Entstehung eines »Bildungsprekariats« und dem Gefühl einer »Überfüllungskrise« der höheren Bildungsanstalten, sind Besitzbürgertum und aufstrebender Mittelstand um eine Aufwertung und Gleichberechtigung von Realgymnasium und Oberrealschule – und im akademischen Bereich auch der Fachhochschulen – bemüht, die sich mit ihrer Orientierung an modernen Sprachen und ihrer technisch-naturwissenschaftlichen Ausrichtung besser an die Bedürfnisse und Erfordernisse der gewandelten Verhältnisse anpassten.850 845 Ulrich Beck, Elisabeth Beck-Gernsheim: Individualisierung in modernen Gesellschaften – Perspektiven und Kontroversen einer subjektorientierten Soziologie, in: dies. (Hg.): Riskante Freiheiten. Individualisierung in modernen Gesellschaften, Frankfurt a. M. 1994, S. 10–39, hier S. 11f. Vgl. hierzu auch Ulrich Beck: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a. M. 1986. 846 Wolfgang Kraus: Das erzählte Selbst. Die narrative Konstruktion von Identität in der Spätmoderne, Herbolzheim 1996, S. 3. 847 Ebd., S. 161. 848 Beck, Beck-Gernsheim: Individualisierung, S. 18. 849 Giesen: Kollektive Identität, S. 197. Vgl. zur Entstehung der Jugendbewegung vor dem Hintergrund dieser Prozesse auch Karol Szemkus: Gesellschaftliche Bedingungen zur Entstehung der deutschen Jugendbewegung, in: Walter Rüegg (Hg.): Kulturkritik und Jugendkult, Frankfurt a. M. 1974, S. 39–46 sowie Barbara Stambolis: Mythos Jugend – Leitbild und Krisensymptom. Ein Aspekt der politischen Kultur im 20. Jahrhundert, Schwalbach/ Ts. 2003, S. 27f. 850 Vgl. hierzu Margret Kraul: Das deutsche Gymnasium 1870–1980, Frankfurt a. M. 1984,
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Für die Individuen erweist sich der Prozess der Modernisierung als ambivalente Erfahrung. Die Auflösung der in »vormodernen Gesellschaften normale[n], umgreifende[n] kulturelle[n] Dauerorientierung, die verbindliche, alternativlose Festlegung, was wann wie und warum zu tun und zu lassen ist«,851 bedeutet zunächst eine »Freiheit zur Individualität« und eine »Freiheit von gesellschaftlichen Orientierungsrahmen«.852 Gleichzeitig entsteht aber die Notwendigkeit, sich zwischen konkurrierenden Sinnsystemen entscheiden zu müssen853 und ein Zwang »zur Herstellung, Selbstgestaltung, Selbstinszenierung nicht nur der eigenen Biographie, sondern auch ihrer Einbindungen und Netzwerke, und dies im Wechsel der Präferenzen und Lebensphasen und unter dauernder Abstimmung mit anderen und den Vorgaben von Arbeitsmarkt, Bildungssystem, Wohlfahrtsstaat usw.«854 Die »biographischen Freisetzungen« stellen sich den Individuen daher sowohl als Gewinn an Optionen wie als Verlust an Sicherheiten dar,855 wobei anzunehmen ist, dass in der subjektiven Wahrnehmung eine dieser Seiten dominiert. Die Mitglieder der Jugendbewegung sind von diesen Entwicklungen nicht nur als Angehörige der wilhelminischen Gesellschaft und hier vor allem des Bürgertums betroffen,856 sondern ebenso durch ihren Status als Jugendliche.857 Eriksons Ansatz, nach dem die Lösung der Identitätsfrage am Ende der Adoleszenz »phasenspezifisch« werde, wurde mittlerweile vielfach kritisiert und widersprochen.858 Tatsächlich ist es wenig hilfreich, Identitätsbildung schlicht
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S. 108–114 sowie Nipperdey : Deutsche Geschichte, S. 531–586; zu den kultur- und sozialhistorischen Hintergründen auch Bollenbeck: Bildung, S. 239–268. Ronald Hitzler, Anne Honer : Bastelexistenz. Über subjektive Konsequenzen der Individualisierung, in: Beck, Beck-Gernsheim (Hg.): Freiheiten, S. 307–315, hier S. 309. Abels: Identität, S. 242f. Hitzler, Honer : Bastelexistenz, S. 309. Beck, Beck-Gernsheim: Individualisierung, S. 14. Hitzler, Honer : Bastelexistenz, S. 307. Wolfgang Kaschuba: Deutsche Bürgerlichkeit nach 1800, in: Jürgen Kocka (Hg.): Bürgertum im 19. Jahrhundert, Bd. 2: Wirtschaftsbürger und Bildungsbürger, Göttingen 1995, S. 92–127, hat die kulturhistorische Entwicklung des Bürgertums dahingehend beschrieben, dass die Zeit um 1800 durch Formen des Experimentierens in zahlreichen Lebensbereichen gekennzeichnet gewesen sei, während es in der Zeit seit den 1840er Jahren zu einer Verfestigung der neu entstandenen Lebensformen gekommen sei. Diese erweisen sich infolge der Modernisierungsprozesse in der Zeit um 1900 als nicht mehr tragfähig. Gleichzeitig sind sie es als bürgerliche Jugendliche. Sabine Andresen: Mädchen und Frauen, S. 95, hat in diesem Zusammenhang an die besondere Situation dieser Jugendbewegung erinnert, die sich »anders als konfessionell oder politisch organisierte Jugendliche nicht fraglos auf sinnstiftende Traditionen berufen« konnte. Die Kritik an Eriksons Identitätstheorie erstreckt sich sowohl auf sein Phasenmodell wie auch auf Voraussetzungen und Implikationen seines Identitätskonzepts, dem immer wieder der Vorwurf gemacht wurde, mit normativen Vorstellungen gelungener Identitätsarbeit zu operieren und sich dabei am männlichen, weißen, heterosexuellen Subjekt der amerikanischen Gesellschaft des 20. Jahrhunderts zu orientieren. Die unkritische Übernahme der
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als »Vollzug eines biologischen Programmes« darzustellen; vielmehr handelt es sich immer um einen »Entwicklungsprozeß, der innig mit der Konstitution des Subjektes in einer spezifischen gesellschaftlichen Epoche zusammenhängt«.859 Gleichwohl spielt die Lebensphase der Adoleszenz zumindest seit dem hier in Frage stehenden Zeitraum und für die hier in Frage stehenden Subjekte eine entscheidende Rolle: Mit der Institutionalisierung von Jugend durch eine Entbindung von der Erwerbspflicht, einer längeren Schulpflicht und größeren Freiräumen in längerer Freizeit entsteht ein psychosoziales Moratorium, von dem die Jugendbewegung profitiert.860 Im Hinblick auf die gesamtgesellschaftlichen Prozesse der Individualisierung, Entstandardisierung und Enttraditionalisierung wirkt das Entstehen der Jugendbewegung gerade zu diesem historischen Zeitpunkt beinahe folgerichtig. Eine Gesellschaft, die sich radikalen und rasanten Umbrüchen und Veränderungen gegenübersieht, die »Fortschritt« zwar als wesentliches Prinzip verinnerlicht hat, der sich aber der Planbarkeit auf übergreifende Ziele hin zu entziehen scheint, schafft sich mit dem adoleszenten Moratorium einen Spielraum für die nachwachsenden Generationen, in denen die jungen Menschen langsam in die sich beständig wandelnden Anforderungen hineinwachsen können: »Die Jugend durfte nicht mehr starr und ins Detail auf die bisherigen Traditionen eingeschworen werden, sie mußte freie Hand bekommen für eine neue kulturelle Synthese«.861 Die Jugendbewegung erscheint damit gleichsam als Blaupause für Eriksons These von jugendlichen peer-groups als »Vor-Gesellschaften«, die Theorie Eriksons durch Musall: Jugendbewegung, ist deswegen problematisch und setzt sich denselben Vorwürfen aus. Auch wenn die meisten Kritikpunkte an Eriksons Thesen plausibel sind, wird häufig sein (selbst)ironischer Ton überlesen, der zeigt, dass er sich mancher Standortgebundenheit seiner Positionen durchaus bewusst war. Einen guten Überblick über Biographie und Theorie Eriksons bietet Lutz Niethammer : Kollektive Identität. Heimliche Quellen einer unheimlichen Konjunktur, Reinbek bei Hamburg 2000, S. 267–313; vgl. zur Kritik an Erikson und an ihn anschließender Theoretiker stellvertretend für viele Annette M. Stross: Ich-Identität. Zwischen Fiktion und Konstruktion, Berlin 1991. 859 Kraus: Selbst, S. 22. 860 Vgl. zum Begriff des psychosozialen Moratoriums Erikson: Jugend, S. 161: »Ein Moratorium ist eine Aufschubsperiode, die jemandem zugebilligt wird, der noch nicht bereit ist, eine Verpflichtung zu übernehmen, oder die jemandem aufgezwungen wird, der sich selbst Zeit zubilligen sollte. Unter einem psychosozialen Moratorium verstehen wir also einen Aufschub erwachsener Verpflichtungen oder Bindungen und doch handelt es sich nicht nur um einen Aufschub. Es ist eine Periode, die durch selektives Gewährenlassen seitens der Gesellschaft und durch provokative Verspieltheit seitens der Jugend gekennzeichnet ist […]«; im Hinblick auf die Jugendbewegung wird der Begriff verwendet von Aufmuth: Wandervogelbewegung, S. 190. 861 Aufmuth: Wandervogelbewegung, S. 155. Vgl. zu dieser Interpretation des Zusammenhangs von Zeitgeschichte, Bürgertum und Entstehung der Jugendbewegung auch ebd., S. 155–159.
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ihren Mitgliedern »ein sanktioniertes Moratorium, eine Freistatt und gegenseitige Rückenstärkung für freies Experimentieren« gewähren.862 Die Jugendbewegung wird dieser ungestellten Aufgabe gerecht, indem sie sich der Persönlichkeitsentwicklung innerhalb von Selbsterziehungsgemeinschaften verpflichtet und dies mit dem Postulat der Zweckfreiheit verbindet. Zwecke werden zwar allenthalben aus der Jugendbewegung selbst wie aus ihrem erwachsenen Umfeld heraus benannt, doch bewegen sie sich zumeist jenseits eines als »politisch« markierten und ausgegrenzten Diskurses, der für unerwünschte Parteipolitik steht.863 Wenngleich innerhalb dieser Anschauung konkrete Ziele unbenannt blieben, wird doch ein Rahmen jugendbewegter Identitätsarbeit formuliert. Es handelt sich um die im Vorfeld des Freideutschen Jugendtages beschlossene Meißner Formel, die im Folgenden als ›Identitätsformel‹ interpretiert und in ihren Auswirkungen auf die Literaturrezeption untersucht werden soll. Sie lautet: »Die Freideutsche Jugend will aus eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortung, mit innerer Wahrhaftigkeit ihr Leben gestalten. Für diese innere Freiheit tritt sie unter allen Umständen geschlossen ein.«864 862 Erikson: Das Problem der Ich–Identität, in: ders.: Identität und Lebenszyklus, Frankfurt a. M. 1966, S. 123–215, hier S. 146. Mir ist nicht bekannt, dass Erikson sich in seinen Arbeiten jemals explizit auf die bürgerliche deutsche Jugendbewegung beziehen würde noch sind mir Hinweise in der Forschungsliteratur untergekommen, die einen Einfluss des Phänomens ›Jugendbewegung‹ auf seine Theorien erörtern. 1902 in Frankfurt am Main geboren und bis zu seiner Auswanderung 1933 in Deutschland lebend, dürfte er die Jugendbewegung aber fraglos wahrgenommen haben. Viele seiner Ansätze lesen sich denn auch weniger auf die amerikanische Gesellschaft der 1950-er und 1960-er Jahre gemünzt als auf die bürgerliche Jugend in Deutschland in der Zeit zwischen 1900 und 1933. Dass dem so ist, könnte seinen Grund freilich auch darin haben, dass die deutsche Jugendbewegung mit ihrem durchgesetzten Anspruch auf eine Adoleszenz im modernen Sinn ein Muster entwickelt hat, welches sich nach und nach globalisierte. 863 Die Grenzen dieses Diskurses sind keineswegs starr und können variieren. Zumindest für die Wandervogelbünde bis zum Ende des Ersten Weltkriegs – und auch hier wiederum für weite Teile der wilhelminischen Gesellschaft – gilt aber uneingeschränkt, dass der emphatische und identitätsbildende Bezug auf »Deutschland«, »Volk« und »Heimat« in einem vorpolitischen Raum angesiedelt ist. Erst jenseits dessen beginnen politische Sachfragen und parteipolitische Erörterungen eine wenn auch häufig selbst wiederum angezweifelte Berechtigung zu erhalten. Das Gleiche gilt für den in der Jugendbewegung verbreiteten Antisemitismus, der selbstverständlich politische Bedeutung und Implikationen hatte, innerhalb der Ideologie der Jugendbewegung selbst aber weitgehend im vorpolitischen Raum verortet ist. Vgl. hierzu auch Thomas Nipperdey : Jugend und Politik um 1900, in: Rüegg (Hg.): Kulturkritik, S. 87–114. Vgl. außerdem die Ausführungen von Andreas Greiert: Reflex oder Reflexion. Zivilisationskritik und Antisemitismus in der deutschen Jugendbewegung, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 2011, Jg. 59, S. 897–919, zum mentalitätsgeschichtlichen Hintergrund des jugendbewegten Antisemitismus. 864 Zitiert nach Mogge, Reulecke: Hoher Meißner, S. 52. Im Wortlaut folgen die Sätze: »Zur gegenseitigen Verständigung werden Freideutsche Jugendtage abgehalten. Alle gemeinsamen Veranstaltungen der Freideutschen Jugend sind alkohol- und nikotinfrei«.
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Kritisiert wurde diese Formulierung immer wieder aufgrund ihrer vermeintlichen Programmlosigkeit und mangelnden Konkretheit. Bereits Knud Ahlborn, einer der mutmaßlichen Mitverfasser der Formel, aber hatte sie als »rein formale Umschreibung für das Wollen der neuen Jugend« interpretiert: »Man forderte und setzte innere Freiheit: Freiheit von äußerer Autorität, Freiheit zu eigener Gestaltung des Lebens und zwar nach dem eigenen Gesetze, dem persönlichen Gewissen«.865 Gerade in ihrer Formalität und Offenheit entspricht die Meißner Formel der beschriebenen historischen Situation. Ulrich Aufmuth hat davon gesprochen, dass »[m]an […] im Bildungsbürgertum der Jahrhundertwende zunehmend davon Abstand [nahm], die Jugendlichen auf inhaltliche Persönlichkeitsmodelle und Bildungsauffassungen zu verpflichten. Stattdessen wurden die Jugendlichen darauf verwiesen, sich innerlich intensiv mit den abstrakten Idealen auseinanderzusetzen«.866 Ein solches abstraktes Ideal der Persönlichkeitsentwicklung ist die Meißner Formel. Die neuere Identitätsforschung hat immer wieder betont, dass es für das spätoder postmoderne Subjekt illusorisch geworden sei, die eigene Biographie durch das »Legen von Fundamenten«867 durchzuplanen und an einen festen Identitätskern zu binden. Identitätsbildung gestalte sich vielmehr als ein situatives und strategisches Geschehen,868 das andauernde Anpassungsleistungen des Subjektes an verschiedene Orte, Netzwerke und Arbeitsbedingungen nötig mache. Die Ausdifferenzierung des Lebens in verschiedene, voneinander getrennte Teilbereiche führe weiter die Notwendigkeit zur Ausbildung verschiedener, rollenspezifischer (Teil)Identitäten mit sich,869 wobei die Herstellung einer subjektiv erlebten Kohärenz zur individuellen Aufgabe wird.870 Wenn Knud Ahlborn nun die Meißner Formel als Willensbekundung der Mitglieder der Freideutschen Jugend beschreibt, für ihre eigene Biographie selbst verantwortlich zu sein und die biographischen Entscheidungen nach Maßgabe des eigenen Gewissens zu begründen, so ist das gleichermaßen modern wie gegenmodern. Modern ist hieran das Bewusstsein dafür, dass die Biographie keine Selbstverständlichkeit mehr ist, der individuelle Lebenslauf zahlreichen vom Individuum selbst zu treffenden und zu verantwortenden Unterscheidungen unterliegt. Trotzdem, und dies ist das unmoderne Moment, beharren die jugendbewegten Menschen auf der Überzeugung, dass eine sinn865 Knud Ahlborn: Die Freideutsche Jugendbewegung, München 1917, S. 7. Vgl. auch Mogge, Reulecke: Hoher Meißner, S. 52f., die die Passage aus Ahlborns Schrift umfangreicher wiedergeben. 866 Aufmuth: Wandervogelbewegung, S. 159. 867 Kraus: Selbst, S. 18. 868 Ebd., S. 183. 869 Vgl. Abels: Identität, S. 243. 870 Vgl. Kraus: Selbst, S. 183.
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hafte und sinnvolle Konstruktion des eigenen Selbst, die sich an Idealen und Prinzipien – der ›Sprache des Gewissens‹ – orientiert, weiterhin möglich sei. Die Meißner Formel liest sich in dieser Perspektive als Erinnerung und Verpflichtung auf ein bewusst gestaltetes Leben und eine kohärente und gewählte Identität, wofür sie allerdings lediglich ein abstraktes Schema bereitstellt. Die Rede von der Konstruktion des eigenen Selbst ist dabei ernst zu nehmen. Ronald Hitzler und Anne Hauer haben für das Subjekt der Spätmoderne den Begriff des »Sinn-Bastlers« vorgeschlagen, der »im Alltag ständig von Gruppenorientierung zu Gruppenorientierung wechselt, […] bei den meisten Umorientierungen in neue soziale Rollen schlüpft, […] in jeder dieser Rollen nur einen Teil seiner persönlichen Identität aktualisiert und thematisiert und […] dieses Sinnbasteln ästhetisch überformt […]. Das individuelle Sinnbasteln des individualisierten Menschen hat – gelingenderweise – folglich stets etwas von einem Patchwork bzw. von einer Collage […]. Es ist die mehr oder weniger – meist weniger – originelle Verarbeitung von vorgefertigten Sinn-Elementen zu einem Sinn-Ganzen, das unter anderem und vor allem das eigene Dasein ›erklärt‹.«871
Als Gegenmodell gilt ihnen der »Sinn-Konstrukteur«, dessen Existenz durch »komplexes Gestalten nach (mehr oder weniger) festen, handlungsleitenden Regeln« gekennzeichnet sei und der als »Erzeuger, Bewahrer, Verteidiger großer symbolischer Sinnwelten« auftrete.872 Mit der Forderung nach einer willentlichen Gestaltung des eigenen Lebens verkündet die Meißner Formel somit gerade den Anspruch einer Zielgerichtetheit und Planung der je eigenen Biographie: »Heranwachsen bedeutete für uns nicht einfach älter werden, sondern sich einem höheren Ziele nähern«.873 Dennoch ist die Meißner Formel auch für diejenigen nicht unproblematisch, die mit ihrem Inhalt vollständig einverstanden sind. Es ist erneut Knud Ahlborn, der schon früh erkennt, dass sie gerade für die jüngeren Mitglieder der verschiedenen Gruppierungen und Bünde »unerfüllbare Forderungen auf[stellte]. Wie konnte diese, der Führung und Erziehung durch andere noch durchaus bedürftige Jugend, schon beanspruchen, ihr Leben ›nach eigener Bestimmung‹ zu gestalten?«874 Inwieweit die Forderungen tatsächlich unerfüllbar waren, kann und soll hier nicht erörtert werden.875 Was sich allerdings in der jugendbewegten 871 Hitzler, Honer : Bastelexistenz, S. 310. 872 Ebd., S. 310f. 873 Otto Piper: Die Gestaltwerdung des Jugendbundes [1959], in: Ziemer, Wolf (Hg.): Wandervogel, S. 248–267, hier S. 263. 874 Ahlborn: Jugendbewegung, S. 7. 875 Diese Frage verfolgt in pädagogischer und ideologiekritischer Absicht Christian Niemeyer : Bildung als Passion? Über das Bildungsverständnis in der Jugendbewegung, in: Historische Jugendforschung. Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung, 2011, N. F. 8, S. 93–109.
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Literaturrezeption erkennen lässt, ist das Bedürfnis nach einer Konkretisierung der in der Meißner Formel ausgedrückten Forderungen. Dies gilt in zweifacher Hinsicht, wobei zum Teil Zusammenhänge bestehen und zum Teil auch dieselben Bücher relevant werden. Einerseits spielt der Wunsch eine Rolle, in literarischen Texten konkrete Ziele benannt und aufgezeigt zu bekommen, denen nachzustreben im Einklang mit der Meißner Formel steht. Andererseits, und dies ist im Zusammenhang mit der Rezeption von Literatur entscheidend, geht es um die Frage, ob gelungene Identitätsarbeit im Sinne der Meißner Formel unter den Bedingungen der Moderne überhaupt möglich ist. Jugendliche Identität wird in der Zeit um und nach 1900 vor allem im Adoleszenzroman thematisiert und problematisiert. Unter den Begriff fallen solche Romane, deren Helden sich in der Regel über die gesamte Handlung im jugendlichen Alter befinden: »Beschrieben wird die existentielle Erschütterung, die tiefgreifende Identitätskrise des Jugendlichen, der auf der Suche nach einem eigenen Weg in der Gesellschaft und zu sich selbst ist«.876 Obgleich auch Goethes »Leiden des jungen Werther« und Karl Philipp Moritz’ »Anton Reiser« zu den Adoleszenzromanen gezählt werden, sind die klassischen Texte dieser Gattung in der Zeit nach der Wende zum 20. Jahrhundert entstanden. Es handelt sich vor allem um Hermann Hesses »Unterm Rad« und »Demian«, um Robert Musils »Erziehung des Zöglings Törleß«, Friedrich Huchs »Mao« und Emil Strauß’ »Freund Hein«. Christian Klein hat diese Texte als »zeitgemäße Spielart des Entwicklungsromans« beschrieben und in Zusammenhang gebracht mit den zeitgenössischen Krisensymptomen der Identitätsfindung,877 so dass ein hohes Identifikationspotential für die jugendbewegten Leser zu erwarten ist. Während sich für die Rezeption der Romane von Huch und Musil in den ausgewerteten Zeitschriften keine einschlägigen Belege finden ließen, sind in einer einzigen Ausgabe der »Jungen Menschen« immerhin gleich drei allesamt positive Rezensionen zu »Freund Hein« hintereinander abgedruckt. Die RezensentInnen versuchen sich an knappen Inhaltsangaben, wobei sie jeweils die Konflikte des Protagonisten Heinrich Lindners mit seinem Vater und mit seinen Lehrern in den Mittelpunkt stellen, darüber hinaus aber unterschiedliche Kontextualisierungen des Romans vornehmen. Während Kurd Kishauer die Allgemeingültigkeit des Stoffes betont und in der »Tragödie des Sohnes […] die Tragödie der Jugend überhaupt« erkennt, im »Einzelschicksal […] das ewige 876 Günter Lange: Adoleszenzroman, in: Alfred Clemens Baumgärtner, Heinrich Pleticha (Hg.): Kinder- und Jugendliteratur. Ein Lexikon, Meitingen 1997, 3. Erg. Lfg., S. 1–22, hier S. 5. Vgl. zum Adoleszenzroman außerdem Hans-Heino Ewers: Zwischen Problemliteratur und Adoleszenzroman. Aktuelle Tendenzen der Belletristik für Jugendliche und junge Erwachsene, in: Informationen des Arbeitskreises für Jugendliteratur, 1989, S. 4–23. 877 Christian Klein: Erzählen und personale Identität, in: Mart&nez (Hg.): Erzählliteratur, S. 83–89, hier S. 88.
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Menschenschicksal«,878 empfiehlt Karl Gruber es zunächst und vor allem als »[e]in ernstes Buch für Lehrer und Eltern«, auf die es offenbar eine aufklärende und selbstkritische Wirkung haben soll. Die Bedeutung des Romans für die Jugend scheint dem deutlich nachgeordnet zu sein: »Wohl kann auch sie damit zu ernster Selbsteinkehr gelangen, wenn sie sieht, wie tief dieser Heiner seine Kunst und das Leben ergreift. Wohl mag auch sie sehen, wie Schule und Eltern und Schüler eine schwer harmonisierende Drei bilden«. Gruber begreift den Roman somit primär als einen Fall von »problemorientierter Literatur«, der an einem Einzelfall grundsätzliche, ungelöste Fragen thematisiert.879 Lotte Riemann schließlich endet ihre Rezension mit einem Appell, dem tragischen Schicksal Heinrich Lindners zu entgehen: »Wir wollen nicht Freund Hein den Erlöser sein lassen in dem Kampf um innere Berufung und äußere Beeinflussung. Mit offenen Augen, feinen Sinnen und festem Willen wollen wir, wir jungen Menschen uns und den Kommenden den Weg frei machen zur höchsten Entfaltung des eigenen, wahren Wesens und des Kampfes eingedenk bleiben, damit wir einst freier und gläubiger unseren Kindern gegenüber stehen.«880
Im Kern ihrer Beurteilung des Textes steht der Blick auf die Frage der Identität. Diese sieht Riemann im Romangeschehen als Auseinandersetzung zwischen den Ansprüchen und dem Willen des Einzelnen und den Ansprüchen und Anforderungen der Umwelt thematisiert.881 Erst von hier aus kommt Riemann ebenfalls auf den problemorientierten Aspekt der Handlung zu sprechen, indem sie der Hoffnung Ausdruck gibt, die nachfolgende Generation möge es leichter haben, in diesem Spannungsfeld eine Identität zu entwickeln und eine Elterngeneration anzutreffen, die bessere Hilfe leisten kann als die jetzige. Entscheidend an Riemanns Rezension ist, dass sie das identifikatorische Potential gerade zurückweist. Ohne ein Moment des (Wieder)Erkennens zu leugnen, positioniert sie sich und spricht voluntativ aus (»mit festem Willen wollen wir«),882 dass es für die jugendbewegte Generation anders laufen soll als 878 Kurd Kishauer : [Rezension zu:] Emil Strauß, Freund Hein, in: Junge Menschen, 1920, H. 9, S. 105. 879 K.[arl] Gruber : Emil Strauß, Freund Hein, in: Junge Menschen, 1920, H. 9, S. 105. Vgl. zum Begriff der »problemorientierten Literatur« Ewers: Problemliteratur, S. 6: »Die problemorientierte [Jugendliteratur, M.L.] ist in der Regel eine eingreifende, operative, engagierte Literatur, die etwas bewegen, die gezielte Aufklärung bezwecken, Einstellungsänderungen bewirken oder für bestimmte politische bzw. soziale Forderungen mobilisieren will«. 880 Lotte Riemann: [Rezension zu:] Emil Strauß, Freund Hein, in: Junge Menschen, 1920, H. 9, S. 105. 881 Damit trifft sie einen der zentralen Punkt sämtlicher Identitätstheorien seit Erikson und George Herbert Mead, die, wenn auch mit Unterschieden im Detail, die Bedeutung der Spannung zwischen dem Ich und seiner Umwelt für das Identitätsgefühl und die Identitätsentwicklung betonen. 882 Der voluntative Aspekt in ihrer Aussage wird freilich konterkariert vom organologisch-
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für den scheiternden Protagonisten des Romans.883 Tatsächlich wird in den zeitgenössischen Adoleszenzromanen insgesamt »auch gerade das Scheitern des Jugendlichen in seinem Entwicklungsprozeß thematisiert«.884 Dies führt dazu, dass die jugendbewegte Rezeption des Adoleszenzromans trotz eines grundsätzlichen Wohlwollens stets von einer gewissen Distanz geprägt bleibt.885 Dem Interesse an der literarischen Gestaltung von Identitätskonflikten und Identitätsbildungsprozessen steht die Sorge vor einer Identifikation mit den ›falschen Vorbildern‹ gegenüber. Hiervon ist auch die Rezeption Hermann Hesses betroffen. Dessen »Demian« und »Unterm Rad« werden durchaus wahrgenommen und zur Lektüre empfohlen. In einem längeren Aufsatz Karl Rauchs über »Hermann Hesse und die neue Jugend« in den »Jungen Menschen«, der das umfangreichste Dokument jugendbewegter Hesse-Rezeption im untersuchten Quellenmaterial darstellt, ist das Problem der Identität mehrfach angesprochen. Bereits zu Beginn des Artiteleologischen Aspekt ihres Identitätskonzepts, nach dem sich die Persönlichkeitsentwicklung als »Entfaltung« eines »wahren Wesens« gestaltet. 883 Vgl. hierzu auch die irritierte Feststellung von Mogge: Wandervögel, S. 57, über das Ausbleiben einer intensiven »Werther«-Rezeption in der Jugendbewegung: »Dieser melancholische, narzisstische, todessüchtige Jüngling passte offensichtlich nicht in ihr körperund kraftbewusstes Selbstbild, trotz seiner schwärmerischen, pantheistischen Verehrung der Natur«. Der Verweis auf ein jugendbewegtes Ideal von körperlicher Gesundheit ist zweifellos richtig, übersieht aber den psychologischen Hintergrund. In einer Zeit medialer Aufmerksamkeit für Schülerselbstmorde und individualpsychologischer, adoleszenter Verunsicherung dient dieses Selbstbild auch als Schutz gegen das biographische Scheitern am eigenen Leiden, ohne die häufig problematischen ideologischen Implikationen der jugendbewegten Konzepte von ›Gesundheit‹ und ›Reinheit‹ leugnen zu wollen. Abgesehen davon kann eine identifikatorische Werther-Lektüre weder als allein adäquate Lektüre gelten noch wäre damit per se ein Schutzpanzer gegen reaktionäre Gesinnungen gegeben. 884 Lange: Adoleszenzroman, S. 5. 885 Interessant für die Wahrnehmung des zeitgenössischen Adoleszenzromans in der Jugendbewegung ist auch eine in den »Jungen Menschen« erschienene Rezension zu Philipp Kraemers »Buben«, da sie in aller Kürze und ohne entsprechende Terminologie eine Darstellung der literaturhistorischen Entwicklung jugendlicher Protagonisten enthält. Über Wolfram von Eschenbachs »Parzival« geht es zum »Simplizissimus«, zu Wielands »Agathon«, Goethes »Wilhelm Meister« und Kellers »Grünem Heinrich«, über die es im Einklang mit der heutigen Forschung und die Abgrenzung von Entwicklungsroman und Adoleszenzroman vorwegnehmend heißt: »All diese Knabenschilderungen sind jedoch nur Teil eines größeren Planes, sie gehören auch dazu; Selbstzweck sind sie nicht«. Dies habe sich erst mit Conrad Ferdinand Meyers »Leiden eines Knaben« geändert und kulminiere in der »große[n] Schar der Heranwachsenden« um und nach der Jahrhundertwende: bei Hesse, Friedrich Huch, Thomas Mann, Rilke, Beradt, Musil und Seyerlen. Allerdings, und dies soll auch das Ausweichen in die Fußnote rechtfertigen, handelt es sich beim Verfasser dieser Rezension um den promovierten Literaturwissenschaftler Adolf von Grolman, der meines Wissens kein Mitglied der Jugendbewegung war und dessen Kenntnisse und Kompetenzen weit über denen des durchschnittlichen jugendbewegten Lesers gelesen haben dürften. Siehe zur Rezension: Grolman 1922: Ein Schilderer der Knabenseele, in: Junge Menschen, 1922, H. 2, S. 18.
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kels spricht Rauch von einer Zeit, die dem Menschen »nicht gestattete, er selbst zu sein« und, auf die Meißner Formel anspielend, von einer Jugend, die »die Fesseln verlogenen Zwanges von sich warf, falscher Autorität den Kampf ansagte und inbrünstig gelobte, ihr eigenes Leben zu gestalten«. Bezüglich des »Demians« heißt es über den Rezipientenkreis der »jungen Menschen«: »Auf ihren Lippen steht die bange Frage, die Frage [des Protagonisten, M.L.] Sinclairs, unsere Frage: ›Ich wollte ja nichts als das zu leben versuchen, was von selber aus mir heraus wollte. Warum war das so schwer?« Und mit Hans Giebenrath, dem Protagonisten von »Unterm Rad«, lasse sich »lebendig wahr […] das Geschlecht der Väter [erleben], deren eigener Ehrgeiz Leib und Seele der Söhne zerbricht, jene tölpelhaften Schulmeister, die mit ungeschickten, groben Fäusten zartestes Blühen ersticken. Da sind sie, an denen auch wir gelitten, deren Tyrannei uns entgegenstemmend wir wuchsen und uns befreiten zum eigenen Leben«.886 Trotz dieses eindrücklichen Hinweises auf eine intensive Rezeption von Hesses Adoleszenzromanen im Licht der Identitätsproblematik887 liegt der Schwerpunkt der jugendbewegten Wahrnehmung auf anderen Teilen seines Werkes: Einerseits gilt sie, vor allem in den Älterenzeitschriften der Bewegung, den nichtfiktionalen, politischen und weltanschaulichen Texten der Nachkriegszeit, allen voran »Zarathustras Wiederkehr«, aber auch »Blick ins Chaos«.888 Andererseits werden insbesondere in den verschiedenen Zeitschriften der Wandervogelbünde jene Texte besprochen und in Auszügen abgedruckt, die Hesse als »Wanderphilosophen«889 erscheinen lassen, insbesondere »Knulp« und »Peter Camenzind«, daneben einzelne Gedichtbände, deren »Volksliedartigkeit« gerühmt wird.890 Die Auseinandersetzung mit den klassischen Adoleszenzromanen ist, wo sie stattfindet, fast ausschließlich eine Sache der überbündischen Zeitschriften für die älteren Mitglieder der Bewegung, der »Jungen Menschen« und der »Freideutschen Jugend«. Hier wird auch über die expressionistischen Dramen geschrieben, in denen der Vater-Sohn-Konflikt verhandelt wird, beispielsweise Arnolt Bronnens »Vatermord«891 und Walter Hasen886 Rauch: Hermann Hesse, S. 50. 887 Vgl. allerdings auch Carl Werckshagen: [Rezension zu:] Emil Sinclair (Hermann Hesse), Demian, in: Junge Menschen, 1920, H. 21, S. 223, der ähnlich wie Rauch Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft und jugendliche Identitätskrise in Verbindung setzt, den Schwerpunkt dabei jedoch auf die Gesellschaftskritik legt. 888 Vgl. hierzu neben dem Artikel von Rauch vor allem Marie Buchhold: Über »Blick ins Chaos« von Hermann Hesse, in: Freideutsche Jugend, 1921, H. 4, S. 122–126, wobei die Rezension sich kaum dem besprochenen Titel widmet, sondern, von diesem angeregt, über Dostojewski und den »russischen Menschen«, über Oswald Spengler und den »Untergang des Abendlandes« referiert. 889 Fischer : Ziele, S. 229. 890 Vgl. Spree: Hermann Hesse, Musik des Einsamen, S. 164. 891 Vgl. Hölscher : Arnolt Bronnen, Vatermord.
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clevers »Der Sohn«892. Das mag damit zusammenhängen, dass die vorwiegend studentisch geprägten Älterenzeitschriften generell ein höheres Reflexionsvermögen erkennen lassen, aber auch mit den bereits beschriebenen Annahmen über die Gefahren des Lesens, die jeden fiktionalen Schülerselbstmord und jeden fiktionalen Vatermord als potentiell zu einer ähnlichen Tat animierenden Vorgang erscheinen lassen. Angesichts der Beobachtung, dass die Adoleszenzromane der klassischen Moderne zumeist das Scheitern der Identitätsbildung junger Menschen darstellen, ist deren distanzierte Rezeption in der Jugendbewegung nun aber auch damit zu erklären, dass sich ihre Mitglieder bewusst nach literarischen Darstellungen gelungener Identitätsarbeit umgesehen haben. Ein Schüler fährt in den Ferien aus der Stadt zurück in seine Dorfheimat und sinniert über sein Leben: »Was war das doch für ein armseliges Leben in der Fuchsenfalle? Man fraß Wissen in sich hinein und gab es stückweis wieder von sich, wenn es ein Lehrer oder der Zufall wollte. Im übrigen steckte man zwischen hundert jungen wilden Füllen denen die strenge, aber gütige Hand des Pflegers fehlte. Man langweilte sich, belästerte sich und andere, besonders die Lehrherren, man riß die Welt und das Leben in Papierfetzen und man bemühte sich, in allen Mannesübeln so tüchtig zu sein als nur irgend ein Mann im Barte. Wegwarth lachte bitter auf: War das nun ein rechtes Leben? Ein Unsinn war’s, ein Scheinleben, ein reines, völliges Unglück! Daß der Teufel auch ihn in dieses Loch geworfen hatte! Der Bub klagte wie ein weidwundes Tier : Sechs Jahre sind so lang, so lang! – – – Er biß sich die Lippen wund: Wer weiß, was bis dahin noch geschah. Noch vier Molusjahre, und er lag eines Tages im tiefsten Wasser. Bei solchen Gedanken schüttelte sich der Bub vor Grauen und sah starr ins Leere. Als er aber die Klinke von Vater Wegwarths Tür in den Fingern hatte, da waren all die düsteren Gedanken weggeflogen wie Nachtschauer vor dem hellen Tageslicht.«893
Walter Wegwarth leidet nicht nur am Unterricht, an seinen Mitschülern und dem unter ihnen herrschenden Korpsgeist und Trinkzwang, er verfällt auch angesichts der Verlockungen der Stadt in eine schwere adoleszente Identitätskrise, innerhalb der aus dem »Träumerkind aus dem deutschen Dorfe« ein »heimatloser Städter« zu werden droht.894 Anders aber als bei Hans Giebenrath nimmt sein Leben kein tragisches Ende. Bei den Wandervögeln und den Jugend- und Wehrlogen des Guttempler-Ordens findet er eine Gemeinschaft gleichgesinnter 892 Vgl. Weber: Hasenclevers dramatische Sendung, v. a. S. 221f. Vgl. zum Vater-Sohn-Konflikt in der Literatur des Expressionismus Anz: Expressionismus, S. 79–82 und Vietta, Kemper : Expressionismus, S. 176–180. 893 Karl Albert Schöllenbach: Der heimliche König. Aus Walter Wegwarths Jugendleben ein bunter Strauß, Leipzig u. a. 1921, S. 124f. 894 Ebd., S. 178.
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junger Menschen und erstrebenswerte Ziele, die ihm helfen, er selbst zu werden.895 Verfasser des längst der Vergessenheit anheimgefallenen und im jugendbewegten Verlag von Erich Matthes publizierten Adoleszenzromans »Der heimliche König« ist der unter dem Pseudonym Karl Albert Schöllenbach schreibende Albert Robert Theuermeister. Die Rezensionen in den jugendbewegten Zeitschriften sind euphorisch und empfehlen das Buch nicht nur aufgrund seiner Darstellung der Jugendbewegung896 und der Behandlung von in den Wandervogelbünden heiß diskutierten Fragen897, sondern auch wegen der gelungenen Behandlung der Identitätsentwicklung des Protagonisten. Der Rezensent der »Führerzeitung« setzt hier einen Schwerpunkt seiner Inhaltsbeschreibung: »Langsam erleben wir das Aufblühen einer jungen Menschenknospe mit, wie es viele von uns unter Kämpfen und Not durchgemacht haben […]«.898 Eindrücklicher noch ist die Rezension von Hanna Schulze im »Landfahrer«: »Ich kann und möchte denen zurufen, die es noch nicht kennen: ›Lest es! und lest es wieder! – –‹ Es ist so ein Buch von den wenigen, das von eigenen Kämpfen spricht und soviel Altes und doch wieder Neues an Mut und Schaffenskraft bringt. […] Ich habe bei dem Lesen so recht wieder erkannt, daß doch soviel unserer Brüder und Schwestern – deren Kern gut und edel – sich zu leicht selbst verlieren können. Wie ist es doch dem »heimlichen König« ergangen? – Durch Zweifeln an seinen Lehrern und nicht stark genug, das Schlechte in seinen Kameraden zu bekämpfen, wurde er erst mitgerissen in den Schmutz, den leider so viele gehen. Laßt uns des immer eingedenk sein, und laßt uns viel Nachsicht und Liebe mit den Menschenkindern üben, die zu schwach sind, den Kampf für das Gute aufzunehmen.«899
895 In diesem Zusammenhang sei auch die »Drude«-Trilogie von Gertrud Prellwitz erwähnt, die angesichts ihrer regelmäßigen Erwähnung in der Forschungsliteratur zur weiblichen Jugendbewegung ebenfalls ein ›Kultbuch‹ der Jugendbewegung gewesen sein dürfte. Im Handlungsort des Landschulheims werden in der Gemeinschaft zwischen Schülern und Lehrern Lösungen entwickelt für offene Konflikte und Fragen, die häufig um typische Adoleszenz- und Identitätsprobleme kreisen. Prellwitz’ Romane lassen sich insofern als ›kollektive Identitätsromane‹ verstehen. 896 Vgl. hierzu L.[uise] W.[albrodt]: [Ohne Titel], in: Landfahrer, 1919, H. 4, S. 16, die innerhalb kurzer Notizen mit amtlichen Charakter über das Buch schreibt: »Besonders unseren jungen Mitgliedern und solchen, die gern etwas vom Wandervogel wissen wollen, müssen wir solche Bücher in die Hand geben«. 897 Vgl. Walther Hörstmann: [Rezension zu:] Karl Albert Schöllenbach, Der Heimliche König, in: Führerzeitung, 1919, H. 3, S. 49: »Verschiedene Fragen, u. a. ›Zusammensein von Jungen und Mädchen im Wandervogel und den Wehrlogen‹ werden eingehend behandelt und recht glücklich gelöst […]«. 898 Ebd. Wie in der zuvor, S. 262f. zitierten Rezension zu Strauß’ »Freund Hein«, wird auch hier die Identitätsentwicklung organologisch-teleologisch unter Rückgriff auf eine Naturmetapher beschrieben. 899 Hanna Schulze: Schöllenbachs »Heimlicher König«, in: Landfahrer, 1919, H. 9, S. 8f.
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»Sich selbst«, seine Identität zu verlieren, dieser modernen Bedrohung gibt Schulze in ihrer Rezension Ausdruck und erkennt sie auch in der Romanhandlung wieder. Gleichzeitig lobt sie das Buch als seltenes Beispiel, das »Mut bringt«, wozu wohl vor allem der glückliche Schluss in Form der gelungenen Identitäts- und Gemeinschaftsfindung des Protagonisten beiträgt. Hierin dürfte der entscheidende Unterschied in der Rezeption von Hesses »Unterm Rad« und Schöllenbachs »Heimlichen König« in der Jugendbewegung liegen: Wo jenes Buch erschütternd wirkt, wirkt dieses ermutigend, weil der Protagonist in der Auseinandersetzung mit seiner Umwelt nicht untergeht, sondern als »heimlicher« – und das heißt vor allem zukünftiger – »König« bzw. Führer hervorgeht.900 Diesen Weg hat Wilm Heinrich Berthold, der Protagonist von Schöllenbachs gleichnamigen Vorgängerroman, bereits hinter sich. Nimmt man die Rezensionen zu seinem »Heimlichen König« als Indiz, die den Autor regelmäßig als Verfasser des »Wilm Heinrich Berthold« vorstellen und somit auf eine breite Bekanntschaft rechnen,901 handelt es sich bei Schöllenbach um einen »Kultautor« der Jugendbewegung, der selbst in der Jugendbewegungshistoriographie in Vergessenheit geraten ist. Angesichts der spärlichen Hinweise, die sich über Schöllenbach finden lassen, liegt es nahe, dass Wilm Heinrich Berthold sowohl autobiographische Züge des Autors trägt als auch solche des völkischen Volkserziehers Wilhelm Schwaner,902 dem der Tagebuchroman »in Dankbarkeit und Treue gewidmet« ist.903 Der Roman erzählt in mehreren Tagebucheinträgen die Geschichte Wilm 900 Bekanntere, ebenfalls in der Jugendbewegung rezipierte Romane, die eine gelungene Identitätsfindung zur Darstellung bringen, eher jedoch dem Entwicklungs- als dem Adoleszenzroman zuzuordnen sind, sind Gustav Frenssens »Jörn Uhl« und Friedrich Lienhards »Der Spielmann«. Vgl. hierzu auch Franz: Religion, S. 164–239, die diesen Romantyp im Anschluss an einen Begriff von Jost Hermand als »Sucherroman« beschreibt und analysiert. 901 Dies ist der Fall bei Hörstmann: Karl Albert Schöllenbach, Der Heimliche König, und bei Lothar Heberer: [Rezension zu:] Karl Albert Schöllenbach, Der Heimliche König, in: Zwiespruch, 1919, H. 20, o.S. 902 Vgl. zu Schwaner die Kurzbiographie von Justus H. Ulbricht: Wilhelm Schwaner, in: Puschner, Schmitz, Ulbricht (Hg.): Handbuch, S. 926 sowie die weiteren personenbezogenen Informationen in verschiedenen Aufsätzen derselben Publikation. 903 Deutlichster Hinweis für biographische Züge Wilhelm Schwaners in der fiktiven Figur Wilm Heinrich Bertholds ist Schwaners Pseudonym »Wilm Hart«. Für autobiographische Züge spricht neben Parallelen im beruflichen und außerberuflichen Engagement ebenfalls die Namenswahl, die sich wie bei Theuermeister-Schöllenbach aus zwei Vor- und einem Nachnamen zusammensetzt. Gleichzeitig ist Karl Albert Schöllenbach aber auch Verfasser der Tagebucheinträge, aus denen sich der Roman zusammensetzt, und Freund Bertholds und damit Teil der erzählten Welt. Wilhelm Schwaner wiederum wird wiederholt als Vorbild der Romanfiguren benannt und es wird von Begegnungen mit ihm berichtet. Neben der Authentifizierung des Erzählten dienen diese extrafiktionalen Verweise unter anderem der Popularisierung genannter Personen und Institutionen und nicht zuletzt als Kaufempfehlungen für erwähnte und zitierte Bücher.
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Heinrich Bertholds, wie Schwaner und Schöllenbach Volksschullehrer und beseelt von der Mission, die Lebensbedingungen insbesondere der proletarischen Kinder und Jugendlichen zu heben, die ihrer dörflichen und ländlichen Heimat entfremdet und allen Gefahren eines Lebens in der Stadt ausgeliefert sind. Neben wichtigen sozialreformerischen Impulsen findet sich eine wiederholt und aggressiv vertretene Volksgemeinschaftsideologie, die eine der wesentlichen Wurzeln des sozialen Elends im von der Sozialdemokratie geschürten »Klassenhaß« und deren Internationalismus sieht.904 Berthold ist von Beginn der Handlung an ein in seinem Charakter und seinen Ansichten gefestigter Mann, der für seine Ideale gegenüber Vorgesetzten und Eltern einsteht und seinen Schülerinnen und Schülern nicht nur Lehrer, sondern Erzieher sein will. Auf der Suche nach weiteren Einflussmöglichkeiten stößt er auf die Mitglieder der »Hochschule vom Hakenkreuz«, auf eine Baugenossenschaft, den Wandervogel und schließlich auf die Guttempler, deren Mitglied er wie der Autor Schöllenbach wird.905 Über weite Strecken ist der Text mehr völkisch-sozialreformerisches Manifest und Werbebroschüre für die Guttempler als erzählte Handlung, was der positiven Aufnahme in der jugendbewegten Literaturkritik freilich keinen Schaden tut, wo es als »persönliche[s] lebhaft anschauliche[s] Bild der neudeutschen Kulturbestrebungen« registriert und gelobt wird.906 Walter Fischer stellt das Buch in seiner Rezension in den Kontext eines anderen seinerzeit populären Romans. Es handele sich beim besprochenen Titel um »den ›Hellmut Harringa‹ für Lehrer«.907 Der Vergleich liegt schon aufgrund 904 Die Kritik an Arbeiterbewegung und Sozialdemokratie lässt Parallelen erkennen zu Max Schelers diesbezüglichen Thesen in seiner 1912 publizierten Schrift über »Das Ressentiment im Aufbau der Moralen«, ohne dass sich ein direkter Einfluss Schelers auf Schöllenbach belegen ließe. 905 Wie Schöllenbach-Theuermeister ist Berthold auch Initiator des Baus eines Guttemplerhauses. Vgl. Theo Gläß, Wilhelm Biel, Martin Klewitz: Der Guttempler-Orden in Deutschland, Bd. II: 1945–1980, Hamburg 1981, S. 204, deren dortige Einschätzung von Robert Theuermeister als »Idealisten« und die Klagen über die Vereinnahmung der Guttempler-Arbeit durch die Nationalsozialisten angesichts der im »Wilm Heinrich Berthold« zur Schau getragenen pränationalsozialistischen Ideologie allerdings deutlichstes Zeichen für eine fehlende kritische Distanz der Autoren zu ihrem Thema ist. Gleiches gilt für ihre Hinweise auf Theuermeisters Romane in Gläß, Biel, Klewitz: Guttempler-Orden, Bd. I: 1889–1945, Hamburg 1979 S. 87, die die antisemitischen, rassistischen und völkischen Positionen des Verfassers mit keinem Wort erwähnen. Vgl. hierzu jedoch Heinrich Teppe: Auf dem Weg zur modernen Alkoholkultur. Alkoholproduktion, Trinkverhalten und Abstinenzbewegung in Deutschland vom frühen 19. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg,, Stuttgart 1994, S. 319–325, der die These vertritt, dass es innerhalb der deutschen Guttemplerbewegung vor allem die jugendlichen »Wehrlogen« waren, in denen regressivkulturkritische, völkische und antisemitische Positionen weite Verbreitung fanden. 906 Carl Rußwurm: [Rezension zu:] Karl Albert Schöllenbach, Wilm Heinrich Berthold, in: Führerzeitung, 1916, H. 3, S. 34f., hier S. 34. 907 Walter Fischer : [Rezension zu:] Karl Albert Schöllenbach, Wilm Heinrich Berthold, in: Wandervogel Monatsschrift, 1916, H. 4, S. 79.
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des beiden Titelfiguren gemeinsamen Aktivismus für die Abstinenz nahe, die überdies in beiden Fällen mit sozialreformerischen wie mit völkischen und sozialdarwinistischen Argumenten propagiert wird. Poperts Roman über den Richter Helmut Harringa, der bereits in seinem Amt mit unzähligen Folgen des Alkoholkonsums konfrontiert wird – jedes der ersten Kapitel dient der Darstellung eines neuen Exemplums – und erlebt, wie sein Bruder sich wegen einer im Alkoholrausch zugezogenen Geschlechtskrankheit das Leben nimmt, widmet sich schließlich ganz der Abstinenzbewegung. In der Forschung wurde Poperts Roman bislang im Wesentlichen aufgrund der propagierten Weltanschauung thematisiert,908 die auch eine Seite der jugendbewegten Rezeption ausmacht.909 Die aufklärende Absicht und Funktion steht im Mittelpunkt der Rezensionen von Werner Hochfeld und Erich Lüth in den »Jungen Menschen«.910 In der Rezension von Otto Flex – Bruder von Walter Flex – in der Zeitschrift des Jung-Wandervogels wird dieser Aspekt zwar nicht ausgeblendet. Unabhängig hiervon wird der Roman aber wegen seiner Wirkung auf den Leser gelobt: »Mit den riesenstarken Schwingen heiliger Begeisterung reißt er uns heraus aus der Gleichgültigkeit des täglichen Lebens, zeigt uns den Platz, den zu verteidigen uns zukommt, zwingt uns mit göttlicher Gewalt zur Erfüllung unserer Pflicht gegen Volk und Gesellschaft. Allen Schwachen und Schwankenden, allen Suchenden und Irrenden ist es ein fester Stab, zeigt es den sicheren Weg und schärft ihnen das Gewissen, diesen Stab zu ergreifen, diesen Weg zu gehen. Wer von uns jungen Wandervögeln wäre kein Schwankender, kein Suchender? Wer hätte nicht hundert unbeantwortete Fragen in seiner Brust, Fragen nach unserem Leben, seinem Sinn und seinem Werden, Fragen, die er an niemanden zu stellen wagt?«911 908 Vgl. unter anderem Pross: Jugend, S. 145–148; Hermann: Poperts »Helmut Harringa«; Eggert: Kultbücher, S. 375–378; und, mit einem Schwerpunkt auf der völkischen Religiosität des Romans, Franz: Religion des Grals, S. 170–182; vgl. außerdem den autobiographisch geprägten Text von Steinbrinker: Bücher, S. 105, der die Wirkung des Romans auf die Jugendbewegung in der Verbreitung sozialreformerischer Ideen sieht. 909 Wenn die Meißner Formel den Gedanken der Abstinenz wenigstens für die Dauer der gemeinsamen Veranstaltungen festschreibt, geschieht dies sicherlich auch vor dem Hintergrund der einschlägigen fiktionalen Literatur der Abstinenzbewegung, wie sie von Popert und Schöllenbach repräsentiert wird. Vor dem Hintergrund der Identitätsproblematik lässt sich annehmen, dass Alkohol als Mittel zur Selbst- und Authentizitätsdestruktion gilt: Der Konsum alkoholhaltiger Getränke lässt das ›wahre Wesen‹ des Menschen verschwinden und verhindert damit auch ein Leben »aus eigener Bestimmung«. Vgl. hierzu auch S. 195– 197 im Autorschafts-Kapitel zur Auseinandersetzung mit dem Alkoholismus von Hermann Löns. 910 Vgl. Werner Hochfeld: [Rezension zu:] Hermann Popert, Helmut Harringa, in: Junge Menschen, 1920, H. 5/6, S. 33 sowie Erich Lüth: [Rezension zu:] Hermann Popert, Helmut Harringa, in: ebd., S. 33f. 911 Otto Flex: [Rezension zu:] Hermann Popert, Helmut Harringa, in: Jung-Wandervogel, 1912, H. 11, S. 168f.
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Die Antworten, die »Helmut Harringa« Otto Flex und zahlreichen anderen Jugendbewegten gegeben hat, liegen gewiss auch auf der Ebene konkreter Ziele und Handlungsmöglichkeiten und auf der ideologischen Ebene. In Flex’ Rezension werden diese allerdings mit keinem Wort erwähnt, sieht man einmal von der abstrakten »Pflicht gegen Volk und Gesellschaft« ab. »Diesen«, Harringas Weg zu gehen bedeutet zunächst, das Schwanken und Suchen überhaupt hinter sich zu lassen, sich überhaupt Ziele zu setzen und diesen unbeirrt zu folgen. Die Attraktivität von Romanen wie Schöllenbachs »Berthold«, Poperts »Harringa« und auch Hermann Burtes »Wiltfeber« dürfte nicht zuletzt darin begründet liegen, dass es jeweils derselbe Heldentyp ist, der in ihnen gestaltet ist. Sie entsprechen einem Wunsch, in der Literatur »nicht Menschen […], sondern eher in gewissem Sinne Übermenschen [zu sehen]. Wir erwarten die Schilderung eines einheitlichen Charakters, der mit Konsequenz seinen Lebensweg geht oder gehen muß«.912 Ulrich Aufmuth hatte durchaus Recht, als er das Interesse der Jugendbewegung für diese Romane mit »entwicklungspsychologische[n] Probleme[n]« in Verbindung brachte. Nicht haltbar ist allerdings seine These, dass es sich bei »Harringa« und »Wiltfeber« um »Entwicklungsromane« handele: »In beiden Romanen wird beschrieben, wie ein Jüngling der damaligen Zeit […] durch äußere Gefährdungen und harte innere Kämpfe hindurch zu einer geläuterten, selbstgewissen und in idealen Überzeugungen wurzelnden Persönlichkeiten gelangt«.913 Weder handelt es sich bei ihnen um »Jünglinge« noch überstehen sie »harte innere Kämpfe«: Es sind gestandene Männer um die dreißig, die ihre Identität bereits gefunden haben und von diesem Standpunkt aus ihre Gesellschaft kritisieren und zu verändern suchen. Die Jugendbewegung findet in diesen Protagonisten denn auch weniger Identifikationsfiguren, in denen sie »ihre eigenen seelischen Schwierigkeiten« wiederfände,914 sondern Vorbilder, denen es zu nachzueifern gilt.915 Die Handlung setzt jeweils dort ein, wo Schöllenbachs »Heimlicher König« aufhört, mit fertigen Charakteren. Es handelt sich daher weder um Adoleszenz- noch um Entwicklungsromane, sondern eher um einen Typus des Außenseiterromans. Der (jugendliterarische) Held als Außenseiter erscheint gerne in der 912 Eberhard Lüders: [Rezension zu:] Bezirkshauptmann von Lerchberg, in: Zwiespruch, 1921, H. 34, S. 1f., hier S. 1. 913 Aufmuth: Wandervogelbewegung, S. 98. 914 Diese These vertritt Aufmuth ebd. 915 Dies allein erklärt freilich noch nicht den publizistischen Erfolg insbesondere von Poperts »Harringa«, der 1930 immerhin bereits im 311.–315. Tsd. erschien. Der enorme Absatz dürfte zum einen aus der hervorragenden Vernetzung der Autoren dieser lebensreformerischen Literatur zu erklären sein, zum anderen durch ein im gesamten reformorientierten Bürgertum vorhandenes Bedürfnis nach Selbstbestätigung. Dass der Roman vom Dürerbund vertrieben wurde, dürfte ein Übriges getan haben.
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»Rolle des Abenteurers, gerechten Räubers oder Rächers, der die sozialen Grenzen seiner Gesellschaft überschritten hat, sich aus den sozialen Bindungen seiner Gesellschaft befreit hat und unter Umständen sogar hervorragende Repräsentanten seiner Gesellschaft bekämpft. […] der Held stellt sich außerhalb der Gesellschaft und außerhalb der Legalität, um in seinem Kampf den autonomen Entwurf seines als höher und wertvoller angesehenen Legalitätsprinzips durchzusetzen«.916
Zwar treten die hier in Frage stehenden Protagonisten nie als Rächer auf und würden sich auch kaum aggressiv gegen Obrigkeit und Gesetz wenden. Was sie mit dem beschriebenen Figurentyp aber gemeinsam haben ist die selbstgewählte Außenseiterrolle und das »Selbstverständnis eines freien und autonomen Entwurfs von Normvorstellungen, das er vertritt«.917 Die Autonomie der Normvorstellungen äußert sich dabei häufig in Form von Willensbekundungen. Helmut Harringas Leitspruch lautet: »Ich will ein Krieger sein im Heere des Lichts«,918 und fast gleichlautend schwört sich Wilm Heinrich Berthold: »[I]ch will […] ein Kämpfer für das Licht in der Welt [sein] […]«.919 Dieser Akt autonomer Selbstbestimmung und Selbstsetzung begegnet ebenfalls in der Meißner Formel, die ja auch zum Ausdruck bringt, was die sich zur Freideutschen Jugend rechnenden Menschen wollen.920 Den Protagonisten der Romane ist gemeinsam, dass sie sich situationsspezifischen Handlungsorientierungen genauso verweigern wie rollenspezifischen Identitäten: Beruf und privates Engagement gehen Hand in Hand, und der Hohn und Spott der Umwelt bestärkt sie höchstens noch in ihrem Tun. Unabhängig von konkreten sozialund lebensreformerischen, politischen und religiösen Ideen bringen die Romane ihren jugendlichen Lesern so die Hoffnung und Bestätigung, dass ein Leben im Einklang mit der Meißner Formel unter den Bedingungen der Moderne überhaupt noch möglich ist. Damit soll keineswegs gesagt sein, dass die in 916 Peter Scheiner : Was kann der dicke Eddy nur tun? oder Außenseitermotive in der deutschen Jugendliteratur, in: Informationen des Arbeitskreises für Jugendliteratur, Beiheft 1982, S. 83–103, hier S. 84, der ebd. auf Robin Hood und den Grafen von Monte Christo als literaturhistorische Vorbilder für dieses Heldenmodell aufmerksam macht. 917 Ebd., S. 85. 918 Hermann Popert: Helmut Harringa. Eine Geschichte aus unserer Zeit, Dresden 1913, S. 45. Bemerkenswerterweise begegnet der Satz auch in einem von der Deutschen Akademischen Freischar herausgegebenen Flugblatt zur Vorbereitung des Freideutschen Jugendtages; vgl. Schenk: Freideutsche Jugend, S. 64. 919 Karl Albert Schöllenbach: Wilm Heinrich Berthold. Von einer siebenjährigen Wanderfahrt in das Heimatland deutscher Jugend. Nach Tagebüchern erzählt, Leipzig 1919, S. 51. Schöllenbachs Roman enthält darüber hinaus einen expliziten intertextuellen Hinweis auf Poperts Roman. Die von Berthold gegründete Guttempler-Loge trägt den Namen »Helmut Harringa«. Vgl. zur Lichtmetaphorik in der zeitgenössischen Kultur und ihren gnostischen Ursprüngen Klaus Jeziorkowski: Empor ins Licht. Gnostizismus und Licht-Symbolik in Deutschland um 1900, in: Gerald Chapple, Hans H. Schulte (Hg.): The Turn oft he Century. German Literature and Art, 1890–1915, Bonn 1981, S. 171–196. 920 Vgl. hierzu auch Hermann: Poperts »Helmut Harringa«, S. 59.
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den Romanen propagierten Ideen wirkungslos blieben. Aber ihr Einfluss auf das jugendbewegte Denken ist eng geknüpft an die in ihnen verhandelte Identitätsproblematik, da sich hieran ein wesentlicher Teil des Interesses der jugendbewegten Leser entzündet. Die politischen Konzepte der Romane werden getragen von der Identität der Protagonisten; sie werden präsentiert als Voraussetzung gelungener Identitätsarbeit und gewinnen von hier aus ihre Attraktivität. Das führt dazu, dass mitunter auch politisch fernstehende oder andersdenkende Persönlichkeiten als Vorbilder präsentiert werden können. Über Kropotkins »Memoiren eines Revolutionärs« schreibt Ernst Foerster in der »Freideutschen Jugend«: »Ganz gleich, welcher Richtung man angehören mag, höchste Bewunderung muß jeder Wertvolle für einen Menschen fühlen, der ein langes Leben ›immer strebend sich bemüht‹ hat. Und Krapotkin gehört zu jenen Helden, die wie Budoha von den Höhen der Menschheit kommen und ganz freiwillig, nur aus eigener Erkenntnis heraus gegen ihren persönlichen Vorteil dazu gelangen, ihr Leben in den Dienst der leidenden Menschheit zu stellen.«921
Dieses Beispiel steht in engem Zusammenhang mit einer zum Ende des Weltkriegs einsetzenden umfangreichen Rezeption russischer Literatur und Philosophie, die im folgenden Abschnitt ausführlicher untersucht werden soll. Überdies sind die »Jungen Menschen« grundsätzlich eher auf dem linken Flügel der Jugendbewegung zu verorten, weswegen die positive Rezeption Kropotkins auch minder überraschend ist. Es zeichnet sich aber der Versuch ab, zwischen dem Politiker und dem Menschen zu trennen. Wenngleich Foerster Verständnis dafür zu haben scheint, dass es gegenüber den politischen Ideen des russischen Anarchisten Vorbehalte geben könnte, heischt er doch unbedingte Bewunderung für dessen Lebenslauf, der entsprechend der Meißner Formel einzig auf dem autonomen, an frei gewählten Idealen ausgerichteten Willen orientiert gewesen sei. Noch eindrücklicher ist der Versuch von Dora Braune, Rosa Luxemburg im »Mädchen-Rundbrief« als vorbildliche Person vorzustellen, war doch der den »Rundbrief« maßgeblich prägende DMWB lange Zeit aufs engste mit der völkischen Szene verquickt. Entsprechend deutlich sind aber auch die Versuche, zwischen den politischen Ideen und der Persönlichkeit Luxemburgs zu trennen. Die Herausgeberinnen der Zeitschrift stellen – »[u]m Mißverständnissen vorzubeugen« – in einer Vorbemerkung zu Braunes Artikel klar, 921 Ernst Foerster : Die Bestimmung Rußlands, in: Freideutsche Jugend, 1921, H. 8, S. 114–116, hier S. 114. Der Aufsatz beschäftigt sich mit wissenschaftlichen und literarischen Entwürfen des »Zukunftsmenschen« bei russischen Schriftstellern. Neben Kropotkin behandelt Foerster Maxim Gorki, Leonid Andrejew und Michail Arzybaschew. Kropotkin ist darüber hinaus der Schwerpunkt des folgenden Heftes der »Jungen Menschen« gewidmet.
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»daß wir keinerlei politische Propaganda treiben. Wenn wir diesen Artikel in unserem Blatt aufnehmen, so geschieht das im Hinblick auf die Frau Rosa Luxemburg und nicht auf die Politikerin«. In Braunes Einleitung zum Abdruck von Briefen Luxemburgs aus dem Gefängnis heißt es nun: »Wenn kürzlich eine nicht ausschließlich linksgerichtete Presse Briefe von Rosa Luxemburg veröffentlichte, grundsätzlich ›zur Ehrenrettung einer edlen Frauenseele‹, so dürfen auch wir nicht länger dulden, daß man bis heute eine Frau verhöhnt und verleumdet, die doch nur so handelte, wie wir es auch wollen; aus eigener Bestimmung, unter eigener Verantwortung und in innerer Wahrhaftigkeit. Ungeachtet aller gesetzlichen Schranken versuchte sie, nur das zu leben, was unmittelbar ihrem Inneren entsprang und büßte für dieses Ideal selbst ihre persönliche Freiheit ein.«922
Die Kernsätze der Meißner Formel zitierend, stellt Braune Rosa Luxemburg als Person vor, die deren Ideale vorbildlich verkörpert, womit gleichzeitig ein seltenes Beispiel von weiblichen Vorbildern geboten wird. Foersters und Braunes Versuche, sich offen und neugierig mit Persönlichkeiten der radikalen Linken auseinanderzusetzen, stehen freilich bereits im Zeichen der veränderten Bedingungen der Nachkriegszeit und der jungen Republik. Diese kurze Zeitspanne ist zumindest in Teilen der Jugendbewegung von einer Bereitschaft gekennzeichnet, sich mit neuen und anderen literarischen Formen und Stoffen auseinanderzusetzen und mit Literaturen jenseits Deutschlands und Europas. Für die politische Geschichte der Jugendbewegung dürfte es freilich eine nicht zu unterschätzende und fatale Rolle gespielt haben, dass ihre Mitglieder fiktive und reale Vorbilder für gelungene Identitätsarbeit im Zeichen der Meißner Formel vorwiegend im konservativen, völkischen und präfaschistischen Lager gefunden haben.
7.4
Zusammenbruch der Identität – Die Asien-, Russland-, Expressionismus- und Mittelalterrezeption nach dem Ersten Weltkrieg
Auch wenn das Ende des Weltkriegs nicht aus heiterem Himmel kam, war es für viele der Frontsoldaten und für viele der Daheimgebliebenen ein Schock. Wofür sie vier Jahre lang gekämpft zu haben glaubten, war mit einem Mal dahin. Deutschland war besiegt, der Kaiser ins Exil geflüchtet, die geglaubte weltbeglückende kulturelle Mission des ›Deutschtums‹ gescheitert. Erschien der Kriegsbeginn als Erfüllung der Sehnsüchte, »endlich einer wahren Volksgemeinschaft anzugehören«, der »Hoffnung auf die Einbindung in einen alle in922 Dora Braune: Rosa Luxemburg, in: Mädchenrundbrief, 1923, H. 3, S. 12f.
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dividuellen Interessen transzendierenden kollektiven Sinnzusammenhang«,923 so war das Kriegsende umso desillusionierender. Dieser Prozess setzte freilich bei manchen bereits früher ein, bedingt durch den Kriegsverlauf, das Kriegserlebnis und den engen Kontakt mit einem ›Volk‹, das der Idealisierung in den Köpfen der jugendbewegten Soldaten nicht standhalten konnte.924 Die Revolution von 1918 schließlich wurde als die »tiefgreifende gesellschaftliche Zäsur erfahren«,925 die sie ja auch war. Die Wahrnehmung der Zeit stand »unter dem Signum der Zeitenwende. Der Zusammenbruch der ›alten Zeit‹ hatte stattgefunden, die zerstörerischen Geschichtsmächte ihr Werk getan. So meinte man, daß ein ›Aufbau‹, der ganz von unten beginnen müsse, notwendig geworden sei«.926 Das problematisch gewordene Verhältnis zur »alten Zeit«, zur bürgerlichen Überlieferung bringt Bruno Lemke in der »Freideutschen Jugend« auf den Punkt: »Überall gewiß wirkt noch Tradition, aber die Überlieferung hat einen völlig veränderten Sinn bekommen. Heute heißt Tradition soviel wie: Unverstandenes, Totes, Erstarrtes. Und das ist viel schlimmer, als man für gewöhnlich wahrhaben will: denn es erzieht uns zur Unachtsamkeit und zum Verzicht auf Sinn auch gegen das Neuaufkommende.«927
Tradition bedeutet nicht mehr, wie noch im Umfeld des Freideutschen Jugendtages, eine Verpflichtung, in die man sich einschreiben könnte und die es fortzuschreiben gelte, sondern eine Bürde und ein Lähmendes, das der unbefangenen Aufnahme des Neuen entgegensteht. Das Neuaufkommende ist für die Freideutsche Jugend neben den Ereignissen in Deutschland vor allem die Russische Revolution. Mit ihr setzt eine Rezeption russischer Philosophie und Literatur und eine Auseinandersetzung mit den Ideen des Sozialismus ein, eine Beschäftigung mit außereuropäischen Kulturen und Literaturen und mit dem Expressionismus. Das gilt aber durchaus nicht für die gesamte Jugendbewegung. Schon Gerhard Ziemer wandte sich gegen die Vorstellung von einer »expressionistischen Phase der Jugendbewegung. Gleichzeitig bestanden […] die anderen literarischen Interessen und Berührungen, was quer durch die Ortsgruppen der Bünde und die Gruppierungen der Ortsgruppen lief«.928 Noch während des Krieges beginnt mit der Rezeption von Walter Flex’ »Wanderer zwischen beiden Welten« eine 923 924 925 926 927
Musall: Jugendbewegung, S. 132. Vgl. ebd., S. 136–139. Schenk: Freideutsche Jugend, S. 109. Ebd., S. 184. [Bruno] L.[emke]: Was können uns die Primitiven sein?, in: Freideutsche Jugend, 1921, H. 8, S. 249–253, hier S. 252f. 928 Ziemer : Begriff, S. 9. Hervorhebung von mir, M.L.
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Form der Trauerbewältigung,929 deren inhärentes Sinnstiftungspotential kaum dazu angehalten war, gleichzeitig mit dem Zusammenbruch des Kaiserreichs nach neuen politischen und kulturellen Orientierungen Ausschau zu halten.930 Vielmehr kam es über die im engeren Sinn völkischen Gruppen der Jugendbewegung hinaus bis in die Wandervogelbünde zu einer Verfestigung und zum Teil Radikalisierung der Vorstellungen von Volksgemeinschaft, Führertum und Heimatideologie.931 Literarisch fand diese Entwicklung ihren deutlichsten Niederschlag im 1922 bei Erich Matthes veröffentlichtem Buch »Der Zeitgenosse. Mit den Augen eines alten Wandervogels gesehen«, in dem der Schriftsteller und Wandervogel Hjalmar Kutzleb seiner Sehnsucht nach einem rassisch und völkisch geprägten, vormodernen und vorzivilisatorischen Ständestaat Ausdruck gab.932 Innerhalb der Freideutschen Jugend findet jedoch spätestens zu Beginn des letzten Kriegsjahres ein Bruch in der Literaturrezeption statt, der mit dem Abdruck mehrerer Gedichte Franz Werfels zu Beginn der ersten Ausgabe 1918 und mit einem »Gebet« Rabridanath Tagores zu Beginn des zweiten Heftes greifbar wird. Plötzlich entsteht ein Interesse an bislang unbeachteten Stilformen und Literaturen, das für diesen Teil der Jugendbewegung in den folgenden Jahren prägend sein wird. Marie Buchhold, die im Bemühen um eine Popularisierung moderner und außereuropäischer Literatur zu den rührigsten Autorinnen der »Freideutschen Jugend« gehört, versuchte sich rückblickend an einer Erklärung für diese »Konjunktion der Jugendbewegung mit der ›Neuen Kunst‹«,933 die über die unmittelbar greifbaren politischen Ereignisse zwischen 1917 und 1919 hinausgeht: »Banalität, Leid, Zwiespalt, Existenz-Elend muß einem nahe sein, man muß aus Ekel und Müdigkeit heraus nach irgendeinem Mittel schreien, das stimuliert, nach einem Rauschgift, vielleicht auch nach schlechter Musik. Es muß einem also schlecht gegangen sein. In solcher Lage hat sich die Jugend vielfach befunden. Die wirtschaftlichen 929 Vgl. W.[ilhelm] Hagen: Vom Geist des Wandervogels, in: Wandervogel Monatsschrift, 1916, H. 11, S. 230: »Allen denen, die draußen liebe Freunde betrauern, und da ist wohl keiner unter uns, dem dies erspart ist, wird das Buch, das Ernst Wurches Gedächtnis gewidmet ist, eine Herzstärkung sein«. 930 Vgl. zur Rezeptions- und Wirkungsgeschichte des »Wanderers« vor allem Ulbricht: Mythos, besonders S. 147–156; vgl. außerdem grundsätzlich zu Walter Flex und seinem erfolgreichsten Text Keller : Nationalismus, S. 41–53 sowie Lars Koch: Der Erste Weltkrieg als kulturelle Katharsis – Anmerkungen zu den Werken von Walther Flex, in: Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung, 2002/03, Bd. 20, S. 178–195; zur jugendbewegten Erinnerungskultur an den Ersten Weltkrieg Ahrens: Bündische Jugend, S. 62–67. 931 Vgl. hierzu Musall: Jugendbewegung, S. 153–156. 932 Vgl. zu Kutzleb Niemeyer : Seiten, S. 139–142. 933 Buchhold: Dichtung, S. 42.
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Verhältnisse drängten früh und hart an ihr. Die genialen Kräfte erhielten Joch und Zügel täglichen Existenzkampfes, der Tag wurde verschlungen von Lärm, Staub und Krach und atemloser Akkordleistung. Eros der Jugend, eingesperrt, verlor sein heiteres Antlitz, Krankheit, Zerfall, Aufhören einer Leidenschaft, Eifersucht, ungewollte Folgen, taten das ihre. Zerbrechen von Verhältnissen, Sprengung von Bünden. Erkenntnis von der schwesterlichen Nähe von Lüge und Wahrheit, all das erschütterte die Jugend, die mittlerweile aus den Schützengräben, gezeichnet, heimgekehrt war und bereits auf und hinter den Barrikaden der Straßenkämpfe mitgestanden hatte. Letzte Illusionen stürzten zusammen. Illusionen, ja, aber nicht der Glaube, nicht Gewißheit, um ein Recht auf das Neue, Junge, Völlig-Andere, das man wollte. Die Welt konnte zerspringen: sie war es wert! Etwas in der Welt und in der Jugend war ›heilige Natur der Seele‹, Rest, Keim, wie man es auch benennen mag, das war unzerstörbar.«934
Wortwahl und Duktus verraten zwar den Einfluss moderner Literatur. Gleichzeitig ist die Verzögerung ihrer Rezeption in der Jugendbewegung aber nicht zu übersehen. Die Kritik an der Sexualmoral und ihrer Folgen für die Jugend gehörte bereits zu zentralen Anliegen der Lebensreformbewegung sowie der Jugendkultur- und Sprechsaalbewegung und war auch länger schon Gegenstand der Literatur.935 Die von Buchhold benannten psychischen Befindlichkeiten wie »Zwiespalt«, »Banalität«, »Existenz-Elend«, »Ekel« und »Müdigkeit« gehören seit ihren Anfängen zu den zentralen Themen expressionistischer Dichtung, das erkenntnistheoretische Postulat einer »schwesterlichen Nähe von Wahrheit« und Lüge« zu den Grundvoraussetzungen der Philosophie Nietzsches. Eine Kritik an den Arbeitsverhältnissen und deren Verbesserung schließlich ist seit Beginn der Arbeiterbewegung eines ihrer Hauptanliegen und wird mitunter auch von Vertretern der Lebensreformbewegung formuliert. Neu sind die Erkenntnisse und Thesen Buchholds also nicht, wohl aber deren Wahrnehmung, Aneignung und Formulierung in Teilen der bürgerlichen Jugendbewegung. Zwar waren auch bürgerliche Jugendliche betroffen von der Nachkriegsarbeitslosigkeit und gerade männliche Jugendliche und junge Erwachsene, deren Leben nach der Schulzeit sich aus Fronterlebnissen speiste, 934 Ebd., S. 42f. Die Lehrerin Marie Buchhold (1890–1983) war Mitglied im Jung-Wandervogel. 1923 gründete sie die Jugendsiedlung Schwarzenberg, »[e]ine Frauensiedlung, die durch jugendbewegte Ideale initiiert wurde und sich dann zu einer Berufsschule für junge Frauen weiter entwickeln konnte, die eine Berufsbildung mit durchaus reformerischen und sozial-utopischen Aspekten vermittelte« (Henriette M. Schmitz: Sozialgymnastik – Schwarzerdens jugendbewegte und sozialkritische Antwort auf die Missstände der Weimarer Zeit, in: Historische Jugendforschung. Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung, 2011, N. F. 8, S. 141–153, hier S. 148). Vgl. zu Buchhold auch die Kurzbiographie bei Ilse Brehmer, Karin Ehrich (Hg.): Mütterlichkeit als Profession? Lebensläufe deutscher Pädagoginnen in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts, Bd. 2: Kurzbiographien, Pfaffenweiler 1993, S. 39f. 935 Erinnert sei an Wedekinds »Frühlings Erwachen« und Arthur Schnitzlers »Reigen«, um nur zwei der bekanntesten Beispiele herauszugreifen.
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plötzlich mit der Notwendigkeit konfrontiert, sich für eine berufliche Zukunft jenseits des Heeres zu entscheiden. Doch dürfte der Alltag in den meisten Fällen trotz aller Schwierigkeiten so wenig die von Buchhold skizzierten Dimensionen eines proletarischen Fabrikalltags angenommen haben wie die Masse der Wandervögel und Freideutschen Erfahrungen im Straßenkampf gesammelt hat. Unbestreitbar ist jedoch die sichtbar werdende Horizonterweiterung über die Grenzen bürgerlicher Lebenswelt hinaus, die hier mit einer Emphase und einem Pathos verkündet wird, welches signalisieren soll: Wir sind ein Teil dieser neuen Entwicklungen! Die von Lemke formulierte Absage an Traditionen ist dabei auch eine Absage an literarische Traditionen.936 Gleichwohl steht die Änderung des Rezeptionsverhaltens keineswegs derart im Zeichen des »Völlig-Anderen«, wie Buchhold glauben machen will. Die in der ersten Nummer 1918 in der »Freideutschen Jugend« veröffentlichten Gedichte Werfels937 bieten mit ihrer religiösen Rhetorik und Metaphorik Anknüpfungspunkte an vertraute Bild- und Symbolwelten und lassen die jugendbewegten Rezipienten zum Teil bereits in ihren Titeln erkennen, dass Altbekanntes neu- und wiederzuentdecken sei, wenn auch ästhetisch in neuem Gewand. Überdies kommen sämtliche Gedichte dem von Buchhold erhobenen Anspruch auf Sinnstiftung entgegen. Damit sind sie beispielhaft für die gesamte Rezeption moderner und außereuropäischer Literatur in der Jugendbewegung der Nachkriegszeit, die als Versuch einer Neuorientierung in einer veränderten Welt zu interpretieren ist und sich zwischen den Polen von Identität und Alterität bewegt. Vom Spannungsverhältnis zwischen Selbsterkenntnis und Wahrnehmung des 936 Dies reicht bis hin zur Interpretation der sprachlichen Ebene der neuentdeckten modernen Lyrik. Werner Plaut: [Rezension zu:] Franz Werfel, Die Versuchung, in: Junge Menschen, 1920, H. 21, S. 223, hebt an Werfels Gedichten hervor, dass »[d]a […] keine polierten, abgegriffenen Schlagworte [sind], sondern in jedem Wort liegt Sinn, und zwar der Sinn, der ihm eigen ist, nicht der, den ihm menschliche Gewohnheit gibt«. 937 Es handelt sich um die Gedichte »Veni creator spiritus«, »Die Tugend«, »Gebet um Reinheit«, »Als mich Dein Wandeln an den Tod verzückte«, »Ich bin ja noch ein Kind«, »Zwiegespräch an der Mauer des Paradieses« und »Hohe Gemeinschaft«. In einer Anmerkung des für die Rubrik »Aus Kunst und Leben« zuständigen Redakteurs Fritz Jöde am Ende des Heftes wird der Zweck des Abdrucks benannt: Die Gedichte »sollen alle diejenigen, die Werfel noch fern stehen, anregen, sich in sein Schaffen gründlich einzuleben. Wenn uns unter den Dichtern außer George, Spitteler, Heinrich Mann und Hasenclever einer etwas zu sagen hat, so ist es jedenfalls Werfel«. Ob die Auswahl der Gedichte von Jöde getroffen wurde, vom Verlag oder vom Autor, lässt sich nicht sagen. Die Aufzählung Jödes zeigt jedenfalls, wie disparat der Literaturgeschmack der Freideutschen Jugend zu dieser Zeit war, in dem die epische Dichtung Spittelers, die nüchterne, politische Prosa Heinrich Manns, die Lyrik Georges und die messianische Dramatik Hasenclevers gleichrangig mit Werfels Lyrik beisammen stehen.
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Fremden und Anderen handelt erneut ein Aufsatz von Marie Buchhold. Anhand der Rezeption »Östliche[r] Lehren« thematisiert sie generell ihre Sicht auf »Verständnis – Anwendung – Gefahren« – so der Untertitel – bei der Rezeption außereuropäischer Literatur : »Weder Intellekt allein noch Gefühl allein, noch beide zusammen, genügen zum Verständnis. Das dritte ist Vorbereitung. Ich habe dafür keinen besseren Namen. Vorbereitung ist: sich bereit machen; Sichbereitmachen ist nur möglich durch Selbstbesinnung. Besinnung auf das Selbst. Erkenntnis der eigenen Wesensgrenze, damit der menschlichen Fähigkeiten, damit der eigenen Art. Vor östlichen Lehren heißt dies also, seiner eigenen Art gewiß werden, dabei erkennen, wie weit wir überhaupt verstehen können.«938
Auch wenn ihr selbst die Terminologie fehlt, lässt sich ihr Projekt als transzendentale Kritik im Sinne Kants identifizieren, als Untersuchung der Voraussetzungen und Grenzen von (interkultureller) Erkenntnis.939 Dabei geht sie durchaus von einer »Identität der Schöpfungsseele in allem Geschaffenen aus«, bezogen auf ihr Grundproblem also von der Annahme einer grundsätzlichen Gleichheit des menschlichen Erkenntnisvermögens. Trotzdem aber beharrt sie auf einem Prinzip der »Begrenztheit und Verschiedenheit« der »Völker und Rassen«, der »Gattung«, der »Geschlechter« und der »Charaktere«, wobei die jeweiligen Ausformungen von »Raum, Zeit und Kausalität« abhängig seien.940 Für das Individuum bedeutet dies, »in das Schicksal [seiner] Art hineingeboren«
938 Marie Buchhold: Östliche Lehren. (Verständnis – Anwendung – Gefahren), in: Freideutsche Jugend, 1920, H. 4, S. 133–136, hier S. 134. Die gedrängteste Auseinandersetzung der »Freideutschen Jugend« mit Asien findet sich im Oktoberheft 1918. Einem Auszug aus der »Bhagavad Gita« folgt ein knapper Leitartikel von Alfred Kurella über »Europa – Asien«, eine Auseinandersetzung Marie Buchholds mit indischer Philosophie, ein Aufsatz von Rudolf Pannwitz über »Die krisis europäischer kultur und de[n] orient«, eine Darstellung der Tao-Lehre von Knud Ahlborn und ein Rezensionsschwerpunkt zum Thema. Das Oktoberheft 1921 derselben Zeitschrift bietet weiterhin einen »China«-Schwerpunkt mit Auszügen aus chinesischer Literatur und Philosophie, Aufsätzen jugendbewegter Autoren und wiederum einen entsprechenden Schwerpunkt im Rezensionsteil. Vgl. zur Russlandund Asienrezeption der Freideutschen Jugend auch die Zusammenfassung des Programms und der Ereignisse auf der Hofgeismarer Tagung 1920 bei Schenk: Freideutsche Jugend, S. 125–129, bei der die Auseinandersetzung mit jenen Kulturkreisen ein Schwerpunkt war sowie ebd., S. 198–202, auf denen Schenk sich den entsprechenden Heften der »Freideutschen Jugend« widmet. 939 Die Frage, wie »sich das Andere, […] also fremde Denkformen, erkennen [lassen], wenn der untersuchende Wissenschaftler selbst einer historisch bestimmten Wahrnehmungsund Denkform« angehört, ist allerdings auch eines der grundlegenden Erkenntnisinteressen des zeitgenössischen interdisziplinären Primitivismusdiskurses, wie Doris Kaufmann: »Primitivismus«: Zur Geschichte eines semantischen Feldes 1900–1930, in: Nicola Gess (Hg.): Literarischer Primitivismus, Berlin u. a. 2013, S. 93–124, hier S. 96 gezeigt hat. 940 Buchhold: Östliche Lehren, S. 135.
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zu sein.941 Epistemologische und ontologische Thesen gehen in ihrer Argumentation ineinander über, indem sie das menschliche Erkenntnisvermögen an die ›wesenhafte Abstammung‹ bindet: »Verstehen können wir nur uns selbst, wenn Verstehen heißt, das innerste Werden zu erfassen, mehr das innerste Werden zu sein. Und wenn wir indisch werden wollten, buddhistisch, persisch oder chinesisch, wir können es nicht, denn es ist uns nicht gegeben.«942
Konzepte kultureller Hybridität könnten hier nicht Fuß fassen. Die von Buchhold skizzierten Folgen einer ›unvorbereiteten‹ Lektüre östlicher Weisheit lassen sich mit einem Begriff postkolonialer Theorie als ›cultural appropriation‹ bezeichnen: »Es ist ein Raub! […] Wie der Wilde sich schmückt mit dem geraubten Zylinder und der Badehose des Europäers – wir lachen darüber und erzählen es als Anekdote in unseren Geographielehrbüchern – schmücken wir uns mit den geraubten Fetzen einer Weisheit, für die wir nicht vorbereitet sind […]. Auch wenn wir uns belehren lassen, wollen wir doch darüber klar sein, daß es unmöglich ist, z. B. die Quellen östlicher Lehren ohne die Vorbereitung einer gründlichen Umorientierung unseres gesamten Denkens, zu verstehen […].«943
Die Möglichkeiten einer derart eingreifenden Umorientierung des Denkens944 sieht Buchhold allerdings, wie zuvor gezeigt, mehr als skeptisch. Doch auch wenn sie die Rezeption fernöstlicher Philosophie in Form einer Aneignung ablehnt, sieht sie nichtsdestotrotz Chancen in einer Auseinandersetzung mit ihr : »Aufgehen kann uns aber das Wesen, und dieser Grad des Verständnisses dürfte die fruchtbare Ebene sein, von der aus das Ganze zu betrachten ist als ein Spiegel. Denn in
941 Die eigene »Art« bestimmt sie im Folgenden genauer als »europäische Art«, woran sich zeigt, dass ihre Gedanken nicht auf spezifische Rasseideologien verweisen. So wendet sie sich auch explizit gegen die Vorstellung einer »ranghaften« Ungleichheit der »Arten«. Auch ihre These, dass Identität an Zeit und Kausalität gebunden sei, spricht gegen einen ontologisierten Artbegriff. Im Kontext ihrer Überlegungen scheint er sich vielmehr an einer gemeinsamen kulturellen Überlieferung zu orientieren und dabei nationalsprachliche und nationalstaatliche Grenzen ebenfalls außer Acht zu lassen. 942 Ebd., S. 134. 943 Ebd., S. 133f. 944 Wie Christine Maillard: ›Dumpfes Gefühl der Not‹ und ›Hinstreben zu Asien als Zeichen der Zeit‹. Umbruchsbedürfnis und Fernost-Diskurs deutschsprachiger Intellektueller 1910– 1930, in: Meyer, Dieterle (Hg.): Umbruchsdiskurs, S. 29–41, hier v. a. S. 31f. gezeigt hat, war gerade dieses Moment ein zentraler Aspekt der breiten Asienrezeption in Deutschland zu Beginn des Jahrhunderts. Die Konfrontation mit buddhistischer und taoistischer Philosophie und Religion verfolgte nicht zuletzt die »In-Frage-Stellung von Evidenzen« in einer Zeit umfassenden Krisenbewusstseins und der Bekanntschaft mit alternativen Modellen der Welt- und Selbstwahrnehmung.
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diesem Aufgang des anderen sehen wir uns selbst gleichsam in einem Spiegel und haben die Freiheit der Korrektur an unserer eigenen Person.«945
Ziel einer Beschäftigung mit »östlichen Lehren« scheint demnach die Erkenntnis der Differenz des Anderen zu sein, die zugleich eine deutlichere Vorstellung von der eigenen Identität vermittelt. Dem Wunsch nach einer Veränderung der eigenen Identität steht die Angst vor Identitätsdiffusion und -verlust gegenüber. Erst auf Grundlage einer gründlichen Selbsterkenntnis sei daher eine Änderung des eigenen Selbst möglich, da sonst die Gefahr bestehe, die Identität im Wandel zu verlieren.946 Es bleibt allerdings durchaus unklar, wie sich der Modus des »Aufgehens« von dem des Verstehens unterscheidet und welche Erkenntnisvermögen daran beteiligt sind. Buchhold verstrickt sich derart in einer eigensinnigen Metaphorik und in elliptischen Andeutungen, dass nur mit allergrößter Mühe ein leidlich kohärenter Sinn herzustellen ist. Die Einführung dieses seltsamen Erkenntnismodus wirkt wie ein deus ex machina, der eine Lösung für die Frage verspricht, wie das Fremde zu begreifen sei, ohne es tatsächlich einhalten zu können. Unter Verzicht auf derart vage Ausdrücke taucht das Modell erneut in einem Aufsatz über »Die literarischen Wegbereiter der Jugend« von Lisa Tetzner auf. 1924 veröffentlicht, nimmt sie auf die hier in Frage stehenden Rezeptionsphänomene rückblickend Bezug. Der wirkungsästhetische Ansatz Buchholds erscheint deshalb bei ihr nicht erneut in Form einer normativen Rezeptionsanleitung, sondern als Schilderung faktischer Rezeptionsfolgen. Über den Einfluss der Literatur Tolstois und Dostojewskis schreibt sie: »Dieser russische Mensch mit der großen Liebe und Brüderlichkeit, der doch in der großen russischen Triebhaftigkeit so ganz nur sich selbst auslebte, sich mit allen Lastern, der mit jener lächelnden Geste: ›Wir sind ohne Schuld in diese Verwirrung geraten, das gute Glück mag uns wieder heraus helfen‹, alles verantwortet, weil Gott in ihm ist, dieser russische Mensch, der zugleich doch auch so durchschüttelt und vernichtet wird von Selbstanklage, so gebeugt von Frömmigkeit und Mythos, ist nicht der deutsche Mensch mit dem angebornen Gewissen und der ethischen Belastung.«947 945 Buchhold: Östliche Lehren, S. 134. 946 Darüber hinaus verbindet sich in ihrer Argumentation dieser Modus des Verstehens ebd., S. 135, mit friedenspolitischen Hoffnungen: »[…] wenn ich von Toleranz spreche, meine ich nicht die weichliche Duldung alles dessen, wo ich mich verstehend eingeschwindelt habe, sondern die Einsicht in das andere, das nicht das Meine ist, das ich aber ehrfürchtig erkenne und im Dienste des Lebens begreife, auch wenn ich es nicht verstehe oder verstehen darf – das Echte des anderen: Toleranz ist das Grenzgefühl meines Selbst. Und vielleicht so die Grundlage zu einem Friedenswillen, der mehr ist als eine Organisationstheorie«. 947 Lisa Tetzner : Die literarischen Wegbereiter der Jugend, in: Martin Rockenbach (Hg.): Jugendbewegung und Dichtung, Leipzig, Köln 1924, S. 5–12, hier S. 10. Lisa Tetzner (1894– 1963), vor allem durch ihre Kinderbuchreihe über »Die Kinder aus Nummer 67« bekannt geworden, war – im Gegensatz zu ihrem Ehemann Kurt Held – selbst nie Mitglied in einer
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Deutlich wird bei Tetzner jener bereits beschriebene Zug des jugendbewegten Literaturkonzepts, im literarischen Text weniger den individuellen Ausdruck des Autors als vielmehr den der ›Volksseele‹ und des ›Volkscharakters‹ zu erkennen, so dass ihr Unterschiede zwischen den Romanen und Erzählungen Tolstois und Dostojewskis auch gleichgültig bleiben: Es handelt sich um russische Autoren, und also handeln ihre Texte auch vom »russischen Menschen«.948 Die »Gefahr« im Kontakt mit der fremden, russischen Literatur liegt Tetzner zufolge in einer Aneignung des in den Texten verkörperten russischen Charakters, der in seiner Mischung aus Fatalismus und religiösem Gottvertrauen dem »deutschen Menschen« fremd sei. Allerdings, und hier zeigt sich die Parallele zu Buchholds Ansatz, bietet die Lektüre jener Texte die Chance zur Erkenntnis dieser Differenz und damit gleichzeitig die Möglichkeit, bestimmte Elemente als in die eigene Identität integrierbar zu verstehen. Tetzner zeigt sich so auch beruhigt, dass »die Masse der Jugend nicht unter dem Einfluß Rußlands stehen[blieb], bei den Besten erreichten diese Dichter nur einen starken Zug zur Menschlichkeit und Brüderlichkeit, der auf eigne deutsche Weise umgestaltet und aktiv gemacht wurde«.949 Sichtbar wird sowohl bei Buchhold als auch bei Tetzner erneut das bedrohliche Wirkungspotential von Literatur im Literaturkonzept der Jugendbewegung, das sich in diesem Fall als schmaler Grat zwischen einer positiven Form von Selbsterkenntnis und Identitätsarbeit und der Gefährdung durch Identitätsverlust zeigt. Einen anderen Ansatz, die Funktion außereuropäischer Kultur für ihre jugendbewegten Rezipienten zu beschreiben, wählt Bruno Lemke in seinem Aufsatz über die Frage: »Was können uns die Primitiven sein?«950 Zunächst dekonstruiert er jedoch eingangs einen bestimmten Gebrauch des »Primitiven« als eurozentrischen Überlegenheitsgestus: »Welchen Namen man bisher auch gewählt hat, um den Lebensstand der nicht an unserer Kultur teilnehmenden Völker auszudrücken: er war stets diktiert von dem jugendbewegten Gruppierung, stand der Jugendbewegung gleichwohl eine Zeitlang nahe. Vgl. zu Tetzner unter anderem Gisela Bolius: Lisa Tetzner. Leben und Werk, Frankfurt a. M. 1997; Elena Geus: »Die Überzeugung ist das einzige, was nicht geopfert werden darf«. Lisa Tetzner (1894–1963). Lebensstationen – Arbeitsfelder, Frankfurt a. M. 1999; Alfred Messerli: Vom Thüringer Wald zur Berliner Funk-Stunde. Die Märchenerzählerin Lisa Tetzner zwischen primärer und sekundärer Oralität, in: Christoph Schmitt (Hg.): Erzählkulturen im Medienwandel, Münster u. a. 2008, S. 55–74. 948 Vgl. hierzu auch den Abschnitt über Literatur als Landes- und Heimatkunde. 949 Tetzner : Wegbereiter, S. 10. 950 Lemke verzichtet auf eine explizite Definition dessen, was er unter dem »Primitiven« verstanden wissen will. Grundsätzlich fällt bei ihm aber wohl alles an »nichtwestlicher Kultur« unter diesen Begriff, mit Ausnahme der indischen und chinesischen Kultur, in deren Fall er polemisch das Zugeständnis einer »Existenzberechtigung« in der zeitgenössischen Kulturwissenschaft und Ethnographie konstatiert.
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Bewußtsein unserer ungemeinen Überlegenheit. Heiden, Wilde, Eingeborene, Farbige, Primitive – das alles drückt nicht etwa eine Seite ihres Wesens aus, die uns besonders auffällt, sondern einen Mangel, ein Nichtvorhandensein solcher Güter, wie man sie bei uns, den bevorzugten Erzeugnissen der Schöpfung, den christlichen Staatsbürgern und weitgereisten weißen – Erben einer Kultur anzutreffen gewohnt ist.«951
Lemke wendet sich so gegen eine Begriffsverwendung, die – ausgehend von der kollektiven Selbstidentifikation als »weiß«, »christlich« und von Gott begnadet – andere Menschengruppen in einem Modus der Defizienz als »primitiv« ausweist. Gleichwohl will er auf das Wort nicht verzichten, denn: »Namenszauber sind nicht auf ewig wirksam, und manchmal erwächst aus dem Namen selbst eine Kraft, die Vorurteile zerbricht«.952 Nicht die Konstruktion des »Primitiven« überhaupt unterzieht er also einer Kritik, sondern lediglich eine bestimmte, diskriminierende Form. Dabei distanziert er sich auch von Imaginationen des »edlen Wilden«, dessen »Edelmut« ihn »so überaus geeignet zur Schülerlektüre macht. Wir danken für den koketten Eingeborenen, der uns Moral pauken soll: ›Seht, wir Wilden sind doch bessere Menschen‹! Sind vielmehr überzeugt, daß – wo überhaupt noch Ursprüngliches vorhanden – sich dies ebenso selbstsüchtig, gernegroß, von sich eingenommen gibt, wie wir es selbst sein können. Meinethalben noch dazu ungeschliffen, viehisch.«953
Schließlich wendet er sich gegen »das kitschige Vegetarierbedürfnis, Kokosnußmilch frisch vom Baum trinken zu können« und damit gegen einen Modus der Auseinandersetzung mit der Kultur der »Primitiven«, der als Resultat den Ausstieg aus der modernen Gesellschaft zeitigt.954 Als Movens der Hinwendung zu »primitiver« Kunst und Kultur erscheint ihm gleichwohl das Gefühl eines Überdrusses am Alltag und einer Entfremdung von den eigenen Traditionen. Ob sich seine diesbezüglichen Äußerungen tatsächlich der Lektüre Max Webers verdanken, sei dahingestellt, sicher ist, dass seine Wendungen von der »nüch951 L.[emke]: Primitiven, S. 249f. 952 Ebd., S. 250. 953 Ebd. Lemke selbst denkt hierbei vor allem an »Schiffsjungenabenteuer«, allen voran vermutlich Defoes »Robinson Crusoe«, der in zahlreichen Bearbeitungen für die Jugend vorlag und in der Figur des Freitag auch ein Beispiel des »edlen Wilden« bot. Darüber hinaus erlebte die Figur des »edlen Wilden« aber auch im unmittelbaren Umfeld der Jugendbewegung eine Wiederauferstehung in Form von Hans Paasches »Lukanga Mukara«. Als inszenierter Blick aus der Fremde lässt Paasche in kulturkritischer und satirischer Absicht einen »Afrikaner« Briefe an seinen »Häuptling« von einer »Forschungsreise ins innerste Deutschland« schreiben. 954 Ebd. Seine Wendung erinnert an jenen August Engelhardt, dem als Protagonisten von Christian Krachts 2012 erschienenem Roman »Imperium« ein spätes literarisches Nachleben beschieden sein sollte. Darüber hinaus wird eine Parallele zu Buchholds Widerstand gegen einen Modus der Aneignung fremder Kulturen sichtbar, der zu einem »Aufgehen« im Anderen und Fremden führt.
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ternen Nützlichkeit« und vom Hineindrehen »alle[r] Stränge des Lebens in das Seil des ökonomischen Prozesses« an die Diagnosen des Soziologen erinnern.955 Gegenüber der problematisch gewordenen Gegenwart erscheinen Lemke die »primitiven Kulturen« als »einfach und sinnvoll«,956 das Leben in ihnen als »Zusammengefaßtsein und Seligsein«957 und der Mensch in ihnen als der »ahistorisch lebende Mensch«958. So viel Klischee erlaubt sich Lemke dann doch, trotz aller Kritik an den dem Primitivismusdiskurs inhärenten Stereotypen. Die Auseinandersetzung in »einem Gefühl der Andacht« mit jenen, »deren Leben noch voll Sinn dahinfließt«,959 dient so gewiss auch der Befriedigung einer Sehnsucht nach vermeintlich einfacheren und sinnvolleren Verhältnissen.960 Gerade hieran zeigt sich, dass die außereuropäischen Kulturen an die Stelle treten, die in der Jugendbewegung zuvor das eigene ›Volk‹ eingenommen hat.961 Die ausschließliche Konzentration auf die eigene, nationale Vergangenheit war jedoch spätestens mit Kriegsende problematisch geworden und das »Volk« hatte in dem Maße als Objekt von Idealisierungen aufgehört zu existieren, in dem der Kontakt mit ihm während des Kriegsalltags »Prostitution, Alkohol und Nikotin« als Teil von dessen Lebenswelt vorgeführt hatte.962 Wichtiger als der sentimentale Blick zurück ist Lemke jedoch sowieso die sich erschließende kulturrelativistische Einsicht in die »Bedingtheit aller Kultur überhaupt«. Die Hinwendung zu anderen Kulturen als der eigenen erklärt sich so nicht nur aus dem spezifischen Krisenbewusstsein der Nachkriegszeit, sondern 955 Ebd., S. 253. Lemke (1886–1955) studierte zunächst Germanistik, dann Mathematik und Philosophie. Nach dem Weltkrieg war er im Höheren Schuldient tätig. Ob er sich im Rahmen seines Studiums oder danach eine Kenntnis der Schriften Max Webers angeeignet hat, lässt sich den knappen Daten der Kurzbiographie bei Kindt (Hg.): Wandervogelzeit, S. 1061, nicht entnehmen. 956 Ebd., S. 252. 957 Ebd., S. 251. 958 Ebd., S. 252. Hiermit ist die Idee der »Allochronie« angesprochen, die im Zentrum des modernen Primitivismus steht; vgl. hierzu knapp Erhard Schüttpelz: Zur Definition des literarischen Primitivismus, in: Gess (Hg.): Primitivismus, S. 13–27, hier S. 18. 959 L.[emke]: Primitiven, S. 254. 960 Deutlicher wird dieser Aspekt in der Rezension einer bei Eugen Diederichs erschienen Märchensammlung von Getrud Lemke: [Rezension zu:] Indianermärchen aus Südamerika, in: Freideutsche Jugend, 1921, H. 8, S. 36f. Sie spekuliert dort, »daß diese Kulturstufe in ihrer Unentfaltetheit, in der noch keine Sonderung ist, uns heimatlich berührt und unsere Sehnsucht entfesselt«. 961 Der von Justus H. Ulbricht: »Kunst der Jugend« – »junge Kunst« – Kunst der Jugendbewegung?, in: Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung, 1999–2001, Bd. 19, S. 11–17, hier S. 15f. konstatierte »Binnenexotismus« der Jugendbewegung gerät im freideutschen Teil der Jugendbewegung in Folge des Kriegserlebnisses ins Wanken und wird teilweise zu einem ›richtigen‹ Exotismus. 962 Vgl. hierzu Musall: Jugendbewegung, S. 138 und Gudrun Fiedler : Jugend im Krieg. Bürgerliche Jugendbewegung, Erster Weltkrieg und sozialer Wandel 1914–1923, Köln 1989, S. 64–67.
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ist für Lemke unabdingbare Voraussetzung für die von ihm intendierte Erkenntnis, »daß es nicht nur die Lebensmöglichkeit gibt, die wir für die allein richtige halten, sondern viele andere eben so richtige. Wir begreifen allmählich, daß alle Kultur relativ ist, d. h. nur gültig für ein bestimmtes Bezugssystem mit besonderen und eigensinnigen Voraussetzungen. Der Schein der kontinuierlichen Weltentwicklung zerstiebt zu einer Abstraktion (höherer Ordnung) und die großen raumlogischen Ideen der Diskontinuität und Relativität überkommen (wie auch in der Physik) auch hier unsere Denkweise«.963
Von dieser Position aus bestimmt er abschließend den eigentlichen Zweck einer Auseinandersetzung mit der Kultur der »Primitiven« dahingehend, dass es zwar »kein Zurück der geschichtlichen Entwicklung« gibt: »Aber es gibt Knotenpunkte des Wachstums, neue Ansätze am Baum des Lebens, auf die einen Schimmer dieses Lichtes zu leiten, verheißungsvoll erscheint«.964 Im Unterschied zu Buchholds und Tetzners Ansatz, in dem die Erfahrung von Alterität als Teil persönlicher Identitätsarbeit dient, ist Lemkes Konzept trotz der größeren begrifflichen Klarheit deutlich weniger konkret in Bezug auf bestimmte Handlungsmöglichkeiten. Die von ihm skizzierten kulturevolutionistischen Thesen dienen zunächst lediglich der theoretischen Erkenntnis in die historische Gewordenheit der Dinge, die dann allerdings über sich hinausweist. Der Blick in die Fremde als Blick in die eigene Vergangenheit dient nicht der sentimentalischen Hoffnung, dass es einmal wieder so werden könne, ebenso wenig wie er ein teleologisches Fortschrittsmodell befördern soll.965 Durch die Einsicht in die grundsätzliche Veränderlichkeit von Gesellschaften eröffnen sich vielmehr für die eigene Gegenwart Möglichkeitsräume einer anderen Zukunft, in Erwartung, wieder an einen jener »Knotenpunkte« gesellschaftlicher Evolution zu geraten. Konkrete Vorstellungen oder Ideale für eine mögliche Zukunft offenbaren sich dabei allerdings nicht. Genau hier findet dann aber die Literatur des Expressionismus ihren Platz im Literaturkonzept der Jugendbewegung. Innerhalb der expressionistischen Literatur ist es vor allem der späte, »messianische« Expressionismus,966 der in der Jugendbewegung begeisterte 963 L.[emke]: Primitiven, S. 252. Daher wendet er sich auch ausdrücklich gegen Forderungen von Seiten der völkisch geprägten Jugendbewegung, weiterhin »scharf […] die Linie der nationalen Kultur inne[zu]halte[n]«; vgl. ebd., S. 251f. 964 Ebd., S. 253. 965 Beides gehört zum argumentativen Grundbestand des Primitivismusdiskurses; vgl. hierzu Michael C. Frank: Überlebsel. Das Primitive in Anthropologie und Evolutionstheorie des 19. Jahrhunderts, in: Gess (Hg.): Primitivismus, S. 159–187, hier S. 159–163. 966 Vgl. zum »messianischen Expressionismus« Vietta, Kemper : Expressionismus, S. 186–194. Auf eine Diskussion der umfangreichen Forschungsliteratur zum Expressionismus und eine Diskussion des Expressionismus-Begriffs soll an dieser Stelle verzichtet werden; vgl. aber einführend zum Problemkomplex und der Frage nach den Konstruktionsmöglich-
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Aufnahme findet. Die Lyrik und Dramatik, in der sich »in rhetorisch aufgebauschter, pathetischer Form die Beschwörung« des »Neuen Menschen« ereignet, in der zu »innere[r] Wandlung und Einkehr« aufgerufen wird967 und dessen Autoren »sich gerne in der Rolle des prophetischen Führers, der sein ›Volk‹ anredet«968, präsentieren, trifft offenkundig einen Nerv bei den jugendbewegten Lesern. Die immer wieder als »neue« oder »junge« Kunst apostrophierte expressionistische Literatur wird als gravierender »Einschnitt zwischen der Kunst von heute und der von gestern« erfahren. Neu sei, »daß Kunst wieder ein Forderndes wurde, eine Sache, die aus dem Glauben an absolute Werte heraus schafft – während die uns überlieferte Kunst darstellte, feststellte, die empirische Welt besang, Leben und Tragik des empirischen Menschen und seiner Gesellschaft wiedergab (… wiedergab …) […] Als umgestaltendes, und das heißt schaffendes Moment konnte die Kunst so nicht in Frage kommen«.969
Der konstatierte literaturgeschichtliche Bruch stellt gleichzeitig einen Bruch innerhalb des Literaturkonzepts der Jugendbewegung dar. Wo zuvor stets eine im weitesten Sinn realistische Literatur mit deutlichen Bezügen zur eigenen Lebenswelt – sei es der als Jugendlicher, sei es der als Wandervogel – gesucht und gefordert wurde, wird nun für eine idealistische Literatur plädiert, die die als unwirtlich erfahrene Gegenwart transzendiert. Ganz ähnlich wie Walter Hölscher grenzt auch Friedrich Gottlöber den Expressionismus von der vorangegangenen Kunst ab: »Die alte Kunst klebte an der Erde, ihren Mängeln und Notdürften und verstrickte sich selbst in sie, unfähig einer Welt- und Selbsterneuerung. Sie war in sich schwach und tot; denn warum sonst wandte sie sich der Welt, dem Gegenstand, dem Zustand, den »Verhältnissen« zu als aus Mangel an gestaltungsringender Wesensfülle, an antwortsehnendem Fragentönen in sich selbst?«970
Die Funktion der Kunst ist demnach nicht länger mimetische Abbildung von Wirklichkeit, sondern »Welt- und Selbsterneuerung«, was auch auf das Konzept von Autorschaft zurückwirkt. Die »Aufgabe« des Schriftstellers – »heute hat der
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keiten einer »expressionistischen Epoche« ebd., S. 11–20 sowie Anz: Expressionismus, S. 2–10. Vietta, Kemper : Expressionismus, S. 187. Ebd., S. 190. Walter Hölscher : Einstellung, in: Freideutsche Jugend, 1920, H. 7, S. 223–229, hier S. 223. Hölschers Artikel bietet eine theoretische Einleitung zum Schwerpunkt des Juliheftes 1920 der »Freideutschen Jugend« über den Zusammenhang von Jugendbewegung und der neuen »Kunstbewegung«, dem Expressionismus. Seiner Einführung folgen Aufsätze über das Theater des Expressionismus, die Lyrik, über Werfels Gedichtband »Einander« und über die Lyrik August Stramms. Im Anschluss finden sich Gedichte von Hermann Kasack, August Stramm, Franz Werfel und Theodor Tagger. Friedrich Gottlöber : Neue Kunst und neue Jugend, in: Freideutsche Jugend, 1919, H. 10, S. 415–419, hier S. 416.
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Künstler wieder eine Aufgabe« – sei es, mittels seiner »seherische[n] Gabe […] das Heute im Lichte des Ewigen zu schauen und es so in reinere Sphären zu heben«.971 Er soll »Bindeglied« sein »zwischen Welt und Gott, Sein und Seinwollen, Heute und Ewigkeit«. So wie dem Autor eine Mittlerstellung zwischen Realität und Ideal zugeschrieben wird, so ist auch die Rezeption der expressionistischen Literatur merkwürdig ambivalent. Sie bewegt sich zwischen dem Wunsch nach konkreten Idealen und Möglichkeiten eines politischen Aktivismus einerseits und der Wiederholung religiöser und profaner Sinnformeln, die sich in ihrer Sehnsucht nach Gemeinschaft und Erlösung von modernen Dissoziations- und Ambivalenzerfahrungen nur durch das gesteigerte Pathos von der Kulturkritik der Vorkriegszeit unterscheiden. Gleiches lässt sich aber auch von der expressionistischen Bewegung selbst sagen, deren Spannungen sich in der jugendbewegten Literaturkritik reproduziert finden.972 In der Forschung zur Jugendbewegung führte diese Wahrnehmung zu mitunter konträren Einschätzungen. Während Gilbert Krebs wohlwollend eine durch den Expressionismus beförderte Auseinandersetzung mit der politischen Wirklichkeit erkennt, der in den meisten Fällen lediglich der Übergang zur Tat ermangelt habe,973 sehen Schenk und Musall eine Abwendung von politischen Themen und eine Hinwendung zu »aktualitätsenthobenen Bildungsthemen«974 bzw. ein Verharren in einem »moralisch-ethische[n] Rigorismus der Adoleszenten, den sie vor jeglichen Kompromissen mit der als schmutzig empfundenen politischen Wirklichkeit schützen wollten«975. Mir scheint beides durchaus richtig zu sein und sich in den Heften der »Freideutschen Jugend« nachweisen zu lassen. Darin sind sie symptomatisch für einen mitunter radikal auftretenden gesellschaftlichen Veränderungswillen, tiefe Verunsicherung gegenüber den neuen und ungewohnten politischen Prozessen in einer instabilen, jungen Republik und verzweifelter Suche nach Ideen und Idealen, die dem Wollen überhaupt ein Ziel geben könnten. Auf der Suche nach Antworten auf die Krise greifen die Autoren der »Freideutschen Jugend« auf Ansätze zurück, die die deutsche Kultur seit der Französischen Revolution und Schillers »Briefen über 971 Hölscher : Einstellung, S. 224. 972 Vgl. hierzu auch den wichtigen Hinweis auf die Parallelen zwischen den Flügelkämpfen innerhalb der Jugendbewegung und des Spätexpressionismus in der Zeit nach 1918 von Korte: Expressionismus, S. 95. Vgl. außerdem Ulrich Linse: Siedlungen und Kommunen der deutschen Jugendbewegung. Ein Überblick und eine Interpretation, in: Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung, 1982/83, Bd. 14, S. 13–28, hier S. 17f., der Idee und Praxis der jugendbewegten Siedlungen als Versuch interpretiert, die »offiziell praktizierte Trennung von Religion und Politik« zu überwinden. 973 Vgl. Gilbert Krebs: Expressionismus und Jugendbewegung, in: Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung, 1969, Bd. 1, S. 23–40, hier S. 36f. 974 Schenk: Freideutsche Jugend, S. 198. 975 Musall: Jugendbewegung, S. 144.
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die ästhetische Erziehung des Menschen« prägen und im Zuge der Erfahrung von Russischer Revolution und deutscher Novemberrevolution wieder virulent werden. Zur Disposition steht, ob sich zuerst die Menschen oder zuerst die gesellschaftlichen Verhältnisse ändern müssten. Carl Maria Weber, selbst Verfasser expressionistischer Lyrik, hält die revolutionäre Umgestaltung des ›gesellschaftlichen Unterbaus‹ nicht für genug: »Es handelt sich um eine neue, eine wesentliche, eine letzte Entscheidung: wenn nicht unsere junge Kunst ihren starken Willen nach Inhalt, Blutesfülle und Menschheitstendenz durchsetzen kann und wird, steht uns das Ende der Kunst bevor, besonders in einer wie der unseren rasend aufgewühlten Zeit, deren Kardinalirrtum ist zu glauben, durch bloße materialistische Dingänderung, Umstellung des Äußeren könne der Mensch, das Gemeinschaftstier, befreit, das Chaos in einen Kosmos gewandelt werden – und die darauf verzichtet, vorerst (oder zumindest gleichzeitig und mit gleicher Intensität) den Menschen zu ändern und aufzurütteln, in dem doch die Welt beginnt!«976
Zwischen den politischen Ansprüchen und den religiösen und ethischen Suchbewegungen innerhalb der Jugendbewegung besteht demnach kein Widerspruch. Vielmehr geht es um eine Welt- und Selbsterneuerung, bei der der Kunst die Aufgabe zufällt, den Menschen Ideale zu bieten und gleichzeitig zu deren Verfolg aufzurütteln. Auf diese Funktionen ist alle Auseinandersetzung mit dem Expressionismus bezogen. Insofern bedarf die Einschätzung von Harry Pross, nach der Literatur in der Jugendbewegung nun mit literarischen Maßstäben gemessen wurde, durchaus einer Einschränkung.977 Dies gilt umso mehr, als Walter Hölscher in seiner Auseinandersetzung mit der »neuen Kunst« die Forderung aufstellt: »Verlernen wir es, Kunst in erster Linie nach ästhetischen Gesichtspunkten zu beurteilen! Denn hier geht es um mehr als ästhetische, Form-Werte; es geht um unser religiöses Weltgefühl. Das ist der Kernpunkt, hinter dem alle anderen zurücktreten. –«978
976 Carl Maria Weber : Vom Geist der jungen Lyrik. Ein Vortrag, in: Freideutsche Jugend, 1920, H. 7, S. 232–235, hier S. 233. Carl Maria Weber (1890–1953) schrieb Gedichte und Essays, war mit Thomas Mann befreundet und gehörte zu Kurt Hillers Bund zum Ziel. Nach dem Krieg verdiente er sich seinen Lebensunterhalt als Lehrer, unter anderem an der Odenwaldschule; Vgl. den Eintrag von Reinhard Müller : Art. Carl Maria Weber, in: Hubert Herkommer, Konrad Feilchenfeldt (Hg.): Deutsches Literatur-Lexikon. Biographisch-bibliographisches Handbuch, Bd. 28, Zürich u. a. 2008, Sp. 488f. 977 Vgl. Pross: Jugend, S. 336. 978 Hölscher : Einstellung, S. 226. Vgl. hierzu auch Weber : Geist der jungen Lyrik, S. 232, der den Expressionismus gerade darum lobt, weil er im Gegensatz zur Literatur vom Naturalismus bis hin zum Dadaismus endlich wieder mehr sei als ein elitäres ästhetisches Spiel: »Eine Kunst, die mit solch fanatischer Einseitigkeit Formenkult treibt, sich kaum mehr um das Was, um so eifriger um ihr Wie, um auffällige Gewandung und Faltenwurf, bemühte, die
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Zweifellos wächst in der literaturkritischen Beschäftigung mit dem Expressionismus die Bereitschaft, sich mit Fragen der Ästhetik auseinanderzusetzen. Man könnte freilich auch anders formulieren und feststellen, dass angesichts der ungewohnten Sprache, Formen, Bilder und Stilistik eine Thematisierung ästhetischer Probleme notwendig wurde, um mit dieser Art von Literatur überhaupt zu Rande zukommen. Gebändigt werden die fremden und verstörenden formalen Aspekte in der Literatur des Expressionismus schon dadurch, dass sie von ihren jugendbewegten Interpreten konsequent auf den Inhalt bezogen werden: »[…] letzten Endes ist Form niemals etwas nur Äußerliches, Unwesenhaftes, Zufälliges; sie ist notwendig und bedingt durch Inhalt und Sinn«.979 Die »Deformation« der neuen Kunst gilt Hölscher dabei nicht als künstlerische Willkür, sondern als Ausdruck für »das Bild des Chaos in uns, um uns«.980 Wenn dem Expressionismus so zwar wegen seiner Zeitgebundenheit die Berechtigung zu Sprachexperimenten zuerkannt wird, bleiben dennoch, trotz aller emphatischen Begeisterung, letzte Vorbehalte bestehen. So, wie die eigene Gegenwart als »Übergangszeit« empfunden wird, »der wirkliche Religion und Kultur versagt sind«, gilt auch die zeitgenössische Literatur lediglich als »Anlauf«, als »erster Schritt und unbändige Sehnsucht«.981 Aus diesem Ansatz heraus erklärt Hölscher auch die Rezeptionsschwierigkeiten, die expressionistische Lyrik und Dramatik bereiten: »Die Verständnislosigkeit, die immer noch, und oft nicht von den ›Schlechtesten‹, der gegenwärtigen Dichtung entgegengebracht wird, gründet sich gewiß, neben der Ratlosigkeit ihren ungewohnten Formen gegenüber, zur Hauptsache auf die Erkenntnis, daß sie keine Kunst im letzten Sinne sei.«982
»[D]ie Kunst« zu »gebären«, stehe erst einer zukünftigen Zeit an.983 Es zeugt einmal mehr vom kulturmissionarischen Impetus der Jugendbewegung, dass sie
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irgendwo, irgendwann einmal die demaskierende These des l’art pour l’art, des Kunstgebildes also um seiner selbst willen, über sich aufgipfelte und somit sich um ihr Dasein im Raume, ihren Bezug zu Zeit und Menschen, geflissentlich nicht kümmerte: solche Kunst hat ihre Seinsberechtigung gründlich verwirkt vor dem Forum eines Geistes, den wir nicht mehr als spielerischen Begriff, als Luxusarrangement einer kleinen Schar Bevorzugter zu deuten willens sind, sondern als verpflichtendes, für das Wohl, das irdische Glück der Gesamtmenschheit verpflichtendes Forum, als eine verbindende Kraft, die aus dem Born des Willens Antrieb und Richtung schöpft«. Hölscher : Einstellung, S. 223. Ebd. Ebd., S. 229. Ebd., S. 224. Ebd., S. 229. Vgl. hierzu auch Anonym: [Rezension zu:] Friedrich Schnack, Der Zauberer. Gedichte, in: Weißer Ritter, 1922/23, H. 2, S. 114: »Dieser naive Dichter und Lyriker großen Stils hat der jüngsten Dichtung eine entscheidende Wendung gegeben; hier kam endlich wieder reine und hohe Lyrik von bezauberndem Klang und hinreißendem Rhythmus. Seine Dichtungen binden die chaotisch zersprengten dichterischen Elemente der jüngsten Zeit
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ihren Beitrag in dieser Entwicklung darin sieht, »die neue Kunst in das Umfassende einer neuen Lebensführung ein[zu]fügen«.984 Die zukünftige Zeit – das ist in der »Freideutschen Jugend« nicht zwingend ein utopisches, ungekanntes Zukunftsreich, sondern eines, für das sich historische Vorbilder finden lassen. Noch einmal wendet sich die Jugendbewegung dem Mittelalter zu, doch anders als im Wandervogel ist es nicht länger das historisierend-spielerische Bachantenideal, das dessen Frühzeit prägte. Die Rückkehr zum Mittelalter zielt diesmal aufs Ganze: auf das ganze Mittelalter und auf das ganze Leben. Wichtigstes Dokument für diese Auseinandersetzung ist die Juni-Nummer der »Freideutschen Jugend« 1921. In einer Rezension am Ende der Ausgabe bringt Bruno Lemke Sinnsuche, Gefühl der Zeitenwende und mittelalterliche Klosterkultur gemeinsam zur Sprache: »Die größte Aufgabe des Menschen ist, zu wissen, wozu er da ist. Diese Frage, die das Denken und Grübeln der gesamten Menschheit durchzieht, ist allerdings in der letztvergangenen Zeit in den Hintergrund gerückt worden. Man verzichtete entweder ganz, sie zu stellen, sprach ihr überhaupt den Sinn ab oder glaubte sie gelöst zu haben – indem man Sachgüter herstellte. Es scheint, wir nähern uns dem Ende dieser Zeit. Und damit auch wieder dem Verständnis des Mittelalters, dessen Hauptsorge das Wissen um das ›Seelenheil‹ war und das sich besondere Institutionen schuf, um ungestört der Erforschung dieser Frage dienen zu können: die Orden und Klöster.«985
Es zeugt von dialektischem Bewusstsein, wenn Lemke gleichzeitig eingesteht, dass es die Klöster selbst waren, in denen der wissenschaftliche Geist entstand, der zu ihrem Bedeutungsverlust führen sollte. Und dennoch, das Ideal einer schaffenden Gemeinschaft, einer sinnstiftenden Einheit des Lebens findet die Jugendbewegung hier ebenso wie in der Mystik, Scholastik und Architektur des Mittelalters, der sich Paul Bommersheim in einem weiteren Aufsatz derselben Ausgabe widmet.986 Das Mittelalter erscheint als verlockendes Gegenbild zur wieder zu Maß und Zucht; er, der Dichter unserer erlösungsheischenden Zeit, steht auf dem Sockel ihrer neuen künstlerischen Errungenschaften«. Der Rezensent bezieht die besprochenen Gedichte zwar auf den Expressionismus, doch begrüßt er an ihnen gerade empathisch dessen Überwindung in formaler Hinsicht. Wendungen wie die von neuem »Maß« und neuer »Zucht« lassen einen Einfluss Stefan Georges vermuten. 984 Paul Bommersheim: Skizze zum Geist der neuen Kunst und Dichtung, in: Freideutsche Jugend, 1921, H. 1, S. 8–12, hier S. 9f. 985 [Bruno] L.[emke]: [Rezension zu:] Klosterleben im deutschen Mittelalter. Nach zeitgenössischen Aufzeichnungen. Herausgegeben von Joh.[annes] Bühler, in: Freideutsche Jugend, 1921, H. 6, S. 192f., hier S. 192. 986 In der Rezeption mittelalterlicher Mystik zeigt sich einmal mehr das anachronistische Moment in der Auseinandersetzung mit Literatur in der deutschen Jugendbewegung, war doch die Hochzeit neomystischen Denkens bereits in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Gleichwohl sind jenseits der politisch-historischen Situation ähnliche Ausgangsbedingungen zu konstatieren. Dem Vorwurf »mangelnde[r] Sinnhaftigkeit« gegenüber rationaler, wissenschaftlicher Welterkenntnis wird um 1900 verbreitet mit einem Ideal »mystischer
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eigenen Zeit, so »unverwandt« und »rätselhaft« es auch immer sein mag.987 Damals »kreist [alle Kultur] um einen Mittelpunkt«,988 ist alle Kultur Offenbarung der »Einheit des Menschentums, das sie geschaffen«,989 und steht darin dem eigenen Gefühl der individuellen und gesellschaftlichen Zerrissenheit diametral gegenüber. »Es ist wohl etwas Verwandtes«, schreibt Alfred Ehrentreich, »das einen so großen Teil der Freideutschen Jugend zu Rußland […], zum Sozialismus, zum Expressionismus, zur Mystik treibt«: »Denn alle diese Dinge stehen nicht beziehungslos nebeneinander, ihnen ist es gemeinsam, daß eine beherrschende Idee, eine Einheit, eine gewaltige Einfachheit, Unbekümmertheit um die Historie, ein Gemeinschaftsfinden des geopferten Ich sie bewegt und trägt.«990
Im Unterschied zum Sozialismus, der trotz der Revolution in Russland mehr Ideal denn historisches Faktum ist, und auch im Unterschied zum Expressionismus, in dem die Jugendbewegung eine Kunst des Übergangs sieht, bietet sich mit dem Mittelalter das paradoxe Konstrukt einer geschichtlich erfahrbaren »Utopie«: »[D]as Mittelalter wird zu einem goldenen Zeitalter des Geistes und der Befreiung«,991 dessen Uneinholbarkeit zwar zugestanden wird.992 Dennoch setzt sich die »Idee Mittelalter«993 als gegenmoderner Lebens- und Gesellschaftsentwurf in den Köpfen fest und nimmt eine für die weitere deutsche Geschichte unheilvolle Entwicklung. So reflektiert und kenntnisreich die Darstellungen im Mittelalter-Heft der »Freideutschen Jugend« auch gegenüber der
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Erfahrung« begegnet, einem Einheitserlebnis mit dem Göttlichen, anderen Menschen oder dem ›Leben‹, das dem »verunsichernden Gefühl der Entfremdung von der Welt begegnet (Uwe Spörl: Gottlose Mystik in der deutschen Literatur um die Jahrhundertwende, Paderborn 1997, S. 9; vgl. hierzu außerdem Martina Wagner-Egelhaaf: Mystik der Moderne. Die visionäre Ästhetik der deutschen Literatur im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1989). Hier wie dort begegnen als grundlegende Motive eine tiefgreifende Einheits- und Vereinigungssehnsucht und ein Ungenügen an der behaupteten einseitigen Rationalität moderner wissenschaftlicher Erkenntnisweisen. Alfred Ehrentreich: Das fremde Mittelalter und unsere Sehnsucht, in: Freideutsche Jugend, 1921, H. 6, S. 187–191, hier S. 190. Ebd., S. 188. Paul Bommersheim: Mittelalterliche Kirchenlieder, in: Freideutsche Jugend, 1921, H. 7, S. 171–174, hier S. 174. Der Aufsatz ist gleichzeitig Dokument einer Auseinandersetzung mit den Übertragungen mittelalterlicher Literatur des kreisinternen George-Biographen Friedrich Wolters. Ehrentreich: Mittelalter, S. 190f. Ebd., S. 191. Literarhistorisches Vorbild ist Ehrentreich dabei Novalis, dessen »Sehnsuchtskapitel« »Die Christenheit oder Europa« er ebd. zitiert. Vgl. Paul Bommersheim: Mystik, Scholastik, Architektur und die Denknot unserer Zeit, in: Freideutsche Jugend, 1921, H. 6, S. 174–182, hier S. 175: »Wir können nie mehr mittelalterliche Menschen werden. Wir können nur sehen, wie dort auf einer ganz anderen Ebene Verwandtes verwirklicht worden ist, wie es bei uns auf neuer Ebene eben beginnt«. Ehrentreich: Mittelalter, S. 191.
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naiven, frühen Mittelalterrezeption im Wandervogel sind: In ihnen wird eine Tendenz zum Regressiven und Irrationalen sichtbar, die in einer radikalen Absage an die Tradition und die Errungenschaften der Aufklärung münden kann994 oder sich in einer radikal antiindividualistischen Gemeinschaftsideologie niederschlägt.995 Angesichts der Wendung, die das literarische Interesse von Teilen der Jugendbewegung nimmt, ist festzuhalten, dass sich ihre Auseinandersetzung mit dem Expressionismus keiner plötzlich und zufällig entdeckten Leidenschaft für literarische Experimente verdankt, sondern weit eher außerästhetischer Gründe. Von Beginn an gab es zwischen Jugendbewegung und Expressionismus Parallelen und Gemeinsamkeiten, die sich nicht zuletzt der Herkunft der jeweiligen Protagonisten aus demselben bürgerlichen Milieu und gemeinsamer generationeller Erfahrungen verdankten: »Beide ›Formationen‹ der Jugend um 1910 kamen zumeist aus mittleren, wohlhabenden Schichten des Bürgertums, das in den großen Städten zu Hause war. Beide hatten in Familie, Schule und zum Teil auch im bürgerlichen Beruf den Wilhelminismus als ein starres Modell, ja als leeres Schema autoritärer Unterwerfung erfahren und daraus ein starkes Bedürfnis nach authentischen, autonomen Lebensformen, ja nach ›Leben‹ und ›Erlebnis‹ entwickelt.«996
Aufgrund dieser Affinitäten habe durchaus eine »formale Interessenidentität innerhalb der Jugend« bestanden, die jedoch »inhaltlich in hohem Maße [divergiert]« habe.997 Bis die Jugendbewegung aber überhaupt den Expressionismus in größerem Umfang bemerkte, bedurfte es einer Veränderung der politischen Situation, die sie nach anderen und neuen Ausdrucksformen Ausschau 994 Deutlichstes Beispiel für diesen Zug in den Diskussionen der »Freideutschen Jugend« ist der bereits zitierte Aufsatz von Tepp: Ursinn, dessen Ausführungen sich auf S. 283 zu einem Furor gegen die Rationalität der Aufklärung steigern: »Ich kann natürlich keine Einführung in dieses oder jenes expressionistische Gedicht geben. Natürlich nicht! Es ist ja das Wesen der nicht-expressionistischen Zeit, daß sie von Lessing an alles erklären konnte; nichts war ihr heilig; sie legte ihre unreine Hand an alles, selbst an Bibel und Mystiker. Die Aufklärung ist ein Fluch, denn der Mensch, der sie beherrschen sollte, läßt sich heute von ihr beherrschen: Wissen ist Macht!« 995 Beispielhaft hierfür ist das weitere Wirken von Paul Bommersheim (1893–1944), bei dem es sich vermutlich um jenen Doktor der Philosophie handelt, über den die Hessische Biografie (http://www.lagis-hessen.de/pnd/116237457; zuletzt abgerufen am 28. 10. 2015) zu berichten weiß, dass er sich nach 1933 mit Titeln wie »Sippe und Schicksal im Volk« und »Von der Einheit der Wirklichkeit in der Heimat« hervortat. Dass Bommersheim ebenso wie Ehrentreich als Lehrer tätig war, zeigt zudem, dass die in der »Freideutschen Jugend« diskutierten Ideen keineswegs gesellschaftlich isoliert sind, sondern spätestens mit dem Eintritt ihrer Autoren in den Schuldienst weit über die Jugendbewegung hinaus wirksam werden konnten. 996 Korte: Expressionismus, S. 75; vgl. auch Krebs: Expressionismus, S. 34f. 997 Korte: Expressionismus, S. 74.
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halten ließ und einer Änderung der Literatur des Expressionismus, weg von mimetischen Darstellungsformen moderner Wirklichkeit und Wirklichkeitserfahrung hin zum spätexpressionistischen Verkündigungsstil. Bis dahin hatte, sofern überhaupt von einer Wahrnehmung expressionistischer Kunst in der Jugendbewegung gesprochen werden kann, ein Gefühl der Fremdheit überwogen. Dann aber entstand in der Jugendbewegung ein Gefühl der Interessensgemeinschaft mit den expressionistischen Autoren, das sich bis zur Identifikation steigerte und auch eine veränderte Selbstinterpretation der Jugendbewegung mit sich führte. Das markanteste Beispiel hierfür ist Friedrich Gottlöbers Aufsatz über »Neue Kunst und neue Jugend«, in dem er die Begegnung der Jugendbewegung mit dem Expressionismus als Konvergenz beschreibt: »Hier floß nicht eines aus dem andern, hier war nicht einseitig das eine Objekt des andern, sondern beide kamen in scheinbarer Zusammenhanglosigkeit von daher und dorther, sie begegneten sich und erkannten sich in heiliger Begeisterung wie zwei langgetrennte Brüder oder Schwestern als eines Fleisches und eines Geistes. Hier und da trieben zwei Stämme auf, sich unsichtbar, sich unbekannt, doch wesenseins, denn ein Frühling erlöste sie, der Frühling der ewigen Menschheitssehnsucht nach Unbedingtheit, nach Allseitigkeit und Ewigkeit.«998
Das liest sich so, als hätte nicht nur die Jugendbewegung begeistert den Expressionismus aufgegriffen, sondern als hätten die expressionistischen Schriftsteller in gleicher Weise die Jugendbewegung zur Kenntnis genommen. Sieht man jedoch ab von vereinzelten Reaktionen wie Franz Pfemferts 1913 in der »Aktion« veröffentlichtem Artikel »Die Jugend spricht!«999, wenigen personellen Überschneidungen beider Strömungen und spärlichen persönlichen Kontakten,1000 dürfte die von Gottlöber beschworene Begeisterung weitgehend einseitig geblieben sein. Nichtsdestotrotz zeigt sie, wie sehr sich die Jugendbewegung seit 1918 mit dem Expressionismus zu identifizieren gewillt war : »Es jauchzt die Jugend: ›Wir sind‹ wie die jungen Dichter«1001: »Junge Künstler und neue Jugend waren die unheilbar Unbürgerlichen, die durch und durch Un›wissenschaftlichen‹ (und doch so gedankenstarken, groß im heißen tiefen Denken über die Lebensrätsel!), sie waren die überschwenglichen Freunde alles dessen, was Zukunft atmet und ahnen läßt, geschworene Feinde aller Vergangenheit und Tradition, die nicht unmittelbar lebendig ist, und Hasser des Alten und Toten, nicht 998 Gottlöber : Neue Kunst, S. 416. 999 Der Artikel erschien in der »Aktion« Nr. 41 vom 11. 10. 1913; wieder abgedruckt in: Mogge, Reulecke: Hoher Meißner, S. 330f. 1000 Vgl. hierzu Korte: Expressionismus, S. 102. Die von ihm aufgeführten jugendbewegten Personen wie George Barbizon und Ernst Jo[l gehören freilich eher der Jugendkulturbewegung als den hier behandelten Gruppen der Jugendbewegung an. 1001 Gottlöber : Neue Kunst, S. 418.
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unfruchtbare und selbst toten, sondern solche, die ohne Umschau alle Probleme ergriffen, denen der Geist der Ewigkeit Weihe lieh.«1002
Noch einmal wird an diesem Bekenntnis deutlich, wie sehr in der Expressionismusrezeption der Jugendbewegung die Aneignung des Fremden und Unbekannten an die bereits etablierte jugendbewegte Identität gebunden bleibt, sind doch Rationalitäts- und Wissenschaftskritik, Zukunftsoptimismus und Kritik an überlebten Traditionen Inhalte, die allesamt bereits in der Vorkriegszeit präsent waren. Allerdings werden diese nun mit einer dem Expressionismus abgeschauten Rhetorik vorgetragen. Dazu gehört auch eine partielle Umdeutung der Jugendbewegung selbst. Die bis dato einflussreichste Selbstinterpretation war Hans Blühers »Wandervogel«, in dem er die Jugendbewegung als Reaktion einer der Väterkultur überdrüssigen »Romantik als Empörung« beschrieb, für die sich die Jugend als Vorbild den mittelalterlichen fahrenden Schüler erkoren habe.1003 Schon hiermit war ein antibürgerlicher Gestus verbunden – dessen Einlösung allerdings fraglich ist und der auch in der Forschung immer wieder vehement bestritten wurde, als Deutungsmuster aber ebenso fraglos vorhanden war – der nun unter dem Einfluss des Expressionismus erneuert wird. Als Idol gelten jedoch nicht länger der Vagant oder der Landstreicher, sondern die zuvor in der Jugendbewegung so viel gescholtenen Künstler. Wenn Gottlöber die »jungen Künstler« als die »unheilbar Unbürgerlichen« apostrophiert und diese Einschätzung auf die Jugend der Jugendbewegung überträgt, greift er emphatisch auf das gängige Künstlerbild des Expressionismus zurück, zu dessen wesentlichen Aspekten ein Gestus der »Antibürgerlichkeit« gehört.1004 Diese Verschiebung ist ein weiteres Indiz für die veränderte Rezeptionshaltung in der »Freideutschen Jugend« seit 1918. Hölscher beschreibt in seiner Auseinandersetzung mit dem Expressionismus als dessen wesentliches Merkmal das »Suchen nach neuer Sprache«, die jedoch »nur ein[en] sichtbare[n] Ausdruck für das inbrünstige Suchen, das durch alle lebendig-heutige Kunst geht«, darstelle.1005 Angesichts der Identifikation mit Kunst, Künstlern und Künstlerbildern des Expressionismus wäre zu ergänzen, dass auch die Jugendbewegung der Nachkriegszeit geprägt ist von einer solchen Suchbewegung, auch wenn sie kaum auf die Entwicklung neuer sprachlicher Ausdrucksformen zielt. Die Suche der Jugendbewegung strebt nach neuen Objekten der Identifikation, nach Vorbildern für andere Denkweisen, neuen Persönlichkeitsentwürfen und neuen 1002 Ebd., S. 419. 1003 Vgl. vor allem das zentrale Kapitel »Die Romantik als Empörer« in Blüher: Wandervogel I, S. 66–100. 1004 Vgl. Anz: Expressionismus, S. 75–79. 1005 Hölscher : Einstellung, S. 223.
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Formen der Gemeinschaft, nachdem der bürgerliche Wertekanon des Kaiserreichs keinen umfassenden Sinn mehr zu stiften vermag. Dass sie hierbei nicht nur irgendwann erneut den Weg in eine nur weiter entfernte Vergangenheit finden, sondern auch das Fremde und Andere nur zur eigenen ›Wesenserkenntnis‹ zu nutzen wissen, gehört zu den problematischsten Aspekten des jugendbewegten Rezeptionsverhaltens, auf das noch einmal zurückzukommen sein wird.1006
7.5
Emotionale Aspekte im Literaturkonzept
Beispiele für einen emotionalen Umgang mit Literatur, für emotionalisierte Rezeptionsmodi begegnen in den jugendbewegten Literaturkritiken allerorten, nicht zuletzt dort, wo jegliche kritisch-analytische Perspektive auf Literatur der Verachtung anheimfällt und »Liebe« für das Kunstwerk und den Künstler als einzig angemessene Haltung propagiert wird.1007 Wo dies der Fall ist, hoffen die jugendbewegten Literaturkritiker auf ›Offenbarungen‹ seitens der Autoren, die es nicht zu hinterfragen, sondern hingebungsvoll aufzunehmen gelte. In diesem Kapitel soll der Frage nachgegangen werden, welche Rolle emotionale Aspekte jenseits derartiger antikritischer und antiintellektualistischer Invektiven im jugendbewegten Literaturkonzept einnehmen. Nicht kulturkritische Reflexhandlungen sollen im Mittelpunkt stehen, sondern die Funktion emotionaler Rezeptionshaltungen. Auch wenn in den vorherigen Kapiteln zu den Funktionen von Literatur bereits mehrfach von emotionalen Aspekten von Literatur und der Lektüre die Rede war, standen sie dabei auf der konzeptuellen Ebene nicht immer im Vordergrund. Häufig dominieren kognitive Funktionen wie die des Wissenserwerbs oder soziale Funktionen wie die der Gemeinschafts- und Traditionsbildung. Das darf nicht dahingehend missverstanden werden, dass sich diese Funktionen stets sauber von einer emotionalen Vermittlung durch bestimmte Techniken der literarischen Darstellung oder von einer stark emotionalisierten Rezeptionshaltung scheiden ließen. Der Unterschied zu den nun erörterten Bereichen des Literaturkonzepts besteht darin, dass hier die Emotionalität die Hauptrolle spielt. Ausgangspunkt der Überlegungen ist die bereits im Kapitel zu Autorfigurationen zur Sprache gekommene Beobachtung, dass Autoren zu »Freunden« und »Führern« stilisiert werden. Die gleiche Semantik begegnet gehäuft auch dort, wo es nicht um die Produzenten von Literatur, sondern um die literarischen 1006 Vgl. das Kapitel zu Authentizität im jugendbewegten Literaturkonzept. 1007 Vgl. Tepp: Ursinn, S. 280 sowie oben in dieser Arbeit, S. 135–139.
Emotionale Aspekte im Literaturkonzept
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Texte selbst geht. Dies gilt gleichermaßen für die Wertung einzelner Texte in Rezensionen wie für übergreifende, normative Äußerungen in literaturkritischen Texten, nach denen Bücher (wie) Freunde sein sollen. Während die entsprechenden autorbezogenen Aussagen als Suche nach realen Identifikationsfiguren und Vorbildern interpretiert wurden, die dann auch im Umgang mit fiktiven Figuren wiederzuerkennen war, soll die Persistenz der Freundes-Metaphorik in der jugendbewegten Literaturkritik nun als Zeichen für eine starke emotionale Komponente im Literaturkonzept der Jugendbewegung gedeutet werden. Katja Mellmann hat die Entstehung der »Formel vom ›Buch als Freund‹« ins späte 18. Jahrhundert datiert, wobei ihr als Muster die Vorrede zu Goethes »Leiden des jungen Werther« dient. Der fiktive Herausgeber des Briefromans begegnet dem Leser in der Einleitung mit der Empfehlung: »laß das Büchlein deinen Freund seyn«: »Diese Anempfehlung einer freundschaftlichen Beziehung spricht dem Buch einen quasipersonalen Status zu und weist dadurch auf eine neuartige soziale Relevanz von Literatur hin, die über reine Wissensvermittlung und Problemformulierung hinausgeht: Das Buch ist nicht nur Kommunikationsmedium, sondern zugleich Kommunikationspartner und sozial generalisiertes Kommunikat.«1008
Der Entwicklung eines neuen emotiven Sprechmusters entspricht auf Rezipientenseite die Ausbildung eines »interesse- statt funktionsgeleitete[n] Lektüreverhalten[s]«, bei der nicht mehr die »Bildungslektüre« zum Wissenserwerb im Mittelpunkt steht, sondern die »Identifikationslektüre«, deren Interpretationsmaßstab in starkem Maße die eigene lebensweltliche Erfahrung ist.1009 Beide Prozesse werden von Mellmann auf die »Symptome […] der drohenden sozialen Desintegration« zurückbezogen, denen gegenüber Literatur und Lesen eine »konsolatorische Funktionalität« entwickeln.1010 Durch die »Umstellung von Typen auf Charaktere«,1011 »die kompromißlos subjektive Blickführung mit dem Erleben der fiktiven Figuren« und damit einhergehend einer Verlagerung der Mitteilung von der »diskursiven« auf die »emotive« Textebene1012 kann der Roman als »glaubhafte[] Darstellung einer individuellen Erfahrung« gelesen werden. Der so als »Zeugnis« wahrgenom1008 Katja Mellmann: Das Buch als Freund – der Freund als Zeugnis. Zur Entstehung eines neuen Paradigmas für Literaturrezeption und persönliche Beziehungen, mit einer Hypothese zur Erstrezeption von Goethes Werther, in: Hans-Edwin Friedrich, Fotis Jannidis, Marianne Willems (Hg.): Bürgerlichkeit im 18. Jahrhundert, Tübingen 2006, S. 201–240, hier S. 201. 1009 Vgl. ebd., S. 232f. 1010 Ebd., S. 202. 1011 Ebd., S. 210, Fußnote 38. 1012 Ebd., S. 209.
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mene Text weckt verstärkt die Bereitschaft zur »Selbst-Identifikation« mit den fiktiven Figuren, dazu, sich selbst und seine eigene Lebenswelt in ihnen wiederzuerkennen.1013 Für den Moment der Rezeption entsteht durch das »augenblickshafte Innewerden einer Gemeinsamkeit«1014 zwischen Leser und Figur das Gefühl einer »virtuelle[n] Gemeinschaft«,1015 die als »Freundschaft« semantisiert wird. Es wäre sicherlich nicht falsch, die Kontinuität der Freundesmetaphorik im Umgang mit Literatur von der einen zur anderen Jahrhundertwende mit der Kontinuität und Ausweitung der Modernisierungsprozesse und der mit ihnen einhergehenden individual- und sozialpsychologischen Probleme zu erklären.1016 Wenn Mellmann die »Funktionalisierung von belletristischer Literatur als Consensusangebot an sozial exkludierte Individualität« interpretiert,1017 ist aber einschränkend anzumerken, dass die Jugendbewegung mit ihren Gruppen und Bünden bereits wirkungsvolle Mittel zur »Vergemeinschaftung durch Freundschaft« gefunden hatte.1018 Daher ist die konsolatorische Funktion von Literatur in der Literaturkritik der Jugendbewegung auch selten mit der Freundesmetaphorik verknüpft.1019 Gleichwohl fällt sie nicht vollkommen fort. Als Therapeutikum und Trostspender begegnet Literatur vor allem in Rezensionen, die in den ersten Monaten des Weltkriegs veröffentlicht wurden. Die Stimmung an der Front evozierend, schreibt der Rezensent der Feldausgabe von Ferdinand Avenarius »Hausbuch deutscher Lyrik« in der »Freideutschen Jugend«: 1013 Vgl. ebd., S. 218f. Von den in den vorherigen Kapiteln beschriebenen Identifikationen mit literarischen Figuren unterscheidet sich diese Form der Identifikation dadurch, dass sie nicht wie jene vorrangig auf dem moralischen Einverständnis mit den Handlungen der Figuren beruht, sondern auf einem sich im Leseprozess einstellenden Gefühl des MitErlebens und Mit-Fühlens, der Empathie. 1014 Ebd., S. 211. 1015 Ebd., S. 218. 1016 So plädiert auch Winko: Gefühle, S. 158–160 dafür, die umfassende Präsenz der Bezugnahme auf Gefühle in unterschiedlichen Diskursen um 1900 auf ihre Funktion hin zu interpretieren, »Disparatheit aufzuheben«. 1017 Mellmann: Emotionalisierung, S. 404. 1018 Ulrich Herrmann: »Zurück zur Natur« und »Vorwärts zum Geist«. Das Janusgesicht der deutschen Jugendbewegung, in: Historische Jugendforschung. Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung, 2006, N. F. 3, S. 326–350, hier S. 332; vgl. in diesem Zusammenhang auch Bernhard Schäfers: Gruppenbildung als Reflex auf gesamtgesellschaftliche Entwicklungen am Beispiel der deutschen Jugendbewegung, in: Friedhelm Neidhardt (Hg.): Gruppensoziologie. Perspektiven und Methoden, Opladen 1983, S. 106–125. 1019 Ausnahmen bilden trivialere Fälle, in denen (literarischen) Texten allgemein eine stimmungsaufhellende Wirkung zugeschrieben wird. So rühmt Werner Stapf: [Rezension zu:] Gesundbrunnen, Kalender des Dürerbundes 1915, in: Wandervogel Monatsschrift, 1914, H. 9/10, S. 272, den vom Dürer-Bund herausgegebenen Kalender mit den Worten: »Er war von je unser Freund – der Gesundbrunnen«, und bezeichnet ihn weiter als »ein[en] Sonnenstrahl mehr in mancher trüben Stunde«.
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»Da draußen liegt eine andere Welt. Der Tag redet eine andre Sprache, sie klingt lauter, eindringlicher, ferner. Und sein Schweigen dringt aus Abgründen. Die Stunden werden voller, der Augenblick wird zum Wirbel. – Und doch in des Tages lautester Stärke, in des Augenblicks wildestem Wirbel erlischt oft die volle Gegenwart und versinkt in tiefes Selbstvergessen. Eine schönere Welt steigt herauf, die liebe, verlassene, deutsche. Ein Sehnen geht heimwärts. – Doch der Tag stürmt weiter und reißt das Weite nur noch tiefer fort. Kommen aber die Stunden der Ruhe, dann erwacht das große Sehnen neu. Doch fern liegt die deutsche Welt.«1020
Auf diese emotionale Lage zwischen Anspannung, Angst, Patriotismus und Heimweh bezieht der Rezensent die einzelnen Abschnitte der besprochenen Anthologie und weist ihnen entsprechende Funktionen zu, wobei er den gesucht poetischen Duktus beibehält: »Hier im Hausbuch deutscher Lyrik bringen wir unsern Feldgrauen die deutsche Welt näher. Hier finden wir die große Bewegung der deutschen Seele in reinster Form. Was sich im deutschen Gemüte auch regte, hier offenbart es sich in voller Schönheit.«1021
Angesichts der unerreichbaren Heimat soll den Gedichten die Aufgabe zukommen, »das große Sehnen« zumindest für den Moment zu stillen und in den »Stunden der Ruhe« die in der Rezension aufgerufenen Emotionen zu beruhigen. Dieser Aspekt begegnet auch in der unmittelbar anschließenden Rezension zu einer weiteren Gedichtsammlung, die sich besonders durch den weit schlichteren und naiveren Ton unterscheidet: »Das ist ein rechtes Weihnachtsbuch, das jedem von euch da draußen ein Stück Heimat in die Fremde trägt, einen ganz warmen Gruß alles dessen, was ihr lieb habt. Da spürt ihr den Duft der Ackererde, über die der Sämann schreitet, schaut die Berge und Wälder, durch die wir wanderten, in der Mittagssonne den stillen See und am Berghang die uralten Tannen. Da ist das Hessenland mit seinen Waldhöhen und verschlafenen Burgen, der Schwarzwald im Schnee, das rote Haus in der Heide hinter den weißen Birkenstämmen und die Elbe mit ihren Schuten und Ewern, die trotz der Kriegszeit flußaufwärts und -abwärts fahren. Am Fenster des stillen Heims steht die junge Mutter mit dem Kindlein im Arm und schaut auf die schlafenden Gassen, über die der Abend herabsinkt, und hinten den ragenden Bäumen am See geht der Mond auf. […] Der Friede, der auch in diesem Jahre über der Heimat ruhte, weil ihr ihn mit eurem Herzblut schützt, kommt mit diesem Büchlein zu euch hinaus wie ein Duft des Christbaums, zu dessen lieben Lichtern jetzt der Kinder Augen ahnungslos und selig aufschauen.«1022
1020 Pielenz: [Rezension zu:] [Ferdinand] Avenarius, Hausbuch deutscher Lyrik. Taschenausgabe fürs Feld, in: Freideutsche Jugend, 1914/15, H. 12, S. 269f. 1021 Ebd., S. 270. 1022 A. 1914/15: [Rezension zu:] Du mein Deutschland. Heimatbilder deutscher Künstler, Deutsche Gedichte. Mit einem Geleitwort von Hans Thoma, in: Freideutsche Jugend, 1914/ 15, H. 12, S. 270.
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Eine regelrechte Rezension, die Auswahl und Anordnung der Gedichte beschreibt und wertet, wird hier gar nicht mehr angestrebt. Deutlicher noch als die vorangehende Rezension ist dieser literaturkritische Text eine Rezeptionsanleitung, die bereits durch die Wortwahl eine bestimmte Stimmung vorbereiten will und den Lesern der Zeitschrift eine stark emotionalisierte Lektüre der besprochenen Anthologie nahelegt. Mit Kollektivpronomina und klischeebehafteten Topoi der Heimatliebe (»Ackererde«, Sämann«, »Berge und Wälder«) wird an die Erinnerung an gemeinsame Wanderungen appelliert, während das wiederholte Aufrufen von Sinneseindrücken (der »Duft der Ackererde«, der »Duft des Christbaums« und dessen »liebe Lichter«) nachdrücklich das emotionale Gedächtnis der Leser anspricht. Alles zielt darauf ab, eine wehmuts- und sehnsuchtsvolle Heimwehstimmung zu erzeugen, über die sich die Leser dann mit Hilfe der Anthologie hinwegtrösten sollen. Gleichzeitig dient all das der Sinnstiftung des soldatischen Treibens, indem an den Schutz der sentimental verklärten Heimat gemahnt wird.1023 Dazu gehört auch, dass das besprochene Buch nicht als eine beliebige Sammlung unter vielen präsentiert wird. Die Heimat selbst scheint es den Soldaten zusammengestellt und als »warmen Gruß« zur Verschickung vorbereitet zu haben. Beiden Rezensionen ist gemeinsam, dass sie die Emotion des Heimwehs bei den Soldaten sowohl voraussetzen als auch mit ihren literaturkritischen Texten und den empfohlenen Büchern generieren. Indem die »Heimat« als bedroht in Erinnerung gerufen wird, wird gleichzeitig durch den Pflichtappell ein Mittel zur Affektkontrolle an die Hand gegeben. Sichtbar werden mehrfache Verschiebungen in der Funktion von Literatur gegenüber ihrer Rolle als Wissensspeicher. Wie im Kapitel zu Literatur als Landes- und Heimatkunde gezeigt, entbehrt die auf den Erwerb von Wissen ausgerichtete Lektüre nicht einer emotionalen Komponente. Auch die Literatur, die in diesem Zusammenhang gelesen wird, setzt Strategien der Emotionalisierung ein. Dies ist gegenüber der eigentlichen, kognitiven Funktion jedoch sekundär. Dort ist sie eher Bedingung und Effekt, während die emotionale Komponente in den hier behandelten Fällen als intendierte Funktion von Lektüre ganz im Vordergrund steht. Zwar werden mehr oder weniger konkrete geographische Räume genannt (»Hessenland«, »Schwarzwald«), doch stehen sie nur noch stellvertretend für einen größeren, imaginären Sehnsuchtsort mit dem 1023 Vgl. hierzu auch den Hinweis auf die Rezeption des »Zupfgeigenhansl« während des Krieges bei Hermann Ziegler: Der Hansl als Gefährte im Felde, in: Wandervogel Monatsschrift, 1916, H. 2, S. 38f., hier S. 39: »Schön sind die Lieder des Hansls. Sind unsere Lieder, und ich hab’ sie lieb, nun gerade im Kriege. Sie machen uns stark in der Erinnerung an das, dessen Ausdruck sie uns waren: der Freude an reiner Luft und schönem Leben. Dafür kämpfen wir in unserem Vaterland, dem wir nun mit der Waffe dienen«. Gleichzeitig bietet der Aufsatz bereits im Titel ein weiteres Beispiel für die Verbindung von konsolatorischer Funktion und Freundesmetaphorik.
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Namen »Heimat«, dessen reale Entsprechung mit seiner Geschichte, Geographie, seinen sozialen und politischen Verhältnissen wenn überhaupt eine untergeordnete Rolle spielt. Die Freundesmetaphorik hingegen taucht in den jugendbewegten Literaturkritiken vornehmlich jenseits solch außerordentlicher Situationen wie der des Krieges auf. Der Rezensent einer Publikation des Theologen Friedrich Gogarten imaginiert unter dem Eindruck der Lektüre eine alltäglich-außeralltägliche Situation des Leseglücks: »[…] du sitzt mit einem guten Freund im Dämmern, wo sich alle Tageshärten und Häßlichkeiten lösen, und nun quillt es aus der Tiefe, und gütige, grundgütige Augen bergen in sich geheimnisvolles Leuchten, bannen dich und machen deine Gebundenheit lose und frei. Und dann ist ein Strömen und Kräftetauschen.«1024
Wenn Freundesglück und Leseglück in der Jugendbewegung in einen derart engen Zusammenhang gebracht werden, dann spricht einiges dafür, den Grund im Wunsch nach einer Verlängerung des als erfüllend erlebten Wandervogelalltags über die mit den Freunden verbrachte Zeit hinaus zu sehen.1025 Das von Carola Groppe beschriebene Leiden großbürgerlicher Jugend um 1900 an Vereinzelung und Einsamkeit, das vom seltenen Kontakt mit den Eltern und zu jüngeren Geschwistern oder durch das »partielle Zusammensein mit Schulkameraden« kaum gestillt werden konnte und erst in exzessiver Lektüre Entlastung fand,1026 gilt für die allermeisten Mitglieder der Jugendbewegung so wohl kaum. 1024 Siegfried Kawerau: [Rezension zu:] Friedrich Gogarten, Religion weither, in: Freideutsche Jugend, 1918, H. 11/12, S. 435. Im Hinblick auf emotionalisierte Rezeptionsmodi ist Kaweraus Rezension allerdings durch eine gewisse Ambivalenz gekennzeichnet. Bevor er das »Leseerlebnis« bei der Lektüre Gogartens beschreibt, ordnet er die Publikation in einen weiteren Kontext zeitgenössischer Literatur ein: »Wer sich gefühlsmäßig mit Rilkes ›Stundenbuch‹, mit Morgensterns ›Wir fanden einen Pfad‹, mit Georges ›Stern des Bundes‹ gesättigt hat, dem wird in den sechs Kapiteln dieses Büchleins manches zur begrifflichen Klarheit sich kristallisieren, was in ihm ausgelöst und dunkel vorhanden war.« Kawerau geht demnach von einer rein emotionalen, affektbestimmten Rezeption zeitgenössischer Lyrik aus. Die Rezeption Gogartens zielt hingegen primär auf eine kognitive, begriffliche Erkenntnis, was jedoch nicht hindert, dass der Augenblick der Lektüre als von starken Emotionen begleitet beschrieben wird. 1025 Vgl. hierzu auch den Aufruf zur Mitarbeit an einem »Wandervogelhandbuch« von Lud Wutschke 1916: [Ohne Titel], in: Wandervogel Monatsschrift, 1916, H. 4, S. 80, das »dem neuen Wandervogel ein Ratgeber und guter Kamerad sein soll«. Zwar steht das didaktische Moment hierbei im Vordergrund, doch verweist die Rede vom »Kamerad« erneut auf jene Parallele zur Wandervogelwelt und auf den emotionalisierten Aspekt des Umgangs mit Büchern. Der Wunsch nach einer Verlängerung des Wandervogelalltags mittels Büchern wird während des Krieges allerdings bis zu einem gewissen Grad zur Notwendigkeit, soll doch das anvisierte Handbuch den Zweck erfüllen, Ersatz zu bieten für die im Krieg stehenden älteren Freunde und Führer der Wandervögel. 1026 Vgl. Groppe: Macht der Bildung, S. 338. Zu Recht führt sie ebd., S. 339 aber dieselben Ursachen als Gründe für die Entstehung der Jugendbewegung an.
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Das Lesen dürfte ihnen weniger als Ersatz denn als Ergänzung zur als beglückend erfahrenen Gemeinschaft in den Jugendgruppen gedient haben. Bemerkenswert ist dabei, dass die Erfahrungswelt des Wandervogels derart prägend für seine Mitglieder ist, dass der individuelle Umgang mit Büchern immer wieder von ihr überlagert wird. So kommt es, dass die literaturkritische Semantik der Jugendbewegung auch über die Freundschaftssemantik hinaus zahlreiche Analogien zur Wandervogelwelt aufweist. In einem Aufsatz in der Zeitschrift des Jung-Wandervogel werden einige Texte von Autoren der Romantik empfohlen, über die es heißt: »Die Welt dieser Romantiker ist ein alter, arg verwilderter Garten, aber es ist darin fein und abenteuerlich zu wandern, voll Verstecke, Geheimnisse, Überraschungen. Also, Jungens, wagt euch einmal hinein, es wird euch darin gefallen.«1027
Durch die Metapher vom Lesen als einer Wanderung wird ein Bezug zur jugendbewegten Lebenswelt geschaffen und gerade dadurch die Lektüre der romantischen Literatur als besonders lohnenswert herausgestellt. Allerdings ist der Stellenwert von Äußerungen wie dieser innerhalb des jugendbewegten Literaturkonzepts prekär. In ihnen wird die Lektüre als äußerst lustvoll beschreiben und damit in die Nähe dessen gerückt, was Werner Graf als »Leseerlebnis« beschrieben hat. Zu dessen Merkmalen gehören eine Differenz zum Alltag, durch die die Lektüre als »besonders hervorgehobenes Ereignis« wahrgenommen wird, eine »veränderte Raum- und Zeitwahrnehmung«, ein »emotionales, sinnliches Empfinden« und »hohe Befriedigung«.1028 Damit wird die Unterscheidung zu Formen des Lesens problematisch, die im zeitgenössischen Diskurs der Schundliteratur zugerechnet werden. In seiner Schrift über »Hamburg und den Schundkampf« schreibt Hermann Popert über die als Schund inkriminierten Texte, dass diese den »Entartungen schmeicheln, die der natürliche Trieb der Jugend, der Trieb zum Erleben oder auch zum Abenteuer, durch die Mechanisierung unsrer Zeit erlitten hat: Durch das Zusammengepferchtsein in den luft- und lichtlosen Großstädten. Durch den, auch im neuen Deutschland gar zu oft noch geduldeten, eralteten Massenunterricht in der Schule. Durch oft seelenlos betriebene Berufsarbeit der Jugendlichen. Kurz, durch unser ganzes Kulturelend. Jener natürliche und gesunde Trieb der Jugend zum Erleben und auch zum Abenteuer ist so umgebogen worden in Roheit, und in Freude teils am Schauderhaften, teil am völlig verzerrten, durch und durch unwahren, Weltbilde.«1029 1027 B. N.: Von Büchern, in: Jung-Wandervogel, 1910/11, H. 3, S. 42f., hier S. 43. 1028 Vgl. Graf: Sinn, S. 54. 1029 Popert: Schundkampf, S. 3. Die Gefährdung der Jugend durch erlebnishafte und lustvolle Lektüre wird derart groß eingeschätzt, dass es in der jugendbewegten Literaturkritik sogar eines eindringlichen Hinweises zum richtigen Rezeptionsmodus bei der Lektüre von Poperts ansonsten völlig unverdächtigem »Helmut Harringa« bedarf; vgl. hierzu Hochfeld: Hermann Popert, Helmut Harringa, S. 33: »Ich empfehle jedem also dieses Buch, ja,
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Der Jugend wird demnach zwar ein »natürlicher Trieb« zum Abenteuer und zum Erlebnis zugestanden, der jedoch Abfuhr in körperlicher Aktivität erfahren soll und nicht in der Lektüre. Obgleich Poperts Vorbehalte in erster Linie inhaltliche Aspekte betreffen, ist durch die Begriffe des »Erlebens« und des »Abenteuers« ein Zusammenhang zum vorliegenden Sachverhalt gegeben. Für das Literaturkonzept der Jugendbewegung ergibt sich hieraus die Notwendigkeit, zwischen dem (jugendlichen) Bedürfnis nach einer sinnlich-emotionalen, erlebnishaften Lektüretätigkeit und den behaupteten Gefahren durch das Lesen zu vermitteln.1030 Dies geschieht zum einen durch Hinweise auf Bücher, die gleichermaßen spannend wie – entsprechend den jeweiligen Anforderungen – funktional sein sollen. Zum anderen dienen diesem Zweck aber auch Belehrungen über die richtige Auswahl und den richtigen Gebrauch von Büchern, wobei erneut eine Häufung der Freundesmetaphorik zu erkennen ist: »Wenn du dir ein Buch kaufen willst, das Dir ein Freund werden soll, so möchte ich Dich zu allererst warnen, Dich nicht durch die Auslagen unserer Buchhandlungen verwirren oder durch das, was unsere Zeitungshäuschen Dir anbieten, Dich verleiten zu lassen, Dein Geld Ihnen unbedacht zu opfern. Erstere bieten (in den Fenstern zumeist und drinnen nicht selten) wenig für deine Bedürfnisse und letztere verkaufen neben den Tageszeitungen leider gar zu oft den schlimmsten Schund.«1031
Im Anschluss findet sich eine umfangreiche Liste von Büchern, die nicht unter das Schund-Verdikt fallen und dennoch die »Abenteuerlust«1032 zu stillen verich kann sagen, ich fordere von jedem, daß er dieses Buch gelesen hat – aber, aber – nicht oberflächlich gelesen, nein, oder gar mit einem gewissen Lustgefühl, o nein, dann lieber nicht erst anfangen, sondern lesen mit heiligem Ernste!« 1030 Kritik an der schulischen Vermittlung von Literatur ist selten in den Zeitschriften der Jugendbewegung und findet sich eher im hier nicht ausgewerteten »Anfang«. Dennoch lassen sich auch im ausgewerteten Quellenkorpus vereinzelt Beispiele hierfür entdecken; vgl. zum Beispiel W.[alther] Kalbe: [Rezension zu:] Walther Classen, Jesus von Nazareth. Worte und Taten nach den drei ältesten Evangelisten, in: Wandervogel Monatsschrift, 1917, H. 1, S. 15, der nicht nur die Evangelien als »im Schulbetrieb entkeimte[] Worte« bezeichnet, sondern ebenso das von ihm rezensierte Buch für seinen wissenschaftlichen Charakter kritisiert, da dieser kein »persönliches Ergreifen der Jesusgestalt« ermögliche; vgl. außerdem Samm: [Rezension zu:] [Werner] Jansen, Das Buch Treue, in: Zwiespruch, 1917/18, H. 7, S. 92, der sich erinnert: »Ich fand in meiner Schulzeit unter vielem Gerümpel und Moderkram einen guten Edelstein voll Glanz und Echtheit. Aber wie es so in der Schule geht: die liebelose Luft und das trockene Lernen zog um den Glanz eine Staubschicht und Blindheit. Das Nibelungenlied war mir wieder kalter Lehrstoff«. Beide Quellen sprechen für das Vorhandensein eines sowohl zur Wahrung des Friedens mit den Lehranstalten als auch aus einer aus dem Schundkampf resultierenden Verunsicherung heraus verschwiegenem Wunsch nach affektunmittelbaren Lektüremodi, den der Deutschunterricht nicht zu befriedigen vermag; Vgl. zu letzterem Aspekt auch Juliane Köster : Literatur und Leben – aus der Perspektive des schulischen Gebrauchs von Literatur, in: Löck, Urbich (Hg.): Begriff, S. 327–343. 1031 Gruber : Bücherauswahl, S. 188. 1032 Ebd.
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mögen: Texte von Cooper, Verne und Beecher Stowe über Dickens, Dumas und Scott bis hin zu E.T.A. Hoffmann, Droste-Hülshoff und Löns. Das »Buch als Freund« scheint in diesem Fall als ›Interaktionspartner‹ zu fungieren, mit dem sich spannende Erfahrungen und Erlebnisse machen lassen. Unklar bleibt jedoch, wie sich Buchauswahl und Rezeptionsmodus legitimieren. Angesichts der genannten Titel, die zusammen als Kanon der Abenteuerliteratur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts gelten können, liegt die Vermutung nahe, dass der entscheidende Aspekt die ästhetische Qualität der Text ist. Analog zu den Ansätzen der Jugendschriftenbewegung scheint es Gruber nicht um eine grundsätzlich veränderte Einstellung zum Buch zu gehen, sondern um die Präsentation von Werken, die das Bedürfnis nach einer Erlebnisqualität des Lesens zu stillen und gleichzeitig den ästhetischen Geschmack zu heben vermögen. Deutlich kritischer gegenüber uneingeschränkter Leselust zeigt sich hingegen Friedrich Wilhelm Fulda. Von einem pädagogischen Standpunkt aus wendet er sich gegen die Annahme vom »bildenden Einfluß des Lesehallenbesuches von Kindern«, da »sich die Kinder da ans Schmökern, an das geistige Naschen« gewöhnten.1033 In seinem Artikel über das richtige Lesen und die Erziehung zum richtigen Lesen pendelt er rhetorisch zwischen den Büchern und der Freundesrhetorik hin und her, so dass dem eigentlichen, lesepädagogischen Inhalt Belehrungen über Freundschaft die Waage halten. Wie sehr sich bei ihm das Lesen von Büchern und der Umgang mit Menschen ineinander spiegeln, wird bereits an seiner aphoristischen Einleitung ersichtlich: »Menschen sind wie Bücher. Man kann sie lesen. Aber es ist auch umgekehrt wahr. Bücher sind wie Menschen. Man kann mit ihnen verkehren«.1034 Diesem Vergleich folgend, kritisiert er zunächst die »Alles-gelesen-haben-müsser«, um dann fortzufahren: »Mit meinen Freunden will ich oft zusammen sein, will ich wirklich verkehren. Will sie besuchen. Eingeladen und uneingeladen. Sie sollen zu mir kommen, wann sie wollen. Sie mögen mir tausendmal wieder dasselbe erzählen. Es ist doch immer etwas anderes – und etwas gutes, wenn es etwas wahres und etwas tüchtiges ist. Und dann ist es auch etwas schönes. Also, ich suche mir meinen Verkehr selbst aus; beschränke ihn auf das nötige Maß. In meinem Freundeskreise aber fühle ich mich wohl, bewege mich oft in ihm, bin darin zu Hause. Bin glücklich über die Tugenden meiner Freunde, nachsichtig gegen ihre Schwächen. Weil ich sie genau kenne, kann ich sie auch mit Nachdruck gegen Verleumder, die sie ja doch nur oberflächlich kennen lernten, verteidigen. […] 1033 Friedrich Wilhelm Fulda: Vom Lesen – zum Eigenbuch, in: Führerzeitung, 1915, H. 9/10, S. 124–130, hier S. 126; vgl. zur Institution der Kinderlesehallen Kaspar Maase: Die Kinder der Massenkultur. Kontroversen um Schmutz und Schund seit dem Kaiserreich, Frankfurt a. M. u. a. 2012, S. 170–173. Da die Lesehallen vor allem in Arbeitervierteln lagen und von Arbeiterkindern besucht wurden, lassen sich Fuldas Vorbehalte gegenüber dieser Einrichtung durchaus als bürgerliches Ressentiment gegenüber proletarischen Lebensverhältnissen interpretieren. 1034 Fulda: Vom Lesen, S. 124.
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Es ist die alte immer wieder gepredigte Wahrheit: Nicht vieles, sondern viel. Ein wenig bedeutet hier viel. Wenig aber oft, wenig aber gründlich.«1035
Ganz im Sinne des Schundkampfes und der in seinem Umfeld stattfindenden Lesesuchtkritik wendet Fulda die Formel vom Buch als Freund gegen ein Verlangen nach immer neuen Lesestoffen. Sie dient ihm in diesem Zusammenhang vor allem als rhetorisches Argument.1036 Indem er auf Zustimmung heischende Ansichten über Freundschaft zurückgreift, hofft er seine Leser mittels jener Formel von einer analogen Umgangsweise mit Büchern zu überzeugen. Wenngleich die Semantik noch den emotionalisierten Kern der Freundesmetaphorik erkennen lässt, ist das ursprünglich mit ihr verbundene individual- und sozialpsychologische Moment weitgehend zurückgetreten gegenüber lesepädagogischen Erwägungen. Emotionale Aspekte lassen sich innerhalb des jugendbewegten Literaturkonzepts auf drei verschiedenen Ebenen ausmachen. Zum ersten finden sich Hinweise auf den Wunsch nach Büchern, die das Bedürfnis nach einer bestimmten Prozessqualität des Lesevorgangs befriedigen sollen, die als »Erlebnis« codiert werden kann. In diesem Fall ist es das Lesen selbst, das durch eine starke emotionale Beteiligung des Lesers gekennzeichnet ist und sich von anderen, distanzierteren und kontrollierten Formen des Lesens unterscheiden lässt. Hierzu gehört nicht nur das Gefühl, von einer Erzählung völlig vereinnahmt zu werden.1037 Ebenso gehören hierzu diejenigen Formen der Identifikation mit Figuren der erzählten Welt, die sich nicht einer im wesentlichen kognitiven Reflexion über deren Verhaltensweisen und Einstellungen verdankt, wie sie im Zentrum des Kapitels über Literatur und Identität standen, sondern einem unmittelbaren empathischen Miterleben während der Lektüre.1038 Angesichts der Art des untersuchten Quellenmaterials muss die Frage der Häufigkeit eines in diesem Sinne emotionalisierten Rezeptionsmodus jedoch unbeantwortet bleiben, da die literaturkritischen Texte nachträgliche Verbalisierungen dar1035 Fulda: Vom Lesen, S. 125. 1036 Dies ist auch der Fall bei Hans Christoph Glander: Meine Bücher, in: Führerzeitung, 1917, H. 2/3, S. 31f. 1037 In der englischsprachigen Forschung hat sich hierfür der Begriff »transportation« etabliert; Vgl. Melanie C. Green, Jennifer Garst, Timothy C. Brock: The Power of Fiction. Determinants and Boundaries, in: L.J. Shrum (Hg.): The Psychology of Entertainment Media. Blurring the Lines between Entertainment and Persuasion, Mahwah 2004, S. 161– 176, hier S. 167f. 1038 Vgl. zum empathischen Miterleben knapp Nadine van Holt, Norbert Groeben: Emotionales Erleben beim Lesen und die Rolle text- sowie leserseitiger Faktoren, in: Uta Klein, Katja Mellmann, Steffanie Metzger (Hg.) Heuristiken der Literaturwissenschaft. Disziplinexterne Perspektiven auf Literatur, Paderborn 2006, S. 111–130, hier S. 118–120. Ausführlicher ist Mellmann: Emotionalisierung, S. 115–124, die allerdings weiter zwischen »Empathie« und »Ansteckung« unterscheidet.
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stellen, in denen Spuren unmittelbarer und affektiver Rezeptionserlebnisse ebenso wohl getilgt wie hinzugefügt sein können.1039 Auf einer zweiten Ebene lässt sich in den analysierten Texten eine emotionale Funktionalisierung von Literatur erkennen, die beispielhaft anhand von Rezensionen aufgezeigt wurde, die zu Beginn des Weltkriegs veröffentlicht wurden. Literatur erfüllt dort eine über die unmittelbare Rezeptionssituation hinausweisende emotionale Funktion. Indem sie das emotionalisierte Konzept »Heimat« behandelt, trägt sie zur Sinnstiftung während des Krieges bei und soll damit letztlich eine Kontrolle der Emotionen bewirken. Schließlich wurden Formen emotionalisierter Semantik und Rhetorik in literaturkritischen Texten untersucht, die sich insbesondere mit der Formel vom »Buch als Freund« verbinden. Anders als vor der Wende zum 19. Jahrhundert lassen sich die verstreuten Verwendungen in der Jugendbewegung nicht als Versuch zur Überbrückung sozial exkludierter Individualität verstehen, sondern als Bemühungen, das Freundschaftserlebnis innerhalb der Gruppe über deren unmittelbare Gegenwart hinaus zu verlängern. Inwieweit sich dies wiederum auf den Lektüremodus auswirkt, hängt sowohl von den einzelnen Lesern als auch von den rezipierten Büchern ab. Es lassen sich ebenso Beispiele finden, die auf eine stark emotionalisierte Rezeptionsweise schließen lassen, wie solche, in denen Bücher lediglich aus argumentativen Zwecken als Freunde beschreiben werden, um anhand dieses Vergleichs Kriterien der sachgemäßen Auswahl und des sachgemäßen Umgangs mit Büchern zu gewinnen.
1039 Vgl. hierzu auch Mellmann: Emotionalisierung, S. 156f., die zwischen den eigentlichen, im Rezeptionsprozess erlebten Emotionen und der nachgängigen reflexiven Verarbeitung dieser Emotionen unterscheidet. Das Quellenmaterial nötigt freilich zu Skepsis gegenüber der Annahme einer verbreiteten erlebnishaften Lektüre in der Jugendbewegung.
8.
Wertung von Literatur
Die Wertung von Literatur gehört zu den zentralen Aufgaben der Literaturkritik, und auch in den vorhergehenden Kapiteln wurden Wertungen seitens jugendbewegter Literaturkritiker bereits mehrfach thematisiert. Dies war insofern unumgänglich, als »Werte in bestimmten Beziehungen zueinander stehen«, die sich als »Wertsysteme« beschreiben lassen.1040 Je nach Inhalt eines Literaturkonzeptes können Annahmen über die Wirkung von Literatur ebenso wie Funktionszuschreibungen einen wichtigen Teil eines solchen Systems ausmachen, was insbesondere dann der Fall ist, wenn Literatur nicht nach autonomieästhetischen Konventionen rezipiert wird, sondern nach heteronomen Maßstäben. Wie vor allem die Kapitel zu den Funktionen von Literatur gezeigt haben, gilt dies für die Jugendbewegung in besonderem Maße. Die kapitelweise Trennung von Funktionszuschreibungen und Wertungshandlungen ist insofern weit mehr Resultat analytischer Erwägungen, als dass sie sich derart strikt in den Rezensionen wiederfinden ließe. Auch wenn grundsätzlich davon auszugehen ist, dass Bücher dann eine positive Wertung erfahren, wenn sie gewünschte Funktionen erfüllen, soll in diesem Kapitel anhand von drei zentralen Aspekten des jugendbewegten Literaturkonzepts die Spezifik der Wertung von Literatur in der Jugendbewegung vorgestellt werden. Zuvor soll jedoch im Anschluss an die literaturwissenschaftliche Wertungsforschung das Verhältnis von Wertungen und Funktionszuschreibungen genauer gefasst werden. In ihrer »Einführung in die Wertung von Literatur« explizieren Renate von Heydebrand und Simone Winko Wertungen als »komplexe Handlung[en]«, in denen »ein Subjekt in einer konkreten Situation aufgrund von Wertmaßstäben (axiologischen Werten) und bestimmten Zuordnungsvoraussetzungen einem Objekt Werteigenschaften (attributive Werte) zuschreibt«.1041 Der Begriff des »Wertes« lässt sich im Rahmen dieser Explikation als »positives oder negatives 1040 Heydebrand, Winko: Wertung, S. 73; vgl. zum Zusammenhang von Funktionszuschreibungen und Wertungen auch Schmücker : Funktionen, S. 31f. 1041 Heydebrand, Winko: Wertung, S. 39.
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Wertung von Literatur
Prädikat« bestimmen, »das einem Objekt als Resultat einer Wertung zugeschrieben wird«.1042 Wichtig ist dabei zunächst, dass Werteigenschaften in diesem Ansatz nicht als intrinsische, subjektunabhängige Eigenschaften von Objekten verstanden werden, sondern als Zuschreibungen eines Subjekts: Texte und Textmerkmale werden erst durch den Bezug auf von Subjekten vertretene Maßstäbe werthaltig. Diese kontextorientierte »Bezugstheorie«1043 der Wertung entspricht der Grundannahme des dieser Arbeit zugrundeliegenden Konstruktivismus.1044 Für die Maßstäbe, anhand derer die Wertung von Objekten erfolgt, prägen Simone Winko und Renate von Heydebrand den Begriff des »axiologischen Werts«,1045 den sie von Werten als Objekteigenschaften, den »attributiven Werten«, abgrenzen.1046 Diejenigen axiologischen Werte, von denen »weitere axiologische Werte abgeleitet werden« können, bezeichnen sie weiter als »Wertprinzip[ien]«,1047 an deren Stelle in der Jugendbewegung häufig Funktionszuschreibungen stehen. Damit ist nicht gemeint, dass Funktionen von Literatur generell den Status von Werten einnehmen. Dort aber, wo sie als Funktionszuschreibungen mit einem normativen Anspruch vertreten werden, lassen sie sich entweder in Wertausdrücke umformulieren oder implizieren zumindest ableitbare Werte.1048 Die Funktion der Vermittlung landeskundlicher Kenntnisse lässt sich beispielsweise auf den abstrakteren Wert des »Wissens« beziehen. Von dieser Funktion lässt sich wiederum als Wert die Darstellung ländlicher Bevölkerung in 1042 Friederike Worthmann: Wertungen. Vorschläge für ein deskriptives Modell, Wiesbaden 2004, S. 75; vgl. für eine ausführliche Diskussion des Wertbegriffs ebd., S. 57–76. 1043 Heydebrand, Winko: Wertung, S. 38. 1044 Vgl. hierzu ebd., S. 37–44 sowie Buck: Literatur, S. 28–31. Die Subjektabhängigkeit von Werten impliziert freilich nicht, dass diese vollkommen subjektiv und beliebig attribuierbar wären. Zum einen lassen sich Werte als »›objektiv relativ‹« beschreiben: »Sie beziehen sich auf vorhandene Objekteigenschaften, die aber erst relativ zu einem Subjekt werthaltig werden […]« (Heydebrand, Winko: Wertung, S. 43f.). Zum anderen sind Werte weit eher als »intersubjektiv gültige soziokulturell bedingte abstrakte Kategorien des Denkens« zu begreifen denn als bloß individuelle und idiosynkratische Vorlieben; vgl. hierzu ebd., S. 85–105 sowie Buck: Literatur, S. 32. 1045 Vgl. zur Explikation des Terminus »axiologischer Wert« Heydebrand, Winko: Wertung, S. 40. 1046 Vgl. zur Explikation des Terminus »attributiver Wert« ebd., S. 42. 1047 Ebd. 1048 Im Modell von Buck: Literatur, S. 79f., das den theoretischen Entwurf von Renate von Heydebrand und Simone Winko im Anschluss an kulturtheoretische Forschungen leicht modifiziert, begegnen Funktionszuschreibungen als »feld- bzw. systemspezifische ›Sinnmuster‹«, »die die Komplexität der Handlungsmöglichkeiten von Akteuren reduzieren«. Für ihren Untersuchungsbereich der zeitgenössischen deutschsprachigen Literaturkritik stellt Buck fest, dass diese die Wertungen und Erwartungshaltungen prägenden Sinnmuster zum großen Teil aus »Bedeutungs- und Funktionszuschreibungen« bestehen.
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literarischen Texten ableiten, die in der Jugendbewegung als allgemeiner Wert den Status eines »axiologischen Wertes« einnehmen kann oder, bezogen auf einen konkreten Text, den Status eines »attributiven Wertes«. Das jugendbewegte Literaturkonzept ist durchzogen von derartigen regelhaften Verbindungen von »Wertmaßstäben zu Textmerkmalen«, welche von Simone Winko und Renate von Heydebrand als »Zuordnungsvoraussetzungen« bezeichnet werden.1049 Im Folgenden wird dieses Strukturelement ausgehend von der jugendbewegten Lektürepraxis untersucht werden: Bücher, die zum Vorlesen geeignet sind, müssen bestimmte stilistische Kriterien erfüllen, die Teil jugendbewegter Literaturkritik werden, und Bücher, die auf Wanderungen mitgenommen werden sollen, müssen bestimmten materiellen Kriterien genügen, die in den Rezensionen ebenfalls der Wertung unterliegen. Wertsysteme sind darüber hinaus »in einer gewichtenden, also quantifizierenden Ordnung zwischen Werten verschiedener Bereiche« strukturiert.1050 Klassisches Beispiel für dieses Moment ist der Widerstreit zwischen einer genuin ästhetischen und einer ethischen, politischen oder weltanschaulichen Wertung von Literatur. Dies soll anhand der Auseinandersetzung um »Tendenzliteratur« in den jugendbewegten Zeitschriften verfolgt werden. Schließlich sind Wertsysteme »in einer hierarchischen Ordnung von Werten aus dem gleichen thematischen Bereich« strukturiert.1051 Diese Form einer Werthierarchie soll abschließend am jugendbewegten Authentizitätsdiskurs exemplifiziert werden, der sich in allen bislang beschriebenen und analysierten Bereichen des Literaturkonzeptes wiederfinden lässt.
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Die materiellen Aspekte eines Buches werden in literaturkritischen Texten nur selten gewürdigt. Ausnahmen bilden Publikationen, die in irgendeiner Form ›besonders‹ sind und durch ihr Design aus der Masse der Neuerscheinungen hervorstechen.1052 Dies ist in der Jugendbewegung anders. Da Bücher zur indi1049 Vgl. zur entsprechenden Strukturierung von Wertsystemen Heydebrand, Winko: Wertung, S. 75f.; zum Begriff der Zuordnungsvoraussetzung ebd., S. 44: »Der Begriff ›Zuordnungsvoraussetzungen‹ bezeichnet die Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit ein Wertender (1) einen axiologischen Wert auf ein Objekt bzw. auf Objekteigenschaften und/oder (2) konkretere axiologische Werte auf einen höhergeordneten axiologischen Wert beziehen kann«. 1050 Ebd., S. 74. 1051 Ebd. 1052 Auch innerhalb der Literaturwissenschaft fristet die materiale Ästhetik des Buches ein Schattendasein; vgl. aber den anregenden Essay von Wulf D. von Lucius: Das Glück der Bücher. Beiträge zu Buchästhetik und Buchgeschichte, Berlin 2012, v. a. S. 9–30.
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viduellen oder gemeinsamen Lektüre auf Wanderungen mitgenommen werden, richtet sich der Blick der jugendbewegten Literaturkritiker häufig auf das Buch als Gebrauchsgegenstand. Format, Einband, Schriftwahl und Satzbild einer Publikation werden einer kritischen Prüfung hinsichtlich ihrer Eignung als Gepäckstück und »Fahrtbegleitung«1053 unterzogen. Die tatsächliche Lektürepraxis konnte im Rahmen dieser Untersuchung nur am Rande berücksichtigt werden, hätte dies doch die Auswertung weiteren umfangreichen Quellenmaterials wie Reiseberichte, Photographien und Gruppentagebücher erfordert. Verstreute Hinweise in den analysierten Texten und in der Forschungsliteratur1054, die Ergebnisse einer Recherche im digitalisierten Nachlass des Photographen Julius Groß im Archiv der deutschen Jugendbewegung1055 und in ebenfalls dort gelagerten Photoalben von Gruppen und einzelnen Jugendbewegten können lediglich gemeinsame und individuelle Lektüre bei den gemeinsamen Aktivitäten belegen (vgl. bspw. Abb. 1), ohne Hinweise auf Häufigkeit und Regelmäßigkeit entsprechender Praktiken zu geben. Ohnehin steht auch hier zunächst wiederum das schwierige Verhältnis der Jugendbewegung zum Buch im Weg, so dass die Mitnahme von Büchern und deren Lektüre auf den Wanderungen einer besonderen Legitimation bedarf. Mit genau diesem Problem setzt sich ein Artikel in der »Wandervogel Monatsschrift« auseinander : »Ein Buch mitnehmen hieße im strengen Sinne des Pfadfinderbuches den ganzen Erfolg des Wanderns verderben: Unsere Jungen sollen auch ohne ein Buch unter der Nase etwas leisten können. Man sollte doch eigentlich auf der Wanderung die papierne Welt vergessen. – Solche Gründe bestimmen einen beim Packen des Rucksacks derart, daß man auch nicht im geringsten daran denkt, ein Buch mit einzupacken. Ja, der Neuling würde mich sogar auslachen, wenn ich ihm mit dem Ansinnen käme.«1056
Kritikern und Zweiflern begegnet Koch aber mit einem Hinweis auf die Erfahrungen, die er auf seinen Wanderungen machen konnte: »Und doch liegt das Verlangen nach Lektüre auf längeren Wanderungen bestimmt vor, denn auf Bahnhöfen und in Wirtshäusern stürzt man sich nicht umsonst auf die ausgelegten Witz- und anderen Käseblätter.«1057 1053 Dankwart Gerlach: [Rezension zu:] Arthur Rehbein, Wunder im Sande, in: Führerzeitung, 1919, H. 3, S. 47. 1054 Vgl. unter anderem Neuloh, Zilius: Wandervögel, S. 80f.; aus der Perspektive des Zeitzeugen, der über die gemeinsame Lektüre der Zeitschriften berichtet, Jantzen: Dichtung, S. 8. 1055 Der Nachlass ist online abrufbar unter der Adresse https://arcinsys.hessen.de/arcinsys/ detailAction.action?detailid=a76. 1056 Koch: Unser Buch, S. 142. 1057 Ebd.
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Abb. 1: Bundestag des Wandervogel e.V. in Frankfurt an der Oder, 11.–13. April 1914
Da also sowieso gelesen wird, sobald sich die Gelegenheit hierzu ergibt – »draußen, wenn’s zu heiß ist zum Wandern, abends beim Zeltlager, auf dem träge dahinfließenden Bockschiffe und in einsamen Quartieren«,1058 fordert Koch die Gruppenführer auf, wenigstens für gute Lektüre zu sorgen und weist auf angenehme Nebeneffekte hin: »Wird die hierauf oder sonstwie totgeschlagene Zeit zum Lesen eines guten Buches verwandt, so wird der Führer sich zugleich einer inhaltsreichen und angeregten Unterhaltung auf der Wanderung selbst erfreuen können.«1059
1058 Ebd., S. 143. Auch Rudolf Schmidt: [Rezension zu:] G.[untram] A. Erich Pohl, Die Heidestunde. Ein Märlein vom vergessenen Leben, in: Führerzeitung, 1917, H. 8/9, S. 134, erinnert die Leser der »Führerzeitung« in einer Rezension an Möglichkeiten zur gemeinsamen Lektüre während einer Reise: »Auf jeder Fahrt kommt einmal eine halbe Stunde, wo die Horde, müde vom Laufen und Herumtollen, sich ausruht; dann darf wohl einer die Zeit mit Vorlesen ausfüllen« [Hervorhebung von mir, M.L.]. 1059 Koch: Unser Buch, S. 142. Dabei geht er ebd. soweit, die während Wanderungen erfolgte Buchlektüre sogar als besonders nachhaltig und wirkungsvoll zu empfehlen: »Da man beim Wandern Zeit und Gelegenheit genug hat, den aufgenommenen Stoff zu durchdenken, so wird man die Erfahrung machen, daß man alles, was man auf der Wanderung liest, ganz besonders gut verdaut. Überhaupt gibt man durch die Lektüre erst Veranlassung zum Denken.« Auch die Rede von der Verdauung macht den Bezug zum Lesesuchtdiskurs deutlich. Die Einbingung des Lesens in die gemeinschaftlichen Praktiken des Wanderns und des Vorlesens kann dabei als Lösung für eine ganze Reihe der dort thematisierten Probleme der stillen Lektüre gelten. Vor allem die unterstellte Vereinzelung des exzessiven Lesers sein körperlicher Verfall können auf diese Weise kontrolliert werden.
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Die Mitnahme eines Buches auf eine Reise bedingt nun eine ganze Reihe von Anforderungen, die bei der Benutzung im eigenen Zimmer nur eine untergeordnete Rolle spielen: es sollte handlich sein, nicht zu schwer, so robust, dass es beim Kontakt mit Feuchtigkeit nicht umgehend zerfällt und zudem so preiswert, dass eine Verschmutzung keinen allzu großen Schaden darstellt.1060 Friedrich Wilhelm Rittinghaus beurteilt unter diesen Gesichtspunkten die Qualität einiger unter dem bezeichnenden Reihentitel »Bücher als Gefährten« erschienener Publikationen: »Unter der schön gewählten Bezeichnung ›Bücher als Gefährten‹ hat der Verlag von Fritz Heyder eine Reihe von Bändchen erscheinen lassen, die gerade für uns Wandervögel zugeschnitten sind: Goethes Faust, Homers Odyssee, Kleists Michael Kohlhaas, Goethes Werther und Goethes Gespräche mit Eckermann. Das sind wenigstens die vier ersten, alte, liebe Werke, uns längst vertraut. Und doch hat der Verlag uns etwas Neues daran geboten und sie dadurch besonders anziehend gemacht: das ist die Ausstattung. Gewiß, ich kann jedes der ersten vier Bändchen haben in irgend einer 20 PfennigAusgabe, aber das braucht bloß ein, zwei Vorlesestunden mitgemacht zu haben auf einer größeren Fahrt, so ist es aus Rand und Band. Diese Bändchen – jedes kostet 1,50 M. – sind dagegen in biegsames Leinen gebunden und mit wunderbar klarem, für diese Ausgabe besonders geschaffenem Druck versehen; man kann sogar abends bei flackerndem Feuer bequem draus vorlesen; und noch ein Vorzug: sie passen ausgezeichnet in die Taschen auf dem Rucksack!«1061
Auf eine ausführliche inhaltliche Vorstellung und Wertung der rezensierten Titel kann Rittinghaus verzichten. Er setzt voraus, dass die Titel den Lesern der Zeitschrift bekannt und »längst vertraut« sind und dass ihre Zugehörigkeit zu einem Kanon »alter, lieber Werke« bei den Wandervögeln über jeden Zweifel erhaben ist. Somit kann er sich in seiner Rezension ganz auf die materielle Präsentation der Texte konzentrieren. In dieser Hinsicht präsentieren sich ihm die Ausgaben der Reihe nicht als Klassikerausgaben unter vielen, sondern so, als wären sie eigens für den Wandervogel und seine Bedürfnisse hergestellt. Mit Hilfe ihrer gesammelten Fahrtenerfahrung entwickeln jugendbewegte Literaturkritiker wie Rittinghaus Maßstäbe für die Praxistauglichkeit von Büchern, die so als sehr spezifische Zuordnungsvoraussetzungen fungieren, um Neuerscheinungen die Eignung für den Wandervogelalltag zu- oder absprechen zu können. 1060 Derartigen Ansprüchen sollen heute vor allem Naturführer genügen. Für eine entsprechende Wertung dieser Textsorte finden sich auch schon in der Jugendbewegung Belege, so bei Anonym: [Rezension zu:] Eine Flora für das deutsche Volk. Mit Unterstützung von L. Lange und P. Dobe bearbeitet von Karl Börner, in: Wandervogel Monatsschrift, 1913, H. 1, S. 30. Der Rezensent schildert zunächst ausführlich die dort verwendete Methode zur Pflanzenbestimmung, um abschließend die »gediegene[] und zweckmäßige[] Ausstattung«, das »biegsame[] Leinen« und die Handlichkeit zu würdigen. 1061 Rittinghaus 1912: Bücher als Gefährten, S. 60.
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Der Buchpreis spielt angesichts der Zielgruppe zwar eine Rolle, handelt es sich beim Großteil der Leserschaft doch um Schüler und Studenten, die zumeist über gar keine eigenen finanziellen Mittel verfügen oder mindestens sparsam haushalten müssen.1062 Dennoch rät Rittinghaus dazu, nicht eine beliebige »20 Pfennig-Ausgabe« zu kaufen, die den Reisestrapazen nicht gewachsen ist. Das biegsame Leinen der vorliegenden Ausgaben hingegen scheint den Ansprüchen voll und ganz zu genügen und aufgrund ihrer typographischen Eigenschaften überdies den Vorteil zu haben, bei den schlechten Lichtverhältnissen eines Lagerfeuers lesbar zu sein. Dem Format eines Buches und seiner Eignung als Gepäckstück widmet sich wie Rittinghaus auch Walter Fischer in seiner Rezension des bei Erich Matthes erschienenen »Wandervogel-Tagebuchs 1916«, die zugleich zeigt, dass es ein Verleger von Wandervogel-Literatur nicht immer leicht mit seinen Kunden hat. »Nicht darf es […] so werden, daß die Abnehmer dem Verlage Zugeständnisse machen müssen wie beim Tagebuch 1916, bei dem Matz [d.i. Erich Matthes, M.L.] verlangt, daß wir seiner Neigung zu großen und schönen Ausgaben zuliebe auf die Handlichkeit des Buches gänzlich verzichten«, polemisiert Fischer, und fährt mit einigem Sarkasmus fort: »Alle Vorzüge, die ein größeres Buch hat, sollten nicht so stark wiegen wie der der Handlichkeit. Daß sich auch ein kleines Buch hübsch schmücken läßt, beweisen das Tagebuch 1915, der Gesundbrunnenkalender und andre Büchlein. Wir müssen Matz entschieden zurufen, daß er sich auf dem Holzwege befindet, sonst bringt er uns 1917 einen Gefährten in Folio auf Bütten, mit Steindrucken, schweinsledern gebunden und vom Künstler namentlich gezeichnet.«1063
Trotz der am Kriterium der Funktionalität orientierten Wertung der materiellen Aspekte von Büchern lässt sich mitunter auch erkennen, dass stattdessen die 1062 Eine zielgruppenorientierte Kritik der Buchpreisgestaltung findet sich mitunter auch in Organen der Sozialdemokratie und der Arbeiterbewegung; vgl. hierzu Christoph Rülcker : Ideologie der Arbeiterdichtung 1914–1933. Eine wissenssoziologische Untersuchung, Stuttgart 1970, S. 28. Vgl. zur entsprechenden Haltung in jugendbewegten Rezensionen auch Dankwart Gerlach: [Rezension zu:] Carl Rußwurm, Das germanische Grundgesetz. 1. Teil, in: Führerzeitung, 1916, H. 4, S. 49f., hier S. 50, der die Preisfrage zu einer Grundsatzfrage macht: »Ich habe die unmaßgebliche Meinung, daß Wandervogelbücher, die erstens in viele Hände kommen sollen […] zweitens sich an meist magere Taschen wenden, drittens vom Preise abgesehen in jeder Hinsicht idealistischen Charakter haben, daß solche Bücher nur wenig über dem Herstellungskostenpreis bezahlt werden dürfen.« Verständnis für einen »etwas hoch bemessenen Preis« äußert hingegen W.[alter] F.[ischer]: [Rezension zu:] Hinterm Pflug zur Kriegszeit. Erlebnisse eines Stadtkindes. Herausgegeben vom Vaterländischen Frauenverein Trier, in: Wandervogel Monatsschrift, 1916, H. 7, S. 157, da der Reinertrag dieser Publikation der »Nationalspende für Hinterbliebene« zukommt. 1063 Walter Fischer : [Rezension zu:] Wandervogel-Tagebuch 1916, in: Wandervogel Monatsschrift, 1916, H. 2, 61f., hier S. 61.
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»Kongruenz von Inhalt und Gestalt« im Buchdesign und in der Schriftwahl ausschlaggebend ist für das Urteil der KritikerInnen.1064 Bereits Rittinghaus nimmt in der zuvor zitierten Rezension die »Faust«-Ausgabe ausdrücklich aus seiner Empfehlung heraus, die Bände als Reisebegleiter zu nutzen: »Der liegt besser auf dem Tisch, ein wahres Schmuckstück an Druck und Ausstattung (Zweifarbendruck!)«.1065 Dieselbe Ausgabe wird von einem Rezensenten in der Zeitschrift des Alt-Wandervogel dafür gelobt, dass die »Abmessungen des Buches […] handlich und angenehm« seien und die »von R. Koch fast für dieses Werk eig[ens] geschnittenen Buchstaben […] ganz ausgezeichnet zu seinem tiefen und so ganz deutschen Inhalt [passen]«.1066 Und ein Dr. H. rühmt eine bei Eugen Diederichs erschienene Sammlung deutscher Volksbücher ob ihrer »schöne[n] Ausstattung und einem des Inhalts würdigen Drucke«.1067 So vage die hergestellten Beziehungen zwischen Inhalt und Druck in den Rezensionen auch sind, sie zeigen, dass die Wertschätzung schön und ansprechend gestalteter Bücher bald auch unabhängig vom jeweiligen Inhalt zum Ausdruck gebracht wird. Marie Buchhold äußert sich in diesem Sinn kritisch zu einer Sammlung von »Schwänken aus aller Welt«. Zwar lobt sie den »Versuch, durch Bilder […] den Text zu betonen«, moniert jedoch, dass dies »besser gelingen [dürfte], als dies hier der Fall ist. Das sind keine vorbildlichen Abbildungen, das ist ganz unpersönliche, altmodische Illustration. […] Der Text bleibt wertvoll, gewiß, nur wünschen wir mehr Geschmack in der Herausgabe, mehr Wissen von dem, wie solche Stoffe angeboten sein müssen. Auch Druck und Satzordnung sind mißlungen, eine gute Type gibt es auch noch in Zeiten technischer Nöte, und das Satzbild hängt doch vom sorgfältigen Setzen ab.«1068
Dass derartige Wertungen besonders häufig im »Zwiespruch« anzutreffen sind,1069 ist insofern wenig überraschend, als sich vor allem um diese Zeitschrift 1064 Vgl. zu diesem Thema Lucius: Glück, S. 13–16. 1065 F.[riedrich] W.[ilhelm] Rittinghaus: [Sammelrezension zu:] [Bücher als Gefährten], in: Wandervogel Monatsschrift, 1912, H. 2, S. 60f., hier S. 60. 1066 W.: [Rezension zu:] Goethes »Faust«, in: Alt-Wandervogel, 1914, H. 5, S. 127f., hier S. 127. 1067 Dr. H.: [Rezension zu:] Die deutschen Volksbücher, in: Alt-Wandervogel, 1913, H. 5, S. 107f., hier S. 108. Vgl. schließlich auch Otto de la Chevallerie: [Rezension zu:] Fröhliche Jugend. Ein Volksbuch aus dem Reichtum deutscher Dichtung, in: Führerzeitung, 1919, H. 7/8, S. 132: »Gedruckt ist das Buch in angenehmer Fraktur auf leidlichem Papier ; auch der Einband ist gefällig und sauber ausgeführt. Inhalt und Äußeres fügen sich zu einem harmonischen Ganzen«. 1068 M.[arie] B.[uchhold]: [Rezension zu:] Schwänke aus aller Welt. Für jung und alt herausgegeben von Dr. Oskar Dähnhard, in: Freideutsche Jugend, 1919, H. 2, S. 95. 1069 Vgl. unter anderem Friedrich Wilhelm Fulda: [Rezension zu:] Werner Koehler, Brandenburgische Fahrten. Märkische Bilder. Band 1. Südlicher Teil, 1. Hälfte, in: Zwiespruch, 1922, H. 2, Bücherbord 1, S. 1; Richard Franz Heiling: [Rezension zu:] Johann Wolfgang Goethe, Faust. Eine Tragödie. Hg. vom Volksverband der Bücherfreunde, in: Zwiespruch, 1920, H. 10, o. S.; H. Vs.: [Rezension zu:] Theodor Storm, Immensee; Die Söhne des
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die Neudeutschen Künstlergilden gruppierten und damit ein Großteil der sich der Jugendbewegung zugehörig fühlenden Künstler. Diese nach Tätigkeitsbereichen in Maler-, Schriftsteller- und Musikergilden unterteilten Zusammenschlüsse waren 1919 gegründet worden, um Auswege aus der schwierigen ökonomischen Situation der Nachkriegszeit zu finden. Gemeinsam organisierte Ausstellungen, eine Auftragsvermittlung und gemeinsame Publikationen stellten Versuche zu einer gegenseitigen Hilfe dar.1070 Der Kreis von Personen, die sich in den Künstlergilden organisierten, war wesentlich an der Popularisierung zeitgenössischer Gebrauchskunst in der Jugendbewegung beteiligt, wie sie sich in Deutschland um 1900 in der Kunstgewerbebe- und der Buchkunstbewegung entwickelte.1071 In den künstlerischen Aktivitäten der Jugendbewegung spiegelt sich dies insbesondere in einer regen Begeisterung für Exlibris wieder, aber auch grundsätzlich für jegliche Form der Gebrauchsgraphik von »Postkarten« über »Anzeigen […], Plakate, Vignetten, Randleisten, Illustrationen, Schattenrisse und so weiter«.1072 Jenseits aller praktischen und funktionalen Erwägungen geht es bei der Wertung der Materialität von Büchern, der graphischen Gestaltung und des Senators Hinzelmeier. Aus den Zweifäusterdrucken, in: Zwiespruch, 1919, H. 20, o. S. [es handelt sich hierbei um eine Ausgabe von Erich Matthes]. 1070 Vgl. zur Neudeutschen Künstlergilde unter anderem den programmatischen Aufsatz von Robert Budzinski: Die Künstlergilde und ihre Ziele, in: Zwiespruch, 1919, H. 16, o. S., sowie Max Sidow : Zum Geleit!, in: ders. (Hg.): Frührot. Jahrbuch der Neudeutschen Künstlergilden auf das Jahr 1921, Wolfenbüttel 1921, S. 4. Vgl. außerdem den Zeitzeugenbericht von Wilhelm Geißler : Hoffnung und Erfüllung, in: Kindt (Hg.): Bündische Zeit, S. 1725–1733, v. a. S. 1727–1729 sowie Winfried Mogge: Lebenserneuerung durch den Geist der Jugend. Die Kunst der bürgerlichen Jugendbewegung, in: Willi Bucher, Klaus Pohl (Hg.): Schock und Schöpfung. Jugendästhetik im 20. Jahrhundert, Darmstadt u. a. 1986, S. 420–424, hier S. 423f. 1071 Vgl. zur Geschichte der Buchkunstbewegung Walter Kambartel: Die deutsche »Buchkunst« im Kontext von Kunstgewerbereform und Imperialismus, in: ders. (Hg.): Buchgestaltung in Deutschland 1900–1945, Bielefeld 1987, S. 9–19, sowie Peter Neumann: Buchgestaltung, in: Georg Jäger u. a. (Hg.): Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert. Das Kaiserreich 1870–1918, Teil 1, Frankfurt a. M. 2001, S. 182–196; vgl. zu einzelnen zeitgenössischen verlegerischen Initiativen auf dem Gebiet der Buchkunst und Buchgraphik Annette Hunewinkel, Kerstin Stockhecke: Verlegerische Initiativen zur Buchgestaltung, in: Kambartel (Hg.): Buchgestaltung, S. 25–33. 1072 Sabiene Autsch: Jugendbewegte Kunst? Überlegungen zum Verhältnis von Kunst, Jugendbewegung und Biografie, in: Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung, 1993–98, Bd. 18, S. 317–348, hier S. 336. Das Interesse für Buchgraphik wird auch durch die im Wesentlichen auf Erich Matthes zurückgehende Beteiligung von Wandervögeln an der BUGRA 1914 dokumentiert. Im »Wandervogellandheim«, das als Pavillon auf der Internationalen Ausstellung für Buchgewerbe und Graphik in Leipzig ausgestellt wurde, waren neben Möbeln und anderer Gebrauchskunst und Volkskunstobjekten vornehmlich Bücher und Zeitschriften von Verlagen ausgestellt, die aus der Jugendbewegung kamen oder ihr nahe standen. Vgl. hierzu [Erich Matthes]: Das Landheim BUGRA 1914, o. O., o. J. [Leipzig 1914] sowie Ulbricht: Lebensbücher, S. 135–140.
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buchbinderischen Handwerks eben auch um das Buch als Kunstwerk. Die ausgewerteten Zeitschriftenbeiträge zeigen, dass dieses ästhetische Moment in der Regel sogar stärker wiegt als das der reinen Funktionalität. Erst in den Fällen, in denen Bücher tatsächlich zum Gebrauch auf Wanderungen in Frage kommen, spielt die Frage ihrer materiellen Eignung in die Wertung hinein. Aber auch dann geht es den jugendbewegten Literaturkritikern nicht in erster Linie um eine praxisnahe Gestaltung auf Kosten der Ästhetik, sondern um einen Ausgleich beider Aspekte, wie insbesondere die zitierte Kritik Fischers am WandervogelTagebuch gezeigt hat. Dies lässt sich nicht nur mit dem Einfluss der Kunstgewerbebewegung erklären. Mindestens ebenso wichtig dürfte ein allgemein verbreitetes, bürgerlich-kulturkritisches Distinktionsbedürfnis sein, dass ›Schönheit‹, ›gediegene Ausstattung‹ und ordentliches Handwerk zu den »feinen Unterschieden« (Bourdieu) zählt, die die eigenen Kulturprodukte bereits haptisch und optisch von der populären und industriellen Massenware abhebt.1073 Ebenfalls auf die Erfahrungen und Bedürfnisse des gemeinsamen Gruppenalltags bezieht sich die Wertung von Büchern hinsichtlich ihrer inhaltlichen und stilistischen Eignung zum Vorlesen, sei es auf den Wanderungen, beim Aufenthalt im Landheim oder bei den regelmäßig stattfindenden »Nestabenden«. Noch einmal muss an dieser Stelle betont werden, dass die ausgewerteten Quellen nicht geeignet sind, Aufschlüsse über die Regelmäßigkeit gemeinsamer Lektüre zu geben oder über möglicherweise ritualisierte Praktiken des Vorlesens oder Erzählens.1074 Auch wenn die Texte mitunter auf tatsächliche Erfahrungen schließen lassen, sollen sie im Rahmen der vorliegenden Untersuchung zuvörderst als Anleitungen, Hinweise und Ratschläge für den Gebrauch rezensierter
1073 Vgl. hierzu unter anderem Kaspar Maase: Einleitung: Schund und Schönheit. Ordnungen des Vergnügens um 1900, in: ders., Kaschuba (Hg.): Schund, S. 9–28; vgl. außerdem Anne Feuchter : Domus rustica contra domus aesthetica. Wohnformen der Jugendbewegung als architektonisches Gegenmodell, in: Bucher, Pohl (Hg.): Schock, S. 425–429, hier S. 428, die im Einrichtungsstil der jugendbewegten Landheime einen »Gegensatz zur Repräsentations-Ästhetik der elterlichen Salonwelt« erkennt. Stattdessen habe man auf eine »gemütvolle Zweck-Ästhetik« gesetzt, »nach dem Motto: freundlich, sauber, funktional«. Auch wenn Zweifel angebracht sind, ob sich die elterlichen Häuser und Wohnungen der Wandervögel tatsächlich allerorten an der großbürgerlichen Salonkultur orientiert haben – in der gleichzeitig schönen wie funktionalen Gestaltung des Lebens wie seiner Gebrauchsgüter lässt sich tatsächlich etwas wie ein ästhetischer Habitus der Jugendbewegung erkennen. 1074 Vgl. hierzu allgemein Braungart: Ritual; mit Hinweisen zu ritualisierten Praktiken in der Jugendbewegung ders.: Ästhetischer Katholizismus. Stefan Georges Rituale der Literatur. Tübingen 1997, S. 43–49 und S. 168f. In den Bereich ritualisierten Umgangs mit Literatur gehört auch das Singen, das innerhalb der Gruppenpraktiken der Jugendbewegung einen zentralen Stellenwert einnimmt, in der vorliegenden Studie jedoch nicht untersucht werden konnte; vgl. hierzu aber einführend Lindner : Jugendbewegung, S. 77–123.
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Bücher interpretiert werden, um literaturkritische Praxis und Lektürepraxis nicht durcheinander zu bringen. Die Zuordnungsvoraussetzungen, mittels derer die Wertung von Vorlesebüchern erfolgen sollte, benennt ein anonymer Verfasser in der »Wandervogel Monatsschrift«, wobei er gleichzeitig zu bedenken gibt, dass sich konkrete Buchempfehlungen nur schwerlich aussprechen lassen, da »der Stoff nach dem Alter der Zuhörer, der Stimmung, der Stunde und der Kunst des Vorlesers recht verschieden sein wird. Auch hat jeder, der sich zum Vorlesen bequemt wohl seine besonderen Lieblinge unter den neuen und alten Meistern der Erzählung«.1075
Die Auswahl altersspezifischer Lektüre erfordert seitens des Vorlesers jedenfalls einige Vorbereitung und Sorgfalt, wie die Rezension einer Märchensammlung durch Bruno Lemke zeigt. Ohne ins Detail zu gehen, lobt er den Herausgeber dafür, »den Charakter der Erzählungen nicht abgeschwächt« zu haben, womit er gleichzeitig die Empfehlung verbindet, sich »diese Sachen erst genau anzusehen, ehe man sie jungen Mädchen vorliest«.1076 Gleichzeitig zeigt sich, dass zumindest Lemke auch eine geschlechtsspezifische Auswahl von Vorlesetexten einfordert, wobei in diesem Fall inhaltliche Kriterien ausschlaggebend sind. Vor allem sind es aber formale und stilistische Kriterien, anhand derer die jugendbewegten Literaturkritiker die Eignung einer Publikation zum Vorlesen beurteilen. Dazu gehört zunächst der Umfang eines Textes. Ein Rezensent von Paul Kellers »Grünling« hebt hervor, dass man »es gut an einem Abend schaffen [kann]«.1077 Daneben wird häufig eine gewisse Einfachheit und Schlichtheit im Ausdruck gefordert, die die Handlung leicht nachvollziehbar macht, eine straffe Handlungsführung, Spannung, und auch Humor wird den zur gemeinsamen
1075 Anonym: Romantische Geschichten, in: Wandervogel Monatsschrift, 1912, H. 6, S. 188f., hier S. 188. 1076 [Bruno] L.[emke]: [Rezension zu:] Atlantis I und III. Märchen der Kabylen, in: Freideutsche Jugend, 1921, H. 8, S. 258f.; vgl. hierzu auch die Rezension von Elisabeth Fischer : [Rezension zu:] [Märchen der Weltliteratur], in: Wandervogel Monatsschrift, 1916, H. 1, S. 30, die bezüglich der bei Diederichs erschienenen Märchensammlungen feststellt: »Für Nestabende sind diese Märchenbände eine reiche Fundgrube. Weit nötiger als bei den üblichen Märchenbüchern ist es aber bei diesen Bänden, daß sich der Vorleser die Stücke zuvor aussucht. Es sind viele Märchen darunter, die sich wenig zum Vorlesen eignen. Der Vorleser muß sich auch die unaufdringlich am Schluß des Bandes angebrachten wissenschaftlichen Anmerkungen vorher ansehen«. Ob die mangelnde Eignung zum Vorlesen auf inhaltlichen oder auf stilistischen Aspekten beruht, verrät Fischer allerdings nicht. 1077 Gerhardt Gieso: [Rezension zu:] Paul Keller, Grünling. Eine deutsche Kriegsgeschichte von einem Soldaten, einem Gnomen, einem Schuljungen, einem Hunde und einer Großmutter. Alten und jungen Leuten erzählt, in: Alt-Wandervogel, 1918, H. 11, S. 166.
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Lektüre empfohlenen Büchern gerne attestiert.1078 Vorbild ist in diesem Zusammenhang immer wieder das Märchen: »Sie bieten eine bestimmte Handlung, sie sind nicht weitschweifend, verlieren sich nicht in Nachdenkereien, sind für Jüngere und Ältere verständlich und doch fesselnd. Das sind auch wohl die wichtigsten Dinge, die die anderen Geschichten haben müssen, wenn sie sich leicht erzählen lassen sollen.«1079
Hölken scheint sich bewusst zu sein, dass Erzählungen, denen sich aufgrund ihrer einfachen Erzählstruktur auch dann leicht folgen lässt, wenn die Aufmerksamkeit zum Teil von der Atmosphäre der gemeinsamen Erzählsituation gebunden ist oder alle von einer anstrengenden Wanderung erschöpft sind, die Gefahr bergen, den Intellekt nicht zu beanspruchen und dadurch die Zuhörer langweilen. Es bedarf daher einer spannenden Geschichte, deren Verlauf begierig auf den Ausgang warten lässt und also aller Einfachheit zum Trotz »doch fesselnd« ist. Nun handelt es sich bei Hölkens Aufsatz eigentlich um ein Plädoyer für das freie Erzählen, in dem sogar die Auffassung vertreten wird, dass »Märchen […] kaum vorgelesen werden dürfen«.1080 Dennoch ist anzunehmen, dass dieselben Qualitäten einen Text auch zum Vorlesen geeignet machen. Ihr Einwand gegen das Märchen als Vorlesestoff ist gleichwohl ernst zu nehmen, da das Erzählen von Geschichten in der Jugendbewegung einen besonderen Stellenwert hat. Im Anschluss an die Bemühungen zur Wiederbelebung von Volkslied und Volkstanz1081 sind Mitglieder der Jugendbewegung bestrebt, Märchen nicht nur 1078 Vgl. zum Beispiel F.[ischer]: Hinterm Pflug zur Kriegszeit, S. 157, der die Erzählung beschreibt als »[h]übsch einfach dargestellte, mit Humor geschaute Erlebnisse«. Das Kriterium der sprachlichen Einfachheit könnte in der Rezension von Köppler: Sophie Reinheimer, Von Sonne, Regen, Schnee und Wind, S. 40, zwar auch eine Rolle spielen. Seine Kritik an den verwendeten Fremdwörtern (»Toilette, adieu, direkt, egal«; »Auch die ›Mama‹ hat in einem deutschen Haus nicht einmal ihr Altenteil«) lässt allerdings eher auf grundsätzliche sprachpuristische Bedenken schließen. 1079 Hedwig Hölken: Geschichtenerzählen, in: Wandervogel Monatsschrift, 1916, H. 1, S. 10. Auf die Eignung von Märchen zum Erlernen des freien Erzählens macht auch Georg Kötschau: Heinrich Federer, in: Wandervogel Monatsschrift, 1919, H. 5, S. 148, aufmerksam, der hierbei allerdings anders als Hölken ausschließlich den Erzähler im Blick hat, nicht auch die Zuhörer. 1080 Hölken: Geschichtenerzählen, S. 10. Vgl. zum Verhältnis der Jugendbewegung zum Märchen, zu den Brüdern Grimm und zur Oralität der ›Volkskultur‹ auch Lorenzen: Jugendbewegung. 1081 Vgl. zur Entwicklung der Musikkultur in der Jugendbewegung Franz-Josef Tondorf: Die musikalische Kultur der deutschen Jugendbewegung – ihre Anfänge in Steglitz, in: Ille, Köhler (Hg.): Wandervogel, S. 225–245; zum »Zupfgeigenhansl« und seiner Bedeutung für Selbstverständnis und Ideologie der Jugendbewegung Kaschuba: Volkslied; zu jugendbewegten Formen volkskundlicher Feldforschung Konrad Köstlin: Volkskultur als Argument. Jugendbewegte Expeditionen zu den zerstreuten Deutschen, in: Beate Störtkuhl, Jens Stüben, Tobias Weger (Hg.): Aufbruch und Krise. Das östliche Europa und die
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zu sammeln, sondern ebenso die ihm als zugehörig empfundene Kulturtechnik des Erzählens zu pflegen. Karl Brügmann, dessen wissenschaftliche Bemühungen um das Volkslied im Umfeld des Jenaer Sera-Kreises Christina Niem in einem Aufsatz dargestellt hat,1082 nutzt die Rezension einiger Märchenbücher für einen entsprechenden Appell an die Leser der »Monatsschrift«: »Und wenn wir abends im Stroh lagen, fing nicht der eine oder der andere an zu erzählen, was er von den Bauern gehört hatte, die Geschichten vom tollen Baron oder von Fränsken Essing? Und versuchte nicht mal einer, Märchen nachzuerzählen, unbehindert vom Buch, ganz frei in allen Gebärden; wie anders war das, als wenn einer vorlas! Ihr habt so viele Künste euch erworben und geht damit um, ihr könnt wieder singen und tanzen und zeichnen, knüpft auch die Fäden wieder an, die zu jener in unserer Zeit zu sehr vernachlässigten Kunst des Erzählens, des einfachen gesprochenen Wortes führen.«1083
Das freie Erzählen gilt in der Jugendbewegung als die dem Märchen angemessene Form der Präsentation und Rezeption, wofür die Erkenntnisse der zeitgenössischen Volkskunde ebenso Pate gestanden haben wie Überzeugungen über die Sammeltätigkeit der Brüder Grimm. Als besondere Kunstform jedoch erhält das Erzählen auch einen Eigenwert, dessen spezifische Sinnlichkeit in der Beanspruchung von Stimme, Mimik und Gestik des Vortragenden es sowohl von der stillen Lektüre als auch vom Vorlesen unterscheidet. Wenngleich das Erzählen einen besonderen Status einnimmt, insofern es als besonders stark vom Verschwinden bedrohte Technik wahrgenommen wird, trifft diese Sorge partiell auch auf das Vorlesen zu. In einem bereits zitierten Aufsatz von Friedrich Wilhelm Fulda ist eine gewisse Sentimentalität nicht zu übersehen, wenn er sich erinnert: »Ich kenne eine Familie, deren schönste Stunden waren, wenn alle am SonntagNachmittag die ›Lesestunde‹ vereinigte: Die Mutter las vor, die Schwestern machten Handarbeiten, die Brüder übten sich im Zeichnen, alle hörten zu.«1084
Mal ist es die (bürgerliche) Familie, mal sind es bäuerliche Menschen, in deren Kreis erzählt und vorgelesen wird. Erinnert und wenigstens imaginär reaktiviert wird so genau jene Welt, die bereits in den Vorreden zu den »Kinder- und Hausmärchen« der Brüder Grimm als Ort des Märchens stilisiert wird. Wenn im Wandervogel für die Pflege des Vorlesens und des Erzählens plädiert wird, dann Deutschen nach dem Ersten Weltkrieg, München 2010, S. 509–520; vgl. außerdem Claudia Selheim: Der Wandervogel – eine Quelle der Volkskunde, in: Großmann (Hg.): Aufbruch, S. 92–97, die auch auf die Bedeutung hinweist, die Wilhelm Heinrich Riehl als Vorbild für die populärwissenschaftlich-volkskundlichen Aktivitäten der Jugendbewegung hatte. 1082 Vgl. Niem: Volkslied. 1083 Karl Brügmann: [Sammelrezension zu:] Märchenbücher, in: Wandervogel Monatsschrift, 1913, H. 5, S. 163f., hier S. 164. 1084 Fulda: Vom Lesen, S. 129.
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steht im Hintergrund nicht nur der Wunsch, vom Aussterben bedrohte Kulturtechniken vor dem Untergang zu bewahren, sondern mit ihnen auch jene sentimentalisierten vormodernen Welten in die Moderne hinüberzuretten. Es sind aber keineswegs ausschließlich konservatorische Motive, aufgrund derer in der Jugendbewegung für das Vorlesen als gemeinsame kulturelle Praxis plädiert wird. Mindestens ebenso wichtig sind pragmatische, kommunikative, soziale und ästhetische Gründe, zu deren Erörterung zum Teil erneut auf funktionale Aspekte des Umgangs mit Literatur rekurriert werden muss. In seiner lesehistorischen Studie erinnert Erich Schön an die Lichtknappheit früherer Zeiten, für die es sowohl technische als auch ökonomische Gründe gab und die das Vorlesen auch dann noch am Leben erhielten, als immer mehr Menschen in der Lage waren, selbst ein Buch zu lesen.1085 Dies ist in der Zeit nach 1900 weitgehend hinfällig geworden, wird in der Jugendbewegung aber wieder virulent. Beim flackernden Schein eines Lagerfeuers oder in einer absichtsvoll ›stimmungsvollen‹ Atmosphäre mit Kerzenlicht bedarf es eines deutlichen Satzbildes, um die Buchstaben ohne allzu große Schwierigkeiten zu entziffern. Zugleich lässt sich mit den Lichtverhältnissen pragmatisch eine Rollenverteilung rechtfertigen, die einen einzelnen eine halbwegs gut beleuchtete Position einnehmen lässt, während die anderen sich mit der Rolle des Zuhörers begnügen.1086 Wesentlich relevanter sind demgegenüber aber die sozialen und kommunikativen Aspekte des Vorlesens. Fotos zeigen zwar mitunter jugendbewegte Leser inmitten von Menschen, die anderen Tätigkeiten nachgehen (vgl. Abb. 2).1087 Da bei den Aktivitäten der Jugendbewegung jedoch das Gemeinschaftserlebnis im Mittelpunkt stand, dürfte dies keineswegs die im Literaturkonzept intendierte Rezeptionspraxis gewesen sein, insofern die individuelle Lektüre die Teilnehmer der Unternehmung vereinzelt. Das Vorlesen als kommunikativer Akt hingegen stellt durch die gemeinsame und gleichzeitige Rezeption eine Gemeinschaft her,1088 die außerdem Möglichkeiten zur Anschlusskommunikation oder zu Anschlusshandlun1085 Schön: Verlust, S. 177. 1086 Dies ist mehr noch einer der ganz pragmatischen Gründe für das freie Erzählen, welches sogar in völliger Dunkelheit statthaben kann. Besonders wichtig wird dieser Aspekt dann, wenn kein offenes Licht erlaubt ist, beispielsweise bei einer Übernachtung im Stroh. 1087 Dass den Teilnehmern der gemeinsamen Aktivität durchaus ein Freiraum für die stille Lektüre zugestanden werden konnte, zeigt auch Fritz Willi Schröder : Von unserem Landheim in Mühlenbeck, in: Alt-Wandervogel, 1916, H. 10/11, S. 195f., hier S. 196, der »keine Lust [hat], da unten auf der Wiese mit den andern Wettspiele zu kämpfen« und es sich statt dessen lieber auf einer Bank mit einem Band von Theodor Storms Gedichten gemütlich macht. 1088 Vgl. hierzu Braungart: Katholizismus, S. 155: »Lautes Lesen ist Literatur als sozialer Vollzug, als soziale sprachliche Handlung. […] Lautes Lesen ist eine gemeinschaftliche Praxis, in der die Selbstversenkung im stillen Lesen zurückgenommen ist«.
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Abb. 2: Bundestag des Wandervogel e.V. in Frankfurt an der Oder, 11.–13. April 1914
gen gewährleistet. Darüber hinaus wird in den literaturkritischen Texten wiederholt auf eine Steigerung von Texteffekten im Moment der gemeinsamen Rezeption hingewiesen. Walter Fischer hebt dies in seiner Rezension von Ernst Berghäusers »Pachantenmären« hervor: »Es eignet sich auch zum Vorlesen für fröhliche Stunden. Dann kommen viele lustige Stellen erst recht zur Geltung«.1089 Eine Rolle dürfte nicht nur die Präsentation durch einen talentierten Vorleser oder Erzähler spielen. Vielmehr ist es wahrscheinlich, dass die gemeinsame Rezeption an sich, in diesem Fall besonders das gemeinsame Lachen über die »lustigen Stellen« als entscheidender Aspekt gelten kann, durch die das Vorlesen zur ästhetisch-sozialen Praxis wird. Ob die Vorlesesituationen tatsächlich als Interaktionssituationen angelegt waren oder sich eine Person als Vorleser in eine die Gruppe dominierende Position begeben hat und die Praxis damit dem historisch älteren, patriarchalen Modell der autoritativen Rezeptionssituation entsprach,1090 lässt sich anhand des Quellenmaterials nicht erkennen, dürfte aber auch immer von der konkreten Gegebenheit und den beteiligten Personen abhängig gewesen sein. Sicher ist aber, dass in den Zeitschriften durchaus dazu geraten wird, über das gemeinsam Gelesene zu sprechen und so Anschlusskommunikationen herzustellen,1091 wo nicht sogar von solchen Erlebnissen berichtet wird.1092 Insbesondere die ge1089 Walter Fischer : [Rezension zu:] Ernst Berghäuser, Pachantenmären, in: Wandervogel Monatsschrift, 1914, H. 8, S. 255. 1090 Vgl. zur autoritativen Vorlesesituation Schön: Verlust, v. a. S. 179f.; zu interaktiven Vorlesesituationen ebd., v. a. S. 208–222. 1091 Vgl. hierzu auch die von Neuloh, Zilius: Wandervögel, S. 81 aus den von ihnen durchgeführten Befragungen ehemaliger Mitglieder der Jugendbewegung gewonnene Erkenntnis, »daß sich« – »[v]ielfach […] bezeugt« – »der Lesung ein Gespräch über die Lektüre anschloß«. 1092 Karl Bittel: [Rezension zu:] Aus der Jugendzeit berühmter Männer. Nach Selbstzeugnissen
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Abb. 3: Aus dem Photoalbum des Alt-Wandervogels Berlin, 1910–1914
meinsame Lektüre der Zeitschriften selbst mit ihren Reisebeschreibungen und ihren Grundsatzdiskussionen über das Wesen der Jugendbewegung dürfte zur Stärkung einer kollektiven Identität als Wandervögel, Freideutsche oder Neupfadfinder beigetragen haben.1093 und anderen gleichzeitigen Quellen bearbeitet von Prof. Dr. K.[arl] Brünner [eigtl: Brunner], in: Wandervogel Monatsschrift, 1913, H. 1, S. 30f., hier S. 31, erzählt davon, wie jemand auf einer Wanderung aus Hans Blühers »Wandervogel« vorgelesen habe. Abends im Schlafsack wurde im Anschluss daran über die Geschichte der Jugend nachgedacht: »Da hab ich bis weit in die Nacht hinein dann erzählt von jener Jugend noch weiter vorher. Wie sie so anders trotz allem war, mit uns heute vergleichend betrachtet. So grundverschiedene Verhältnisse (Familie, Schule, Wohnplatz), so andere Sitten, so seltsame Ideale. Keine Bewegung. Keine Mitstrebenden dort noch. Und da schon wird’s anders. Nach und nach. Ich zeichne einen Weg auf durch Jahrzehnte bis zu uns, zur Jugend-Organisation. Eine zusammenhängende Entwicklung bis zum Mündigwerden.« Daraus entwickelte sich Bittel zufolge in der Gruppe der Plan, gemeinsam Jugendgeschichte zu erforschen. 1093 Ein Beispiel hierfür ist die Empfehlung von Paul Schmidt: Wandervogelleben außerhalb der Fahrt, in: Wandervogel Monatsschrift, 1915, H. 9, S. 246: »Überall spielen jetzt die Kleinen und die Neugeworbenen die Hauptrolle. Auf dem Nestabend kann ihnen ausgezeichnet beigebracht werden, was der Wandervogel ist. Man liest ihnen etwas vor, am Besten aus alten gelben Heften [d. h., der »Wandervogel Monatsschrift«, M.L.], man erzählt ihnen von schönen Fahrten und Erlebnissen«. Die unmittelbare Relevanz dieses Ratschlags ergibt sich aus der Situation der jugendbewegten Gruppen während des Krieges. Ein Großteil der älteren, männlichen Wandervögel befand sich im Kriegseinsatz. Da sie selbst den neu Hinzugekommenen nicht mehr von »früher« erzählen und damit eine für die gesamte Bewegung integrative Funktion übernehmen konnten, mussten ihre schriftlichen Zeugnisse diese Funktion erfüllen.
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Der »Landfahrer« veröffentlicht 1918 eine unkommentierte, alphabetisch nach Autoren sortierte Liste von »Bücher[n] zum Vorlesen im Nestabend«,1094 deren Titel sich in vier Gruppen einordnen lassen. Zunächst findet sich die spezifische Wandervogelliteratur, unter anderem Ernst Berghäusers »Pachantenmären«, Hans Lißners »Fahrtenspiegel« und Hugo Erich Schomburgs »Der Wandervogel, seine Freunde und Gegner«, Bücher also, die wie die Zeitschriften zur Konstituierung einer jugendbewegten Identität gedient haben dürften. Dann finden sich Titel, die als typisch für die weibliche Jugendbewegung gelten können: Lely Kempins »Die heilige Insel«, Getrud Prellwitz’ Aufklärungsbuch »Vom Wunder des Lebens« und Paul Schultze-Naumburgs »Kultur des weiblichen Körpers«. Bei Prellwitz und Kempin handelt sich genau um jene Autorinnen, denen Sabine Andresen eine initiierende oder beeinflussende Wirkung sowohl auf »bewußte als auch latente Identitätsbildungsprozesse« zugeschrieben hat.1095 Die dritte Gruppe machen Texte aus, die – wie die Werke von Cäsar Flaischlen – zum zeitgenössischen Kanon bildungsbürgerlicher Literatur gehören oder – wie Wilhelm Kotzdes »Frau Harke« – im weitesten Sinn zur Heimatliteratur zu rechnen sind. Schließlich finden sich als vierte Gruppe Texte, deren Protagonisten – wie im Kapitel Literatur und Identität gezeigt – über die weiblichen Selbstfindungsprozesse hinaus einen Beitrag zur individuellen Identitätsfindung leisten sollten: Hermann Poperts »Helmut Harringa«, Schöllenbachs »Wilm Heinrich Berthold«, aber auch Friedrich Lienhards »Der Spielmann«. Diese Liste – sie ist, wie bereits erwähnt, ohne kommentierende Erläuterungen publiziert – bietet zwar keine expliziten Wertungen hinsichtlich der Frage, warum gerade diese Titel besonders gut zum Vorlesen geeignet sind. Sicherlich handelt es sich bei der Zusammenstellung nicht um eine irgendwie außergewöhnliche Auswahl, folgt sie doch im Großen und Ganzen einem Kanon jugendbewegter, konservativ bis völkischer Literatur. Doch angesichts der vorerwähnten Zuordnungsvoraussetzungen, aufgrund derer eigentlich eine kurze, humorvolle, einfach erzählte Geschichte bevorzugt wird, drängt sich die Frage auf, warum gerade diese Titel aufgelistet werden. Ihre Eignung als Vorlesebücher ergibt sich aus der Möglichkeit, gemeinsam Anschlusskommunikationen und Anschlusshandlungen zu entwickeln, die beispielsweise bei den sonst so beliebten Märchen aufgrund ihrer Realitätsferne 1094 Anonym: Bücher zum Vorlesen im Nestabend, in: Landfahrer, 1918, H. 5, S. 15f. 1095 Andresen: Mädchen und Frauen, S. 152. Vgl. zur »literarisch imaginierte[n] Mädchenjugend« allgemein ebd., S. 152–157. Vgl. zu Gertrud Prellwitz, insbesondere ihrer »Drude«-Trilogie, und Lely Kempins »Insel«-Büchern und ihrem Einfluss auf die (weibliche) Jugendbewegung dies.: »Lebt heiligen Vorfrühling, Kinder!« Mädchenjugend und Natur in der bürgerlichen Jugendbewegung, in: Eckart Liebau, Helga Peskoller, Christoph Wulff (Hg.): Natur. Pädagogisch-anthropologische Perspektiven, Weinheim u. a. 2003, S. 112–126, v. a. S. 113–117 und S. 124.
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und schwierigeren Referentialisierbarkeit nicht derart leicht herzustellen sind.1096 Die hier genannten Bücher sind hingegen gekennzeichnet durch eine unmittelbare lebensweltliche Relevanz, sei es durch eine spezielle Deutung der Jugendbewegung, durch die Darstellung des Wanderns oder einzelner Landschaften, anhand derer sich neue eigene Fahrten imaginieren und planen lassen, sei es durch die Behandlung allgemeiner Identitätsthemen, der Thematisierung weiblicher Identitätsentwürfe oder (weiblicher) Sexualität. Diskussionen, die sich an die gemeinsame Lektüre anschließen, können einen entscheidenden Beitrag zur Konsensbildung nicht nur über den Textsinn, sondern vielmehr noch über die gemeinsame Gruppenidentität schaffen. Durch die Rezeption in der Gruppe eröffnet sich »eine Veränderung des Erfahrungshorizonts […] Diese Veränderung macht Miteinander-Reden möglich […], insofern sie Gesprächsstoff schafft. Sie macht Miteinander-Reden aber auch notwendig, weil […] sichergestellt werden muß, daß sich nicht literarische Erfahrungen des einzelnen durch die Subjektivität seiner Sinnkonstitution aus dem Text zu einem divergierenden Erfahrungshintergrund ausbilden«.1097 Gerade die gemeinsame Lektüre und die Anschlusshandlungen wären es also, die Literatur in der Jugendbewegung wirksam werden lassen im Hinblick auf geteilte Identitäten,1098 was die sorgfältige Auswahl literarischer Texte umso wichtiger macht.1099 Hinzu kommt, dass die Lektüre literarischer Texte in der Jugendbewegung als potentiell gefährdende Beschäftigung gilt. Das Vorlesen und das Gespräch über das Gehörte
1096 Vgl. dazu auch Florian Huber : Durch Lesen sich selbst verstehen. Zum Verhältnis von Literatur und Identitätsbildung, Bielefeld 2008, S. 197, der eine »Realitätsrepräsentativität« von Texten als Bedingung für eine »identitätsrelevante Passung zwischen Literatur und Biographie« des Lesers erkennt. 1097 Schön: Verlust, S. 201. 1098 Vgl. hierzu auch Anonym: Laut lesen!, in: Junge Menschen, 1920, H. 9, S. 105, wo die Forderung erhoben wird: »… Wer seine Jugend edel ausfüllen will, der führe in seine Abendzeit planmäßig eine Stunde ein, in der er anderen vorliest! Laut lesen – das baut Brücken von Seele zu Seele, das schafft innere Gemeinsamkeiten […]«. Das gemeinschaftliche Erlebnis des Vorlesens und Zuhörens gilt hier geradezu als Bedingung für die Konstitution einer Gemeinschaft. 1099 Vgl. zu diesem Aspekt gemeinsamer Lektüre in der jugendbewegten Gruppe auch schon Andresen: Mädchen und Frauen, S. 191f. Angesichts der potentiellen Relevanz gemeinsamer Lektürepraxis erscheint eine praxeologische Untersuchung jugendbewegten Rezeptionsverhaltens umso drängender. Was Wolfgang Braungart: Ritual, S. 199, in Bezug auf Dichterlesungen geschrieben hat, gilt wenigstens in Ansätzen für jegliche Form des lauten Lesens in sozialen Gruppen: »Sie [die Lesungen, M.L.] sind vormoderne soziale Distributionsformen von Literatur. Sie entlassen das literarische Werk nicht unkontrolliert in den anonymen Markt und den Leser nicht in die individuelle Lektüre, die ihn wiederum frei machen könnte, sich der rituellen Lektüre zu verweigern, abzuschweifen, sich dem Spiel der Bedeutungen hinzugeben. Das gesprochene Wort ist erlebtes, gültiges Wort«.
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können so als Versuche zur sozialen Bändigung der Gefahren des Lesens gelten.1100 Die gemeinsame, laute Lektüre gewinnt in der Zeit um und nach 1900 auch über die Jugendbewegung hinaus an Bedeutung. Dies gilt sowohl für kleine Gruppen wie den George-Kreis1101 als auch für die zeitgenössische Pädagogik. Erziehungsratgeber für Eltern plädieren für das Vorlesen in der Familie, um durch den »Erlebnischarakter« sowohl die »literar-ästhetische Erziehung wie das Zusammengehörigkeitsgefühl und die Verbundenheit der Familienmitglieder untereinander [zu unterstützen]«,1102 und die Kunsterziehungsbewegung entdeckt im gelungenen Vortrag einer Dichtung das beste Mittel zu ihrer didaktischen Vermittlung und ihrem Verständnis.1103 In diese Tendenzen lassen sich einzelne Äußerungen aus der Jugendbewegung einreihen. Ein anonymer Verfasser tritt in den »Jungen Menschen« mit der titelgebenden Aufforderung »Laut lesen!« an die Abonnenten der Zeitschrift heran: »Wir alle sind schlechte Leser geworden, weil wir nur mehr mit den Augen lesen. Alle Schönheit des Wortes, alle Kraft der Sprache aber will zum Ohr dringen. Einer der hauptsächlichsten Gründe, weshalb das Zeitungsdeutsch so verderblich wirkt, ist der, daß es nur für das Auge bestimmt ist. Zugegeben: Die Zeitungen sind nötig, das reine Augenlesen ist unerläßlich. Kunst aber ist anspruchsvoller als Zeitungsweisheit. Wer ein Gedicht laut liest, wird es nie ganz vergessen. Sinnlicher Wohllaut, Melodie der Sprache, Kunst des Aufbaues wollen nicht nur mit der Vernunft, sondern auch mit dem Ohr erfaßt werden. Und nicht nur Gedichte! Auch die gute, gediegene, sinn- und kraftreiche Prosa will laut gelesen sein! Wie viel verdankt die deutsche Literatur dem protestantischen Hause, in dem die Bibel allabendlich laut wurde! Die Kindheitseindrücke sind auch hier entscheidend gewesen, von Gotthold Ephraim Lessing bis zu Friedrich Nietzsche. Heut’ aber sitzen die Menschen abends um die Lampe und lesen den ›Generalanzeiger‹. Die bilderreichste Dichtung der Menschheit ward ersetzt durch das Geschwätz der Lokalreporter!«1104
Trotz der historischen Reminiszenzen zielt der Verfasser nicht auf die Belebung einer volkskulturellen Technik um ihrer selbst willen, wenngleich eine kulturkritisch-sentimentale Note nicht zu übersehen ist. Das Vorlesen gilt ihm vielmehr als Schule des Stils. Erst durch die laute Lektüre lasse sich der ganze Reichtum der Sprache erkennen, der nicht nur in ihrer kommunikativen, informationsvermittelnden Funktion liege, sondern mindestens gleichberechtigt 1100 Vgl. hierzu ebenfalls bereits Andresen: Mädchen und Frauen, S. 192. 1101 Vgl. Braungart: Katholizismus, v. a. S. 154–175. 1102 Susanne Becker : Kaiserzeit. Kultivierung der Kommunikation: Familienkulturen und familiale Lesekulturen um 1900, in: Bettina Hurrelmann, Susanne Becker, Irmgard NickelBacon u. a. (Hg:): Lesekindheiten. Familie und Lesesituation im historischen Wandel, Weinheim u. a. 2006, S. 171–291, hier S. 229. 1103 Vgl. Frank 1973: Geschichte des Deutschunterrichts, S. 345–352. 1104 Anonym: Laut lesen, S. 105.
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in ihrem Klang, der als Träger der expressiven Bedeutung literarischer Texte beschrieben wird. Das laute Lesen dient somit als entscheidende Bedingung zu ihrem vollen Verständnis als Kunst. Hermann Buddensieg, Mitglied des Jung-Wandervogel und nachmals als Schriftsteller und Übersetzer tätig, lässt in einem in der »Freideutschen Jugend« publizierten Aufsatz über »Hölderlin und die moderne Lyrik« ganz ähnliche Vorstellungen erkennen, indem auch er einen engen Zusammenhang zwischen der Ästhetik eines Textes, seinem Verständnis und der lauten Lektüre herstellt und dabei ebenfalls zwischen der expressiven und der informativen Funktion von Sprache unterscheidet. Gleichzeitig scheint der Ansatz bei ihm deutlich radikalisiert, indem er ins Religiöse transponiert wird.1105 Buddensieg beschreibt Hölderlins Lyrik als »Gedichte, die ihrer rhythmischen Architektonik, nicht nur der ›fabula docet‹ nach erfaßt sein wollen«.1106 Es geht ihm um mehr als nur eine Hilfestellung zum Verständnis der Gedichte Hölderlins. Vor den Augen seiner Leser entwickelt Buddensieg einen sprachphilosophischen Ansatz, der auf das Verständnis jeglicher Lyrik abzielt: »Wie läßt Letztes sich in Worte, in Bilder, in Töne bannen, ausdrücken, exprim[i]eren? Immer wieder schickt die Sprache – von den Menschen verstanden bisher ihrem Wesen, ihren Möglichkeiten nach aus einem Bedürfnis nach Mitteilung, doch geboren: aus dem inneren Drang, durch Klänge Gefühle zum Ausdruck zu bringen – das Wort vor wie gegen einen Feind, mit dem sie in stetem Ringen liegt.«1107
Unterschiedliche Traditionslinien kommen hier ins Spiel, insbesondere die für die Zeit um 1900 in Literatur und Philosophie vielfach bezeugte Sprachskepsis,1108 eine Aneignung taoistischer Lehren und die Rezeption des Spätexpres1105 Dass Buddensieg seine Thesen gerade an Hölderlin entwickelt, ist in diesem Zusammenhang zumindest ein signifikanter Zufall, waren es doch gerade Stefan George und sein Kreis, die maßgeblich an der modernen Wiederentdeckung Hölderlins beteiligt waren. Vgl. zur Hölderlin-Rezeption des George-Kreises unter anderem Henning Bothe: ›Ein Zeichen sind wir, deutungslos‹. Die Rezeption Hölderlins von ihren Anfängen bis zu Stefan George, Stuttgart 1992, S. 115–220 und Thomas Karlauf: Stefan George. Die Entdeckung des Charisma, München 2007, S. 406–409. Ebenso bemerkenswert ist zugleich, dass Buddensieg mit keinem Wort auf Stefan George eingeht. Für Hermann Buddensieg: Hölderlin und die moderne Lyrik, in: Freideutsche Jugend, 1919, H. 10, S. 410–415, hier S. 412, sind die zeitgenössischen Nachfolger Hölderlins »Rilke, Kasack, Heynicke, Thylmann, Trakl, Runge« 1106 Buddensieg: Hölderlin, S. 411. Er greift damit wörtlich auf die Vorrede zum Hyperion zurück: »Ich verspräche gerne diesem Buche die Liebe der Deutschen. Aber ich fürchte, die einen werden es lesen, wie ein Kompendium, und um das fabula docet sich zu sehr bekümmern, indes die andern gar zu leicht es nehmen, und beide Teile verstehen es nicht« (Friedrich Hölderlin: Hyperion oder Der Eremit in Griechenland, Frankfurt a. M. 1979, S. 9). 1107 Buddensieg: Hölderlin, S. 410. 1108 In Buddensiegs Aufsatz wird diese Verbindung durch zwei Zitate aus Gedichten Rilkes
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sionismus. Dies geschieht vor dem Hintergrund jener zuvor benannten Strömungen in der zeitgenössischen Pädagogik, ohne dass deren Einfluss allerdings explizit zu erkennen wäre.1109 Fluchtpunkt all dieser Ansätze ist in Buddensiegs Aufsatz eine Aufwertung des Gefühls gegenüber dem Intellekt, in deren Folge Literatur, vor allem Lyrik, als Medium einer emotionalen, irrationalen Form der Erkenntnis wahrgenommen wird. In ihrer Rezeption vollzieht sich ein mystisches Erlebnis der »Brüderlichkeit« und des »Göttlichen«, dazu angetan, die »welt- und selbstfeindliche Despotie des Intellektes« zu überwinden.1110 Das quasireligiöse Erlebnis der Lyrik bedarf allerdings einer angemessenen Rezeptionsform, des lauten Lesens, das einer auf das Verstehen der Worte, ihrer Bedeutung ausgerichteten stillen, individuellen Lektüre gegenübersteht: »So manches Lied von diesen Dichtern, das unbegriffen war bisher : mit einem Male nimmt es uns in seine sanften Arme, verfolgt uns auf unseren einsamen Wegen. Dann ist’s, als ob ein heimlicher Klang uns durchströmt, ein Auf- und Niederrauschen der dionysischen Woge des Rhythmus – nicht Worte mehr sind’s, die haben wir schon überstanden –, ganz Musik, ganz Empfindung, ganz Seele. […] Wer hier nicht Sinn hat für klangliche Offenbarungen, wer diese Kunst ›verstehen‹ will, noch Worte der Erläuterung braucht, geh still beiseite und störe die Lauschenden nicht. Ihm wird solche Schönheit ewig verhüllt bleiben: er halte sich an das Gewohnte.«1111
Nicht nur auf die Lyrik Hölderlins, sondern auch auf viele der modernen Autoren beziehen sich Buddensiegs Anweisungen zu ihrem Vortrag: »Mit dunkler, schwebender Stimme wollen solche Verse gesprochen sein, daß ihre Melodie zum Sang erblüht, den Sprecher selbst in einen Rausch versetzend, der auch die Seele des Hörenden ergreift.«1112
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kenntlich. Es handelt sich um drei Verse aus dem Gedicht »Oft fühl ich in scheuen Schauern« und um Verse aus dem Gedicht »Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort«, die beide Teil des Zyklus der »Gebete der Mädchen zu Maria« in den »Frühen Gedichten« sind. Die Positionen Philipp Wackernagels und Rudolf von Raumers aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, in deren Traditionslinie sich um 1900 die Kunsterziehungsbewegung stellt, paraphrasiert Frank: Geschichte des Deutschunterrichts, S. 307: »Dichtung ist […] nichts Erdachtes und Gemachtes, dessen Verständnis sorgsame Beachtung und Nachdenken erfordert; Dichtung ist Kundgabe einer höheren Wirklichkeit durch die Stimme Begnadeter. Sie erheischt Hingabe, Öffnung der Seele, Andacht. Wer über sie reflektiert, zerstört ihren heiligen Zauber.« Vgl. hierzu grundsätzlich ebd., S. 300–310. Buddensieg: Hölderlin, S. 417. Ebd., S. 412. Buddensieg spricht es nicht aus, doch macht sich in der Wortwahl dieser Passage, der Betonung der Musikalität von Sprache und der Notwendigkeit eines assoziativen Verständnisses von Dichtung und der Verknüpfung von Kunst, »Empfindung« und »Seele« auch der Einfluss symbolistischer Poetik bemerkbar ; vgl. hierzu grundsätzlich Gregor Strein: Art. Symbolismus, in: Dieter Burdorf, Christoph Fasbender, Burkhard Moennighoff (Hg.): Metzler Lexikon Literatur. Begriffe und Definitionen, Stuttgart u. a. 2007, S. 745f. Buddensieg: Hölderlin, S. 411.
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Wertung von Literatur
Ziel der Rezeption ist kein Verstehen durch Interpretation, sondern der durch den Klang erfahrene Rauschzustand, der in der Gemeinschaft von Vortragendem und Hörendem jene mystische Erfahrung von »Brüderlichkeit« ermöglicht, die Buddensieg zufolge die Lyrik Hölderlins, Rilkes, Trakls und anderer intendiert. Mit der Märchenseligkeit des Wandervogels hat das nichts mehr gemein. Es geht Buddensieg nicht um die Konservierung alter Volkstraditionen, und ebenso wenig um die Auswahl leicht zu verstehender Erzählstücke, die die ruhigen Stunden auf den gemeinsamen Wanderungen zu füllen vermöchten. Begründung für die Lektürepraktiken des lauten Lesens und des Vorlesens differieren bei ihm entscheidend, womit gleichzeitig die Wertung von Literatur eine andere ist. Die Auswahl von Literatur folgt bei ihm einer Wirkungsästhetik, die das entscheidende poetische Mittel im Klang des sprachlichen Materials erkennt.1113 Gemeinsam ist den Ansätzen zur Wiederbelebung einer ›Kunst des Erzählens‹ in der Jugendbewegung jedoch das Bestreben, die schriftliche, literarische Kultur in die Oralität der Gemeinschaft zurückzuführen, wofür es, wie gesehen, ebenso funktionale wie kulturkritische und poetologische Aspekte gibt.
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Literatur und Politik – Die Diskussion um »Tendenzliteratur«
Der größte kommerzielle Erfolg des literarischen Antisemitismus gehörte zum Verlagsprogramm von Erich Matthes. Seit 1918 erschien bei ihm Artur Dinters »Die Sünde wider das Blut« und erreichte bis 1921 eine Auflage von 200.000 Exemplaren.1114 Dinters Roman ist nicht nur inhaltlich, sondern auch ästhetisch eine Zumutung und hätte es schon seinerzeit verdient gehabt, sowohl unter das Verdikt des Schmutzes als auch des Schundes zu fallen. Die Zeitgenossen sahen es angesichts der Auflagenzahlen anders, so dass der Bestseller bis heute als wichtiges Dokument in der Entstehungsgeschichte des modernen Rasseantisemitismus gelten muss. Auf die Handlung soll hier nicht näher eingegangen werden. Es genügt der Hinweis, dass das »Neue, Wirkungs- und Verhängnisvolle des Romans […] darin zu sehen ist, daß sich auf dem imaginierten sexuellen 1113 Gegen Buddensieg wäre allerdings der Einwand zu formulieren, dass seine Argumentation auf einer semantischen Interpretation der ausgewählten lyrischen Texte beruht, nicht auf ihrem Sprachklang. 1114 Vgl. zur Publikationsgeschichte Günter Hartung: Artur Dinter, Erfolgsautor des frühen Nationalsozialismus, in: ders.: Deutschfaschistische Literatur und Ästhetik. Gesammelte Schriften, Leipzig 2001, S. 99–124, v. a. S. 114f., sowie Uwe Hirschauer : Artur Dinter – der antisemitische Spiritist, in: Rolf Düsterberg (Hg.): Dichter für das »Dritte Reich«. Biografische Studien zum Verhältnis von Literatur und Ideologie, Bielefeld 2009, S. 49–73, v. a. S. 56–59.
Literatur und Politik – Die Diskussion um »Tendenzliteratur«
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Feld die Sozialdemagogie ständig mit vorgespiegelter Naturwissenschaft, angeblicher Empirie vereinte und verschränkte«.1115 Es handelt sich mithin um einen sehr besonderen Fall dessen, was Jürgen Link als Interdiskursivität der Literatur beschrieben hat1116 : Um den Versuch, die verschiedenen rassistischen und antisemitischen Spezialdiskurse in einer demagogischen Schauergeschichte zu vereinen. Die Rezeption des Romans in der jugendbewegten Literaturkritik war durchaus ambivalent, was selbst für die völkischen und antisemitischen Autoren der »Führerzeitung« gilt. In einer Rezension des »Zweckroman[s]« in der »Führerzeitung« wägt Dankwart Gerlach das Für und Wider der Wertung des Romans ab: »Wer vorher wahre Dichtung las, dem wird hier vieles wehtun, es sind auch im Aufbau Stellen, die einer literarisch kritischen Betrachtung kaum standhalten«. Dennoch erklärt er sich mit der Intention des Verfassers und der Wirkung des Romans vollkommen einverstanden, sei es Dinter doch »immerhin […] gelungen, aus heißem Herzen für sein deutsches Volk ein Buch zu schaffen, das den Leser spannend führt und das er tief erschüttert und gedanklich bereichert aus der Hand legt«. Zweifel bleiben allerdings bei ihm bestehen, ob es nicht »vielleicht ein literarisch unmögliches Unterfangen [ist], soviel Zweck- und Gedankenlast einem Romane aufzubürden, und wir würden besser geheilt bei homöopathischer Behandlung […] aber ich verstehe wohl des Schreibers Not, in dieser schweren Zeit alles in dieses eine Gefäß hineinzustopfen«.1117 1115 Hartung: Artur Dinter, S. 119. Tatsächlich bedient sich Dinter nicht nur zahlreicher Erzählerkommentare, die die Stimme der rassistischen Wissenschaft einnehmen, sondern auch eines umfangreichen Anmerkungsapparates am Ende des Romans, der die Handlung mit den Erkenntnissen der Rassetheorie und der Religionsgeschichte zu untermauern sucht. Vgl. zur sexualisierten Komponente der Handlung vor allem Gerhard Henschel: Neidgeschrei. Antisemitismus und Sexualität, Hamburg 2008, S. 25–46. In satirischer Verkürzung und Zuspitzung vermittelt eine Parodie Hans Reimanns einen Eindruck der Handlung, die dieser 1921 unter dem Pseudonym Artur Sünder unter dem Titel »Die Dinte wider das Blut« veröffentlichte. 1116 Vgl. v. a. Jürgen Link: Literaturanalyse als Interdiskursanalyse. Am Beispiel des Ursprungs literarischer Symbolik in der Kollektivsymbolik, in: Jürgen Fohrmann, Harro MüllerMichaels (Hg.): Diskurstheorien und Literaturwissenschaft, Frankfurt a. M. 1988, S. 284– 307. Wenn Link ebd., S. 300f. die Feststellung trifft, dass Literatur bevorzugt ambivalentes Material der verschiedenen Spezialdiskurse aufgreift und darum bemüht ist, deren Ambivalenz noch zu steigern, zeigt sich daran einmal mehr die einseitige Orientierung ambitionierter literaturwissenschaftlicher Entwürfe an avantgardistischer Literatur. In einem Fall wie dem Dinters geht es dem Verfasser vielmehr darum, Ambivalenzen abzubauen und die Romanhandlung als eindeutigen Interdiskurs zu gestalten. 1117 Dankwart Gerlach: [Rezension zu:] Artur Dinter, Die Sünde wider das Blut, in: Führerzeitung, 1918, H. 10/11, S. 178. Implizit scheint hier erneut die topische Skepsis gegenüber dem Nutzen der Literatur auf, indem Gerlach suggeriert, dass Texte ohne ausdrückliche ›Tendenz‹ lediglich zur Befriedigung eines Genusses geeignet wären.
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Wertung von Literatur
Gerlach bewegt sich in seiner Rezension zwischen den Polen einer heteronomen und einer autonomen Wertung des Romans, einer politischen Wertung, die die Zweckhaftigkeit von Literatur legitimiert und einer an einem nicht näher spezifizierten Ideal »wahrer Dichtung« orientierten ästhetischen Wertung, der die künstlerische Leistung als entscheidendes Kriterium gilt. Von dieser Ambivalenz der Wertung zeugt auch noch seine abschließende Leseempfehlung: »Jedenfalls, wer mehr als seinen Genuß sucht, wer sein Volk liebt, sollte dies Buch lesen!«1118 Der Appell an patriotische Gesinnung und völkisches Verantwortungsgefühl weckt zwar den Eindruck, dass die Lektüre Pflicht für jeden Gleichgesinnten sei, doch bleibt die Skepsis gegenüber der literarischen Qualität auch hier noch sichtbar. Eher vom Pflichtgefühl des Rezensenten, eine Neuerscheinung besprechen zu müssen, als vom Pflichtgefühl des Parteigängers zeugt die Besprechung von Kurd Kishauer in der Zeitschrift des Alt-Wandervogels, die sichtbar um Sachlichkeit bemüht ist: »Es ist ein Roman, der die Rassenfrage behandelt. Das Buch will ein Musterbeispiel für die Gefahren der Mischehen zwischen Ariern und Semiten geben. Dinter sucht nachzuweisen, daß die semitische Rasse minderwertig ist. Wer irgendwelche künstlerischen Feinheiten sucht (Stil usw.), der greife nicht zu diesem Buch. Auch mit dem Inhalt wird sich wohl nicht jeder zufrieden geben.«1119
Kishauer zeigt sich deutlich distanzierter als Gerlach, indem er sich einer Wertung der Thesen des Romans enthält. Auch er eröffnet aber eine Differenzierung zwischen der weltanschaulichen Komponente des Romans – deren Beurteilung er den Lesern selbst überlässt – und der ästhetischen Seite, die er aufgrund ihrer Minderwertigkeit für indiskutabel hält.1120 Die Frage der Gewichtung heteronomer axiologischer Werte – moralischer, politischer, religiöser, ideologischer, politischer usw. – und formal-ästhetischer Wertungsmaßstäbe1121 gehört zu den grundsätzlichen Problemen der Literaturkritik, was sich sowohl in zeitgenössischen Periodika1122 nachweisen lässt als auch im gegenwärtigen Rezensionswesen1123. Damit rücken Aspekte in den Mittelpunkt der Untersuchung, die bereits 1118 Ebd. 1119 Kurd Kishauer : [Rezension zu:] Artur Dinter, Die Sünde wider das Blut, in: Alt-Wandervogel, 1919, H. 5, S. 71. 1120 Er deutet damit gleichzeitig mögliche Unterschiede in den Rezeptionsinteressen an. Ein schlechter Stil heißt nicht, dass sich das Buch nicht aus anderen denn ästhetischen Gründen lesen ließe. 1121 Vgl. zu dieser Unterscheidung grundsätzlich Heydebrand, Winko: Wertung, S. 111–131 sowie, in historischer Perspektive, ebd., S. 134–162. 1122 Vgl. unter anderem Schneider : Literaturkonzeptionen, v. a. S. 459f. 1123 Vgl. Buck: Literatur.
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mehrfach angerissen, jedoch bislang nicht eingehend analysiert worden sind. Die Auseinandersetzung um sogenannte »Tendenzliteratur« und »Zweckliteratur« führt gleichzeitig zum Kern der bisherigen Forschungsliteratur zum Rezeptionsverhalten der Jugendbewegung, die sich ja vorwiegend auf solche Texte konzentriert hat und dabei von einer nicht nur durchweg positiven Aufnahme, sondern auch von einer lediglich ideologiegeleiteten Rezeption ausgegangen ist. Eine ausschließlich ideologiegeleitete Wertung von Literatur findet sich in der Jugendbewegung insbesondere innerhalb ihres völkischen Flügels. Die Werturteile ihrer ›erwachsenen Paten‹ hat Oliver Pfohlmann dahingehend analysiert, dass sie »bestimmt [werden] vom Gegensatz zwischen (Groß-)Stadt und Land, ›Asphalt‹ und ›Scholle‹. Gegenüber dem ›entwurzelten‹ Großstadtleben werden die Bindungen an Familie und Dorfgemeinschaft idealisiert, von der eine volksnahe Heimatkunst, eine Dichtung von ›Blut und Boden‹ künden soll«.1124 Darin folgt sie den Kategorien der Heimatliteratur, wo beide Bewegungen nicht sowieso ineinander aufgehen. Dort, wo innerhalb und außerhalb der Jugendbewegung antisemitische Überzeugungen sich verfestigen, radikalisieren und zur Grundlage eines geschlossenen Weltbildes werden, wird darüber hinaus jedoch mehr und mehr die rassische Zugehörigkeit zum alles entscheidenden Kriterium der Literaturkritik. Prominentestes Beispiel für diese Entwicklung jenseits der Jugendbewegung ist das literaturhistorische und literaturkritische Werk von Adolf Bartels, bei dem Literaturkritik »auf eine simple Antinomie [reduziert wird], die nur noch das Unterscheidungsmerkmal ›arisch‹ versus ›semitisch‹ kennt«:1125 »Aufzählungen jüdischer Autoren oder jüdischer Vorfahren werden im Laufe der einzelnen Auflagen der diversen literaturgeschichtlichen Schriften Bartels’ immer häufiger, die Zuordnung eines Autors zur Kategorie ›jüdisch‹ bzw. ›nicht jüdisch‹ entscheidet über die Qualität der literarischen Werke, bis im Jahre 1921 die Ergänzung zur 10. Auflage seines Buches Die deutsche Dichtung der Gegenwart unter dem Titel Die Jüngsten den Charakter einer Namensliste mit Verzeichnis der Konfessionszugehörigkeit der angeführten Autoren annimmt.«1126
Mit einem Ausdruck Bernhard Giesens lässt sich dieses Phänomen als Primordialisierung der Literaturkritik beschreiben. Giesen grenzt primordiale Codes kollektiver Identität von traditionellen und von universalistischen Formen der 1124 Pfohlmann: Literaturkritik, S. 109. Vgl. zur völkischen Literaturkritik auch Russell A. Berman: Literaturkritik zwischen Reichsgründung und 1933, in: Hohendahl (Hg.): Literaturkritik, S. 205–274, hier S. 255–261; Constanze Fliedl: Come here, good dog. Literaturkritik der Jahrhundertwende, in: Schmidt-Dengler, Streitler (Hg.): Literaturkritik, S. 57–77, hier S. 70–75; Hein: Völkische Kunstkritik. 1125 Stephan Krass: Der Rezensionsautomat. Kleine Betriebsanleitung für Kritiker und Leser, München u. a., S. 77. 1126 Schumann: Völkische Tendenzen, S. 862.
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Vergemeinschaftung ab. In ihnen wird »die grundlegende Differenz zwischen uns und den anderen an ursprüngliche und scheinbar unveränderbare Unterscheidungen [gebunden], die wir als gegeben betrachten und von der Veränderung durch Diskurs, Tausch und Wahl ausnehmen«.1127 Eine Form primordialer Codierung von Gemeinschaft ist jene bereits im Zusammenhang mit der Heimatliteratur vorgestellte ethnische Konstruktion des »Volkes«, dem der rassistische Antisemitismus ein primordiales Feindbild gegenüberstellt. Dem in der ›Scholle‹ verwurzelten deutschen Bauerntum korrespondiert mit der Verbreitung und Popularisierung des Rassismus mehr und mehr die Figur des heimatlosen Juden, in der Modernitätsängste eine symbolische Einheit bilden.1128 Die Wertung von Literatur anhand primordialer Identitätskategorien kann in der Jugendbewegung sowohl positiv als auch negativ erfolgen, wobei beide Formen innerhalb des Wertsystems aufeinander bezogen bleiben. Beispielhaft für die positive Form primordialer Wertung ist eine vermutlich von Walter Fischer verfasste Rezension des im Verlag Fritz Heyder publizierten Kalenders »Kunst und Leben«: »Ein Ausdruck deutschen Wesens soll er sein, und ist er. Deutsche Menschen, deutsche Arbeit, deutsche Art und Sitte, deutsches Land führt er uns in meisterhaften Urzeichnungen und Urholzschnitten vor Augen. Deutsche Worte unsrer besten Dichter und Denker geben unsern innersten Gefühlen Ausdruck.«1129
Die reihenweise Verwendung des Attributs »deutsch« dient hier kaum als geographische Herkunftsbezeichnung, sondern vielmehr einer emotional aufgeladenen Wertung der Abbildungen und Zitate. »Deutsche Worte« sind nicht einfach deutschsprachige Wörter, sondern Aussprüche, die aufgrund ihrer Her1127 Giesen: Kollektive Identität, S. 32. Korrekterweise müsste insofern von Literaturkritik anhand primordialer Codes gesprochen werden. Um der Prägnanz des Ausdrucks willen werden ich jedoch auch im Folgenden den Ausdruck ›primordialisierte Literaturkritik‹ verwenden. 1128 Vgl. ebd., Teil 3, Kapitel 3, vor allem S. 292–314. Die Entstehung des modernen Rasseantisemitismus in Deutschland ist ein zu komplexes Phänomen und die Forschungslage zu umfangreich, als dass eine ausführliche Darstellung hier möglich wäre. Giesen verfolgt in seiner Arbeit vor allem den Ansatz, den Antisemitismus als »intellektuelle Kompensation der Moderne« zu begreifen. Angesichts der zahlreichen Verlustängste und des Bedrohungsgefühls aufgrund der Erosion traditioneller Lebensformen und Sinnsysteme – mit Erich Fromm gesprochen, einer »Furcht vor der Freiheit« – dienen die Konstruktion einer ethnischen Volksgemeinschaft und der ihm korrespondierende Antisemitismus demnach dem Rückzug auf eine stabile, ahistorische Identität der Gemeinschaft, aus der das Individuum Gewissheiten und ein Zugehörigkeitsgefühl bezieht. 1129 [Walter Fischer]: [Rezension zu:] Kunst und Leben, 8. Jahrgang 1916, in: Wandervogel Monatsschrift, 1915, H. 12, S. 358f., hier S. 359. Der Kalender stellte neben der Reihe »Bücher als Gefährten« das »Hauptwerk« des 1908 gegründeten Berliner Verlages dar ; vgl. Würffel: Lexikon, S. 353.
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kunft und ihrer Verbindung zur primordialen Gemeinschaft per se als wertvoll gelten. Die eigentlichen Wertausdrücke »meisterhaft« und »beste« dienen lediglich der zusätzlichen Auszeichnung, derer es zu einer grundsätzlich positiven Beurteilung des Kalenders nicht bedürfte. Zweck des Kalenders ist in Fischers Einschätzung auch nicht eine Erkenntnis über Eigenart oder Mentalität der »Deutschen«. Die Rezension erschöpft sich im Ausdruck völliger Identität durch und in der »Volksgemeinschaft«. Wo alle angesprochenen potentiellen Rezipienten qua Zugehörigkeit zum »Volk« oder zur »Rasse« wesensgleich sind mit den Produzenten, wird alle Kunst zum Ausdruck des immergleichen Gefühls. Fischer ist das alles allerdings noch nicht genug. In einer eingeklammerten Anmerkung am Ende seiner Rezension gestattet er sich den Vorschlag, »im nächsten Jahre auch de[n] lateinische[n] Satz durch deutschen« zu ersetzen.1130 Fällen wie diesem stehen solche zur Seite, in denen Integriertes und Ausgeschlossenes unmittelbar gegenübergestellt werden. In einem Artikel über eine an der Ostfront eingerichtete Feldbücherei betont der Verfasser : »So ist aus den Angaben des Verzeichnisses […] zu ersehen, daß unsere Bücherei eine bewußt geführte, unter Betonung des nationalen Schrifttums gewählte Auswahl bietet, was gleichbedeutend damit ist, daß keine der flachen ›Modebücher‹, der nervösen Gesellschafts-Berlin-W.-Geschichten, der perversen Halbwelt-Romane zu finden sind.«1131
Die Berufung auf das »nationale« Moment in der Zusammenstellung des Buchbestandes dient nicht nur dem Ausweis der geographischen Herkunft von Verlagen und Autoren – immerhin findet sich mit Selma Lagerlöf auch eine schwedische Schriftstellerin in der präsentierten Auswahl. Wichtiger ist in diesem Zusammenhang die damit einhergehende Behauptung moralischer und ästhetischer Standards und Normen. Die aufgrund dessen ausgeschlossene Literatur wird nicht nur mit stereotypen Wendungen markiert, sondern gleichzeitig implizit als »nicht-national« verdammt. Die ausschließlich negative Wertung mittels primordialer Kategorien funktioniert wie bei Bartels vornehmlich über die Autorschaft. Auf die Hetzkampagne gegen Gustav Meyrink, zu der die Diffamierung des Autors als »jüdisch« gehörte, wurde bereits oben in anderem Zusammenhang hingewiesen,1132 doch 1130 [Fischer]: Kunst und Leben, S. 359. Diese Anmerkung reiht sich ein in eine schon länger und auch später noch geführte Diskussion um die Bevorzugung von Frakturschrift oder lateinischer Lettern beim Satz der Zeitschrift, die nicht nur unter Berufung auf völkische Argumente geführt wird, sondern auch medizinische und didaktische Forschungsergebnisse einbezieht. Vgl. zur deutschen »Zweischriftigkeit« und der Diskussion um Antiqua und Fraktur auch Lucius: Glück, S. 24–28 und Uwe Puschner : Die völkische Bewegung im wilhelminischen Kaiserreich. Sprache – Rasse – Religion, Darmstadt 2001, S. 42–48. 1131 Hermann Ziegler : Feldbücherei, in: Wandervogel Monatsschrift, 1917, H. 6/7, S. 152. 1132 Vgl. S. 166–169.
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finden sich zahlreiche weitere Fälle. Groteske Züge nimmt immer wieder das Verhältnis zum jeweils in Frage stehenden Text bzw. Textkorpus an. So polemisiert Otger Gräff, Gründer des völkischen Greifenbundes und des Jungdeutschen Bundes, in einem Aufsatz in der »Führerzeitung« gegen Hermann Popert und dessen »Vortrupp«. Poperts literarisches Hauptwerk »Helmut Harringa« – der selber dem völkischen Diskurs in vielen Aspekten nahe steht – habe ihn zwar begeistert. Dies habe jedoch in dem Augenblick ein jähes Ende gefunden, als ihm ein Teilnehmer des Freideutschen Jugendtages von Poperts jüdischer Mutter erzählte. Angesichts dessen dürfte Gräffs Vorwurf, Popert würde nicht entschieden genug für das »Deutschtum« kämpfen, allerdings ins Leere laufen. Hier geht es nicht mehr um ein wie auch immer geartetes Engagement, sondern nur noch um das biologistische Kriterium der Rasse.1133 Noch frappanter ist in diesem Zusammenhang die Kritik, die Dankwart Gerlach den von der Berliner Freien Studentenschaft herausgegebenen »Flugblättern an die deutsche Jugend« angedeihen lässt. Andernorts gerühmt als »Willensäußerungen deutscher Idealisten«, Helfer »in dem Ringen um die Durchgeistigung deutscher Arbeit«, »vollständige Stücke deutschen Wesens von unantastbarem Werte«,1134 verwahrt sich Gerlach vehement gegen eine Empfehlung der Auszüge aus Schriften Fichtes, Platons, Schleiermachers, Arndts, Kleists und Schillers. Nicht etwa, dass etwas gegen diese Autoren spräche. Ob aber, wendet er mit einer rhetorischen Frage ein: »ob aber ein Jude oder ein Deutscher sie für Deutsche wahrer und schöner auswählt? Soll«, fragt er voll Ressentiment weiter, »während wir draußen mit blutiger Faust die äußeren Feinde niederschlagen, uns hier in gleißnerischer Freundschaftsgestalt der Ewig-Andere übertölpeln?« Die aufgehetzten Herzen seiner Leser beruhigt er allerdings gleich wieder : »Ihr Brüder draußen dürft ruhig sein. Wir Wenigen werden die innere Grenzwacht treulich halten!«1135 Zu diesem Zweck sind sich die jugendbewegten Antisemiten auch in der Literaturkritik keiner Denunziation, keiner Diffamierung, keiner noch so schiefen Argumentation zu schade, wie die letzten Beispiele gezeigt haben.1136 1133 Vgl. Otger Gräff: Zwei Zeitschriften, in: Führerzeitung, 1917, H. 2/3, S. 32–39. 1134 M. H.: [Rezension zu:] Flugblätter an die deutsche Jugend, in: Freideutsche Jugend, 1914/ 15, S. 158f. 1135 Dankwart Gerlach: [Rezension zu:] [Der Aufbruch; Flugblätter an die deutsche Jugend], in: Führerzeitung, 1915, H. 11, S. 154f. 1136 Auch die Auseinandersetzungen um Hans Blühers Wandervogel-Historiographie sind hiervon nicht frei; vgl. beispielsweise Georg Schmidt: Nein, nein! Das ist nicht unser Wandervogel, in: Führerzeitung, 1912/13, H. 3, S. 47f., der seine Kritik folgendermaßen einleitet: »Einmal war ich mit einem Freunde zusammen. Es wurde aus einer gekneteten sogenannten ›Geschichte der Wandervogelbewegung‹ vorgelesen. Da war es, als würde es dumpf und schwül im Zimmer. Bald hörten wir auf. Schweigen. Du? Ist der Blüher ein Jude? Weiß ich nicht«. Die Beschreibung der durch die Lektüre entstandenen Atmosphäre
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Kritik an dieser primordialisierten Literaturkritik findet sich unter anderem im »Weißen Ritter«. Im vierten Heft der »Beiblätter« zunächst noch anonym gelobt und zum Kauf empfohlen, wird im folgenden Heft der »Beiblätter« vor der Anschaffung von Adolf Bartels’ »Jüngsten« »nachdrücklich gewarnt«.1137 Karl Rauch ist, auch wenn er sich später als »unkritische[r] Befürworter des Nationalsozialismus« erweisen sollte,1138 Buchhändler und Verleger genug, um dieser Form der Literaturgeschichtsschreibung skeptisch gegenüber zu stehen: »Bartels bietet statt einer ernsten Würdigung der jüngsten deutschen Dichtung […] eine hohle Aneinanderreihung von Namen und Titeln ohne tiefere Schürfung und wertet den Gehalt eines Kunstwerks durchweg danach, ob und im wievielten Gliede sein Schöpfer semitischem Blut entstammt. Mag man über Berechtigung oder Nichtberechtigung des Antisemitismus immerhin streiten – von einer Literaturgeschichte, die ernst genommen sein will, verlangen wir anderes.«1139
Auch auf Seite des linken Flügels der Jugendbewegung gibt es Zeugnisse einer Wertung literarischer Texte, die ausschließlich politischen Motiven folgt, doch als »dumpf« und »schwül« bereitet die Primordialisierung bereits vor, wobei der Leser die entgegengesetzten Begriffe des »Frischen« und »Reinen« ergänzen darf. Dem folgt die inszenierte Frage nach Blühers »Rasse«, die keiner Beantwortung bedarf. Allein schon der vom Rezensenten in den Raum geworfene Verdacht einer jüdischen Abstammung genügt, um eine ablehnende Haltung gegenüber Blüher zu erzeugen. Ähnlich ist es im Aufsatz von K. Boesch: Protest, in: Führerzeitung, 1912/13, H. 3, S. 45–47, hier S. 45, dessen Polemik gegen Blüher sich des primordialisierten Authentizitätsdiskurses bedient: »Blühers Buch hat keine deutsche Seele – der Wandervogel aber ist deutsche Seele. Die deutsche Seele ist echt und wahr. Mag sich Blüher hinter dem Wort des Rembrandtdeutschen verstecken und sich damit verteidigen, daß der Geschichtsforscher dem Gange der Geschichte ein wenig vorgreifen darf und soll, mag er seine Subjektivität als ›wissenschaftliches Mittel‹ anpreisen, – eine Subjektivität, die feststehende Tatsachen dauernd – absichtlich oder unabsichtlich – in so magische Beleuchtungen rückt, daß sie verschwommen und verworren erscheinen müssen, ist Ausfluß einer nicht in Wahrheit und Echtheit gegründeten Persönlichkeit.« 1137 Karl Rauch: [Sammelrezension zu:] Adolf Bartels, Die deutsche Dichtung der Gegenwart. Die Jüngsten; Theo Herrle, Die deutsche Jugendbewegung in ihren wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zusammenhängen, in: Beiblätter, 1920/21, H. 5, S. 262f., hier S. 262. Die Rezeption von Bartels’ literarischem und literaturkritischem Werk ist in der Jugendbewegung ansonsten auch über die Kreise der Führerzeitung hinaus durchweg positiv. In der Zeitschrift des Alt-Wandervogels bedeutet Anonym: [Rezension zu:] Adolf Bartels, Ein feste Burg ist unser Gott, in: Alt-Wandervogel, 1916, H. 4/5, S. 87f., hier S. 88, den Lesern in seiner Buchankündigung, dass der Name des Herausgebers allein »schon dafür bürgt, daß es ein tüchtiges Buch sein wird«. Und Christoph Dietrich: [Rezension zu:] Adolf Bartels, Die deutsche Dichtung der Gegenwart. Die Jüngsten, in: Zwiespruch, 1921, H. 19, Bücherbord 8, S. 7, ist darum bemüht, alle möglichen Einwände zu zerstreuen: »Trotz der vielen Bedenken, die gegen Adolf Bartels ausgesprochen werden, lange ich mit besonderer Vorliebe nach seinen Werken, einfach weil er für mich der Literaturgeschichtsschreiber der Gegenwart ist.« Weiter gilt ihm Bartels’ Literaturgeschichte als »eine Notwendigkeit für jeden literarisch Arbeitenden«. 1138 Stambolis: Karl Rauch, S. 541. 1139 Rauch: Adolf Bartels, Die deutsche Dichtung, S. 262.
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sind sie insgesamt seltener und entziehen sich solch schlichter Freund-FeindDichotomien, wie es bei den bislang vorgestellten völkischen Literaturkritikern der Fall ist.1140 Zu denken ist an die Selektionskriterien der »Jungen Menschen« bei ihren Themenheften, die häufig aktuellen politischen Ereignissen folgen (so die Themenhefte für den inhaftierten Ernst Toller oder für den ermordeten Walther Rathenau), die die Neugier auf unbekannte Theoretiker wie Kropotkin lenken oder das Interesse für Literatur jenseits des bürgerlichen Kanons wecken wollen wie das Heft über »Arbeiterdichtung«.1141 Zu denken ist aber auch an Rezensionen wie diejenige Bruno Lindtners zu Leonhard Franks »Der Mensch ist gut«, die bewusst von jeglicher Beschreibung und Wertung ästhetischer Momente absieht und sich ganz auf die dem Text zugeschriebene Intention konzentriert: »Ich will nicht auf den Inhalt der einzelnen Novellen eingehen, auch von der Darstellungsweise, vom Stil will ich nicht reden. Alles das ist hier Nebensache! Der junge Mensch muß das Buch lesen wegen seiner hohen, gewaltigen Gedanken, von denen besonders zwei mir von größter Wichtigkeit erscheinen.«1142
Die »Gedanken«, deren Einfluss auf potentielle Leser er sich erhofft, identifiziert er in der Folge als eine internationalistisch interpretierte Menschenliebe und die titelgebende Vorstellung von der Güte des Menschen. Damit ist bereits angedeutet, dass sich eine linke jugendbewegte Literaturkritik vor allem in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg und im Zusammenhang mit der Rezeption des Expressionismus entwickelt. Hier sind es in politischer Hinsicht die Anklänge an einen ethisch-religiösen Sozialismus in der Nachfolge Tolstois und 1140 Vgl. zur Geschichte linker Strömungen in der Jugendbewegung vor allem Preuß: Söhne und Eckard Holler : Linke Strömungen in der freien bürgerlichen Jugendbewegung, in: Botsch, Haverkamp (Hg.): Jugendbewegung, S. 165–194. 1141 Dieses letzte Beispiel ist freilich in zweifacher Hinsicht problematisch. Zum einen handelt es sich bei den vorgestellten Dichtern Karl Bröger, Heinrich Lersch, Max Barthel und Gerrit Engelke um genau jene Autoren, deren Werke im Bürgertum als realistische Beschreibung einer anderen Klasse mit fremden Lebensformen wahrgenommen wurden, die aufgrund ihrer »Integrationsideologie« (Rülcker : Arbeiterdichtung, S. 39) aber auch leicht konsumierbar waren. Wo dies nicht der Fall ist und eine marxistische Rhetorik dominiert, kommt es schnell zu Rezeptionsproblemen, wie Alfred Kurella: [Rezension zu:] Alfred Nußbaum, Zur Jugendfrage, in: Freideutsche Jugend, 1918, H. 1, S. 45 zeigt: »Die Lektüre dieser Schrift wird manchem Schwierigkeiten machen; die Denk- und Ausdrucksweise ist eine ganz andere als die unsere, und es ist nicht leicht, aus den Worten, die uns bei aller Nüchternheit parteipolitisch gefärbt erscheinen (sie sind es in demselben Maße, als unsere Reden den Stempel der ›bürgerlichen‹ Welt tragen), den lebendigen und uns verwandten Kern herauszuschälen.« Zum anderen wendet sich Anonym: Das Wort Arbeiterdichtung, in: Junge Menschen, 1922, H. 7, S. 98, in der Einleitung zum Themenheft explizit gegen die Vorstellung einer »Klassendichtung« und nimmt der Lyrik damit von vornherein einen Teil ihres politischen Wirkungspotentials. 1142 Bruno Lindtner : [Rezension zu:] Leonhard Frank, Der Mensch ist gut, in: Junge Menschen, 1920, H. 5/6, S. 34.
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insbesondere Gustav Landauers1143, die in der Jugendbewegung Aufnahme finden und insbesondere auf die Literaturkritik in der »Freideutschen Jugend« zurückwirken.1144 Die bei Tolstoi und Landauer vorherrschende, religiös fundierte Sehnsucht nach dem »Neuen Menschen«, die Betonung einer Notwendigkeit zur ethischen Wandlung des Menschen, entsprach der unter dem Einfluss idealistischer Philosophie und Konzepten der Lebensreform stehenden Jugendbewegung deutlich mehr als Konzepte von Klassenkampf und Revolution. Beispielhaft für diesen Zweig der jugendbewegten Literaturkritik steht Marie Buchhold, deren Ablehnung einer allein ästhetischen Maßstäben folgenden Rezeption und Wertung von Literatur bereits im Kapitel zum Autorschaftskonzept der Jugendbewegung zur Sprache kam.1145 Ihre Einschätzung Tolstois kann dabei als Gradmesser ihres eigenen Literaturkonzeptes gelten: »Wieder und wieder aber erscheint bei Tolstoi diese Bemühung, in der Hülle einer Kunstform, Roman, Novelle oder Drama, etwas zu sagen. Es ist wie eine große Resignation, bei ihm mitanzusehen, wie er sich müht, durch Kunst hindurch – die ihm trotz allem gegenüber einem schweren, mühsamen, nach Erlösung ringenden Leben gering gilt – diejenigen wichtigen Dinge darstellend zu sagen, um die es ihm geht: Elend im menschlichen Leben: Macht der Finsternis, Möglichkeit der Erlösung im menschlichen Leben: Und das Licht scheinet in der Finsternis. Er wendet sich immer wieder an ein Publikum, hoffend, es zu erschüttern, es zur Umkehr zu bewegen, resignativ wissend oder vorahnend, daß die Kunst vergeblich angewandt ist, auch hier.«1146
Buchholds literaturkritisches Schreiben ist maßgeblich von ihrer eigenen Distanz gegenüber der Kunst geprägt. Immer wieder versucht sie, gegen vermeintlich gewohnte Rezeptionsweisen anzuschreiben und die Leser der »Freideutschen Jugend« von einer Konzentration auf die Ästhetik der Texte hin zu deren Ideen und Inhalten zu lenken. In einer längeren »Studie über Franz Werfel« und dessen Band »Gerichtstag« verzichtet sie »von vornherein auf jede äußerliche, literarisch-ästhetische Wertung«.1147 Ihr geht es nicht um Werfel als »Dichter«, sondern als »Bekenner, das ist viel wichtiger«:1148
1143 Vgl. zur Landauer-Rezeption in der Jugendbewegung den Heftschwerpunkt in den Jungen Menschen 5 (1922) sowie Tormin: Gustav Landauer, Die Revolution; ders., Aufruf zum Sozialismus; vgl. außerdem Preuß: Söhne, S. 222–225. 1144 Vgl. zum Verhältnis von Literatur und Politik im Expressionismus den Überblick bei Anz: Expressionismus, Kapitel II.4, in diesem Zusammenhang vor allem S. 142–147. 1145 Vgl. oben, S. 195f. 1146 Buchhold: Leo Tolstoi, S. 118. 1147 Marie Buchhold: Gerichtstag. Eine Studie über Franz Werfel, in: Freideutsche Jugend, 1921, H. 7, S. 207–212, hier S. 211. 1148 Ebd., S 208.
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»Es gelingt ihm, sich als kleines personenbegrenztes Ich aufzulösen und sich dadurch in die durch Welt-Schmerz und Leiden zutiefst miteinander verschwisterte Ich- und Personen-Seele der Welt einzulösen. Das ist ein psychologischer Vorgang, kein dichterischer, wie man allgemein heute gern annimmt. Auch das, was durch diese Auf- und Einlösung zur Sprache wird, ist nicht Dichtung, wenigstens ist dies nicht das Wichtige und Wesentliche davon – obwohl es von den meisten Lesern so genossen wird –, es ist weniger und mehr als Dichtung. Es ist Dokument. Sprachliches Dokument von ungeheuer schmerzlichen Ereignissen, Grenz- und Mittengeschehnissen der Seele, die in unsäglichen Umwälzungen all- und selbstbewußtes Ahnen Gestalt werden sieht und, kaum gestaltet, sich wieder auflösen sieht. Eine Umwertung, nicht allein, sondern eine Umwertung von Wertgehaltenem. Dies alles ist nicht mehr Dichtung zu nennen, auch wenn die Formen daran erinnern, so ist es ein Vorurteil. Man kann sagen, Werfel beginnt oder entspringt als Dichter und mündet als Mensch. Er selbst fühlt und bekennt es auch, wie immer mehr dieses Dichtenkönnen oder -wollen ihm das Eigentliche, die reine Aussage, unmöglich macht.«1149
Literatur, Kunst überhaupt ist bei Buchhold vollkommen auf die Sphäre ethischreligiöser Menschheitserneuerung bezogen und gewinnt von hier aus überhaupt erst ihre Berechtigung. Der Begriff der »Dichtung« gerät in ihren Äußerungen zum Ausdruck für ein weltfremdes Spiel für »erregungsbereite ästhetische Gefühlsjongleure«.1150 Das ist auch in der Jugendbewegung eine radikale Position. In einer Rezension zum ersten von Kurt Hiller herausgegeben Jahrbuch »Das Ziel« empört sich Werner Schabert über das dort zugrundeliegende Kunstverständnis: »Hiller schreibt: ›An allen großen Kunstwerken ist, daß sie Kunstwerke sind (und nicht Religionen, nicht Philosophien, nicht Politiken) Zufall und Nebensache. Zieht man von ihrer einem den Gehalt, die Idee, das Moralische ab, so daß ihr ›Gestaltetes‹ bleibt, – dann bleibt ein Schmarren!‹ So kann nur einer sprechen, den mechanisches Theoretisieren zu einer Lebensentfremdung geführt hat; niemand sonst würde auf die Idee kommen, daß sich überhaupt in einem Kunstwerk das Gestaltete von der Politik, der Philosophie usw. trennen ließe.«1151
Mit Nachdruck wirft Schabert Hiller und den weiteren Autoren des »Ziels« vor, die »typische Arbeit des Intellektualismus« zu betreiben, 1149 Ebd., S. 207. 1150 Ebd., S. 207. Vgl. hierzu auch Walter Hölscher : [Rezension zu:] Karl Otten, Thronerhebung des Herzens, in: Freideutsche Jugend, 1920, H. 4, S. 154, der sich ebenfalls aus einer gleichermaßen politischen wie ethischen Haltung heraus gegen ästhetizistische Tendenzen wendet: »›Tendenzdichtung‹ – sagt einer verächtlich und ist stolz auf sein ›l’art pour l’art‹. Wer so spricht, beweist damit nur, daß Sinn und Geist der Zeitdichtung ihn noch nicht erfaßt haben. In unserer priester- und prophetenlosen Zeit müssen die Dichter das Werk des Aufrufers übernehmen. Wir brauchen die Dichter, diese Dichter. –« 1151 Werner Schabert: [Rezension zu:] Das Ziel, Aufrufe zu tätigem Geis. Herausgegeben von Kurt Hiller, in: Freideutsche Jugend, 1917, H. 7, S. 225f., hier S. 225.
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»weit entfernt von der Tätigkeit wirklicher Vernunft, die sich stets der Unwahrheit bewußt wird, zu welcher eine nackte Verstandesarbeit gelangen muß, wenn sie sich nicht begabt mit dem warmen Gefühl für die Tatsache des ewigen Fließens.«1152
Dieses »maßlose[n] Hinneigen[s] zur Politik im weitesten Sinne«1153 bedürfe es nicht, sei doch die »Kunst eine Ethik an sich«1154. Und Erna Mayer schreibt im »Landfahrer«, als »Schriftleiterin« Position beziehend gegen eine verstärkte Aufnahme politischer Themen in die Zeitschrift: »Das heutige Leben lehrt uns klarer wie jede andere Zeit, daß aller Parteikram zur Zersplitterung führt. Ich meine überhaupt, rechtes Menschentum kann nie davon befriedigt werden. Politik ist und bleibt Verstandessache. Nach meinem Fühlen kann sie den nach Ewigkeitswerten ringenden Menschen, ob Mann oder Weib, nicht zufriedenstellen.«1155
Zur Bekräftigung ihrer Thesen fordert sie die Leserinnen der Zeitschrift auf, Lienhards »Oberlin« zu lesen. Dieser zur Zeit der Französischen Revolution im Elsass spielende Roman bietet in der Tat ein eindrucksvolles Beispiel für die Tradierung jener aus der Klassik und dem Idealismus überlieferten Vorstellung einer notwendigen Trennung der Kunst von unmittelbar politischen Zwecken zum Behuf ihrer ästhetischen Bildungsaufgabe. Von deren Wirkung in der Jugendbewegung zeugt insbesondere die Auseinandersetzung mit politisch-engagierter Literatur, mit Texten, die eine eindeutige Wirkungsabsicht verfolgen und die Überzeugungen entsprechend offensiv ausstellen, im zeitgenössischen Sprachgebrauch: »Tendenzdichtung«.1156 Unter den jugendbewegten Literaturkritikern ist es erneut Dankwart Gerlach, bei dem die Abwägung zwischen politischem Zweck, literarischen Mitteln und grundsätzlichen ästhetischen Überlegungen am häufigsten problematisiert wird. Dabei sei an seine bereits eingangs dieses Kapitels zitierte Kritik an Dinters »Sünde wider das Blut« erinnert. Dass es ausgerechnet ein Vertreter des völkischen Flügels der Jugendbewegung ist, bei dem das Verhältnis von Ästhetik und Politik regelmäßig verhandelt wird, ist angesichts der zeitgenössischen Literatur keine allzu große Überraschung. Politisch engagierte Literatur von Autoren, die sich selbst der politischen Linken zugehörig fühlen und sich als Sozialisten, 1152 1153 1154 1155 1156
Ebd. Ebd., S. 226. Ebd., S. 225. Erna Mayer : [Ohne Titel], in: Landfahrer, 1919, H. 4, S. 8f., hier S. 8. Die Jugendbewegung ist nicht die einzige zeitgenössische Formation, die eine Debatte um »Tendenzliteratur« führt. Auch in der Sozialdemokratie wird – unter anderen Ausgangsbedingungen, aber zum Teil mit ähnlichen Argumenten – eine solche Diskussion geführt; vgl. hierzu die Dokumentation von Tanja Bürgel (Hg.): Tendenzkunst-Debatte 1910–1912. Dokumente zur Literaturtheorie und Literaturkritik der revolutionären deutschen Sozialdemokratie, Berlin 1987.
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Kommunisten, Anarchisten begreifen und mittels Belletristik Agitation betreiben, entsteht in größerem Umfang erst seit 1918. Im vorliegenden Untersuchungszeitraum und in den analysierten Zeitschriften sind Autoren ungleich häufiger, die dem konservativen, nationalen oder völkischen Lager zuzurechnen sind oder aber der Lebensreformbewegung, wobei innerhalb dieser Gruppe in den literaturkritischen Texten wiederum jene Autoren dominieren, die völkischen und rassistischen Konzepten offen gegenüberstehen. Dennoch verwundert es, dass gerade Gerlach in diesem Punkt eine solch prominente Rolle einnimmt, zeigt er sich ausweislich verstreuter Äußerungen doch durchaus voreingenommen gegenüber der Lektüre fiktionaler Literatur. In einer Art Lesebiographie, veröffentlicht in der »Führerzeitung« – gleichzeitig ein Who is Who der völkischen Bewegung – gesteht er : »Zum Romanlesen blieb mir nicht viel Zeit, und wenn, dann hatte ich Vorliebe für solche, deren Wert und Wesen nicht hauptsächlich im Roman liegt«. Hierzu zählt er Hermann Burtes »Wiltfeber«, »den ich trotz seiner Unmöglichkeit als Roman unter die besten und wertvollsten Bücher rechne, die ich in den vergangenen Jahren kennen gelernt habe«.1157 Gleichwohl äußert er sich andernorts erneut missbilligend zum Roman von Dinter : »Man kann nicht ›Romane‹ schreiben, um irgendein Wissen den Zeitgenossen mitzuteilen […]. Das ist ein Mißbrauch der Kunst«.1158 Einerseits findet sich also bei Gerlach eine ablehnende Haltung gegenüber »Tendenzliteratur« aufgrund ihrer fehlenden Literarizität, andererseits aber gerade eine Vorliebe für literarische Texte, die »Wege zum Weltbild«1159 bieten. Es handelt sich hierbei jedoch nur scheinbar um einen Widerspruch. Gerlachs Literaturkonzept beruht durchaus auf einer heteronomen Funktionalisierung und Wertung von Literatur. Zweck der Rezeption eines literarischen Textes ist für ihn eine Erkenntnis, die zur Entwicklung einer geschlossenen Weltanschauung beitragen soll. In diesem Zusammenhang zielt seine Kritik an Dinter nicht auf den Inhalt seines Romans, auf den dort ausgebreiteten Rassismus und Antisemitismus, sondern auf dessen Präsentation, mit der er sich der spezifischen Möglichkeiten und Bedingungen von Prosaliteratur begebe. Im direkten Vergleich lobt Gerlach Grete von Urbanitz gegenüber Artur Dinter für ihren Roman »Das andere Blut« und stellt dabei grundsätzliche poetologische Überlegungen an: »Es kann aber jedes Erkennen, das den Menschen angeht, so lebendig gegenwärtig werden, daß es Gestalt wird. Es kann also ein Erkennen so Inhalt einer Dichtung 1157 Gerlach: Entwicklung, S. 167. 1158 Dankwart Gerlach: [Rezension zu:] Grete von Urbanitz, Das andere Blut, in: Zwiespruch, 1921, H. 31, Bücherbord 11, S. 1f., hier S. 1. 1159 Gerlach: Entwicklung, S. 163.
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werden, daß es ihren eigentlichen Gehalt, ihren Daseinswert und Daseinszweck ausmacht. […] So einer ist ›Das andere Blut‹. Mit den Menschen dieses Romanes – sie wissen es anfangs auch nicht – geht auch dem Leser eine Erkenntnis nach der andern auf, darüber, wie rassische Voraussetzungen den Charakter […] aussichten.«1160
Wo Dinter Gefahr laufe, durch den thetischen Charakter seines Romans Leser zu verschrecken, die noch kein gefestigtes rassistisches und antisemitisches Weltbild hätten, gelinge es Urbanitz im Fortgang der Handlung eine prozessuale Erkenntnis beim Leser anzustoßen. Gerlachs Auffassung steht damit prototypisch für eine Reihe ähnlicher Wertungen in Auseinandersetzung mit »Tendenzromanen«. Kritisiert wird weder das Vorhandensein eindeutiger politischer oder weltanschaulicher Tendenzen noch ihr jeweiliger Inhalt, sondern lediglich ihre mangelhafte Vermittlung, die die Möglichkeiten der Literatur nicht ausschöpfe. Gemessen am axiologischen Wert der Darstellung einer Weltanschauung oder Teilen einer solchen werden fiktionale Texte (partiell) negativ gewertet, wenn sie aufgrund formaler und stilistischer Mängel – Thesenhaftigkeit zuungunsten einer stringenten Handlung1161, stereotypische Figurenzeichnung1162 – nicht in der Lage sind, hinreichend zu überzeugen. Zwei weitere Beispiele sollen zeigen, dass sich die Kritik an engagierter Literatur in der Jugendbewegung nicht darin erschöpft, Mängel an der literarischen Ausführung aufzuzeigen, sondern sich auch auf der systematisch höheren Ebene der axiologischen Werte bewegen kann. Die Auseinandersetzungen im Deutsche Mädchen-Wanderbund über die Vernetzung in der völkischen Bewegung und die eigene völkische Ideologie beginnen 1921 mit einem Aufsatz von Grete Deppermann über die Frage »Was ist völkisch?«, der nicht nur Diskussionsanstoß für den Bund sein will, sondern gleichzeitig Ausdruck einer intellektuellen Entwicklung der Verfasserin ist: »Erst, als ich zum Bunde kam, war mir außer dem Wandern, dem Zusammensein mit den Mädchen, alles andere gleich. Dann hörte ich neue Worte, auch ›völkisch‹. Und tastete, nahm auch Gesagtes hin. Bis Kritik einsetzte und eigenes Urteil.«1163 1160 Gerlach: Grete von Urbanitz, Das andere Blut, S. 1. 1161 Vgl. hierzu auch Fritz Jöde: [Rezension zu:] Walter Flex, Der Wanderer zwischen beiden Welten. Ein Kriegserlebnis, in: Freideutsche Jugend, 1917, H. 3, S. 94, der kritisiert, dass es Flex nicht gelungen sei, seine Ideen aus der Handlung heraus zu entwickeln. 1162 Vgl. Robert Wolff: [Rezension zu:] Willi Buch, Deutsch-Hammertals Untergang, in: AltWandervogel, 1918, H. 11, o. S.; H.O. Vaubel: [Rezension zu:]] Gustav Schröer, Der Schulze von Wolfenhagen. Die Geschichte eines Dorfes, in: Zwiespruch, 1921, H. 2, Bücherbord 1, S. 2. Vaubel stellt Schröers Erzählung Poperts »Helmut Harringa« gegenüber. Er sieht Parallelen in der Handlung und in der Wirkungsabsicht – »Hinweise auf die dem einzelnen gegebenen Möglichkeiten und die Wirkung durch deren Erfüllung« im Kampf gegen den Alkohol –, betont aber, dass Schröers Buch den Vorteil habe, dass »der Stoff nicht konstruiert, sondern durch die Hände eines Künstlers gegangen ist«. 1163 Grete Deppermann: Was ist völkisch?, in: Deutscher Mädchen-Wanderbund, 1921, H. 7,
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Ihre Kritik am Chauvinismus, Rassismus und Antisemitismus der völkischen Bewegung, ihre pazifistische Grundhaltung wären für eine rezeptionshistorische Studie nicht zwingend relevant, doch entwickelt sie ihre Gedanken in Auseinandersetzung mit kunsthistorischen und ästhetischen Ideen: »Mensch, werde wesentlich! Die Forderung des Silesius. – Kein Wesen haben ist das Traurigste. Wesentlich sind Menschen, deren Taten ihr eigenes Gepräge haben, d. h. sie sind nicht gemacht, sondern sie entspringen. Leicht sieht man es an Kunstwerken, hier ist eben festgehalten, faßbar geworden, was bei so hinlebenden Menschen auch erscheint, aber schwer zu greifen ist, weil es hinfließt und – einmal weg – nicht leicht wieder zu erhaschen. So ist jede Kunst völkisch und allmenschlich zugleich. Ersteres, weil sie unbedingt den Stempel des Wesentlichen tragen muß, zweitens, weil sie dann auch von jedem wesentlichen Menschen erfaßt werden kann. – Wenn ich denke an Aegypten, Indien, Griechenland! Weil sie echt, man kann dafür sagen völkisch, ist diese Kunst lebendig – Mit Absicht Gewolltes, Tendenziöses ist nicht lebendig. Ein Kunstwerk muß sich seine restlose Selbständigkeit bewahren; ein Zweck, und sei es der der Weltverbesserung, darf nicht im Vordergrunde stehen. Wer dagegen nun setzt seine ›völkisch deutsche Bewußtheit‹, begreift nicht, in welchen Abgrund der Belanglosigkeit für die deutsche Kultur er sich damit stürzt. Echt und deutsch muß ein Werk sein ohne Absicht des Schöpfers, sozusagen aus Versehen. (Hölderlins ›Hyperion‹) Der Völkische (sogenannte sich selbstnennende) ist vergnügt über sein Germanentum (z. B. blond und blaue Augen) und macht mit verstimmender Absicht ›germanische Werke‹! Noch nie ist von dieser Seite ein wirkliches Werk entsprungen.1164
Deppermanns Wertsprache unterscheidet sich in mehrfacher Hinsicht von den vorherigen Beispielen. Für Gerlach ist der höchste axiologische Wert im Umgang mit Literatur wie gesehen eine Erkenntnis, die zur Bildung und Festigung einer Weltanschauung führt. Die Literarizität eines Textes als attributiver Wert erlangt bei ihm nur deshalb Geltung, weil sie als berechneter Effekt in der Lage ist, den Leser zu überzeugen. Ohne diesen Wirkungsaspekt ließen sich die Thesen ebenso gut in Form eines Sachtextes darbieten. Deppermanns Ablehnung jeglicher Zweckdichtung manifestiert sich jedoch nicht einfach als Kritik an einer allzu thetischen Darstellung. Sie ist durch ein produktionsästhetisches Postulat der Authentizität bedingt, das bei ihr insbesondere in Negationen greifbar wird: als Gegenteil von einer im Prozess des Schreibens wirksamen »Absicht«, des »Gemachten«. Dem stellt sie die Begriffe des »Wesentlichen«, des »Echten«, des »Entspringens«, des »Lebendigen« entgegen, die gleichermaßen auf Kunstwerke wie auf Menschen Anwendung finden. Der »wesentliche« Mensch ist der, dessen S. 115f., hier S. 115. Der Artikel steht darüber hinaus im Kontext einer nach dem Krieg in weiten Teilen der Jugendbewegung geführten Diskussion um Begriffe und Konzepte des »völkischen«, »nationalen«, »übervölkischen«, »Volkstum« usw., innerhalb der um die politische Positionierung der Jugendbewegung gerungen wurde; vgl. hierzu unter anderem auch die Beiträge in der Januarnummer 1920 der »Freideutschen Jugend«. 1164 Deppermann: Was ist völkisch?, S. 115.
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Gedanken und Taten keine Nachahmungen sind, sondern ein Produkt der Natur. Auch wenn sie den Begriff nicht verwendet: Ihr dient eine bestimmte Vorstellung von ›Natur‹ als Inbegriff des »Lebendigen« als Ideal und als Gegensatz zum »Gemachten«. Dem hat auch das Kunstwerk zu folgen. Ein Kunstwerk, das diesen Namen verdient, gilt ihr als spontaner, unvermittelter und unmittelbarer Ausdruck eines Menschen, der ganz und gar er selbst ist. Hier offenbart sich eine Nähe zum Geniegedanken des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts. Problematisch ist in dieser Hinsicht allerdings der Status des Subjekts in ihrem Entwurf. Ob es einen Spielraum für Subjektauthentizität im modernen Sinn gibt oder sich das Wesen des Menschen ganz im »völkischen« erschöpft, bleibt durchaus unklar. Die Verbindung des Genialen lässt nun innerhalb der zeitgenössischen Kulturkritik an Julius Langbehn denken, doch findet sich bei Deppermann weder die perspektivische Verengung auf den Bereich eines einzelnen »Volkstums« noch die (kultur-)imperialistischen Tendenzen oder die Sehnsucht nach der genialen autoritären Führerpersönlichkeit, die das Werk des »Rembrandtdeutschen« durchziehen.1165 Größere Plausibilität hat die Annahme einer Beeinflussung durch das Geniekonzept Johann Gottfried Herders. Auch bei ihm wird eine »Problemspannung« zwischen Individualität und Totalität sichtbar, zwischen dem individuellen Naturgenie und der kollektiven Genialität des Volkes. Herder folgt einem Modell der kulturellen Entfremdung, dem insbesondere das Deutsche durch den jahrhundertelangen Einfluss lateinischer Gelehrtenkultur und französischer Adelskultur und ihrer jeweiligen Sprachen unterworfen gewesen sei. Die deutsche Sprache und Kultur habe hierdurch den Kontakt zu ihren Ursprüngen, zu ihrer »Natur« und ihrem eigentlichen »Wesen« verloren. Spuren dieses natürlichen Ursprungs und jenes Volkscharakters hätten sich aber bewahrt in der Naturpoesie des Volkes. Ebenso könnten die Werke des genialen Individuums Ausdruck authentischer Seinsweisen werden. Deppermann folgt Herder mit ihrer Auffassung vom authentischen Kunstwerk als Sprache der Natur. So wie Herder hierfür organologische Metaphern verwendet,1166 bedient sich Deppermann der Naturmetaphorik des »Entspringens«. Gemeinsam ist beiden insofern auch die Vorstellung von Genialität als »immer schon fixierte[m] Archetypus«1167, der bei Deppermann unauflöslich an den Volkscharakter gebunden ist. Worin sich bei ihr am deutlichsten der Bezug auf Herder erkennen lässt und was ihre Position gleichzeitig am entschiedensten von der Auffassung Gerlachs unterscheidet, sind die Hinweise auf die Kulturen 1165 Vgl. zum Geniekonzept bei Langbehn Jochen Schmidt: Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750–1945, Bd. 2, Darmstadt 1988, S. 188–192. Beim folgenden Vergleich der Ideen Deppermanns mit denen Herders folge ich ebenfalls weitgehend Schmidt: Genie-Gedanke, Bd. 1, S. 120–149. 1166 Vgl. Schmidt: Genie-Gedanke, Bd. 1, S. 129–135. 1167 Ebd., S. 129.
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des Altertums, die dabei angedeutete Gleichrangigkeit der Kulturen, die alle »Unterscheidung[en] der genialen arischen Rasse und der ungenialen Rassen«1168 vermissen lässt und schließlich ihr Humanitätsgedanke. Zwar spricht sie durchaus einer »völkischen« Bedingtheit der Kulturprodukte das Wort,1169 doch haben diese durch ihre unbewusste Entstehung als Stimme der Natur zugleich einen »allgemeinmenschlichen« Kern.1170 Humanistischer Impetus und geniepoetisch gewendetes Authentizitätskonzept sind bei ihr eng verschränkt und lassen sie nicht nur Position beziehen gegen eine Verengung des Begriffs des »völkischen« auf das »deutsche«, »germanische« oder »arische« im Sinne der völkischen Bewegung, sondern im gleichen Moment auch gegen jegliche politische Dichtung, die ihre Zwecke in einer bewusst gewählten politischen oder weltanschaulichen Richtung sucht. Ebenso ablehnend zeigt sich Marlis Philips gegenüber »Tendenzliteratur«. Allerdings unterscheiden sich erneut Argumentationszusammenhang und Wertsprache von den vorherigen Beispielen. In einem Aufsatz über Franz Werfels Gedichtband »Einander«1171 greift sie über Werfel hinaus und setzt sich insgesamt mit Tendenzen innerhalb der expressionistischen Literatur auseinander. In einem Fazit erörtert sie ihre Ansichten über die »Forderung« an die »Kunst an sich«: »Die Kunst verliert ihre innere Wahrheit, sobald sie über die Grenzen ihres l’art pour l’art-Irrationalismus hinaus im Zweckdasein irgendeiner menschlichen Erscheinungsform ausmünden will. Sie hat dann wohl noch Form, aber sie büßt die reine Tönung der göttlichen Zwecklosigkeit ein. Vor allem darf sie nicht Wirkung in einem Gebiet erzielen wollen, zu dem ihre Funktionen in keiner kausalen Beziehung stehen – wie es unsinnig erscheint, von der Aetherschwingung eines Lichtstrahls zu verlangen, daß sie Steine wälze. Die Kunst darf wohl politische, soziale, ökonomische Fragen und Gebiete zum Stoffe wählen, wie ihr die ganze Welt zum Stoff erlaubt und gegeben ist, aber in dem Augenblick, wo sie einen Stoff in ihre Hände nimmt, wird er zu ihrem Mittel und löst sich damit von aller äußeren Verbindung und Verbindlichkeit, worin er sich vorher befand, während eine Dichtergeneration, wie sie sich um Werfel gruppiert, umgekehrt die Form zum Mittel des Stoffes machen, ihr einen Zweck setzen, sie in soziale Kausalitätsfunktionen zwängen will. Man braucht nur an Hasenclevers Anti1168 Ebd., S. 215. 1169 Unklar bleibt, durch welche Einflüsse diese Unterschiede in ihrem Konzept bedingt sind. 1170 Vgl. zum Humanitätsgedanken bei Herder Frank: Geschichte des Deutschunterrichts, S. 218–226. 1171 Ausweislich einer Fußnote (Philips: Werfels »Einander«, S. 235) handelt es sich bei dem Aufsatz um den »allgemeine[n], zusammenfassende[n] Teil einer größeren Arbeit über Werfels Gedichtband ›Einander‹ […], die schon 1918 geschrieben, aber noch nicht gedruckt wurde«. Recherchen nach einer solchen Publikation blieben ebenso erfolglos wie die Suche nach biographischen Informationen über Philips. Es kann daher nicht ausgeschlossen werden, dass es sich hier lediglich um einen Gastbeitrag handelt und nicht um einen jugendbewegten Beitrag im engeren Sinn.
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gone zu denken, um die Sträflichkeit dieses Unternehmens in vollem Maße zu empfinden.«1172
Überraschend ist hier zunächst die Verwendung des »l’art pour l’art«-Begriffs, der der ansonsten in der Jugendbewegung üblichen negativen Konnotationen entbehrt. Stattdessen stellt sie ihn, durch die Begriffswahl poetologische Konzepte der Zeit um 1800 und der Zeit um 1900 miteinander verbindend, in Zusammenhang mit der Forderung nach einer »göttlichen Zwecklosigkeit« der Kunst. Anders als Deppermann bringt Philips diese Idee nicht in einen argumentativen Zusammenhang mit dem genie- und produktionsästhetischen Authentizitätsparadigma,1173 wie auch sonst eine Begründung oder Herleitung des Postulats von der Zweckfreiheit der Kunst fehlt. Die Behauptung einer Eigengesetzlichkeit der Kunst wird zwar durch eine ihr zugeschriebene Nähe zur Sphäre des »Göttlichen« zu legitimieren versucht, doch scheint es sich dabei eher um eine Konzession an überlieferte Konzepte zu handeln als um ein dezidiertes Argument. Gleiches gilt für ihre These, dass sich die Gegenstände im Moment ihrer künstlerischen Verarbeitung »von aller äußeren Verbindung und Verbindlichkeit« lösten. Ohne weitere Erläuterung bleibt der Satz unerklärtes Diktum. Eine Erklärung für ihre Ansichten scheinen jedoch ihre funktions- und wirkungsästhetischen Annahmen zu liefern. Ihr Ausgangspunkt ist die Bemerkung, dass »[d]ie Literatur, wo sie Kunst ist, […] wohl Stimmungen vermitteln, erregen, verstärken [kann]; aber auch der naturalistischste Roman, das intensivste soziale Drama, das innigst empfundene Gedicht – man denke nur an Dehmels heißschwingendes Lied des Arbeiters ›Nur Zeit‹ – kann nicht organisieren, nicht intrigieren, nicht totschlagen – und nicht aufbauen. Mit einem Wort: der letzte Impuls, die Tat – hat mit der Kunst keine Berührungspunkte«.1174
Das ist zunächst als deskriptive Beschreibung der Wirkung von Kunst gemeint, deren Einfluss auf die Sphäre des Politischen Philips stark bezweifelt. Gleichwohl verzichtet sie auf eine Erläuterung, weshalb sie die Bedeutung der von literarischen Texten erzeugten »Stimmungen« derart gering einschätzt. Gerade in Anbetracht ihrer Verwendung des physikalischen Ausdrucks »Impuls« wäre eine 1172 Philips: Werfels »Einander«, S. 238. 1173 Er fehlt nicht gänzlich. Eine Andeutung stellt ihre Anmerkung ebd., S. 237 dar, dass sich »[d]as viele Unverständliche bei Werfel, die Bilder, die ganz unmotiviert erscheinen und ganz unverknüpft einander folgen«, erklären lasse »aus einem ewigen Innenerleben des Dichters, das dem Schlaftraum sehr nahe scheint«. Dies ist allerdings keine allgemeine poetologische Aussage, weder deskriptiv noch normativ, sondern lediglich auf Werfel und seine Lyrik bezogen. Überdies steht Philips dem unterstellten Schaffensprozess merklich skeptisch gegenüber. 1174 Ebd., S. 238.
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unmittelbare Verbindung zwischen »Kunst« und »Tat« zu erwarten. Ihre These, dass sich der »Stoff« in der Verarbeitung von aller Beziehung zur Wirklichkeit löst, erweist sich so allerdings als weder deskriptiv noch argumentativ gestützte normative Setzung. Ihre abschließend formulierte Hoffnung auf die »unendliche Zeit«, dass »sie uns […] bald einmal mit dem griechischen Geist, das heißt mit dem zeit- und grenzenlosen Gottestum der Menschheit in der Kunst, von neuem beschenke«, wirkt wie ein anachronistischer Rückgriff auf die im Bürgertum tradierten Konzepte aus dem Umfeld der Klassik. Höchster axiologischer Wert ist ihr die Erfahrung von »Ewigkeitsgehalte[n]«1175. Eine Literatur, die ihren Zweck im Eingriff in die unmittelbare Gegenwart sieht und die sozialen oder individuellen Probleme nicht ins Ewige, Göttliche oder Überindividuelle transzendiert, steht sie ablehnend gegenüber. Während sich das Kapitel über die Wirkung von Literatur den in der Jugendbewegung verbreiteten Hypothesen über tatsächliche Wirkungen von Literatur gewidmet hat, wurden in diesem Abschnitt zuletzt Positionen vorgestellt, die sich normativ mit Wirkungsintentionen auseinandergesetzt haben. Sie zeigen ein je unterschiedlich begründetes Spektrum von Positionen zwischen grundsätzlicher Ablehnung jeglicher »Tendenzliteratur« und einer an Bedingungen geknüpften Befürwortung. Ich habe bereits verschiedentlich auf die Probleme hingewiesen, vor die sich jegliche Einschätzung der faktischen, empirisch überprüfbaren Langzeitwirkung von Literatur auf die Überzeugungen ihrer Leser innerhalb der historischen Rezeptionsforschung gestellt sieht.1176 Dennoch sollen, im Anschluss und in Auseinandersetzung mit den vorgestellten Positionen, wenigstens einige Thesen zu diesem Komplex formuliert werden, die gleichzeitig vor einer Über- und einer Unterschätzung der Rolle von Literatur für die politischen und weltanschaulichen Positionen der jugendbewegten Leser warnen sollen. Dabei ist zunächst festzuhalten, dass die bislang in diesem Abschnitt analysierten Meinungen über die Wirkungsmöglichkeiten in merklichem Kontrast zu den Überzeugungen über die faktische Wirkung von Literatur stehen. Wo im »Schmutz-und-Schund-Kampf« die Warnungen vor dem unmittelbaren Einfluss der Literatur auf die willenlose Psyche und Kognition der Leser vorherrscht, dominiert im Rahmen der Wertung politischer Literatur eine Skepsis gegenüber deren Möglichkeiten. Daneben findet sich allerdings auch eine ungebrochene Hochschätzung der Literatur gerade hinsichtlich ihrer politischen und sozialen Funktion. Beispielhaft hierfür stehen die Verleger und Buchhändler um den »Weißen Ritter«.1177 Schließlich lässt sich als vierte Position, unter anderem 1175 Ebd., S. 237. 1176 Vgl. v. a. die Einleitung zum Kapitel über Die Wirkung von Literatur. 1177 Vgl. die Aufsätze von Rauch: Aufgaben und von Voggenreiter : Verlag, die beide die her-
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formuliert von Lisa Tetzner, die Behauptung einer in der Vergangenheit erfolgten Beeinflussung der Wirklichkeit durch Literatur ausmachen.1178 Die Auffassungen innerhalb der Jugendbewegung über die Wirkungen und Wirkungsmöglichkeiten von Literatur sind demnach so widersprüchlich wie heterogen. Prüft man die literaturkritischen Texte der Jugendbewegung auf Beispiele für einen dokumentierten Bewusstseinswandel als Folge der Rezeption literarischer Texte, sind die Ergebnisse spärlich. Am nächsten kommt dem eine Äußerung von Marie Buchhold, die in Auseinandersetzung mit Dostojewski den Begriff des »Schriftereignisses« verwendet: »Sein Schreiben ist ein elementares Ereignis, das keine Rücksicht kennt den Wünschen eines Lesers gegenüber. Vor dem wahren Leser löst sich die Hülle des Zufälligen an Situation, Sprache, intimer oder grandioser Schilderung bei der Lektüre Dostojewskischer Werke auf. Das ›Historische‹ zerfällt. Gegenwart steht da. Der wahre Leser ist mitten in der Zeit durch das Buch und falls noch irgendeine träge Neigung ihn befangen hält, nicht alles, was er da liest, ganz zu verstehen, d. h. als wahr zu erkennen so wird die Nachwirkung, das blitzartige Erkennen: also das ist es! ihn gewiß ereilen, und es wird sich mit Sicherheit an ihm erfüllen, was einzig und allein der Sinn eines solchen Schriftereignisses, wie es das Werk Dostojewskis ist, sein muß: er wird sehend werden.«1179
Die Unmittelbarkeit der Wirkung wird von Buchhold als »blitzartiges Erkennen« semantisiert, als »Stunde des Erwachens«1180, das sich in Form des »Schriftereignisses« im Leser manifestiert. Eine Erklärung für den Begriff reicht sie in einer Fußnote nach: »Wer liest und sich nicht ändert, abkehrt, zukehrt, umkehrt, hat nicht gelesen«.1181 Es handelt sich hier nicht lediglich um eine Wertung des Œuvres von Dostojewski, sondern um die grundsätzliche Aufforderung, ein »wahrer Leser« zu werden. Buchhold begreift das Lesen als »Verantwortung und Verpflichtung«, der der Leser in Form einer bestimmten Rezeptionshaltung gerecht werden soll. Sie fordert dazu auf, weder zum Vergnügen noch zum
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ausragende Rolle des Buches bei der Schaffung des »Neuen Menschen« hervorheben. Rauch weist dem Buchhändler hierbei die Rolle des »Führers« zu, während Voggenreiter die Rolle des »Dieners« gegenüber den Menschen ebenso wie der Idee betont. Vgl. Tetzner : Wegbereiter, S. 9. Den Werken Gerhart Hauptmanns, vor allem aber Frank Wedekinds schreibt sie die Wirkung zu, die »Unzufriedenheit« der Jugend gefördert, Fragen nach der Einrichtung der Gesellschaft ausgelöst und »zum Bessermachen, zur Handlung« angespornt zu haben. Gleichzeitig kritisiert sie ihre Generation und vor allem die Mitglieder der Jugendbewegung ebd., S. 7, aber auch dafür, nicht in hinreichendem Umfang von den expressionistischen Dichtern affiziert worden zu sein. Buchhold: »Blick ins Chaos«, S. 122f. Ebd., S. 122. Ebd., S. 123. Das erinnert durchaus an Rilkes »Archa"cher Torso Apollos«, das in der berühmten Formel gipfelt: »Du mußt dein Leben ändern«.
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Zeitvertreib noch um des ›Leseglücks‹ willen zu einem Buch zu greifen, sondern mit der Bereitschaft zu eben jenem »Schriftereignis«.1182 Auf dem von Hans Robert Jauß beschriebenen Spektrum möglicher Wirkungen und Funktionen von Kunst zwischen Normerfüllung und Normbruch entsprechen diese Forderungen Buchholds innerhalb der Jugendbewegung am ehesten dem Pol progressiver Negativität.1183 Deutlich näher an der Normalität jugendbewegten Rezeptionsverhaltens dürfte allerdings ein Bericht Georg Kötschaus über seine Erfahrung mit Walther Rathenaus »Von kommenden Dingen« sein: »Zwar werden viele von euch von dem Buche schon gehört habe. Es wird ihnen aber anfänglich ebenso gegangen sein, wie mir. Rathenau – S. Fischer – nein. Und wer es im Fenster einer Buchhandlung ausliegen sieht, wird vielleicht sagen: Auch das noch. Es ist nämlich im Lateindruck gedruckt. Trotz der guten Besprechungen, die ich über das Buch gelesen hatte, war auch ich der beiden ersten Gründe wegen bedenklich. Und erst, als ich eine Einladung zu einer Tagung erhielt, bei welcher die Kenntnis des Buches zur Pflicht gemacht wurde, zwang ich mich widerstrebend dazu, das Buch zu lesen. Ich muß jetzt laut lachen, wenn ich daran denke, daß ich mich beinahe hätte abhalten lassen, dieses Buch zu lesen. In diesem Buche sind so viele Stellen, die für uns Ältere gerade zum Ziel setzend sind, zu denen wir laut und deutlich ja sagen müssen. Deswegen braucht man nicht mit allem einverstanden zu sein, und braucht auch [s]eine Ansicht über die Judenfrage nicht zu ändern.«1184
Die Besprechung der Neuerscheinung eines jüdischen Unternehmers in einem der maßgeblichen Verlage der literarischen Moderne unter Leitung eines jüdischen Verlegers in der »Führerzeitung« kommt bereits einer Sensation nahe. Die Vorbehalte nennt Kötschau selbst und dürfte hiermit vielen Lesern der Zeitschrift aus der Seele gesprochen haben. Wenngleich es sich bei der Publikation Rathenaus um ein politisches Sachbuch handelt, dürften ähnliche Widerstände in weiten Teilen der Jugendbewegung auch gegenüber fiktionaler Literatur bestanden haben. Bereits im Vorfeld der Rezeption kommt es demnach zu bestimmten Selektionshandlungen, die die Rezeption einzelner Literaturen im Voraus verhindern.1185 Kötschau hingegen erlebt dank einer Verpflichtung zur Lektüre eine ihm sonst entgangene positive Überraschung. Bemerkenswert ist 1182 Buchhold erläutert in ihrem Aufsatz nicht, welche leserseitigen Bedingungen erfüllt sein müssen, um ein »Schriftereignis« zu ermöglichen. Erinnert sei jedoch an ihren andernorts bereits besprochenen Aufsatz über die Rezeption »Östlicher Lehren« und die dort von ihr geforderte »Vorbereitung« durch Selbstbesinnung; vgl. hierzu oben, S. 278–280. 1183 Vgl. Hans-Robert Jauß: Kleine Apologie der ästhetischen Erfahrung, Konstanz 1972, S. 42f. 1184 Georg Kötschau: [Rezension zu:] Walther Rathenau, Von kommenden Dingen, in: Führerzeitung, 1917, H. 10/11, S. 159. 1185 Heydebrand, Winko: Wertung, S. 46–57, fassen solche nicht-sprachlichen Formen der Wertung unter den Begriff der »motivationalen Wertung«.
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vor allem der letzte Satz. Er changiert zwischen der Überraschung, auch nach der Lektüre nicht zwangsläufig in jede Überzeugung des Autors einwilligen zu müssen, und der trivial anmutenden Feststellung, dass ein Leser auch vor und während der Lektüre eines Buches nicht in jedem Punkt seine Zustimmung zu geben braucht. Ins Allgemeine gewendet, könnte dies ein Plädoyer für eine Offenheit und Neugier gegenüber dem Fremden und Unbekannten in der Literatur darstellen. Dies ist freilich ein Einzelfall. Nicht nur in der Jugendbewegung wird die Selektion von Literatur von Erwartungen und Präferenzen gelenkt.1186 Werden sie nicht erfüllt, stellt sich Ärger oder Enttäuschung ein über verschenkte Lebens- und Lesezeit, über unnötig ausgegebenes Geld. Und selbstverständlich kann die Auswahl von Literatur auch aufgrund von Vorurteilen und unsäglichen Weltanschauungen wie dem Antisemitismus bestimmt werden. Auch darin ist die Jugendbewegung kein Sonderfall. Bei ihren Mitgliedern herrscht ganz offenkundig weitgehend der Wunsch vor, Bestätigung und Selbstvergewisserung in der Literatur zu finden, nicht zuletzt in ihren politischen Haltungen. Wenn Gerlach Dinters »Sünde wider das Blut« schließlich doch denjenigen ans Herz legt, die »ihr Volk lieben«,1187 dann geschieht dies im Bewusstsein dieses Bedürfnisses nach dem Immergleichen. Es geht um eine Bekräftigung der eigenen Weltanschauung. Mitunter gerät die Lektüre eines Buches oder sämtlicher Publikationen dabei zur Pflicht, nicht nur gegenüber irgendwelchen Idealen, sondern mindestens zu gleichen Teilen gegenüber den Verlegern, die auf die ökonomische Unterstützung der Käufer angewiesen sind: »Die Schriften des Matthesschen Verlages erfreuen allgemein durch ernste Heiligkeit der Auffassung und durch starkes deutsches Zukunftswollen, dem Matthes in seinem Verlage eine Stätte schaffen will in unserer vielfach dekadenten Zeit. Ein schwerer Kampf geschäftlich! Helft ihm darin, Wandervögel!«1188
Der Aspekt der (Selbst)Bestätigung durch Literatur wurde schon von Harry Pross betont und auch danach immer wieder in der Forschung hervorgehoben.1189 Unter dieser Voraussetzung kann die Methode der bisherigen Forschung zum jugendbewegten Rezeptionsverhalten mit ihrer Konzentration auf die Textanalyse gelesener Bücher bis zu einem gewissen Punkt zielführend sein. Es handelte sich dann um eine »Exigenzanalyse« der Literatur, wie sie von Rudolf Schenda avisiert wurde und der es um die mittelbare Herleitung der spezifischen 1186 Vgl. hierzu grundsätzlich ebd., S. 79f. 1187 Vgl. oben, S. 328. 1188 Dankwart Gerlach: [Rezension zu:] Martin Otto Johannes: Wegsucherin Liebe; Erdlinde und der Wanderer, in: Führerzeitung, 1914, H. 4/5, S. 102. 1189 Vgl. Pross: Jugend, S. 338 u. ö.
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literarischen Bedürfnisse des Publikums aus den gelesenen Werken zu tun ist.1190 Betrachtet man das Rezeptionsverhalten aber ausschließlich unter dem Aspekt der Bestätigung einer Weltanschauung, so stellt sich überhaupt die Frage nach dem Mehrwert einer Untersuchung der Lesegewohnheiten der Jugendbewegung. Die Auswertung der literaturkritischen Texte hat jedoch gezeigt, dass die Rezeption manchmal komplexer und vielschichtiger ist, als dass sich eine Reduktion auf die Generierung einer Weltanschauung rechtfertigen ließe. Dazu gehören nicht nur die Negativwertungen aufgrund formalästhetischer oder autonomieästhetischer Wertungen, wie sie in diesem Kapitel beschrieben worden sind, sondern auch die selektiven Rezeptionen, wie sie im Kapitel über Literatur und Identität analysiert wurden. Statt sich auf die politischen Aspekte der literarischen Texte zu fokussieren, wurden die Romane und Erzählungen vielmehr unter dem Gesichtspunkt einer formal gelungenen Lebensführung rezipiert, gegenüber der die Auseinandersetzung mit den Überzeugungen der fiktionalen Figuren mitunter nachgängig ist. Es wäre nun aber gleichfalls verkehrt, hieraus den Schluss zu ziehen, dass Literatur keinerlei Einfluss auf die politische und weltanschauliche Bildung der Jugendbewegung gehabt hätte. Die nicht nur der Heimatliteratur inhärenten Ideologien, dazu ihr quasi beiläufiger, latenter Antisemitismus, von Guy Stern als Toxin beschrieben, das »von Respektspersonen verschrieben und als Belletristik versüßt, in massiven Dosierungen verabreicht wurde«,1191 muss auch auf ihre jugendbewegten Leser Wirkung gehabt haben, insbesondere da weiten Kreisen der Jugendbewegung nur wenige Alternativangebote zur Verfügung standen oder sie sich diesen bewusst verweigerten. Empirische Studien innerhalb der Rezeptionsforschung haben zu dem Ergebnis geführt, dass die Struktur fiktionaler Erzählungen geeignet ist, Überzeugungen sogar nachhaltiger zu verändern, als dies rein diskursiven Sachtexten möglich wäre. Dies ist zum einen bedingt durch die Tatsache, dass Narrative bevorzugte mentale Strukturen sind, um Informationen zu verarbeiten und zu speichern. Zum anderen liegt es daran, dass sich Einstellungen und Überzeugungen als dauerhafter erwiesen haben, die neben einer rein kognitiven auch
1190 Vgl. zu Begriff und Konzept der »Exigenzen« Schenda: Volk ohne Buch, S. 470–486. Für die Erforschung des jugendbewegten Rezeptionsverhaltens bedeutet dies allerdings, dass sich die Analyse nicht auf einige wenige Titel beschränken dürfte. Überdies darf der Unterschied zwischen den Rezipientengruppen nicht übersehen werden: Handelt es sich bei den von Schenda untersuchten Lesergruppen weitgehend um »stumme« Leser, sind die jugendbewegten Leser sehr beredt in Bezug auf ihre Rezeptionen. 1191 Guy Stern: Präfaschismus und die respektable Literatur. Deutsche Romanschriftsteller in ihren Selbstzeugnissen und Briefen, in: Wolfgang Paulsen (Hg.): Der deutsche Roman und seine historischen und politischen Bedingungen, Bern 1977, S. 107–123, hier S. 108.
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eine emotionale Grundlage haben.1192 Die beständige thematische Wiederholung von Stereotypen in der Literatur und die emotionale Aufladung von Wissensbeständen, wie sie im Kapitel über Literatur als Landes- und Heimatkunde beispielhaft vorgeführt wurde, bildet gewiss einen Baustein unter vielen zur Erklärung des jugendbewegten Nationalismus und ihres Antisemitismus. In Anbetracht der Lektüregewohnheiten der Jugendbewegung ist nicht davon auszugehen, dass literarische Texte bei einer größeren Menge von Lesern zu einer nachhaltigen Erschütterung oder Veränderung politischer Vorstellungen geführt haben. Um abschließend noch einmal auf die von Jauß skizzierte Skala des Verhältnisses literarischer Texte zur gesellschaftlichen Wirklichkeit zurückzukommen, lässt sich für weite Teile der Jugendbewegung eine normbildende Funktion annehmen.1193 Weder geht es bei ihrer Rezeption um die reine Negativität gegenüber tradierten ästhetischen, politischen und ethischen Konzepten, noch um eine plane Affirmation. Letzteres gilt umso mehr, als es sich ja vorwiegend um junge Leser handelt, die im Prozess der Enkulturalisation begriffen sind. Sichtbar werden vielmehr zahlreiche und vielfältige Versuche, sich einerseits in den bürgerlichen Wertekanon nicht nur einzugliedern, sondern auch einzulesen, und gleichzeitig, lesend und praktisch handelnd, Anschlüsse an eine »andere Moderne« zu finden, deren Idee sich nicht zuletzt in Konzepten von Authentizität widerspiegelt.
8.3
Authentizität
In beinahe allen bisher vorgestellten Aspekten des jugendbewegten Literaturkonzepts spielten Vorstellungen von Authentizität eine zentrale Rolle. Wenn daher in diesem Abschnitt der These nachgegangen wird, dass Authentizität ein zentrales Wertungskriterium in der Jugendbewegung darstellt, kann es nicht darum gehen, der bisherigen Darstellung wesentliche inhaltliche Momente hinzuzufügen. Statt dessen ist es mein Anliegen, die unter verschiedenen Gesichtspunkten durchgeführte Analyse des Literaturkonzepts zusammenzuführen und in eine dem Literaturkonzept inhärente Struktur zu bringen. Gleichzeitig wird im Auge zu behalten sein, dass das Projekt einer »anderen Moderne« in vielfacher Hinsicht mit Formulierungen von Authentizitätskonzepten verbunden ist. Der Begriff der »Authentizität« begegnet im Quellenmaterial an keiner Stelle. 1192 Vgl. Green, Garst, Brock: Power of Fiction, S. 172f. Vgl. zur rezeptionstheoretischen Wirkungsforschung darüber hinaus die Beiträge in Poetics Today 2004, Jg. 25, H. 2. 1193 Vgl. Jauß: Apologie, S. 42f.
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Dies ist nicht nur bedingt durch die Vermeidung von Fremdwörtern in den Zeitschriften, sondern ebenso durch den Umstand, dass die Karriere des Authentizitätsbegriffs als zentraler Kategorie der Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einsetzt.1194 Er wird daher im Folgenden als metasprachlicher Ausdruck verwendet, mit dessen Hilfe sich verschiedene Positionen und Überzeugungen der jugendbewegten Literaturkritiker unter einer gemeinsamen Perspektive verbinden lassen. Dies wird wesentlich erleichtert durch die Tatsache, dass der Authentizitätsbegriff vielfach als flexibel einsetzbares »terminologische[s] Passepartout« dient.1195 Allerdings liegt gerade hierin auch die Gefahr, dem Begriff selber auf den Leim zu gehen und unter seinem Schirm Unvereinbares miteinander in Beziehung zu setzen. Dennoch werde ich auf eine einleitende Explikation verzichten. Der Nachweis seiner stimmigen Verwendung soll im Verlauf der Argumentation erbracht werden, was gleichfalls für die Erläuterung seiner zahlreichen Bedeutungsfacetten gilt. Dieses Vorgehen mag dadurch gerechtfertigt werden, dass selbst Arbeiten, die sich ausschließlich dem Authentizitätsbegriff widmen, die Unmöglichkeit einer eindeutigen Definition eingestehen.1196 Hilfe genommen wird dann zumeist bei der Aufzählung von Synonymen wie »Echtheit, Wahrhaftigkeit, Ursprünglichkeit und Unmittelbarkeit«1197 oder von Antonymen wie »Kopie, Inszenierung, Falschheit, Fälschung und Konvention«,1198 die auch hier als vorläufige Heuristik dienen sollen. Angesichts dieser Situation scheint es plausibel, Konzepte der Authentizität sowieso weniger vom Begriff her verstehen zu wollen und stattdessen von Authentizitätsdiskursen zu reden,1199 von spezifischen »System[en] des Denkens und Argumentierens«1200, denen trotz zahlreicher Filiationen gemeinsam ist, sich auf Ursprünge und Ursprungszustände zu beziehen.1201 1194 Vgl. Knaller: Wort, S. 7. 1195 Markus Wiefarn: Authentifizierungen. Studien zu Formen der Text- und Selbstidentifikation, Würzburg 2010, S. 9. 1196 Vgl. Susanne Knaller, Harro Müller: Art. Authentisch/Authentizität, in: Karlheinz Barck, Martin Fontius, Dieter Schlenstedt u. a. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe: Bd. 7, Stuttgart u. a. 2005, S. 40–65, hier S. 40. 1197 Knaller : Wort, S. 7. 1198 Jochen Mecke: Der Prozess der Authentizität. Strukturen, Paradoxien und Funktionen einer zentralen Kategorie moderner Literatur, in: Knaller, Müller (Hg.): Authentizität, S. 82–114, hier S. 82. 1199 Vgl. hierzu auch Bendix: Search of Authenticity, S. 17, die Authentizität ebenfalls als diskursive Formation begreift; ähnlich auch Schlich: Authentizität, S. 20. 1200 Winko: Diskursanalyse, S. 464. 1201 Vgl. zum Zusammenhang von Authentizitätsdiskursen und Ursprungsdenken unter anderem Andreas Huyssen: Zur Authentizität von Ruinen: Zerfallsprodukte der Moderne, in: Knaller, Müller (Hg.): Authentizität, S. 232–248, hier S. 236 und Wiefarn: Authentifizierungen, S. 10.
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Ausgangspunkt der Überlegungen soll jene im Kapitel zu Autorschaft vorgestellte Form der Referenzauthentizität sein, nach der sich die positive Wertung eines literarischen Textes seiner Übereinstimmung mit der intersubjektiv wahrnehmbaren außerliterarischen Wirklichkeit verdankt. Die Hochschätzung einer in diesem Sinn mimetischen Kunst ist dem Umstand geschuldet, dass die jugendbewegten Leser Literatur vielfach zur Vorbereitung von Reisen und zur Akkumulation von Wissen nutzen. Für die Wertung von Texten resultiert daraus die Forderung nach dem attributiven Wert eines Darstellungsrealismus und nach realitätsnahen und glaubwürdigen Figuren und Handlungen, die möglichst unmittelbare Anschlusshandlungen, zum Beispiel in Form eigener Reisen, ermöglichen. Gleichzeitig bedingt die enge Verknüpfung von Literatur und Praxis eine Vorliebe für Handlungsräume in der Natur oder in ländlichdörflicher Umgebung, in denen sich ein großer Teil der jugendbewegten Freizeitaktivitäten abspielt. Nicht zuletzt aufgrund der literarischen Vermittlung werden aber die realen Menschen in all den Dorf- und Waldheimaten selbst mit einer Aura des Authentischen umgeben, die nun eine Authentizität von Subjekten ist. Es ist die moderne Sehnsucht nach Urzuständen jenseits zweckrationaler Zusammenhänge innerhalb der industriekapitalistischen Gesellschaft, die in ihr zum Tragen kommt und ebenso auf Individuen wie auf ganze Gruppen bezogen wird. In ihrer modernen, subjektivitätstheoretischen Ausprägung lässt sich Subjektauthentizität begreifen als »Vorstellung eines empirischen, gesellschaftlichen, psychologischen Subjekts, das Wahrhaftigkeit auszeichnet. In seiner Außendarstellung und kommunikativen Haltung weist der Einzelne als authentisches Subjekt deshalb eine Übereinstimmung von Form und Selbst auf: D. h. mediale Selbstdarstellung und Kommunikation entsprechen idealerweise den biografischen, psychologischen und physischen Besonderheiten«.1202
Die Jugendbewegung hat dieses Konzept in der Meißner Formel zum Ausdruck gebracht, zu deren Zentralbegriffen jener der »Wahrhaftigkeit« gehört, den auch Knaller in ihrer Explikation verwendet und der in der Forschung zu Authentizitätskonzepten immer wieder begegnet. Im jugendbewegten Umgang mit Literatur findet sich dieses Moment zunächst in der positiven Wertung von literarischen Figuren, die diesem Persönlichkeitsideal entsprechen. Diese Form der Subjektauthentizität fungiert demnach als Zuordnungsvoraussetzung zwischen dem attributiven Wert einer bestimmten Figurengestaltung und dem funktionalen axiologischen Wert, nachdem Literatur Vorbilder zeigen soll. Zu diesem Ideal gehört gleichzeitig die Vorstellung von einem Persönlichkeitskern, der sich in allen Handlungen und Äußerungen bemerkbar machen 1202 Knaller : Wort, S. 22.
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soll. Das Verhalten solcherart authentischer Menschen »folgt […] nicht äußerem Zwang, sozialen Konventionen oder unreflektiertem Traditionalismus«, sondern ist Ausdruck ihres eigentümlichen »Charakters«.1203 Das spielt auch bei der Wertung fiktionaler Figuren eine Rolle, ist darüber hinaus aber vor allem wesentlicher Bestandteil der Wertung von Autoren. Ihr Schreiben soll keiner Mode folgen und sich nicht den Bedürfnissen des Publikums anpassen, sondern unmittelbar und unvermittelt ihrem eigenen Erleben und Fühlen entspringen.1204 Besonders geschätzt werden daher Autoren, deren Texte einen autobiographischen Entstehungshintergrund haben oder in die ein solcher hineininterpretierbar ist. Das ist freilich ein weitgesteckter Rahmen für die Wertung von Literatur, und auch in der Jugendbewegung ist die Behauptung einer Einheit von Leben und Werk häufig nicht mehr als Spekulation. Auf formalästhetischer Ebene resultiert hieraus häufig eine positive Wertung einfacher und wenig komplexer Literatur, der ›volkstümliche‹ Genres wie das Märchen und das Volkslied als Vorbild dienen. Die vermeintliche Naivität dieser Gattungen gilt als Ausdruck ihrer Zweck- und Intentionslosigkeit und korrespondiert darin der Sehnsucht nach Gemeinschaften, deren Zusammenhalt nicht nach dem Maßstab instrumenteller Vernunft geregelt ist, sondern auf vermeintlich ›natürlichen‹ Bindungen beruht. Hochgradig selbstreflexive Formen des Erzählens, ironische Brüche, formale Experimente werden hingegen mit jener Moderne identifiziert, der weite Teile des Bürgertums und mit ihr der Jugendbewegung skeptisch bis ablehnend gegenüberstehen. Ästhetischer Innovation, und damit jenem modernen Ideal der Kunstauthentizität, dem Originalität und Abweichung von der Tradition als höchste Werte gelten, wird innerhalb des jugendbewegten Literaturkonzepts eine Absage erteilt. In der Entwicklung des modernen Konzeptes von Subjektauthentizität stellt die um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert entstandene Abweichungsästhetik einen Meilenstein dar. Der sich und sein Kunstwerk autonom aus sich selbst heraus setzende Künstler wurde zum Prototyp bürgerlichen Emanzipa1203 Thomas Noetzel: Authentizität als politisches Problem. Ein Beitrag zur Problemgeschichte der Legitimation politischer Ordnung, Berlin 1999, S. 23. Vgl. hierzu auch Leo: Wille zum Wesen, der das »charakterologische Denken« als einflussreiches und ungemein verbreitetes »alltagstaugliches Orientierungswissen« beschrieben hat. Es zielt auf eine Erkenntnis der »unveränderlichen Wesensunterschiede zwischen den Menschen« ab, auf die »nicht beeinflussbaren inneren Antriebe[…] des Verhaltens«, und dies mit einem Gestus der Entlarvung vorträgt. Ziel ist stets der ›eigentliche‹, ›authentische‹ Mensch »unterhalb der sozialen ›Maske‹« (vgl. v. a. ebd., S. 141–147 zur Rekonstruktion der »Umrisse eines Idealtyps« charakterologischen Denkens). 1204 Vgl. zur Entstehung des hier aufgerufenen Konzeptes von Authentizität in der Hof- und Philisterkritik des 18. Jahrhunderts und deren Forderung nach einem »Charakter, dessen Merkmale Beständigkeit und Aufrichtigkeit, Identität und Transparenz« sein sollen, Schlich: Authentizität, S. 52–83.
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tionsstrebens und zum Sinnbild für die Möglichkeit des unabhängigen Selbstentwurfs jenseits aller Konventionen.1205 Authentizität dient in diesem Zusammenhang als »Individualitätskategorie«, die ihr volles Potential allerdings erst dann entfalten kann, als sich alle Versuche als hinfällig erweisen, »das Besondere und das Allgemeine, das Spezifische und das Generelle, das Partikuläre und das Ganze« miteinander zu versöhnen.1206 Der moderne Roman reagiert auf diese Situation der Kontingenzerfahrung dadurch, dass er Wahrheit nicht mehr als Transzendentes begreift, auf das sich fraglos zugreifen ließe und das lediglich zur Darstellung gebracht werden müsste, sondern als etwas, was es im Prozess des Schreibens allererst herzustellen gilt. Antonius Weixler zieht aus dieser Erkenntnis den Schluss, dass »unter modernen Vorzeichen ontologische Referenzund Individualauthentizität nicht mehr möglich« sei.1207 Das ist aber nur die halbe Wahrheit: Unmöglich wird die Berufung auf authentische Wahrheiten jenseits aller Konstruktion nur innerhalb der ontologischen, epistemologischen und subjektivitätstheoretischen Voraussetzungen der Moderne.1208 Den Individuen steht es jedoch frei, sich diese Positionen anzueignen oder auf älteren, vormodernen Konzepten zu beharren, auch wenn dies zunehmend schwieriger werden mag. Seit den Anfängen moderner Authentizitätskonzeptionen bei Rousseau – dessen Entwurf korrekt als »Vorentwurf eines individualauthentischen Konzepts« bezeichnet werden muss1209 – lässt sich das Authentische nicht nur als Entwurf freischwebender, selbstbestimmter Individualität denken, sondern gleichermaßen auch durch die Rückbindung des Individuums an ein ihm vorausliegendes Allgemeines. Zu Recht weist Susanne Knaller deshalb darauf hin, dass »im 18. Jahrhundert individualethische Annahmen nicht mit dem Begriff des authentischen, sondern des wahren, guten, richtigen, schönen Lebens fusioniert« werden.1210 Bei Rousseau geschieht dies durch die ›Stimme der Natur‹, die der Mensch wieder in sich entdecken soll. Die Jugendbewegung erweist sich so zugleich als modern und antimodern.1211 1205 Vgl. unter anderem Taylor: Ethics of Authenticity, S. 62; grundsätzlich auch Schlich: Authentizität. 1206 Knaller : Wort, S. 20f. 1207 Antonius Weixler : Authentisches erzählen – authentisches Erzählen. Über Authentizität als Zuschreibungsphänomen und Pakt, in: ders. (Hg.): Authentisches Erzählen. Produktion, Narration, Rezeption, Berlin u. a. 2012, S. 1–32, hier S. 5. 1208 Dass selbst dort die Suche nach einer dem Subjekt vorgängigen Authentizität möglich sein kann, zeigt Weixler ebd. durch seine Hinweise auf entsprechende Konzepte im Futurismus, im Primitivismus und in der frühen Rezeption der Psychoanalyse implizit selbst. 1209 Vgl. Knaller: Wort, S. 64. 1210 Ebd., S. 20. 1211 Vgl. hierzu auch Bendix: Search for Authenticity, S. 8, die die Suche nach dem »Authentischen« und ursprünglichen Zuständen grundsätzlich als gleichzeitig modern und antimodern kennzeichnet.
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Modern ist sie insofern, als die nachdrückliche Behauptung von Wahrhaftigkeit, Natürlichkeit, Echtheit und Reinheit dem Gefühl Ausdruck verleiht, dass diese Kategorien ihre Selbstverständlichkeit verloren haben und durch ihre wiederholte Beschwörung und durch ästhetisch-soziale Praktiken wie dem Wandern, dem Singen, dem Erlernen von Volkstänzen und dem Vorlesen in die moderne Welt zurückgeholt werden müssen. Unmodern ist hieran jedoch, dass die zum Literaturkonzept der Jugendbewegung gehörige Vorstellung ›authentischer Individualität‹ stets an Moralvorstellungen oder an Vorstellungen kollektiver Identität gebunden bleibt, die als ursprüngliche, substantielle Wesenseigenschaften der Menschen propagiert werden. Ziel ist nicht der spielerische, produktive Umgang mit Kontingenz, sondern die Bändigung von Kontingenz. Bezogen auf die Moralvorstellungen ergibt sich bei der Wertung von Literatur wiederum eine Ablehnung insbesondere der ästhetisch progressiven zeitgenössischen Literatur, wobei gerade eine offene Thematisierung von Sexualität regelmäßig auf Widerstand stößt. Gleichzeitig wird theoretischen und literarischen Formen der Hybridität eine Absage erteilt. Dies lässt sich zunächst an der Disqualifizierung moderner Literatur als »weibisch Zeug«1212 ablesen und in der Behauptung, »letzten Endes ein kräftigeres, weniger molluskenhaftes, männlicheres, heldenhafteres Menschtum« zu verfolgen, »als wie es etwa Franz Werfel, Stefan George darstellen«.1213 In der Wertung von Literatur erweisen sich die Geschlechterbilder der Jugendbewegung als stabil und können – positiv und negativ – sowohl auf Figuren, Autoren und formale Aspekte bezogen werden, wobei die Zuordnungsvoraussetzungen durchaus differieren können.1214 Dass die Konstruktion von ›Geschlecht‹ in der Jugendbewegung immer wieder auf Konzepte von ›Natur‹ und ›Natürlichkeit‹ zurückgreift, mittels derer Reinheitsideale entwickelt werden und die sich gegen ›Dekadenz‹ und ›Moderne‹ wenden lassen, hat bereits Sabine Andresen gezeigt.1215 Ebenso wird Formen kultureller Hybridität eine Absage erteilt. Wenngleich sich im Umfeld der Freideutschen Jugend mit der Zeit eine moralische, politische und zum Teil auch literarische Orientierung an Menschheitsidealen entwickelt, ist bei weiten Teilen der Jugendbewegung der Glaube an eine »natürliche«, dem geschichtlichen Wandel entzogene »Identitätssubstanz« weit verbreitet, die über 1212 Dankwart Gerlach: [Rezension zu:] Eberhard König, Von dieser und jener Welt, in: Führerzeitung, 1917, H. 2/3, S. 42f., hier S. 43. 1213 M.[ax] B.[ondy] 1914/15: Der Aufbruch und die Freideutsche Jugend, in: Freideutsche Jugend, 1914/15, S. 232–234, hier S. 234. 1214 Gegen Max Bondys Kritik an George richtet sich Eduard Heimann: Noch einmal »Der Aufbruch«, Verteidigung und Kritik, in: Freideutsche Jugend, 1916, H. 3/4, S. 91–95, der die formale Strenge der Georgeschen Lyrik als Zeichen für Männlichkeit und Heroismus interpretiert wissen will. 1215 Vgl. v. a. Andresen: Mädchenjugend.
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Konzepte von »›Nation‹, ›Volk‹, ›Rasse‹ und ›Ethnie‹« codiert werden kann1216 und die den Einzelnen mit der Gemeinschaft verbindet. Diese Konzepte kollektiver Identität, Substitute für den Geltungsverlust von Traditionen,1217 werden in der Jugendbewegung im Umgang mit Literatur auf mehreren Ebenen aktiviert, wobei es insbesondere die Kategorie des ›Volkes‹ ist, die eine zentrale Rolle einnimmt. Autorschaft wird mittels zeitgenössischer Theorien und unter Rückgriff auf ältere Konzepte eines in der Literatur wirksamen ›Volksgeistes‹ normativ an ein teils national, teils völkisch, teils rassisch vorgestelltes Kollektiv zurückgebunden. Das Werk eines Autors soll demnach nicht nur Ausdruck seines individuellen Erlebens sein, sondern in seiner Eigenart auch die kollektiven Eigenschaften der Gemeinschaft repräsentieren. In der Wertung von Literatur drückt sich dies zunächst in einer Ablehnung von Autoren aus, die von den der Konstruktion des Kollektivs inhärenten Ausschlussmechanismen betroffen sind. Hingegen gelten solche Autoren in der Jugendbewegung als besonders wertvoll, denen aufgrund von Überzeugungen über ihre Biographie eine ›volkstümliche‹ Lebensweise nachgesagt wird, indem sie beispielsweise neben der Schriftstellerei traditionellen Berufen nachgehen, oder sich in ihrem literarischen Schaffen bestimmten Regionen verpflichtet fühlen und diese immer wieder thematisieren. Ausgeschlossen wird hiervon jedoch die Stadt als biographischer Lebensort wie als literarischer Handlungsort. Die Stadt gilt vielmehr als Sinnbild für Lebensweisen und Vergemeinschaftungsformen, die den zum Ideal erhobenen Ursprüngen entfremdet sind. Die Suche nach dem Authentischen in der Literatur reicht weit über die Wertung einzelner Texte hinaus, da ihr in ihrer vermeintlichen Zweck- und Intentionslosigkeit die Möglichkeit einer »anderen Moderne« inhärent zu sein scheint. An unscheinbarer Stelle, unter der Überschrift »Vermischtes«, spricht ein anonymer Verfasser in der Zeitschrift des WVDB über den in der Jugendbewegung vielgeschätzten Maler und Illustrator Otto Ubbelohde, dessen Bilder ihm beispielhaft für die Möglichkeiten der Kunst überhaupt sind: »Die Schönheit lebt noch immer in uns und um uns, und wer die glücklichen Augen hat, dem offenbart sie sich allüberall. Und doppelt beglückt, die sie nicht nur schauen, sondern auch anderen zeigen können: die Künstler. Leben sie denn in derselben Welt wie die anderen Menschen? Ja und nein! Vielen bleibt diese schönere Welt ewig verschlossen, aber wer die rechte Sehnsucht danach hat, der kommt hinein, der sieht in jedem Baume etwas mehr als so und soviel Klafter Holz, und in jedem Kornfelde mehr 1216 Vgl. Peter Berghoff: Das Phantasma der »kollektiven Identität« und die religiösen Vorstellungen von Volk und Nation, in: Stefanie von Schnurbein, Justus H. Ulbricht (Hg.): Völkische Religion und Krisen der Moderne. Entwürfe »arteigener« Glaubenssysteme seit der Jahrhundertwende, Würzburg 2001, S. 56–74, hier S. 58. 1217 Vgl. hierzu Niethammer : Kollektive Identität, v. a. S. 418–423.
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als einen Haufen Stroh und einen Boden voll Frucht. Aber wer lehrt uns die Welt also zu sehen? Es sind die Künstler.«1218
Das Naturschöne und das Kunstschöne erscheinen hier in gleichem Maße als das Jenseitige der Gesellschaft, das sich einer planen Zweckhaftigkeit und ökonomischer Verwertung entzieht. Den bekanntesten und gleichzeitig anspruchsvollsten Ausdruck hat diese Idee im 20. Jahrhundert in Theodor W. Adornos »Ästhetischer Theorie« erfahren. Kunst als »bestimmte Negation der bestimmten Gesellschaft« kritisiert diese »durch ihr bloßes Dasein«.1219 Anders jedoch als bei Adorno, bei dem die Authentizität der Kunst sich aus einem »negativ-dialektische[n] Spiel zwischen Identität und Differenz« speist,1220 verharrt die Jugendbewegung in ihrem Literaturkonzept und darüber hinaus in Vorstellungen vom »Eigenen«, »Wesentlichen«, »Natürlichen«, »Ursprünglichen« und variiert dabei nur Momente des Identischen.1221 Am deutlichsten wird dies vielleicht in der jugendbewegten Adaption des »Volkskultur-Programms«1222, das in seinen Grundzügen seit Herder unverändert tradiert wird. »Volkspoesie« soll demnach nicht nur »von der lebendigen Individualität, dem Geist eines Volkes geprägt sein«, sondern gleichzeitig »zum idealen Volk« erziehen.1223 Spätestens mit der Nationalisierung der Sammlung und Rezeption ›volkspoetischer‹ Texte wird dieses Denken zirkulär, indem das avisierte ›Volk‹ jenes ist, das immer schon da war und lediglich in Teilen durch den gesellschaftlichen Fortschritt korrumpiert worden sei. Aber auch der beständige Blick zurück in die Geschichte, die stets als eigene Geschichte vereinnahmt wird, zeugt hiervon ebenso gut wie die immer wiederholten moralischen Verdikte gegen Literaturen und Lebensformen, die nicht die eigenen sind.1224 1218 Anonym: Vermischtes. Otto Ubbelohde, in: Wandervogel Monatsschrift (WVDB), 1908, H. 1, S. 14. 1219 Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, Frankfurt a. M. 1970, S. 335; vgl. hierzu auch Harro Müller : Adornos Theorie des authentischen Kunstwerks. Rekonstruktion und Diskussion des Authentizitätsbegriffs, in: Knaller, Müller (Hg.): Authentizität, S. 55–67, hier v. a. S. 63f. 1220 Vgl. Müller : Adornos Theorie, S. 62. 1221 Nicht von ungefähr kommt Adorno in seiner Auseinandersetzung mit dem »Jargon der Eigentlichkeit« mehrfach auf die deutsche Jugendbewegung zu sprechen; vgl. Theodor W. Adorno: Jargon der Eigentlichkeit. Zur deutschen Ideologie, Frankfurt a. M. 1969, S. 9, S. 15, S. 55. 1222 Wolfgang Braungart: »Aus denen Kehlen der ältsten Müttergens«. Über Kitsch und Trivialität, populäre Kultur und Elitekultur, Mündlichkeit und Schriftlichkeit der Volksballade, besonders bei Herder und Goethe, in: Goethezeitportal: http://www.goethezeit portal.de/db/wiss/epoche/braungart_volksballade.pdf, S. 8. 1223 Ebd. 1224 Auch darin zeigt sich Modernität und Vormodernität der Jugendbewegung gleichermaßen. Ralf Konersmann: Kulturkritik, Frankfurt a. M. 2008, S. 47, hat als Kennzeichen vormoderner Kritik ausgemacht, dass diese ein »Instrument der Richtigstellung, der Nachbesserung, der Korrektur [ist]. Wenn man weiß, was das Richtige und Tunliche ist,
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Der kollektive Umgang der Jugendbewegung mit Literatur ist weitgehend geprägt von einem Mangel an Phantasie, fehlender Neugier auf Entdeckungen und dem Erlebnis zweckbefreiter Lust beim Lesen.1225 In der Verweigerung eines »lustvollen Verschwinden[s] des Subjekts im Kunstwerk«,1226 in dem die Möglichkeit einer Erfahrung von Differenz und Alterität liegen würde, zeigt sich vielleicht genau jene Angst vor Ich-Entgrenzung und Ich-Diffusion, die Klaus Theweleit als psychologische Gemeinsamkeit der Freikorps-Soldaten der 1920er Jahre analysiert hat.1227 Kritisiert und überstiegen wird dieser Zirkel von Identität und Authentizität im gesamten ausgewerteten Quellenmaterial nur einmal in aller Deutlichkeit in einem Versuch, dem Kino als repräsentativem Medium moderner Kunst einen Platz im Bemühen um gesellschaftliche Veränderungen zuzuweisen. Hans KochDieffenbach, zunächst Wandervogel, während des Krieges Mitglied einer klandestinen, pazifistischen Freundesgruppe mit jugendbewegtem Hintergrund und nach dem Krieg Gründer einer kommunistisch-jugendbewegten Siedlung,1228 erklärt die Unmöglichkeit authentischer Kunstwerke in einer »bürgerlichen Scheinwelt«, die auf einem »Fundament von Bildern, Ideologien, Vorurteilen« ruhe1229 : »Wir glauben ja nicht mehr daran, daß man ›Wesentliches‹, daß man ›Wirklichkeit‹ aussagen könnte. Was ich erst fassen kann, formen als Kunstwerk oder intellektuelles Gebäude ist damit schon dem Scheine verfallen. Wird Bild und Spiel. Lächerlich, es ernst zu nehmen. Und die es ernst nehmen, stehen noch in der Welt, die aus Sentimentalität und Hoffnung lebt, aus Gestern und Morgen. Nie aber im Jetzt, der allein gültigen Gegenwartswirklichkeit.«1230
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kann sich die Kritik auf die Rolle eines Aufsichtsorgans beschränken, das Abweichungen von der authentischen Version, von der Urfassung und dem Tun des Rechten aufspürt und zurückweist«. Die schrillen Töne, derer es hierzu in der Jugendbewegung bedarf, die Kompromisslosigkeit und Radikalität, die die Aus- und Abgrenzungen immer wieder annehmen, sind Gradmesser dafür, dass Überzeugungen und Traditionen ins Wanken geraten, ihre Selbstverständlichkeit verloren haben. Vgl. hierzu auch die Ausführungen von Schlich: Authentizität, S. 82f., zu Konzeptualisierungen des ›Natürlichen‹ innerhalb des Authentizitätsdiskurses, die stets bereits einen bestimmten Begriff des ›Natürlichen‹ voraussetzen. Vgl. hierzu auch die auf Literatur applizierte Explikation des Spielbegriffs bei Anz: Literatur und Lust, S. 37: »›Spiel‹ steht für die lustvolle Befreiung von unlustvollen Zwängen«. Anz: Literatur und Lust, S. 28, zitiert hier Adorno und macht auf ähnliche Vorstellungen bei Roland Barthes aufmerksam. Klaus Theweleit: Männerphantasien, 2 Bde., Frankfurt a. M. 1977/1978. Vgl. Ulrich Linse: Die Kommune der deutschen Jugendbewegung. Ein Versuch zur Überwindung des Klassenkampfes aus dem Geiste der bürgerlichen Utopie. Die ›kommunistische Siedlung Blankenburg‹ bei Donauwörth 1919/20, München 1973; zur Biographie Koch-Dieffenbachs v. a. S. 165–167. Hans Koch-Dieffenbach: Kino!, in: Junge Menschen, 1921, H. 9, S. 282–284, hier S. 282. Ebd., S. 282f. Die gänzlich konträre Position nimmt Walter Hammer in seiner Kritik des
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Das richtet sich zunächst gegen den »Schundkampf« der Jugendringe und der Jugendbewegung, den Koch-Dieffenbach als fehlgeleiteten »Kampfbetrieb« betrachtet, dem »sinnvolle Auswirkung versagt […] bleibt«.1231 Gleichzeitig wird die Sehnsucht der Jugend nach dem ›schönen Schein‹ als hoffnungslos illusorischer Versuch diskreditiert, dem eigenen »Sklavenlos« zu entfliehen, ohne die gesellschaftlichen Zustände zu durchschauen und substantielle Veränderungen herbeizuführen. In den aus dem Umfeld der Schundkämpfer geforderten »Reformfilmen« erkennt er nichts anderes als »Abbilder ihrer infantilen Knabenträume, in denen die Welt noch heil und ganz ist«.1232 In den Filmen der Kulturindustrie1233 komme die Gegenwart hingegen zu sich selbst: »Das Kino aber ist die Welt von Spiel, Bild und Schein – aus der der letzte Rest von Sentimentalität weichen muß. […] Es ist das Narrenhaus menschlicher Gefühle, die, in kurze Fetzen zerrissen, Teilbild für Teilbild ohne Sinn und Zusammenhang einheitlichen Geschehens, vom Regisseur vermittelt, gekurbelt werden […]. Hier hebt die Welt sich auf, und Christus am Kreuz, von geschäftstüchtiger Filmfirma, mit kirchlicher Befürwortung gekurbelt, ist deutlicheres Symbol für die »Reife« unserer Zeit als die Flucht Kaiser Wilhelms nach Holland. Grinsende Grimasse ist der Film heute, Hohnlachen der Welt über sich selbst.«1234
Indem der Film gerade nicht ein utopisches Morgen oder ein idealisiertes Gestern zeige, sondern die Gegenwart mit all ihren Brüchen ›spiegele‹,1235 verweigere er sich einer Konsumption, die nicht mehr sein kann als Surrogat unbefriedigten realen Glücks. Das verlangt freilich, ohne dass Koch-Dieffenbach dies explizieren würde, auch eine bestimmte Rezeptionshaltung. Der Rezipient darf sich nicht mit den im Film gezeigten Handlungen und Figuren identifizieren in dem Sinn, dass er ihnen seine Zustimmung und sein Einverständnis erteilt. Es bedarf der Distanz und der Reflektion, um die modernen, populären Künste als Symbol zu begreifen für die Zustände, die sie hervorbringen. Insofern bleibt KochDieffenbach dem Literaturkonzept der Jugendbewegung verbunden. Auch er scheint die Gegenwartskunst für etwas zu halten, das es hinter sich zu lassen gilt. Seine Position differiert jedoch entscheidend vom jugendbewegten Literatur-
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Kinos ein, der den Film durchaus sehr ernst nimmt und ihm mit moralischen Argumenten beizukommen sucht. Vgl. hierzu oben, S. 161 dieser Arbeit. Ebd., S. 282. Ebd., S. 283. Koch-Dieffenbach spricht lediglich vom »Film«, ohne ihn mit einem bestimmten Attribut näher zu qualifizieren. Insofern ist die Verwendung des erst von Adorno und Marcuse in ihrer »Dialektik der Aufklärung« prominent gemachten Begriffs der »Kulturindustrie« zwar anachronistisch, hat jedoch im Zusammenhang mit Koch-Dieffenbachs Ausführungen, in denen die Ökonomie der Filmindustrie eine zentrale Rolle spielt, durchaus seine Berechtigung und Prägnanz. Ebd. Ebd. verwendet er die Metapher des Spiegels in seiner Kritik des »Reformfilms«: »Wenn ein Spiegel so gebogen wird, daß er ein bestimmtes Bild entwirft, wird er zum Zerrspiegel«.
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konzept, indem er der populären Kunst eine notwendige Rolle zuspricht, nämlich die, Illusionen über die Gesellschaft, ihre Grundlagen und über die Möglichkeiten ihrer Veränderung zu zerstreuen. Als Voraussetzung für diese kritische und distanzierte Haltung gegenüber dem Film gilt ihm jedoch, nicht selbst Teil der »bürgerlichen Scheinwelt« zu sein. Die Chance auf das ›richtige Leben im falschen‹ bietet sich ihm in seinem Siedlungsaktivismus: »Ja, zwischen ›Siedlung‹ und ›Kino‹ spannt sich der Bogen, auf dem die Erlösung greifbar scheint. Schein und Wirklichkeit, nun nicht mehr durcheinandergemengt, die ekle Trübung zeugend, die das hat werden lassen, was heute gilt, sondern jedes in seinem Umkreise in Reinheit zu Ende gelebt und eines Gleichnis des andern, das ist uns erzieherische Möglichkeit des Kino […].«1236
Von diesem Standpunkt aus wirbt er emphatisch für das Kino: »Der Rausch unserer Phantasien wird Stoff zu unseren Filmen. Letzte Regungen von Sentimentalität verlieren wir vor dem Zyklopenauge des Kinoapparates. Und wenn wir erst in unseren Reihen Regisseure haben – ihr wißt, die kriegen Geld wie Heu! – dann wird der Fluch gebrochen sein, der uns mit letzter Kraft noch halten will im bürgerlichen Leerlauf! Durch das Kino die neue Erde für unsere Wirklichkeit! Zwischen ›Kino‹ und ›Kuhstall‹ – ihr wißt, wie ich’s meine – geschieht die Reinigung, das Sehenlernen, die Auflösung zum Kern hin – wenn’s einen gibt! – die uns allein das Leben heute so interessant und bindend macht.«1237
Affirmation und Kritik, Identifikation und Distanz, Ironie und heiliger Ernst tanzen hier wild durcheinander und entwerfen so ein Bild, das die Diskussionen um die Populärkultur bis heute bestimmen. Einmal erreicht die Jugendbewegung also doch die Moderne in all ihren wundervollen Widersprüchen, ohne sich gleich voller Furcht und Ressentiment von ihr abzuwenden.
1236 Ebd. 1237 Ebd., S. 284.
9.
Zusammenfassung – Ergebnisse – Desiderate
Ziel der vorliegenden Studie ist es gewesen, den jugendbewegten Umgang mit Literatur erstmals auf der Grundlage von Ergebnissen aus der Rezeptionsforschung zu untersuchen. Die für den vorliegenden Zusammenhang entscheidende Erkenntnis aus dem Überblick über Positionen der psychologischen Textverstehensforschung ist, dass es sich beim Verstehen und Interpretieren von literarischen Texten nicht einfach um die passive Aufnahme von Informationen und die Übernahme von Meinungen handelt, sondern um einen hochkomplexen Prozess, der durch die aktive Rolle der Leserin bestimmt ist. Wie ein Text verstanden wird, ist unter anderem abhängig von ihren Interessen, ihren Vorkenntnissen, von ihrer Lebenssituation und ihrem kulturellen Umfeld. Wenn demnach die Lektüre eines literarischen Textes allein noch keine Auskunft über die Bedeutungszuschreibungen verschiedener Leser geben kann, bedeutet dies, dass valide Ergebnisse in der historischen Rezeptionsforschung nur über die Analyse von Rezeptionsdokumenten gewonnen werden können. Die Jugendbewegung hat derartige Dokumente in ihren Zeitschriften in großer Zahl publiziert: in Form von Rezensionen und anderen literaturkritischen Artikeln. Wohl kaum eine andere Jugendkultur hat in einem derartigen Umfang gedruckte Quellen hinterlassen wie die bürgerliche Jugendbewegung. Daher war es unumgänglich, eine vorherige Selektion vorzunehmen, um das Untersuchungskorpus handhabbar zu halten. Neben der Auflagenzahl waren vor allem die Relevanz einer Zeitschrift innerhalb der Jugendbewegung und ein besonderes inhaltliches Profil ausschlaggebend. Wichtiger noch war aber die Entwicklung eines methodischen Zugriffs, der eine Auswertung der literaturkritischen Texte erlaubt, die weder von einem aus heutigem Interesse heraus erstellten Korpus literarischer Texte ausgeht – beispielsweise einem heute gültigen literarischen Kanon – noch sich mit der beliebigen Aneinanderreihung von Analysen zufällig ausgewählter Rezensionen begnügt. Da innerhalb der historischen Jugendforschung bislang kaum Vorarbeiten vorliegen, die den Ansprüchen an eine konsequente historische Rezeptionsforschung genügen, sollte das terminologische Instrumentarium darüber
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Zusammenfassung – Ergebnisse – Desiderate
hinaus auf die Voraussetzungen der Rezeption von Literatur und des Schreibens über Literatur in der Jugendbewegung zielen. Hierfür wurde der Begriff des Literaturkonzeptes eingeführt. Dieser bezieht sich nicht auf die Wertung, Interpretation oder Funktionalisierung eines einzelnen Textes oder eines bestimmten Textkorpus, sondern auf Einstellungen gegenüber Literatur, die unabhängig von einzelnen Rezeptionsobjekten Bestand haben und die die Wahrnehmung, Selektion, Interpretation und Wertung literarischer Texte beeinflussen. Infolgedessen wurde sowohl in der analytischen Auswertung des Quellenmaterials als auch in der Präsentation der Ergebnisse keinerlei Vollständigkeit hinsichtlich der in der Jugendbewegung gelesenen literarischen Texte oder ihrer Position zu einzelnen literarischen Strömungen oder Autoren angestrebt. Wichtiger war eine exemplarische Analyse wesentlicher Grundzüge des jugendbewegten Literaturkonzeptes, die gerade durch die Abstraktion von den einzelnen literaturkritischen Texten gewonnen wurden. Daraus ergeben sich zwangsläufig Lücken für weitere Forschungen zur Literaturrezeption der Jugendbewegung. Dies gilt mindestens für drei Bereiche. Erstens für bestimmte Formen der Wertung von Literatur (bspw. die Wertung anhand von religiösen Kategorien oder die religiöse oder religionshistorische Kontextualisierung von Literatur; aber auch die Rolle, die Genderaspekte bei der Wertung von Literatur spielen); zweitens für die weitere historische Kontextualisierung einzelner in dieser Arbeit behandelter Aspekte (bspw. die Rezeption des Mittelalters, die noch weiterführend mit der schulischen Vermittlung mittelhochdeutscher Literatur, mit der zeitgenössischen Mediävistik, aber auch der zeitgenössischen Mystik verglichen werden müsste, um Besonderheiten, Parallelen oder Aneignungsformen in der jugendbewegten Rezeption feststellen zu können); drittens für Rezensionen von Sachbüchern verschiedenster Provenienz. Von entscheidender Bedeutung bei der Rekonstruktion des jugendbewegten Literaturkonzeptes war die Rekonstruktion der Kontextualisierungspraxis der Jugendbewegung. Gemeint ist damit die Herstellung von Inferenzen bei der Lektüre bzw. beim Schreiben über Literatur, mithin die Anbindung des Gelesenen an das Weltwissen, das literarische Wissen und die Lebenswelt der Leser. Insbesondere in den Zeitschriften, die die jüngeren Wandervögel in den Gruppen und Bünden als Publikum ansprechen, ist dies vor allem die Lebenswelt als Wandervogel. Hierauf ist die Selektion und Interpretation von Literatur bezogen, indem unter anderem nach Anregungen für Reiseziele gesucht wird oder auch nach historischen Vorbildern für das Wandern. Im Mittelpunkt des Interesses stehen solche Texte, die sich mittels Anschlusshandlungen in gemeinsame Aktivität umsetzen lassen, wozu nicht nur Wanderungen und gemeinsame Inszenierungen als mittelalterliche »Scholaren« und »Bachanten« gehören, sondern auch das Erzählen und Vorlesen von Literatur. Angesichts dieser Einbindung von Literatur in die gemeinsame Lebenspraxis
Zusammenfassung – Ergebnisse – Desiderate
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kann die Erforschung der kollektiven Lektürepraktiken und tatsächlicher Anschlusshandlungen als weiteres Desiderat gelten. Dies würde die Auswertung weiterer Quellen erfordern, die in dieser Arbeit keine Berücksichtigung finden konnten: vor allem individueller Tagebücher und Gruppentagebücher, aber auch der ebenfalls zahlreich in den Zeitschriften abgedruckten Reiseberichte. Derartige Funktionalisierungen von Literatur, wie sie in der Nutzung von literarischen Texten zur Reisevorbereitung sichtbar werden, sind auch darüber hinaus immer wieder in den Quellen zu finden. Dass ein Titel einfach aus dem Grund empfohlen wird, dass es sich bei ihm um gute Literatur handelt, ist äußerst selten. Dahinter steht die Überzeugung von einer unmittelbaren und nachdrücklichen Wirkung von Literatur, aufgrund der sich ein Text in irgendeiner Weise als ›nützlich‹ erweisen muss, um bedenkenlos in einer jugendbewegten Zeitschriften empfohlen zu werden. Das wirkt sich nicht nur auf die positive Wertung literarischer Texte aus. Ebenso werden die negativen Folgen literarischer Texte herausgestellt, indem vor ihrem schlechten Einfluss auf die Moral gewarnt wird oder aber vor den Folgen extensiver Lektüre auf die körperliche Fitness und das soziale Leben. Wenn sich in den Zeitschriften der Jugendbewegung nur wenige Zeugnisse für eine Rezeption der literarischen Moderne finden lassen, hängt dies auch mit diesem Nützlichkeitspostulat zusammen. Während die künstlerische Avantgarde des frühen 20. Jahrhunderts ein Neopathetisches Cabaret für die Abenteuer des Geistes gründet, sucht die Jugendbewegung auf den Landstraßen und in den Wäldern nach Abenteuern des Reisens, bei denen ihnen jene Autoren offenbar weder Anregungen noch Hilfe bieten können. Zwar lassen sich gegenüber der avancierten zeitgenössischen Literatur auch moralische Bedenken erkennen, wenn beispielsweise die Darstellung oder Thematisierung von Sexualität problematisiert wird; ebenso finden sich neben schlichtem Unverständnis auch Einwände gegen deren vorgebliche Intellektualität und Selbstbezüglichkeit und schließlich Vorurteile, die oftmals mit antisemitischen Einstellungen Hand in Hand gehen. Entscheidend für das Literaturkonzept der Jugendbewegung ist aber vor allem, dass sich die moderne Literatur inhaltlich und formal gerade den Traditionen entzieht, in die die Mitglieder der Gruppen und Bünde sich einlesen und einschreiben wollen: Während die Jugendbewegung wesentliche Elemente ihrer Selbstdeutung und ihrer Praktiken aus dem Rückgriff auf die Geschichte bezieht, inszenieren die literarischen Avantgarden vielfach den Bruch mit Traditionen. Wo hingegen in der Literatur traditionelle Formen oder inhaltliche Anknüpfungspunkte an den bürgerlichen Werte- und Geschichtshorizont zu erkennen sind (zum Beispiel in der Lyrik Georges, aber auch in der religiösen Sprache des späten Expressionismus), da wird sie in den Bünden mitunter wohlwollend wahrgenommen.
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Im Wesentlichen sind es drei Aspekte, die die Nutzung und Wertung von Literatur in der Jugendbewegung bestimmen. Die jugendbewegten Leserinnen und Leser, Kritikerinnen und Kritiker suchen in literarischen Texten erstens nach der Bestätigung vorhandener Meinungen und Weltbilder und für die Richtigkeit der in den Gruppen und Bünden entwickelten Formen und Praktiken. Eine Neugier auf Unbekanntes, der Wunsch, sich von Literatur inhaltlich oder formal überraschen zu lassen, lassen sich kaum einmal in den literaturkritischen Texten finden. Zweitens suchen sie in der Literatur nach Erbauung. Wiederholt habe ich in dieser Arbeit auf die sozialpsychologischen Probleme im Zuge der Modernisierungsprozesse hingewiesen, die zum Kontext des jugendbewegten Literaturkonzeptes gehören. Innerhalb und außerhalb der Jugendbewegung reagieren die Menschen auf sie mit Konzepten von Authentizität und kollektiver Identität, die der komplexer und unübersichtlicher werdenden Gesellschaft scheinbar einfache, klare Verhältnisse gegenüberstellen. Selektion, Wertung und Kontextualisierung von Literatur seitens der jugendbewegten Literaturkritiker zeugen hiervon, indem die Darstellung gelungener Lebensläufe in literarischen Texten gelobt wird und Handlungsräume in heilen, ländlichen Welten goutiert werden. Schließlich suchen die Literaturkritikerinnen und Literaturkritiker der Jugendbewegung nach einem Sinnstiftungspotential der Literatur. Realisiert sehen sie es insbesondere durch die Vermittlung überlieferter Traditionszusammenhänge und die Darstellung einheitlicher Lebens- und Gemeinschaftsentwürfe. Die Suche nach Bestätigung, Erbauung und Sinnstiftung als zentraler Komponenten des jugendbewegten Literaturkonzepts bedingt zugleich seine Stabilität. Wenn in der Explikation des Begriffs auf die mögliche Reziprozität von Literaturkonzepten hingewiesen wurde, dann lässt sich für die Jugendbewegung festhalten, dass ein Einfluss literarischer Texte auf ihr Literaturkonzept nur bedingt festzustellen ist. Die Vorstellung der jugendbewegten Leserinnen und Leser davon, was einen guten und lesenswerten Text ausmacht, bewegt sich zumeist in den Bahnen dessen, was der zeitgenössische bürgerliche Lektürekanon und die schulische Literaturvermittlung vorzeichnen. Neues wird lediglich dann hinzugefügt, wenn es sich in das Literaturkonzept integrieren lässt, während Abweichungen bereits bei der Selektion von Literatur durch Missachtung sanktioniert werden oder durch negative Kritiken, wenn zufällig oder mit Bedacht doch eine Lektüre stattgefunden hat. Angesichts der stabilen und kohärenten Aussagen ganz unterschiedlicher jugendbewegter Literaturkritikerinnen und Literaturkritiker lässt sich mit guten Gründen annehmen, dass das in dieser Arbeit rekonstruierte und in den Literaturkritiken dokumentierte Literaturkonzept tatsächlich in weiten Teilen nicht nur Ausdruck bestimmter Regeln des Schreibens über Literatur in den Zeitschriften ist, sondern sich in ihm die individuellen und kollektiven Einstellungen gegenüber Literatur manifestieren.
10. Literaturverzeichnis
Sämtliche Hervorhebungen in den Zitaten wurden einheitlich kursiv gesetzt.
10.1 Zeitschriftenartikel Im Literaturverzeichnis werden folgende erläuterungsbedürftige Kurzformen verwendet:
Beiblätter: Beiblätter zum Weißen Ritter. Nachrichtenblatt: Nachrichtenblatt des »Wandervogel«, Eingetragener Verein zu Steglitz. Wandervogel. Illustrierte Monatsschrift: zunächst Zeitschrift des Ausschusses für Schülerfahrten, ab 1 (1905) Zeitschrift des Alt-Wandervogel mit wechselnden Untertiteln. Wandervogel Monatsschrift (WVDB): Die Zeitschrift des WVDB; ab der Nummer 2 (1911) fungiert die Zeitschrift unter gleichem Namen als Wandervogel Monatsschrift als Publikationsorgan des Einigungsbundes WVeV.
Genauere Erläuterungen zu den Zeitschriften, ihrer Geschichte und den zugehörigen Organisationen finden sich im Kapitel Quellenmaterial. Titel in eckigen Klammern sind von mir gewählt für Artikel, die im Original ohne Titel erschienen sind. Sie dienen als bibliographisches Hilfsmittel und sollen die Identifizierung von Artikeln erleichtern. Rezensionen, die im Original als Titel meist nur die bibliographischen Angaben des Rezensionsexemplars führen, werden im Literaturverzeichnis standardisiert geführt nach der Form: Autor der Rezension: [Rezension zu:] Autor des Rezensionsobjekts, Titel des Rezensionsobjekts, in: Publikationsort der Rezension. Ungewöhnliche oder falsche Schreibweisen des Autornamens oder des Buchtitels wurden beibehalten; in schwierigen Fällen wurde der korrekte Autorname in eckigen Klammern ergänzt; wo möglich, wurden fehlende Vornamen ebenfalls in eckigen Klammern ergänzt.
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Literaturverzeichnis
In den Fußnoten werden Rezensionen durch eine Kursivierung des Titels ausgewiesen.
A.: [Rezension zu:] Du mein Deutschland. Heimatbilder Deutscher Künstler, Deutsche Gedichte. Mit einem Geleitwort von Hans Thoma, in: Freideutsche Jugend, 1914/15, H. 12, S. 270 Ahlborn, Knud: Die Aufgaben unserer Zeitschrift, in: Freideutsche Jugend, 1916, H. 1, S. 4–8 Albrecht, H.[einrich]: Geleitwort, in: Wandervogel. Illustrierte Monatsschrift, 1904, H. 1, S. 2 Albrecht, Karl: [Rezension zu:] Prof. Dr. [Hugo] Conwentz, Die Heimatkunde in der Schule, in: Wandervogel. Illustrierte Monatsschrift, 1904, H. 9, S. 83 Anonym: II. westdeutscher Wandervogeltag auf Schloß Burg a. d. Wupper, in: Wandervogel Monatsschrift, 1912, H. 8, S. 253–254 Anonym: [Rezension zu:] Adolf Bartels, Ein feste Burg ist unser Gott, in: Alt-Wandervogel, 1916, H. 4/5, S. 87–88 Anonym: An unsere Leser, in: Nachrichtenblatt, 1911, H. 3, S. 40 Anonym: [Rezension zu:] A.[ugust] Trinius, Der Rennsteig, in: Alt-Wandervogel, 1907, H. 10, S. 147 Anonym: Bücherbesprechungen, in: Junge Menschen, 1920, H. 2/3, S. 16 Anonym: Bücher zum Vorlesen im Nestabend, in: Landfahrer, 1918, H. 5, S. 15–16 Anonym: Das Wort Arbeiterdichtung, in: Junge Menschen, 1922, H. 7, S. 98 Anonym: [Editorial], in: Junge Menschen, 1920, H. 1, o. S. Anonym: [Rezension zu:] Eine Flora für das deutsche Volk. Mit Unterstützung von L. Lange und P. Dobe bearbeitet von Karl Börner, in: Wandervogel Monatsschrift, 1913, H. 1, S. 30 Anonym: Eine Wandervogelbücherei, in: Nachrichtenblatt, 1909, H. 3, S. 30–31; Nachrichtenblatt, 1909, H. 6, S. 38–42 Anonym: [Rezension zu:] Friedrich Schnack, Der Zauberer. Gedichte, in: Weißer Ritter, 1922/23, H. 2, S. 114 Anonym: Gustav Meyrink und seine Freunde, in: Landfahrer, 1918, H. 2, S. 9–11 Anonym: [Rezension zu:] Karl Stieler, Bilder aus Bayern, in: Wandervogel Monatsschrift, 1912, H. 6, S. 189 Anonym: Körner-Rätsel, in: Alt-Wandervogel, 1913, H. 5, S. 110 Anonym: Laut lesen!, in: Junge Menschen, 1920, H. 9, S. 105 Anonym: [Rezension zu:] Meisterbilder und Kunstrißmappen des Kunstwartes, in: Wandervogel Monatsschrift, 1912, H. 2, S. 61–62 Anonym: Naturbücher, in: Freideutsche Jugend, 1921, H. 5, S. 158 Anonym: Romantische Geschichten, in: Wandervogel Monatsschrift, 1912, H. 6, S. 188– 189 Anonym: Unser eigenes Lied. (Andere Gedanken.), in: Wandervogel Monatsschrift, 1917, H. 3/4, S. 75 Anonym: Vermischtes. Otto Ubbelohde, in: Wandervogel Monatsschrift (WVDB, 1908, H. 1, S. 14 Anonym: Viktor Scheffel als »fahrender Schüler«, in: Alt-Wandervogel, 1910, H. 3, S. 72
Zeitschriftenartikel
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Anonym: [Rezension zu:] Wanderlied der Wandervögel, gedichtet von Dr. Oppenheimer, allen Wandervögeln gewidmet von Adolph Meyer, in: Wandervogel Monatsschrift, 1912, H. 3, S. 94 Anonym: [Rezension zu:] Wandervögel-Liederbuch für ein oder zwei Singstimmen, in: Wandervogel Monatsschrift, 1912, H. 6, S. 189–190 Anonym: Zum Geleit, in: Mädchenrundbrief, 1922, H. 1, S. 1–2 Aphorismen aus »Drude«, in: Junge Menschen, 1922, H. 9/10, S. 136 Beltz, J.: [Sammelrezension zu:] Volkstänze, in: Wandervogel Monatsschrift, 1911, H. 9, S. 228 Bemerkungen auf einer Reise durch Sachsen, Hannover, Braunschweig und Preußen in den Jahren 1800, 1801, 1802, 1803, in: Wandervogel Monatsschrift, 1911, H. 11, S. 269– 276 Bernhardi, Dietrich: [Ohne Titel], in: Führerzeitung, 1916, H. 12, S. 178–180 Beta, Ottomar : Schiller und das Wandern, in: Wandervogel. Illustrierte Monatsschrift, 1905, H. 5, S. 53–55 Binder-Krieglstein, Karl von: Unser eigenes Lied, in: Wandervogel Monatsschrift, 1917, H. 5, S. 112–114 Bittel, Karl: [Rezension zu:] Aus der Jugendzeit berühmter Männer. Nach Selbstzeugnissen und anderen gleichzeitigen Quellen bearbeitet von Prof. Dr. K.[arl] Brünner, in: Wandervogel Monatsschrift, 1913, H. 1, S. 30–31 Boesch, K.: Protest, in: Führerzeitung, 1912/13, H. 3, S. 45–47 Bommersheim, Paul: Mittelalterliche Kirchenlieder, in: Freideutsche Jugend, 1921, H. 7, S. 171–174 Bommersheim, Paul: Mystik, Scholastik, Architektur und die Denknot unserer Zeit, in: Freideutsche Jugend, 1921, H. 6, S. 174–182 Bommersheim, Paul: Skizze zum Geist der neuen Kunst und Dichtung, in: Freideutsche Jugend, 1921, H. 1, S. 8–12 B.[ondy], M.[ax]: Der Aufbruch und die Freideutsche Jugend, in: Freideutsche Jugend, 1914/15, H. 11, S. 232–234 Bork, Arnold: [Rezension zu:] Friedrich Gundolf, George, in: Beiblätter, 1920/21, H. 6, Januar 1922, S. 301–304 Braune, Dora: Rosa Luxemburg, in: Mädchenrundbrief, 1923, H. 3, S. 12–13 Breuer, Hans: Herbstschau 1913. Plus ultra, in: Wandervogel Monatsschrift, 1913, H. 10, S. 282–285 Brügmann, Karl: [Sammelrezension zu:] Märchenbücher, in: Wandervogel Monatsschrift, 1913, H. 5, S. 163–164 Brügmann, Karl: Zu Uhlands Gedächtnis. 13. November 1862, in: Wandervogel Monatsschrift, 1912, H. 11, S. 323 B.[uchhold], M.[arie]: [Rezension zu:] Annemarie von Nathusius, Eros. Roman, in: Freideutsche Jugend, 1920, H. 1, S. 37–38 Buchhold, Marie: Gerichtstag. Eine Studie über Franz Werfel, in: Freideutsche Jugend, 1921, H. 7, S. 207–212 Buchhold, Marie: Leo Tolstoi. Die Bedeutung eines gütigen Menschenlebens, in: Freideutsche Jugend, 1921, H. 4, S. 117–119 Buchhold, Marie: Östliche Lehren. (Verständnis – Anwendung – Gefahren), in: Freideutsche Jugend, 1920, H. 4, S. 133–136
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B.[uchhold], M.[arie]: [Rezension zu:] Schwänke aus aller Welt. Für jung und alt herausgegeben von Dr. Oskar Dähnhard, in: Freideutsche Jugend, 1919, H. 2, S. 95 Buchhold, Marie: Über »Blick ins Chaos« von Hermann Hesse, in: Freideutsche Jugend, 1921, H. 4, S. 122–126 Buddensieg, Hermann: [Rezension zu:] Gesundbrunnen 1914. Kalender des Dürerbundes, in: Jung-Wandervogel, 1913, H. 9, S. 135–136 Buddensieg, Hermann: Hölderlin und die moderne Lyrik, in: Freideutsche Jugend, 1919, H. 10, S. 410–415 Budzinski, Robert: Die Künstlergilde und ihre Ziele, in: Zwiespruch, 1919, H. 16, o. S. Chevallerie, Otto de la: [Rezension zu:] Fröhliche Jugend. Ein Volksbuch aus dem Reichtum deutscher Dichtung, in: Führerzeitung, 1919, H. 7/8, S. 132 Christ, Franz: Zu Rudolf Sievers Bild »Der Krieg«, in: Freideutsche Jugend, 1916, H. 8/9, S. 231–232 Copalle, Siegfried: Eine Winterwanderung. Gedanken und Bilder, in: Nachrichtenblatt, 1905, H. 1, S. 8–10 Danzel, Theodor-Wilhelm: Zur neuen Dramatik, in: Freideutsche Jugend, 1920, H. 7, S. 229–231 Degenhardt, F.: [Rezension zu:] [Heinrich] Lhotzky, Vom Erleben Gottes, in: Alt-Wandervogel, 1919, H. 8/9, o. S. Deppermann, Grete: Was ist völkisch?, in: Deutscher Mädchen-Wanderbund, 1921, H. 7, S. 115–116 Dietrich, Christoph: [Rezension zu:] Adolf Bartels, Die deutsche Dichtung der Gegenwart. Die Jüngsten, in Zwiespruch, 1921, H. 19, Bücherbord 8, S. 7 Doering, Hein: Künstler, in: Freideutsche Jugend, 1919, H. 7, S. 288–289 Ehrentreich, Alfred: Das fremde Mittelalter und unsere Sehnsucht, in: Freideutsche Jugend, 1921, H. 6, S. 187–191 Fabian, Walter: [Rezension zu:] Leonhard Frank, Der Mensch ist gut, in: Junge Menschen, 1920, H. 5/6, S. 34 Fabian, Walter: [Rezension zu:] Stefan Zweig, Jeremias, in: Junge Menschen, 1922, H. 7, S. 111 Firle, Werner : Etwas von Büchern, in: Jung-Wandervogel, 1910/11, H. 1, S. 12–13 Fischer, Elisabeth: [Rezension zu:] [Märchen der Weltliteratur], in: Wandervogel Monatsschrift, 1916, H. 1, S. 30 Fischer, Frank: Deutsche Vergangenheit, in: Wandervogel Monatsschrift, 1913, H. 10, S. 285–289 Fischer, Frank: Oratio pro domo, in: Nachrichtenblatt, 1908, H. 4, S. 37–40 Fischer, Frank: Unser Wandern. Eine Parteischrift, in: Nachrichtenblatt, 1909, H. 3, S. 21– 24 Fischer, Frank: Ziele, in: Führerzeitung, 1912/13, H. 12, S. 225–230 Fischer, Walter: [Rezension zu:] Ernst Berghäuser, Pachantenmären, in: Wandervogel Monatsschrift, 1914, H. 8, S. 255 Fischer, Walter: Führerzeitung, in: Wandervogel Monatsschrift, 1916, H. 3, S. 64 F.[ischer], W.[alter]: [Rezension zu:] Hinterm Pflug zur Kriegszeit. Erlebnisse eines Stadtkindes. Herausgegeben vom Vaterländischen Frauenverein Trier, in: Wandervogel Monatsschrift, 1916, H. 7, S. 157
Zeitschriftenartikel
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Fischer, Walter: [Rezension zu:] Karl Albert Schöllenbach, Wilm Heinrich Berthold, in: Wandervogel Monatsschrift, 1916, H. 4, S. 79 [Fischer, Walter]: [Rezension zu:] Kunst und Leben, 8. Jahrgang 1916, in: Wandervogel Monatsschrift, 1915, H. 12, S. 358–359 Fischer, Walter: Von der Zeitung, in: Wandervogel Monatsschrift, 1916, H. 1, S. 20–23 Fischer, Walter : [Rezension zu:] Wandervogel-Tagebuch 1916, in: Wandervogel Monatsschrift, 1916, H. 2, S. 61–62 Flex, Otto: [Rezension zu:] Hermann Popert, Helmut Harringa, in: Jung-Wandervogel, 1912, H. 11, S. 168–169 Foerster, Ernst: Die Bestimmung Rußlands, in: Freideutsche Jugend, 1921, H. 8, S. 114– 116 Freideutsche Jugend: [Editorial I], in: Freideutsche Jugend, 1914/15, H. 1, o. S. Freideutsche Jugend: [Editorial II], in: Freideutsche Jugend, 1914/15, H. 2, o. S. Friese, Gerhard: [Rezension zu:] Flugblätter an die deutsche Jugend, in: Wandervogel Monatsschrift, 1919, H. 5, S. 146 Fulda, Friedrich [Wilhelm]: Aus der Mappe meines Großvaters, in: Wandervogel Monatsschrift, 1912, H. 1, S. 14–16 Fulda, Friedrich Wilhelm: Hilfsbücher für Wanderführer, in: Zwiespruch, 1922, H. 19, Bücherbord 5, S. 1–3 Fulda, Friedrich Wilhelm: [Ohne Titel], in: Führerzeitung, 1912/13, H. 1, S. 1 Fulda, Friedrich, Wilhelm: Vom Lesen – zum Eigenbuch, in: Führerzeitung, 1915, H. 9/10, S. 124–130 Fulda, Friedrich Wilhelm: [Rezension zu:] Werner Koehler, Brandenburgische Fahrten. Märkische Bilder. Band 1. Südlicher Teil, 1. Hälfte, in: Zwiespruch, 1922, H. 2, Bücherbord 1, S. 1 Fulda, Friedrich Wilhelm: Zum Bücherbord, in: Zwiespruch, 1922, H. 12, Bücherbord 3, S. 1 Fulda, Leopold: Der Seelenspiegel, in: Wandervogel Monatsschrift, 1912, H. 7, S. 212–213 Gerlach, Dankwart: [Rezension zu:] Arthur Rehbein, Wunder im Sande, in: Führerzeitung, 1919, H. 3, S. 47 Gerlach, Dankwart: [Rezension zu:] Artur Dinter, Die Sünde wider das Blut, in: Führerzeitung, 1918, H. 10/11, S. 178 Gerlach, Dankwart: [Rezension zu:] Carl Rußwurm, Das germanische Grundgesetz. 1. Teil, in: Führerzeitung, 1916, H. 4, S. 49–50 Gerlach, Dankwart: [Sammelrezension zu:] Der Aufbruch; Flugblätter an die deutsche Jugend, in: Führerzeitung, 1915, H. 11, S. 154–155 Gerlach, Dankwart: [Rezension zu:] Eberhard König, Das Wasser des Lebens. Eine Legende, in: Wandervogel Monatsschrift, 1915, H. 3, S. 88 Gerlach, Dankwart: [Rezension zu:] Eberhard König, Von dieser und jener Welt, in: Führerzeitung, 1917, H. 2/3, S. 42–43 Gerlach, Dankwart: Entwicklung und Bücher, in: Führerzeitung, 1916, H. 12, S. 162–168 Gerlach, Dankwart: Etwas über Hermann Löns, in: Führerzeitung, 1916, H. 9, S. 120–121 Gerlach, Dankwart: Führerzeitung, in: Führerzeitung, 1920, H. 7/8/9, S. 81–85 Gerlach, Dankwart: [Rezension zu:] Grete von Urbanitz, Das andere Blut, in: Zwiespruch, 1921, H. 31, Bücherbord 11, S. 1–2 Gerlach, Dankwart: Heimische Alterskunde, in: Führerzeitung, 1915, H. 9/10, S. 130–131
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Literaturverzeichnis
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veränderung. Rezeptionsforschung in Ost und West – eine konvergente Entwicklung?, Heidelberg 2003, S. 57–77 Weber, Petra: Carlo Schmid, in: Stambolis (Hg.): Jugendbewegt geprägt (2013), S. 623–632 Wehler, Hans-Ulrich: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Dritter Band: Von der »Deutschen Doppelrevolution« bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges 1849–1914, München 1995 Weixler, Antonius: Authentisches erzählen – authentisches Erzählen. Über Authentizität als Zuschreibungsphänomen und Pakt, in: ders. (Hg.): Authentisches Erzählen. Produktion, Narration, Rezeption, Berlin, Boston 2012, S. 1–32 Werner, Maike G.: Die Erneuerung des Lebens durch ästhetische Praxis. Lebensreform, Jugend und Festkultur im Eugen Diederichs Verlag, in: Gangolf Hübinger (Hg.): Versammlungsort moderner Geister. Der Eugen Diederichs Verlag – Aufbruch ins Jahrhundert der Extreme, München 1996, S. 222–242 Wiefarn, Markus: Authentifizierungen. Studien zu Formen der Text- und Selbstidentifikation, Würzburg 2010 Wilkending, Gisela: Die Kommerzialisierung der Jugendliteratur und die Jugendschriftenbewegung um 1900, in: Maase, Kaschuba (Hg.): Schund und Schönheit (2001), S. 218–251 Willand, Marcus: Lesermodelle und Lesertheorien. Historische und systematische Perspektiven, Berlin, Boston 2014 Willemsen, Martina: Fritz Mordechai Kaufmann und »Die Freistatt«. Zum alljüdischen Literaturkonzept einer deutsch-jüdischen Monatsschrift, Tübingen 2007 Winko, Simone: Autor-Funktionen. Zur argumentativen Verwendung von Autorkonzepten in der gegenwärtigen literaturwissenschaftlichen Interpretationspraxis, in: Detering (Hg.) Autorschaft (2002), S. 334–354 Winko, Simone: Diskursanalyse, Diskursgeschichte, in: Heinz-Ludwig Arnold, Heinrich Detering (Hg.): Grundzüge der Literaturwissenschaft, 7. Aufl., München 2005, S. 463– 478 Winko, Simone: Kodierte Gefühle. Zu einer Poetik der Emotionen in lyrischen und poetologischen Texten um 1900, Berlin 2003 Winko, Simone: Lektüre oder Interpretation? In: Mitteilungen des deutschen Germanistenverbandes, 2002, Jg. 49, Sonderheft »Interpretation«, S. 128–141 Winko, Simone: Literatur-Kanon als invisible hand-Phänomen, in: Heinz-Ludwig Arnold, Hermann Korte (Hg.): Literarische Kanonbildung, München 2002, S. 9–24 Winnecken, Andreas: Ein Fall von Antisemitismus. Zur Geschichte der deutschen Jugendbewegung vor dem Ersten Weltkrieg, Köln 1991 Wolff, Wilfried: Max Hodann (1894–1946). Sozialist und Sexualreformer, Hamburg 1993 Wolschke-Bulmahn, Joachim: Auf der Suche nach Arkadien. Zu Landschaftsidealen und Formen der Naturaneignung in der Jugendbewegung und ihrer Bedeutung für die Landespflege, München 1990 Wörner-Heil, Ortrud: Kunstreform, Jugendbewegung, Siedlung. Anmerkungen zu Leben und Werk Hermann Pfeiffers (1883–1964), in: Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung, 1999–2001, Bd. 19, S. 86–118 Worthmann, Friederike: Literarische Wertungen. Vorschläge für ein deskriptives Modell, Wiesbaden 2004
402
Literaturverzeichnis
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10.5 Bildnachweis Titelbild: Nachlass Julius Groß, Archiv der deutschen Jugendbewegung, Witzenhausen, F1, 47/60 Abb. 1: Nachlass Julius Groß, Archiv der deutschen Jugendbewegung, Witzenhausen, F1, 18/04 Abb. 2: Nachlass Julius Groß, Archiv der deutschen Jugendbewegung, Witzenhausen, F1, 18/25 Abb. 3: Photoalbum des Alt-Wandervogel Berlin, Archiv der deutschen Jugendbewegung, Witzenhausen, F3, Nr. 25
11.
Personenregister
Ahlborn, Knud 108, 115, 259f., 278 Albrecht, Heinrich 85f., 91 Albrecht, Karl 129 Arndt, Ernst Moritz 135, 224, 244, 246, 332 Avenarius, Ferdinand 107, 226, 296f. Bacon, Francis 183f. Baden-Powell, Robert 118 Barbizon, George 292 Bartels, Adolf 171, 223–226, 329, 331, 333 Barthel, Max 334 Baumbach, Rudolf 209, 242 Becker, Marie Luise 98 Beecher Stowe, Harriet 302 Bellamy, Edward 128 Beltz, J. 225 Benjamin, Walter 81, 228 Beradt, Martin 263 Berghäuser, Ernst 319, 321 Bernfeld, Siegfried 81 Bernhardi, Dietrich 169f. Beta, Ottomar 243 Bhagavad Gita 278 Bielefeldt, Bruno 220 Biernatzki, Johann Christoph 221 Binder-Krieglstein, Karl von 250 Bittel, Karl 319f. Blüher, Hans 13, 22, 84, 86, 95f., 126, 148, 182f., 185f., 239f., 293, 320, 332f. Boesch, K. 333 Bommersheim, Paul 289–291 Bondy, Max 354
Borchardt, Rudolf 178 Bork, Arnold 198 Börner, Karl 6 Braun, Lily 19f., 60f. Braune, Dora 60f. Brentano, Clemens 4, 9, 25, 30 Breuer, Hans 9, 11, 34–36, 38f. Britting, Walther 18 Bröger, Karl 310 Bronnen, Arnolt 138, 264 Brügmann, Karl 229, 233, 317 Brunner, Karl 319f. Buch, Willi 339 Buchhold, Marie 143, 195f., 200, 264, 275–282, 284, 312, 335f., 345f. Büchmann, Georg 157, 236 Buddensieg, Hermann 251, 324–326 Budzinski, Robert 313 Bühler, Johannes 289 Chamisso, Adelbert von 13 Chevallerie, Otto de la 312 Christ, Franz 138 Cicero, Marcus Tullius 170 Classen, Walther 301 Conwentz, Hugo 129 Cooper, James Fenimore 181, 302 Copalle, Siegfried 13, 182f., Courths-Maler, Hedwig 145f. Dahn, Felix 169 Dähnhard, Oskar 312 Danzel, Theodor-Wilhelm
230
404 Defoe, Daniel 282 Degenhardt, F. 138 Deppermann, Grete 339–343 Dickens, Charles 170, 302 Diederichs, Eugen 105f., 135, 283, 312, 315 Diefenbach, Karl Wilhelm 199f., 210 Dietrich, Christoph 333 Dietz, Karl 113 Dilthey, Wilhelm 192 Dinter, Arthur 326–328, 337–339, 347 Dobe, P. 310 Doering, Hein 195, 197 Dornier, Marcel 190 Dostojewskaja, Ljubow 233 Dostojewski, Fjodor 233f., 264, 280f., 345 Droste-Hülshoff, Annette von 302 Dumas, Alexandre 302 Eckermann, Johann Peter 310 Edda 236f. Ehrentreich, Alfred 290f. Eichendorff, Joseph von 210 Engelke, Gerrit 334 Fabian, Walter 156, 196, 200 Federer, Heinrich 316 Ferry, Gabriel 181 Fichte, Johann Gottlieb 170, 246f., 332 Fidus, s. Hugo Höppener Finckh, Ludwig 129 Firle, Werner 136, 181, 235 Fischer, Elisabeth 315 Fischer, Frank 21, 23, 91–93, 136, 221, 231f., 249, 264 Fischer, Karl 23, 85, 90f., 102, 182 Fischer, Walter 102, 131–133, 268, 311, 314, 316, 319, 330f., Flaischlen, Caesar 169, 200, 321, Flex, Otto 269f. Flex, Walter 23, 25, 117, 130f., 269, 274f., 339 Foerster, Ernst 272f.
Personenregister
Fontane, Theodor 182–184, 186, 189f., 208, 219, 225 Frank, Leonhard 131, 155f., 200, 334 Freiligrath, Ferdinand 225 Frenssen, Gustav 204, 267 Freud, Siegmund 201 Freymann, Daniel 170 Freytag, Gustav 169, 223 Friese, Gerhard 135 Fulda, Friedrich Wilhelm 102f., 129, 139f., 172, 238, 302f., 312, 317 Fulda, Leopold 236f. Galilei, Galileo 184 Geibel, Emanuel 14, 169 George, Stefan 23f., 28, 121f., 175, 178, 192, 196, 198, 203, 277, 289f., 299, 323f., 354, 363 Gerlach, Dankwart 16, 102–104, 126, 169, 197, 206f., 232, 308, 311, 327f., 332, 337–341, 347, 354 Gieso, Gerhardt 315 Glander, Hans Christoph 303 Gobineau, Arthur de 247 Goebbels, Joseph 139 Goethe, Johann Wolfgang 12, 14, 135, 148, 157, 166, 192, 221, 229, 243f., 246, 261, 263, 295, 310, 312 Gogarten, Friedrich 299 Gogol, Nikolai 234 Gottlöber, Friedrich 285, 292f. Gräff, Otger 332 Grass, Günter 200f. Grimm, Jacob 228f., 316f. Grimm, Wilhelm 228f., 316f. Grimmelshausen, Hans Jakob Christoffel von 13, 20–22, 24, 237, 248 Grolman, Adolf von 263 Groothoff, Walter 151f. Gruber, Karl 162, 262, 301f. Grün, Anastasius 185 Gundolf, Friedrich 198 Gurlitt, Ludwig 15, 153, 188, 224, 240, 242 Gutknecht, Otto 190
405
Personenregister
Habbel, Friedrich Ludwig 120–123, 129f., 172–174 Haeder, Else 250 Hagedorn, August 13 Hagen, Wilhelm , 170, 275 Hahn, Willibald 90 Hammer, Walter 113–117, 143, 145f., 160f., 166, 203, 217f., 247, 357f. Hargrave, John 122 Hasenclever, Walter 156, 265, 277, 342f. Hauptmann, Gerhart 345 Hausmann, Manfred 177 Heberer, Lothar 129, 134, 183, 219, 267 Heeren, Hanns 143f. Heiling, Richard-Franz 111, 312 Heimann, Eduard 354 Heine, Heinrich 169, 251 Held, Kurt 280 Herder, Johann Gottfried 135, 228, 341f., 356 Herrle, Theo 333 Hesse, Hermann 26f., 117, 131, 136, 181, 205, 209f., 235–237, 261, 263f., 267 Heyer, Wolf 129 Heynicke, Kurt 324 Hiller, Kurt 287, 336f. Hirschfeld, Magnus 141 Hitler, Adolf 204 Hochfeld, Werner 269, 300f. Hodann, Max 141, 251 Hoffmann, E.T.A. 223, 302 Hoffmann(-Fölkersamb), Hermann 11– 15, 221, 224 Hofmannsthal, Hugo von 178 Hölderlin, Friedrich 21f., 324–326, 340 Hölken, Hedwig 316 Hollaender, Felix 192 Hölscher, Walter 138, 166, 264, 285–288, 293, 336 Homer 310 Höppener, Hugo 23, 117, 145, 192, 199, 203 Hörstmann, Walther 266f. Huch, Friedrich 261, 263
Ibsen, Henrik
155
Jahn, Friedrich Ludwig 104, 169f., 244– 246 Jansen, Werner 301 Jansen, Wilhelm 95 Jean Paul 235f. Jöde, Fritz 156, 195, 277, 339 Jo[l, Ernst 141, 292 Johannes, Martin Otto 141f., 247, 347 Jungmair, Otto 219, 221, 229 Jungnickel, Max 130 Kaiser, Ilse 100f. Kalbe, Walther 301 Kammerer, Kurt 189 Kasack, Hermann 285, 324 Kauders, Paul 152–154 Kawerau, Siegfried 299 Keller, Gottfried 237, 263 Keller, Paul 315 Kempin, Lely 23, 321 Kipling, Rudyard 221f. Kirchbach, Wolfgang 13, 91, 98, 226 Kishauer, Kurd 261f., 328 Klabund 168f. Klatt, Fritz 115 Klatte, K. 169 Klauke, Paul 136 Kleist, Heinrich von 310, 332 Kneip, Rudolf 136 Koch, Fr. 170, 308f. Koch, Walther 251 Koch-Dieffenbach, Hans 357–359 Koehler, Werner 312 König, Eberhard 197, 354 Köppler, Jörg 140, 167, 316 Körner, Theodor 245 Kötschau, Georg 316, 346f. Kotzde, Wilhelm 187, 190, 209, 232, 321 Kracht, Christian 282 Kropotkin, Pjotr 117, 272, 334 Kühn, Erich 117 Kurella, Alfred 28, 134, 278, 334 Kutzleb, Hjalmar 275
406 Lagarde, Paul de 25, 28, 170, 228, 247 Lagerlöf, Selma 331 Landauer, Gustav 117, 138, 334f. Langbehn, Julius 22f., 25, 28, 170, 175, 192, 197, 203, 228f., 341 Lange, L. 310 Langenberg, Erich 230 Ledermann, E. 242f. Lehmann, Hans 128 Lemke, Bruno 107f., 233f., 274, 277, 281– 284, 289, 315 Lemke, Gertrud 283 Lenau, Nikolaus 220 Lersch, Heinrich 334 Lessing, Gotthold Ephraim 138, 291, 323 Leyen, Friedrich von der 230 Lhotzky, Heinrich 138 Lienhard, Friedrich 219, 226, 267, 321, 337 Lindtner, Bruno 334 Lion, Alexander 118 Lißner, Hans 235f., 245f., 321 Löns, Hermann 131, 172, 188f., 194, 200f., 205–207, 221f., 249f., 302 Lück, Robert 148 Lüders, Eberhard 270 Lüth, Erich 269 Luxemburg, Rosa 272f. Mackay, John Henry 181 Mann, Heinrich 166, 277 Mann, Thomas 79, 131, 155, 178f., 198, 202, 263, 287 Matthes, Erich 130, 147, 266, 275, 311, 313, 326, 347 May, Karl 153f., 181, 239f. Mayer, Erna 337 Mebes, Hellmut 243 Meyen, Albrecht 89, 172, 188f., 205f., 221 Meyen, Fritz A. 85, 91 Meyer, Conrad Ferdinand 263 Meyrink, Gustav 166–169, 331 Mohr, Erich 172 Moissi, Alexander 166 MoliHre 170 Möller, Hans 219
Personenregister
Morgenstern, Christian 299 Mörike, Eduard 220 Moritz, Karl Philipp 251f., 261 Münch, Alexander 191, 204 Münch, Paul Georg 162 Musil, Robert 261, 263 Nadler, Adolf 225 Nansen, Fridtjof 14f. Narten, Enno 221 Nathusius, Annemarie von 143 Neuendorff, Edmund 187 Nibelungenlied 301 Nietzsche, Friedrich 22f., 27f., 114, 143, 148, 178f., 203, 245, 276, 323 Nixdorf, Johannes 239f. Novalis 21f., 290 Nußbaum, Alfred 334 Oppenheimer, Dr. Ormud 157 Otten, Karl 336
142
Paasche, Hans 114f., 117, 158, 282 Pannwitz, Rudolf 278 Paul, Bruno 241, 244 Pfeiffer, Hermann 94, 142 Pfemfert, Franz 292 Philips, Marlis 196, 342–344 Pielenz 297 Piper, Otto 185f., 251f. Piper, Rudolf 249 Platon 332 Platter, Thomas 13, 237 Plaut, Werner 277 Pohl, Guntram Erich 309 Popert, Hermann 23, 25, 114, 131, 158f., 161, 269–271, 300f., 321, 332, 339 Popitz, Fritz 133 Prellwitz, Gertrud 145f., 160, 191f., 204, 266, 321 Puschkin, Alexander 234
Personenregister
Rathenau, Walther 117, 334, 346 Rauch, Karl 162–164, 174, 205, 263f., 333, 344f. Raumer, Rudolf von 325 Raydt, Hermann 183 Rehbein, Arthur 308 Reichardt, Gustav 224 Reimann, Hans 145f., 327 Reinheimer, Sophie 140, 316 Reuschle, Sophie 156 Reventlow, Franziska zu 192 Richter, Kurt 164 Riedel, Otto 143 Riehl, Wilhelm Heinrich 218, 226, 228, 317 Riemann, Lotte 262f. Rilke, Rainer Maria 263, 299, 324–326, 345 Rinneberg, Anna 185 Rittinghaus, Friedrich Wilhelm 146f., 229, 248, 250, 310–312 Rosegger, Peter 131 Rousseau, Jean-Jacques 191, 193, 195, 197, 353 Rubli, Walter 154 Runge, Wilhelm 324 Rußwurm, Carl 268, 311 Saal, Adolf 107f., 162 Samm 301 Sauer, August 225f. Schaaf, Otto 111 Schabert, Werner 134f., 336f. Schapke, Richard 194, 206f. Scheffel, Joseph Victor von 181, 190, 208 Schemann, Ludwig 247 Scherer, Wilhelm 192 Schiller, Friedrich 196, 243, 286f., 332 Schleiermacher, Friedrich 332 Schlünz, Friedrich 108, 162 Schmid, Carlo 78f. Schmidt, Georg 332f. Schmidt, Paul 320 Schmidt, Rudolf 171, 223f., 309 Schmiede, Hans 237 Schnack, Friedrich 288f.
407 Schneehagen, Christian 108 Schnitzler, Arthur 157f., 276 Schöllenbach, Karl Albert 265–271, 321 Schomburg, Hugo E. 86–88, 321 Schröder, Fritz Willi 318 Schröer, Gustav 339 Schücking, Levin 225 Schultze-Naumburg, Paul 321 Schulze, Hanna 266f. Schumann, Hans 145 Schwaner, Wilhelm 267f. Scott, Walter 302 Seidel, Heinrich 220 Seidel, Waldemar 132f. Semmelroth, Ernst 91 Seume, Johann Gottfried 13, 22, 237, 241–244 Seyerlen, Egmont 263 Sidow, Max 313 Sievers, Rudolf 138–140 Silesius, Angelus 340 Simon, Felix 218, 223 Sohnrey, Heinrich 13, 90, 226f. Sokrates 170 Sonntag, Karl 120–123, 173 Spengler, Oswald 23, 264 Spitteler, Carl 277 Spree, Gerhard 189f., 209f., 264 Stapel, Georg 187, 190, 232 Stapf, Werner 296 Stieler, Karl 181 Stifter, Adalbert 219–221 Storm, Theodor 312f., 318 Stramm, August 285 Strauß, Emil 261–263, 266 Strigel, Robert 130 Stroh, Else 220 Tagger, Theodor 285 Tagore, Rabindranath 117, 275 Taine, Hippolyte 226 Tepp, Max 137f., 291, 294 Tetzner, Lisa 280f., 284, 344f. Theuermeister, Albert Robert, s. Schöllenbach Thiede, Bruno 92f.
408 Thoma, Hans 297 Thylmann, Karl 324 Toller, Ernst 117, 334 Tolstoi, Leo 135, 195f., 200, 234, 280f., 334f. Tormin, Helmut 108, 138, 335 Trakl, Georg 324, 326 Treller, Franz 181 Trinius, August 183, 219f. Tschuncky, Hugo 131, 187, 209 Ubbelohde, Otto 355f. Uhland, Ludwig 220, 233 Unus, Walther 243 Urbanitz, Grete von 338f. Verne, Jules 302 Vetter, Ferdinand 93f. Voelkel, Martin 120 Vogel, Hans 220 Voggenreiter, Ludwig 120–122, 172–175, 194f., 344f. Vogler, Paul 199f., 210 Vordtriede, Käthe 145 Vorpahl, Reinhold 146f. Wackernagel, Philipp 325 Wagner, Richard 155 Walbrodt, Luise 98f., 156, 222, 249f., 266 Walz, Karl Heinz 153f.
Personenregister
Weber, Carl Maria 156, 264f., 287f. Weber, Max 203, 282f. Wedekind, Frank 131, 166, 169, 276, 345 Wehrt, Gustav 200 Weißer, Gerhard 90, 133 Werckshagen, Carl von 264 Werfel, Franz 196, 200, 275, 277, 285, 335f., 342–344, 354 Wichert, Ernst 223 Wickram, Jörg 13, 20–22, 237 Wieland, Christoph Martin 263 Wildenbruch, Ernst von 169 Wildenrath, Johann von 223 Wilker, Karl 102, 153, 168 Wislicenus, Konrad 89, 238f. Wittfogel, Karl August 153 Wix, Hans 243 Wolff, Robert 339 Wolfradt, Willi 200 Wolfram von Eschenbach 263 Wolters, Friedrich 290 Wutschke, Lud. 140, 299 Wyneken, Gustav 79, 82, 105, 136, 245 Zaunert, Paul 230 Ziegler, Hermann 167, 298, 331 Zimmermann, Albert 166–168 Zola, Pmile 217f. Zweig, Stefan 196