Temporalität in der Zweitsprache: Eine Untersuchung zum Erwerb des Deutschen durch türkische Gastarbeiter 9783110868661, 9783110106961


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German Pages 378 [380] Year 1986

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Table of contents :
Vorbemerkung
Inhaltsverzeichnis
1. Einführung
2. Überlegungen zur Zweitsprache ,Gastarbeiterdeutsch'
3. Temporalität
4. Temporale Referenz im Türkischen
5. Die Daten
6. Analysen der Lernersprachen
7. Zusammenfassung und abschließende Überlegungen zum Spracherwerb und Sprachgebrauch
Literatur
Abkürzungen
Register
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Temporalität in der Zweitsprache: Eine Untersuchung zum Erwerb des Deutschen durch türkische Gastarbeiter
 9783110868661, 9783110106961

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Christiane von Stutterheim Temporalität in der Zweitsprache

Soziolinguistik und Sprachkontakt Sociolinguistics and Language Contact

Herausgegeben von / Edited by Norbert Dittmar

Band 2 / Volume 2

w DE

Walter de Gruyter • Berlin • New York 1986

Christiane von Stutterheim

Temporalität in der Zweitsprache Eine Untersuchung zum Erwerb des Deutschen durch türkische Gastarbeiter

W DE G_ Walter de Gruyter • Berlin • New York 1986

Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG WORT

Gedruckt auf säurefreiem Papier (alterungsbeständig - ph 7, neutral)

CIP-KurztiteLmfnahme der Deutschen Bibliothek

Stutterheim, Christiane von: Temporalität in der Zweitsprache: e. Unters, zum Erwerb d. Deutschen durch türk. Gastarbeiter / Christiane von Stutterheim. - Berlin; New York: de Gruyter, 1986. (Soziolinguistik und Sprachkontakt; Bd. 2) ISBN 3-11-010696-5 NE: GT

© Copyright 1986 by Walter de Gruyter & Co., Berlin 30. Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf fotomechanischem Wege (Fotokopie, Mikrokopie) zu vervielfältigen. Satz: Dörlemann-Satz GmbH Sc Co. KG, Lemförde Druck: Rotaprint-Druck W. Hildebrand, Berlin Bindearbeiten: Lüderitz & Bauer, Berlin

Den türkischen Familien, die durch ihre Gastfreundschaft und ihre Mitarbeit diese Untersuchung möglich gemacht haben

Vorbemerkung Diese Arbeit entstand während eines dreijährigen Aufenthaltes am MaxPlanck-Institut für Psycholinguistik, Nijmegen, der mir durch W. M. Levelt und W. Klein ermöglicht wurde. In vielen Gesprächen haben mir Mitarbeiter und Gäste des Institutes durch Anregungen und Kritik geholfen: vor allem R. Berman, E. Clark, E. Kellerman, E. Levy, C. Noyau, B. Partee, C. Perdue, J. Schumann, D. Slobin, V. Ullmer-Ehrich und J. Weissenborn. Besonders wichtig für meine Standortbestimmung innerhalb der Zweitspracherwerbsforschung war der Workshop, der 1981 am Max-Planck-Institut zu Fragen des Erst- und Zweitspracherwerbs stattfand. Bei der Ausarbeitung haben mich in erster Linie W. Klein und U. Scharnhorst durch ausführliche Diskussionen unterstützt. Die Arbeit wurde von N. Dittmar betreut. Durch die Zusammenarbeit mit A. Tokdemir wurden mir die Datenerhebungen sowie die Analysen des Türkischen erheblich erleichtert. Zu Kapitel 4 hat mir M. Götz (Universität Köln) viele wertvolle Hinweise gegeben. R. Biele war mir beim Besorgen der Literatur eine große Hilfe. Y. W. Fuchs hat das Manuskript geschrieben, die graphischen Darstellungen hat I. Tarim angefertigt. Meine Eltern haben das gesamte Manuskript gelesen und viele Verbesserungen vorgeschlagen. Ihnen allen danke ich. April 1985

Christiane von Stutterheim

Inhaltsverzeichnis

1. Einführung 1.1 Ziele der Arbeit 1.2 Einige zentrale Fragestellungen der L2-Forschung 1.2.1. Der ,Interlanguage'-Ansatz 1.2.2. Entwicklungssequenzen 1.2.3. Steuerungsmechanismen 1.2.3.1. Universalistische Erklärungsansätze 1.2.3.2. Funktionale Erklärungsansätze 1.3. Konzept-orientierter Ansatz 2. Überlegungen zur Zweitsprache ,Gastarbeiterdeutsch' 2.1. ,Gesteuerter' und angesteuerter' Spracherwerb 2.2. Funktional beschränkte Sprachen 2.3. Spracherwerb und Sprachgebrauch 2.3.1. Spracherwerb 2.3.1.1. Eigenschaften des Input 2.3.1.2. Auswahlkriterien des Lerners 2.3.1.3. Formen des sprachlichen Wissens in der L2 2.3.2. Sprachgebrauch 2.3.2.1. Allgemeine Konversationsmaximen 2.3.2.2. Bedeutungsorganisation im Diskurs 3. Temporalität 3.1. Vorüberlegungen 3.2. Temporale Konzepte 3.2.1. Aspekt AI 3.2.1.1. Typologie 3.2.1.2. Sprachlicher Ausdruck des AI 3.2.2. Aspekt AD 3.2.2.1. Theorien zum Aspektbegriff 3.2.2.2. Perfektiver Aspekt 3.2.2.3. Imperfektiver Aspekt 3.2.2.4. Sprachlicher Ausdruck des All 3.2.2.5. Diskursfunktion des All

1 3 3 4 10 10 15 21 26 26 27 31 32 33 36 40 42 43 44 56 56 58 59 59 68 71 71 74 75 77 78

X

Inhaltsverzeichnis

3.2.3. Temporale Einordnung 3.2.3.1. Konzeptuelle Kategorien 3.2.3.2. Sprachlicher Ausdruck der Einordnungsfunktion . . 3.2.3.3. Diskursfunktion der temporalen Einordnung . . . . 3.2.3.4. Zusammenhang mit anderen konzeptuellen Kategorien 3.3. Temporalität im Diskurs 3.3.1. Exkurs: Diskurstypologie 3.3.1.1. Nicht-temporal organisierte Diskurse 3.3.1.2. Temporal organisierte Diskurse 3.3.2. Grundtypen temporaler Verknüpfung 3.3.2.1. Folgerelation 3.3.2.2. Vorzeitigkeitsrelation 3.3.2.3. Gleichzeitigkeitsrelation 3.3.2.4. Inklusionsrelation 3.3.3. Temporale Diskursstrukturen 3.3.3.1. Ketten 3.3.3.2. Kontraste 3.3.3.3. Reliefstrukturen 3.3.4. Ausdrucksformen 3.3.4.1. Lexikalische Ausdrucksformen 3.3.4.2. Grammatische Ausdrucksformen 3.3.4.3. Diskurspragmatische Ausdrucksformen 4. Temporale Referenz im Türkischen 4.1. Stellenwert innerhalb der Arbeit 4.2. Forschungsstand 4.3. Einige Prinzipien der türkischen Syntax 4.3.1. Wortstellung 4.3.2. Morphologische Aspekte 4.3.3. Komplexe Satzmuster 4.4. Ausdruck temporaler Referenz 4.4.1. Allgemeine Konzepte 4.4.1.1. Temporale Einordnung 4.4.1.2. Aspekt I 4.4.1.3. Aspekt D 4.4.1.4. Temporalität im Diskurs 4.4.2. Überblick über das Formeninventar im Türkischen . . . 4.4.2.1. Das Verbalsystem 4.4.2.2. Koordination/Subordination 4.4.2.3. Lexikalische Mittel zur Zeitreferenz

81 81 89 93 94 97 98 99 100 103 103 104 105 105 106 107 108 108 110 111 111 112 116 116 117 120 120 124 126 128 128 128 131 134 143 150 150 151 152

Inhaltsverzeichnis

5. Die Daten 5.1. Informanten 5.2. Datenerhebung 5.3. Transkription 6. Analysen der Lernersprachen 6.0. Aufbau der Analysen 6.1. Sprecher TAI 6.1.1. Informationen zum Sprecher 6.1.2. Überblick über die sprachlichen Mittel Referenz 6.1.3. Erzählungen 6.1.4. Diskursanalyse 6.1.4.1. Implizite Referenz 6.1.4.2. Diskursorganisationsprinzipien 6.1.5. Zusammenfassung 6.2. Sprecher TA2 6.2.1. Informationen zum Sprecher 6.2.2. Überblick über die sprachlichen Mittel Referenz 6.2.3. Erzählungen 6.2.4. Diskursanalyse 6.2.4.1. Explizite Mittel 6.2.4.2. Implizite Referenz 6.2.4.3. Diskursorganisationsprinzipien 6.2.5. Zusammenfassung 6.3. Sprecher TA3 6.3.1. Informationen zum Sprecher 6.3.2. Überblick über die sprachlichen Mittel Referenz 6.3.3. Erzählungen 6.3.4. Diskursanalyse 6.3.4.1. Implizite Referenz 6.3.4.2. Diskursorganisationsprinzipien 6.3.5. Zusammenfassung 6.4. Sprecher TA4 6.4.1. Informationen zum Sprecher 6.4.2. Überblick über die sprachlichen Mittel Referenz 6.4.3. Erzählungen 6.4.4. Diskursanalyse

XI

153 153 156 158 160 160 161 161 zur temporalen 162 167 167 170 174 175 176 176 zur temporalen 177 183 183 183 183 189 190 192 192 zur temporalen 193 199 199 199 205 206 206 206 zur temporalen 208 214 214

xn 6.4.4.1. Explizite Mittel 6.4.4.2. Implizite Referenz 6.4.4.3. Diskursorganisationsprinzipien 6.4.5. Zusammenfassung 6.5. Sprecherin TA5 6.5.1. Informationen zur Sprecherin 6.5.2. Überblick über die sprachlichen Mittel Referenz 6.5.3. Erzählungen 6.5.4. Diskursanalyse 6.5.4.1. Explizite Mittel 6.5.4.2. Implizite Referenz 6.5.4.3. Diskursorganisationsprinzipien 6.5.5. Zusammenfassung 6.6. Sprecherin TA6 6.6.1. Informationen zur Sprecherin 6.6.2. Überblick über die sprachlichen Mittel Referenz 6.6.3. Erzählungen 6.6.4. Diskursanalyse 6.6.4.1. Explizite Mittel 6.6.4.2. Implizite Referenz 6.6.4.3. Diskursorganisationsprinzipien 6.6.5. Zusammenfassung 6.7. Sprecher TA7 6.7.1. Informationen zum Sprecher 6.7.2. Überblick über die sprachlichen Mittel Referenz 6.7.3. Erzählungen 6.7.4. Diskursanalyse 6.7.4.1. Explizite Mittel 6.7.4.2. Implizite Referenz 6.7.4.3. Diskursorganisationsprinzipien 6.7.5. Zusammenfassung 6.8. Sprecher TA8 6.8.1 Informationen zum Sprecher 6.8.2. Überblick über die sprachlichen Mittel Referenz 6.8.3. Erzählungen 6.8.4. Diskursanalysen

Inhaltsverzeichnis

214 217 220 222 223 223 zur temporalen 224 230 230 230 234 236 238 239 239 zur temporalen 240 249 249 249 253 255 256 256 256 zur temporalen 258 266 269 269 271 272 273 274 274 zur temporalen 275 280 283

Inhaltsverzeichnis

XHI

6.8.4.1. Explizite Mittel 6.8.4.2. Implizite Referenz 6.8.4.3. Diskursorganisationsprinzipien 6.8.5. Zusammenfassung 6.9. Sprecher TA9 6.9.1. Informationen zum Sprecher 6.9.2. Überblick über die sprachlichen Mittel zur temporalen Referenz 6.9.3. Erzählungen 6.9.4. Diskursanalyse 6.9.4.1. Explizite Mittel 6.9.4.2. Implizite Referenz 6.9.4.3. Diskursorganisationsprinzipien 6.9.5. Zusammenfassung 6.10. Sprecher TA10 6.10.1. Informationen zum Sprecher 6.10.2. Überblick über die sprachlichen Mittel zur temporalen Referenz 6.10.3. Erzählungen 6.10.4. Diskursanalyse 6.10.4.1. Explizite Mittel 6.10.4.2. Implizite Referenz 6.10.4.3. Diskursorganisationsprinzipien 6.10.5. Zusammenfassung 7. Zusammenfassung und abschließende Überlegungen zum Spracherwerb und Sprachgebrauch 7.1. Ergebnisse der Analysen 7.1.1. Adverbialsystem 7.1.2. Verbalsystem 7.1.3. Diskursorganisationsprinzipien 7.1.3.1. Prinzip der chronologischen Abbildung 7.1.3.2. Prinzip der diskursiven Klammer 7.1.3.3. Prinzip der thematischen Blöcke 7.1.3.4. Prinzip der Gegenüberstellung 7.1.3.5. ,Prinzip der zeitlichen Kontinuität' 7.1.3.6. Prinzip der voranschreitenden Qualifikation 7.1.3.7. Prinzip der wiederholten deiktischen Verankerung . 7.1.4. Implizite Referenz 7.1.4.1. Inhärente temporale Referenz 7.1.4.2. Kontextuelle Referenz

283 285 286 286 287 287 288 294 294 294 298 300 301 302 302 303 308 308 308 312 313 314 315 315 316 320 325 325 326 326 327 327 328 328 329 329 329

XIV

Inhaltsverzeichnis

7.1.4.3. Assoziative temporale Referenz 7.1.4.4. Konzeptübertragung 7.2. Abschließende Überlegungen zum Spracherwerb und Sprachgebrauch 7.2.1. Spracherwerb 7.2.2. Sprachgebrauch 7.2.2.1. Redeinhalt und Sprachkompetenz 7.2.2.2. Einsatz verschiedener Ausdrucksformen Literatur

330 330 331 331 335 336 337 340

Abkürzungen

359

Register

360

1. Einführung 1.1. Ziele der Arbeit Jeder Mensch bildet im Rahmen seiner kognitiven Entwicklung bestimmte zeitliche Konzepte aus. Die besondere Ausprägung der Zeitkonzepte, über die ein erwachsener Sprecher verfügt, wird im wesentlichen im Verlauf des Erstspracherwerbs festgelegt. Die Sprachen unterscheiden sich in bezug auf die in ihnen gefaßten zeitlichen Kategorien. Für einen Sprecher werden durch die Muttersprache bestimmte begriffliche Kategorien in den Vordergrund von Konzeptuaüsierungsvorgängen gerückt. So wird beispielsweise der Sprecher einer Sprache, die drei Stufen der Vergangenheit grammatisch obligatorisch markiert (z. B. ein Tag vor dem Sprechzeitpunkt, eine Woche davor, mehr als eine Woche davor), diese Unterscheidung für jedes berichtete Ereignis der Vergangenheit treffen, während der Sprecher einer anderen Sprache, die nur eine allgemeine Vergangenheit grammatisch obligatorisch ausdrückt, diese Unterscheidung zwar prinzipiell vornehmen kann, aber nicht für alle vergangenen Ereignisse vornehmen wird. Das Verhältnis von sprachlicher und konzeptueller Repräsentation wird im folgenden Gegenstand genauerer Betrachtung sein. Zunächst soll allgemein festgehalten werden, daß der erwachsene Lerner mit einem ausgebildeten, durch seine Muttersprache geprägten Konzept von Temporalität in den Zweitspracherwerbsprozeß eintritt. Verläuft der Erwerbsprozeß ohne den Einfluß eines von außen steuernd eingreifenden Unterrichts, so muß der Lemer selbst Kriterien besitzen, durch die die selektive Aufnahme von Formen der Zielsprache bestimmt wird. Die vorliegende Arbeit beruht auf der Hypothese, daß die konzeptuellen Strukturen eine zentrale Rolle bei dieser Form des Zweitspracherwerbs und -gebrauchs spielen. Am Beispiel des ungesteuerten Zweitspracherwerbs türkischer Gastarbeiter soll untersucht werden, in welchen Formen temporale Referenz sprachlich repräsentiert wird und welche Konzepte diesen Formen zu Grunde liegen.

2

1. Einführung

Damit werden Ziele auf verschiedenen Ebenen verfolgt: i. Deskriptive Ziele Es soll beschrieben werden, welche sprachlichen Ausdrucksmittel auf unterschiedlichen Stufen der Zweitsprachkompetenz für die temporale Referenz zur Verfügung stehen und wie im Zweitsprachgebrauch durch den Einsatz verschiedener Ausdruckssysteme (lexikalisch, grammatisch, pragmatisch) temporale Strukturen vermittelt werden. ii. Explanative Ziele Es wird der Frage nachgegangen, inwieweit ein Ansatz, der konzeptuelle Kategorien an den Ausgangspunkt der Analyse stellt, einen höheren Aufschlußwert hat als form-orientierte Untersuchungen, wie sie bisher vorherrschten. Darüber hinaus soll untersucht werden, ob es besondere Aspekte des Zweitspracherwerbs gibt, die durch eine an Konzepten orientierte Betrachtungsweise besser erfaßt werden können. iii. Explorative Ziele Die Analyse soll Wege aufzeigen, wie Ergebnisse der Zweitspracherwerbsforschung zu Einsichten in Struktur und Funktion von Sprache überhaupt führen können. Es ist zu erwarten, daß durch Einblicke in das Verhältnis zwischen sprachlicher und konzeptueller Repräsentation in dem Sonderfall der Zweitsprache Rückschlüsse auf die Organisation temporaler Konzepte und deren sprachliche Realisation überhaupt gezogen werden können. Dies näher auszuführen, muß jedoch späteren Untersuchungen überlassen bleiben. Einige Einschränkungen, die durch die Wahl des Untersuchungsgegenstandes bedingt sind, sollen gleich zu Anfang deutlich gemacht werden. - Es können keine sicheren Aussagen über Erwerbsverläufe gemacht werden. Unterschiedlich entfaltete Lernersprachen lassen zwar Schlüsse auf vorausgegangene Lernprozesse zu, ein geschlossenes Bild der Entwicklung einer besonderen Lernersprache kann dadurch jedoch nicht gegeben werden. - Der ,gesteuerte' Zweitspracherwerb fällt nicht in den Gegenstandsbereich der vorliegenden Untersuchung. - Schlußfolgerungen auf eine pädagogische Umsetzung können bei dem augenblicklichen Stand der Forschung nicht gezogen werden. Im folgenden wird zunächst eine Einordnung der Untersuchung in den augenblicklichen Stand der Zweitspracherwerbsforschung vorgenommen.

1.2. Einige zentrale Fragestellungen der L2-Forschung

3

1.2. Einige zentrale Fragestellungen der L2-Forschung Die Zweitspracherwerbsforschung hat trotz ihrer verhältnismäßig kurzen Geschichte bereits einen kaum mehr überschaubaren Umfang angenommen. Eine umfassende Darstellung der wichtigsten Theorien in dieser Disziplin wäre der Gegenstand einer eigenständigen Arbeit. Es sollen hier nur anhand einiger zentraler Begriffe die für die vorliegende Arbeit relevanten Fragestellungen in der L2-Forschung dargestellt und die zum Teil kontroversen Erklärungsmodelle diskutiert werden.1 1.2.1. Der ,Interlanguage'-Ansatz Man kann davon ausgehen, daß sich die mit den Untersuchungen von Corder (1967), Nemser (1971) und Selinker (1972) eingeführte Betrachtungsweise von Zweitsprachen als .interlanguages' (IL) inzwischen in der Forschung weitgehend durchgesetzt hat. Auch die vorliegende Arbeit ist als eine Fortführung dieses Ansatzes zu verstehen. In Abgrenzung gegen das der kontrastiven Analyse (Muttersprache LI ist Maßstab) und der Fehleranalyse (Zielsprache L2/TL ist Maßstab) zugrunde liegende statische Sprachverständnis werden folgende Merkmale von IL angenommen: 1) IL sind das Ergebnis kreativer sprachlicher Prozesse. 2) IL sind weder als Teilmenge der Zielsprache, noch als Teilmenge der Muttersprache zu betrachten, es handelt sich um selbständige sprachliche Systeme, die eigenen Gesetzmäßigkeiten folgen. 3) IL sind dynamische Systeme (,Diasystem', Selinker/Lamendella [1981]). „Der gesamte Sprachprozeß läßt sich als eine Reihe von Übergängen von einer Lernervarietät zur nächsten auffassen, und diese Übergänge zeigen eine gewisse Systematizität." (Klein [1984] p. 44) 4) Die IL können auf einem Kontinuum auf die Zielsprache hin angeordnet werden.2 Diese Veränderung der Perspektive rückte neue Fragestellungen in den Vordergrund. 1

Der Leser, der sich einen Überblick über Entwicklung und Stand der Disziplin verschaffen möchte, sei auf folgende Arbeiten verwiesen: RICHARDS (1974, 1978), HATCH (1978, 1983), RITCHIE (1978), MEISEL (1979), PFAFF (1981), FELIX (1982), PERDUE (1984), KLEIN

(1984). Eine Bibliographie zur Zweitspracherwerbsforschung wurde von GUTFLEISCH/ RIECK/DITTMAR ( 1 9 7 9 / 8 0 ) vorgelegt. 2

Vgl. hierzu NEMSER (1971), SELINKER (1972), RICHARDS (1974), CORDER/ROULET (1977), KLEIN/DITTMAR (1979), SELINKER/LAMENDELLA (1981).

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1. Einführung

1) Wie sehen die Entwicklungssequenzen von IL-Systemen aus? Erlauben die Beobachtungen eine Verallgemeinerung im Hinblick auf ein Stufenmodell des Spracherwerbs? 2) Welche Steuerungsmechanismen liegen dem Spracherwerb zugrunde? Welche sprachlichen und außersprachlichen Faktoren können den Erwerbsverlauf beeinflussen? 1.2.2. Entwicklungssequenzen Der empirische Nachweis einzelner Entwicklungssequenzen ist eine deskriptive Aufgabe, die Beschreibungsverfahren erfordert, mit denen variable sprachliche Strukturen erfaßt werden können.3 Für die beiden großen Projekte, die in der Bundesrepublik zum Gastarbeiterdeutsch durchgeführt wurden (Heidelberger Forschungsprojekt,Pidgin-Deutsch' und ZISA-Projekt Wuppertal), wurden diesbezüglich ähnliche Zielvorstellungen formuliert: (i) Im Heidelberger Projekt yPidgin-Deutsch' (HPD) sollten folgende deskriptive Ziele erreicht werden: Ein adäquates Beschreibungsverfahren muß in der Lage sein anzugeben, a) über welche Regel ein Lemer zu einem gegebenen Zeitpunkt verfügt, b) welche Unterschiede zwischen einzelnen Varietäten der Lerner bestehen und c) welche Distanz die Lernervarietäten zur Zielvarietät aufweisen. (Dittmar/Rieck [1975] p. 123)

Mit der Varietätengrammatik wurde ein Modell vorgelegt, das eine systematische Beschreibung formaler Eigenschaften von Lernersprachen ermöglicht.4 Dittmar/Rieck ([1975] p. 123) fassen die wesentlichen Merkmale wie folgt zusammen.

3

Variabilität erscheint in Lernersprachen auf mehreren Ebenen. SELINKER unterscheidet drei wichtige Variationstypen: „(i) developmental variation across time as the IL is restructured in order to better accomplish the task at hand (ii) non-central variation for the same ,moment' in acquisition-time as re-emergent and pre-emergent forms and systems alternate with forms and systems characteristic of learner's central linguistic competence (iii) unsystematic variation in which particular speech forms are produced in an inconsistent and ad hoc fashion without being part of a coherent system." (SELINKER/LAMENDELLA [ 1 9 8 1 ] p. 2 0 8 ) .

4

Eine genaue Darlegung dieses Modells findet sich in KLEIN/DITTMAR (1979).

1.2. Einige zentrale Fragestellungen der L2-Forschung

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Dem Konzept liegt die Annahme zugrunde, daß Lerner zu verschiedenen Zeitpunkten tj unterschiedliche V; in Richtung auf eine Zielvarietät V z durchlaufen. Diese Varietäten werden nun dadurch beschrieben, daß eine explizite Bezugsgrammatik formuliert wird, die die Vorkommen eines Korpus von Äußerungen beschreibt. Die Bezugsgrammatik umfaßt alle Regeln der zu beschreibenden Varietäten. Einzelne Varietäten können aufgrund der probabilistischen Bewertung von Regeln aus der Bezugsgrammatik ausgesondert werden.

Die Leistung der Varietätengrammatik besteht darin, eine exakte und umfassende Beschreibung grammatischer Kategorien und Strukturen von Lernersprachen zu ermöglichen. Dabei können auch von der Zielsprache abweichende Regeln über das Konzept der Bezugsgrammatik erfaßt werden. Die Bezugsgrammatik ermöglicht zudem, die einzelnen Lernersprachen miteinander zu vergleichen. Problematisch wird es jedoch dann, wenn die einzelnen Lernersprachen als unterschiedliche Entwicklungsstufen bewertet werden sollen. Das Modell der Varietätengrammatik selbst enthält keinen Maßstab, nach dem die Lernersprachen nach Erwerbsstadien unterschieden werden können. Hier muß eine weitere Annahme hinzutreten, nach der der Gesamtprozeß der Erlernung in Richtung einer stetigen Annäherung an die Zielvarietät verläuft. (Dittmar/Rieck [1975] p. 127).

Der Maßstab für die Bestimmung von Erwerbsreihenfolgen ist damit der Grad der Entfernung von der Zielsprache. Dieses Beschreibungsverfahren kann den Erwerbsverlauf nur unter der Voraussetzung angemessen erfassen, daß sich der Lerner kontinuierlich der Zielsprache nähert. Nach allem, was bisher über Erwerbsabfolgen bekannt ist, ist eine solche Annahme jedoch nicht haltbar. Der Lerner bewegt sich nicht in einer Geraden auf die Zielsprache zu, vielmehr muß man sich seinen Weg kurvenreich, d. h. mit Rückschritten, Abweichungen und Umwegen vorstellen. Diese Entwicklungen bleiben in der Varietätengrammatik unberücksichtigt. Das Problem dieses Ansatzes liegt darin, daß die Orientierung an den zielsprachlichen Regeln die Entwicklung eigenständiger lernersprachlicher Strukturen nicht erfassen kann. (ii) Clahsen et al. formulieren für das ZISA-Projekt die Aufgabe, ein Modell zu entwickeln, „das es erlaubt, variable und invariante Strukturmerkmale" (Clahsen et al. [1983] p. 39) von Lernersprachen zueinander in Bezug zu setzen. Unser Ziel ist es, Erwerbssequenzen aufzudecken, die im oben definierten Sinn Aussagen über die variablen und über die invarianten Strukturteile machen, bezogen auf den Erwerb der deutschen Syntax durch Erwachsene; hierbei wird der Sprachgebrauch jedes einzelnen der untersuchten Lerner analysiert. (Clahsen et al. [1983] p. 39).

6

1. Einführung

Hierfür wurde von der Gruppe ein .mehrdimensionales Spracherwerbsmodell' angewendet. Es enthält eine Entwicklungsdimension, die „Aussagen macht über die geordnete Sequenz von Erwerbsphasen, die durch das erstmalige produktive Verwenden einer Struktur durch den Lerner definiert werden." (Clahsen et al. [1983] p. 49). Das Ziel liegt in der Aufstellung implikativer Regelsysteme für den Erwerbsverlauf. Außerdem wird eine lernertypische Dimension angenommen, die die Varianten auf den jeweiligen Erwerbsstufen erfassen soll. Eine ausführliche Diskussion dieses Ansatzes würde hier zu weit führen. Es sollen lediglich zwei Probleme herausgestellt werden. 1) Auch bei dieser Beschreibungsmethode ist die Zielsprache Maßstab des Entwicklungsstandes der jeweiligen Lernersprachen. Die Werte, nach denen die einzelnen Sprecher in ein Stufenmodell eingeordnet werden, kommen nach folgender Methode zustande: . . . werden für alle von uns behandelten Analysebereiche die relativen Häufigkeiten ermittelt, indem das tatsächliche Vorkommen einer bestimmten syntaktischen Erscheinung dividiert wird durch die Anzahl der Kontexte, in denen sie hätten verwendet werden können. (Clahsen et al. [1983] p. 71).

Ausgehend von der Zielsprache werden die Grade der Abweichung bestimmt, die dann zur Fesdegung der Erwerbsstufen führen. Der oben ausgeführte kritische Einwand gilt auch hier. 2) Die Erwerbsstufen werden nicht nur für einzelne Strukturbereiche bestimmt, sondern unterschiedliche Strukturbereiche werden zu einem Merkmalkomplex zusammengefaßt (z. B. Verbalphrasenentwicklung, Wortstellung, Nominalphrasenentwicklung). Für die Auswahl solcher Strukturbereiche, die für den Erwerbsprozeß relevant sind, findet sich jedoch keine Begründung. Die Vorgehensweise soll an der Behandlung der Nebensätze verdeutlicht werden. Diese Beobachtungen zeigen, daß es keine Implikationsbeziehung zwischen den Wortstellungsregeln und dem Auftreten von Nebensätzen gibt. Dies ist ein Beleg für unsere Vermutung, daß es keine Erwerbsstufe im natürlichen L2-Erwerb gibt, die durch das plötzliche Auftreten von Nebensätzen gekennzeichnet ist. (Clahsen et al. [1983] p. 151)5

5

Hier wird ein weiteres Problem sichtbar. Um zu einer adäquaten Erklärung von lernersprachlichen Phänomenen zu kommen, können Nebensätze nicht in einer Kategorie zusammengefaßt werden. Syntaktische Form, aber auch inhaltliche Funktion der verschiedenen Nebensätze lassen unterschiedliche Erwerbsverläufe für die verschiedenen Typen vermuten, (vgl. zum Erwerb der Nebensätze KLEIN/DITTMAR [1979], DITTMAR [1981]).

1.2. Einige zentrale Fragestellungen der L2-Forschung

7

Ebenso hätte man den Erwerb von Nebensätzen als Kriterium des Erwerbsverlaufes auswählen können und Erwerbsstufen nach dem Auftreten bestimmter Subordinationsstrukturen definieren können. Der Versuch, die Wortstellungsregeln diesen Erwerbsstufen zuzuordnen, hätte dann für diese zu dem gleichen Ergebnis geführt, wie es sich im zitierten Falle für die Nebensätze ergeben hat: Für die Wortstellungsregeln hätte sich keine erkennbare Systematik ergeben. Neben diesen beiden umfangreichen Projekten zum L2-Erwerb Erwachsener wurde eine Reihe von Analysen durchgeführt, in denen einzelne Strukturbereiche von Lernersprachen untersucht werden.6 Dabei galt das Interesse vorrangig den Bereichen Negation, Frageformen, Verbalphrase (Kopula, Auxiliar/Tempus).7 Als Beschreibungsverfahren wurde das auch im ZISA-Projekt verwendete Modell, Vorkommenshäufigkeit in obligatorischen Kontexten' zugrunde gelegt. Der Prozentsatz der Vorkommenshäufigkeit, nach dem eine Form als erworben angesehen werden kann, wird in den einzelnen Arbeiten unterschiedlich bestimmt. Schumann beschreibt seine Vorgehensweise wie folgt: The criterion for acquisition is that the auxiliary is correctly supplied in 90% of the obligatory contexts.... When an auxiliary is classified as not correctly supplied it is either absent or incorrecdy supplied. (Schumann [1978] p. 48).

Hier zeigt sich eine Schwierigkeit, die in der Klassifizierung von Formen als ,richtig' oder ,falsch' liegt. Eigenständige Formen und Entwicklungen können damit in ihrer Besonderheit nicht erfaßt werden. Sie gelten gleichermaßen als Abweichungen. Die Lernschritte, die bis zur Beherrschung einer Form möglicherweise durchlaufen werden, sind so nicht nachvollziehbar. Abschließend sollen noch einmal die beiden wesentlichen Aspekte der bisher dargestellten Arbeiten zusammengefaßt werden: 1) Die Analysen beziehen sich im wesentlichen auf formale Eigenschaften von Lernersprachen. 2) Der Maßstab zur Festlegung von Erwerbsstufen ist durch die Formeigenschaften der Zielsprache gesetzt. 6

Als wichtige Arbeiten zum L2-Erwerb Erwachsener wären hier zu nennen: TARONE et al. ( 1 9 7 6 ) , ROSANSKY ( 1 9 7 6 ) , SCHUMANN ( 1 9 7 8 ) , HATCH ( 1 9 7 8 , 1 9 8 0 , 1 9 8 3 ) , ANDERSON ( 1 9 7 8 ) , BUTTERWORTH/HATCH ( 1 9 7 8 ) , BAILEY/MADDEN/KRASHEN ( 1 9 7 8 ) , LARSENFREEMAN ( 1 9 8 0 ) , ANDERSEN ( 1 9 8 1 , 1 9 8 4 ) , HYLTENSTAM ( 1 9 8 2 , 1 9 8 4 ) .

7

HATCH (1980) gibt folgende Gründe für die Wahl bestimmter Strukturbereiche an: „In neither instance is the selection surprising since question-formation, negatives, and NP development were areas being investigated in LI acquisition. The methodology was already worked out, and there was LI data with which thefindingscould be compared." (HATCH [ 1 9 8 0 ] p . 177).

8

1. Einführung

Auf der Grundlage der in diesem Rahmen gewonnenen Detailanalysen ergaben sich weiterführende Fragestellungen, auf die die form-orientierten Analysen jedoch keine Antwort geben konnten. Einige Probleme wurden oben bereits angesprochen.8 - Sprachformen, die wesentlich von den zielsprachlichen Strukturen abweichen (z.B. idiosynkratische Elemente enthalten) können in ihrer Eigengesetzlichkeit nicht erfaßt werden. Sie können nur als Fehler, nicht als kreative Sprachbildungen gedeutet werden. - Varianten innerhalb eines lernersprachlichen Systems in bezug auf einen Strukturbereich werden quantitativ bestimmt. Rückschlüsse auf Gründe für diese Unterschiede lassen sich allein auf der Basis solcher Beschreibungen nicht ziehen. Hierfür müssen inhalts- und kontextbezogene Analysen durchgeführt werden. - Formen, die zielsprachlichen Normen entsprechen, können in Lernersprachen andere als die zielsprachlichen Funktionen erfüllen. Dies kann in einer form-orientierten Analyse nicht erfaßt werden. - Der Gebrauch syntaktischer Regeln erfolgt in Interaktion mit anderen Ausdruckssystemen der Sprache (Lexikon, Diskursprinzipien). Klammert man diese Zusammenhänge aus, indem man implikativ geordnete Erwerbssequenzen für lernersprachliche Gesamtsysteme allein aus immanent syntaktischen Kriterien bestimmt, ergibt sich das Problem, daß ein weiter Bereich lernersprachlicher Phänomene diesen Gesetzmäßigkeiten nicht entspricht oder aber durch sie nicht erfaßt werden kann.9 In einigen neueren Arbeiten kommt ein Perspektivenwechsel zum Ausdruck, mit dem das Paradigma der form-orientierten Analysen verlassen wird - ohne daß jedoch bisher ein umfassender theoretischer Ansatz an dessen Stelle gesetzt worden wäre.

8

9

Vgl. hierzu die von HUEBNER vorgetragenen Einwände gegen den ,order of acquisiton approach'. (HUEBNER [1983] p. 23 ff., auch RUTHERFORD [1984a] p. 132). Deutlich wird dieses Problem am Beispiel der Auslassungen bestimmter Elemente. Sie können in form-orientierten Analysen nur als Indiz für nicht erworbene Strukturen (vgl. z.B. SCHUMANN [1978]) betrachtet oder wie bei Clahsen et al. als der Performanzebene zugehörig ausgeklammert werden (CLAHSEN et al. [1983] p. 81). Für Ellipsen in entfalteten Sprachen ließe jedoch niemand eine solche Betrachtungsweise gelten. Es ist inzwischen einiges darüber bekannt, nach welchen syntaktischen und semantischen Regeln Auslassungen vorgenommen werden können (vgl. KLEIN [1983]). Auch in Lernersprachen unterliegen Auslassungen von Elementen bestimmten Regeln. Diese von der Zielsprache systematisch abweichenden Prinzipien können mit den oben dargestellten form-orientierten Beschreibungsverfahren nicht behandelt werden.

1.2. Einige zentrale Fragestellungen der L2-Forschung

9

So stellt z.B. Ervin-Tripp (1982) Argumente dafür zusammen, warum kontextuelle, funktionale und diskursive Faktoren in die Analyse syntaktischer Strukturen beim Erstspracherwerb mit einzubeziehen sind. Sie gelten entsprechend für den Zweitspracherwerb. The analysis of discourse is not a distraction from the study of the development of syntax. By clarifying structural organization at other levels one can leave in clear relief the syntactic apparatus used to accomplish cohesion, procedural repair work, interpersonal goals, and the referential semantic communication that traditionally was thought to be the primary function of syntax. For this reason I expect to see considerable progress in our understanding of child syntax as more contextualized theories and analytic methods develop. (Man.)

In dem im Augenblick umfangreichsten Forschungsvorhaben zum LZErwerb Erwachsener, dem ,European Science Foundation Project Second Language Acquisition by Adult Immigrants' wird eine funktionale Perspektive eingenommen (vgl. Field Manual, Perdue [1984]). Der Erwerbsprozeß soll im Hinblick auf unterschiedliche referentielle Bereiche (Person, Ort, Zeit) studiert werden. Der Gebrauch der Lernersprachen im Diskurs soll unter den Aspekten,Bedeutungsorganisation' und,Interaktionsprozesse' untersucht werden. Studien zum Syntaxerwerb sind diesen Bereichen zugeordnet.10 Um einer Antwort auf die vielen offenen Fragen im L2-Erwerb näherzukommen, wird in der folgenden Analyse ein Ansatz zugrunde gelegt, der es erlaubt, verschiedene sprachliche Faktoren aufeinander zu beziehen, und so der Sprache als funktionaler Einheit verschiedener Ausdruckssysteme eher gerecht wird. Dieser von Konzepten ausgehende Ansatz (im folgenden ,konzept-orientierter Ansatz') beruht auf der Annahme, daß die für einen Sprecher verfügbaren Ausdrucksmittel funktional zur Vermittlung bestimmter Inhalte eingesetzt werden. Wählt man ein Beschreibungsverfahren, bei dem ein bestimmter konzeptueller Bereich den Ausgangspunkt für eine Systematisierung des L2-Materials darstellt, so ergeben sich damit Einblicke in Zusammenhänge, die durch eine form-orientierte Betrachtung nicht möglich wären.11 Wir gehen darauf in Kapitel 1.3. genauer ein.

10

11

Auch auf Konferenzen, die in den letzten Jahren zum L2-Erwerb stattfanden, ließ sich eine Tendenz zur funktionalen, inhaltsbezogenen Analyse feststellen (z.B. D I T T M A R et al. [1982], HUEBNER [1982, 1985], MEISEL [1982], N O Y A U [1982], TREVISE [1982], S C H U MANN [1983]). Die ersten Arbeiten, die von inhaltlichen Aspekten ausgehend L2-Material beschreiben, wurden von D I T T M A R (1979a, 1982) und KLEIN (1981, 1982a) vorgelegt. Es ist in diesem Zusammenhang auf eine Diskussion zu verweisen, die - vor allem im Rahmen der Romanistik - unter den Begriffen .Onomasiologie' und,Semasiologie' geführt wird. Es handelt sich dabei um zwei unterschiedliche Betrachtungsweisen des Verhältnisses

10

1. Einführung

1.2.3. Steuerungsmechanismen Die Frage nach den Faktoren, die den L2-Erwerb steuern, wurde auf verschiedenen Ebenen zu beantworten versucht. Es liegen sowohl Theorien zum L2-Erwerb vor, als auch Arbeiten, in denen man vorsichtiger von Modellen oder von möglichen Steuerungsfaktoren spricht. Im folgenden wird ein kurzer Überblick über die wichtigsten Erklärungsansätze gegeben.12 Grundsätzlich lassen sich zwei Argumentationsstränge unterscheiden: 1) Gesetzmäßigkeiten des L2-Erwerbs sind auf der Ebene der Formeigenschaften von Sprache zu bestimmen. Sie folgen darin sprachimmanenten, universellen Prinzipien. 2) Gesetzmäßigkeiten des L2-Erwerbs sind funktional zu bestimmen. Außersprachliche Faktoren sind in die Analyse mit einzubeziehen.

1.2.3.1. Universalistische Erklärungsansätze Der Begriff ,universelle Spracherwerbstheorie' bezeichnet keineswegs ein einheitliches Konzept.13 So sieht Bickerton in einer deterministischen Betrachtungsweise den L2Erwerb durch ein angeborenes Bioprogramm gesteuert. Dieses beinhaltet nicht nur eine allgemeine Sprachfähigkeit, sondern bestimmt auch die formalen Eigenschaften von Lernersprachen (vgl. hierzu Bickertons Untersuchungen zu Pidgin- und Creolesprachen [1976, 1977, 1981, 1984]). Bekannter sind die Arbeiten, die in der Tradition der Transformationsgrammatik Zweitspracherwerbsprozesse betrachten und zu erklären versuchen. Der ,language acquisition device' (LAD) als angeborener Spracher-

von sprachlicher Form und Bedeutung. Während in der Semasiologie von sprachlichen Zeichen ausgegangen wird, um so die Bedeutung des einzelnen Wortes zu bestimmen, wird in der Onomasiologie, der,Bezeichnungslehre', die zu bezeichnende Sache (Gegenstände, Begriffe, Beziehungen) an den Ausgangspunkt der Analyse gestellt. Die vorliegende Analyse ist mit ihrem konzept-orientierten Ansatz der onomasiologischen Betrachtungsweise zuzuordnen. V g l . h i e r z u BALDINGER ( 1 9 5 7 ) , HEGER ( 1 9 6 4 , 1 9 6 9 ) , WIEGAND ( 1 9 7 0 ) , SCHIPPAN ( 1 9 7 2 ) . 12

13

Es ist darauf hinzuweisen, daß auch Arbeiten vorliegen, in denen die im folgenden getrennt voneinander dargestellten Ansätze in einem Erklärungsmodell in der einen oder anderen Weise kombiniert werden. Ursprünglich wurde von einem LAD im Hinblick auf den Erstspracherwerb gesprochen. Die Diskussion um angeborene Erwerbsmechanismen wurde im Rahmen der Erstspracherwerbsforschung sehr ausführlich gefuhrt, (vgl. hierzu LEVELT [1975], BAKER/MCCARTHY [1981]).

1.2. Einige zentrale Fragestellungen der L2-Forschung

11

werbsmechanismus wird danach auch im L2-Erwerb aktiviert.14 Er gibt eine ,rigide Ordnung' (Felix [1982] p. 33) des Erwerbsverlaufs vor. 15 Die allerorts zu beobachtende Systematik spracherwerblicher Prozesse deutet darauf hin, daß der Mensch in seiner Kognition speziell für den Erwerb von Sprache ausgerüstet ist, d. h. daß eine spezifische Spracherwerbsfähigkeit zu seiner natürlichen Ausstattung gehört. Diese Spracherwerbsfähigkeit ist als ein System kognitiver Strukturen zu verstehen, in dem etwa jene Prinzipien verankert sind, die die Hypothesenbildung beim Spracherwerb steuern. Diese vermutlich biogenetisch verankerten kognitiven Voraussetzungen erlauben es dem Menschen . . . (Felix [1982] p. 68).

Felix geht davon aus, daß der Spracherwerb ausschließlich auf der Ebene formaler Strukturen zu erklären ist. Diese formalen Prinzipien, d.h. der Systemcharakter von Sprache, werden nicht durch Kategorien des menschlichen Denkens oder Erkenntnis motiviert, sondern sie stellen ein eigenständiges und unabhängiges Phänomen sui generis dar. (Felix [1982] p. 93).

Folglich müssen auch die besonderen formalen Eigenschaften von Lernersprachen auf angeborene kognitive Strukturen zurückzuführen sein. Das zentrale Merkmal des Spracherwerbs (LI und L2) liegt für Felix in dem universalen Charakter der Erwerbssequenzen, der sich in für alle Lerner gleichen Strukturen auf den jeweiligen Entwicklungsstufen zeigt. Beispiele hierzu führt Felix aus den Bereichen Negation und Fragesätze an.16 Die bisher vorliegenden Daten ergeben jedoch ein Bild großer Vielfalt. Felix sieht darin kein Problem für sein universalistisches Erklärungsmodell. 14

15

Der von RUTHERFORD herausgegebene Band (1984) zum Thema sprachliche Universalien und Zweitspracherwerb' gibt einen guten Uberblick über die verschiedenen Standpunkte auf diesem Gebiet. Wir gehen im folgenden ausführlicher auf die Überlegungen von FELIX ein, da er die wesentlichen Argumente einer universalistischen Spracherwerbstheorie zusammenstellt. Diese steht im Gegensatz zu einem konzept-orientierten Ansatz (vgl. FELIX [1982] p. 93), so wie er in der vorliegenden Arbeit vertreten wird. Auf der Grundlage von Felix' Ausführungen sollen die wesentlichen Probleme dieser universalistischen Betrachtungsweise aufgezeigt w e r d e n , (vgl. a u c h REIBEL [ 1 9 7 1 ] , DULAY/BURT [ 1 9 7 4 / 1 9 7 5 ] , BAILEY/MADDEN/KRASHEN [1978]).

16

Ein grundsätzlicher Einwand muß m.E. gegen die von FELIX als universell behauptete Erwerbssequenz vorgebracht werden. Die Beschränkung auf einige wenige typologisch sehr ähnliche Sprachen hat zu falschen Hypothesen über strukturelle Universalia geführt. Bezieht man die Daten von Sprechern typologisch verschiedener Sprachen mit ein, so lassen sich viele der,Universalien' nicht aufrechterhalten. FELIX behauptet z. B., daß Lerner des Deutschen grundsätzlich Auxiliare vor Vollverben erwerben (vgl. [1982] p. 90). Dies gilt mit Sicherheit nicht für Lerner mit türkischer Muttersprache. Bei ihnen tauchen sowohl Auxiliare als auch Modalverben verhältnismäßig spät auf, was vermutlich darauf zurückzuführen ist, daß es im Türkischen keine entsprechenden Formen gibt.

12

1. Einführung

Er trennt die Phänomene in ,geordnete' und ,variierende' und grenzt die variierenden Strukturen als für den Entwicklungsverlauf irrelevant aus. Die Entwicklungssequenz zielt primär auf jene Strukturtypen ab, die einer geordneten Erwerbsfolge unterliegen. Sie steckt somit den Rahmen ab, innerhalb dessen Variationen überhaupt möglich sind. (Felix [1982] p. 73).

Die Trennung in relevante, universelle Strukturmuster und irrelevante, individuelle Strukturen anhand eines von außen an die Lernersprache herangetragenen Kriteriums (Vergleich mit anderen Lernersprachen) birgt die Gefahr eines zirkulären Verfahrens. Verdeutlichen wir diesen Einwand an einem Beispiel. Lerner X hat in einem Strukturbereich die Schritte a b c d e f durchlaufen, Lerner Y weist in dem gleichen Strukturbereich eine Abfolge a c b f d e, Lerner Z a c b f e d auf (vgl. Felix [1982] p. 76). Dann variiert die Abfolge innerhalb der Schritte a b c einerseits und d e f andererseits. Deshalb wird angenommen, daß es zwei entsprechende Entwicklungsstufen a b c und d e f (mit jeweils interner Variation) gibt. Tritt ein Fall mit der Abfolge a b f c e d hinzu, so müssen die Merkmale der Erwerbsstufen umdefiniert werden. Es ergäbe sich dann ein Stadium a und ein Stadium b c d e f. Im ersten Fall, für die Sprecher X, Y und Z, sind a und b als für den Erwerbsprozeß belanglose Varianten, bei Hinzunahme des vierten Sprechers' jedoch als qualitativ verschiedene Schritte zu interpretieren. Das Kriterium für diese Bewertung wird nicht aus den Eigenschaften der jeweiligen Strukturen und möglicherweise deren Verhältnis zueinander gewonnen, sondern auf Grund von Vergleichen mit anderen Lernersprachen definiert. Felix wendet seinen Begriff der,Entwicklungssequenz' auf die Daten an, d. h. er unterscheidet Geordnetes und Variables, und präsentiert das Ergebnis als Bestätigung seiner Annahme. In Übereinstimmung mit dem Begriff der Entwicklungssequenz treten Variationen nur innerhalb der einzelnen Erwerbsstufen auf. Die Gesetzmäßigkeit des Erwerbsprozesses äußert sich also in der gleichbleibenden Abfolge der Stadien W , X , Y und Z und nicht in möglichen Variationen der Abfolge der Strukturen a . . .j. (Felix [1982] p. 77).

Ein weiteres Problem, dem die Spracherwerbstheorie gerecht werden müßte, ist das des Übergangs won einer Entwicklungsstufe zur nächsten. Ein universalistisches Erklärungsmodell kann darüber keine Aussagen machen, denn Strukturen werden nur dann zur Erklärung herangezogen, wenn sie als ,erworben' angesehen werden. Ubergangsperioden sind jedoch rein zeitliche Phänomene ohne sprachstrukturelle Implikationen

Die Entwicklungssequenz spezifiziert die relative Chronologie in bezug auf den

Produktivitätsbeginn zweier Sprachstrukturen. (Felix [1982] p. 72).

1.2. Einige zentrale Fragestellungen der L2-Forschung

13

Abgesehen davon, daß der Begriff der ,produktiven Struktur', wie Felix selbst bemerkt ([1982] p. 73), im Rahmen des Modells nicht bestimmt werden kann, wird hier ein Bereich ausgeklammert, der in besonderem Maße Aufschlüsse über Erwerbsprozesse geben kann. Die Phase, in der eine neue Form in eine Lernersprache eingeführt wird, läßt Einblicke in die kleinen Schritte zu, die bis zum vollständigen Erwerb einer Form durchlaufen werden. Diese Beobachtungen geben Aufschluß darüber, im Zusammenhang mit welchen lexikalischen Einheiten, in welchen Kontexten neue Formen zuerst auftauchen und welche Verschiebungen sie in bezug auf andere Ausdrucksformen bewirken (vgl. Abschnitt 1.3.). Detailuntersuchungen dieser Art liefern das notwendige empirische Material, um Prozessen des Spracherwerbs auf die Spur zu kommen. Allerdings muß dann auch die Ebene der Formanalysen durch Einbeziehung anderer Faktoren ergänzt werden. Da eine Menge wesentlicher Fragen im Rahmen dieser universalistischen Spracherwerbstheorie offen bleibt bzw. explizit ausgeklammert wird, ist sie m. E. als allgemeines Erklärungsmodell für den Zweitspracherwerb unbefriedigend. Nimmt man - wie Felix - universale Prinzipien auf der konkreten Strukturenebene an, so ergeben sich die oben ausgeführten Probleme. Werden universale Gesetzmäßigkeiten jedoch auf einer sehr allgemeinen Ebene formuliert, wie beispielsweise bei Wode (1980,1981), sofragtsich, inwiefern sie in dieser Form überhaupt Erklärungswert besitzen. Wie Felix, so geht auch Wode davon aus, daß Erklärungen für den Erwerbsprozeß in einem angeborenen System zu finden sind. Consequently, I assume that integrated into man's Overall cognitive functioning, there is a subsystem perhaps a set of subsystems, especially geared to handle the formal properties of the linguistic devices of natural languages. (Wode [1981] p. 5).

Mit einer solchen Annahme ist die Erklärungsaufgabe lediglich auf eine andere Ebene verschoben worden. Wode nennt drei Komponenten, denen eine universalistische Spracherwerbstheorie gerecht werden muß: - Dekomposition von Zielstrukturen - Entwicklungssequenzen - individuelle Variation (vgl. Wode [1981]). Durch diese Komponenten ist allenfalls der Gegenstand gekennzeichnet. Es erscheint mir unzutreffend, diese Komponenten als,Prinzipien des Spracherwerbs' zu bezeichnen. Wie das folgende Zitat noch einmal deutlich macht, lassen sich in diesem Zusammenhang nur ganz allgemeine Hypothesen formulieren.

14

1. Einführung

In this respect, the notion of decomposition is probably the most immediate reflex of how the formal properties of the linguistic devices used in natural languages are processed by the brain/mind. If we can generalize on the observed learner data as to which property crucially led to a given learner structure, then we should at least come close to characterizing the respective linguo-cognitive correlates. I assume therefore, that the global notion of decomposition reflects linguo-cognitive strategies minutely geared to handle the formal properties of the linguistic devices. (Wode [1981] p. 10).

Eine weitere Theorie soll kurz dargestellt werden, da sie den Rahmen für eine Reihe von Untersuchungen zum L2-Erwerb darstellt. Es handelt sich um die Übertragung des Konzepts,Markiertheit 'auf lernersprachliche Systeme (z. b. Eckman [1977,1981], Hyltenstam [1982,1984], Rutherford [1981,1984], Zobl [1982, 1983, 1984]). Die Hypothese lautet, daß sich allgemeine typologische Gesetzmäßigkeiten in den Lernersprachen systematisch geltend machen. The order of acquisition for structures follows markedness conditions as defined either in the transformational approach or in the Greenbergian approach. (Hyltenstam [1982] p. 13).

Genauer gesagt bedeutet dies, that less marked categories are acquired earlier than more marked structures. (Hyltenstam [1982] p. 13).

Auch dieser Ansatz beschränkt sich auf die Analyse struktureller Eigenschaften von Lernersprachen. Der Maßstab zur Kennzeichnung von Erwerbsprozessen liegt in dem - je nach dem zugrunde gelegten Grammatikmodell - unterschiedlich bestimmten Begriff der,Markiertheit'. Wie in den oben dargestellten Erklärungsansätzen liegt auch hier das Ziel in der Aufstellung universeller Erwerbsprinzipien. Diese Erwerbsprinzipien können sich jedoch - und hier unterscheidet sich dieser Ansatz von Untersuchungen, die dem LAD-Konzept verpflichtet sind - in verschiedenen Sprachen strukturell unterschiedlich niederschlagen. Einige Vertreter der ,Markiertheitstheorie' beziehen die Muttersprache als eine den Erwerbsprozeß determinierende Größe mit ein (vgl. Eckman [1977]). Die Erwerbsfolge ergibt sich danach aus dem Grad der Markiertheit einer Form innerhalb des TL-Systems sowie den Markiertheits-Eigenschaften der entsprechenden Form in der Muttersprache. Für diesen Ansatz ergeben sich ähnliche Schwierigkeiten, wie die im vorigen Abschnitt angeführten; die drei wesentlichen Probleme seien noch einmal genannt: - Die Untersuchungen beschränken sich auf Formanalysen. - Erklärungsmodelle mit universalem Anspruch stützen sich nur auf einen beschränkten Bereich sprachlicher Phänomene.

1.2. Einige zentrale Fragestellungen der L2-Forschung

15

- Auch hier besteht die Gefahr, daß die Daten anhand einer a priori gesetzten Theorie (,hierarchy of markedness') klassifiziert werden, wobei Phänomene, die nicht in dieses Schema passen, ausgeklammert werden. Die Tatsache, daß so viele Untersuchungen zum L2-Erwerb auf strukturelle Aspekte beschränkt sind, ist auf die methodischen Vorzüge einer solchen Eingrenzung zurückzuführen. Syntaktische Eigenschaften lassen sich exakt beschreiben; man kann dabei auf ausgearbeitete Grammatiktheorien zurückgreifen. Verläßt man diesen Bereich, so begibt man sich in jedem Fall in Gebiete, die in der linguistischen Forschung insgesamt noch wenig erschlossen sind. Mit dem Vorzug präziser Beschreibungsverfahren sind jedoch Probleme verbunden, die auf die Grenzen struktur-immanenter Erklärungen hinweisen. In einer Anzahl von Arbeiten wurden andere Wege beschritten, die im folgenden unter dem Begriff der,funktionalen Betrachtungsweise' dargestellt werden.17 1.2.3.2. Funktionale Erklärungsansätze Auch die funktionalen Erklärungsansätze lassen sich nicht in einem einheitlichen Modell zusammenfassen.18 Gemeinsam ist ihnen auf einer sehr allgemeinen Ebene - in Abgrenzung gegen struktur-immanente Erklärungen die Perspektive, unter der Lernersprachen betrachtet werden. Um das konkrete sprachliche Produkt erklären zu können, müssen diejenigen Faktoren mit einbezogen werden, die dieses Produkt motiviert haben. We have to redirect our attention from surface products to the underlying pragmatic and linguistic functions and semantic intentions speakers are attempting to communicate. (Pfaff [1982] p . 1).

Hier werden bereits einige der Faktoren angesprochen, die in einem funktionalen Ansatz eine Rolle spielen: Sprachliche Formen sind in bezug auf ihre 17

Vgl. hierzu CLAHSEN et al.:

„Wir vertreten aber die Hypothese, daß eine sprachinterne Erklärung nicht hinreichen kann, sondern daß externe Erklärungen anzustreben sind." ([1983] p. 38). Eine ähnliche Forderung finden wir bei DITTMAR: „So kommt man zu dem Schluß, daß eine syntaktische Beschreibung der Äußerung und die semantisch pragmatische Erschließung der ihr zugrundeliegenden Kommunikationsstrategie ziemlich verschiedene Beschreibungen und Erklärungen liefern. Erstere beschreibt lediglich das sprachliche Produkt, letztere kann dieses Produkt erklären, indem der strategische Prozeß analysiert wird, der zur Oberflächenrealisierung des Ausdrucks führt." (DITTMAR [1982] p. 9/10). 18

Einen Überblick über verschiedene funktionale Ansätze in der L2-Forschung gibt PFAFF (1982).

16

1. Einführung

pragmatischen und inhaltlichen Funktionen zu analysieren.19 Darüber hinaus werden sozialpsychologische Faktoren zur Erklärung von Erwerbsprozessen herangezogen. Im Rahmen der funktionalen Betrachtungsweise kommt dem Begriff der ,Strategie' zentrale Bedeutung zu. Geht man davon aus, daß der Lerner die Sprache instrumenteil erwirbt und einsetzt, so ist das sprachliche Produkt auf verschiedene vom Lerner produktiv genutzte Wissensquellen zurückzuführen. In dem aktiven Vermittlungsprozeß zwischen kommunikativem Ziel und verfügbaren Sprachkenntnissen setzt der Lerner unterschiedliche Strategien ein.20 Im folgenden geben wir - gegliedert nach verschiedenen Erklärungsfaktoren - einen kurzen Uberblick über wichtige Forschungshypothesen sowie über die Untersuchungen, die im Rahmen des funktionalen Paradigmas durchgeführt wurden. i) Sozialpsychologische Faktoren im L2-Erwerb Einer Reihe von Studien zum Zweitspracherwerb Erwachsener liegt die Hypothese zugrunde, daß Erwerbsverlauf und Lernerfolg von sozialen und psychologischen Faktoren beeinflußt werden.21 Es liegen verschiedene Modelle vor, in denen Persönlichkeitsstrukturen und Lernorientierung einerseits und objektive Sozialdaten andererseits mit dem L2-Produkt korreliert werden. Die Ergebnisse belegen, daß der Zweitspracherwerb in seinem Verlauf durch Faktoren wie,social and psychological distance' (vgl. Schumann [1978]) oder ,Lernerorientierung und sozioökonomische Situation' (vgl. HPD [1975a] und Clahsen et al. [1983]) beeinflußt wird. Allerdings lassen sich Zusammenhänge nur auf einer sehr allgemeinen Ebene herstellen, wie an dem folgenden Zitat aus Clahsen et al. deutlich wird. Es ist sicher wenig überraschend, daß Lerner, die keine Integrationsabsichten erkennen lassen und zudem wenig Kommunikationsmöglichkeiten mit Deutschen haben, nicht besonders erfolgreich beim Spracherwerb s i n d . . . Es mag auch nicht sonderlich überraschen, daß erfolgreiche Bemühungen dieser Art im sozialen Bereich mit einem größeren Erwerbserfolg einhergehen. Weniger trivial dagegen ist, daß . . . Kontaktmöglichkeiten am

19 20

Vgl. hierzu RUTHERFORD (1984a), Givon (1984). Auch der Begriff der, Strategie' wird in der Forschung nicht einheitlich verwendet. Auf die unterschiedlichen Bestimmungen soll hier jedoch nicht eingegangen werden (vgl. hierzu van DIJK/KINTSCH [ 1 9 8 3 ] p. 61 ff.).

21

Vgl. hierzu die Arbeiten v o n LAMBERT ( 1 9 6 7 ) , LAMBERT/GARDNER ( 1 9 7 2 ) , H P D ( 1 9 7 5 ) , L . FILLMORE ( 1 9 7 6 ) , M . CLYNE ( 1 9 7 6 ) , SCHUMANN ( 1 9 7 8 , 1 9 8 4 ) , MÜHLHÄUSLER ( 1 9 7 8 ) , STAUBLE ( 1 9 8 0 ) , KRASHEN ( 1 9 8 1 ) , COOPER ( 1 9 8 1 ) , OLLER ( 1 9 8 1 ) , CLAHSEN et al. ( 1 9 8 3 ) , PERDUE ( 1 9 8 4 ) .

1.2. Einige zentrale Fragestellungen der L2-Forschung

17

Arbeitsplatz und genutzte Kommunikationsanlässe am Arbeitsplatz keinen Zusammenhang erkennen lassen mit dem Verlauf oder der Art des Zweitspracherwerbs. (Clahsen et al. [1983] p. 315/316). 22

Auch bei Schumann bleibt die zentrale Schlußfolgerung auf einer sehr allgemeinen Ebene. Thus the pidginization hypothesis predicts that where social and psychological distance prevail, we will find pidginization persisting in the speech of the second language learner. (Schumann [1978] p. 115).

Eine Korrelation zwischen konkreten sprachlichen Strukturen und sozialpsychologischen Faktoren kann nicht aufgestellt werden. Die Gründe dafür, daß sich eine solche direkte Beziehung nicht hat auffinden lassen, liegen nicht in der Komplexität des Gegenstandes, wie Clahsen et al. annehmen. Es wird wohl auch in Zukunft nicht leicht sein, die hier anvisierten Korrelationen zu formulieren, einfach deshalb, weil die Beziehungen zwischen Spracherwerb und ,Umwelt' nicht so einfach sind. Beide Bereiche, sozialpsychologische Faktoren und Spracherwerb, sind an sich schon hochkomplexe Systeme. (Clahsen et al. [1983] p. 317).

Die Gründe liegen vielmehr darin, daß zwischen sozialpsychologischen Faktoren und Spracherwerbsprozessen nur ein vermittelter Zusammenhang besteht. Hier ist Felix Recht zu geben, wenn er mit diesen Faktoren den Rahmen für den L2-Erwerb festgelegt sieht, der auf Geschwindigkeit und Endpunkt des Erwerbsverlaufes Einfluß nimmt: In diesem Sinne kommt der psychologischen und sozialen Distanz keinerlei Erklärungsgehalt hinsichtlich spracherwerblicher Prozesse zu. Vielmehr erklären die beiden Faktoren lediglich die Unterschiede in der Voraussetzung des Spracherwerbs, i. e. exposure. (Felix [1982] p. 106).23

Auch im HPD werden im übrigen nicht einzelne Struktureigenschaften von Lernersprachen, sondern unterschiedliche Sprachbeherrschungsniveaus mit Sozialfaktoren korreliert. Dabei ergibt sich, daß die Faktoren,Kontakt in der Freizeit',,Alter bei der Einreise',,Kontakt mit Deutschen am Arbeitsplatz' und Ausbildung in der Heimat' den stärksten Einfluß auf den Erwerbsverlauf haben. (vgl. Dittmar/Rieck [1975] p. 131 ff.). 22

23

C L A H S E N et al. (1983) verweisen darauf, daß sie im Rahmen einer Langzeitstudie versuchen werden, diesen Zusammenhang genauer zu bestimmen. Ihrer Meinung nach ist eine weitere detaillierte Untersuchung erforderlich, um die sehr allgemeinen Aussagen über Korrelationen zu spezifizieren. Die Ergebnisse dieses Projektes liegen noch nicht vor. Dieser Standpunkt wird auch im ESF-Projekt vertreten, wenn gesagt wird: „We assume that this learning propensity is the most important though not only factor for the temporal characteristics of the acquisition process." (PERDUE [1984] p. 23) (Hervorhebung von der Verfasserin).

18

1. Einführung

Die sozialpsychologischen Faktoren sind sicherlich von entscheidender Bedeutung, insofern sie die Rahmenbedingungen für den Zweitspracherwerb darstellen. Jedoch sind durch sie kaum Aufschlüsse über Prinzipien des Erwerbsverlaufs, über die stufenweise Entfaltunglernersprachlicher Kompetenz zu erwarten.24 ii) Pragmatische Faktoren Der Begriff der .pragmatischen Funktion' wird im Zusammenhang mit verschiedenen Aspekten des Zweitspracherwerbs verwendet. „The problem of terminological confusion" (Pfaff [1982] p. 5) kennzeichnet auch diesen Ansatz. Versucht man dennoch eine allgemeine Definition zu geben, in der die vielfältigen Verwendungsweisen des Terminus .pragmatische Funktion' erfaßt sind, so könnte sie lauten: Der pragmatische Aspekt bezieht sich auf Faktoren, die für den Gebrauch der Sprache in der konkreten Kommunikationssituation von Bedeutung sind. Die Sprache wird hierbei in ihren Funktionen betrachtet, (a) Träger bestimmter Interaktionsprozesse zwischen Gesprächspartnern zu sein und (b) komplexe Bedeutungsstrukturen im Diskurs zu repräsentieren. Beide Gesichtspunkte werden in der Zweitspracherwerbsforschung behandelt. ad (a) Zweitsprache in der Kommunikation In der Kommunikation ist der L2-Sprecher vor die Aufgabe gestellt, mit beschränkter sprachlicher Kompetenz Inhalte vermitteln zu müssen. Für ihn besteht ein Ungleichgewicht zwischen Intention und Ausdrucksmöglichkeit, das ihn - in anderer Weise als den Standardsprecher - dazu zwingt, den Einsatz der sprachlichen Mittel nach bestimmten Prinzipien zu organisieren.25 Diese Prinzipien werden in der Literatur unter dem Begriff,Kommunikationsstrategien' beschrieben. Communication strategies are used to compensate for some lack in the linguistic system, and focus on exploring alternate ways of using what one does know for the transmission of content. (Tarone [1981] p. 3).

Tarone verweist darauf, daß sich der Lerner in seinen Kommunikationsstrategien nicht nur auf sein (L2) sprachliches Wissen stützt. Folgende andere wichtige Faktoren können vom L2-Sprecher in produktiver Weise in die Interaktion eingebracht werden: 24

Vgl. hierzu Kap. 2, die Rolle des Input für den Spracherwerb.

25

Vgl. hierzu BIALYSTOCK/FRÖHLICH:

„The distinction between linguistic and communicative competence presupposes a gap between what a learner is technically capable of expressing through the code and what the learner intends to express in terms of communicative needs." ([1980] p. 3).

1.2. Einige zentrale Fragestellungen der L2-Forschung

19

-

Formen der non-verbalen Kommunikation der kontextuelle Rahmen des Gespräches gemeinsames Wissen der Gesprächspartner muttersprachliches Wissen. In einer Reihe von Untersuchungen wurden anhand taxonomisch bestimmter Kategorien empirische Analysen von Kommunikationsstrategien durchgeführt.26 Sie zeigen, daß die wichtigsten Kommunikationsstrategien, von denen der Lerner Gebrauch macht, die Vereinfachungs- oder Reduktionsstrategie27, die Vermeidungsstrategie und die Transferstrategie sind. Es ist zu betonen, daß sich Studien zu Kommunikationsstrategien mit dem Gebrauch einer Zweitsprache beschäftigen und daher keine Aussagen über Erwerbsprozesse machen. In Ansätzen wurde jedoch versucht, Spracherwerbsphänomene als Resultat bestimmter Kommunikationsstrategien zu erklären, so z.B. in Beebe (1980). In sum, risk-taking (as a form of hypothesis testing) and attempted complexity (as a way of pushing oneself to active use of new structures) are positive steps in the learning process, (p. 180).28

Abschließend läßt sich zu diesem Bereich der Zweitsprachanalyse folgendes festhalten: Während man in der Untersuchung von Kommunikationsstrategien auf empirisch abgesicherte Ergebnisse aufbauen kann, ist man der Frage nach der Korrelation von Kommunikationsstrategien und Erwerbsverlauf bisher nur in ersten Ansätzen nachgegangen.

ad (b) Zweitsprache und Bedeutungsstruktur im Diskurs Die Probleme, die sich bei form-orientierten Erklärungsversuchen ergeben (s. o.), haben zu einer Veränderung der Perspektive geführt, die von Hatch folgendermaßen formuliert wird: This requires a much better understanding of how syntax is used to mark discourse functions and the alternative ways these functions are marked or not marked by L2 learners. (Hatch [1980] p. 183).

26

V g l . h i e r z u DITTMAR/THIELICKE ( 1 9 7 8 ) , KLEINMANN ( 1 9 7 8 ) , BEEBE ( 1 9 8 0 ) , BIALYSTOCK/ FRÖHLICH ( 1 9 8 0 ) , FAERCH/KASPER ( 1 9 8 0 , 1 9 8 4 ) , LEVENSTON/BLUM ( 1 9 8 0 ) , TARONE ( 1 9 8 1 ) , MEISEL ( 1 9 8 0 ) , FAKHRI ( 1 9 8 4 ) .

27

Auch diese Begriffe werden in der Literatur keineswegs einheitlich verwendet. So unterscheidet MEISEL Z.B. zwei Arten von Vereinfachungsstrategien, wobei die eine, ,restrictive simplification', als Kommunikationsstrategie bestimmt wird, während es sich bei der anderen, der ,elaborative simplification', um eine Lernstrategie handelt; vgl. MEISEL (1977).

28

V g l . a u c h KRASHEN ( 1 9 8 0 ) u n d CLAHSEN et al. ( 1 9 8 3 ) p . 1 7 8 f f .

20

1. Einführung

Erwerb und Gebrauch von L2-Formen sind auf Diskursebene zu untersuchen, wodurch sich die besonderen inhaltlichen Funktionen der einzelnen Formen bestimmen lassen. Damit sind zum einen Diskursfunktionen gemeint, wie sie von Chafe (1972), Halliday/Hasan (1976), Givon (1979, 1984), Karmiloff-Smith (1979), Hopper (1979) bestimmt werden (ThemaRhema, Vordergrund-Hintergrund, Formen der Kohärenz etc.); zum anderen aber auch ,semantische Funktionen', die die sprachlichen Formen auf ihre Bedeutung zurückführen. Dittmar stellt die zentralen Fragestellungen einer semantischen Analyse zusammen29. 1. Wie organisiert der Lerner Bedeutungen in einem bestimmten Lernerstadium? 2. Welche semantische Funktion übernehmen Ausdrucksträger in einem gegebenen System? 3. Wie werden Lernerbedeutungen bei zunehmender Erlernung zielsprachlicher Eigenschaften an neue Funktionen angepaßt und umorganisiert? (Dittmar [1982] p. 12).

Diese Fragen haben zur Entwicklung eines Forschungsparadigmas geführt, in dem Diskursfunktionen und semantische Kategorien an den Ausgangspunkt der Analyse gestellt werden.30 Die ersten Analysen, die in diesem Rahmen durchgeführt wurden, haben gezeigt, daß dies ein Weg ist, um Antworten auf offene Fragen in der L2-Forschung zu finden. So untersucht Huebner die Entwicklung einer Lernersprache anhand der Kategorie ,Topik' und kann nachweisen, daß die Veränderungen im lernersprachlichen System durch Wandel der Diskursfunktion einzelner Formen motiviert werden. The study revealed that the rules governing various aspects of the interlanguage grammar were influenced by the structure of the discourse. (Huebner [1983] p. 203).

Huebners Untersuchung macht deutlich, daß kontextuelle und diskursive Faktoren mit in die Analyse einbezogen werden müssen, um den Funktionswandel eines formal gleichbleibenden Ausdrucks bestimmen zu können. Detailstudien semantischer Eigenschaften von Lernersprachen wurden von Klein (1981) und Dittmar (1982) zum Bereich der temporalen Referenz durchgeführt. Beide Untersuchungen zeigen, daß anhand von Bedeutungsstrukturen im Diskurs unterschiedliche Komponenten des L2-Erwerbs und 29 30

Vgl. hierzu den Begriff,textual function of language' bei HALUDAY (1976). Diese Betrachtungsweise hat bereits früher Eingang in die Ll-Erwerbsforschung gefunden, vgl. FERREIRO ( 1 9 7 1 ) , BROWN ( 1 9 7 3 ) , BOWERMAN ( 1 9 7 6 , 1 9 8 1 ) , CROMER ( 1 9 7 8 ) , BERMAN ( 1 9 8 2 ) , E . CLARK ( 1 9 8 3 ) , SLOBIN ( 1 9 8 4 ) .

1.3. Konzept-orientierter Ansatz

21

Gebrauchs aufeinander bezogen werden können und sich im Ergebnis Regelmäßigkeiten des L2-Gebrauchs feststellen lassen.31 Umfassendere Untersuchungen von Lernersprachen unter einem diskursbzw. bedeutungs-orientierten Aspekt liegen, mit Ausnahme von Huebners Arbeit, noch nicht vor. 1.3. Konzept-orientierter Ansatz Der dieser Arbeit zu Grunde gelegte konzept-orientierte Ansatz ist als eine Weiterentwicklung der im vorangehenden Abschnitt behandelten Untersuchungen zu sehen. Er ist funktional, insofern sprachliche Formen als Ausdruckssysteme bestimmter Inhalte verstanden werden und anhand konzeptueller Kategorien systematisiert werden. Er ist pragmatisch, insofern verschiedene Ausdrucksformen konzeptueller Kategorien in ihren Verwendungsweisen im Diskurs analysiert werden.32 Für den hier geforderten Paradigmenwechsel in der L2-Erwerbsforschung von einer strukturbezogenen zu einer konzeptbezogenen Perspektive werden im folgenden zwei Argumente dargestellt, die unterschiedliche Aspekte des Zweitspracherwerbs betreffen: 1) Die konzept-orientierte Analyse wird der Lernersprache als einem System interagierender Ausdrucksformen gerecht. 2) Für den erwachsenen Lerner vollziehen sich Erwerb und Einsatz einer Zweitsprache auf der Grundlage einer ausgebildeten konzeptuellen Struktur. Eine konzept-orientierte Analyse entspricht daher der Perspektive des Lerners in wesentlichen, in der Forschung bisher wenig berücksichtigten Gesichtspunkten. ad 1) Viele der bisher durchgeführten Untersuchungen zum L2-Erwerb 31

Einige weitere Untersuchungen sind in diesem Zusammenhang aufzuführen: MEISEL (1982), TREVISE (1982), HOUDAIFA (1983), SCHUMANN (1983), DIETRICH/CARROLL (1984), GIVÖN (1984), HUEBNER (1985).

32

Eine ähnliche Betrachtungsweise wird in einigen Arbeiten zum Ll-Erwerb unter dem Begriff,cognitive approach' vertreten. CROMER Z. B. untersucht ,the development of temporal reference during the acquisition of language', (1968) und belegt den Einfluß konzeptueller Kategorien auf den Ll-Erwerb. Die Ziele, die CROMER für zukünftige Untersuchungen formuliert, lassen sich auf die Zweitspracherwerbsforschung übertragen: „There will have to be detailed investigations into the semantic component of language, studies of how language is used in pragmatic sense, and studies of the various functions that language serves." ([1978] p. 126) vgl. auch FERREIRO/SINCLAIR (1971), SLOBIN (1973), E. CLARK (1983).

22

1. Einführung

stoßen dort an eine Grenze, wo sie Erklärungen nur auf «wer sprachlichen Ebene suchen. Weder sind Sprachentwicklung und -gebrauch ausschließlich funktional - auch nicht in Teilbereichen - , noch sind sie ausschließlich formal motiviert; weder lassen sich syntaktische Phänomene unabhängig von der Semantik, noch lassen sich Formeigenschaften allgemein unabhängig von funktionalen Kategorien erschöpfend behandeln. Die verschiedenen Ausdrucksmöglichkeiten (lexikalisch, grammatisch, pragmatisch) bilden für den Sprecher ein je nach Sprachkompetenz unterschiedlich zusammengesetztes Ganzes. Für die Darstellung kann er diese Mittel auf verschiedene Weise kombinieren und das bedeutet, daß abhängig vom Kontext dieselben Funktionen formal unterschiedlich dargestellt werden. Ein Beispiel aus dem Bereich der Ortsreferenz soll dies verdeutlichen. Der Gebrauch von Präpositionen wie ,nach', ,in' kann in einer Äußerung von den Eigenschaften des Verbs abhängig sein. Läßt sich eine lokale Einordnung auf Grund der semantischen Eigenschaften des Verbs vornehmen, so erscheint keine Präposition, z.B. „ich Türkei zurückkomm". Ist eine Einordnung so nicht möglich, weil z. B. kein Verb in der Äußerung vorkommt, so verwendet derselbe Sprecher eine Präposition zur Markierung der Ortsreferenz, z.B. „meine Bruder nach Türkei". Die Untersuchung der Lernersprachen anhand konzeptueller Kategorien erfaßt diese Interaktion verschiedener Ausdrucksformen. Nicht nur für die,synchrone' Betrachtung von Lernersprachen erscheint eine integrative Analyse der unterschiedlichen sprachlichen Aspekte erforderlich. Auch die Veränderung der Lernersprachen im Erwerbsprozeß kann mit diesem Ansatz als Veränderung eines Gesamtsystems betrachtet werden. Eine konzept-orientierte Analyse ermöglicht Einblicke in den Zusammenhang zwischen semantischen, grammatischen und funktionalen Kategorien und deren spezifische Rollen bei der Motivation sprachlicher Weiterentwicklung. ad 2) Die vorliegende Analyse beschäftigt sich mit dem Zweitspracherwerb Erwachsener in kommunikativen Kontexten. Es handelt sich um Lerner, die zu einem Zeitpunkt in den Erwerbsprozeß eintreten, zu dem sie bereits über ein ausgebildetes Begriffssystem sowie über eine Sprache verfügen.33 33

Auf ein Problem, das in Bezug auf den Zweitspracherwerb immer wieder diskutiert wird, soll an dieser Stelle nur hingewiesen werden. Es handelt sich dabei um die ,critical period

1.3. Konzept-orientierter Ansatz

23

Die mit der Muttersprache erworbene spezifische Form der Konzeptualisierung geht als eine wesentliche Konstituente in den Zweitspracherwerb des Erwachsenen ein.34 Wie dies zu verstehen ist, kann am besten an einem Beispiel erläutert werden. Wenn man davon ausgeht, daß ein abstraktes Konzept, wie z.B. Temporalität, in verschiedenen Sprachen unterschiedlich repräsentiert ist, also einzelne Komponenten durch obligatorische, grammatische Kategorien markiert und damit hervorgehoben werden, andere lexikalisch, andere überhaupt nicht realisiert werden, so kann man annehmen, daß die Kategorien der sprachlichen Kodierung die Konzeptualisierung von Sachverhalten mitbestimmen. Unterscheidet eine Sprache L^ beispielsweise Tempusformen für sechs Vergangenheitsstufen,,unmittelbar vor t 0 ' 35 ,,gestern', ,eine Woche vor t Q ',,einen Monat vor t 0 ',,ein Jahr vor tQ',,zeitlich weit vor t Q ' (vgl. Comrie [1984]), während eine andere Sprache Ly nur eine Vergangenheit ,vor t 0 ' kennt, so kann man daraus zwar nicht schließen, daß der Sprecher von Ly die Unterschiede von L x nicht nachvollziehen könnte, aber es ist sicherlich so, daß der Sprecher von Ly diesen temporalen Kategorien

hypothesis', die besagt, daß die Fähigkeit des Menschen, eine zweite Sprache zu erlernen, zeitlich begrenzt ist. Die Beobachtung, daß Kinder sich bei der Erlernung einer Sprache leichter tun als Erwachsene, und zudem Erwachsene in vielen Fallen nicht zu einer vollständigen Sprachbeherrschung gelangen, hat zu der Annahme einer biologisch determinierten Altersgrenze für den Spracherwerb geführt. „The termination of the critical period for language acquisition seems to be related to a loss of adaptability and inability for re-organization in the brain, particular with respect to the topographical extent of neuro-physiological processes... The limitations in man may well be connected with the particular phenomenon of cerebral latéralisation of functions, which only becomes irreversible after cerebral growth phenomena have come to a conclus i o n . " (LENNEBERG [ 1 9 6 7 ] p. 179).

Bisher konnte jedoch nicht nachgewiesen werden, daß biologische Veränderungen der Grund für die besonderen Lernschwierigkeiten Erwachsener sind. Vielmehr können hierfür soziale und psychologische Faktoren verantwortlich sein, die mit biologischen Prozessen des Alterns in keiner Weise in Zusammenhang stehen müssen (vgl. zu dieser Diskussion LENNEBERG ( 1 9 6 7 ) , NEWMARK/REIBEL ( 1 9 6 8 ) , LAMANDELLA ( 1 9 7 7 ) , EKSTRAND ( 1 9 7 9 ) , FELIX ( 1 9 8 2 ) , KLEIN ( 1 9 8 4 ) ) . 34

Es gibt eine kaum überschaubare Forschung über den Zusammenhang von Sprache und Konzeptbildung. Eine allgemeine Diskussion dieser Fragen ist im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht möglich. Wir beschränken uns im folgenden auf Arbeiten, die sich mit Fragen des Temporalitätskonzeptes beschäftigen. Einen Überblick über einschlägige Untersuchungen auf dem Gebiet der Sprachpsychologie gibt OERTER/MONTADA (1982); zur Rolle konzeptueller Kategorien im Erstspracherwerb sei auf CROMER (1971), BERMAN (1982), BOWERMAN ( 1 9 8 4 ) verwiesen.

35

t Q wird im folgenden als Symbol für die Sprechzeit verwendet.

24

1. Einführung

weitaus weniger Bedeutung beimessen wird. Sie werden in seiner konzeptuellen Verarbeitung nur in besonders markierten Fällen eine Rolle spielen. Beginnt der Ly-Sprecher nun ungesteuert L x zu lernen, so wird er wahrscheinlich zunächst nach Ausdrucksmitteln für die nach Kategorien der Muttersprache gebildeten konzeptuellen Strukturen suchen, die in diesem Falle weniger entfaltet sind als in der Zweitsprache. Der Zweitspracherwerb Erwachsener ist in erster Linie der Erwerb neuer Formen für bereits vorhandene Inhalte. Das Auszudrückende ist der Beherrschung des Ausdrucks vorausgesetzt und liefert wesentliche Kriterien für die ,Auswahl' der Ausdrucksformen im Lernprozeß.36 Daraus läßt sich die Hypothese ableiten, daß die besondere Form der Konzeptuaüsierung von Realität und Interpretation von Realität, die beim erwachsenen Lerner voll ausgebildet und systematisch repräsentiert ist, einen steuernden Faktor im L2-Erwerb darstellt.37 Mit dem konzept-orientierten Ansatz wird versucht, die Situation des Lerners zu »rekonstruieren', um so Aufschluß über Erwerbsverlauf und Organisation sprachlicher Ausdrucksformen und deren Zusammenhang mit den ihnen vorausgesetzten konzeptuellen Strukturen zu gewinnen. Für die Analyse der Lernersprachen erschien es mir sinnvoll, ein Konzept auszuwählen, das durch sein Referenzfeld ein gewisses Maß an Objektivität besitzt. Ist die interne, begriffliche Struktur eines Konzeptes im wesentlichen durch Kategorien der Realität, bzw. deren logisch-systematischer Interpretation bestimmt, so ist ein hoher Grad an intersubjektiver Übereinstimmung gegeben. Die Auswahl des Konzeptes ,Temporalität' gründet sich auf diese allgemeine Überlegung. Für den Bereich ,Temporalität' gilt, daß er anhand 36

37

V g l . h i e r z u SLOBIN ( 1 9 8 3 ) :

„Creole studies cast light on a general and repeated event in language development: through a combination of cognitive and communicative pressures, an expressive need emerges and the corresponding means must be discovered or forged. In its broadest terms, this is a lifelong problem which emerges whenever one cannot immediately or easily express a notion that has become cognitively available and communicatively relevant." (p. 247) An dem Verhältnis zwischen konzeptueller und sprachlicher Struktur zeigt sich auch einer der zentralen Unterschiede zwischen Erst- und Zweitspracherwerb. Während der Erwachsene sich in einer Situation befindet, in der er mehr weiß, als er ausdrücken kann, ein mehr oder weniger krasses Ungleichgewicht zwischen Intention und sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten besteht, verläuft im Erstspracherwerb begriffliche und sprachliche Entwicklung in wechselseitiger Abhängigkeit. Auf Grund der unterschiedlichen Funktion konzeptueller Kategorien ist eine Gleichartigkeit von Erst- und Zweitspracherwerb nicht anzunehm e n . ( Z u r D i s k u s s i o n u m die I d e n t i t ä t s h y p o t h e s e v g l . DULAY/BURT ( 1 9 7 4 , 1 9 7 5 ) , ERVINTRIPP ( 1 9 7 4 ) , FELIX ( 1 9 8 2 ) , CLAHSEN et al. ( 1 9 8 3 ) , KLEIN ( 1 9 8 4 ) ) .

1.3. Konzept-orientierter Ansatz

25

abstrakter Kategorien, unabhängig von seiner konkreten Formulierung in einzelnen Sprachen, bestimmt werden kann. Da diese Eigenschaft jedoch noch einigen anderen konzeptuellen Bereichen zukommt (z.B. Lokalität, Kausalität), wurde als weiteres Kriterium der Sprachkontrast zwischen Mutter- und Zielsprache herangezogen. Um den Faktor des muttersprachlichen Transfers besser isolieren zu können, sollten die sprachspezifischen Kodierungen möglichst stark voneinander abweichen. Temporalität eignet sich hierfür besonders gut, da die beiden Sprachen, um die es in der vorliegenden Untersuchung geht, das Türkische und das Deutsche, sich nicht nur in ihren strukturellen Merkmalen, sondern auch im selektiven Ausdruck bestimmter begrifflicher Subkategorien unterscheiden. Die soweit entwickelten Grundgedanken über Ansatz und Methode der folgenden Analyse spiegeln sich im Aufbau der Arbeit wider: Im Anschluß an einige allgemeine Betrachtungen zu Fragen des Zweitspracherwerbs und -gebrauchs wird zunächst eine - unter pragmatischen Gesichtspunkten notwendig beschränkte - Darstellung des allgemeinen Konzeptes ,Temporalität' in seinen wesentlichen begrifflichen Kategorien gegeben. Dann wird die spezifische sprachliche Realisierung dieses Konzeptes im Türkischen als der Muttersprache der Lerner behandelt. In einem weiteren Schritt werden die Lernersprachen anhand konzeptueller Kategorien beschrieben und analysiert.

2. Überlegungen zur Zweitsprache ,Gastarbeiterdeutsch' 2.1. ,Gesteuerter' und ,ungesteuerter' Spracherwerb Grundsätzlich werden in der L2-Forschung zwei Formen des Spracherwerbs unterschieden, für deren Bezeichnung bisher keine einheitliche Terminologie gefunden wurde. Der Unterschied liegt in der jeweils besonderen Darbietung des Inputmaterials für den Lerner. Es kann gebunden an eine konkrete Kommunikationssituation aufgenommen werden, und es kann vorstrukturiert und systematisch, getrennt vom kommunikativen Kontext im Unterricht an den Lerner herangetragen werden. Für die erste Form findet man die Bezeichnungen ,ungesteuert' (HPD [1975]), ,natürlich' (Felix [1982], Dittmar [1982]), ,spontan' (Perdue [1984]); für die zweite wird in den meisten Arbeiten der Begriff,gesteuert' verwendet. Die Termini sind etwas unbefriedigend, da sie irreführende Assoziationen hervorrufen. So ist der,gesteuerte' Spracherwerb nicht weniger,natürlich' als der .natürliche', der ,ungesteuerte' nicht weniger ,gesteuert' als der ,gesteuerte'. Um die Terminologe jedoch nicht noch weiter zu komplizieren werden wir im folgenden die Begriffe,gesteuert' für den Spracherwerb mit unterrichtlicher Unterweisung und ,ungesteuert' für den Spracherwerb ohne unterrichtliche Unterweisung verwenden. Da man nach den bisherigen Untersuchungen davon ausgehen muß, daß gesteuerter und ungesteuerter Spracherwerb zumindest teilweise unterschiedlichen Gesetzmäßigkeiten unterliegen, ist zunächst eine getrennte Analyse dieser beiden Bereiche erforderlich. Erst in einem zweiten Schritt können die Erwerbstypen dann verglichen und mögliche Gemeinsamkeiten bestimmt werden. Die vorliegende Arbeit ist auf Grund des Datenmaterials eindeutig dem Bereich des ungesteuerten Spracherwerbs zuzuordnen. Das Gastarbeiterdeutsch, so wie es von Ausländern gesprochen wird, die als Erwachsene nach Deutschland eingereist sind, ist das Produkt einer Situation, in der der Kontakt mit der fremden Sprache auf die für das ökonomische und soziale Überleben notwendigen Kontexte beschränkt ist. Der Spracherwerb findet für die meisten Gastarbeiter ausschließlich im Alltagskontakt mit Deutschen statt.

2.2. Funktional beschränkte Sprachen

27

Wie in Kap. 1 bereits diskutiert wurde, stellen die sozialen Bedingungen den Rahmen dieser Form des Zweitspracherwerbs dar. Im folgenden sollen deshalb die Umstände näher betrachtet werden, unter denen sich eine Sprachform wie das Gastarbeiterdeutsch herausgebildet hat.

2.2. Funktional beschränkte Sprachen Der ausländische Arbeiter1 kommt in der Regel mit der Absicht nach Deutschland, vorübergehend in der Fremde Geld zu verdienen, um sich damit bessere Existenzbedingungen in seinem Heimatland schaffen zu können. Sein Ziel ist nicht die Integration in die deutsche Gesellschaft, sondern vielmehr die Bewahrung der eigenen kulturellen Identität in Abgrenzung zur dominierenden Umgebung. In dieser Einstellung liegt ein bestimmender Faktor für das Verhältnis des Gastarbeiters zur deutschen Sprache. Sie ist für ihn in erster Linie ein praktisches Problem, insofern sie eine Schranke bei der zum,Uberleben' notwendigen Verständigung darstellt. Die Motivation für das Erlernen der deutschen Sprache entspringt dem Zwang, nur dann als Gastarbeiter funktional zu sein, wenn in bestimmten gesellschaftlichen Bereichen (vgl. Dittmar/v. Stutterheim [1984]), etwa Arbeitsplatz, Amter, soziale Einrichtungen, ein Minimum an Kommunikation möglich ist. Für den Spracherwerb ist wichtig, ob zu diesem äußeren Druck ein eigenständiges Interesse am Erlernen der Sprache hinzukommt. Die Lernbereitschaft und -anstrengung wird größer sein, wenn der ausländische Arbeiter die deutsche Sprache als ein Mittel betrachtet, seine Interessen artikulieren und vielleicht auch durchsetzen zu können. Dabei spielt der Zugang, den er zur deutschen Sprache hat, eine große Rolle. Gibt es überhaupt Möglichkeiten, Sprachunterricht zu nehmen oder mit Deutschen über formelle Anlässe hinaus Kontakt aufzunehmen? Im Falle der 1

Es wird im folgenden vom ,typischen' ausländischen Arbeiter gesprochen. Auf Grund der gemeinsamen sozioökonomischen Situation lassen sich allgemeine Merkmale herausstellen, die von einem großen Teil der Gruppe der Gastarbeiter geteilt wird. Solche Verallgemeinerungen sind jedoch in zweierlei Hinsicht mit einer Einschränkung zu versehen. Zum einen ist davon auszugehen, daß es eine Reihe von Fällen gibt, die diesem Bild nicht entsprechen. Und zum anderen muß man die zum Teil großen Unterschiede zwischen den verschiedenen ethnischen und nationalen Minoritäten berücksichtigen. Die folgenden Überlegungen orientieren sich in erster Linie an der Situation türkischer Gastarbeiter, deren Status in der Bundesrepublik aus ökonomischen und kulturellen Gründen von dem anderer Gastarbeiter abweicht.

28

2. Überlegungen zur Zweitsprache .Gastarbeiterdeutsch'

ersten Gastarbeitergeneration waren und sind diesbezügliche Angebote äußerst gering.2 Man kann sagen, daß es sich um einen in doppelter Weise funktional beschränkten Spracherwerb handelt. Die deutsche Gesellschaft hat kaum Interesse daran, den Gastarbeiter zu einem vollwertigen Sprecher auszubilden, da er in der Regel seine ,Aufgaben' mit einem Minimum an Sprachkenntnissen erfüllen kann. Die Haltung des Gastarbeiters entspricht oft diesem Standpunkt. Für ihn ist die Beherrschung der Sprache nicht ein eigenständiges Ziel - nämlich sich möglichst umfassend und genau verständigen zu können seine Lernmotivation orientiert sich an objektiven und subjektiven Ansprüchen an eine Minimalverständigung. Die Zweitsprache erfüllt unter diesen Umständen für den Gastarbeiter nur einen Teil möglicher sprachlicher Funktionen. Schumann (1978) geht in seiner Analyse pidginisierter Lernersprachen von drei sprachlichen Grundfunktionen aus: kommunikative, integrative und expressive Funktion (Typologie nach Smith). Es kommt dann, so Schumanns Hypothese, zur Ausbildung einer pidginisierten Zweitsprache, wenn sie lediglich kommunikativen Bedürfnissen des Lerners gerecht werden soll (vgl. Schumann [1978] p. 76ff.). Obwohl es sich bei diesen Lernersprachen zweifellos um funktional beschränkte Sprachen handelt, scheint mir die von Schumann vorgeschlagene Klassifizierung jedoch die besondere Form der Beschränkung nicht zutreffend darzustellen. Im Rahmen einer Funktionstypologie, wie sie z. B. von Halliday (1973) entwickelt wurde, kann die spezifische Situation des Lerners angemessener erfaßt werden. Halliday unterscheidet drei Grundfunktionen von Sprachen: - ideational' - ,interpersonal' - ,textual function' Die dritte Funktion können wir bei den folgenden Überlegungen unberücksichtigt lassen, da es sich um eine sprachimmanente Funktion handelt, die aus den beiden anderen Funktionen abgeleitet werden kann. Er selbst schreibt: But there is a third function which is in turn instrumental to these two, whereby language is as it were enabled to meet the demands that are made on it; I shall call this the textual function, since it is concerned with the creation of text. (Halliday [1973] p. 107). 2

Zur Situation der Gastarbeiter in der Bundesrepublik vgl. ESSER et al. (1979), BARKOWSKI (1980), KREMER/SPANGENBERG (1980), D e r Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung ( 1 9 8 1 ) , ESSER et al. ( 1 9 8 2 ) , WEIDACHER ( 1 9 8 2 ) , WEIDACHER/LOPEZ-BLASCO CLAHSEN et al. ( 1 9 8 3 ) , KORTE/SCHMIDT ( 1 9 8 3 ) , H a n d w ö r t e r b u c h ( 1 9 8 4 ) .

(1982),

2.2. Funktional beschränkte Sprachen

29

Die beiden zentralen Funktionen von Sprache werden von Halliday folgendermaßen bestimmt.3 In the first place language serves for the expression of content: it is a representational, or, as I would prefer to call it, an ideational function . . . Two points need to be emphasized concerning this ideational function of language. The first is that it is through this function that the speaker or writer embodies in language his experience of the phenomena of the real world; and this includes his experience of the internal world of his own consciousness: his reactions, cognitions and perceptions, and also his linguistic acts of speaking and understanding. We shall in no sense be adopting an extreme pseudo-Whorfian position if we add that, in serving this function, language lends structure to his experience and helps to determine his way of looking at things . . . There is, however, and this is the second point, one component of ideational meaning, which, while not unrelatable to experience, is nevertheless organized in language in a way which marks it off as distinction: this is the expression of certain fundamental logical relations such as are encoded in language in the form of co-ordination, apposition, modification, and the like . . . Within the ideational function of language, therefore, we can recognize two sub-functions, the experiential and the logical. In the second place, language serves what we may call an interpersonal function . . . Here the speaker is using language as the means of his own intrusion into the speech event: the expression of his comments, his attitudes and evaluations, and also of the relationship that he sets up between himself and the listener. (Halliday [1973] p. 105/106).4

Vergleicht man Hallidays Typologie mit den von Schumann vorgeschlagenen Kategorien, so ergibt sich folgender Zusammenhang: Alle drei von Schumann aufgeführten Funktionen sind Hallidays ,interpersonal function' zuzuordnen. Die gerade im Zusammenhang mit Fragen des L2-Erwerbs wesentliche ideational function' wird in Schumanns Überlegungen nicht miteinbezogen. Damit bleibt ein zentraler Aspekt unberücksichtigt, der für die Situation des erwachsenen Lerners kennzeichnend ist. Für ihn ist die Zweitsprache in ihrem Funktionsbereich weitgehend auf die,interpersonal function' beschränkt; die ,ideational function' wird durch die Muttersprache erfüllt.5

3

4

5

Wir zitieren H A L L I D A Y an dieser Stelle ausführlich, da seine Bestimmungen wesentliche Implikationen für den Spracherwerb enthalten, die auch in die vorliegende Arbeit als Grundannahmen eingehen. Vgl. hierzu B Ü H L E R ( [ 1 9 6 5 ] p. 2 8 ) , auf den sich auch H A L L I D A Y in seinen Ausführungen bezieht ( [ 1 9 7 6 ] p. 26ff.). Bühler unterscheidet drei sprachliche Funktionen, eine Darstellungs-, eine Appell- und eine Ausdrucksfunktion, wobei sich Bühlers Darstellungsfunktion und Hallidays ideationale Funktion entsprechen; die beiden anderen Funktionen in Bühlers Typologie sind in Hallidays Begriff der .interpersonal function' enthalten. Diese Frage wird auch im Zusammenhang mit Pidgin- und Creole-Sprachen diskutiert. Diese beiden Sprachformen unterscheiden sich gerade im Hinblick auf die ,ideational f u n c t i o n ' vgl. ANDERSEN (1983).

30

2. Überlegungen zur Zweitsprache ,Gastarbeiterdeutsch'

Der Spracherwerb des Gastarbeiters orientiert sich an den unbedingt erforderlichen kommunikativen Notwendigkeiten, und damit findet die Übernahme ideationaler Funktionen durch die Zweitsprache nur in geringem Maße statt. Hierin liegt auch ein wesentlicher Grund für die häufig bereits auf niedriger Kompetenzstufe eintretende Fossilierung. Es kommt oft schon zu einem Stillstand des Lernprozesses, sobald die dringendsten praktischen Probleme im Hinblick auf die deutsche Umgebung gelöst werden können. Ist dieses Ziel erreicht, wird Neues nicht mehr aufgenommen, Korrekturen bzw. von der eigenen Produktion abweichender Input werden nicht mehr berücksichtigt. Nicht die Richtigkeit einer sprachlichen Äußerung, sondern allein der kommunikative Erfolg ist von Interesse. Entsprechend gering ist auch der Beitrag metalinguistischer Aktivität zum Lernprozeß. Bei Sprechern früh fossilierter Lernersprachen findet man selten ein Bewußtsein von Regeln und Formen der Zweitsprache. Der Weg über einen bewußten Vergleich zwischen eigener Produktion und Input zu einer Verbesserung der Kompetenz zu gelangen, ist damit für sie weitgehend ausgeschlossen. Bedingungen für die Fossilierung sind jedoch nicht nur im einzelnen Sprecher zu suchen, sondern sie liegen auch in der Haltung der Deutschen, bzw. den Kontaktmöglichkeiten zwischen Ausländern und Deutschen.6 Fassen wir abschließend die bisherigen Überlegungen zusammen: Soziale und psychologische Faktoren sowie die daraus resultierende funktionale Beschränkung der Zweitsprache bestimmen Geschwindigkeit und Endpunkt des Lernprozesses mit. Außersprachliche Faktoren verzerren den Erwerbsverlauf, können ihn jedoch inhaltlich nicht verändern. Die immanenten Gesetzmäßigkeiten des Spracherwerbs bleiben durch sie unberührt. Für die Bestimmung der konkreten linguistischen Phänomene, der Lernfolge und ihrer Systematik spielen sozialpsychologische Faktoren eine modifizierende, nicht jedoch eine determinierende Rolle. 6

Die besondere Form der funktionalen Beschränkung und die damit verbundene Tendenz auf einem niedrigen Niveau sprachlicher Kompetenz zu erstarren, rückt das Gastarbeiterdeutsch in die Nähe von Pidginsprachen. Ich möchte hier nicht die Debatte um die Angemessenheit des Pidginbegriffes (vgl. H P D [ 1 9 7 5 ] , MEISEL [ 1 9 7 5 ] , KEIM [ 1 9 7 8 ] ) w i e d e r a u f g r e i f e n , d i e

ohnehin weniger ein Streit um kontroverse Inhalte als vielmehr um Begriffsdefinitionen war. Es scheint mir aber sinnvoll, bei der Analyse von ungesteuert erworbenen Zweitsprachen auch einen Blick auf die Pidginforschung zu werfen. Eine wesentliche Gemeinsamkeit besteht darin, daß in Kontaktsituationen neue Sprachen entwickelt werden, deren Gesetzmäßigkeiten nicht die Teilmenge einer anderen Sprache darstellen, sondern Resultate eines kreativen, sprachschaffenden Prozesses sind. Besonders im Hinblick auf mögliche sprachliche Universalien kann ein Vergleich mit Pidginsprachen zur Hypothesenbildung einen wichtigen Beitrag leisten.

2.3. Spracherwerb und Sprachgebrauch

31

2.3. Spracherwerb und Sprachgebrauch Die Literaturübersicht hat bereits erkennen lassen, welche Vielzahl von Fragestellungen mit dem Gegenstand ,Zweitsprache' verknüpft ist. Eine empirische Analyse kann immer nur einen kleinen Ausschnitt aus dem Gesamtbereich beleuchten. Die folgenden allgemeinen Überlegungen sollen dazu dienen, den Stellenwert der vorliegenden Detailstudie im Hinblick auf die Menge der am Zweitspracherwerb beteiligten Faktoren zu bestimmen. Hierfür ist es zunächst notwendig, zwei Untersuchungsbereiche von einander zu trennen. Es handelt sich dabei um die Unterscheidung in Spracherwerb und Sprachgebrauch, die in vielen Arbeiten zum L2-Erwerb unberücksichtigt bleibt. Obwohl gerade im ungesteuerten Zweitspracherwerb Erwerb und Gebrauch eng miteinander verknüpft sind - man lernt, indem man die Sprache gebraucht - sind sie in der Analyse auseinanderzuhalten. Untersuchungen zum Spracherwerb versuchen Antworten zu geben auf die Fragen: ,Was wird gelernt?',Welche Abfolgen ergeben sich im Erwerbsprozeß?',Welche Faktoren steuern den Lernfortschritt?' u.a.m. Analysen des Sprachgebrauchs beschäftigen sich mit Problemen des Einsatzes erworbener sprachlicher Mittel für die Vermitdung bestimmter Inhalte. In diesem Zusammenhang ergeben sich Fragestellungen folgender Art: ,Welche Funktionen steuern den Einsatz der verschiedenen sprachlichen Ausdruckssysteme?' ,In welchem Verhältnis stehen Äußerung und Äußerungskontext?' ,In welchem Verhältnis stehen implizite und explizite Information, und wie verändert sich dieses Verhältnis mit wachsender Sprachkompetenz ?' Auf Grund des Datenmaterials beschäftigt sich die vorliegende Arbeit vorrangig mit Problemen des Sprachgebrauchs. Querschnittsuntersuchungen lassen zwar Rückschlüsse auf Erwerbsprozesse zu, insofern sie eine bestimmte Phase im Spracherwerb eines Lerners festhalten, geben jedoch keine Einblicke in individuelle Erwerbsverläufe.7

7

In diesem Zusammenhang wurde von M E I S E L und FELIX Kritik an Querschnittsstudien geübt. Sie schließen aus, daß überhaupt Erkenntnisse über Erwerbsprozesse aus Querschnittdaten unterschiedlicher Lernerniveaus gewonnen werden können. Geht man jedoch wie Meisel und Felix davon aus, daß Erwerbsverläufe universalen Prinzipien folgen, also in jeder Lernersprache so und nicht anders auffindbar sein müssen, so müssen sich diese universalen Erwerbsstufen auch in Lernersprachen verschiedener Sprecher zeigen. Gerade im Rahmen dieses Ansatzes müßten auch Analysen von Querschnittsdaten zu Aussagen über Erwerbsstufen führen.

32

2. Überlegungen zur Zweitsprache .Gastarbeiterdeutsch'

2.3.1. Spracherwerb8 Beim Erwerb einer fremden Sprache ist der Lerner vor zwei Aufgaben gestellt, wenn er eine bestimmte Form lernen ,wilT: 1. Er muß die Form als Träger einer besonderen Bedeutung oder Funktion erkennen (Analyse).9 2. Er muß sich die Form,aneignen', so daß sie ihm als produktiver Bestandteil seiner Lernersprache zur Verfügung steht (Aufnahme). An dem Unterschied, der zwischen passiver und aktiver Sprachkompetenz besteht, zeigt sich, daß diese beiden Schritte im Lernprozeß nicht zusammenfallen. Nicht jede Form, die gedeutet werden kann, kann vom Lerner auch in der eigenen Produktion verwendet werden. Auf diese Unterscheidung, die letztlich auf die Gegenüberstellung von Verstehen und Produktion im L2-Erwerb hinausläuft, soll hier nicht näher eingegangen werden. Eine Behandlung dieser Fragen im Rahmen der vorliegenden Arbeit ist auf Grund des Datenmaterials (ausschließlich Produktionsdaten) ausgeschlossen. Wesentlich ist für uns ein Aspekt, der beiden Aufgaben gemeinsam ist. Es handelt sich in beiden Fällen um Selektionsprozesse, bei denen vom Lerner aus der Menge des Inputmaterials bestimmte Elemente ausgewählt werden. Die Frage nach den Gesetzmäßigkeiten des

Erwerbsverlaufs ist die Frage nach den Kriterien, die die selektive Verarbeitung des Inputs steuern.

Die Auswahl sprachlicher Elemente und die schrittweise Erweiterung der lernersprachlichen Kompetenz kann durch unterschiedliche Faktoren gesteuert sein. Grundsätzlich lassen sich dabei zwei Gruppen unterscheiden: 1. Die besondere Abfolge im Erwerb kann durch bestimmte Eigenschaften des an der Lerner herangetragenen sprachlichen Materials beeinflußt sein. 2. Die Erwerbssequenz wird durch Kriterien bestimmt, die der Lerner selbst an das L2-Material heranträgt. Die so vom Lerner gesteuerte Erwerbsfolge kann das Ergebnis reflektierter wie unreflektierter Prozesse sein.

8

5

Es wird im folgenden nicht darum gehen, in aller Ausführlichkeit auf allgemeine Probleme des Zweitspracherwerbs einzugehen. Vielmehr beschränken wir uns auf die im Zusammenhang mit dem Gastarbeiterdeutsch relevanten Gesichtspunkte. Zu Fragen der Analyse des L2-Materials vgl. KRASHEN (1981,1982), LONG (1982), KLEIN (1983, 1984).

2.3. Spracherwerb und Sprachgebrauch

33

2.3.1.1. Eigenschaften des Input Das sprachliche Material, mit dem der Lerner konfrontiert wird, beeinflußt den Erwerb in zweierlei Weise. (i) Die strukturellen Eigenschaften der jeweils besonderen Zielsprache spielen eine Rolle für die perzeptive und kognitive Verarbeitung der Teilelemente durch den Lerner. (ii) Die spezifische Form der Darbietung, bei der eine Auswahl aus dem Gesamtsystem der Zielsprache getroffen wird, stellt eine Vorentscheidung in Bezug auf potentiell Erlernbares dar. ad (i) Es gibt zur Frage der mentalen Verarbeitung von Sprache eine umfangreiche Literatur. Eine Diskussion dieser Forschung würde im Rahmen der vorliegenden Arbeit zu weit führen. Es soll daher nur kurz auf zwei zentrale Begriffe eingegangen werden. Für den Spracherwerb sind in der menschlichen Wahrnehmung und Kognition Voraussetzungen gegeben. Allgemeine Gesetzmäßigkeiten der Wahrnehmung bedingen, daß sprachliche Formen im Hinblick auf ihre Erkennbarkeit durch den Lerner unterschiedliches Gewicht besitzen. Dieser Zusammenhang zwischen sprachlicher Form und Perzeption findet sich in der Literatur unter dem Begriff der ,perceptual saliency' behandelt.10 Zu den strukturellen Merkmalen, die bei der perzeptiven Verarbeitung eine Rolle spielen, zählen: phonologische und morphologische Eigenschaften, Wortstellung, Intonation. Neben perzeptiven ist die Sprachverarbeitung auch bestimmten kognitiven Prinzipien unterworfen. 11 Ganz allgemein kann man sagen, daß bestimmte sprachliche Formen leichter bzw. schwerer als andere zu erschließen und aufzunehmen sind. Untersuchungen haben gezeigt, daß sprachliches Material Verarbeitungsprozesse unterschiedlicher kognitiver Komplexität erfordert (vgl. Slobin [1973], Miller/Johnson-Laird [1976], Newport [1982]). Bisher gibt es jedoch wenig gesichertes Wissen in diesem Bereich, sodaß auch nur sehr allgemeine Aussagen über den Einfluß kognitiver Faktoren 10

V g l . MILLER/ISARD ( 1 9 6 3 ) , R O S C H ( 1 9 7 3 ) , M I L L E R / J O H N S O N - L A I R D ( 1 9 7 6 ) ,

NOOTE-

BOOM ( 1 9 7 8 ) , W A N N E R / G L E I T M A N N ( 1 9 8 2 ) , VAN D I J K / K I N T S C H ( 1 9 8 3 ) . 11

Der Begriff .kognitiv' wird in der psycholinguistischen Forschung in unterschiedlicher Weise verwendet. Mit .kognitiven Faktoren' können zum einen spezifische Eigenschaften der mentalen Organisation gemeint sein (s.o.), dazu zählen abstrakte Bestimmungen wie .Verarbeitungskapazität, Gedächtnisleistung, Koordinationsprinzipien verschiedener mentaler Prozesse', etc. Üblicher ist jedoch die Verwendung des Begriffes .kognitiv' in Bezug auf Eigenschaften des menschlichen Denkens. .Kognitive Faktoren' sind dann diejenigen, die im reflektierenden Umgang des Menschen mit seiner Umwelt zum Tragen kommen.

34

2. Überlegungen zur Zweitsprache ,Gastarbeiterdeutsch'

auf den Zweitspracherwerb gemacht werden können - wie beispielsweise das folgende Zitat zeigt: Bedenkt man zusätzlich, daß die Kapazität der menschlichen Sprachverarbeitungssysteme generell begrenzt ist, dann darf vermutet werden, daß auch die L2 Lerner nach einem Prinzip vorgehen, das in der psycholinguistischen Literatur,processing economy principle' genannt wird: Die Lemer werden diejenigen sprachlichen Strukturen am frühesten und leichtesten erwerben, die mit ihren Sprachverarbeitungsstrategien am ehesten vereinbar sind. (Clahsen et al. [1983] p. 159)

ad (ii) Der individuelle Lerner erhält jeweils nur einen begrenzten Ausschnitt der Zielsprache als ,Lernmaterial' angeboten. Dabei können quantitative und qualitative Eigenschaften des L2-Input den Erwerbsverlauf beeinflussen. Problematisch ist die Bedeutung der Vorkommenshäufigkeit einer bestimmten Form für den Spracherwerb. Man hat verschiedentlich nachzuweisen versucht, daß, v. a. im lexikalischen Bereich, eine Korrelation zwischen Frequenz und Erwerbsfolge besteht. Gegen diese Erklärung spricht jedoch die Tatsache, daß besonders häufige Wörter, z. B. der Artikel, das Auxiliar, Modalverben, im ungesteuerten Spracherwerb erst verhältnismäßig spät gelernt werden. Man muß m. E. davon ausgehen, daß der Faktor .Häufigkeit' als Bedingung und nicht als steuernde Größe in den Erwerbsprozeß eingeht. Eine Form muß natürlich überhaupt im Input aufgetreten sein, damit sie als »Kandidat' für den Erwerbsprozeß in Frage kommt. Ein weitergehender Einfluß ist nach den bisherigen Untersuchungen zum LZErwerb nicht gesichert, doch kann diese Frage nur durch eine umfassende Studie zum Verhältnis von Inputmaterial und Lernersprache geklärt werden. Eine solche Studie wurde noch nicht durchgeführt. Mehr Aufmerksamkeit wurde den formalen Eigenschaften des Input und deren Bedeutung für den Erwerbsprozeß gewidmet.12 In diesem Zusammenhang sind nicht die allgemeinen Strukturprinzipien der Zweitsprache gemeint (vgl. Kap. 1.1.2.), sondern die spezifischen Varietäten der Zielsprache, mit denen der Lerner in der Kommunikation konfrontiert ist. So wurde - erstmals von Bloomfield (1935) - folgendes über den Steuerungsfaktor ,Input' angenommen: Der muttersprachliche Sprecher vereinfacht seine Sprache entsprechend der Sprachkompetenz des Lerners (,foreigner talk'). Die reduzierten Formen in der Lernersprache sind auf die reduzierten Formen im Input zurück12

V g l . BLOOMFIELD ( 1 9 3 5 ) , BODEMANN/OSTOW ( 1 9 7 5 ) , H P D ( 1 9 7 5 ) , F E R G U S O N / D E BOSE

(1977), GASKILL et al. (1977), HATCH (1978a), GASKILL (1980), MEISEL (1980), KATZ (1981), SNOW et al. (1981), LONG (1982, 1983), ROCHE (1982), HINNENKAMP (1982), KLEIN (1984).

2.3. Spracherwerb und Sprachgebrauch

35

zuführen (vgl. das Modell ,i+l - Input', Krashen [1980, 1982]). Daneben gibt es auch Vertreter wie Meisel, die die Hypothese nur in einer abgeschwächten Form für richtig halten: Damit soll nun nicht gesagt sein, daß der Wegfall und die Generalisierung von Regeln im Deutsch der Ausländer allein durch den Einfluß simplifizierender Register in den beteiligten Standardsprachen zu erklären seien. (Meisel [1975] p. 47).

Andere Untersuchungen zum ,foreigner talk' zeigen jedoch, daß keineswegs eine differenzierte und systematische Anpassung auf Seiten des muttersprachlichen Sprechers erfolgt. Danach ergibt sich ein heterogenes Bild der Vereinfachung, bei der nicht nur die tatsächliche Sprachkompetenz des Lerners, sondern auch die persönliche Einschätzung durch den Standardsprecher eine Rolle spielen (vgl. Dittmar [1979c], Roche [1982]). Ein Lerner steht im ungesteuerten Spracherwerb nicht einem einheitlich vereinfachten Input, sondern sehr unterschiedlichen Varianten der Zielsprache gegenüber.13 Ein weiteres Argument, das gegen die These spricht, wie sie z.B. von Krashen vertreten wird, liegt in dem Verhältnis von Reduktion im,foreigner talk' und „Reduktion" in der Lernersprache. Eine Entsprechung findet sich hier nur in Teilbereichen (in erster Linie: Wegfall von Konjugationsund Deklinationsformen, parataktische Konstruktionen); der wohl größte Teil lernersprachlicher Vereinfachung und Abweichung hat kein Vorbild in Formen des,foreigner talk' (z.B. der produktive Umgang mit L2-Elementen, ungrammatische Äußerungen, vgl. dazu Long [1982], Roche [1982]). Auch diese Frage verlangt weitere empirische Untersuchungen, in denen die Merkmale des,foreigner talk' und der Lernersprachen, so wie sie sich in der konkreten Kommunikation ergeben, verglichen werden. Abschließend kann man folgendes festhalten: Der Erwerbsverlauf ist nicht als Imitationsprozeß zu betrachten, bei dem der schrittweise sich verändernde Input den Lernfortschritt determiniert. Es müssen vielmehr Faktoren auf seiten des Lerners hinzukommen, die die besondere Auswahl und den kreativen Umgang mit dem L2-Material steuern.14

13

14

Eine Diskussion dieser Probleme findet man in ANDERSEN (1983), part one: .Simplification in the Input to Pidginization and Second Language Acquisition.' Eine weitere Möglichkeit, durch Inputfaktoren den Spracherwerb zu beeinflussen, soll nur kurz erwähnt werden, da sie für den Spracherwerb der Gastarbeiter von geringer Bedeutung ist. Es handelt sich dabei um den Beitrag metalinguistischer Kommunikation zum Lernprozeß. Explizite Verweise auf bestimmte Formen, grammatische Erklärungen etc. auf Seiten des muttersprachlichen Sprechers, können die Aufmerksamkeit des Lerners und damit möglicherweise den Lernprozeß lenken (vgl. dazu BECKER/KLEIN [1979], KRASHEN [1981],

36

2. Überlegungen zur Zweitsprache .Gastarbeiterdeutsch'

2.3.1.2. Auswahlkriterien des Lerners Da der Spracherwerb ausländischer Arbeiter sich in erster Linie an den unmittelbaren kommunikativen Notwendigkeiten orientiert, wurde in einer Reihe von Untersuchungen die kommunikative Relevanz von Wörtern und Strukturen als das entscheidende Auswahlkriterium des Lerners angenommen. Damit ist allerdings noch wenig gesagt, solange man nicht eine unabhängige Bestimmung von kommunikativer Relevanz' angibt. Oft werden gerade jene Formen als kommunikativ relevant angesehen, die in die Lernersprache aufgenommen werden. Dies ergibt eine zirkuläre Bestimmung, die zu einer Erklärung des Erwerbsprozesses nichts beitragen kann. Um den,Motiven' auf die Spur zu kommen, die die selektive Aufnahme sprachlicher Formen beim Lerner steuern, muß man fragen, warum bestimmte Formen und Wörter kommunikativ wichtiger sind als andere. Welche Kriterien hat der Lerner, um die Aufgliederung des dargebotenen Materials und eine Bewertung zielsprachlicher Formen im Hinblick auf eine Lernprogression vorzunehmen? Grundsätzlich sind hierbei zwei Faktoren zu unterscheiden, die im folgenden als,externe'und ,interne Motivation'bezeichnet werden. Unter externer Motivation sind diejenigen Kriterien zu verstehen, die durch das gesellschaftliche Umfeld und die praktischen Anforderungen an den einzelnen Lerner Prioritäten für die Aufnahme setzen (vgl. dazu Dittmar [1982]). Die konkrete gesellschaftliche Situation, in der der Lerner mit der Zweitsprache in Berührung kommt, bestimmt inhaltlich, für welche Gegenstände und Begriffe er L2-Ausdrücke erwerben muß. Für die meisten Gastarbeiter stellen beispielsweise Arbeitsplatz und Behörden für den L2Gebrauch besonders relevante Kontexte dar. Der Spracherwerb wird den in diesen Zusammenhängen gestellten kommunikativen Anforderungen Rechnung tragen. Dies wirkt sich in erster Linie auf den Aufbau des Lexikons aus. Ein Beleg hierfür ist die Tatsache, daß je nach der besonderen beruflichen Tätigkeit der Lerner unterschiedliche Bereiche des deutschen Wortschatzes aufnimmt. Aber auch der Erwerb bestimmter syntaktischer Muster kann in dieser Weise extern motiviert sein. So scheint es plausibel, daß Frage- und Imperativformen sehr früh in die Lernersprache aufgenommen werden, da sie in der Kommunikation in den genannten Bereichen vorherrschen (vgT dazu Dittmar/Thielicke [1978]). CARROLL/DIETRICH/STORCH [ 1 9 8 2 ] , FELIX [ 1 9 8 2 ] , PERDUE [ 1 9 8 4 ] , KLEIN [ 1 9 8 4 ] ) . Diese

Formen der Steuerung werden vor allem im Unterricht eingesetzt, wobei die Auswirkungen auf den Lernerfolg noch völlig ungeklärt sind. Für den typischen Gastarbeiter spielt diese Form der .gezielten Ausbildung' eine unbedeutende Rolle.

2.3. Spracherwerb und Sprachgebrauch

37

Die Bedeutung der ,externen Motivation' als Kriterium der Aufnahme läßt sich am Beispiel des »Behördendeutsch' illustrieren: Lange und phonetisch schwierige Wörter wie,Wohnberechtigungsschein',,Wohnungsnachweispapiere', .Aufenthaltserlaubnis' gehören zum Grundwortschatz eines Gastarbeiters. Die praktischen Erfordernisse des täglichen Lebens liefern also ein wichtiges Kriterium für die selektive Verarbeitung des Inputmaterials. Daneben werden jedoch Referenzbereiche vom Lerner erschlossen, die nicht durch äußere Faktoren motiviert sein können. Auch in Bezug auf den lexikalischen und strukturellen Ausbau von Lernersprachen, der Ersetzung eines Ausdruckssystems durch ein anderes, kann das Kriterium .praktische Notwendigkeit' keine hinreichende Erklärung bieten. Der Begriff,interne Motivation'besagt, daß der Lerner selbst Kriterien in den Erwerbsprozeß einbringt, die ihm einen interessierten Umgang mit dem L2-Material ermöglichen.15 Er kann sich dabei auf zwei Arten von Wissen stützen: (i) allgemeine Kenntnis der Realität, bestimmte Deutungen, sowie Modalitäten des Umgangs mit der Realität. Dieses ,Weltwissen' ist nach bestimmten Prinzipien organisiert. Die Muttersprache ist das Medium, in dem die begriffliche Fassung der Wirklichkeit organisiert ist. Im folgenden wird dieses Wissen als konzeptuelle Repräsentation bezeichnet. (ii) Kenntnisse über Eigenschaften von Sprache, die sich im wesentlichen auf die besonderen Formen und Strukturen der Muttersprache beziehen. ad (i) konzeptuelle Repräsentation16 Der erwachsene Lerner tritt zu einem Zeitpunkt in den Lernprozeß ein, zu dem er über voll ausgebildete Bewußtseinsstrukturen verfügt. Mit dem relativen Abschluß des Erstspracherwerbs im Alter von 14 oder 15 Jahren ist ein Zustand erreicht, in dem die Lösung begrifflich konzeptueller Kategorien von sprachlichen Kategorien vollzogen werden kann. Der Mensch verfügt dann über abstrakte konzeptuelle Repräsentationen, wie z.B. ein Zeitkonzept, ein Konzept der Kausalität, der Konditionalität, des Hypothetischen.17 Diese konzeptuellen Repräsentationen gehen zunächst als Kon15

Vgl. hierzu GIVÖN (1982) p. 148, .Pidgin speakers have a choice with respect to TAMsystems'.

14

Vgl. h i e r z u JOHNSON-LAIRD/WASON (1977)JACKENDOFF (1983),JOHNSON-LAIRD (1983).

17

In diesem Zusammenhang sei auf Arbeiten aus dem Bereich der,Künstlichen Intelligenz'F o r s c h u n g h i n g e w i e s e n (vgl. h i e r z u WOODS [1970], SCHANK [ 1 9 7 5 ] , METZING [ 1 9 8 0 ] , JOHNSON-LAIRD [ 1 9 8 2 ] , ENGELBERG/KNÖPFLER [ 1 9 8 3 ] ) . D a s Verhältnis z w i s c h e n k o n -

38

2. Überlegungen zur Zweitsprache ,Gastarbeiterdeutsch'

stanten in den Erwerbsprozeß ein, in Bezug auf sie muß eine sprachliche Form durch eine andere ersetzt werden.18 Die vorliegende Arbeit stützt sich auf die Hypothese, daß die konzeptuelle Repräsentation einen wesentlichen Steuerungsfaktor für den selektiven Umgang mit dem L2-Material darstellt. Dieses konzeptuelle Wissen ist die Grundlage und der Orientierungsrahmen für bestimmte Erwerbsstrategien des Lerners. Einige seien kurz genannt: - Der Lerner erwirbt einzelne lexikalische Ausdrücke als repräsentativ für weitere Bedeutungsbereiche; - Ausdrucksformen in Bezug auf ein bestimmtes Konzept werden systematisch vom Allgemeinen zum Besonderen hin entfaltet; - der Lerner bildet produktiv neue Formen und Kombinationen aus L2Elementen, um damit die für ihn wichtigen konzeptuellen Kategorien zum Ausdruck bringen zu können; - abstrakte Inklusions- und Analogiebeziehungen zwischen Begriffen werden zur ,Ökonomisierung' des neuen sprachlichen Systems genutzt. Um diese Hypothese am empirischen Material zu überprüfen, werden die lernersprachlichen Daten anhand konzeptueller Kategorien untersucht. Am Beispiel der Temporalität wird der Frage nachgegangen, welchen Prinzipien

18

zeptueller und sprachlicher Repräsentation steht dort als ein wesentliches Problem im Vordergrund des Interesses: „The task for psychological semantics is neither to relate language to a model nor to relate it directly to the world. It is rather to show how language and the world are related to one another in the human mind, to show how mental representation of sentences is related to the mental representation of the world, (p. 7) . . . There are two different ways in which an expression, a sentence or a paragraph are mentally represented as a result of understanding them. - One sort of representation reflecting a deep level of comprehension consists in the construction of a mental model, and the other sort of representation, reflecting a more superficial understanding, consisting in a prepositional representation, i.e. the representation of a description . . . This procedure is forced to make assumptions about matters unspecified in the description and it can rely on general knowledge or knowledge of other specific cases in order to assist it." (JOHNSON-LAIRD [1982] p. 85). Die verschiedenen Modelle von Wissensrepräsentationen, die in der .Künstlichen Intelligenz'-Forschung entwickelt wurden, geben sicherlich wertvolle Anstöße bei der Beschäftigung mit natürlichen Sprachprozessen. Eine Übertragung dieser Modelle auf natürliche Sprachprozesse ist jedoch auf Grund der unterschiedlichen Forschungsziele nicht ohne weiteres möglich. Auch im Hinblick auf die konzeptuelle Repräsentation sind möglicherweise Veränderungen nötig, Bereiche, in denen nicht nur neue Formen, sondern auch Konzepte erworben werden müssen, werden eine besondere Lernschwierigkeit darstellen (z.B. der Erwerb des englischen Aspektsystems für Deutsche, der Erwerb des deutschen Genus-Systems für Türken etc.).

2.3. Spracherwerb und Sprachgebrauch

39

der schrittweise Ausbau der lernersprachlichen Systeme im Bezug auf temporale Referenz folgt und welche Strategien der Lerner zur Repräsentation temporaler Konzepte im Diskurs einsetzt.19 ad (ii) Sprachliches Vorwissen

Als eine weitere wesentliche Komponente des L2-Erwerbs wurde bereits mehrfach die Muttersprache genannt. Das sprachliche Wissen, mit dem der Lerner in den Erwerbsprozeß eintritt, liefert ihm auf verschiedenen Ebenen Kriterien für die Auswahl von L2-Formen. Generell ist zu unterscheiden zwischen Einflüssen, die im konzeptuellen Bereich liegen und solchen, die durch strukturelle Eigenschaften von LI bedingt sind. Die besondere Form der konzeptuellen Verarbeitung, so wie sie in einer bestimmten Sprache repräsentiert ist, stellt nur einen Ausschnitt aus den grundsätzlich möglichen konzeptuellen Repräsentationen dar. Mit dem Erwerb der Muttersprache erwirbt der Sprecher eine bestimmte Form der begrifflichen Organisation, durch die gewisse konzeptuelle Aspekte in den Vordergrund gerückt werden (vgl. Halliday [1973]). Diese besondere Anordnung und Strukturierung von Bedeutungsbereichen in der Muttersprache wird für den Lerner eine Grundlage für Analyse und Selektion des Inputmaterials sein. Auf der Ebene der sprachlichen Struktur ist von entscheidender Bedeutung, durch welche Ausdruckssysteme bestimmte Bedeutungsbereiche repräsentiert sind, und in welcher Weise die unterschiedlichen Ausdruckssysteme in einer Sprache interagieren. Im folgenden werden wir uns mit drei Ausdruckssystemen beschäftigen, von denen alle Sprachen Gebrauch machen: das lexikalische, das grammatische (morphologische und syntaktische) und das pragmatisch-diskursive Ausdruckssystem. Die Bedeutungsfelder und inhaltlichen Funktionen, die in den jeweiligen Ausdruckssystemen kodiert werden, variieren von Sprache zu Sprache. So können Konzepte wie temporale Referenz z.B. in einer

19

Im Rahmen der Erstspracherwerbsforschung wird in der neueren Forschung sprachunabhängigen konzeptuellen Repräsentationen zentrale Bedeutung für den Erwerbsprozeß beigemessen. „Nonlinguistic strategies, then are used by the inattentive listener and by the learner of a second language in immersion situations, as well as by the young child embarking on his first language. These strategies are probably viewed as general organizational principles for dealing with objects and relations in the world. As such, cognitive principles play an important role in the acquisition of meaning in language." (E. CLARK, .Knowledge, context, and strategy' [1975], vgl. hierzu auch H . CLARK [1973], KEIL [1979], SLOBIN [1982,1984], BERMAN [1982], BOWERMAN [1984]).

40

2. Überlegungen zur Zweitsprache .Gastarbeiterdeutsch'

Sprache grammatisch, in einer anderen lexikalisch und wieder in einer anderen durch pragmatische Mittel des Diskursaufbaus ausgedrückt werden. Die funktionale Verteilung der Ausdruckssysteme in der jeweiligen Muttersprache wird den Lerner zu Hypothesen darüber veranlassen, welches die adäquaten zielsprachlichen Ausdrucksmittel für einen bestimmten Bedeutungsbereich sein könnten. Wie verschiedene Untersuchungen zum muttersprachlichen Transfer ergeben haben, kann es sich dabei um konkrete Annahmen des Lerners über strukturelle Eigenschaften wie Wortstellung, syntaktische Konstruktionen, Wortbildungsmuster etc. handeln.20 Um mögliche Transferphänomene in der Datenanalyse belegen zu können, wird in Kapitel 4 eine Darstellung des muttersprachlichen Ausdruckssystems zur temporalen Referenz - in diesem Fall des Türkischen - der empirischen Untersuchung vorangestellt. 2.3.1.3. Formen des sprachlichen Wissens in der L2 Der Erwerb von L2-Elementen kann in verschiedenen Formen sprachlichen Wissens resultieren. Zwei Extreme lassen sich unterscheiden, die als zwei Pole eines Kontinuums zu betrachten sind. Der Unterschied liegt in dem jeweils spezifischen Form-Inhalt-Verhältnis, das vom Lerner in Bezug auf die einzelnen L2-Formen und -Strukturen angenommen wird. An dem einen Ende des Kontinuums steht die Kenntnis komplexer Ausdrücke, die vom Lerner nicht analysiert sind und nur gebunden an einen spezifischen Kontext verwendet werden können. Zur Verdeutlichung greifen wir zwei Beispiele aus den Daten heraus. - „Könnse morgen wieder kommen?" „Könnse meine helfen?" Das Wort,können' wird vom Sprecher in keiner anderen Form verwendet und, wie ein Ubersetzungstest gezeigt hat, auch in anderen Kontexten nicht verstanden. - „Ich sagtefragen meine Chef." (vgl. TA2) Bei diesem Sprecher erscheint grundsätzlich diese komplexe Form. Die beiden Wörter werden nie einzeln gebraucht, der Lerner hat die Form nicht in Bezug auf ihre sprachlichen Einzelteile analysiert.

20

Vgl. hierzu die umfangreiche Literatur zur Transfer-, bzw. Interferenzproblematik, KELLERMAN ( 1 9 7 7 ) , GASS/SELINKER ( 1 9 8 3 ) .

2.3. Spracherwerb und Sprachgebrauch

41

Am anderen Ende des Kontinuums sind Formen einzuordnen, denen vom Lerner eine unabhängige Bedeutung zugewiesen werden kann. Sie sind produktiver Bestandteil des lernersprachlichen Systems und in ihrer Verwendung nicht an einen bestimmten Kontext gebunden. Zwischen den beiden Extremen finden sich,Zwischenstadien', in denen Formen in mehreren Kontexten, aber noch nicht frei verfügbar sind (vgl. Kap. 6 .gebundene Form - Listenstadium - freie Form'). Der Spracherwerb kann für die verschiedenen Teile einer Lernersprache an unterschiedlichen Punkten des Kontinuums einsetzen. Gerade in solchen Erwerbsprozessen, die überwiegend durch interne Motivation gesteuert werden, stehen dem Lerner von Anfang an freie Formen zur Verfügung. Das besondere Verhältnis von Form und Bedeutung wird in diesem Fall von der inhaltlichen Seite aus erschlossen. Dies kann durchaus zu ,Fehlbesetzungen' führen, bei denen einer L2-Form ein weiteres, ein engeres oder auch ein anderes Bedeutungsfeld als in der Zielsprache zugeordnet wird. Verdeutlichen wir dies an zwei Beispielen, die sich bei der Analyse der Daten ergeben haben (vgl. dazu Kap. 6). Zum Ausdruck des Konzeptes .Irrealis' hat ein Sprecher eine idiosynkratische Form ausgewählt, die in diesem Zusammenhang in der Zielsprache nicht verwendet wird. Es ist die Verkürzung des Partizips Perfekt .gewesen' zu ,wesen'. z.B. „Ich bin alleine wesen, ich geh sofort weg." Wenn ich alleine wäre, ginge ich sofort weg. Für den Lerner liegt dieser Form ein klares Konzept zu Grunde, sie ist produktiver Bestandteil seines lernersprachlichen Systems. Das zweite Beispiel zeigt eine Erweiterung der Bedeutung einer zielsprachlichen Form. Bei einigen Sprechern elementarer Lernersprachen findet sich der Ausdruck ,vorher' für das zeitliche Konzept,Vorzeitigkeit'. ,Vorher' wird in allen deiktischen und anaphorischen Kontexten verwendet, begriffliche Differenzierungen der Zielsprache sind in dieser allgemeinen Form aufgehoben: z. B. „Vorher Türkei ich Hause arbeite." Früher/damals in der Türkei habe ich zuhause gearbeitet. Auch hier handelt es sich um ein Beispiel ,konzept-orientierten' Lernens, bei dem ein Ausdruck für eine bestimmte konzeptuelle Kategorie erworben wird. Wird das Form-Inhalt-Verhältnis von der Formseite aus erschlossen, so ergibt sich für den Lerner zunächst gebundenes Sprachwissen. Dieses ist nicht auf lexikalische Ausdrücke beschränkt, sondern kann auch. Wortfolgen und Satzmuster umfassen. Gebunden an einen spezifischen Gebrauchskontext verfügt der Lerner über ,Sprachbrocken', die in Bezug auf ihre

42

2. Überlegungen zur Zweitsprache ,Gastarbeiterdeutsch'

interne Struktur nicht analysiert sind. Dieses sprachliche Wissen hat den Charakter von stereotypen Redewendungen21, die in ihrer Verwendung starken kontextuellen Restriktionen unterworfen sind. Eine in dieser Weise gebundene Sprachkompetenz hat zur Folge, daß der Lerner in seinem Gebrauch von L2 von bestimmten situativen Kontexten, bzw. thematischen Bereichen abhängig ist (vgl. v. Stutterheim [1982]). Um die so erworbenen sprachlichen Elemente zu produktiven Bestandteilen eines sprachlichen Systems zu machen, muß zu der unmittelbaren Identifikation einer Bedeutung und kommunikativen Funktion die Analyse ihrer internen Struktur treten. Dieser Schritt ist jedoch für den kommunikativen Gebrauch nicht notwendig. Gerade früh fossilierte Lernersprachen weisen häufig gebundene Formen auf. Beispiele hierzu werden im Rahmen der Datenanalyse angeführt werden. Abschließend sollen noch einmal die wesentlichen Annahmen in Bezug auf den Spracherwerbsprozeß zusammengefaßt werden. - Der erwachsene Lerner baut auf seinem gesamten sprachlichen und nichtsprachlichen Wissen auf und gewinnt daraus Kriterien für die selektive Aufnahme und Verarbeitung des L2-Input. - Kognitive Bedeutungsorganisation und Prägung durch begriffliche Organisationsprinzipien der Muttersprache stellen einen Steuerungsfaktor des Erwerbsverlaufs dar. Der Lerner erwirbt zunächst Ausdrucksformen für einen ,konzeptuellen Rohbau', der dann nach dem Prinzip der konzeptuellen Relevanz erweitert wird (konzept-orientiertes Lernen). Er unterstellt dabei, daß sich die in LI erworbenen Formen des sprachlichen und gedanklichen Umgangs mit der Wirklichkeit in L2 bewähren, daß das Konzept ,Temporalität' z. B. - wenn auch in unterschiedlicher Form - in beiden Sprachen repräsentiert ist. 2.3.2. Sprachgebrauch22 Der Gebrauch der Sprache für kommunikative Zwecke verlangt den Aufbau und die Repräsentation komplexer Bedeutungseinheiten. Die Vermittlung von Sinnzusammenhängen im Diskurs basiert auf Organisationsprinzipien, die auf zwei Ebenen wirksam werden. 21

Vgl. hierzu den Begriff des ,rote learning' bei HAKUTA (1974), L. FILLMORE (1976), WODE

22

Sprachgebrauch' wird hier nicht als Gegensatz zu,Sprachstruktur' verstanden, sondern im Kontrast zu ,Spracherwerb', d.h. es geht um die Frage: welche Prinzipien liegen der Anwendung der Lernersprache in der Kommunikation zu Grunde?

( 1 9 7 8 ) , des w e i t e r e n REHBEIN ( 1 9 8 1 ) .

2.3. Spracherwerb und Sprachgebrauch

43

1) Auf der verbalen Ebene werden sprachliche Einzelelemente zusammengefügt und dabei funktional aufeinander bezogen. Klein (1984) bezeichnet diesen Aspekt als das ,Syntheseproblem' des Sprechers. 2) Daneben muß der Sprecher die interaktionale Komponente in seinen Diskurs integrieren. Die jeweilige Äußerung wird - wenn sie ihren kommunikativen Zweck erfüllt - dem entsprechenden Kontext angepaßt sein. Unter ,Kontext' sind hier sowohl die situativen Bedingungen zu verstehen als auch die sozialen und persönlichen Faktoren, die durch die Gesprächspartner eingebracht werden. Sprachliche Komposition und kontextuelle Einbettung werden im Diskurs vermittelt. Die Kombination unterschiedlicher Ausdrucksmittel bedeutet, daß der diskursive Gebrauch der Sprache eigenen Gesetzmäßigkeiten unterliegt, die über die Bestimmung der Eigenschaften der einzelnen Ausdruckssysteme und ihrer Elemente hinausgehen. Um diese Ausdruckssysteme anwenden zu können, muß der Sprecher kommunikative Kompetenz' besitzen, wie sie beispielsweise von Gumperz charakterisiert wird. Communicative competence can be defined in interactional terms as the ,knowledge of linguistic and related communicative conventions that speakers must have to create and sustain conversational cooperation' and thus involves both grammar and contextualization. (Gumperz [1982] p. 209).

Diese allgemeine Bestimmung gilt für alle Kommunikationssituationen in gleicher Weise. Unterschiede ergeben sich jedoch im Gebrauch besonderer Diskursorganisationsprinzipien sowie im spezifischen Einsatz der verschiedenen Ausdruckssysteme. Im folgenden soll dargestellt werden, welche Faktoren für die Diskursorganisation in einer Zweitsprache von Bedeutung sind. Dabei ist der Zusammenhang mit allgemeinen Prinzipien eines f o r malen' Diskurses zu berücksichtigen. 2.3.2.1. Allgemeine Konversationsmaximen Dem eigentlichen Diskurs vorausgesetzt sind allgemeine, ihrer Natur nach soziale Regeln der menschlichen Interaktion. Sie stellen Bedingungen dar, die erfüllt werden müssen, damit Kommunikation überhaupt zustande kommen kann. Gemeint sind damit Bestimmungen, die von Grice als ,conversational maxims' bezeichnet werden. Nach Grice müssen Sprecher (und Hörer) eine Reihe von Spielregeln befolgen, die er unter dem Terminus ,cooperative principle' zusammenfaßt. One may perhaps distinguish four categories under one or another of which will fall certain more specific maxims and submaxims, the following, of which will, in general, yield results in accordance with the Cooperative Principle . . . (Grice [1975] p. 45).

44

2. Überlegungen zur Zweitsprache ,Gastarbeiterdeutsch'

Quantity: Give the right amount of information. 1. Make your contribution as informative as is required. 2. Do not make contribution more informative as is required. Quality: Try to make your contribution one that is true. 1. Do not say what you believe to be false. 2. Do not say that for which you lack adequate evidence. Relation: Be relevant. Manner: Be perspicious. 1. Avoid obscurity of expression. 2. Avoid ambiguity. 3. Be brief (avoid unnecessary prolixity). 4. Be orderly.' (Nach Grice [1974] p. 45ff.).23 Wenn oben gesagt wurde, daß diese Prinzipien als Bedingungen dem Diskurs vorausgesetzt sind, so bedeutet dies nicht, daß sie grundsätzlich in jeder Gesprächssituation befolgt werden. Doch werden sich Probleme in diesem Bereich weniger auf die Form der verbalen Interaktion auswirken, sondern vielmehr die soziale Beziehung zwischen den Gesprächspartnern beeinträchtigen. Das Interesse an einer Verständigung könnte dadurch von vornherein zunichte gemacht werden. Für die Analyse von Diskursorganisationsprinzipien wird im folgenden davon ausgegangen, daß die Sprecher die allgemeinen Konversationsmaximen - wie immer diese nun im einzelnen bestimmt sein mögen - befolgen, also mit einem ernsthaften Interesse an Verständigung in den Interaktionsprozeß eintreten. 2.3.2.2. Bedeutungsorganisation im Diskurs In einer Gesprächssituation geht es für den Sprecher (für den Hörer in umgekehrter Reihenfolge) darum, Inhalte aus einer Repräsentationsform, der konzeptuellen Repräsentation, in eine andere, die sprachliche Repräsentation, zu übertragen. Die Ausgangsbasis bilden strukturierte Bedeutungs23

LEECH fügt diesen Prinzipien noch eine Reihe weiterer hinzu, politeness principle \ interpersonal rhetorics - irony principle / - processibility principle - clarity principle textual rhetorics - economy principle - expressivity principle' (vgl. LEECH [ 1 9 8 3 ] p . 1 6 ) .

2.3. Spracherwerb und Sprachgebrauch

45

einheiten auf der Ebene der konzeptuellen Repräsentation, die als Redeintention eine sprachliche Repräsentation verlangen. Die Ausdrucksmittel sind vom Sprecher im Bezug auf eine adäquate Repräsentation der Intention auszuwählen. Die,Übersetzung' konzeptueller Strukturen in verbale Strukturen besteht zum einen in einem Selektionsprozeß, da die konzeptuelle Repräsentation umfassender ist als die verbale (Vgl. Miller/Johnson-Laird [1976], Littlewood [1979], Lockman/Klappholz [1980], van Dijk/Kintsch [1983]) und zum anderen in einem, den Gesetzmäßigkeiten des Mediums Sprache entsprechenden Organisationsprozeß, dessen wichtigste Komponente die Übertragung hierarchischer Bedeutungsstrukturen in eine lineare Abfolge in der Rede darstellt (vgl. Levelt [1981], Butterworth [1980]). Es muß daher angenommen werden, daß der Aufbau komplexer Sinneinheiten im Diskurs von Prinzipien gesteuert wird, die das Verhältnis zwischen konzeptueller und verbaler Repräsentation in bestimmter Weise organisieren.24 Über diese Prinzipien, so wie sie im ,normalen* Sprachgebrauch zur Wirkung kommen, ist jedoch erst wenig bekannt. Die Analyse lernersprachlicher Diskurse kann sich nur sehr eingeschränkt auf Vorarbeiten zum Standard-Sprachgebrauch stützen. Es ist vielmehr zu hoffen, daß die Untersuchungen von Lernersprachen Einblicke geben, die auch in Bezug auf allgemeine Gesetzmäßigkeiten des Sprachgebrauchs Anstöße zu weiterführenden Hypothesen geben. Im Hinblick auf den diskursiven Gebrauch von Sprache liegt ein wesentlicher Unterschied zwischen Lerner und Standardsprecher25 in dem spezifischen Verhältnis von konzeptueller und sprachlicher Repräsentation. Der Standardsprecher muß die angemessenen Ausdrucksmittel für bestimmte konzeptuell repräsentierte Intentionen finden. Er ist im Prinzip in der Lage, seine Intentionen in Worte zu fassen. Der Lerner dagegen verfügt nicht über die angemessenen Ausdrucksmittel. Für ihn impliziert Kommunikation in der Regel die Beschränkung auf einen Teil seiner Intentionen. Der Lerner 24

Diese Hypothese rückt die vorliegende Arbeit in die Nähe eines Ansatzes, der in den letzten Jahren vor allem im Bereich der,Künstlichen Intelligenz'-Forschung (KI) entwickelt wurde. Um Diskursprozesse beschreiben zu können, wird hier eine selbständige Ebene der Disk u r s r e p r ä s e n t a t i o n a n g e n o m m e n (vgl. MILLER/JOHNSON-LAIRD [ 1 9 7 6 ] , WINSTON [ 1 9 7 7 ] , ABELSON [ 1 9 7 9 ] , LITTLEWOOD [ 1 9 7 9 ] , JOSHI et al. [ 1 9 8 1 ] ) . In einigen S t u d i e n w i r d

versucht, den dynamischen Charakter eines Diskurses in ein Modell zu integrieren. Zur Diskussion um eine prozedurale bzw. deklarativistische Betrachtungsweise vgl. ENGELBERG/KNÖPFLER ( 1 9 8 3 ) p . 4 8 ff.. 25

Es wird selbstverständlich nicht angenommen, daß es eine homogene Gruppe der ,Standardsprecher' gibt. Der Begriff soll, im Unterschied zu den Lernern, die Gruppe der Sprecher bezeichnen, die muttersprachliche Kompetenz in der jeweiligen Sprache besitzen.

46

2. Überlegungen zur Zweitsprache ,Gastarbeiterdeutsch'

ist daher in der Kommunikation vor eine zusätzliche Aufgabe gestellt. Er muß seine beschränkten Mittel effektiv einsetzten, um so weit wie möglich seine Redeintention sprachlich umsetzen zu können. Dies führt zu besonderen Diskursstrategien, die zwar auf allgemeinen sprachlichen Prinzipien fußen, in Lernersprachen jedoch spezifische Funktionen erfüllen. Welche Möglichkeiten stehen dem Lerner dabei zur Verfügung, seine beschränkten sprachlichen Mittel im Diskurs möglichst effektiv einzusetzen? Welche Gesetzmäßigkeiten steuern das Verhältnis von konzeptueller und sprachlicher Repräsentation? Um diesen Fragen nachzugehen, sollen die beiden Seiten, die konzeptuelle und die sprachliche Repräsentation, auf ihre Bedeutung in diesem Vermittlungsprozeß hin untersucht werden. 1. Konzeptue lie Repräsentation In die konzeptuelle Repräsentation gehen sowohl Kenntnisse über Objekte und deren Eigenschaften als auch über Modalitäten des Umgangs mit diesen Objekten ein. Man kann annehmen, daß auf Grund perzeptueller Kategorien und kultureller Werte große Teile dieses Wissens für viele sehr ähnlich, vielleicht sogar identisch sind. Dieses ,geteilte Wissen' kann, wenn sich die Gesprächspartner ihrer Gemeinsamkeit darin bewußt sind, für die Kommunikation eine entscheidende Rolle spielen.26 Implizite Information, in anderen Arbeiten auch ,Hintergrundwissen' (,background knowledge') genannt, kann einen ,stummen' Beitrag zur Kommunikation leisten. Dabei genügt es jedoch nicht, die Summe dieses Wissens als gegeben zu unterstellen. Die explizit formulierten Bedeutungsteile müssen so ausgewählt und strukturiert sein, daß sie Schlüsse auf notwendig zu Ergänzendes zulassen. Lockman/Klappholz nennen diesen Prozeß ,structured guessing' und beschreiben ihn folgendermaßen. We are using full inferencing powers based on all of our semantic and world knowledge... We perform this guessing of relations not in a random way against all items in the meaning representation of the previous text at once, but rather up the ordering of contexts thus satisfying the text convention of preference for ,what is being talked about'. And this notion of ,what is being talked about' can only come from proper understanding of the manner in which each particulartext structures the concepts it presents not just from knowledge of the intrinsic relationship between concepts. (Lockman/Klappholz [1980] p. 53).

Eine Äußerung muß genügend Elemente enthalten, die sowohl eine referentielle Zuordnung als auch den Schluß auf Bedeutungskohärenzen erlauben. Der Sprecher muß bei der Planung seiner Äußerung notwendig explizite

26

Vgl. den Begriff .mutual knowledge' bei CLARK/MARSHALL (1981).

2.3. Spracherwerb und Sprachgebrauch

47

und zu erschließende Informationen trennen. Auf der Diskursebene sind also folgende Komponenten vom Sprecher zu kontrollieren. - Für den Hörer unbekannte Information muß ausreichend explizit vermittelt werden. - Die Integration gemeinsamen Wissens muß durch .Schlüsselwörter' oder bestimmte Organisationsprinzipien angeleitet werden.27 Dementsprechend hat der Sprecher seine Äußerung aufzubauen. Dabei kann er neben gemeinsamem Wissen allgemeine Prinzipien zur Organisation von Bedeutungen voraussetzen, die der Hörer für die Rekonstruktion der Intention heranzieht. Hierzu gehören Möglichkeiten der Verknüpfung zwischen Sachverhalten, die entweder logischer oder temporaler Natur sein können. Fehlt z.B. die explizite Markierung der Relation zwischen zwei Außerungseinheiten AEj und ÄE2, so muß der Hörer diese Relation auf der Basis der Kenntnis der in ÄEj und ÄE2 dargestellten Sachverhalte erschließen. Damit auf diese Weise Verständigung möglich wird, müssen Sprecher und Hörer über die gleichen Organisationsprinzipien konzeptueller Repräsentation verfügen. Das gleiche gilt für Formen assoziativer Ergänzungen, bzw. Umdeutungen, die die Interpretation einer Äußerung möglicherweise erfordert. Hierfür ist es wesentlich, daß Sprecher und Hörer ähnliche konzeptuelle Strukturen besitzen, in denen z.B. Hierarchien von Begriffen,,typische' Kategorien, konzeptuelle Subkategorisierungen definiert sind.28 Eine Äußerung wie ,Meine Kind kommt groß, zurück Türkei' ist verständlich, wenn Sprecher und Hörer im Hinblick auf das Wort,kommt' den gleichen Abstraktionsprozeß vornehmen, der eine Bedeutungserweiterung von physischer Bewegung auf Bewegung allgemein (in diesem Fall in der Zeit) verlangt (vgl. Kap. 6 ,Konzeptübertragungen'). Auf der Grundlage der bisherigen Überlegungen lassen sich folgende Annahmen über den Einfluß konzeptueller Repräsentation im lernersprachlichen Diskurs machen: 27

28

Vgl. dazu LITTLE WOOD: „Learning begins with the mastery of minimal communication strategies in which emphasis is on verbalizing only the necessary minimum of unshared elements, without special regard to structural demands of the linguistic system. It seems feasible that regularity might atfirstreside less in the relationship between words than in the relationship between utterance and context." (LITTLEWOOD [ 1 9 7 9 ] p. 1 3 4 / 1 3 5 ) . Vgl. auch den Begriff .bridging' bei H. CLARK (1977). Vgl. hierzu die Arbeiten zu .Prototypen' und .Merkmalsemantik', ROSCH (1977a u. b), FILLMORE (1977), KEIL (1979), - des weiteren LABOV (1973).

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2. Überlegungen zur Zweitsprache ,Gastarbeiterdeutsch'

Gemeinsames Wissen und generelle Prinzipien konzeptueller Organisation ermöglichen dem L2-Sprecher in der Kommunikation inhaltlich über das hinauszugehen, was er explizit formulieren kann. Um die für Inferenzen notwendigen Informationen zu geben, kann er sich neben den expliziten sprachlichen Mitteln diskurs-pragmatischer Mittel bedienen. In der Datenanalyse werden einige dieser pragmatischen Mittel bestimmt. Schwierigkeiten für die Verständigung sind dort zu erwarten, wo der L2-Sprecher auf Grund kultur- und sprachspezifischer konzeptueller Kategorien Inferenzprozesse auf Seiten des Hörers erwartet, die von diesem nicht erbracht werden können. Die Kommunikation wird auch dann scheitern, wenn das minimal notwendige Verhältnis zwischen impliziter und expliziter Information nicht gewahrt ist. Wenn der Hörer nicht ausreichende Hinweise über Art und Umfang des zu ergänzenden Wissens erhält, wird die Interpretation einer Äußerung unmöglich. Der L2-Sprecher muß also eine ständige Kontrolle über bereits ,aufgerufenes' Wissen und die mit seinen sprachlichen Ausdrucksmitteln verknüpften maximalen Referenzfelder haben. 2. Sprachliche Repräsentation Wie bereits im Zusammenhang mit Problemen des Spracherwerbs ausgeführt wurde, lassen sich mehrere sprachliche Ausdruckssysteme unterscheiden. Für unsere Fragestellung ist das lexikalische, das grammatische und das diskurs-pragmatische Ausdruckssystem von Bedeutung.29 Der gleiche Inhalt kann in unterschiedlicher Form unter Verwendung verschiedener Ausdruckssysteme vermittelt werden. Lerner unterschiedlichen Niveaus unterscheiden sich nicht nur in der Menge ihres sprachlichen Wissens, das sprachliche Wissen verteilt sich auch unterschiedlich auf die Ausdruckssysteme. Wie Untersuchungen ergeben haben (vgl. HPD [1975], Givön [1979, 1980], Meisel [1982], Huebner [1983]), läßt sich der Gebrauch verschiedener Ausdruckssysteme in Lernersprachen unter dem Aspekt der Entwicklung folgendermaßen skizzieren (siehe nächste Seite oben). Die jeweilige Entwicklung sprachlicher Teilkompetenzen von Lernern läßt sich entlang eines Kontinuums einordnen. An dem einen Pol dieses Kontinuums steht ein Maximum an diskurs-pragmatischen Ausdrucksmitteln, denen ein Maximum an impliziter Referenz entspricht. Der andere Pol ist

29

Sicherlich tragen auch Intonation und prosodische Merkmale zur Bedeutungsvermittlung bei. Doch im Hinblick auf temporale Referenz spielt dieser Aspekt keine wesentliche Rolle.

2.3. Spracherwerb und Sprachgebrauch

49

durch die angemessene Verwendung aller Ausdruckssysteme gekennzeichnet.30 Auf die hier dargestellte Unterscheidung sprachlicher Ausdruckssysteme ist in der Literatur verschiedentlich eingegangen worden. Wir stellen einige dieser Überlegungen kurz zusammen. Bei Dittmar (1982) und Perdue (1984) findet sich eine Kategorisierung der Lernersprachen unter den Begriffen .transparent' und ,opak'. Danach organisieren Lernersprachen im Anfangsstadium ihre Äußerungen in transparenter Weise, later on, as the semanrics become more precise and syntactic phenomena play a greater part, the learner's utterances will become less transparent. (Perdue [1984] p. 137).

In welcher Weise elementare Lernersprachen transparenter sind als vollausgebildete Sprachen, wird von Dittmar mit Bezugnahme auf Kay/Sankoff (1974) folgendermaßen bestimmt: Die Oberflächenrealisierung von Lerneräußerungen und ihre (zugrundeliegende) Bedeutungsstruktur weisen eine geringere Ableitungstiefe (geringere Distanz) als ihre - voll ausgebildeten - standardsprachlichen Entsprechungen auf. (Dittmar [1982] p. 20).

Diese Betrachtungsweise erscheint mir aus mehreren Gründen nicht unproblematisch. Zum einen enthält auch sie den Maßstab einer normativ 30

Es handelt sich hier insofern um eine vereinfachte Darstellung, als die Verwendung der unterschiedlichen Ausdruckssysteme auch für den einzelnen Sprecher variieren kann. Der spezifische Situationskontext und das Gesprächsthema können die aktuelle Kompetenz beeinflussen. Diese Varianten sollen jedoch im Rahmen der allgemeinen Überlegungen unberücksichtigt bleiben.

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2. Überlegungen zur Zweitsprache ,Gastarbeiterdeutsch'

gesetzten Bezugssprache - in der Regel die Zielsprache - der mit dem Begriff der ,Ableitungstiefe' eingeführt wird. Zum anderen unterstellt sie, daß konzeptuelle Strukturen in irgendeiner Form einfacher sind als ihre sprachlichen Repräsentationen. Wenn man auf das zurückgreift, was in den vorhergehenden Abschnitten über konzeptuelle Repräsentationen ausgeführt wurde, so ist daraus der umgekehrte Schluß zu ziehen. Konzeptuelle Repräsentationen können in jedem Fall nur selektiv in Sprache übertragen werden. Dabei muß der Sprecher versuchen, die konzeptuelle Organisation möglichst weitgehend durch die Sprache nachzuzeichnen. Je beschränkter seine sprachlichen Mittel sind, desto geringer ist der Grad der Entsprechung zwischen expliziter sprachlicher Information und zu Grunde liegender Intention. Das hat zur Folge, daß ein wesentlicher Teil der Äußerung durch Inferenzen erschlossen werden muß, die damit weit weniger transparent ist, als eine unter Einsatz aller sprachlichen Mittel zustandegekommene Äußerung. Gerade im Hinblick auf das Verhältnis ,Konzept - sprachliche Form' erscheint mir der Begriff,transparent' für elementare Lernersprachen irreführend. Givón hat mit den Begriffen ,pragmatic' und ,syntactic mode' eine andere Kategorisierung entwickelt, die sich an der Verwendung der unterschiedlichen sprachlichen Ausdruckssysteme im Diskurs orientiert. Wenn man dabei die Bestimmungen pragmatisch' und ,syntaktisch' nicht als ausschließlich gültige in Bezug auf den einen oder anderen Ausdrucksmodus, sondern vielmehr als eine Frage der Dominanz bestimmter Ausdruckssysteme versteht, so entsprechen sie weitgehend dem in der vorliegenden Arbeit vertretenen Standpunkt. Die einzelnen Merkmale, die Givón für die beiden Modi angibt, können jedoch nicht ohne weiteres übernommen werden (vgl. Givón [1980]). Es sollen deshalb im folgenden diejenigen Eigenschaften von Sprache dargestellt werden, die ein Sprecher mit geringer Kompetenz für den Bedeutungsaufbau im Diskurs nutzen kann. Abfolge der Elemente Sprachproduktion verlangt die Reihung von Einzelelementen in einer linearen Abfolge. Damit ist ein formales Mittel gegeben, um Zusammenhänge zwischen Bedeutungseinheiten auszudrücken (vg. Levelt [1981]). Dieses Mittel kann vom Lerner systematisch verwendet werden, sobald er über eine Anzahl lexikalischer Ausdrücke verfügt. Auch wenn noch keine morphologischen Markierungen vorgenommen werden können, mit denen sich die Relationen zwischen sprachlichen Elementen explizit machen lassen, handelt es sich bei einer Äußerung nicht um willkürlich aneinanderge-

2.3. Spracherwerb und Sprachgebrauch

51

reihte Einzelteile. Die Notwendigkeit, diese Einzelteile in Abfolge zu präsentieren, ermöglicht es dem Lerner, durch Anordnungsprinzipien inhaltliche Zusammenhänge zum Ausdruck zu bringen. Dies gilt sowohl für Beziehungen zwischen lexikalischen Einheiten auf der Ebene einer Äußerung, als auch für komplexe Beziehungen zwischen mehreren Äußerungen (vgl. Dietrich/Carroll [1984] Schumann [1983a]). Lineare Kompositionsprinzipien basieren auf zwei Komponenten, die bedeutungstragende Funktionen übernehmen können: - die Nähe der Äußerungskonstituenten (Kontiguität) - der progressive Aufbau von Bedeutungen. Beide Prinzipien werden sowohl im Rahmen einer Äußerungseinheit als auch auf Diskursebene wirksam. Das Prinzip der Kontiguität besagt, daß die Anordnung von Einheiten im Diskurs deren bedeutungsmäßige Zusammengehörigkeit bis zu einem gewissen Grade widerspiegeln kann. Verdeutlichen wir dies an einem Beispiel aus den Lernersprachen. „Fahrrad - Unfall - Kollege - Auto - Polizei komm - Auto - Schuld schreiben." Diese Reihung von Nominalphrasen kann folgendermaßen paraphrasiert werden: Ein Fahrrad war in einen Unfall mit dem Auto eines Kollegen verwickelt; die Polizei kam und schrieb auf, daß das Auto an dem Unfall schuld war. Stellt man die Satzglieder um, ohne die Äußerung ansonsten zu ändern, so ergäbe sich auf Grund der Position der Teilelemente ein anderer Sinn. „Kollege - Fahrrad - Unfall - Auto - Polizei - Auto komm - Schuld schreiben." Ein Kollege hatte einen Unfall mit dem Fahrrad. Er war mit einem Auto zusammengestoßen. Die Polizei kam mit dem Auto. Sie stellte fest, wer Schuld hatte. Während Lerner sich häufig auf dieses Prinzip verlassen müssen, um die Beziehungen zwischen den Teilelementen zu vermitteln, gibt es in voll ausgebildeten Sprachen grammatische Mittel (Anaphora, Rektion, morphologisch markierte Kongruenzen etc.), die es erlauben von diesem Prinzip abzuweichen. Der progressive Charakter ergibt sich aus dem dynamischen Bedeutungsaufbau sprachlicher Äußerungen, bei dem schrittweise einer gegebenen Information neue Information hinzugefügt wird. Je nach Inhalt der Äußerung kann dieses Prinzip Implikationen für die Interpretation der neuen oder der gegebenen (oder auch beider) Informationsteile haben. So kann einerseits durch das Hinzufügen eines neuen Elementes die Deutung

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2. Überlegungen zur Zweitsprache ,Gastarbeiterdeutsch'

der vorangehenden Elemente erst möglich gemacht werden (Formen der Kataphorik und Subordination) oder korrigiert (Ambiguitäten) werden. Andererseits kann die bereits gegebene Information als Voraussetzung für die Interpretation der neuen Information fungieren. In den Lernersprachen haben wir es vor allem mit der zweiten Form der Bedeutungskohärenz zu tun. Ein Beispiel aus den Lernersprachen soll zeigen, in welcher Weise das Prinzip des progressiven Bedeutungsaufbaus wirksam wird. „Schule fertig, Deutschland komm." ÄEj ÄE2 Als ich mit der Schule fertig war, kam ich nach Deutschland. „Deutschland komm, Schule fertig." ÄEt ÄE2 Ich bin nach Deutschland gekommen und habe (dort) die Schule fertig gemacht. Die jeweils in Ä E j gegebene Information geht als Voraussetzung in die Interpretation von Ä E 2 ein, wodurch ein bestimmter, in diesem Falle zeitlicher Zusammenhang zwischen beiden hergestellt wird. Welche Relation im besonderen zwischen Außerungseinheit j und Äußerungseinheit2 anzunehmen ist, kann durch das Mittel der Reihung nicht ausgedrückt werden. Dort, wo keine syntaktischen Markierungen gegeben sind, läßt sich die Spezifik der Beziehung nur durch Inferenz erschließen. Es stellt sich dabei die Frage, ob es so etwas wie,prototypische' Verknüpfungsmuster gibt, die im unmarkierten Fall von Sprecher und Hörer gleichermaßen unterstellt werden (vgl. Keil [1979], Levelt [1981] p. 307ff.). Die erstaunlichen Verständigungsmöglichkeiten, die mit Lernersprachen gegeben sind, die nur das grammatische Mittel der Wortstellung einsetzen, legen eine solche Annahme nahe. Anhand der empirischen Daten soll versucht werden, Aufschlüsse über mögliche Kompositionsprinzipien zu gewinnen.31 Syntagmatiscke Relationen Bei der Bildung einer Äußerung werden bedeutungstragende Einzelelemente aufeinander bezogen. Sie konstituieren in ihrer spezifischen Kombination die Gesamtbedeutung der Äußerung. Umgekehrt erfährt die Bedeutung der Einzelelemente durch die kontextuelle Einbettung eine bestimmte Spezifi31

Untersuchungen, auf die man sich in diesem Zusammenhang stützen könnte, sind so gut wie nicht vorhanden. Bei LOCKMAN/KLAPPHOLZ (1980) finden sich einige Überlegungen zu einer Typologie der Bedeutungsrelationen, die jedoch für Lernersprachen zu differenziert ist, da sie sich auf syntaktisch markierte Zusammenhänge bezieht (vgl. [1980] p. 48f.).

2.3. Spracherwerb und Sprachgebrauch

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kation oder auch Modifikation. Der sprachliche Kontext determiniert also bis zu einem gewissen Grade die Bedeutung der Teilelemente, d.h. die Menge der möglichen Ausdrücke, die eine bestimmte Stelle P x in einer Äußerung einnehmen könnten, ist durch den sprachlichen Kontext eingeschränkt. Das schließt auch den extremen Fall der eindeutigen Festlegung eines spezifischen Ausdrucks ein.32 In dem Satz ,Nachdem der Bauer die Kühe in den Stall getrieben hatte, machte er die Maschine fertig, um sie zu melken' sind die Möglichkeiten die Stelle P x (hier: melken) zu besetzen durch den vorangehenden Kontext schon stark eingeschränkt. Die kontextuelle Determination von Teilelementen bietet dem Lerner die Möglichkeit, eine Stelle P x mit einem Ausdruck zu besetzen, der von dem in der Zielsprache geforderten abweicht. Solche unangemessenen Ausdrucksmittel (im folgenden A u ) werden zur Kompensation fehlender angemessener Ausdrucksmittel der Standardsprache (im folgenden A a ) eingesetzt. Der Grad der Übereinstimmung von A u und A a kann unterschiedlich groß sein, und die inhaltliche Beziehung zwischen beiden kann auf verschiedenen Prinzipien der Bedeutungskohärenz beruhen.33 Ein extremer Fall ist die Einfügung muttersprachlicher Elemente in L2Außerungen. Diese Möglichkeit ist jedoch nur dann kommunikativ erfolgreich, wenn es gewisse lexikalische oder strukturelle Ubereinstimmungen zwischen LI und L2 gibt. Dies zeigt sich an den beiden folgenden Beispielen aus den Lernersprachen, von denen das erste auf Grund lexikalischer Ähnlichkeit verständlich, das zweite jedoch unverständlich ist. 1. „Das ist Firma - gicolata Firma arbeiten." 2. „Alles Farbe zebirli (giftig) - ich Krankenhaus." Die beiden Sprachen Türkisch und Deutsch lassen diese Form des Transfers nur in sehr beschränktem Maße zu. Häufiger sind Ersatzformen, bei denen der Lerner Ausdrücke der Zielsprache als A u heranzieht. Damit ein Ausdruck als A u verwendet werden kann, muß ein inhaltlicher Zusammenhang zwischen A u und A a existieren. Es lassen sich hierbei zwei Prinzipien der Bedeutungsverknüpfung unterscheiden. 1. A u und A a können in einer assoziativen begrifflichen Verbindung stehen, 32

Vgl. hierzu den Begriff der lexikalischen Solidarität' bei COSERIU (1967), des weiteren BEHAGHEL ( 1 9 3 2 ) , PORZIG ( 1 9 3 4 ) , HJELMSLEV ( 1 9 7 4 ) , sowie das .Prinzip der K o m p o s i t i o -

nalität' bei FREGE (1975) und in der neueren generativen Semantik bei DOWTY (1979), PARTEE ( 1 9 8 2 , 1 9 8 3 ) . 33

Die Differenz zwischen A^ und A a kann auch durch phonologische Abweichungen bedingt sein. Auf diese Varianten gehen wir hier jedoch nicht ein.

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2. Überlegungen zur Zweitsprache ,Gastarbeiterdeutsch'

wobei die Bedeutung von A u nicht Teil der Bedeutung von A a und die Bedeutung von A a nicht Teil der Bedeutung von A u ist. Der Zusammenhang kann nur über eine Inferenzkette erschlossen werden. Wir geben hierzu einige Beispiele aus den Lernersprachen. - „Mein Vater privat, das ist Privatberuf, Haus kaufen und Geschäft kaufen, das ist privat.11 Mein Vater arbeitet selbstständig. - „Arbeitsamt viel Mann/rei." Es sind viele Leute arbeitslos. - „Ne, keine heiraten, nur Ring." Wir haben nicht geheiratet, wir waren nur verlobt. 2. A u und A a können in einer implikativen begrifflichen Verbindung stehen, die sich aus einer Bedeutungsüberschneidung von A u und A a ergibt. Dabei kann entweder A u ein Teil der Bedeutung von A a (oder umgekehrt) darstellen, es handelt sich dann um den Fall der Bedeutungserweiterung oder beide Ausdrücke decken sich in einer Teilmenge ihrer Bedeutungen. In diesem Fall kann man von Bedeutungsverschiebung sprechen. Die folgenden Beispiele aus den Lernersprachen zeigen, wie durch Kontextdetermination die Wörter ,alles' (Beispiel 1) und ,neu' (Beispiel 2) eine von der Zielsprache abweichende allgemeinere Bedeutung erhalten können.34 1. - „Junge alles deutsche sprechen gut." Der Junge spricht gut deutsch. - „Türkei Auto nicht gut, Türkei zehn Jahre alles kaputt." In der Türkei sind die Autos in zehn Jahren völlig kaputt. - „Türkei, Fiat Auto, und dann alles tot, alles kaputt, aber deutsche Auto alles fest." In der Türkei gehen die Autos schneller kaputt, in Deutschland sind sie sehr stabil. 2. - „Ich neu heirat, hierkomm." Ich bin kurz nach der Heirat hierhergekommen. - „Eine Woche Arbeitsplatz ich neue..." Ich war erst eine Woche an meinem Arbeitsplatz. Für den Lerner bilden die syntagmatischen Beziehungen im Diskurs die Grundlage, um einzelne Konstituenten durch unangemessene Ausdrücke zu repräsentieren und damit mehr aus den ihm zur Verfügung stehenden 34

Die Beispiele stammen jeweils von einem Sprecher.

2.3. Spracherwerb und Sprachgebrauch

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sprachlichen Mitteln zu machen, als diese in der normgerechten Verwendung der Zielsprache leisten würden.

Kontextabhängigkeit Jede Sprache hat mit den Mitteln der Deixis und Anaphora Möglichkeiten, den situativen und linguistischen Kontext für die Bedeutungskonstitution miteinzubeziehen. Der Lerner, der über die angemessenen Mittel der Kontextreferenz (noch) nicht verfügt, kann dennoch von dem Prinzip der Kontextbindung Gebrauch machen. Dabei genügt oft die Bestimmung eines situativen Rahmens, um den Hörer zu den nötigen Inferenzen im Hinblick auf Personenreferenz, Lokalreferenz, Zeitreferenz etc. zu veranlassen. Teilen Sprecher und Hörer die Erfahrung einer bestimmten Situation, so müssen gewisse Rahmenbedingungen wie 'Person, Ort und Zeit' nicht mehr explizit gemacht werden. Die Menge der für die Verständlichkeit einer Äußerung notwendigen Information wird dadurch reduziert. Die besonderen Eigenschaften der Sprache wie die hier angeführten ermöglichen dem Lerner, sobald er ein Minimum an Formen beherrscht, diese Kenntnisse produktiv zu nutzen, um so im Diskurs durch die Kombination verschiedener Ausdruckssysteme komplexere Bedeutungsstrukturen zu vermitteln als die in der sprachlichen Form explizit dargestellten.

3. Temporalität 3.1. Vorüberlegungen Der dieser Arbeit zu Grunde gelegte konzept-orientierte Ansatz geht - wie in den vorhergehenden Kapiteln begründet wurde - von der Hypothese aus, daß konzeptuelle Repräsentationen für den Verlauf des L2-Erwerbs und die besonderen Formen des L2-Gebrauchs von entscheidender Bedeutung sind. Die Kategorien für die empirische Analyse werden deshalb aus allgemeinen, der spezifischen sprachlichen Fassung vorausgesetzten Bestimmungen des Konzeptes ,Temporalität' gewonnen. Damit wird nicht der Anspruch erhoben, universale Kategorien herauszuarbeiten. Die Frage, inwieweit überhaupt universale Zeitbegriffe angenommen werden können, ist Gegenstand vieler philosophischer, sprachphilosophischer und psychologischer Abhandlungen, und sie ist keineswegs geklärt. Auf diese Debatte einzugehen ist jedoch nicht die Aufgabe der folgenden Überlegungen. Für sie ist es unwesentlich, ob sich grundsätzlich verschiedene Zeitkonzepte denken lassen, oder ob die Zeitvorstellung in unterschiedlichen Kulturkreisen im Grunde auf dieselben allgemeinen Begriffe zurückzuführen ist.1 Entscheidend ist, daß die beiden Kulturen, mit denen wir es in dieser Untersuchung zu tun haben, in ihrem allgemeinen Zeitverständnis weitgehend übereinstimmen. Sowohl in der christlich-abendländischen als auch in der islamischen Kultur ist die Zeit als lineare, gerichtete Größe leitendes Grundkonzept in Wahrnehmung und Denken.2 Im einzelnen können die temporalen Subkategorien jedoch unterschiedlich gewichtet werden. Hier1

Vgl. WENDORFF (1981), Z E I T (1983), ELIAS (1984), H O H N (1984), d e s w e i t e r e n die D i s k u s s i o n u m die , S a p i r - W h o r f - H y p o t h e s e , GIPPER (1972), DÜRBECK (1975), SEEBASS (1980).

2

Vgl. hierzu Kants Zeitbegriff, der in seinen allgemeinen Bestimmungen sicherlich für beide Kulturen gleichermaßen zutrifft. „Die Zeit ist eine notwendige Vorstellung, die allen Anschauungen zu Grunde liegt. Man kann in Ansehung der Erscheinungen überhaupt die Zeit selbst nicht aufheben, ob man zwar ganz wohl die Erscheinungen aus der Zeit wegnehmen kann. Die Zeit ist also a priori

3.1. Vorüberlegungen

57

bei spielt die jeweilige sprachliche Repräsentation temporaler Konzepte eine wesentliche Rolle (vgl. Kap. 2). In diesem Zusammenhang ist die Analyse von Lernersprachen besonders interessant. Durch die Begrenztheit der sprachlichen Ausdrucksmittel in der L2 kann der Lerner zur Markierung temporaler Referenz nicht nach den mit der Muttersprache erworbenen Regeln verfahren. Im Erwerbsprozeß muß er relevante und weniger relevante Konzepte voneinander unterscheiden, im Diskurs muß er ein System der,Minimalreferenz' entwickeln. Im ungesteuerten L2-Erwerb wird die konzeptuelle Repräsentation in gewissem Sinne aufgeschlüsselt. Man kann daher annehmen, daß Analysen von Lernersprachen durchaus relevante Antworten auf allgemeine Fragestellungen zu den jeweiligen sprachlichen und konzeptuellen Bereichen liefern können. Der folgende Überblick über die wesentlichen temporalen Begriffe gliedert sich in zwei Abschnitte. (i) Zunächst werden die wichtigsten Aspekte unseres Zeitkonzeptes, sowie deren sprachliche Repräsentationsmöglichkeiten dargestellt. Dabei ergibt sich eine Schwierigkeit, die durch die hier vorgenommene Eingrenzung auf einen konzeptuellen Bereich bedingt ist. Zeitbestimmungen sind sowohl konzeptuell als auch sprachlich mit anderen Konzepten verknüpft. Zeitliche Kategorien sind daher in bestimmten Zusammenhängen nicht zu isolieren und nur in Verbindung mit anderen begrifflichen Kategorien zu analysieren. Besonders deutlich wird dies an entwickelten Sprachsystemen, in denen einer Form mehrere inhaltliche Funktionen zukommen können (z. B. der Zusammenhang zwischen modalen und temporalen Bedeutungen im deutschen Verbalsystem, oder die Bedeutung von quantitativen Eigenschaften von Subjekt und Objekt für aspektuelle Merkmale einer Äußerung etc.) Auch in Lernersprachen findet sich diese Art von Unterscheidungen und deshalb ist es unumgänglich, in bestimmten Fällen andere Bedeutungsfelder wie Modalität, Negation, Bestimmtheit/Unbestimmtheit, Quantität, Lokalität miteinzubeziehen. Sie werden jedoch nur, soweit nötig, in ihren Auswirkungen auf temporale Referenz behandelt. (ii) In einem zweiten Abschnitt werden Möglichkeiten temporaler Verknüpfung und deren Zusammenwirken beim Aufbau temporaler Diskursstrukturen dargestellt. Die Konzeptualisierung von Realität in Begegeben. In ihr allein ist alle Wirklichkeit der Erscheinungen möglich." (Kant, ,Kritik der reinen Vernunft', p. 57). „Alle Gegenstände der Sinne sind in der Zeit und stehen notwendigerweise in Verhältnissen der Zeit." (Kant,,Kritik der reinen Vernunft', p. 60).

58

3. Temporalität

zug auf ein Zeitkontinuum bildet die Grundlage dafür, daß der Zeitbezug neben logischer Verknüpfung das Strukturprinzip gedanklicher Zusammenhänge ist (vgl. Levelt [1981]). Auch für lernersprachlichen Diskurs gilt, daß er zum überwiegenden Teil zeitlichen Strukturprinzipien unterliegt. Temporale Referenz ist eines der ersten und wichtigsten Mittel zum Aufbau kohärenter Diskurse.

3.2. Temporale Konzepte Denn die Zeit selbst verändert sich nicht, sondern etwas, das in der Zeit ist. Also wird dazu die Wahrnehmung von irgend einem Dasein und der Succession seiner Bestimmungen, mithin Erfahrung gefordert. (Kant,,Kritik der reinen Vernunft', p. 64).

Zeit ist keine Eigenschaft der Materie, wie andere physikalische Größen, z. B. räumliche Ausdehnung, Gewicht, Temperatur etc. Die Zeitvorstellung ist ein abgeleiteter Begriff, den das menschliche Bewußtsein als Maßstab der qualitativen Veränderung von Materie entwickelt hat. Zeit wird nur erfahrbar in der Wahrnehmung materieller Veränderungsprozesse. Der Zeitbegriff existiert nur im Zusammenhang mit dem Begriff der Veränderung bzw. Bewegung konkreter Erscheinungen. Die Beziehung zwischen Zeitbegriff und Geschehen kann unter drei Aspekten betrachtet werden, die als die drei wesentlichen Formen der Konzeptualisierung zeitlicher Kategorien den Aufbau der folgenden Überlegungen determinieren. 1) Das Verhältnis kann vom Standpunkt des Geschehens aus bestimmt werden. Zeitliche Eigenschaften erscheinen als eine Komponente bestimmter qualitativer Veränderungen. Wir sprechen in diesem Zusammenhang von den inhärenten temporalen Merkmalen von Sachverhalten und Ereignissen (Kategorie ,Aspekt Ic [AI]). 2) Das betrachtende Subjekt kann eine zeitliche Perspektive in Bezug auf Sachverhalte und Ereignisse einführen, die sich von dem realen zeitlichen Verlauf emanzipiert. Man hat es in diesem Fall immer mit einem Zeitverhältnis zu tun, bei dem zeitliche Bestimmungen in Bezug auf einen vom Sprecher gewählten Referenzpunkt festgelegt werden. Ein und derselbe Sachverhalt kann daher in Abhängigkeit von der eingenommenen Perspektive unterschiedlichen aspektuellen Subkategorien angehören. Diese Kategorie wird im folgenden als relationaler Aspekt (AH) bezeichnet.

3.2. Temporale Konzepte

59

3) Das Verhältnis kann vom Standpunkt eines abstrakten Zeitmaßstabes aus betrachtet werden. Hierbei handelt es sich um eine Kategorie, die begrifflich aus der ersten abgeleitet ist. In Abstraktion von den konkreten Ereignissen wird ein Zeitmaßstab in der Vorstellung der Zeitachse objektiviert. Die Vorstellung einer skalierten Zeitachse kann als Bezugsgröße für die Ein- und Zuordnung von Sachverhalten herangezogen werden. Für diese Kategorie wird im folgenden der Begriff ,temporale Einordnung1 verwendet. 3.2.1. Aspekt I 3.2.1.1. Typologie In der bisherigen L2-Forschung ist dieser Kategorie, die in der Literatur auch unter den Begriffen ,Aktionsart' oder ,Verbtypen' beschrieben wird, so gut wie keine Aufmerksamkeit gewidmet worden. My guess is that aspectual notions play a marginal role in the development of L2-interlanguage. (Meisel [1982] p. 21). (Vgl. auch Klein [1982]).

Der Grund für diese Vernachlässigung' liegt in dem diese Analysen leitenden Untersuchungsinteresse. Es gilt den formalen Eigenschaften von Lernersprachen, für die der AI als eine lexikalisch-semantische Kategorie keine Rolle spielt. Doch auch in Arbeiten, in denen es um die Beschreibung der Funktionsweise von Lernersprachen geht, findet sich bisher keine systematische Behandlung des Einflusses aktionaler Kategorien. So bezieht beispielsweise Kumpf in ihrer Analyse ,Tense, Aspect and Modality, a discourse-functional approach' (1982) inhärente temporale Eigenschaften von Verben mit ein (Unterscheidung in .active' and ,Stative verbs'), ordnet sie jedoch funktional diskursiven bzw. aspektuellen (All) Bestimmungen unter. Eine eigenständige Analyse der Bedeutung des inhärenten temporalen Aspektes für Lernersprachen wurde bisher meines Wissen nicht geleistet. Um zu einer adäquaten Beschreibung vor allem sehr beschränkter Lernersprachen zu gelangen, scheint mir dies jedoch unerläßlich zu sein. Auf einer Stufe, auf der der Lerner (noch) über keinerlei grammatische Mittel zum Ausdruck temporaler Referenz verfügt, kann er die temporale Organisation im Diskurs nur auf einige adverbiale Ausdrücke und die impliziten zeitlichen Eigenschaften lexikalischer Einheiten stützen. Die Hypothese, daß aktionale Merkmale eine wesentliche Konstituente für den Aufbau temporaler Strukturen in elementaren Lernersprachen darstellen, verlangt eine eigenständige Behandlung dieser Kategorien.

60

3. Temporalität

Wie bereits in der kurzen Charakterisierung zu Beginn dieses Abschnittes festgehalten wurde, leiten sich die Kategorien des AI aus den besonderen temporalen Eigenschaften konkreter Sachverhalte ab.3 Insofern ein Sachverhalt ein Moment der Bewegung, der Wiederholung oder der Veränderung enthält, kommt ihm damit eine bestimmte zeitliche Qualität zu. 4 Diese zeitliche Komponente ist ein Teil der Bedeutung von lexikalischen Ausdrücken, mit denen Sachverhalte und Tätigkeiten benannt werden. Die Kategorien des AI sind in den lexikalischen Ausdrücken repräsentiert. Sie können als inhärente temporale Eigenschaften für den Bedeutungsaufbau in der Rede herangezogen werden, können aber auch für den diskursiven Gebrauch belanglos sein. Die Kenntnis dieser, für jeden Ausdruck spezifischen temporalen Komponente beruht auf dem Wissen des Sprechers/Hörers über die konkreten Eigenschaften der benannten Sachverhalte. So enthalten z. B. in den folgenden beiden Sätzen die Verben ,erhalten' und aufbewahren' unterschiedliche temporale Qualitäten, die sie auf die Gesamtäußerung übertragen. (i) J a n bewahrt einen Brief auf.' (dauerhafter, unbegrenzter Zustand) (ii) J a n erhält einen Brief.' (begrenztes, punktuelles Ereignis) Diese inhärenten temporalen Eigenschaften haben Implikationen für den Aufbau komplexer temporaler Strukturen im Diskurs. So läßt sich Satz (i) nicht durch ein ,und dann' fortsetzen, da ihm eine zeitliche Begrenzung fehlt, während dies bei (ii) möglich ist. (Auf den Begriff der zeitlichen Begrenzung wird im folgenden genauer eingegangen.) (i)* J a n bewahrt einen Brief auf und dann . . . ' (ii) J a n erhält einen Brief und ( d a n n ) . . . ' Es wird hier im Zusammenhang mit AI absichtlich nicht von ,Verbtypologien' gesprochen, eine Einschränkung, die in einigen Analysen zum inhärenten Aspekt vorgenommen wird (vgl. z.B. Vendler [1957], H. G. Klein [1974], Mourelatos [1978],Bach [1981]). Wenn es, wie in der vorliegenden Arbeit, um die Analyse diskursiver Einheiten geht, so ist zu berücksichtigen, daß sich inhärente temporale Merkmale nicht nur Verben zuordnen lassen, sondern auch als Eigenschaften komplexer Äußerungen erscheinen

3

Der Begriff .Sachverhalt' ist hier als ein neutraler Terminus verwendet, der keine besonderen Implikationen für temporale Strukturen enthält. Begriffe wie .Ereignis' oder .Zustand' legen an sich bereits bestimmte zeitliche Eigenschaften nahe und sollen deshalb im folgenden nur in ihren spezifischen Bedeutungen gebraucht werden.

4

Vgl. hierzu BACH (1981) p. 67ff.

3.2. Temporale Konzepte

61

können. Dabei kann der inhärente Aspekt des Verbums durch die Kombination mit anderen lexikalischen Einheiten modifiziert oder spezifiziert werden (z.B. ,trinken', ,einen Schluck trinken'). Eine ganze Reihe von Verben sind in Bezug auf eine inhärente aktionale Komponente offen und werden diesbezüglich erst im Außerungskontext bestimmt.5 Ein weiteres Argument für die Wahl komplexer Außerungseinheiten als Grundeinheit der Analyse liegt in der besonderen Beschaffenheit von Lernersprachen. Vor allem in elementaren Lernersprachen finden sich häufig Äußerungen, die kein verbales Element enthalten. Trotzdem weisen auch diese Einheiten inhärente temporale Qualitäten auf. Die Kategorien des AI sind nicht an bestimmte formale Sprachkategorien gebunden. Zwei Beispiele aus dem Datenmaterial sollen dies verdeutlichen. „Türkei Urlaub, ich alles Hause bleiben." Als wir in der Türkei in Urlaub waren, bin ich immer zuhause geblieben. „Türkei Unfall, und dann Auto weg, Totalschaden." Nachdem ich in der Türkei einen Unfall gehabt hatte, war ich mein Auto los. Im ersten Beispiel gibt das Nomen,Urlaub' einen Zeitraum vor, auf den sich die folgende Äußerungseinheit bezieht, während im zweiten Fall durch das Nomen ,Unfall' ein Ereignis benannt wird, dem die folgende Äußerungseinheit sequentiell zuzuordnen ist. Aus den oben dargestellten Gründen wird im folgenden im Zusammenhang mit inhärenten temporalen Eigenschaften von Außerungseinheiten (ÄE) als deren sprachlichen Trägern gesprochen. Betrachtet man die Kategorien, nach denen Sachverhalte temporal bestimmt werden, so lassen sich hierzu unterschiedliche Typologien entwikkeln.6 Der theoretische Rahmen (z. B. zeitlogische Betrachtungen, diskursorientierte oder sprachsystematische Analysen) liefert jeweils spezifische Kriterien für eine Systematisierung dieser Kategorien. Ausgangspunkt für die besondere Interpretation von konkreten Sachverhalten im Hinblick auf ihre unterschiedlichen temporalen Qualitäten ist in allen Typologien die Unterscheidung in Sachverhalte von sehr kurzer Dauer, die in der Wahrnehmung als punktuelle Ereignisse erscheinen und Sachverhalte, die über einen Zeitraum hinweg existent sind.7 Es ist proble5

Vgl. CARLSON (1981) p. 40: „A number of verbs seem to vacillate between the classes momentaneous and accomplishment."

6

Vgl. hierzu die Übersicht bei J. FRANÇOIS (1981) p. 290.

7

Vgl. hierzu die von BULL vorgeschlagene Unterscheidung, die sich an dem Verhältnis von Wahrnehmung und sprachlicher Formulierung orientiert:

62

3. Temporalität

matisch, für diese Trennung ein eindeutiges Kriterium zu bestimmen, da, physikalisch gesehen, selbst ein sehr kurzes Ereignis immer noch einen gewissen Zeitraum einnimmt. Die Unterscheidung in punktuelle und durative Sachverhalte ist ein Resultat der die realen Verhältnisse interpretierenden menschlichen Wahrnehmung und Konzeptualisierung.8 Da es Ziel dieser Arbeit ist, temporale Organisationsprinzipen im Diskurs zu bestimmen, wird im folgenden eine Typologie anhand von Merkmalen entwickelt, die für Formen temporaler Kohärenz auf Diskursebene von Bedeutung sind. In Abweichung von anderen Typologien unterscheiden wir Sachverhalte zunächst in solche, die zeitlich begrenzt (+G) erscheinen, und in solche, für die keine zeitliche Grenze (-G) besteht. Es ist zu betonen, daß die ,unbegrenzten' Sachverhalte der Möglichkeit nach begrenzt sein können, daß in der jeweiligen Äußerung jedoch keine Grenze eingeführt wird (z. B. ,er schlief' vs. ,er schlief von eins bis sechs'). Der Begriff der Grenze ist weiter zu spezifizieren. Sachverhalte können eine rechte und eine linke Grenze haben. Die Terminologie stützt sich auf das Bild einer von links nach rechts gerichteten Zeitlinie. Die linke Grenze (G^ oder als [ symbolisiert) markiert den Beginn eines Sachverhaltes, die rechte Grenze (G1 oder als ] symbolisiert) den Abschluß eines Sachverhaltes. Der Begriff der Grenze kann folgendermaßen festgelegt werden: Wenn mit t x die Zeit bezeichnet wird, zu der Sachverhalt x besteht, dann gilt: 1) linke Grenze: ist eine linke Grenze, wenn es kein t x gibt, das vor 1 tx gilt-

8

„This perception and verbalization divides all events on the preverbal level, into two categories: 1) those which are so short, that the perception cannot be verbalized until after the event is terminated, and 2) those having sufficient length to permit both, perception and verbalization to be simultaneous with some part of them." (BULL [1960] p. 17). Diese beiden Kategorien, die auf der Ebene der konzeptuellen, präverbalen Repräsentation anzusiedeln sind, werden in den meisten Arbeiten zum AI als allgemeinste temporale Grundkategorien bestimmt. Sie entsprechen inhaltlich den mit den Begriffen .Ereignis' und ,Zustand' gekennzeichneten K o n z e p t e n (vgl. COMRIE [ 1 9 7 6 ] , GABBAY [ 1 9 7 6 ] , MOURELATOS [ 1 9 7 8 ] , BENNETT/PARTEE [ 1 9 7 8 ] , DOWTY [ 1 9 7 9 , 1 9 8 2 ] ) .

In einigen Typologien tritt eine dritte Grundkategorie, die des ,Prozesses' hinzu (vgl. BACH [1981] p. 67), die in den anderen als Subkategorie des ,Ereignis'-Konzeptes behandelt wird. Typ I

Typ //

Ereignis mit Dauer Prozeß Ereignis

Zustand

ohne Dauer Prozeß

Zustand

63

3.2. Temporale Konzepte

2) rechte Grenze:

t ^ ist eine rechte Grenze, wenn es kein t^ gibt, das nach t ^ gilt. Dabei können t x * und zusammenfallen. Um die temporale Beziehung zwischen zwei und mehr Sachverhalten zu spezifizieren, ist die Bestimmung dieser Sachverhalte als zeitlich begrenzte/unbegrenzte eine wesentliche Voraussetzung. Die möglichen Formen der zeitlichen Verknüpfung von Sachverhalten sind abhängig von deren immanenten temporalen Eigenschaften in Bezug auf die Kategorie der zeitlichen Begrenzung.9 Für den Diskursaufbau ist vor allem das Merkmal (— G1") von entscheidender Bedeutung. Ein Sachverhalt, der rechts begrenzt ist, kann als Referenzpunkt Rp für den folgenden Sachverhalt fungieren, die Grenze erlaubt die Verschiebung von Rp, während unbegrenzte Sachverhalte einen zeitlichen Referenzrahmen Rf abgeben, in den die folgende Äußerung eingebettet werden kann (vgl. Abschnitt 3.3.). Mit dem Kriterium der Grenze läßt sich als zweite wesentliche Kategorie der Begriff der Dauer (D) einführen. In der Gruppe der begrenzten Sachverhalte kann man unterscheiden zwischen solchen, bei denen G^ und G1" zusammenfallen (punktuelle Sachverhalte) und solchen, für die G^ und G1" nicht zusammenfallen, die sich damit über einen gewissen Zeitraum erstrekken (durative Sachverhalte). Die Gruppe der unbegrenzten Sachverhalte hat per definitionem die Eigenschaft durativ. Durative Sachverhalte erscheinen folglich in zwei der übergeordneten Kategorien, sie können begrenzt und unbegrenzt sein. Zur Verdeutlichung stellen wir die bisher entwickelten Kategorien in einem Schema zusammen. ± Grenze

|

gU?

punktuell

+ Grenze '

1

GW

—Grenze durativ

durativ

Für die Gruppe der durativen, begrenzten Sachverhalte ist eine weitere Subkategorie einzuführen. Das Kriterium hierfür liegt in der qualitativen Beschaffenheit des jeweiligen Sachverhaltes. Es kann sich zum einen um Sachverhalte handeln, bei denen eine qualitative Veränderung in der Zeit stattfindet (dynamisch), oder um solche, die den Erhalt einer bestimmten 9

Vgl. hierzu den Begriff ,closure' in HOPPERS diskursanalytischem Ansatz (1982) p. 15.

64

3. Temporalität

Qualität darstellen (statisch). Dynamische Sachverhalte sind ihrerseits in zwei Subkategorien einzuteilen. Ist die zeidiche Begrenzung Bestandteil der besonderen qualitativen Bewegung, so sprechen wir von terminativen, ist die Grenze ,von außen' gesetzt, sprechen wir von progressiven Sachverhalten. Die bisher entwickelten Kategorien sind abschließend noch einmal in einem Schema zusammengefaßt, in dem auch die Termini eingeführt werden, die in der Datenanalyse verwendet werden. Da die Begriffe in ihrer Definition nicht unbedingt mit der gebräuchlichen Terminologie übereinstimmen, sei nachdrücklich daraufhingewiesen, daß die Termini,Ereignis, Prozeß, Zustand' im folgenden diesem Schema gemäß verwendet werden. ± Grenze + Grenze | | G1 = G r Ereignis (e) punktuell

| G1 * G r durativ

dynamisch Prozeß (p)

— Grenze Zustand (z) durativ

statisch Zustand (z])

. r — 1 - i . terminativ progressiv Betrachten wir die Sachverhalte unter dem Gesichtspunkt ihrer jeweils besonderen Bewegung in der Zeit, so lassen sich den temporalen Kategorien bestimmte qualitative Merkmale zuordnen. (i) Ereignisse Für Ereignisse gilt, daß in ihnen kein Veränderungsprozeß stattfindet: Ein Ereignis gilt zur Zeit t x , es gibt kein t x vor tx^ und es gibt kein t x nach t x ^. Ereignisse lassen sich nicht in Teilereignisse aufbrechen. Auf Grund dieser Eigenschaft können begriffliche Gemeinsamkeiten zwischen diesem zeitlichen Konzept und dem Konzept der Quantifikation bestimmt werden.10 Es finden sich wesentliche Übereinstimmungen zwischen dem Be10

Vgl. CARLSON (1981): „It should become clear in this process that the at first curious correlations between verb aspect and nominal reference are completely straight forward

3.2. Temporale Konzepte

65

griff des Ereignisses und dem quantitativen Begriff des ,count-nouns'. Sie decken sich in zwei wichtigen Merkmalen, der Quantifizierbarkeit und der Nicht-Teilbarkeit. Wie sich in der Analyse der Daten zeigen wird, spielen diese abstrakten Implikationen der Zeitkategorien eine Rolle für die Funktionsweise von Lernersprachen. Wir können an dieser Stelle nicht weiter auf das Verhältnis zwischen temporaler und numeraler Qualifikation eingehen. Diskussionen zu diesem Problem finden sich bei C. Smith (1980, 1981), Bach (1981), Carlson (1981). Neben den Ereignissen im strikten Sinne gibt es Sachverhalte, die sich wie punktuelle Ereignisse verhalten, jedoch nicht der Definition G1 = G r entsprechen. Es handelt sich hierbei um die Fälle, in denen der Beginn oder Abschluß eines Prozesses im Zentrum der Darstellung liegt. Diese Bedingung erfüllen einige Inchoativa und Resultativa.,Anfangen' und ,beenden' z. B. als abstrakte Begriffe der Grenzfokussierung geben grundsätzlich einer Außerungseinheit die temporale Qualität punktuell'. Inwieweit substantielle Inchoativa/Resultativa punktuellen Charakter besitzen, hängt von dem besonderen Inhalt der Wörter ab. So läßt sich ein Vorgang wie Josrennen' nicht als zeitlich ausgedehnt vorstellen, während der Vorgang einschlafen' durchaus einen gewissen Zeitraum einnehmen kann. In ,losrennen' wird der Schwerpunkt auf den Beginn der bestimmten Tätigkeit ,rennen' gelegt,,einschlafen' impliziert dagegen die Vorstellung des Ubergangs von einem Zustand in einen anderen. Die gleichen Unterscheidungen lassen sich für die Gruppe der Resultativa treffen.,Zerreißen' - am deutlichsten in intransitiver Verwendung - ist als punktuelles Ereignis, mit dem Fokus auf dem Endpunkt eines Geschehens zu klassifizieren, durchlesen' dagegen ist der Gruppe der durativen Sachverhalte zuzuordnen. Eine wesentliche, für Diskursstrukturen relevante Eigenschaft besitzen die Inchoativa/Resultativa: Sie implizieren grundsätzlich eine linke bzw. rechte Grenze. (ii) Prozesse

Unter Prozessen sind Vorgänge zu verstehen, mit einem Anfangszeitpunkt t x ^, so daß es kein ty vor t x ^ gibt, einer zeitlichen Ausdehnung tx_|_n und einem Endpunkt t x , so daß es kein t^ nach gibt. Der Endpunkt kann in der konzeptuellen Repräsentation des Vorgangs selbst enthalten sein (die consequences of what is known of the aspect of atomic sentences on the one hand and the logic of natural language quantification on the other hand." (p. 62).

66

3. Temporalität

Gruppe der terminativen Verben wie ,erobern',,sterben'), oder er kann als ,äußere' Begrenzung eingefühlt werden. Da Prozesse immer einen Zeitraum zwischen t x ^ und t ^ einnehmen, sind sie grundsätzlich in einzelne Zeitintervalle aufzuteilen. Ob sich der konkrete Ablauf des Geschehens jedoch als Folge gleicher Teileinheiten dieses Geschehens vorstellen läßt, hängt von dem besonderen Charakter des Geschehens ab. Um das Verhalten von Prozessen in Bezug auf die Kategorien »Teilbarkeit'/Quantifizierbarkeit' zu bestimmen, muß die besondere Qualität der jeweiligen Prozesse miteinbezogen werden. Note that it is not correct to say that a process can always be subdivided into parts that are also processes of the same kind. The point is that sometimes processes can be subdivided but events never can. (Bach [1981] p. 70).

Prozesse können je nach den in ihnen gefaßten Bewegungsabläufen in zwei Kategorien unterteilt werden. 1) Bewegungen, in denen eine qualitative Veränderung stattfindet. Die besonderen Eigenschaften eines Sachverhaltes sind zum Zeitpunkt t x ^ andere als zum Zeitpunkt t x ^. Dabei können zwischen diesen beiden Punkten Intervalle liegen, in denen keine Veränderung stattfindet, oder es kann mit jedem Intervallschritt eine qualitative Veränderung verbunden sein. Diese Prozesse werden als mutativ bezeichnet (z.B. .wachsen', verwelken'). 2) Gleichförmige Bewegungen, in denen in jedem Intervall zwischen t x ^ und t x ^ identische Teilprozesse stattfinden. Die besonderen Eigenschaften eines Teilprozesses sind zum Zeitpunkt t ^ die gleichen wie zum Zeitpunkt t x ^. Diese Subkategorie kann als homogene Prozesse bestimmt werden (z. B. ,spazieren gehen',,lernen'). Prozesse der Gruppe 1) sind quantifizierbar, denn sie sind grundsätzlich wiederholbar, aber sie sind nicht teilbar, ohne dadurch ihren Charakter als dieser besondere Prozeß zu verlieren. Teilintervalle eines mutativen Prozesses ergeben wiederum Prozesse, die jedoch qualitativ vom Gesamtprozeß unterschieden sind. Die Kategorie der homogenen Prozesse ist sowohl quantifizierbar als auch teilbar. Diese Prozesse sind wiederholbar und eine Zerlegung in Teilintervalle ergibt eine Menge gleichartiger, dem Gesamtprozeß entsprechender Teilprozesse. (iii) Zustände Sachverhalte, die der Gruppe der Zustände zuzurechnen sind, sind dadurch gekennzeichnet, daß sie sich über einen Zeitraum erstrecken und statischen Charakter besitzen. Sie sind grundsätzlich in Intervalle aufteilbar. Dabei

3.2. Temporale Konzepte

67

muß jeder Teilzustand qualitativ mit jedem weiteren Teilzustand identisch sein. Zustände verhalten sich damit im Hinblick auf die Eigenschaften ,Teilbarkeit'/,Quantifizierbarkeit' wie die Menge der ,mass-nouns' (vgl. Carlson [1981] und Mourelatos [1978] p. 426ff.). In Bezug auf den Begriff der Grenze sind Zustände nicht eindeutig bestimmt. Wie oben gezeigt wurde, können sie sowohl begrenzt als auch unbegrenzt sein. Man kann jedoch sagen, daß sie eine Tendenz dazu haben, zeitlich unbegrenzt zu sein, da die Grenze nicht durch die jeweils besondere Eigenschaft des Zustandes gesetzt wird, sondern grundsätzlich ,von außen' eingeführt sein muß.11 (iv) Iteration Die Kategorie der Iteration verlangt eine eigenständige Behandlung, da sie nicht einer der drei Gruppen zugeordnet werden kann, sondern Merkmale der drei Kategorien in sich verbindet. Es wurde oben gezeigt, daß sowohl Ereignisse als auch Prozesse wiederholbar sein können. Wie ist nun aber Iteration als konzeptuelle Einheit in ihren temporalen Eigenschaften zu bestimmen? Der Begriff der Iteration impliziert, daß sich der Gesamtvorgang über einen Zeitraum erstreckt. Der Vorgang existiert jedoch nicht während des gesamten Zeitraumes wie im Falle des Prozesses, sondern zerfällt in Teilvorgänge, die jeweils begrenzt sind. Im Hinblick auf das Merkmal G1") können sich Iterativa wie Prozesse oder wie Zustände verhalten. Beinhaltet ein Iterativum eine bestimmte Quantifizierung, gibt es also ein letztes e oder p, nach dem keine weiteren mehr folgen, so kommt ihm die Eigenschaft + G r zu, z.B. ,zweimal in Urlaub fahren'. Läßt sich jedoch ein letztes Glied in der Kette der Wiederholungen nicht bestimmen, wie z.B. für die Konstruktionen ,gut zu essen n

Es ist darauf hinzuweisen, daß die anhand des Grenz-Begriffes entwickelte Definition der Kategorie ,Zustand' mit der in der Literatur unter dem Terminus ,state' behandelten Kategorie nicht unbedingt übereinstimmt. So verwendet COMRIE Z.B. ein physikalisches Kriterium, um zwischen ,dynamic situation' und,state' zu unterscheiden: „With a state, unless something happens to change that state, then the state will continue. . . . To remain in a state requires no effort, whereas to remain in a dynamic situation does require an effort." (COMRIE [1976] p. 49). Eine andere Definition des .state'-Begriffes findet sich bei GABBAY/MORAVCSIK: „ A state is an instantiation of a temporal property P of a thing x such that i) Px holds for some duration, thus cannot be instantaneous, ii) Px, holding over a certain duration of time does not imply certain specific changes in x . . . iii) When Px holds over a period of time, it does so without any gaps, or interruption." ([1980] p. 63). Dieser Kategorisierung entspräche nach der Grenz-Typologie sowohl die Gruppe der Zustände als auch eine Subkategorie der Kategorie Prozeß.

68

3. Temporalität

pflegen',,gewohnt sein, Besuch zu haben', so existiert keine rechte Begrenzung. Diese Gruppe der Iterativa verhält sich in ihren temporalen Eigenschaften entsprechend der Kategorie der unbegrenzten Zustände. Aus den bisherigen Überlegungen läßt sich ein Merkmalschema zu den vier konzeptuellen Kategorien zusammenstellen. Zustand Grenze Zusammenfall der Grenzen rechte Grenze linke Grenze Dauer Teilbarkeit Quantifizierbarkeit dynamisch statisch mutativ homogen Kontinuität

+/—

+/+/-

+ + — —

+ —

+ +

Prozeß

Ereignis

Iteration

+

+ + 0 0

+/-



+ + + + +/+/+/+/+/-

+

— —



+/-

+ + +

+

















+/-

0



3.2.1.2. Sprachlicher Ausdruck des AI Die Bestimmung des AI als derjenigen temporalen Kategorie, die bestimmten Sachverhalten auf Grund der durch sie repräsentierten besonderen Handlungsabläufe zukommt, hat Implikationen für die sprachliche Repräsentation dieser Kategorie. Sie erscheint zunächst als inhärentes Merkmal lexikalischer Ausdrücke. In der Regel wird das Verb als die Kernkonstituente der AI-Eigenschaften einer Äußerung angesehen. (Dies gilt jedoch nicht für Lernersprachen, wie im folgenden gezeigt wird). Es handelt sich bei den Aktionsarten um lexikalisch-semantische Kategorien, die dem einzelnen Verbum inhärent sind und die kontextuell beeinflußbar sind. (H. G. Klein [ 1 9 7 4 ] p. 1 0 3 ) 1 2 12

Diese Definition des Begriffes,Aktionsart' ist in der Linguistik durchaus umstritten. Auf die umfangreiche Diskussion zum Thema .Aspekt/Aktionsart' kann an dieser Stelle nur verwiesen werden. Ausführlich behandelt finden sich diese Fragen im Rahmen der Slawistik u n d Romanistik, vgl. POLLAK ( 1 9 6 0 ) , COSERIU ( 1 9 6 7 ) u n d die Arbeiten v o n JESPERSEN ( 1 9 2 4 ) , JAKOBSON ( 1 9 3 2 , 1 9 6 1 ) , GRUNDZÜGE ( 1 9 8 1 ) .

3.2. Temporale Konzepte

69

Für die Analyse temporaler Kohärenz im Diskurs ist jedoch der Beitrag des ,Kontextes' - Klein meint damit die sprachliche Umgebung - von entscheidender Bedeutung. Temporale Organisationsprinzipien bauen auf den zeitlichen Merkmalen einzelner Äußerungseinheiten auf, die das Resultat eines Zusammenwirkens mehrerer lexikalischer Teilkomponenten sein können. In der Analyse gehen wir daher von den AI-Eigenschaften von Außerungseinheiten aus, wobei in einem zweiten Schritt die Beiträge der einzelnen Konstituenten zu der Gesamtbedeutung zu bestimmen sind. Zur Verdeutlichung sollen im folgenden einige Beispiele gegeben werden, an denen sich das Zusammenwirken einzelner Satzkonstituenten im Hinblick auf die aktionalen Eigenschaften einer Äußerungseinheit zeigt (vgl. Carlson [1981] p. 51 ff.). (i) Rolle des Subjektes a ,Der Gast kam'. b ,Gäste kamen', c ,Alle Gäste kamen'. Diese Sätze machen deutlich, daß der aktionale Charakter eines Satzes von der Art und Weise der Determiniertheit (Determination/Quantifikation) des Subjektes abhängen kann. Während es sich in a um ein punktuelles Ereignis handelt, erstreckt sich b über eine gewisse Zeitdauer. Die Beispiele b und c unterscheiden sich hinsichtlich des terminativen Charakters. In c liegt der aktionale Schwerpunkt auf dem Endpunkt des Prozesses. (ii) Rolle des Objektes a ,Der Mann fällte einen Baum', b ,Der Mann fällte Bäume', c ,Der Mann fällte alle Bäume'. Wie in (i) beeinflussen die quantitativen Eigenschaften, in diesem Falle des Objektes, den aktionalen Charakter der Sätze. (iii) Rolle der Adverbiale a ,Er fuhr nach München', b ,Er fuhr durch Deutschland'. Während es sich im ersten Beispiel um einen begrenzten Sachverhalt handelt, wird im zweiten Beispiel ein zeitlich unbegrenzter Sachverhalt dargestellt. (iv) Negation Der Negation kommt eine besondere Bedeutung für die Bestimmung der temporalen (Un)Begrenztheit zu. Eine Äußerung, die eine Negation ent-

70

3. Temporalität

hält, hat grundsätzlich die Eigenschaft zeitlich unbegrenzt zu sein.13 Für den Diskursaufbau, d.h. für die Frage, ob eine Äußerung als Referenzpunkt oder Referenzrahmen fungiert, spielt die Negation eine entscheidende Rolle, a ,Er fuhr nach München. Und d a n n . . . ' b*,Er fuhr nicht nach München. Und dann . . . ' (v)

Prcidikat

Die durch das Verbum ausgedrückten temporalen und modalen Konzepte konstituieren den AI-Charakter einer Äußerung mit.14 Modale Modifikationen können sich auf den aktionalen Charakter auswirken, indem sie ähnlich wie im Falle der Negation - in bestimmten Kontexten die temporale Begrenztheit einer Äußerung aufheben, a ,Er schrieb gestern einen Brief'. (+G1") b ,Er wollte gestern einen Brief schreiben'. (—G1) Bisher sind wir davon ausgegangen, daß mit den Kategorien des AI die inhärenten temporalen Merkmale bestimmter Sachverhalte erfaßt werden. Für die sprachliche Repräsentation bedeutet dies, daß temporale Eigenschaften einen Teil der Gesamtbedeutung eines Ausdrucks oder einer Äußerungseinheit darstellen. Einen Sonderfall bildet die Menge der Begriffe, deren Bedeutung ausschließlich temporale Merkmale umfaßt. In diesen Begriffen werden die Kategorien des AI an sich ausgedrückt, ohne an bestimmte Sachverhalte gebunden zu sein. Es handelt sich dabei um Wörter wie ,Anfang', ,Ende', ,anfangen',,beenden',,dauern', etc. Diese Begriffe erlauben, Verlaufsphasen eines Geschehens analytisch darzustellen und inhärente temporale Eigenschaften von Ausdrücken aufzuheben. Dies ist in Lernersprachen von entscheidender Bedeutung. Auch im Standarddeutschen gibt es nur für einen Teilbereich möglicher Konzepte spezifische lexikalische Formen für die unterschiedlichen Phasen eines Geschehens. In den übrigen Fällen muß auch der Standardsprecher eine komplexe analytische Form verwenden, bei der die aktionale Komponente in einem eigenständigen lexikalischen Ausdruck repräsentiert ist (z. B.,einschlafen aufwachen', aber .beginnen zu lesen - aufhören zu lesen'). 13

14

Es gibt hierzu Ausnahmen. In ihnen hat die Negation eine unterschiedliche Funktion, beispielsweise in jenen Fällen, in denen die Negation eines Sachverhaltes insgesamt als positive Bestimmung erscheint. Z.B. ,Er hatte immer viel gearbeitet, die Erwartungen erfüllt, Erfolg gehabt, sich von seinen Zielen nicht ablenken lassen, und dann eines Tages entdeckte e r . . Auf die Rolle von Tempus- und AII-Kategorien wird im folgenden noch genauer eingegangen.

3.2. Temporale Konzepte

71

Dieser kurze Überblick sollte deutlich machen, daß in der sprachlichen Repräsentation die einzelnen Konstituenten einen Beitrag zum aktionalen Gehalt einer Äußerung leisten können. Der Ausdruck der konzeptuellen Kategorien des AI ist nicht an eine bestimmte syntaktische Konstituente gebunden, sondern ergibt sich aus dem Zusammenwirken mehrerer Konstituenten innerhalb einer Äußerungseinheit. Für die Analyse der temporalen Organisation eines Diskurses ist dieser Gesichtspunkt von wesentlicher Bedeutung. 3.2.2. Aspekt AH 3.2.2.1. Theorien zum Aspektbegriff Greifen wir noch einmal die anfangs gegebene allgemeine Definiton des Begriffes AH auf. Danach sind unter All diejenigen temporalen Kategorien zu verstehen, die sich aus der zeitlichen Perspektivierung eines Sachverhaltes in Bezug auf einen Betrachterstandpunkt ergeben. Unabhängig vom realen Ablauf kann ein Sachverhalt in den verschiedenen Phasen seines Verlaufs vorgestellt werden. Damit erhält der AH grundsätzlich eine relationale Komponente. Dies kann in einer Gegenüberstellung mit dem Begriff des AI verdeutlicht werden. Beide Konzepte, AI und All, lassen sich auf die gleichen temporalen Grundbegriffe zurückführen. Die Begriffe ,Grenze' und,Dauer', die zur Bestimmung des AI herangezogen wurden, sind auch für die Unterscheidung der AII-Kategorien maßgeblich. Während jedoch im Falle des AI die Merkmale ( ± Grenze) und ( ± Dauer) als Eigenschaften bestimmter Sachverhalte erscheinen, werden sie im Falle des All unter einer durch das betrachtende Subjekt eingeführten Perspektive den Sachverhalten, unabhängig von deren realem Verlauf, zugeschrieben. Folgende Beispiele machen den Unterschied deutlich: (i) Gestern bin ich nach Hause gefahren. AI: +Dauer/ +Grenze (ii) Als ich gestern nach Hause gefahren bin, ist mir ein Reh vors Auto gesprungen. All: +Dauer/ —Grenze Wie sich in Beispiel (ii) zeigt, kann die Betrachterperspektive auch vermittelt über einen Sachverhalt eingeführt werden. In der linguistischen Diskussion um die inhaltliche Bestimmung von Aspektsystemen wird in einigen Arbeiten versucht, von der Bedeutungsstruktur - man könnte in der hier verwendeten Terminologie auch von der konzeptuellen Struktur sprechen, - auszugehen und damit die Grundlage für Systematisierungen und Vergleiche zu schaffen (vgl. die Vorgehensweise

72

3. Temporalität

in der sprachvergleichenden Untersuchung von TAM-Systemen im Rahmen des Göteburger Forschungsprojektes, Ö. Dahl [1980, 1983]). Im folgenden werden einige Definitionen des Aspektbegriffes dargestellt, um vor diesem Hintergrund zu einer Operationalisierung des Begriffes im Hinblick auf die Datenanalyse zu gelangen. Eine allgemeine Definition wird von Comrie gegeben: As the general definition of aspect, we may take the formulation that aspects are different ways of viewing the internal constituency of a situation. ([1976] p. 3) und aspect is not concerned with relating the time of the situation to any other time-point, but rather with the internal temporal constituency of the one situation, one could state the difference as one between situation-internal time (aspect) and situation-external time (tense). ([1976] p. 5).

In Abgrenzung dagegen findet sich bei L. D. King die folgende Bestimmung: Aspect ist the speaker's view of the situation. ([1983] p. 140). Und weiter: We first of all define aspect as the external structural view of a situation, where external emphasizes that the speaker is not concerned with the structure of the situation in the real world, and structural means that the speaker views the situation in its entirety (perfective) or views the middle of the situation (imperfective). ([1983] p. 131).

King folgert daraus: The meaning of aspectual forms involves neither objective reality nor context. ([1983] p. 146).

Im Rahmen einer lokalistischen Theorie von Tempus- und Aspektsystem gelangt J. Anderson (1973) zu einer Aspektdefinition, die zu den beiden oberen im Gegensatz steht. Da auch Andersons Aspektbegriff in einer Reihe von Tempus/Aspekt-Analysen übernommen wurde (vgl. Yava§ [1980]), soll er hier mit aufgenommen werden. Aspect, I suggest, is concerned with the relation of an event or state to a particular reference point: it is located before (retrospective), after (prospective), around (progressive) or simply at (aorist) a particular point in time... Tense markers on the other hand... locate in time a point with respect to which events or states can be located. In this sense, the aspects are .relative' or ,secondary' tenses. ([1973] p. 39f.).

Anderson definiert den Aspektbegriff in Abhängigkeit vom Begriff des Tempus, der temporalen Einordnung auf der Zeitachse. Diese Bestimmung wird m. E. durch seine eigenen Sprachbeispiele widerlegt. Sie zeigen deutlich, daß Aspekt- und Tempusmarkierungen zwei verschiedene Konzepte ausdrücken, die in ihrer Kombination am Verb zu dem im Zitat beschriebenen komplexen temporalen Konzept führen. Betrachtet man jedoch die aspektuellen Markierungen an sich, so kann man feststellen, daß sie lediglich

3.2. Temporale Konzepte

73

eine Angabe im Hinblick auf den Handlungsverlauf enthalten, ohne einen Bezug zu einem auf der Zeitachse festgelegten Referenzpunkt herzustellen.15 „Ich bin (im Laufen)" „Ich war (im Laufen)" „Ich war (nach dem Laufen)" „Ich bin (nach dem Laufen)" (Die Ausdrücke in den Klammern geben den Inhalt aspektmarkierter Ausdrücke in den von Anderson angeführten Sprachen Baskisch und SchottischGaelisch wieder.) In den Beispielen wird deutlich, daß die zeitliche Einordnung des jeweiligen ,Satzes' durch die Tempuskomponente der Verbalphrase geleistet wird, die, Aspektphrase' an sich jedoch unabhängig von einem Referenzpunkt auf der Zeitachse ist.16 Damit läßt sich ein erstes Merkmal für die Aspektdefinition - ex negativo festhalten, das mit der Betrachtungsweise von Comrie und King in Einklang steht. (i) Das Konzept des AH ist unabhängig von der Einordnung eines Sachverhaltes in Bezug auf einen Referenzpunkt auf der Zeitachse.17 Betrachtet man die inhaltliche Bestimmung der AH-Kategorien in den Zitaten von Comrie und King, so ergibt sich ein scheinbarer Gegensatz. Während Comrie davon spricht, daß der All die ,internal constituency' zum Ausdruck bringt, betont King, daß mit dem All ein ,external structural view' in Bezug auf einen Sachverhalt eingenommen wird. Diese beiden Standpunkte erscheinen mir jedoch nicht widersprüchlich zu sein, sondern vielmehr unterschiedliche Komponenten des All-Begriffs in den Vordergrund zu stellen. So decken sich die jeweiligen Ausführungen zu den Begriffen ,external' und ,internal' im wesentlichen, und es läßt sich danach folgende Definition angeben: (ii) Aspekt II drückt die zeitliche Perspektivierung eines Sachverhaltes aus, durch die der Sachverhalt in Bezug auf einen vorgestellten Referenzpunkt als im Verlauf befindlich oder abgeschlossen dargestellt wird. Der Referenzpunkt selbst kann, muß aber nicht auf der Zeitachse eingeordnet sein. 15

16

17

In diesem Zusammenhang sind Lernersprachen, aber auch Pidgins besonders interessant, da sie oft keine Tempusformen, sondern ausschließlich Aspektmarkierungen aufweisen. Vgl. hierzu M. JOHNSON (1981). Johnson definiert Aspekt mit Hilfe von REICHENBACHS System S, R, E als die Kategorie, die das Verhältnis zwischen R und E angibt (vgl. p. 151 ff.). Damit nimmt auch sie eine Verknüpfung von temporaler Einordnungsfunktion und Aspektfunktion in der Aspektmarkierung an. Gegen diese Betrachtungsweise sind dieselben Einwände geltend zu machen wie gegen ANDERSONS Theorie. Vgl. hierzu den Kriterienkatalog bei H. G. KLEIN (1974) p. 79.

74

3. Temporalität

Während Comrie mit seinem Begriff der ,internal constituency' die besonderen Verlaufseigenschaften eines Sachverhaltes zum Kriterium seiner Definition macht, zieht King seinen Begriff des ,external view' bei der Definition der Perspektivierung als Kriterium heran. Die Perspektivierung kann insofern als dem Sachverhalt,äußerlich' bestimmt werden, als sie eine Emanzipation vom realen Verlauf des Geschehens darstellt. Diese Komponente der äußerlichen Betrachtung ist jedoch auch bei Comrie enthalten, wenn er von ,different ways of viewing the Situation' spricht. Die Abgrenzung, die King in seinem Aufsatz gegenüber Comrie vornimmt, liegt m. E. auf der terminologischen und nicht auf der inhaltlichen Ebene. Die unter (i) und (ii) aufgeführten Bestimmungen bilden die Grundlage für die folgenden Subkategorisierungen des Aspektkonzeptes All. Im Zitat von King werden bereits die beiden allgemeinsten Formen der Perspektivierung angesprochen: Ein Sachverhalt kann entweder in seinem Verlauf (imperfektiv)18 dargestellt, oder in seiner Gesamtheit als abgeschlossen (perfektiv) betrachtet werden. Comrie geht ebenfalls von dieser Unterscheidung als der wesentlichen All-Opposition aus und bestimmt sie folgendermaßen: The perfective looks at the Situation from outside, without necessarily distinguishing any of the internal structure of the Situation, whereas the imperfective looks at the Situation from the inside, and as such is crucially concerned with the internal structure of the Situation. ([1976] p. 4 ) "

Im einzelnen haben diese beiden Kategorien folgende Eigenschaften. 3.2.2.2. perfektiver Aspekt Anfang, Ende und Dauer eines Sachverhaltes werden durch den perfektiven Aspekt zu einer Momentaufnahme des Geschehens kontrahiert. Die zeitlichen Grenzen fallen zusammen, die Dauer des Geschehens wird darin aufgehoben. Der perfektive Aspekt verhält sich darin entsprechend dem punktuellen Ereignis, ihm kommen die Eigenschaften (+G) und (—D) zu. Diese Merkmale sind für die Diskursfunktion der AE-Kategorie von entscheidender Bedeutung.20 Die perfektive Betrachtungsweise unterstellt den 18 19

20

In einigen Arbeiten findet sich hierfür auch der Begriff,kursiv' (vgl. Kap. 4). Problematisch ist hier die Verwendung der Begriffe,inside/outside', da sie zu Unklarheit im Zusammenhang mit der Tempus/Aspektdefinition oben fuhrt. Vgl. hierzu COMRIE: "There is some truth in the view that the perfective, by not giving direct expression to the internal structure of a situation, irrespective of its objective complexity, has the effect of reducing it to a single point." ([1976] p. 17f.).

75

3.2. Temporale Konzepte

jeweiligen Sachverhalt als seinem Verlauf nach abgeschlossen, zeitlich begrenzt. Es besteht die Möglichkeit, daß die punktuelle Repräsentation eines real sich zeitlich erstreckenden Sachverhaltes diesen Sachverhalt in unterschiedlicher Weise kontrahiert. Neben dem ,neutralen Fall', bei dem im Zusammenfall der rechten und der linken Grenze eines Geschehens beide Grenzen gleichermaßen aufgehoben sind, kann das Geschehen auch im Hinblick auf seine rechte Grenze als zusammengezogen dargestellt werden. Der Schwerpunkt liegt auf dem Ende des Geschehens, in dem der gesamte Verlauf des Geschehens aufgehoben erscheint.21 Ebenso kann auch die linke Grenze, der Anfang eines Geschehens als Bezugspunkt des perfektiven Aspekts erscheinen. Für die Darstellung von Ereignissen und Prozessen ist dies aus pragmatischen Gründen nicht möglich, da für sie die Perspektive des perfektiven Aspektes grundsätzlich die rechte Grenze miteinschließt. Bei Zuständen kann allerdings der perfektive Aspekt eine Kontraktion in Bezug auf den Beginn bewirken. Die Markierung eines Zustandsverbums mit dem perfektiven Aspekt kann die Eintrittsphase in den Fokus rücken. (Beispiele finden sich bei Comrie [1976] p. 19/20 und in Kap. 4 der vorliegenden Arbeit). Es ergeben sich damit folgende Subkategorien des perfektiven Aspekts: perfektiv i anfangs-

- \

neutral

1 endbezogen

bezogen 3.2.2.3. imperfektiver Aspekt Durch den imperfektiven Aspekt wird eine temporale Beziehung hergestellt, bei der ein Sachverhalt im Verhältnis zu einem vorgestellten Referenzpunkt als im Verlauf befindlich dargestellt wird. Der imperfektive Aspekt 21

Vgl. COMRIE:

"The perfective does indeed denote a complete Situation, with beginning, middle, and end. The use of ,completed', however, puts too much emphasis on the termination of the Situation, whereas the use of the perfective puts no more emphasis, necessarily, on the end of a Situation than on any other part of the Situation, rather all parts of the Situation are presented as a single whole." ([1976] p. 18). COMRIES Bestimmung erscheint mir in diesem Punkt zu ungenau. Die Feststellung, daß der perfektive Aspekt eine Situation als Einheit von Anfang, Mitte und Ende darstellt, schließt nicht die Möglichkeit aus, daß eine Kontraktion in Bezug auf unterschiedliche Phasen der ,Situation' erfolgen kann. Diese Annahme ist sogar notwendig, um COMRIES Beispiele (p. 22) zu erklären, in denen Durative perfektiv dargestellt werden.

76

3. Temporalität

teilt wesentliche M e r k m a l e der AI-Kategorie »Zustand*, i n d e m er s o w o h l eine zeitliche A u s d e h n u n g impliziert ( + D ) , als auch eine zeitliche Begrenz u n g ausschließt (—G). D i e B e d e u t u n g des imperfektiven A s p e k t s läßt sich anhand des G r e n z k o n z e p t e s beschreiben: W i r d eine Ä u ß e r u n g d u r c h den imperfektiven A s p e k t markiert, s o hat dieser die Funktion, die zeitliche B e g r e n z u n g des in der Ä u ß e r u n g dargestellten Sachverhaltes, sei sie aktional oder v o n außen eingeführt, aufzuheben. 2 2 Abschließend sollen die wesentlichen Kategorien des A l l in ihren t e m p o ralen M e r k m a l e n in einer schematischen Ubersicht z u s a m m e n g e f a ß t werden. 2 3

Z u s a m m e n f a l l der G r e n z e n rechte G r e n z e linke G r e n z e Dauer

imperfektiver

perfektiver

Aspekt

Aspekt

— —

-/+

+

+ + + —

Eine weitere aspektuelle Kategorie soll hier d e m imperfektiven A s p e k t zugeordnet werden, d a sie sich in den wesentlichen M e r k m a l e n m i t diesem 22

23

Diese Funktion wird deutlich an der Verwendung des imperfektiven Aspekts im Englischen. Verben, die an sich das Merkmal (—G) auf Grund inhärenter temporaler Eigenschaften bereits besitzen, werden nicht durch den imperfektiven Aspekt in Bezug auf diese Eigenschaft doppelt markiert. Auch in Äußerungen, die explizit eine zeitliche Begrenzung enthalten, wird der imperfektive Aspekt nicht verwendet (*He was staying from march *tdl october.) Unter der Begriffsopposition perfektiv - imperfektiv sind nicht alle Möglichkeiten der aspektuellen Perspektivierung erfaßt. Man kann - wie dies in einigen Arbeiten geschieht eine weitere Kategorie annehmen, die in einem gewissen Sinne als Kombination von perfektivem und imperfektivem Aspekt zu verstehen ist. Es handelt sich dabei um die Kategorie des .Perfekt' (vgl. COMRIE [1976]) oder ,resultant State'. Das .Perfekt' stellt einen Zustand als Resultat eines vorausgegangenen Sachverhaltes dar und drückt damit zugleich die andauernde Relevanz dieses an sich abgeschlossenen Sachverhaltes aus. Die für die Diskursfunktion relevanten Merkmale Dauer/Grenze rücken die Kategorie in die Nähe des imperfektiven Aspekts. Sie impliziert eine linke Grenze, ist jedoch rechts unbegrenzt und weist auf Grund ihrer imperfektiven Komponente die Eigenschaft (+D) auf. Da dieser Kategorie keine wesentliche Bedeutung für die Analysen in den Lernersprachen zukommt, ist es nicht notwendig, im einzelnen darauf einzugehen: vgl. zur Darstellung dieses A s p e k t s BRUNOT (1953), KURYLOWICZ (1964), FRIEDRICH (1974), (1976).

COMRIE

3.2. Temporale Konzepte

77

deckt. Es ist dies der habituelle Aspekt, der, angewendet' auf einen Sachverhalt, diesen in unbestimmter Weise quantifiziert (vgl. das Konzept der Iteration). Den aspektuellen Gehalt, der sich daraus ergibt, charakterisiert Comrie wie folgt: Habituals describe a situation which is characteristic of an extended period of time, so extended in fact that the situation referred to is viewed not as an incidental property of the moment, but, precisely, as a characteristic feature of a whole period. ([1976] p. 28).

Der habituelle Aspekt weist die Merkmale (+D) und (—G) auf, was ihn auf Diskursebene dem imperfektiven Aspekt gleichstellt.24 Wir werden in der Analyse der Lernersprachen auf diese Zusammenhänge zurückkommen. Die Lernersprachen liefern Belege für die enge konzeptuelle Verknüpfung dieser beiden Kategorien. 3.2.2.4. Sprachlicher Ausdruck des All Aus den inhaltlichen Bestimmungen des AII-Konzeptes ergeben sich Implikationen für den sprachlichen Ausdruck, die gerade im Zusammenhang mit Lernersprachen von entscheidender Bedeutung sind. Da es sich bei dem All um unterschiedliche Formen der Perspektivierung eines Sachverhaltes handelt, gilt: (i) All-Bestimmungen können nicht aus den spezifischen Eigenschaften der dargestellten Sachverhalte erschlossen werden. (ii) Sie müssen unabhängig von der lexikalischen Benennung der Sachverhalte dargestellt werden. Die sprachlichen Mittel, durch die diese Konzepte ausgedrückt werden, können grammatischer und lexikalischer Natur sein. Im folgenden werden nur einige wesentliche Varianten des All-Ausdrucks zusammengefaßt.25 I. Das Verb ist Träger der All-Markierung. Der All kann als morphologische Kategorie am Finitum ausgedrückt werden (z.B. im Englischen, Türkischen, Russischen), oder er wird durch besondere, grammatikalisierte Formen des Verbs (Gerund, Partizip) dargestellt (Deutsch, Türkisch, Spanisch z.B.). II. Das Objekt ist Träger der All-Markierung. In Finnish, the perfective-imperfective distinction is marked chiefly through the choice of case ending on the direct object: Genetive for a) completed action (with singular D. O.) 24

25

Vgl. BRUNOT (1953) p. 777: „A la durée se rattache, ainsi que nous l'avons vu, la répétition . . . L'habitude se marque comme la répétition." Für systematische Beschreibungen sei der Leser an die Arbeiten von ANDERSON (1973), COMRIE ( 1 9 7 6 ) , KURYLOWICZ ( 1 9 6 4 , 1 9 7 5 ) , u m n u r einige z u n e n n e n , v e r w i e s e n .

78

3. Temporalität b) actions that involve the direct object as a whole; partitive for a) incomplete actions or b) actions that only involve the direct object as a part. (Bowerman [1981b]).

HI. Selbständige Partikel sind Träger des AD. Diese Form der Markierung findet sich in Pidgin- und Kreolsprachen (vgl. Bickerton/Odo [1976,1977], Givön [1982]), und auch in einigen afrikanischen Sprachen (vgl. Li/Thompson/Thompson [1982]). IV. Lexikalische Begriffe (Adverbien) sind Träger des AH. Die Möglichkeit, aspektuelle Kategorien explizit lexikalisch zu formulieren, ist auch in Sprachen vorhanden, die einen grammatikalisierten All aufweisen. In Sprachen, in denen dieses grammatische Mittel nicht zur Verfügung steht - und dazu gehört ein großer Teil der Lernersprachen - , spielt die lexikalische Form des Aspektausdrucks eine zentrale Rolle. Eine weitere Möglichkeit, Aspekt-Unterscheidungen darzustellen, liegt in besonderen Formen der Diskursorganisation. Damit wird jedoch die bisherige Beschreibungsebene verlassen, die AII-Kategorien werden in ihrer Einbettung und Funktionsweise im diskursiven Kontext betrachtet. 3.2.2.5. Diskursfunktion des All Eine weitere Definition des All-Begriffes ist in den oben angeführten Bestimmungen nicht aufgenommen worden. Es ist die z. B. in den Analysen von Hopper, Li, Thompson zu Grunde gelegte diskursfunktionale Definition. Der Aspekt wird dort als textuelle Kategorie verstanden. The chief premise of this essay is a hypothesis that the fundamental notion of aspect is not a local semantic one but is discourse-pragmatic. (Hopper [1982] p. 5).

Hopper versteht darunter folgendes: I view aspectual distinctions such as that of French as DERIVING FROM discourse, rather than as ready-made devices,deployed' in discourse because they happen to exist. (Hopper [1979] p. 217).

Gegen eine Definition, die Bedeutungen linguistischer Form in Abhängigkeit von ihrer Rolle im Diskurs bestimmt, sind Einwände vorzubringen.26 Die Tatsache, daß eine bestimmte Form in einem bestimmten Kontext angemessen ist, in einem anderen jedoch nicht, verweist darauf, daß dieser Form selbst eine spezifische Bedeutung zukommt. Die Modifikationen, die diese Bedeutung möglicherweise durch den Inhalt anderer Äußerungsteile oder durch pragmatische Implikationen erfährt, stellen keine Schöpfung

26

Vgl. in diesem Z u s a m m e n h a n g WEINRICH ( 1 9 6 4 ) , GREBENDORF ( 1 9 8 2 ) , KING ( 1 9 8 3 ) .

3.2. Temporale Konzepte

79

neuer Bedeutungen dar, sondern bauen auf dem spezifischen Inhalt einer Form auf. Ein Beispiel soll dies verdeutlichen: (i) Peter liest gerade, (imperfektiv) (ii) Peter liest gerne, (habituell) Sicherlich bedeutet das Verb ,liest' in beiden Sätzen dasselbe, es wird ihm aber in (i) und (ii) ein unterschiedlicher Geltungsbereich zugeordnet. Während in (i) der Sachverhalt des Lesens durch das Adverb zeitlich eingeordnet wird und damit für einen bestimmten Zeitraum Gültigkeit zugewiesen bekommt, impliziert in (ii) das Modaladverb, daß der Sachverhalt des ,Lesens' wiederholt über einen unbestimmten Zeitraum hinweg stattfindet. Der unterschiedliche aspektuelle Charakter von (i) und (ii) ergibt sich aus der Kombination von an sich bestimmten Einzelbedeutungen.27 Wie eine Reihe von Untersuchungen gezeigt haben, kommt der AllOpposition perfektiv/imperfektiv eine entscheidende Rolle für den Aufbau komplexer temporaler Strukturen im Diskurs zu (vgl. Weinrich [1964], Hopper [1979], Givön [1982], Kumpf [1982]). Dabei ist zu betonen, daß hier nur von Diskurstypen gesprochen wird, in denen die Abfolge der Äußerungen anhand zeitlicher Kategorien strukturiert wird. Im allgemeinen handelt es sich dabei um Erzählungen oder Berichte (vgl. Abschnitt 3.3.). Das entscheidende Kriterium für die temporale Kohärenz von Äußerungseinheiten im Diskurs liegt in dem Begriff der,Grenze', genauer gesagt der rechten Grenze.28 Wie bereits im Zusammenhang mit Kategorien des AI gezeigt wurde, impliziert eine zeitlich begrenzte Äußerungseinheit einen Referenzpunkt Rp für die folgende Äußerungseinheit, in einer Abfolge von (+G1")-Elementen findet eine Verschiebung des Rp von Äußerungseinheit zu Äußerungseinheit statt. Es wird so eine zeitliche Folge von Sachverhalten aufgebaut. (Beispiel a). Eine zeitlich unbegrenzte Äußerungseinheit kann dagegen nicht als Rp fungieren, sie setzt entweder einen zeitlichen Referenzrahmen Rf für die folgende Äußerungseinheit (Beispiel b) oder erhält die im vorangehenden Diskurs eingeführte Verankerung und überträgt deren Gültigkeit auf die nächstfolgende Äußerungseinheit (Beispiel c). 27

28

Vgl. hierzu KING (1983): „Although context is a crucial ingredient in the total meaning of any utterance, it does not affect or alter in any way the grammatical meaning of the verbal form." (p. 146). Ein ähnlicher Standpunkt findet sich bei N. V. SMITH (1981). Die folgenden Ausführungen beziehen sich gleichermaßen auf die Diskursfunktionen von AI- wie von AII-Kategorien, da das wesentliche Merkmal ( i Grenze) durch beide Aspektformen eingeführt werden kann. Für die Funktion einer Außerungseinheit im temporalen Gefüge eines Diskurses ist die spezifische sprachliche Gestalt irrelevant.

80

3. Temporalität

R1 a)

+Gr

ÄEj

ÄE 2

perf.

perf.

ÄE 3

b) — G r

c)

— Gr

Hopper (1979) und Li/Thompson/Thompson (1982) definieren diese Funktionen anhand der Begriffe ,foreground' und ,background'. The Perfective is used to relate or narrate events while the Imperfective is used to provide information on ongoing concurrent, background happenings. The distinction is most easily seen in narrative discourse, where the Perfective clauses conveying the main story-line events, presented in sequential order, each denoting a discrete event which is contingent on the completion of the prior one, contrast sharply with the Imperfective clauses signalling the supporting, ongoing, durative, or habitual events which occur as ,ground' to the perfective .figures'. (Hopper [1979] p. 216).2'

Die Begriffe ,Vordergrund' und ,Hintergrund' sind jedoch als Kategorien für die Analyse temporaler Kohärenz nicht unproblematisch, da in ihrer Definition z.T. inhaltliche und formale Kriterien durcheinandergehen.30 29

Vgl. L. KUMPFS .diskursfunktionalen Ansatz' (1982) p. 2.

30

Dies Problem zeigt sich deutlich in den empirischen Untersuchungen, die mit diesem Ansatz durchgeführt wurden. Die Kategorisierung von Äußerungen als Vordergrund oder

3.2. Temporale Konzepte

81

Die inhaltliche Definition geht davon aus, daß Diskurse thematisch in zwei Ebenen zu gliedern sind: einen Vordergrund, der die wesentlichen Ereignisse in der Regel in zeitlicher Sequenz enthält (,events indispensible to narrative', Hopper [1979] p. 216), und einen Hintergrund, in dem Ausschmückungen, Erklärungen, Kommentare etc. gegeben werden. Die an der sprachlichen Form orientierte Unterscheidung ergibt eine Gleichsetzung der Vordergrundäußerung mit der perfektiven Verbform und der Hintergrundäußerung mit der imperfektiven Verbform. Eine Kombination beider Kriterien, wie sie z.B. von Hopper vorgenommen wird, führt jedoch in eine zirkuläre Bestimmung, bei der eine unabhängige Definition der Begriffe nicht mehr geleistet wird: Die Kategorien imperfektiv/perfektiv werden in ihrer Bedeutung auf Grund der inhaltlichen Vordergrund/ Hintergrund-Unterscheidung bestimmt, während umgekehrt die Begriffe Vordergrund/Hintergrund anhand der formalen Aspektkategorien definiert werden. Wir werden im folgenden bei der Verwendung dieser Termini von der inhaltlich begründeten Unterscheidung ausgehen. Wir sind uns jedoch über die Vagheit dieser Definition durchaus im Klaren und werden an entsprechender Stelle auf die sich daraus ergebenden Probleme eingehen (vgl. Kap. 4 und 6). 3.2.3. Temporale Einordnung 3.2.3.1. Konzeptuelle Kategorien Die Zeit bestimmt das Verhältnis der Vorstellungen in unserem innern Zustande. Und, eben weil diese innre Anschauung keine Gestalt gibt, suchen wir diesen Mangel durch Analogien zu ersetzen und stellen die Zeitfolge durch eine ins Unendliche fortgehende Linie vor, in welcher das Mannigfaltige eine Reihe ausmacht, die nur von einer Dimension ist, und schließen aus den Eigenschaften dieser Linie auf alle Eigenschaften der Zeit außer dem einigen, daß die Teile der ersten zugleich, die der letztern aber jederzeit nach einander sind. (Kant,,Kritik der reinen Vernunft' p. 59/60).

Mit der Vorstellung der Zeitachse wird ein Bild geschaffen, in dem das an sich gestaltlose Konzept des zeitlichen Kontinuums in Absehung von konkreten Geschehnissen zu einem äußeren Maßstab werden kann. Während in den Kategorien des AI die Zeit an bestimmten Sachverhalten quantifiziert wird, werden im Falle der temporalen Einordnung die Sachverhalte an

Hintergrund schwankt zwischen inhaltlichen (Erzählstruktur) und aspektuell-formalen (Verbalsystem) Kriterien hin und her, vgl. dazu Hopper (1979), Kumpf (1982).

82

3. Temporalität

einem vorausgesetzten, abstrakten Zeitmaßstab gemessen und eingeordnet. In der Vorstellung der Zeit als einer aus der Vergangenheit in die Zukunft gerichteten Linie sind drei wesentliche konzeptuelle Implikationen unseres Zeitbegriffes enthalten. (i) Zeit ist linear. (ii) Zeit ist gerichtet, folglich nicht umkehrbar. (iii) Zeit ist sequentiell, es bestehen im Nacheinander keine Lücken. Der Darstellung dieser Zeitkonzepte in der Sprache galt schon immer ein besonderes Interesse der Sprachwissenschaftler. So konnte Koschmieder schon 1929 sagen, daß er sich mit der Untersuchung unterschiedlicher Formen des Zeitbezuges „auf viel betretenem Boden" ([1929] p. 26) bewege. Die Literatur zum Problem der zeitlichen Einordnung füllt in der Tat ganze Bibliotheken. Eine Diskussion der umfangreichen Literatur kann im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht geleistet werden. Wie in den vorangehenden Kapiteln werden wir uns auf Angaben einschlägiger Arbeiten beschränken.31 Fassen wir zur Verdeutlichung noch einmal die in diesem Abschnitt gestellte Aufgabe zusammen. Um das Konzept des gerichteten Zeitflusses als einen Maßstab zur Einordnung konkreter Sachverhalte verfügbar zu machen, müssen weitere Begriffe entwickelt werden. Wir gehen davon aus, daß drei begriffliche Subkategorien eingeführt werden müssen. Sie werden kurz zusammengefaßt und dann im einzelnen erläutert. Damit ein Sachverhalt zeitlich eingeordnet werden kann, müssen drei Bedingungen erfüllt sein. Erforderlich ist: (i) ein Orientierungspunkt, der die Gleichförmigkeit des zeitlichen Kontinuums aufbricht. (OP) (ii) eine Bezugszeit, die dem Sachverhalt eine bestimmte zeitliche Quantität zuordnet. (BZ)32 (iii) eine zeitliche Relation, durch die das Verhältnis zwischen OP und BZ bestimmt wird. (R)33 31

Unterschiedliche Behandlungen dieser Kategorie im Rahmen verschiedener theoretischer A n s ä t z e findet sich z . B . bei KOSCHMIEDER ( 1 9 2 9 , 1 9 5 3 ) , REICHENBACH ( 1 9 4 7 ) , BRUNOT ( 1 9 5 3 ) , BULL ( 1 9 6 0 ) , WEINRICH ( 1 9 6 4 ) , BÄUERLE ( 1 9 7 7 ) , WUNDERLICH ( 1 9 7 0 ) , STEUBE ( 1 9 8 0 ) , HORNSTEIN/LIGHTFOOT ( 1 9 8 1 ) .

32

33

Es ist darauf hinzuweisen, daß der Terminus ,Bezugszeit' in anderen Arbeiten in einem anderen Sinne verwendet wird (vgl. z.B. BÄUERLE 1977a, 1979). Vgl. zu den folgenden Ausführungen KLEIN (1982). Im Zusammenhang mit L2-Analysen gibt Klein einen Uberblick über wesentliche temporale Konzepte - v.a. im Bezug auf die zeitliche Einordnungsfunktion - und deren sprachliche Repräsentation. Die vorliegende Arbeit baut auf diesen Vorarbeiten zur temporalen Referenz in Lernersprachen auf.

3.2. Temporale Konzepte

83

ad (i) Orientierungspunkt Die gleichförmige Bewegung der Zeit kann nur dadurch quantifizierbar, also zu einem Maßstab an sich werden, daß ein Punkt in ihr gesetzt wird, von dem aus sich Einteilungen des Kontinuums vornehmen lassen. Es gibt zwei Möglichkeiten, einen solchen Orientierungspunkt auf der Zeitachse zu fixieren: - Durch die permanente Gegenwärtigkeit des menschlichen Bewußtseins wird die Kontinuität der Zeit im Jetzt' aufgebrochen. Die Gegenwart wird zum Orientierungspunkt, durch den die Zeitachse in zwei Bereiche - Vergangenes und Zukünftiges - aufgeteilt wird. - Ein bestimmtes Ereignis kann als primärer Orientierungspunkt für andere Ereignisse dienen. Auf der Grundlage dieser Form der Verankerung lassen sich chronometrische und kalendarische Systeme entwickeln. Die beiden Möglichkeiten der zeitlichen Orientierung haben unterschiedliche Implikationen für die Konzeptualisierung von temporalen Einordnungsverhältnissen. Der Orientierungspunkt, der im Jetzt' gesetzt ist, ist in Bezug auf die Zeitachse permanent in Bewegung, während er sich für das Bewußtsein als Stillstand in dem Gefühl der ununterbrochenen Gegenwart darstellt. Dem Jetzt' kommt damit eine doppelte Funktion für die Wahrnehmung zu: Zum einen ist es der permanente Zustand der Gegenwärtigkeit, mit dem nicht notwendig der Begriff von Vergangenem und Zukünftigem verknüpft ist. Das Kind z. B. kennt auf einer bestimmten Entwicklungsstufe nur das unmittelbare ,Gegenwärtig-Sein', d.h. das Jetzt' dient noch nicht dazu, andere Zeitpunkte dazu in ein Verhältnis zu setzen. Als Grundlage für die Herausbildung eines Zeitsystems dient das Jetzt' jedoch nicht als Zustand, sondern in seiner Eigenschaft als Bruchstelle, die einen qualitativen Unterschied setzt, indem sie Vergangenes von Zukünftigem trennt. Von diesem Bezugspunkt aus kann eine Quantifizierung der Zeit in beide Richtungen erfolgen. Das Jetzt' ist also als Orientierungspunkt durch das menschliche Bewußtsein permanent gesetzt - und kann auch für den Gebrauch der Sprache grundsätzlich als solcher unterstellt werden. Die Sprechzeit wird dann zum Orientierungspunkt. Dies impliziert die kontinuierliche Bewegung dieses Orientierungspunktes endang der Zeitachse, sodaß sich die Zuordnungsverhältnisse zwischen dem Jetzt' und bestimmten Ereignissen ununterbrochen verschieben. Im Unterschied dazu fixiert die zweite Form der zeitlichen Verankerung, die Definition eines Orientierungspunktes, einen Punkt auf der Zeitachse. Auf dieser Grundlage lassen sich stabile, von dem kontinuierlichen Voran-

84

3. Temporalität

schreiten der Ereignisse in der Zeit unabhängige Zeitverhältnisse bestimmen. Die Auswahl eines solchen absoluten Orientierungspunktes ist willkürlich. Grundsätzlich kann jedes beliebige Ereignis diese Funktion übernehmen. Für die Entwicklung allgemein anerkannter Bezugssysteme innerhalb bestimmter Kulturen wurden in der Regel besonders herausragende, für die Gesellschaften bedeutungsvolle Geschehnisse wie Naturereignisse, religiöse oder politische Ereignisse gewählt. Die durch gesellschaftliche Ubereinkunft festgelegte Gültigkeit eines bestimmten Ereignisses als zeitliche Bezugsgröße ist die Grundlage für alle Formen des öffentlichen Kalenders (vgl. hierzu Bull [1960], Wunderlich [1970], Fillmore [1975]). Daneben kann es private oder individuelle ,Kalendersysteme' geben, die sich an bestimmten Geschehnissen in individuellen Lebensgeschichten orientieren, z. B. ,an meinem Geburtstag', ,seit ich in Deutschland bin' (vgl. Klein [1983a], Levinson [1983]). Die Fesdegung eines Orientierungspunktes als einer Komponente der temporalen Einordnungsfunktion kann also durch zwei unterschiedliche Systeme erfolgen: ein deiktisches, in dem das Jetzt' zum Orientierungspunkt wird und ein kalendarisches, in dem der Orientierungspunkt durch gesellschaftliche Übereinkunft definiert wird.34 Beide Fälle werden im folgenden als primärer Orientierungspunkt bezeichnet. Die temporale Einordnung eines Sachverhaltes kann darüberhinaus auch vermittelt erfolgen, indem ein bereits zeitlich verankerter Sachverhalt Sj als Orientierungspunkt für einen Sachverhalt S2 herangezogen wird. Die Anbindung von S2 an einen primären Orientierungspunkt findet indirekt statt und kann nur über einen Zwischenschritt über Sj erschlossen werden. Diese Form der Verankerung kann als sekundäre Einordnung bezeichnet werden. Die Möglichkeit, sekundäre Einordnungen vorzunehmen, besteht sowohl im deiktischen wie auch im kalendarischen System. Eine besondere Form der sekundären Einordnung soll hier nur kurz erwähnt werden. Im weiteren Verlauf der Analyse wird noch genauer darauf einzugehen sein, da ihr in Lernersprachen eine große Bedeutung zukommt. Es handelt sich um das Darstellungsmittel der berichteten Rede. Sie ist als Sonderfall zu betrachten, da sie den deiktischen Orientierungspunkt im Hinblick auf eine nur vorgestellte Gegenwart verschiebt, ohne daß dieser dabei seine Eigenschaften als primärer Orientierungspunkt verliert. In der berichteten Rede findet die Verankerung einer ,sekundären Gegen-

34

Vgl. die Begriffe .deiktische' vs. .kulturelle origo' bei KLEIN (1982).

85

3.2. Temporale Konzepte

wart' statt, was für die sprachlichen Mittel, die in diesem Zusammenhang verwendet werden, eine entscheidende Rolle spielt. Abschließend werden die unterschiedlichen Formen zur Fesdegung eines Orientierungspunktes noch einmal zusammengestellt. OP primärer OP deiktisch

sekundärer OP kalendarisch

öffentlich

privat

ad (ii) Bezugszeit Unter Bezugszeit wird diejenige Zeit verstanden, zu der oder während der ein Sachverhalt stattgefunden hat, stattfindet oder stattfinden wird.35 Um solche Zeitangaben machen zu können, sind Maßeinheiten notwendig, die den an sich unterschiedslosen Zeitfluß in Zeitpunkte und Zeitintervalle aufgliedern. Dabei lassen sich zwei Formen der Strukturierung unterscheiden: - eine bestimmte Zeitstruktur, in der allgemein festgelegte Maßeinheiten mathematisch definiert werden. Dies ist das Prinzip chronometrischer Systeme. - eine unbestimmte Zeitstruktur, in der der Standort und die Einschätzung des Subjektes (Sprechers) zu einer .persönlichen' Quantifikation von Zeit führen. Die Dauer von Zeitspannen, die in dieser Form angegeben werden, wird durch subjektive Interpretation festgelegt. Die Entwicklung einer bestimmten, objektiven Zeitstruktur setzt einen Maßstab voraus, in dem gleiche Größen, also gleiche Zeitquanten, bestimmt werden und so einen rechnerischen Umgang mit Zeitquanten ermöglichen. Die Grundlage für die Tauglichkeit eines Maßstabes ist die Regelmäßigkeit. Die Natur stellt den Menschen in ein zyklisch verlaufendes System, in dem sich bestimmte Ereignisse und Abläufe in regelmäßigen Abständen wiederholen. Sonnen- und Mondumlauf, Wachstumszyklen, Jahreszeiten, 35

Der Begriff entspricht damit der Kategorie, die in ,event-time' bezeichnet wird.

REICHENBACHS

System als E, als

86

3. Temporalität

Gezeiten lassen für die Wahrnehmung das zeitliche Kontinuum als strukturiert erscheinen. Regelmäßig wiederkehrende Naturereignisse bilden in allen Kulturen die Grundlage für die Ausbildung einer Zeitstruktur.36 Die Verfeinerung dieser Zeitstrukturen in chronometrischen Systemen ist in unterschiedlichen Kulturen mehr oder weniger detailliert entwickelt. Für uns bieten kalendarische Einheiten wie Jahr, Tag und der,Feinmaßstab' der Uhr ein System, um Zeitintervalle in mathematischen Größen exakt zu erfassen. Im Vergleich mit einem chronometrischen System der Zeitmessung ist die Einteilung in für die Wahrnehmung und Verarbeitung von Erfahrung relevante Einheiten subjektiv (damit ist sowohl persönliche wie kulturspezifische Ausprägung gemeint) und vage. Wie eine solche Zeitbestimmung genau zu verstehen ist, ist in der Regel nur auf Grund der Kenntnis der Sachverhalte möglich, auf die sich die Zeitangaben beziehen. z.B. ,Gerade war meine Brille noch da'. ,Der Herr ist gerade aus dem Urlaub zurückgekommen'. Eine weitere Möglichkeit, die Geltungszeit für einen Sachverhalt anzugeben, liegt in der zeitlichen Anbindung an einen anderen Sachverhalt, dessen Geltungszeit als bekannt vorausgesetzt werden kann oder auf Grund der Äußerung erschließbar ist, z. B.,während der Olympiade in München', ,zur Zeit der Weimarer Republik'. Diese Gruppe der .indirekten Zeitangaben' ist der Kategorie der,unbestimmten Zeitstruktur' zuzuordnen, da zusätzliches Wissen notwendig ist, um die spezifische Größe des Zeitintervalls richtig zu deuten. So ergeben sich folgende Möglichkeiten zur Bestimmung temporaler Quantitäten: Maßeinheiten für Zeitintervalle bestimmt chronometrisch

unbestimmt kalendarisch

1

kontextabhängig ereignisorientiert

t Kombination aus beiden

1

Beide Typen der Zeitmessung können mit den oben genannten zwei Orientierungspunkten kombiniert werden. Sowohl der deiktische als auch der 36

Vgl. z u zyklischen Zeitvorstellungen: WENDORFF (1981), ASSMANN (1983), ELIAS (1984), H O H N (1984).

3.2. Temporale Konzepte

87

kalendarische Orientierungspunkt können zur Verankerung von bestimmten wie unbestimmten Zeitangaben dienen. Auf die Verknüpfung der einzelnen Komponenten wird im Zusammenhang mit der sprachlichen Repräsentation jedoch noch genauer eingegangen werden. ad (iii) Relation Neben dem Orientierungspunkt und der Angabe der Bezugszeit ist als dritte Komponente die Beziehung zwischen diesen beiden Größen festzulegen. Da die im Zusammenhang mit der temporalen Einordnung verwendeten Begriffe sich am geometrischen Bild der gerichteten Zeitachse orientieren, läßt sich die Bestimmung des Richtungsverhältnisses in der geometrischen Form des Vektors darstellen: Since time and order are bidirectional, any act of observation at an axis of orientation (P) may be considered to have direction. The observer may focus upon a simultaneous event (zero direction), upon an event anterior to P (minus direction), or upon an event posterior to P (plus direction). Any fixed direction of observation shall be called hereafter a vector. (BULL [1960] p. 14).

Bull stellt hier die drei allgemeinen Begriffe zeitlicher Zuordnungsverhältnisse zusammen: Eine BZ kann entweder gleichzeitig, mit dem Sonderfall der Inklusion, oder vor oder nach dem Orientierungspunkt anzusiedeln sein. Diese Beziehungen werden folgendermaßen symbolisiert. (i) O P - BZ O P ] - BZ(gleichzeitig, Inklusion) (ii) O P —BZ (zeitlich ,nach') (iii) O P - BZ (zeidich ,vor') In diesem Zusammenhang ist herauszustellen, daß die Relation ,nach' der realen Bewegung der Dinge in der Zeit entspricht. Das Konzept des zeitlichen ,vorher' verlangt die Umkehrung des Zeitflusses in der menschlichen Vorstellung. Es wird sich zeigen, daß diese Implikationen für temporale Referenz im Diskurs eine große Rolle spielen. Zusammenfassend läßt sich folgendes festhalten: Zur eindeutigen Einordnung eines Sachverhaltes auf der Zeitachse müssen die drei Komponenten Orientierungspunkt, Bezugszeit und Relation für diesen Sachverhalt bekannt sein. Im einfachen Fall kann ein Sachverhalt durch die Angabe eines primären Orientierungspunktes, einer chronometrisch definierten Bezugszeit und einer Relation zwischen diesen beiden zeitlich eingeordnet werden, z. B. ,Gestern schien die Sonne'. Das Adverb ,gestern' läßt sich in seinen temporalen Komponenten folgendermaßen bestimmen:

88

3. Temporalität

OP deiktisch BZ ein Tag, ein Tag entfernt von OP R O P - BZ Doch können die einzelnen Bestimmungen auch das Resultat komplexer zeitlicher Einbettungen sein (z. B. sekundäre Verankerung) oder sich aus der Kombination mehrerer Einzelbestimmungen ergeben, z. B. ,Voriges Jahr in den Sommerferien passierte mir am ersten Tag gleich ein Malheur'. OP deiktisch BZ, Jahr (Kalender) I BZ 2 Ferien (Sachverhalt) L BZ 3 1. Tag (Kalender) R OP— BZ Eine weitere Komplikation kann sich auf Diskursebene ergeben, wenn einzelne Komponenten kontextuell abgedeckt sind. Es müssen nicht notwendigerweise für jeden Sachverhalt im Rahmen einer Außerungseinheit alle drei Komponenten explizit bestimmt sein. Die Übernahme des Orientierungspunktes, der Bezugszeit und der Relation aus einer vorangehenden Außerungseinheit stellt eine weitere Möglichkeit temporaler Einordnung dar. Der Ausdruck temporaler Konzepte im Diskurs wird weiter unten Gegenstand genauerer Betrachtungen sein. Ein Sonderfall temporaler Einordnung soll hier noch kurz erwähnt werden. Es handelt sich um die Charakterisierung eines Sachverhaltes als zeitlich ,unbegrenzt gültig', um das Konzept des ,Genetischen'. Es ist im Wesen der allgemeinen abstrakten Fälle begründet, daß sie auf der Zeitlinie keinen individuellen Platz, keinen Zeitstellenwert haben. (Koschmieder [1929] p. 3).

Ob man - wie Koschmieder - annimmt, daß diesen Aussagen keinerlei zeitlicher Wert zukommt, sie also als zeitlos oder atemporal betrachtet37, oder ob man davon ausgeht, daß generischen Aussagen eine unbegrenzte Bezugszeit zuzuordnen ist, ist eine philosophische Frage, die hier nicht weiter diskutiert werden kann. Im Zusammenhang mit dem Konzept ,zeitliche Einordnung' ist an dieser Stelle nur festzuhalten, daß es Sachverhalte gibt, denen keine bestimmten Werte auf der Zeitachse zugewiesen werden können. 37

Vgl. hierzu WUNDERLICHS Bestimmung des Präsensmorphems in generischen Aussagen als semantisch leeres Tempusmorphem' ([1970] p. 127); oder STEUBE (1980) ,atemporal ist das generische Tempus' (p. 24).

3.2. Temporale Konzepte

89

3.2.3.2. sprachlicher Ausdruck der Einordnungsfunktion 38 Im folgenden werden die sprachlichen Mittel - analog zum vorhergehenden Abschnitt - nach ihren formalen Merkmalen getrennt aufgeführt. Eine Bemerkung zur Semantik der hier dargestellten Zeitausdrücke sei jedoch noch vorangestellt. Geht man davon aus, daß die Sprache Mittel bereitstellt, um alle drei oben beschriebenen Komponenten der temporalen Einordnungsfunktion zum Ausdruck zu bringen, so ergeben sich unterschiedliche Möglichkeiten, die verschiedenen Komponenten sprachlich zu fassen. Ausdrücke können einzelne Komponenten repräsentieren, oder sie können in ihrer Bedeutung eine Kombination aus mehreren Komponenten umfassen. Letzteres läßt wiederum Kombinationsvarianten zu. Wir verdeutlichen dies an Beispielen aus dem Deutschen. Nur eine Komponente erscheint in Begriffen wie,vorher',,nachher' (R), stundenlang' (BZ). Kombinationen von zwei Komponenten sind in Adverbialen wie ,vorhin' (OP, R), ,drei Tage später' (BZ, R) und in den Tempora (OP, R), (z. B. ,Er ist um 6 Uhr gegangen' vs. ,er wird um 6 Uhr gehen') gefaßt. Beispiele für die größte Gruppe der Zeitausdrücke, diejenigen in denen alle drei Komponenten enthalten sind, sind Adverbiale wie ,gestern', ,im letzten Jahr' etc. Als Sonderfall ist die Gruppe der deiktischen Formen aufzuführen, die sich auf den Gegenwartszeitpunkt (in der Regel der Sprechzeitpunkt) als Orientierungspunkt beziehen. Dabei sind die Ausdrücke, die diesen Orientierungspunkt in ihrer Bedeutung enthalten (,heute',,früher',,kommenden Montag') von jenen zu unterscheiden, die im unmarkierten Fall deiktisch verankert werden, grundsätzlich jedoch auch auf andere Orientierungspunkte bezogen werden können (z.B. ,bald', ,in zwei Tagen'). Im folgenden betrachten wir die sprachlichen Mittel zur Zeitreferenz unter formalen Gesichtspunkten und unterscheiden sie hierzu in die Gruppe der (i) grammatischen und (ii) der lexikalischen Mittel. ad (i) grammatische Mittel In vielen Sprachen wird der Zeitbezug obligatorisch am Verbum als finitem Satzglied markiert. Uber die Bedeutung und Funktion der Tempora gibt es eine Reihe unterschiedlicher Theorien, auf die wir hier nicht im einzelnen eingehen können. Grundsätzlich lassen sich drei Betrachtungsweisen unterscheiden: - Tempora werden als Ausdruck aspektueller Kategorien bestimmt, die an sich keine Anbindung an einen bestimmten Referenzpunkt auf der Zeit-

38

Vgl. hierzu BRUNOT (1953) p. 748 ff. ,moyens d'expression'.

90

3. Temporalität

achse enthalten. In dieser Betrachtungsweise können Tempora keine Einordnungsfunktion erfüllen (vgl. Weinrich [1964], C. Smith [1980]). - Tempora werden der Gruppe der anaphorischen Ausdrucksmittel zugeordnet. Auch in diesem Ansatz wird den Tempora keine einordnende Funktion zugewiesen. Sie können lediglich den Erhalt einer durch andere Mittel eingeführten temporalen Referenz ausdrücken (vgl. Bäuerle [1977a, 1979], Partee [1983]). - Tempora werden als deiktische Kategorien bestimmt, die eine Einordnung in Bezug auf den Sprechzeitpunkt vornehmen (vgl. Reichenbach [1947], Bull [1960], Wunderlich [1970], Kurylowicz [1975], Steube [1980], Comrie [1985]). Im folgenden wird nicht einer der drei Ansätze aufgegriffen, sondern es wird versucht, auf Grund des allgemeinen Konzeptes der,Grenze' zu einer Bestimmung der Tempusfunktion zu gelangen. Danach ergibt sich folgende These zur Funktion von Tempussystemen: Eine bestimmte Tempusform gibt einen temporalen Gültigkeitsbereich an, indem sie für diesen eine bestimmte Grenze auf der Zeitachse fixiert. Diese Grenze kann der deiktische Orientierungspunkt, aber auch ein sekundärer Orientierungspunkt sein. Die Tempora geben ein Verhältnis zwischen einem Zeitraum und dessen zeitlicher Begrenzung an. Fungiert der deiktische Orientierungspunkt als Begrenzung, so ergibt sich daraus zunächst die Unterscheidung in Vergangenheit, für die der Orientierungspunkt als rechte Grenze, und Zukunft, für die er als linke Grenze erscheint. Das Vergangenheitstempus hat die Funktion einen Referenzraum einzuführen, der nach links hin unbegrenzt, nach rechts jedoch in dem Orientierungspunkt begrenzt ist; das Zukunftstempus beschreibt - spiegelbildlich den Zeitraum, der links durch den Orientierungspunkt begrenzt ist und nach rechts hin offen ist. Präsens als Tempus führt keine zeitlichen Begrenzungen ein. Es enthält lediglich die Bedingung, daß der Orientierungspunkt im Geltungsbereich enthalten sein muß.39 Neben diesen Formen deiktischer Referenz durch die Gleichung OP = 1/r Grenze gibt es komplexere Formen, bei denen eine zweite (oder dritte) Grenze in den deiktisch gegliederten Zeitraum eingeführt wird. Diese Grenze kann entweder direkt auf den Orientierungspunkt bezogen sein oder aber relational zu einer bereits eingeführten Grenze Gj bestimmt sein. 39

Vgl. hierzu Ausnahmen, bei denen der OP nicht im Geltungsbereich eingeschlossen ist, wie z.B. im Falle des historischen Präsens oder des futurischen Präsens, vgl. hierzu u.a. WUNDERUCH (1970), STEUBE (1980), WOLFSON (1982), GRUNDZÜGE (1981).

3.2. Temporale Konzepte

91

Diese beiden Möglichkeiten finden sich z. B. im Deutschen und Türkischen. Während das deutsche Plusquamperfekt vom Typ (G2 r - G j r - OP) ist, ist die türkische zweite Vergangenheit vom Typ (G2 r (G r^OP)-40 Zur Verdeutlichung werden die unterschiedlichen Referenzformen noch einmal graphisch dargestellt. t0=OP —Ge

1. Vergangenheit

+Gr t0+OP [ +Gr

» —Gr

( tG=OP ) V^ Ii ^ ^J -

Zukunft

Gegenwart

—GV—Gr -f~ G r2

J^üOPl -f-| Gf=OP2

Sekundäre Vergangenheit

t 0 =OP_ r g}

i g^=op2

Sekundäre Zukunft

t0=OP ^

40

f Gr

1—-| (G 1 )

2. Vergangenheit

Vgl. hierzu die interessante Untersuchung von Ö. DAHL ZU unterschiedlichen Vergangenheitskonzepten (1983). DAHL kommt auf der Grundlage einer umfangreichen-, sprachvergleichenden Studie zu einer Unterscheidung in .hodiernal and hesternal' Tempora: „If there is one or more distinctions of remoteness in a tense-aspect-systemj and reference can be made to objective time measures, one of the distinctions will be between ,more than one day away' and ,not more than one day away'." (p. 9). Die Aufgliederung in mehrere Vergangenheitsstufen ergibt in den verschiedenen Sprachen ein relativ einheitliches Bild, in dem die spezifische Definition der jeweiligen Zeitstufe

92

3. Temporalität

Die Aufgabe der Tempora besteht darin, daß ein nach einer Seite hin offener zeitlicher Geltungsbereich bestimmt wird, dessen einseitige Begrenzung in der Form selbst kodiert ist.41 Tempora geben im oben definierten Sinn einen Orientierungspunkt und eine Relation an, die Bezugszeit bleibt jedoch unspezifiziert. Für die genaue Angabe von Bezugszeiten gibt es in den Sprachen deshalb andere Mittel, die Adverbialen, die zusammen mit den Tempora eine präzise temporale Einordnung erlauben. C. Smith formuliert diesen Zusammenhang als Ausgangspunkt ihrer Analyse: I assume that sentences have one tense and one time adverbial each, the adverbial of unlimited complexity. I assume also that complete temporal reference in English is made by combination of tense and a time adverbial. The semantic unit for temporal reference in English is made by a combination of tense and time adverbial. Sentences without a time adverbial are vague, or incomplete because they do not have enough information to establish temporal reference ([1980] p. 356).

Bevor die lexikalischen Mittel zur temporalen Referenz behandelt werden, sollen noch kurz einige Bemerkungen zum Gebrauch der Tempora im Diskurs angefügt werden. Da die durch die Tempora eingeführte Bezugszeit unbestimmt ist, sind diese alleine zur zeitlichen Verankerung von Sachverhalten kaum geeignet. Eine wesentliche Funktion der Tempora besteht darin, eine spezifische, adverbial eingeführte Bezugszeit zu erhalten (vgl. die anaphorische Funktion bei Bäuerle [1977a]). Hierfür ist entscheidend, daß Tempora innerhalb ihres Referenzfeldes spezifische Zeitangaben nicht aufheben können, sie führen deren Gültigkeit fort. Nur wenn durch eine andere Tempusform eine neue Begrenzung eingeführt wird, in der die adverbial gegebene Refe-

41

in der Umgebung von OP sehr präzise ist, mit der Entfernung von OP jedoch immer vager wird (vgl. das Tempussystem im Kiksht oder Kamba, p. 5). Einen möglichen Grund für diese universale Form der temporalen Aufgliederung sieht DAHL (in Anlehnung an CHAFE [1972]) in der Organisation des menschlichen Gedächtnisses in ,surface, shallow and deep memory' (p. 17). Die Ableitung sprachlicher Gesetzmäßigkeiten aus konzeptuellen Strukturen des menschlichen Bewußtseins ist im Moment notwendigerweise spekulativ. Doch gerade im Zusammenhang mit Fragen sprachlicher Universalien ist die Untersuchung konzeptueller Grundlagen von entscheidender Bedeutung. Der L2-Erwerb, als Prozeß der Ausbildung einer Sprache, läßt vielleicht Einblicke in das Zusammenwirken solcher allgemeiner konzeptueller Strukturen und sprachlicher Repräsentation zu. Zur Diskussion der Frage, ob Tempusmorpheme eine Grundbedeutung haben vgl. GREMMENDORF (1982).

3.2. Temporale Konzepte

93

renz nicht mehr enthalten ist, hebt das Tempus die Geltung der Zeitadverbiale auf. z. B.,Gestern war ich in der Stadt. Ich habe einen Ring gekauft. \ Gültigkeit Ich werde ihn meiner Schwester schenken'. Aufhebung

ad (ii) lexikalische Mittel Die lexikalischen Mittel zur expliziten Zeitreferenz sind formal der Gruppe der Adverbialen zuzuordnen. Dabei kann man zwischen einfachen (repräsentiert durch Adverbien) und komplexen (Präpositionalausdrücke, Nominalausdrücke, Nebensätze) Formen unterscheiden. In beiden Gruppen finden sich die drei oben genannten, semantisch unterschiedenen Kategorien. (vgl. z.B. die Ubersichtstabelle bei Steube [1980] p. 104, und Grundzüge [1981]). Sprachen weisen im Hinblick auf Kombination und Bedeutungsspezifik von temporalen Ausdrücken eine große Variabilität auf. Eine Darstellung der vielfältigen Mittel allein schon für eine Sprache würde jedoch über den Rahmen dieser Arbeit weit hinaus gehen. Im Zusammenhang mit der Analyse von Lernersprachen ist sie auch kaum angebracht, da die Lernersprachen in unserem Falle solche differenzierten Ausdrucksformen nicht enthalten. 3.2.3.3. Diskursfunktion der temporalen Einordnung In der Betrachtung der sprachlichen Mittel zur temporalen Einordnung wurde bereits die Kategorie des ,Kontextes' als relevante Größe eingeführt. Die Möglichkeit, die zeitliche Einordnung durch die Kombination mehrerer Komponenten vorzunehmen, macht temporale Referenz in besonderer Weise zu einem Kandidaten kontextueller Einbindung. Es müssen nicht immer alle drei temporalen Komponenten in einer Außerungseinheit bestimmt sein, deiktische und anaphorische Zeitausdrücke verlangen eine Ergänzung durch kontextuelle Information über die Grenze einer Äußerungseinheit hinaus. Es ist keineswegs nur ein Kennzeichen von Lernersprachen, daß kontextuelle Implikationen als Bedeutungsträger von besonderer Wichtigkeit sind. Die Möglichkeit, die temporale Einordnungsfunktion in ihrer sprachlichen Repräsentation in explizite und kontextuell vermittelte Komponenten aufzuspalten, läßt sie zu einem wesentlichen Faktor diskursiver Kohärenz überhaupt werden. Temporale Kohärenz stellt in vielen Fällen das strukturelle Prinzip dar, nach dem Diskurse aufgebaut werden. Auf diese Funktion wird in Abschnitt 3.3. genauer eingegangen werden.

94

3. Temporalität

3.2.3.4. Zusammenhang mit anderen konzeptuellen Kategorien Anschließend sollen noch einige Überlegungen hinzugefügt werden, die Überschneidungen des Konzeptes ,temporale Einordnung' mit anderen Konzepten betreffen. (i) All - temporale Einordnung Der konzeptuelle Zusammenhang zwischen All und temporaler Einordnung wird sowohl in sprachhistorischen als auch in sprachvergleichenden Untersuchungen belegt.42 Eine Parallele zwischen den beiden Konzepten ergibt sich dort, wo der Sprechzeitpunkt t Q als Orientierungspunkt sowohl für den Aspekt als auch für das Tempus gesetzt wird. In diesem Fall deckt sich der Begriff des ,Perfektiven' mit dem Begriff des ,Vergangenen' (ein Sachverhalt, der zum Zeitpunkt tQ abgeschlossen ist, ist vergangen), und der Begriff des imperfektiven' mit der Kategorie des Präsentischen (ein Sachverhalt, der zum Zeitpunkt t Q nicht abgeschlossen ist, ist gegenwärtig).43 Futurische Referenz kann in aspekt-orientierten Systemen durch die Kategorie des Hypothetischen eingeführt werden. Ein Sachverhalt, der nur der Möglichkeit nach als existent behauptet wird, ist entweder als fiktiver oder als geplanter, zukünftiger zu interpretieren. Die spezifische Deutung kann in diesen Fällen nur unter Einbeziehung des Kontextes gewonnen werden. 42

43

KURYEOWICZ zeigt in seinen umfangreichen Studien zur historischen Entwicklung von Tempus- und Aspektkategorien, daß eine Bedeutungsverschiebung bei morphologischen Formen als Träger von Tempus und Aspekt stattgefunden hat, bei der aspektuelle durch Tempusmarkierungen ersetzt worden sind. „ Anteriority is nothing eise than perfectivity conditioned (determined) by tense." ( [1964] P- 130). Eine ähnliche Entwicklung berichtet GIVÖN (1982) für Pidgin- und Kreolsprachen. Auch dort verlagert sich eine anfänglich aspektuell bestimmte Opposition von perfektiv-imperfektiv zu einer zeitreferentiellen Opposition in gegenwärtig-vergangen. Vgl. auch KUMPF (1982). Diese Tendenz wird auch in Studien zum Ll-Erwerb gefunden. So berichtet T. JAKOBSEN ( 1 9 8 1 ) über den Spracherwerb eines spanischen Kindes, der von anfänglich rein aspektuellen Unterscheidungen in einem zweiten Schritt zur Markierung von Zeitstufenreferenzen voranschreitet. Dieser Zusammenhangfindetsich des weiteren behandelt bei JOHANSON ( 1 9 7 1 ) , C O M R I E ( 1 9 7 6 ) , H O P P E R ( 1 9 7 9 , 1 9 8 2 ) . Vgl. auch Kap. 4 und 6 . Diese Überschneidungen gehen z. T. in Beschreibungen von Tempus/Aspekt-Systemen ein, in denen die beiden Konzepte nicht klar voneinander getrennt werden. So bestimmt z.B. BRUNOT (1953) das französische Imparfait wie folgt: „ . . . si on se rapelle que l'imparfait est un présent dans le passé.", (p. 778) (Hervorhebung von der Verf.).

3.2. Temporale Konzepte

95

Die Darstellung futurischer Sachverhalte durch modale Konzepte spielt in Lernersprachen eine entscheidende Rolle. Keiner der im folgenden analysierten Sprecher verwendet eine Tempusform zur Markierung des Futurs. (Inwieweit dieses Tempus überhaupt im Deutschen existiert, ist umstritten, vgl. hierzu Vater [1975]. Für das Türkische muß man jedoch ein Tempus ,Futur' annehmen, vgl. Kap. 4). Es ergäben sich damit insgesamt folgende Entsprechungen: Tempus Aspekt (OP = t 0 ) vergangen gegenwärtig zukünftig (vgl. hierzu Kurytowicz [1975] und C. Smith [1981]). Der wesentliche Unterschied zwischen diesen beiden Formen temporaler Referenz liegt in der Bestimmung des Orientierungspunktes. Während er in den Tempussystemen mitkodiert ist, legen Aspektsysteme an sich keinen Orientierungspunkt fest, sondern verlangen eine .äußere' Verankerung. Daraus folgt, daß Aspektsysteme nur dann deiktische Funktionen übernehmen können, wenn implizit die Sprechzeit als Orientierungspunkt unterstellt wird. Sekundäre Verankerungen, wie sie durch Tempusformen gegeben werden können, können daher durch Aspektsysteme nicht ausgedrückt werden.44 Im L2-Erwerb spielt die Interaktion dieser beiden Kategorien eine wichtige Rolle. In den Datenanalysen werden wir auf diesen Zusammenhang zurückkommen. (ii) Temporale Einordnung und lokale Konzepte Nach Dahl (1983) gibt es Sprachen, in denen der Grad der temporalen Entfernung im Zusammenhang mit der räumlichen Entfernung der besprochenen Ereignisse bestimmt wird. Intuitively it is not too hard to accept that distance in time and space will not always be differentiated in people's mind. In a parallel way, events which you have witnessed yourself or which concern you as a person in a direct way might be felt as being .closer' in a general way and thus be more likely to be reported in a non-remote past tense.... An example of a language where morphemes with a deictic spatial function have acquired temporal meaning is Kiksht, as described by Hymes, where the prefixes t- and u- have the primary meaning ,hither' and ,thither' and the secondary use of marking the time of references as being

44

Zum Zusammenwirken der beiden Konzepte in Sprachen, die sowohl Tempus als auch Aspekt grammatisch ausdrücken, vgl. Kap. 4.

96

3. Temporalität relatively closer or more distant, respectively. As Hymes notes, it is a universal tendency for expressions with primary spatial meaning to be extended to a temporal use. (Dahl [1983] p. 8/9).

Dieser Zusammenhang von räumlichen und temporalen Konzepten ist die Grundlage der Jokalistischen' Zeittheorie, die bereits im Abschnitt über All angesprochen wurde (vgl. Anderson [1973]). In Lernersprachen spiegelt sich die Überschneidung temporaler und lokaler Referenz auf sprachlicher Ebene wider.45 Darüber hinaus kann sie für den Sprachgebrauch auf einer sehr viel allgemeineren Ebene der Konzeptualisierung eine Rolle spielen. Einzelne Lebensabschnitte, die durch räumliche Veränderung gekennzeichnet sind, können beispielsweise zu einem individuellen System von Zeitstufen werden. Die Angabe des jeweiligen Ortes genügt dann für den Hörer, um eine zeitliche Einordnung damit zu verbinden (vgl. HPD [1979], Dittmar [1982]). Fassen wir abschließend noch einmal die wesentlichen Gesichtspunkte der Abschnitte 3.2.1. bis 3.2.3. zusammen. Das Konzept,'Temporalität' wird in drei Kategorien aufgegliedert, die in unterschiedlicher Weise den Zusammenhang zwischen Sachverhalten und Zeitstrukturen fassen: - Der Aspekt I, der sich auf inhärente temporale Eigenschaften von bestimmten Sachverhalten bezieht, läßt die Zeitstruktur in den konkreten Geschehnissen erscheinen. Als die beiden wichtigsten Kategorien wurden in diesem Zusammenhang die zeitliche Grenze und die Dauer eingeführt. - Der Aspekt II bringt die Perspektivierung eines Sachverhaltes durch den Betrachter in Bezug auf dessen zeitlichen Verlauf zum Ausdruck. Er enthält keine Referenz auf die Zeitachse als Maßstab zeitlicher Verankerung. Die wesentlichen Kategorien des AH sind Imperfektivität (ein Geschehnis wird in seinem Verlauf dargestellt) und Perfektivität (das Geschehnis wird als abgeschlossenes Ganzes betrachtet). - Temporale Einordnung erfüllt die Funktion, einen Sachverhalt in Bezug auf einen auf der Zeitachse repräsentierten Maßstab zu bestimmen. Im Unterschied zum AI werden hier die Sachverhalte auf eine ihnen vorausgesetzte zeitliche Struktur bezogen. Um diese Einordnung vornehmen zu können, müssen drei Größen gegeben sein: ein Orientierungspunkt, eine Bezugszeit und die Relation zwischen diesen beiden Komponenten. Im folgenden soll betrachtet werden, wie diese drei temporalen Konzepte 45

Vgl. zur Verwendung von Ausdrücken mit räumlicher Bedeutung für Zeitverhältnisse H P D (1975a, 1979).

3.3. Temporalität im Diskurs

97

in komplexen temporalen Strukturen im Diskurs zusammenwirken. Es werden zunächst einige allgemeine Überlegungen zur Rolle der Temporalität in verschiedenen Diskurstypen vorangestellt.

3.3. Temporalität im Diskurs Betrachtet man, wie zeitliche Kategorien im Sprachgebrauch zum Einsatz kommen, so lassen sich zwei Funktionen der Temporalität unterscheiden. Zum einen kann die Temporalität als ein Bedeutungselement die Gesamtbedeutung einer Außerungseinheit mitkonstituieren. Die konzeptuellen Kategorien, die dabei zum Tragen kommen, wurden in Abschnitt 3.2. ausführlich dargestellt. Die Temporalität hat darüber hinaus jedoch die Funktion, auf Diskursebene zur Bedeutungsorganisation beizutragen. Wir haben oben im Zusammenhang mit allgemeinen Fragen zum Sprachgebrauch davon gesprochen, daß man eine eigene Ebene der Diskursorganisation annehmen muß, auf der nach bestimmten Anordnungs- und Kompositionsprinzipien komplexe Bedeutungsstrukturen aufgebaut werden.46 Ein sehr wichtiges und in vielen Kontexten verwendetes Organisationsprinzip liegt in der Zeitstruktur.47 Temporaler Kohärenz kommt in vielen Diskurstypen die Funktion zu, die Abfolge der einzelnen Äußerungen zu determinieren. Man kann daher von einer Doppelfunktion der Temporalität im Diskurs sprechen: Auf der einen Seite ist sie als Bedeutungselement eine Funktion der diskursiven Gesamtbedeutung. Auf der anderen Seite ist Temporalität, insofern sie Zeitkohärenz ist, Strukturprinzip der Diskursorganisation und damit wird die diskursive Gesamtbedeutung zu einer Funktion der Zeitstruktur.48 Im folgenden geht es darum, den zweiten Aspekt genauer zu betrachten. Hierzu wird zunächst in einem kurzen Exkurs auf die Bedeutung tempora46

SMITH formuliert diesen Gedanken als ein wichtiges Ziel weiterer Untersuchungen. „The immediate conclusion to be drawn from these examples is that information other than temporal is needed to establish temporal structures.... The conditions for temporal structures given here are sentence-based, depending on expressions that are associated with individual sentences. But it is clear that conditions ofthat type cannot, in principle, suffice for recognizing or forming structures beyond the sentence. . . . What in fact is the relation of syntactico - semantic units to discourse structure? Is there a correspondence between the t w o ? " ( C . SMITH [ 1 9 8 0 ] p. 2 7 3 ) .

47

Vgl. hierzu LABOV/WALETZKY ( 1 9 6 7 ) , LABOV ( 1 9 7 2 ) , LINDE/LABOV ( 1 9 7 5 ) , HALLIDAY/ HASAN ( 1 9 7 6 ) , KLEIN ( 1 9 7 9 , 1 9 8 2 ) .

48

Vgl. hierzu MILLER/JOHNSON-LAIRD ( 1 9 7 6 ) , KAMP ( 1 9 7 9 , 1 9 8 0 , 1 9 8 1 ) , HORNSTEIN/ LIGHTFOOT ( 1 9 8 1 ) , HINRICHS ( 1 9 8 1 ) , KAMP/ROHRER ( 1 9 8 2 ) , PARTEE ( 1 9 8 3 ) .

98

3. Temporalität

ler Referenz in unterschiedlichen Diskurstypen eingegangen. Im Anschluß daran werden die Varianten temporaler Verknüpfung dargestellt, die dann in ihrer Funktionsweise auf der Ebene der Diskursrepräsentation behandelt werden. Abschließend gehen wir auf Formen der sprachlichen Repräsentation von temporaler Kohärenz, insbesondere auf den Gebrauch diskurspragmatischer Mittel ein. 3.3.1. Exkurs: Diskurstypologie In den bisherigen Überlegungen wurde der Begriff,Diskurs' in sehr allgemeiner Bedeutung für jede Form des Sprachgebrauchs verwendet.49 Für die Datenanalyse ist es jedoch notwendig, diesen Begriff genauer zu fassen und eine Unterscheidung der in diesem Zusammenhang relevanten Diskurstypen einzuführen. Gegenstand der vorliegenden Untersuchung ist der mündliche Diskurs in,ungesteuerten' Gesprächssituationen (,face to face-interaction').50 Ungesteuerte Kommunikation ist hier als Gegensatz zu einer besteuerten' (experimentellen oder artifiziellen) Kommunikation zu verstehen. Halten wir zunächst einige Eigenschaften dieser Kommunikation fest, die für den Aufbau komplexer Bedeutungsstrukturen relevant sind (vgl. auch Kap. 2.3.). - Wissen wird in einem Interaktionsprozeß vermittelt.,Gemeinsames Wissen' der Gesprächspartner kann als eine Konstituente des Gesprächsinhalts behandelt werden. Unklarheiten können durch Rückfragen korrigiert werden. - Die angesteuerte' Gesprächssituation erlaubt den Einsatz verschiedener Formen der Bedeutungsvermittlung. Sprachliche und pragmatische Komponenten lassen sich für die Bedeutungsvermittlung kombinieren. - Ein Diskurs ist nicht als ein statisches Bild von Bedeutungszusammenhängen zu analysieren, sondern ist das Resultat eines progressiven Bedeutungsaufbaus in ,real time'. Diskurs ist - um eine Analogie aus der Temporalität zu verwenden - ein gerichteter Prozeß, in dem die Teilelemente neben ihrem originären Bedeutungsgehalt auch stets als eine Funktion vorangehender Elemente zu interpretieren sind. - Bedeutungsrepräsentation im Diskurs unterliegt eigenen Gesetzen, die zwischen der konzeptuellen und der sprachlichen Ebene vermitteln. Auf 49 50

Vgl. zum .Diskursbegriff' STUBBS (1983) „Discourse is a rank above the clause." (p. 83). Es wird in diesem Zusammenhang auch von .natürlichem' Diskurs gesprochen (z.B. KRECKEL [ 1 9 8 1 ] , D I T T M A R [ 1 9 8 2 ] , KLEIN [ 1 9 8 2 ] , STUBBS [ 1 9 8 3 ] ) .

3.3. Temporalität im Diskurs

99

der Ebene der Diskursorganisation werden komplexe Bedeutungszusammenhänge geplant und strukturiert, die in den äußerungsübergreifenden Formen der Kohärenz zum Ausdruck kommen.51 Diese vier Bestimmungen gelten für jede Form des ,ungesteuerten' Diskurses. Diskurstypen unterscheiden sich jedoch in der jeweils spezifischen Ausprägung und Funktion dieser Komponenten. Um eine Diskurstypologie aufzustellen, können unterschiedliche Kriterien herangezogen werden. Auf Grund der allgemeinen Fragestellung dieser Arbeit wird hier die Funktion der temporalen Referenz zum Kriterium der Kategorisierung gemacht52 (vgl. zur Übersicht über verschiedene Diskurstypologien Ballmer [1981] ).53 Allgemein kann man zunächst zwei Diskurstypen von einander unterscheiden: diejenigen, in denen zeitliche Zusammenhänge Abfolge und Kohärenz der Teilelemente determinieren und jene, die anderen Organisationsprinzipien unterliegen, z. B. logischen. Betrachten wir zunächst kurz die zweite Gruppe, die für die Datenanalyse von geringerer Bedeutung ist. 3.3.1.1. Nicht temporal-organisierte Diskurse Hierzu zählen Formen der Argumentation, in denen kausale, konditionale und konsekutive Relationen den Diskursverlauf bestimmen; des weiteren persönliche Kommentare, Urteile und Meinungen zu bestimmten Sachverhalten, in denen neben logischen Zusammenhängen assoziative und subjek-

51

52

MILLER/JOHNSON-LAIRD behandeln diese Thematdk und machen deutlich, daß über diese Zusammenhänge noch kaum gesichertes Wissen existiert. „Much discourse describes sequences of events, indices assigned in one sentence must be related to indices assigned in other sentences. We must assume that temporal mapping can be suprasentential, that the temporal organization of a narrative can grow as the narrative unfolds over many sentences. Thus, part of the context in which a sentence is translated is provided by the temporal organization inferred from preceding sentences. How the temporal organization of a discourse should be represented has been considered by linguists, but little is known of the cognitive processes that must be involved in such memory." ([1976] p. 4 5 9 ) . Dieses Kriterium wurde auch in anderen Arbeiten zur Charakterisierung von Texten verwendet, vgl. WEINRICH ( 1 9 6 4 ) , LABOV/WALETZKY ( 1 9 6 7 ) , LABOV ( 1 9 7 2 ) , SCHIFFRIN ( 1 9 8 1 ) , WOLFSON ( 1 9 8 2 ) , SILVIA CORVALAN ( 1 9 8 3 ) . Desweiteren sei auf folgende Arbeiten zur Diskursanalyse verwiesen: COULTHARD ( 1 9 7 7 ) , KRECKEL ( 1 9 8 1 ) , GUMPERZ ( 1 9 8 2 ) , VAN DIJK/KINTSCH ( 1 9 8 3 ) .

53

Es ist in diesem Zusammenhang anzumerken, daß der ungesteuerte Diskurs selten einen der im folgenden aufgeführten Diskurstypen allein repräsentiert. In Gesprächen hat man es in der Regel mit einer Vermischung unterschiedlicher Diskurstypen zu tun.

100

3. Temporalität

tiv motivierte Verbindungen den Diskurs strukturieren. Zeit spielt in diesen Gesprächsformen nur insofern eine Rolle, als unter Umständen der Gültigkeitsrahmen für die angegebenen Urteile und Meinungen bestimmt werden muß. Ist dieser jedoch gekennzeichnet, so ist eine weitere Bezugnahme auf temporale Kategorien für den Bedeutungsaufbau irrelevant. Während der zeitlich nicht determinierte Charakter solcher Diskursformen in der Standardsprache auf Grund der obligatorischen Tempusmarkierung am finiten Verb formal nicht in Erscheinung tritt, zeigt er sich in Lernersprachen, in denen temporale Referenz selektiv durch lexikalische Ausdrücke markiert wird, auch in der sprachlichen Form, und zwar dadurch, daß diese Markierungen fehlen.

3.3.1.2. Temporal organisierte Diskurse In der Literatur werden Diskursformen mit temporaler Struktur häufig unter dem Begriff,Narrative' zusammengefaßt. We can define a minimal narrative as a sequence of two clauses which are temporally ordered: that is, a change in their order will result in a change in the temporal sequence of the original semantic interpretation. (Labov [1972] p. 360).

Eine weitere Unterteilung ist jedoch notwendig, da die sprachliche Repräsentation temporaler Strukturen und dementsprechend das Ausmaß kontextuell zu ergänzender Information in Abhängigkeit von der Thematik variieren.

Bericht54 Im Bericht werden reale Ereignisse in ihrer chronologischen Reihenfolge dargestellt. Eine Abweichung von der temporalen Folge ist selten, da es um eine objektive Beschreibung von Geschehnissen geht, in denen persönliche Urteile, Kommentare und Bewertungen keinen Platz haben. Die temporale Struktur dieses Diskurstypus ist dadurch klar, die Abfolge der berichteten Ereignisse spiegelt sich in der sequentiellen Anordnung im Diskurs wider. Es ist lediglich notwendig, die Ereignisse temporal einzuordnen, zeitliche Relationen sind implizit durch den sequentiellen Diskursverlauf gegeben.

54

Vgl. hierzu die Unterscheidung in ,report' und ,story' bei Wolfson (1982) p. 22, auch Weinrich (1964).

3.3. Temporalität im Diskurs

101

Ereigniserzählung55 Auch hier geht es um die Darstellung realer Ereignisse, die jedoch unter einer persönlichen Perspektive betrachtet werden. So kann die Chronologie der Geschehnisse durch Einschübe unterbrochen werden, in denen der Erzähler Zusatzinformationen, Kommentare, persönliche Stellungnahmen etc. gibt. Die Ausgestaltung einer Erzählung zu einer unterhaltenden oder fesselnden Darstellung persönlichen Erlebens bringt unter Umständen auch eine Aufhebung der Chronologie mit sich.56 Die einzelnen Teilinformationen stehen nicht wie im Bericht als gleichwertige Glieder einer Kette nebeneinander, sondern sind um inhaltliche Schwerpunkte angeordnet. Die temporalen Strukturen werden dadurch erheblich komplexer, die temporale Diskursorganisation wird aus einzelnen in sich selbst strukturierten temporalen Einheiten aufgebaut. Es entstehen Formen temporaler Einbettung, für deren Markierung explizite sprachliche Mittel eingesetzt werden müssen (vgl. Weinrich [1964]). Das Prinzip der chronologischen Abbildung reicht für den Ausdruck temporaler Kohärenzen in Erzählungen nicht aus. Perspektivenwechsel, Umkehrung der temporalen Richtungsverhältnisse verlangen eine entsprechende sprachliche Repräsentation. In Erzählungen kann gemeinsames Wissen' eine große Rolle spielen.57 Diese Verständigungskomponente stößt jedoch dann an ihre Grenze, wenn es um die Vermittlung subjektiver Einschätzungen geht.

55

56 57

(1966) unterscheidet die Begriffe .histoire' und .discours' wobei der erstere die Chronologie der Ereignisse zur Grundlage hat, während,discours' gestaltende Darstellung von Ereignissen durch den Sprecher ist. Vgl. den Begriff der performance' bei W O L F S O N (1982) p. 24 ff.. Vgl. hierzu die interessante Studie von KRECKEL, in der sie unter dem Begriff,conceptual convergence' die Rolle von gemeinsamem Wissen für die Kommunikation untersucht. „The degree of understanding potentially achieved in verbal exchanges is a direct function of the degree of convergence of interactionally relevant concepts held by the interactors and their shared conventions of expressing them. . . . This type of interaction relies on shared knowledge between the interactors. It was termed ,homodynamic' as opposed to .interaction' which relies solely on common knowledge. Since it was assumed that every type of interaction is heavily dependent on extra-linguistic knowledge (see also my critique of Bernstein's notion of elaborated speech codes, Part II, Chapter 4, Section 5), it was expected that family members, when interpreting their own interaction, would make use of their shared knowledge, including shared principles of organizing concepts, and shared practices of expressing them and, therefore, come to very similar interpretations. In contrast, outside observers who could fall back on their respective common knowledge only should arrive at very different interpretations. Moreover, it was argued that interpretations rely, in addition, on physical features of utterances which serve as cues for the messages conveyed." ( K R E K KEL [1981] p. 255/256).

BENVENISTE

102

3. Temporalität

Für den L2-Sprecher, der nur über ein beschränktes Repertoire temporaler Begriffe verfügt, ist dieser Diskurstyp schwieriger zu bewältigen als der Bericht, denn er verlangt auch in bezug auf temporale Referenz ein höheres Maß an expliziter Information. Fiktive Erzählungen Was die Zeitstruktur dieser Erzählungen anbelangt, so gelten dabei im wesentlichen die gleichen Bestimmungen, die im oberen Abschnitt zur Ereigniserzählung zusammengestellt wurden. Die zeitlichen Zuordnungsverhältnisse können auf Grund einer persönlichen Erzählperspektive komplex gestaltet sein. Da fiktive Erzählungen in den Daten so gut wie nicht vorkommen (mit Ausnahme der Nacherzählung), gehen wir auf diese Erzählform nicht weiter ein. Frage-Antwort-Sequenzen Der Dialog als Diskursform findet sich häufig im Datenmaterial. Das Gespräch wird dabei durch kurze, aufeinanderbezogene Äußerungen der Gesprächspartner konstituiert. Diese Form der,Kooperation' in Bezug auf den Gesprächsverlauf findet sich als erste Möglichkeit der Verständigung in der Kommunikation zwischen L2-Sprecher und Standardsprecher. Die gleiche Beobachtung wurde von Givön (1979) für erste Formen der Kommunikation zwischen Kindern und Erwachsenen gemacht. The first stage involved discourse sharing across participants, so that the underlying presupposed sentence appears in the preceding discourse as a declarative sentence... In fact, there is a growing evidence that this spreading across participants is one of the earlier modes of communication, whereby portions of the interaction which later on appear in formal adult grammar as condensed inside the same construction, are shared by the participants across discourse. More typically, one participant will establish the topicpresupposition and the other will then supply the focus-assertion. (Givon [1979] p. 87/88).

Aus den gleichen Gründen, die von Givön für den LI-Lerner angeführt werden, ist auch für den L2-Lerner die Frage-Antwort- oder BehauptungKommentar-Sequenz die erste und einfachste Form der Verständigung. Der referentielle Rahmen, der auch die temporalen Bestimmungen enthält, wird aus dem vorhergehenden Beitrag unterstellt und nur bestimmte Informationen werden in diesen Rahmen zusätzlich eingefügt. Zeitreferenz wird in diesen Äußerungen selten explizit formuliert, es gilt das Prinzip, wenn nicht ausdrücklich eine bestimmte Zeitangabe gemacht wird, so ist die temporale Referenz der vorigen Äußerung als immer noch gültig zu unterstellen.58 58

Bei SLOBIN (1981) findet sich in diesem Zusammenhang der Begriff des .scaffolded discourse'. (Man.), vgl. auch H P D (1979), DITTMAR (1981,1982).

103

3.3. Temporalität im Diskurs

Der kurze Überblick über die verschiedenen Diskurstypen, die in bezug auf das Datenmaterial relevant sind, sollte deutlich machen, daß in Abhängigkeit von Gesprächsinhalt und -form, temporale Referenz unterschiedlich komplex organisiert sein kann. Eine entscheidende Variable stellt der Faktor ,gemeinsames Wissen' dar, durch den das Ausmaß impliziter Referenz determiniert wird. Im folgenden soll nun betrachtet werden, welche Formen temporaler Verknüpfung zwischen zwei oder mehreren Sachverhalten möglich sind.59 3.3.2. Grundtypen temporaler Verknüpfung Zwischen zwei Sachverhalten gibt es auf der Grundlage der gerichteten Zeitachse verschiedene Möglichkeiten temporaler Verknüpfung. Diese Möglichkeiten werden durch die immanenten temporalen Eigenschaften der Sachverhalte selbst beschränkt. Es ergeben sich folgende Zuordnungsmöglichkeiten: 3.3.2.1. Folgerelation60 t

a=

R

p

\ tb

Sachverhalt b liegt zeitlich nach Sachverhalt a, wobei zu unterscheiden ist zwischen - der unmittelbaren Folge (Kontinuität) und a

b

- der Folge mit zeitlichem Abstand (Diskontinuität), a

b

hc

59

60

l

b

In diesem Abschnitt werden die Kategorien, Formalisierungen und Abkürzungen eingeführt, die bei der Datenanalyse verwendet werden. Systematiken temporaler Verknüpfung finden sich u.a. bei JAKOBSON (1960), HALLIDAY/ HASAN ( 1 9 7 6 ) , MILLER/JOHNSON-LAIRD ( 1 9 7 6 ) , SMITH ( 1 9 8 1 ) , KLEIN ( 1 9 8 2 ) .

104

3. Temporalität

Für die sequentielle Anordnung ist die Kategorie der Grenze im Hinblick auf das Element a von entscheidender Bedeutung. Element a muß eine rechte Grenze aufweisen, die - im unmarkierten Fall - zugleich die linke Grenze des Elements b darstellt. Auch bei diskontinuierlichen Folgen muß a rechts begrenzt und b links begrenzt sein. Der zeitliche Abstand muß entweder explizit (durch Adverbien z.B.) gemacht werden oder durch Inferenz erschließbar sein. In bezug auf die linke Grenze von a und die rechte Grenze von b sind keine Bedingungen anzugeben. Die Kategorie der Dauer spielt für die Folgerelation keine Rolle. 3.3.2.2. Vorzeitigkeitsrelation t

a= /

R

p

•b Sachverhalt b liegt zeitlich vor Sachverhalt a, wobei wiederum die beiden Varianten - unmittelbar davor (Kontinuität) und b

a

- zeitlicher Abstand zwischen a und b (Diskontinuität) b

a

%

«a

zu unterscheiden sind. Bei dieser zeitlichen Beziehung ist die Kategorie G^ für Element a relevant. Element a muß eine linke Grenze aufweisen, die - im unmarkierten Fall - zugleich eine rechte Grenze für Element b einführt. Wie im Falle der Folgerelation gilt, daß Diskontinuität diese Bedingungen nicht aufhebt, jedoch eine zusätzliche Information über den zeitlichen Abstand enthalten muß. Hinsichtlich der rechten Grenze von a und der linken Grenze von b sind keine Beschränkungen anzugeben. Die Kategorie der Dauer ist für diese Zuordnungsrelation irrelevant.

105

3.3. Temporalität im Diskurs

3.3.2.3. Gleichzeitigkeitsrelation ja = R p/f n> Kommt zwei Sachverhalten derselbe Gültigkeitsbereich auf der Zeitachse zu, so gilt, daß sie auch dieselben Eigenschaften in bezug auf Dauer und Grenze aufweisen müssen. Weitere Bedingungen ergeben sich dabei nicht. Einen Sonderfall der Gleichzeitigkeit stellt die Überschneidung dar, bei der zwei Sachverhalte nur in einem Teilbereich ihrer temporalen Gültigkeit übereinstimmen. Dabei lassen sich zwei Fälle unterscheiden, bei denen unterschiedliche Bedingungen in bezug auf Grenze und Dauer anzugeben sind. (i)

»b

l

a

In diesem Fall müssen a und b die Eigenschaft +D aufweisen; a hat notwendigerweise eine rechte, b eine linke Grenze, wobei G1" von a nicht als G^ von b fungieren darf und G^ von b vor G r von a liegen muß.

(n)

%

Auch hier müssen beide Elemente die Eigenschaft +D besitzen. Element b weist eine linke Grenze auf. Element a kann links begrenzt oder unbegrenzt sein. 3.3.2.4. Inklusionsrelation t a = Rf

Eine Inklusionsbeziehung liegt dann vor, wenn der Gültigkeitsbereich eines Sachverhaltes b in dem eines anderen Sachverhaltes a ganz enthalten ist.

106

3. Temporalität

Dieses Verhältnis schließt Bedingungen für Dauer sowie für Begrenzung ein. Bei Sachverhalt b kann es sich um - ein Ereignis (punktuell), oder um tb

- einen Prozeß oder begrenzten Zustand (durativ) handeln.

Für Element a ergeben sich Beschränkungen in bezug auf die Kategorie der Dauer; a muß die Eigenschaft + D besitzen. Hinsichtlich seiner linken und rechten Grenze sind keine Bedingungen anzugeben. Im unmarkierten Fall wird a jedoch keine rechte Grenze aufweisen. Element b muß beidseitig begrenzt sein, wobei die Grenzen in eins fallen können (Ereignis). Ihm kann daher sowohl das Merkmal + D als auch —D zukommen. Mit diesen vier konzeptuellen Kategorien sind alle Möglichkeiten temporaler Zuordnung zwischen zwei Sachverhalten erfaßt, wenn der Bezug über die Anordnung der Sachverhalte auf der Zeitachse hergestellt wird. Auf der Ebene des Diskurses erscheinen diese Zuordnungsmöglichkeiten in komplexeren zeitlichen Strukturen. Die verschiedenen Varianten zeitlicher Relationen enthalten im Diskurs kohärenz-stiftende Funktion. Auf Diskursebene treten zwei Komponenten hinzu, die in der Betrachtung der Verknüpfungsformen nicht erfaßt werden können und daher eine eigenständige Behandlung temporaler Diskursstrukturen erfordern: - zum einen der Zusammenschluß mehrerer binärer Zeitverhältnisse innerhalb komplexer Diskursblöcke und damit die Möglichkeit der Hierarchisierung zeitlicher Strukturen, - zum anderen die Perspektivierung der Zeitverhältnisse durch das darstellende Subjekt, wodurch die Anbindung an die Zeitachse aufgehoben werden kann. 3.3.3. Temporale Diskursstrukturen Der folgende Überblick über Formen temporaler Diskursorganisation erhebt keineswegs Anspruch auf Vollständigkeit. Auf eine systematische

107

3.3. Temporalität im Diskurs

Behandlung dieser Frage in der Linguistik kann nicht zurückgegriffen werden. Die Zusammenstellung, die in diesem Abschnitt gegeben wird, ist daher als ein erster Schritt zu verstehen, dem die pragmatische Funktion zukommt, geeignete Kategorien für die Analyse der Daten zu liefern. Die zentralen Begriffe für die Bestimmung temporaler Kohärenz sind: die Verankerung (V), der Referenzpunkt (Rp), der Referenzrahmen (Rf), sowie die Referenzverschiebung und der Referenzerhalt.61 Wir erläutern diese Begriffe kurz (vgl. auch 3.2.). Unter Verankerung ist die temporale Einordnung eines Sachverhaltes auf der Zeitachse zu verstehen. Ein Referenzpunkt oder Referenzrahmen ergibt sich dort, wo zwei Sachverhalte a und b in ihren zeitlichen Bestimmungen aufeinander bezogen werden. Ein Rp liegt dann vor, wenn die temporale Referenz von a als sekundärer Orientierungspunkt für die temporale Referenz von b fungiert, t a also zu einer Komponente der temporalen Eigenschaften von b wird, wobei t a von tjj verschieden ist. In diesem Fall findet eine Referenzverschiebung statt. Kommt der temporalen Bestimmung t a die Funktion zu, Referenzrahmen für tj-, zu sein, so dient t a als Referenzzeit für t^. Auch in diesem Fall stellt t a eine Komponente bei der Bestimmung von t^ dar, wobei % in t a zeitlich eingeschlossen sein muß. In diesem Zusammenhang sprechen wir von Referenzerhalt. In beiden Fällen erfolgt die Interpretation der temporalen Bestimmung von b in bezug auf die temporale Bestimmtheit von a. Werden diese diskurs-funktionalen Kategorien mit den vier Grundtypen zeitlicher Zuordnung kombiniert, so ergeben sich folgende Möglichkeiten temporaler Diskursorganisation. 3.3.3.1. Ketten r

a

~ Rp

| verankert

t nach

R

l

p nach

c ~ Rp

l

n

nach

Hier trägt jede Äußerungseinheit den Rp weiter, es folgt Verschiebung auf Verschiebung. 61

Vgl. hierzu bei JAKOBSON ( 1 9 5 7 ) die beiden zentralen Kategorien .shifters' und .connectors'; bei SCHIFFRIN ( 1 9 8 1 ) den Begriff ,temporal switch'; bei KAMP/ROITJRF.R ( 1 9 8 2 ) .advance of reference point'.

108

3. Temporalität

3.3.3.2. Kontraste

Zuordnung (Diskontinuität) Eine kontrastierende Gegenüberstellung verlangt die jeweilige Verankerung beider Elemente a und b, aus der dann die zeitliche Relation zwischen beiden abgeleitet werden kann (vgl. Kap. 4 ,externe Verknüpfung'). 3.3.3.3. Reliefstrukturen62 Unter dem Begriff der Reliefstruktur sollen all jene Verknüpfungsformen zusammengestellt werden, bei denen keine Rp-Verschiebung stattfindet. Dies kann entweder durch den Erhalt einer bereits eingeführten Referenz oder durch ein Heraustreten aus der temporalen Kohärenz überhaupt bewirkt werden. Im Diskurs kann auf diese Weise temporale Mehrdimensionalität eingeführt werden. Auf Grund der spezifischen inhaltlichen Verhältnisse werden die folgenden Kategorien unterschieden.

- Einbettung t

a=

R

f

R>

Die für Element a gültige temporale Bestimmung bleibt als Rf für das Element b erhalten. z.B. „Bin ich heute Mittag gegangen, meine Maschine besetzt."63

- Spezifikation ta = R p / R f = t b In diesem Fall ist b inhaltlich eine nähere Bestimmung zu a, die Zeitreferenz ist damit für beide dieselbe, auch hier handelt es sich um einen Fall des Referenzerhaltes. z. B. „Vor mir ist Auto steht, ich habe da wenig, drei oder vier Meter war das." 62

63

Dieser Begriff wurde von WEINRICH (1964) übernommen, in dessen Abhandlung ihm allerdings eine speziellere Bedeutung zukommt (Unterscheidung in Vordergrund und Hintergrund). Wir verdeutlichen die einzelnen Kategorien an Beispielen aus den Lernersprachen.

3.3. Temporalität im Diskurs

- Subordination a = Rp/Rf

109

-t b

Ein temporales Subordinationsverhältnis liegt dann vor, wenn das Element a ausschließlich die Funktion hat, Rp oder Rf für b zu sein. In diesem Zusammenhang kann man weder von Referenzerhalt noch von Referenzverschiebung sprechen. z.B. „Berlin komm, alles Siemens arbeite." - Übernahme

Zeitliche Sprünge werden in der Regel nicht durch Formen der Kohärenz ausgedrückt, sondern durch Verankerung jedes einzelnen Elements. Eine Ausnahme machen dabei Wiederholungen, bei denen bereits eingeführte Sachverhalte noch einmal aufgegriffen werden, was zugleich die erneute Gültigkeit der beim ersten Auftreten gegebenen Zeitbestimmung impliziert. Auf diese Weise können temporale Kohärenzen über mehrere Außerungseinheiten hinweg hergestellt werden, ohne daß eine erneute Verankerung notwendig wäre. - direkte Rede Die direkte Rede als Zitat stellt einen Sonderfall dar, insofern dabei nicht eine zeitliche Beziehung zwischen Sachverhalten hergestellt wird, sondern eine Verschiebung der zu Grunde liegenden Zeitkoordinaten vorgenommen wird. Der deiktische Orientierungspunkt, die aktuelle Sprechzeit, wird durch eine vorgestellte Sprechzeit ersetzt (vgl. Kap. 3.2.3.1.). It is through combination of deictic and structural changes that the direct quotes have this effect: the narrative frame-work replaces the situation of speaking as the central reference point - becoming the locus for time, place, and person indicators, as well as the arena within which speech acts are performed. (Schiffrin [1981] p. 58)64

Da die direkte Rede keine Verschiebung des Rp innerhalb einer zeitlichen Erzählstruktur bewirkt65, die auf das Zitat folgende Außerungseinheit auf die das Zitat einleitende Äußerungseinheit zu beziehen ist, ist sie auf Diskursebene der Kategorie des Referenzerhalts zuzuordnen. 66 64

65

66

Auf die Rolle der direkten Rede speziell im Zusammenhang mit Lernersprachen sind eingegangen: D I T T M A R (1982), K L E I N (1982). Vgl. hierzu die Begriffe .orientation clause' und .evaluation clause' bei S C H I F F R I N ( 1 9 8 1 ) p. 50. Ein Vergleich mit Untersuchungen des Historischen Präsens (SILVA-CORVAJLAN [ 1 9 8 3 ]

110

3. Temporalität

- Kommentar Unter dem Begriff ,Kommentar' werden diejenigen Diskurselemente zusammengefaßt, die den zeitlichen Rahmen einer Erzählung verlassen. Es handelt sich dabei in der Regel um Einschübe mit modalem Charakter, die den Standpunkt des Sprechers zum Ausdruck bringen. Unter diese Kategorie fallen auch allgemeine Erläuterungen, denen kein spezifischer Zeitwert zuzuordnen ist. Kommentare bewirken einen Bruch der temporalen Kohärenz, sie stellen keine Konstituenten der temporalen Diskursorganisation dar. Kohärenz kann - wie im Falle der direkten Rede - zwischen dem vorausgehenden und dem folgenden Element hergestellt werden. z. B. „Das ist Firma kündigen, aber ich liebe Arbeit, Schwester gesag, das ist bei mir helfen." _____ ____ t a = Rp

-Kommentar(Bruch)

%

Um diese unterschiedlichen Typen temporaler Kohärenz zum Ausdruck zu bringen, enthält die Sprache Mittel, die verschiedenen Ausdruckssystemen zuzuordnen sind. Im folgenden soll ein kurzer Überblick über die für die temporalen Kategorien relevanten Ausdruckssysteme gegeben werden. Der Schwerpunkt der Betrachtungen wird auf die diskurs-pragmatischen Repräsentationsformen gelegt. 3.3.4. Ausdrucksformen Wir gehen im folgenden auf drei Ausdruckssysteme ein.67 - das lexikalische p. 778) legt die Hypothese nahe, daß die direkte Rede und das Historische Präsens in der Standardsprache ähnliche Diskursfunktion besitzen. Wir kommen im Zusammenhang mit den Datenanalysen darauf zurück. 67

V g l . h i e r z u MILLER/JOHNSON-LAIRD ( 1 9 7 6 ) :

„Interpreting the temporal significance of sentences is one of the most complex problems in linguistics. Part of the difficulty is that temporal relations can be expressed in so many ways." ([1976] p. 411). Nach Miller/Johnson-Laird beginnt die eigentliche Schwierigkeit erst dort, wo man sich mit den sprachlichen Ausdrucksformen temporaler Konzepte beschäftigt. „We have seen that the complexity of the time concept lies more in its lexical (and linguistic) field than in its conceptual core." ([1976] p. 463). Vgl. auch C. SMITH (1980), GABBAY/MORAVCSIK (1980), KLEIN (1983), CONTINI-MORAVA (1983).

3.3. Temporalität im Diskurs

111

- das grammatische - das diskurs-pragmatische. Lexikalische und morpho-syntaktische Formen zum Ausdruck des Zeitkonzepts wurden bereits in Abschnitt 3.2. in einigen Punkten behandelt. Außerdem sind sie in vielen Grammatiken ausführlich dargestellt. Wir werden sie deshalb nur kurz erwähnen, die diskurs-pragmatischen Mittel jedoch - wegen ihrer Bedeutung für die Lernersprachen - ausführlicher behandeln. 3.3.4.1. Lexikalische Ausdrucksformen Dazu zählen alle Wörter, die allein oder als Teil einer Konstituente, eine Zeitbestimmung ausdrücken. Dies sind: - Adverbien - deiktische (jetzt, morgen) - absolute (manchmal, montags) - anaphorische (danach, vorher) - Nomina (Stunde, Anfang) - Verben (dauern, enden) - Adjektive (heutig, spätere) - Präpositionen (bis, um) - Konjunktionen (wahrend, als) Diese sprachlichen Formen können grundsätzlich alle in Abschnitt 3.2.2 aufgeführten temporalen Konzepte abdecken. Für den Aufbau temporaler Diskursorganisation lassen sich alle in den Abschnitten 3.3.2. und 3.3.3. genannten Funktionen lexikalisch realisieren: - Verankerung - Referenzverschiebung - Referenzerhalt - Einführung temporaler Reliefstrukturen 3.3.4.2. Grammatische Ausdrucksformen Das Deutsche und das Türkische haben ein reich ausgebildetes verbales Flexionssystem zum Ausdruck temporaler Kategorien (Tempus und Aspekt). Dieses sprachliche Mittel kann jedoch nur bestimmte Diskursfunktionen erfüllen. Die Frage, ob Tempusformen zeitliche Verankerungsfunktion übernehmen können, ist umstritten (vgl. Abschnitt 3.2.3.2.). Geht man davon aus, daß die Tempora den Äußerungen zeitliche Gültigkeitsbereiche zuweisen (deiktische Aufgliederung des Zeitkontinuums), so sind diese im Falle des

112

3. Temporalität

Türkischen und Deutschen sehr unspezifisch. Eine präzise Verankerung von Ereignissen kann durch sie nicht geleistet werden. Die Verschiebung eines Referenzpunktes läßt sich durch Tempuskategorien nicht ausdrükken68, der Erhalt eines Referenzrahmens kann jedoch durch die Tempora markiert werden. Wichtige Diskursfunktion der grammatischen Kategorien ist die Einführung von Reliefstrukturen. Der verbale Aspekt, aber auch die Tempora (z.B. Wechsel zwischen Perfekt und Präsens, vgl. Weinrich [1964] und Wolfson [1982]) können dazu dienen, zwei zeitliche Ebenen im Diskurs von einander zu trennen. Die expliziten sprachlichen Mittel reichen aus, um alle für die Darstellung temporaler Diskursstrukturen wesentlichen Funktionen abzudecken. Es ist jedoch auch möglich, temporale Diskursstrukturen zu vermitteln, ohne daß dabei explizite sprachliche Ausdrucksformen eingesetzt werden. Das Verständnis dieser Strukturen ist auf der Grundlage pragmatischer Ausdrucksmittel möglich. Die pragmatischen Ausdrucksformen sind auch für den Sprachgebrauch eines Standardsprechers von Bedeutung. Doch dort sind sie schwerer bestimmbar, da sie in ein dichtes Netz verschiedener Ausdrucksformen eingebunden sind. Lernersprachen stellen eine empirisch faßbare Vereinfachung dieser komplexen Interaktion dar und erleichtern damit eine Aufgabe, die von Miller/Johnson-Laird als eine der besonderen Schwierigkeiten der Linguistik bestimmt wird. It is little wonder that despite the sophisticated efforts of many linguists there is still no comprehensive account of the English grammar of time. Given the diversity of temporal meaning that any form may carry it is difficult to discern any systematic principle. ([1976] p. 413).

3.3.4.3. Diskurs-pragmatische Ausdrucksformen Auf der Ebene des Diskurses können temporale Konzepte auf zweierlei Weise in die Bedeutungsrepräsentation eingehen, ohne durch lexikalische oder grammatische Ausdrucksformen markiert zu sein. Temporale Kategorien können durch implizite Referenz und durch Diskursorganisationsprinzipien vermittelt werden. Implizite Referenz In die komplexe Konzeptualisierung von Sachverhalten gehen verschiedene Bedeutungskomponenten ein, z.B. Person, Ort, Zeit. Bei der sprachlichen 68

Es gibt einige spezielle Fälle, bei denen auf Grund eines hohen Grades an lexikalischer Kohärenz eine Referenzverschiebung durch Tempora markiert werden kann (vgl. 3.2.3.2.).

3.3. Temporalität im Diskurs

113

Repräsentation brauchen nicht alle Bedeutungskomponenten explizit gemacht zu werden. Teile der gesamten Bedeutungsstruktur können durch Inferenz auf der Grundlage des Gegebenen erschließbar sein. Diese Bedeutungskomponenten können als implizite Informationen betrachtet werden, wie z. B. bestimmte temporale Eigenschaften von Sachverhalten oder lokale Implikationen zeitlicher Angaben (z.B. ,Der Mann lief 10 Minuten'). Für den Aufbau temporaler Diskursstrukturen sind in diesem Zusammenhang die Kategorien des Aspekt I als inhärente temporale Merkmale von großer Bedeutung. So können die Kategorien,Grenze' und,Dauer' in Äußerungen lediglich implizit enthalten sein und dennoch die für die temporale Kohärenz entscheidenden Funktionen der Referenzverschiebung und des Referenzerhaltes erfüllen. Eine weitere Möglichkeit, explizite Referenz zu reduzieren, ist mit der Einbindung einer Äußerung in den sprachlichen Kontext gegeben. Der inhaltliche Zusammenhang, in dem eine bestimmte Äußerung steht, kann ausreichen, um dieser eine temporale Referenz zuzuordnen (vgl. die .Rahmensetzung' bei Erzählungen). Zur Bestimmung temporaler Kohärenzstrukturen kann auch dann auf eine explizite Angabe verzichtet werden, wenn,gemeinsames Wissen' oder die besonderen Eigenschaften der dargestellten Sachverhalte (lexikalische Kohärenz) die Inferenz der Zeitstruktur erlauben. Eine Sonderform dieser Variante impliziter Referenz stellt die ,Konzeptübertragung' dar, bei der Begriffe aus anderen konzeptuellen Bereichen (z.B. Quantifikation, logische Relationen) dazu verwendet werden, Inferenzen über temporale Zusammenhänge anzuleiten. Bei der Analyse der Lernersprachen werden wir ausführlich auf diese Formen temporaler Referenz eingehen. Diskursorganisationsprinzipien Die Notwendigkeit, die Bedeutungselemente in einer linearen Abfolge zu organisieren (vgl. Kap. 2.3.2.), hat besondere Implikationen für die Vermittlung temporaler Kohärenz im Diskurs. Die zwei wesentlichen Prinzipien, die durch die lineare Struktur der Sprache gegeben sind, Nähe und Progression, können in bezug auf temporale Organisation bedeutungsvermittelnde Funktionen übernehmen. Auf Grund dieser Prinzipien kann die Anordnung der Äußerung im Diskurs zum Bedeutungsträger temporaler Strukturen werden. Wir stellen zunächst einige dieser Diskursorganisationsprinzipien in Form von Untersuchungshypothesen dar.69 Eine ausführliche Behandlung dieser 69

Die verschiedenen Anordnungsprinzipien werden an Beispielen aus den Lernersprachen verdeutlicht.

114

3. Temporaütat

Form der pragmatischen Zeitreferenz wird im Rahmen der Datenanalyse erfolgen. - Die Abfolge der Äußerungen im Diskurs spiegelt die reale Geschehensfolge wider (chronologische Abbildung). Dieses Prinzip ist bereits verschiedentlich beschrieben worden (vgl. Miller/Johnson-Laird [1976], Klein [1982, 1984], Dittmar [1981], Levinson [1983]). z.B. „Balkon - Unfall - Krankenhaus - Operation" nach Rp

nach Rp

nach Rp

Der progressive Bedeutungsaufbau, bei dem eine Äußerungseinheit ÄE2 in bezug auf eine Äußerungseinheit ÄEj zu interpretieren ist, erlaubt es, ein Spezifikationsverhältnis durch die Anordnung der Elemente auszudrücken. Für den Aufbau temporaler Kohärenz bedeutet dies, daß zeitliche Referenzpunkte oder Referenzrahmen der Äußerung vorangestellt werden, deren zeitlichen Gültigkeitsbereich sie festlegen (voranschreitende Qualifizierung). z. B. „Berlin komm, alles gesund." RPSubordination Die Wiederholung eines Elements, das weiter als eine Äußerungseinheit im Diskurs zurückliegt, steht sowohl ,im Gegensatz' zum Prinzip der chronologischen Abbildung als auch zum Prinzip der voranschreitenden Qualifikation. Die Aufhebung dieser Prinzipien kann als markierte Form ihrerseits zum Ausdruck bestimmter Kohärenzstrukturen dienen. Es können dadurch Kontinuitätsbrüche markiert werden, die den Diskurs in ,thematische Blöcke' unterteilen, bzw. inhaltlich hierarchisch strukturierte Spezifikationsverhältnisse angeben. Diese Darstellungsform wird im folgenden als ,diskursive Klammer' bezeichnet, z. B. „ Ganz gute arbeiten Rf sitzen Platz I Hände arbeiten j kontrollieren arbeiten | ganz gute arbeiten." ! Eine weitere Möglichkeit, temporale Kohärenz, genauer gesagt, den Referenzerhalt anzugeben, ist mit dem Mittel der Ellipse gegeben. Da sich der Diskurs als progressiver Aufbau kohärenter Bedeutungsstrukturen

3.3. Temporalität im Diskurs

115

darstellt, kann das Fehlen einer inhaltlich obligatorischen Angabe, wie Personen- oder Zeitreferenz, anzeigen, daß die vorhergehende Referenzangabe beizubehalten ist. Auslassungen können dazu dienen, den Diskurs in referentielle Blöcke zu unterteilen, die den Erhalt der temporalen Referenz als einer Komponente implizieren.70 z. B. „Ich normal auch Taxi fahren Rf S Geld nicht genug I 0S Werkstatt auch bißchen | 0S ich d e n k e n . . R p S In den folgenden Analysen lernersprachlicher Systeme wird es darum gehen, die expliziten Ausdrucksmittel zur temporalen Referenz zu bestimmen und den Gebrauch der verschiedenen Ausdruckssysteme zur Repräsentation temporaler Diskursorganisation zu untersuchen.

70

Vgl. hierzu SCHIFFRIN ( 1 9 8 1 ) :

„Thus using the present tense in narrative to describe a cluster of temporally ordered past events is another way in which the present tense is used to refer to past events." (p. 57). (Hervorhebung von der Verf.). Auch SILVA-CORVALAN ( 1 9 8 3 ) beobachtet den Zusammenhang von Subjekt und Zeitreferenz „ . . . shows that switching (of tense) is favored by full as opposed to subjecdess clauses." ([1983] p. 773). vgl. auch D I T T M A R (1981), KLEIN (1983).

4. Temporale Referenz im Türkischen 4.1. Stellenwert innerhalb der Arbeit Wie bereits in den allgemeinen Überlegungen zum L2-Erwerb ausgeführt, gehen wir davon aus, daß die Muttersprache den Lernprozeß sowohl konzeptuell als auch strukturell beeinflußt. Die besondere Auswahl der in einer Sprache kodierten Konzepte und deren sprachspezifische Ausdrucksform bilden für den Sprecher einen Ausgangspunkt, von dem aus er Kriterien für die selektive Verarbeitung des L2-Materials gewinnt. Erst im Laufe des Lernprozesses wird er sich - zumindest teilweise - von diesem Bezugsrahmen lösen, neue Konzepte und Strukturen aufnehmen. Um die Rolle der Ausgangssprache bestimmen zu können, ist es deshalb notwendig, der Analyse der Lernersprachen eine Analyse der in der Ausgangssprache bereitgestellten Ausdrucksmittel voranzustellen. Für die vorliegende Arbeit ergibt sich damit die Aufgabe, die Gestaltung des Konzepts ,Temporalität' im Türkischen zu beschreiben. Dabei kann es hier nicht um eine erschöpfende Darstellung dieser zentralen Kategorie gehen. Dies erforderte bei dem augenblicklichen Stand turkologischer Forschungen umfangreiche Studien, die über den Rahmen dieser Arbeit weit hinausgingen. Es geht im folgenden darum, die Punkte herauszugreifen, die für den L2-Erwerb von Bedeutung sind. Dazu gehört an erster Stelle die Frage, welche temporalen Konzepte im Türkischen ausgedrückt und in welcher Form - lexikalisch oder grammatisch - sie realisiert werden. Dem Kontrast zwischen den beiden Sprachen Türkisch - Deutsch gilt dabei besondere Aufmerksamkeit.1

1

Das deutsche System zur temporalen Referenz wird darüber hinaus nicht eigens behandelt. Es kann davon ausgegangen werden, daß der Leser mit den wesentlichen Kategorien des deutschen Temporalsystems vertraut ist. Es handelt sich dabei um einen Gegenstand, der in der Linguistik ausführlich beschrieben und im Rahmen unterschiedlicher theoretischer Ansätze analysiert ist. Ein kurzer Überblick könnte den Stand der Diskussion unmöglich nachzeichnen und bliebe notwendigerweise unbefriedigend. Wir werden uns darauf beschränken, im Zusammenhang mit den Betrachtungen zum Türkischen wesentliche Kontraste zwischen den beiden Sprachen herauszustellen. Zu Besonderheiten des Berliner Dialekts

4.2. Forschungsstand

117

Darüber hinaus werden kurz einige wesentliche Prinzipien der türkischen Syntax dargestellt, wobei das Problem der Kontextabhängigkeit und damit die pragmatische Dimension miteinbezogen wird. Die Auswahl beruht auch hier auf Hypothesen über die Bedeutung unterschiedlicher linguistischer Phänomene für den L2-Erwerb.

4.2. Forschungsstand Eine systematische, auf Konzepte bezogene Darstellung des Türkischen ist auch deshalb nicht zu leisten, weil bisher dazu kaum Untersuchungen vorliegen. Der größte Teil sprachwissenschaftlicher Forschung zum Türkischen ist im doppelten Sinne als traditionell zu kennzeichnen: Zum einen, was den Gegenstand betrifft, denn die Studien beschäftigen sich vorwiegend mit dem Osmanisch-Türkischen, der bis zur Reform Atatürks gebräuchlichen Hochsprache, zum anderen handelt es sich bei den meisten Beschreibungen um traditionelle Grammatiken, die eine systematische Darstellung grammatischer Strukturen liefern. Semantische Kategorien erscheinen hierbei nur in Abhängigkeit von grammatischen Mustern, und es finden sich allenfalls sehr allgemeine Angaben zu Bedeutungsstrukturen sprachlicher Formen. Im folgenden möchte ich nur die Arbeiten erwähnen, die für meine Fragestellung wichtige Bereiche behandeln. Für einen umfassenden Überblick über den Stand der turkologischen Sprachwissenschaft sei auf das Buch von G. Hazai verwiesen ,Kleine Einführung in die Studien der türkischen Sprache' (1973). In den 60er Jahren geriet das Türkische in den Blickpunkt der amerikanischen Linguistik. Es entstand eine Anzahl Synchronbeschreibungen des Türkischen, die auf unterschiedlichen Grammatikmodellen basieren. Dem transformationellen Ansatz verpflichtet sind die Arbeiten von Lees (1961), und Meskill (1965); von Swift (1963) wurde eine ,Reference Grammar' des Türkischen vorgelegt. Ohne ein explizites sprachtheoretisches Modell vorauszusetzen, stellt Lewis (1967) die türkische Syntax anhand der traditionellen lateinischen Kategorien dar, wie im übrigen eine Reihe zu Lehrzwek-

vgl. LASCH (1967). (Vgl. zur Diskussion der temporalen Referenz im Deutschen: zwei B i b l i o g r a p h i e n : BÄUERLE [ 1 9 7 7 ] , BRONS-ALBERT [ 1 9 7 8 ] , des w e i t e r e n : WUNDERLICH [ 1 9 7 0 ] , H . KLEIN [ 1 9 7 4 ] , DITTMANN [ 1 9 7 6 ] , BÄUERLE [ 1 9 7 9 ] , GRUNDZÜGE W . KLEIN [ 1 9 8 2 ] , SACKER [ 1 9 8 3 ] ) .

[1981],

118

4. Temporale Referenz im Türkischen

ken entwickelte Grammatiken, z.B. Rühl (1970), Langenscheidt (1972), Underhill (1976). 2 Neben diesen umfassenden Grammatiken ist eine Reihe von Einzelstudien für die vorliegende Arbeit von Bedeutung. Den wichtigsten Beitrag zur Beschreibung des türkischen Aspekt- und Tempussystems hat L. Johanson in seinem Buch ,Aspekt im Türkischen' (1971) geleistet. Nicht nur thematisch, sondern auch methodisch kann er als Grundlage einer konzeptbezogenen Betrachtungsweise herangezogen werden. Johanson geht von einem funktionalen Ansatz aus, der nicht nur semantische Kategorien, sondern darüber hinaus auch Diskursfunktionen und pragmatische Komponenten miteinbezieht. Der Grund, über das ,supra-sentence-level' (Johanson [1975] p. 104) hinauszugehen, liegt für Johanson in der unbefriedigenden Behandlung des Türkischen, als einer typologisch der ural-altaischen Sprachgruppe zugehörigen Sprache, in den traditionellen Kategorien der indoeuropäischen Syntax. Ein Sprachvergleich ist seiner Meinung nach nur anhand funktionaler Kategorien möglich: To reveal such common characteristics, it is, of course, necessary to penetrate the superficial structure and to descend to underlying functional patterns. (Johanson [1975] p. 107).

Die ,funktionalen Muster' selbst sind wiederum auf ,propositionale' Kategorien zurückzuführen: . . . it forces us to transgress the conventional [sentence] concept and take up questions of propositional connections at a higher level. (Johanson [1975] p. 118).

Sicherlich stellen Johansons Arbeiten nur einen ersten Schritt in diese Richtung dar - wie er selbst betont. Aber es ist der von ihm gewählte bedeutungs-orientierte Ansatz, der, da er über die meisten turkologischen Untersuchungen hinausgeht, für unsere Betrachtungen besonders wertvoll ist. Eine zweite Studie zum türkischen Tempus/Aspekt-System wurde von F. Yava§ durchgeführt (1980,1982). Sie geht von den Verbformen aus, um dann deren Bedeutung und Verwendung genauer zu bestimmen. Dabei legt sie das von Anderson entwickelte Konzept einer ,lokalistischen Zeittheorie' zu Grunde. Das Ziel ihrer Untersuchungen formuliert sie folgendermaßen: Throughout the study my objective is to characterize the meaning of the matters in question in terms of a limited number of semantic properties . . . Rather than listing the various

2

Im Interesse einer möglichst präzisen Beschreibung der ausgewählten Aspekte ist es zweckmäßig, die z.T. unterschiedlichen Standpunkte der aufgeführten Werke heranzuziehen. Ausgangspunkt unserer Betrachtungen ist dabei die Grammatik von LEWIS.

4.2. Forschungsstand

119

functions of a given expression... I strive to give a unified semantic account whenever possible, and analyze then the different uses in terms of pragmatics. (Yava? [1980] p. 6/7).

Yava§' differenzierte Analyse, in der semantische und pragmatische Kategorien des Tempus/Aspekt-Systems berücksichtigt werden, ist im Moment einzigartig im Bereich der Turkologie. Die folgenden Ausführungen stützen sich deshalb wesentlich auf diese Untersuchung. Eine sehr interessante Detailstudie zu Bedeutung und Gebrauch der türkischen Vergangenheitsformen ,-di' und ,-mi§', wurde von Slobin/Aksu (1982) durchgeführt. Auch sie gehen von einem funktionalen Ansatz aus, um so die vielfältigen Bedeutungen dieser Formen auf Kontextfaktoren und den jeweiligen Erfahrungs- und Wissenshintergrund des Sprechers zurückführen zu können. Ihre Ergebnisse sind besonders wichtig, da sie dazu beitragen, die der türkischen Sprache zu Grunde liegenden Konzeptualisierungen - zumindest in einem begrenzten Bereich - transparent zu machen. Soweit wurden Arbeiten vorgestellt, in denen neben einer rein strukturellen Beschreibung auch semantische und pragmatische Aspekte miteinbezogen werden. Darüber hinaus gibt es jedoch eine Anzahl von Untersuchungen, die einem formalen Ansatz verpflichtet sind und deshalb für die vorliegende Arbeit nur bedingt brauchbar sind. Hier sind zunächst die kontrastiven Darstellungen Türkisch-Englisch von Sebüktekin (1971) und Kocaman (1976) zu nennen. Während Sebüktekin sich auf eine Gegenüberstellung von türkischen Morphemen und ihren englischen Ubersetzungen beschränkt (vgl. die Kritik bei Johanson [1975], Hazai [1978]), versucht Kocaman in seinem Vergleich englischer und türkischer Tempusformen den Gebrauch der jeweiligen Formen miteinzubeziehen. Sein methodisches Vorgehen ist jedoch ebenso problematisch wie das Sebüktekins: Er vergleicht die beiden Sprachen auf der Ebene der Verbformen; ein tertium comparationis, das nur aus der zugrundeliegenden Bedeutung entwickelt werden kann, fehlt in diesem Vergleich. Folglich bleibt es bei einer Gegenüberstellung der jeweiligen Formen, ohne daß ein übergeordneter Zusammenhang zwischen den beiden Sprachsystemen hergestellt werden könnte. Die Beschränkung auf,Kernbedeutungen' ist eine Konsequenz dieses Ansatzes, der vom konkreten Gebrauch der jeweiligen Formen abstrahiert. The primary concern will be with obligatory or representative uses, rather than with optional or facultative uses. (Kocaman [1976] p. 9).

Auf den eingeschränkten Aussagewert solcher form-orientierten Analysen wurde bereits an anderer Stelle ausführlich eingegangen. Neben den bisher genannten Arbeiten werden noch einige weitere Untersuchungen herange-

120

4. Temporale Referenz im Türkischen

zogen, die sich mit Detailproblemen der türkischen Syntax befassen, wie z.B. Mundy (1955), Tietze (1959), Ba§kan (1968), Erguvanli (1979), Götz (1982). Zusammenfassend kann man sagen, daß das Türkische nur in ersten Ansätzen unter Gesichtspunkten der neueren linguistischen Forschung behandelt wurde. Systematische Analysen diskursiver Merkmale, z.B. Erzählstrukturen, Textkohärenz, Kontextabhängigkeit, liegen nicht vor. Auch die für die Frage des Spracherwerbs notwendige Unterscheidung zwischen gesprochener und geschriebener Sprache bleibt weitgehend unberücksichtigt. Die folgenden Ausführungen zu diesen Bereichen können deshalb nur den Charakter von Hypothesen haben, deren Aufgabe es auch sein soll, auf offene Probleme zu verweisen. Vielleicht lassen sich daraus auch Anregungen für weitere Untersuchungen auf dem Gebiete der Turkologie gewinnen. Es sei hier noch einmal an die Funktion erinnert, die der Abschnitt über das Türkische im Rahmen dieser Arbeit erfüllen soll. Es geht darum, eine Folie zu entwerfen, die - angewandt auf das L2-Produkt türkischer Sprecher - eine Feststellung muttersprachlicher Einflüsse erlaubt. Dabei erscheint es mir notwendig, neben der Darstellung des gewählten Konzepts Temporalität kurz auf einige allgemeine Prinzipien der türkischen Syntax einzugehen. Von besonderer Bedeutung sind dabei die Gesetzmäßigkeiten der Wortstellung, denn die Reihenfolge der Satzglieder ist oftmals das einzige syntaktische Mittel, das L2-Sprechern zur Verfügung steht.

4.3. Einige Prinzipien der türkischen Syntax

4.3.1. Wortstellung Die Bestimmung von Wortstellungsregularitäten ist nach wie vor eines der umstrittenen Gebiete der Linguistik (vgl. Keenan/Comrie [1977], Vennemann [1976], Hawkins [1983]). Dabei geht es im Kern um die Frage, ob syntaktische oder funktionale Kategorien einer Systematik zugrundegelegt werden sollen und in welchem Verhältnis Syntax und Semantik in bezug auf die Wortstellung zu bestimmen sind. Ohne auf diese Diskussion eingehen zu können, wird im folgenden eine Kombination beider Beschreibungsmodelle zu Grunde gelegt. So werden sowohl syntaktisch motivierte als auch funktional-motivierte Wortstellungsregeln des Türkischen in einigen allgemeinen Prinzipien zusammengefaßt.

4.3. Einige Prinzipien der türkischen Syntax

121

Die allgemeine, unmarkierte Wortstellung im Türkischen ist durch die strikte Reihenfolge ,Operator - Operand' gekennzeichnet. Türkisch ist eine postpositionale Verbend-Sprache, in der Attribute, Adverbien, Objekte typischerweise ihren Bezugsgrößen vorangehen.3 Für komplexere Wortgruppen gilt konsequenterweise das, was Mundy ,the system of preceding qualification' nennt: This principle of preceding qualifications underlies every relationship and syntactical combination, from the simple to the most complex. (Mundy [1955] p. 281).

Komplexere Konstellationen unterliegen folgendem Strukturprinzip: (A [B (CD)]). z.B.(Annemin (yeni [sa? bigimi) ]) Mutter (Poss.) neu Haar Schnitt Mutters neuer Haarschnitt. Dies wird als Prinzip der voranschreitenden Qualifizierung bezeichnet. Als eine Sprache mit voll entwickelter Kasusmorphologie erlaubt das Türkische ein relativ hohes Maß an Wortstellungs- Variation.'' Dieses Prinzip besagt, daß es keine syntaktisch notwendige Reihenfolge gibt, da prinzipiell jedes Satzglied morphologisch in seiner jeweiligen Funktion disambiguiert werden kann. Die Wortstellungsregularitäten basieren vielmehr auf semantisch pragmatischen Kategorien. There is a basic word order in Turkish and that is SOV, however such sentences are rather infrequent, that is, in most cases there is either case marking on one of the NPs or the NPs differ in their semantic features, which then distinguishes their grammatical role. Therefore, once the grammatical roles of the NPs are made transparent, there is then grounds for word order variation. It is in this respect, then, that Turkish fits in the Pragmatic Word Order Type (Thompson [1978]), where the linear ordering of elements and their variation serve pragmatic purposes. (Erguvanli [1979] p. 8).

Wortstellungs- Variation ist im Hinblick auf drei funktional markierte Positionen im Satz zu bestimmen. i) Die am stärksten markierte Position im Satz ist die unmittelbar vor dem Verb. Sie trägt den Fokus einer Äußerung und wird deswegen in der Regel von dem Element eingenommen, das am meisten neue Information enthält. Die dominante Rolle wird durch das Intonationsmuster unterstri-

3

Damit ergibt sich als unmarkierte Reihenfolge im Satz: 1) Subjekt 2) temporaler Ausdruck 3) lokaler Ausdruck 4) indirektes Objekt 6) modaler Ausdruck 7) Verb. (vgl. LEWIS [1967] p. 2 4 0 ) .

4

Vgl. KEENAN ( 1 9 7 8 ) .

122

4. Temporale Referenz im Türkischen

chen, indem der präverbalen Position grundsätzlich die stärkste Betonung im Satz zukommt. 5 Im unmarkierten Satz wird die präverbale Position typischerweise mit einer indefiniten NP besetzt, die semantisch der Funktion des fokussierten Elements als wichtigstem Informationsträger entspricht. Im markierten Satz, in dem eine definite NP in unmittelbar präverbaler Position steht, kommt dieser auf Grund der Wortstellung eine kontrastive Hervorhebung zu. ii) Die Position am Satzanfang erfüllt die Funktion einer Satz- Topik. Dabei sind in bezug auf den Diskursaufbau zwei Formen der Topikalisierung zu unterscheiden. In dem einen Fall wird bereits bekannte Information aufgegriffen, die sich sowohl auf den vorhergehenden Diskurs als auch auf als bekannt unterstelltes allgemeines Wissen beziehen kann. Die entsprechende NP ist dann notwendigerweise bestimmt. In dem anderen Fall enthält das Topikelement Informationen, die als Hintergrund für die Interpretation der folgenden Äußerungsteile zu verstehen sind. iii) In Abweichung von der unmarkierten Wortstellung SOV kann die Stelle nach dem Verb mit einer Zusatzinformation besetzt werden (,Sentence-plus', vgl. Mundy [1955] p. 303). Bei dem postverbalen Element kann es sich nur um eine Ergänzung oder Spezifikation handeln, wodurch die Interpretationsbedingungen des vorangehenden Satzteiles nicht geändert werden. Dieses Element trägt niemals die Betonung, wird nicht von indefiniten Ausdrücken und Fragekonstituenten repräsentiert. Auf der Diskursebene können postverbale, ,defokussierte' Informationen nicht die Funktion übernehmen, eine Handlung voranzutreiben. Erguvanli charakterisiert die Diskursfunktion postverbaler Satzteile als ,backgrounding'. Background information (represented in the post-predicate elements in Turkish) is material that is supplementory to the communication of a linguistic expression; the elements termed background may not be dispensible for syntactic reasons or for reasons of establishing a contact between foreground and background. (Erguvanli [1979] p. 72).

Diese Form der Abweichung von der Grundwortstellung SOV ist in gesprochener Sprache sehr gebräuchlich. Unter funktionaler Perspektive ergibt sich damit folgendes Wortstellungsmuster für das Türkische:

5

V g l . z u m Begriff des , S a t z f o k u s ' : W . KLEIN/A. V. STECHOW ( 1 9 8 2 ) .

123

4.3. Einige Prinzipien der türkischen Syntax

Topik + définit (präsupponiert) — Betonung Diskursfunktionen: anaphorisch

X

Fokus — définit

Verb Ergänzung

+ Betonung

+ définit (präsupponiert) — Betonung

Handlungsträger

anaphorisch

Mit Blick auf die L2-Äußerungen türkischer Sprecher soll eine Bemerkung über den Aufbau komplexer Zusammenhänge im Diskurs hinzugefügt werden. Türkisch ist eine Sprache, deren syntaktischer Aufbau strikt dem Prinzip der ,chronologischen Abbildung' unterliegt. Einbettungen können deshalb keine Informationen über Ereignisse enthalten, die zeitlich dem Ereignis des Hauptsatzes folgen. Sie können auch nicht die Funktion übernehmen, den Handlungsablauf voranzutreiben. Johanson formuliert dieses Prinzip in einer sehr absoluten Form: But in the case of the linear successivity there are no margins and no room for compromises. It is a strong factor which necessitates reorganization on the surface where the overt order of elements is not in accordance with the order of events. (Johanson [1975] p. 117).

Von diesem Prinzip kann die Satzkonstellation mit postverbalen Elementen abweichen. Der temporale Referenzbereich der Ergänzung kann zeitlich vor dem Referenzbereich des Hauptsatzes liegen. z.B. Ama yine bir sarsmti olacak tabii gelince Aber es wird natürlich wieder ein Schock sein, wenn der zurückkommt. Die Aufgabe des Prinzips der,chronologischen Abbildung' ist jedoch nur in Fällen möglich, in denen die Zusatzinformation als präsupponiert angesehen wird, und insofern kein Zweifel über die temporale Relation der Elemente besteht. Es handelt sich hier um eine ,diskursive Klammer', die die zentrale Information in einen InterpretationsraAwe« einbettet. Eine bereits gegebene Information wird am Ende einer Äußerungseinheit noch einmal wiederholt. In den Analysen der L2-Daten wird deutlich, daß dieses Prinzip der ,diskursiven Klammer' eine Rolle für die Diskursorganisation spielt. Abschließend lassen sich folgende wesentliche Merkmale der Wortstellung im Türkischen festhalten: Die Positionen im Satz sind im Hinblick auf funktional-pragmatische Kategorien definiert. Sie können von Elementen unterschiedlicher syntaktischer Form besetzt werden. Wortstellungsbeschränkungen ergeben sich aus

124

4. Temporale Referenz im Türkischen

dem ,Prinzip der voranschreitenden Qualifizierung', dem ,Prinzip der semantischen Nähe' und dem ,Prinzip der chronologischen Abbildung'. 4.3.2. Morphologische Aspekte Das Türkische ist eine agglutinierende Sprache, in der derivationale und syntaktische Verhältnisse durch Affixsysteme ausgedrückt werden. Im Einklang mit dem,Prinzip der voranschreitenden Qualifizierung' werden diese Beziehungen ausschließlich am Wortende markiert. Das Türkische kennt keine Präfixe. Die Menge der syntaktischen Funktionen, die durch morphologische Mittel ausgedrückt werden, schließt beinahe alle syntaktischen Verhältnisse ein, die im Deutschen oder Englischen durch analytische Formen realisiert werden. Es ist das Suffixsystem - „a system of great rigiditiy and regularity" (Mundy [1955] p. 281) - das das Türkische fremd und schwierig erscheinen läßt. Für einen Türkisch-Lerner erhält die Sprache dadurch einen sehr kompakten, konstruierten' Charakter. Folgende Prinzipien gelten für die Verwendung von Affixen sowohl in Nominal- als auch Verbalphrasen: a) Sie treten immer als Suffixe an das Ende des Wortstammes. b) Innerhalb eines Wortes kommt jedem Affix eine bestimmte Funktion zu. Funktionskopplung in einer Form ist nicht möglich. Es handelt sich um ein strikt additives System. c) Die Reihenfolge der Verknüpfung von Affixen ist regelhaft. Modifikationen sind ausgeschlossen. Umstellungen von Tempus- und Aspektsuffixen z. B. führen zu Bedeutungsveränderungen und sind als solche wiederum kodifiziert. Zur Verdeutlichung werden die wichtigsten morphologischen Kategorien der Verbal- und Nominalphrase kurz zusammengefaßt: a) Verbalphrase Elf unterschiedliche Konzepte können in der finiten Verbform repräsentiert werden. reflexiv (-un/n) reziprok (-U5) Kausativ (-tur) Passiv (-ul) Negation (me/ma) modal ! Tempus > mehrere Formen Aspekt J1

4.3. Einige Prinzipien der türkischen Syntax

125

konditional (sa, se) Frage (mi, mi, mu, mü) Person (mehrere Formen) z.B. ,I§imize ku§u§turulamiyorduysalar.' ku§ - u§ - tur - ul - a ymi - yor - du-> Stamm rez. kaus. pass. Modal ^mi di ' neg. Asp. Temp. - y - sa - lar - y - sa - lar Kond. Pers.

(Wenn sie nicht für unseren Dienst verfügbar gemacht worden sind.) b) Nominalphrase Die Deklination des türkischen Nomens umfaßt sechs Fälle. Zu den auch im Deutschen existierenden vier Kasus kommen Ablativ und Lokativ hinzu. Unter den Gesichtspunkten des Sprachkontrastes ist hierzu folgendes anzumerken: - Bestimmtheit bzw. Unbestimmtheit des Objektes wird durch das Kasussystem markiert. Das unbestimmte Objekt steht im Nominativ. z. B. elma istiyorum Nom.

ich möchte Äpfel Das bestimmte Objekt steht im Akkusativ. z.B.elmayi istiyorum Akk.

Ich möchte den Apfel - Der Genitiv ist durch die Possessiv-Konstruktion ein häufig verwendeter Kasus. Possessivrelationen zwischen zwei Nomina werden durch Markierung an beiden Nomina ausgedrückt. z.B.biraderin evz Genitiv poss., 3. Pers.

das Haus des Bruders - Der Lokativ repräsentiert das Konzept des ,sich an einem Ort-, in einer Situation - Befindens', sowohl für lokale, als auch für temporale und Eigenschaftsbestimmungen. im Haus z. B. evde eylülde im September sihhat-te in Gesundheit = gesund - Das dem Ablativ zu Grunde liegende allgemeine Konzept könnte als ,sich von einem bestimmten Punkt in eine Richtung bewegen' beschrieben

126

4. Temporale Referenz im Türkischen

werden. Wie im Falle des Lokativs kann das Verhältnis lokaler, temporaler, abstrakter (logischer) Natur sein, z. B. evden vom Haus ak§amdan (sonra) seit dem Abend agliktan bitik erschöpft von Hunger Insgesamt kann man sagen, daß im Türkischen die Kasus im Gesamtsystem der Grammatik nicht in dem Maß ,syntaktisiertc sind wie im Deutschen. Die semantische Funktion ist das Kriterium für den Gebrauch der unterschiedlichen Kasus, syntaktisch festgelegte Rektionsmuster, wie sie im Deutschen beispielsweise durch Verben, Präpositionen vorgegeben sein können, spielen im Türkischen kaum eine Rolle. Die Morphologie des Nomens umfaßt außer den Deklinationssuffixen Suffixe für Pluralisierung und Possessivität. Auf die Derivationsmorphologie soll im Rahmen dieser Arbeit nicht eingegangen werden.6 4.3.3. Komplexe Satzmuster Die besonderen Formen syntaktischer Einbettung werden im folgenden Kapitel im Hinblick auf temporale Strukturen genauer behandelt. An dieser Stelle sollen wiederum einige wesentliche Kontraste zwischen dem Deutschen und dem Türkischen bewußt gemacht werden. Very correctly K. H. Meyer points out that Subordination in its Indo-European form is totally alien to Turkish syntax. (Johanson [1975] p. 104).

Johanson argumentiert, daß selbst Formen, die äußerlich den deutschen Subordinationsmustern zu entsprechen scheinen, grundsätzlich davon zu unterscheiden sind (vgl. Johanson [1975] p. 105/106).7 6

Dabei ist auf einen weiteren wichtigen Unterschied zwischen dem Deutschen und dem Türkischen zu verweisen. Die Nominalmorphologie ist in ihrer Anwendung nicht auf die Wortklasse der Nomina beschränkt. Sie kann prinzipiell auf jedes Wort oder jede Wortgruppe angewendet werden und damit dem jeweiligen grammatischen Element Nominalcharakter geben. Wenn Tietze daher sagt, „die Turksprachen unterscheiden im allgemeinen nur zwei Wortklassen, die Verben und die Nomen, oder genauer gesagt, das Verbum und das Nicht-verbum, denn die letztere Klasse läßt sich nur negativ definieren", (TIETZE [1959] p. 115), so widerspricht dieser Definition die Tatsache, daß die Nominalmorphologie auf jede Wortklasse angewendet werden kann. Man sollte also eher zwischen nominalen und nicht-nominalen Kategorien unterscheiden.

7

Es ist deshalb problematisch die Begriffe Subordination', ,Parataxe', ,Hypotaxe' aus der deutschen Grammatik auf das Türkische zu übertragen. Für das Deutsche sind diese Termini

4.3. Einige Prinzipien der türkischen Syntax

127

But to many Turkologists it is perfectly clear that there are grammatically dependent propositions in almost the same sentence - hierarchic sense as there are Indo-European subordinate clauses. To reveal such common characteristics it is of course necessary to penetrate the superficial structure and to descend to underlying functional patterns. (Johanson [1975] p. 107).

Eine funktionale Analyse ergibt, daß sich das Türkische und das Deutsche im Bereich des Zeitkonzeptes durch verschiedene Formalisierungen unterscheiden. Das besondere Merkmal der türkischen Hypotaxe liegt in der Infinitheit des untergeordneten Verbs. Das Verb erscheint dabei in einer nominalisierten Form (Gerund, Partizip) und weist keine Tempus- und im Falle des Gerunds auch keine Personalmarkierung auf. Bei der Umwandlung von zwei Hauptsätzen in eine hypotaktische Konstruktion wird dagegen die Rektion und die Wortstellung keinen besonderen Beschränkungen unterworfen. Parataktische Konstruktionen sind in gesprochenem Türkisch die gebräuchlichste Form der Verknüpfung. Turkish has a strong preference for co-ordination by means of high intonation without any formal grammatical needs. (Mundy [1955] p. 297).

Dabei müssen die beiden syntaktisch unabhängigen Äußerungen nicht unbedingt aufeinander folgen. Eine Möglichkeit, komplexere Äußerungen aus zwei selbständigen Sätzen zu formen, liegt in einer Form der Einschachtelung, wobei ein Satz in einen anderen eingeschoben wird. Außer dem Intonationsmuster ändert sich nichts an der Syntax der beiden Sätze. Bei der Bestimmung des Verhältnisses zwischen den beiden Äußerungsteilen können zwei Gruppen unterschieden werden. - Der eingeschobene Satz enthält Hintergrundwissen für die Interpretation des umschließenden Satzes. It supplies a fact required to be known before the statement can be continued. (Mundy [1955] p. 299).

z.B.Ahmet, 50k si^akti Ahmet, es war sehr warm,

terlemeye ba§ladi fing an zu schwitzen

anhand syntaktischer Kriterien definiert - Konjunktionen, Wortstellung im Nebensatz -, die im Türkischen nicht gegeben sind. In der vorliegenden Darstellung werden die Begriffe in folgender Bedeutung verwendet: Als ,Parataxe/Hypotaxe' werden die Formen bezeichnet, die auf Grund syntaktischer Kriterien als unter- bzw. nebengeordnete Konstruktionen definiert werden können. Die Begriffe ,Sub- bzw. Koordination' kennzeichnen das inhaltlich funktionale Verhältnis zwischen zwei Äußerungen.

128

4. Temporale Referenz im Türkischen

- Der eingeschlossene Satz enthält eine Spezifikation im Sinne der berichteten Rede, bzw. Ausführung von Gedanken (vgl. Tietze [1959, 1962]). z.B.Ahmet, a^liktan ölüyorum, sandi. Ahmet, ich sterbe vor Hunger, glaubte. Diese Form der funktionalen Verknüpfung zweier Informationen, die syntaktisch als parataktisch, inhaltlich jedoch als Subordination zu bestimmen ist, spielt eine wichtige Rolle im Türkischen. Auch hier handelt es sich um eine Form der Klammerbildung, die jedoch auf die Satzebene beschränkt ist. Es wird sich zeigen, daß dieses Konstruktionsmuster in der Organisation lernersprachlicher Äußerungen von großer Bedeutung ist. 4.4. Ausdruck temporaler Referenz 4.4.1. Allgemeine Konzepte Wie im Deutschen so findet sich auch im Türkischen keine eins-zu-einsUbereinstimmung zwischen temporalen Konzepten und ihren Ausdrucksformen. Bestimmte zeitliche Kategorien können in verschiedener Weise sprachlich gefaßt werden, bestimmte linguistische Formen können, in Abhängigkeit von ihrem syntaktischen und inhaltlichen Kontext, unterschiedliche Funktionen wahrnehmen. Im folgenden wird deshalb zunächst ein Uberblick über die relevanten temporalen Konzepte gegeben, an den sich die Darstellung der linguistischen Ausdrucksformen anschließt. 4.4.1.1. Temporale Einordnung Wesentliche Gemeinsamkeit zwischen Sprechern des Türkischen und Deutschen ist die Vorstellung der Zeit als einer linearen, gerichteten Größe. Sie erscheint als Maßstab von Handlungen und Ereignissen, diese werden in bezug auf ein Jetzt' auf einer Zeitachse angeordnet, bzw. einander zugeordnet. Die Realität erscheint zeitlich strukturiert, die Chronologie ist wesentliches Organisationsprinzip von Wahrnehmung, Erfahrung und Wissen. Die Dominanz dieses Konzeptes zeigt sich in der Struktur der türkischen Äußerung, die, ohne explizite Markierungen, als Widerspiegelung chronologischer Anordnungen zu interpretieren ist. The principle of linear successivity which is free to operate unless any order relation is signaled, suggests that the linear succession of propositions parallels the order of events thereby described. It is commonly ignored that this has ample consequences for the overt word order characteristics of metric structure . . . In the case of linear successivity there are no margins and no room for compromises. It is

4.4. Ausdruck temporaler Referenz

129

a streng factor which necessitates reorganization on the surface where the overt order of elements is not in accordance with the order of events. Qohanson [1975] p. 116, 117).

Ein Beispiel soll das verdeutlichen. Deutsche Relativsätze können in der Regel durch Partizipkonstruktion im Türkischen wiedergegeben werden, wobei die Partizipialphrase vor dasfiniteVerb zu stellen ist. Bezieht sich die Information eines Relativsatzes des nicht-restriktiven Typs jedoch nachzeitlich auf den Hauptsatz, so ist diese Ubersetzungsform nicht möglich. z.B. „Ich kam in eine Stadt, wo ich mich in einem Hotel niederließ." *Otele indigim bir §ehire gel dim. Partizip Tempus Die einzig mögliche Ubersetzung ins Türkische lautet: Sehire geldim ve otele vsxdim. Das Türkische verlangt die chronologische Abbildung in der Sprache und dadurch wird die erneute Markierung der Vergangenheitsreferenz ,indim' in der parataktischen Konstruktion notwendig. Aber: „Ich kam in eine Stadt, wo ich niemanden kannte." Hi? kimseyi tammzdigim bir §ehire gt\dim. Partizip Tempus Jedoch ist auch im Türkischen „die lineare Sukzessivität kein ausnahmsloses Prinzip", wie Johanson selbst an anderer Stelle bemerkt. (Johanson [1971] p. 254). Kontextuelle Faktoren können dieses Interpretationsmuster aufheben. z.B. Kazak hediye aldi, onu ördüm. &2 vor ej Er hat einen Pullover geschenkt bekommen, ich habe ihn gestrickt. Das Prinzip der ,chronologischen Abbildung' muß damit folgendermaßen abgeschwächt werden: Folgen zwei Ereignisse ei/e2 in einer Äußerung in einem unmarkierten zeitlichen Verhältnis aufeinander, so ist dies als ej vor e2 zu interpretieren, wenn die Interpretation sich mit den Vorkenntnissen über diese Ereignisse vereinbaren läßt. Auch mit Hilfe von expliziten zeitlichen Angaben kann man sich über das Prinzip der chronologischen Abbildung hinwegsetzen, (vgl. hierzu p. 115) z. B. Gidinceye kadar bula§igi fabuk yikarim. Bis ich gehe wasche ich noch schnell ab. ü2 vor ej Die Aufgliederung der Zeitachse in Maßeinheiten, die die zeitlichen Referenzpunkte für die Einordnung von Ereignissen ergeben, kann nach zwei Prinzipien erfolgen: - die absolute Einordnung (Kalender)

130

4. Temporale Referenz im Türkischen

- die deiktische Einordnung mit der Sprechzeit als primärem Orientierungspunkt. Im Hinblick auf diese Konzepte scheinen sich keine gravierenden Unterschiede zwischen Sprechern des Deutschen und des Türkischen aufzutun. Auch im Türkischen verlangt jede Äußerung, die ein finites Verbelement enthält, eine Tempusmarkierung. Es herrscht allerdings in der turkologischen Forschung keineswegs Übereinstimmung darüber, wie das deiktische Temporalsystem auf Grund des syntaktisch obligatorischen Tempussystem zu bestimmen ist. So geht F. Yava§ davon aus, daß das türkische Zeitsystem zwei Bereiche unterscheidet: Thus I suggest that on a purely temporal level Turkish can be analyzed as having only a two way tense Opposition - past tense vs. non-past tense. (Yava§ [1980] p. 18/19).

Temporale Referenz, die sich auf den Bereich des Zukünftigen bezieht, wird im Rahmen ihrer Arbeit als Modalität behandelt. Dagegen stehen Untersuchungen wie die von Koschmieder, Johanson, Kocaman, in denen von einem 3gliedrigen, deiktisch definierten Zeitsystem ausgegangen wird. In der Tat gibt es stichhaltige Argumente, die für die letztere Betrachtungsweise sprechen. Im Türkischen verlangt eine Äußerung, die im Bezug auf den primären Orientierungspunkt jetzt'bzw. auf einen abgeleiteten sekundären Orientierungspunkt im Verhältnis des zeitlichen ,später' steht, eine futurische Markierung (ecek/acak). Diese konsistente grammatische Kennzeichnung des temporalen Konzeptbereiches ,Zukunft' unterscheidet das Türkische von z.B. dem Deutschen oder Englischen. Die Tatsache, daß zukünftige Handlungen grundsätzlich modalen Charakter haben, insofern sie noch nicht vollzogen, also,irreal' in einem weiteren Sinne sind, läßt nicht den Schluß zu, daß temporales und modales Konzept hierbei zusammenfallen. Yava§ gibt im wesentlichen zwei Argumente für ihren Standpunkt einer rein modalen Lesart des Futur-Morphems ,-ecek' (vgl. hierzu auch Yava§ [1982]). - Es kann unter bestimmten Kontextbedingungen Modalität in bezug auf nicht-futurisches Geschehen ausdrücken. z. B. John §imdi kütüphane 'de olacak John wird jetzt wohl in der Bibliothek sein. - Unter besonderen, in erster Linie aspektuellen Bedingungen kann sich auch eine präsentische Form auf Zukünftiges beziehen. z.B. Yarin gah§i^ormusum? Arbeitest du morgen? (durativer Aspekt)

4.4. Ausdruck temporaler Referenz

131

Ließe man diese Kriterien gelten, so dürfte man auch Vergangenheit und Gegenwart nicht als temporal definierte Referenzbereiche bestimmen. Denn auch für die Präsens- und Vergangenheitsformen finden sich Kontexte, in denen sie nicht temporal deiktisch zu interpretieren sind. Yava§ hat hier übersehen, daß das Zusammenwirken mit dem Kontext bzw. Adverbialsemantik dem futurisch-markierten Verb den modalen Charakter verleiht. „§imdi" (jetzt) und „olacak"(es wird sein) stellt sich auf der Ebene der Wortbedeutungen als Widerspruch dar und ergibt im Zusammenschluß eine Modifikation der Einzelbedeutungen. Die Grundlage für diese semantische Funktion des ,ecek'-Morphems besteht aber gerade in seiner futurischen Bedeutung. Aus den genannten Gründen kann man für das Türkische ein dreigliedriges Zeitsystem voraussetzen, das sich - mit Einschränkungen - im Verbalsystem widerspiegelt.8 Zusammenfassend lassen sich folgende Charakteristika temporaler Konzepte und deren Ausdruck im Türkischen festhalten. 1) ,Zeit' wird als eine gerichtete, voranschreitende Größe begriffen. 2) Es kann ein absoluter und ein deiktischer Maßstab zur Aufgliederung des Kontinuums dienen. 3) Das zeitliche Kontinuum wird durch ein Jetzt' in drei Referenzbereiche aufgegliedert. 4) Zeitliche Einordnung wird vorgenommen, indem ein Referenzpunkt und eine Relation angegeben werden. 5) Temporale Referenz wird obligatorisch im finiten Element markiert. Spezifizierungen sind intentional, aber nicht syntaktisch motiviert. 4.4.1.2. Aspekt I (inhärenter Aspekt) Für das Türkische gilt - ähnlich wie für das Deutsche - daß unterschiedliche temporale Eigenschaften von Sachverhalten bzw. Tätigkeiten zwar nicht in einem morphosyntaktischen System kristallisiert sind, jedoch für die Konzeptualisierung und Formulierung einer Äußerung von großer Bedeutung sind. Die Implikationen inhärenter temporaler Merkmale eines Sachverhaltes für dessen Bedeutungsumfeld sind dort besonders greifbar, wo sie 8

Eine andere Betrachtungsweise des türkischen Tempussystems finden wir bei M . GÖTZ (1982) p. 108/9: „In meiner bisher unveröffentlichten Arbeit über .Funktionen der Tempora im Türkeitürkischen' bin ich u.a. zu dem Ergebnis gelangt, daß die türkischen Tempora nicht der Zeitstufensignalisierung dienen, sondern daß sie bestimmte konstante zeitperspektivische Funktionen haben." Eine Diskussion dieses Ansatzes ist hier nicht möglich, da die ausführlichen Darlegungen dieses Standpunktes noch nicht zugänglich sind.

132

4. Temporale Referenz im Türkischen

Restriktionen für grammatische Gesetzmäßigkeiten mit sich bringen. Dies gilt in erster Linie für die Bereiche Aspekt/Tempus und Objektbestimmung. Als einziger hat sich meines Wissens bisher Johanson (1971) ausführlich mit der Rolle aktionaler Kategorien im Türkischen beschäftigt. Er unterscheidet in seiner Analyse zwei Verbklassen: Finaltransformative (Tf) wie ölmek (sterben)9 nicht finaltransformative (Nf) wie igmek (trinken). Obwohl diese beiden Begriffe sicherlich nicht ausreichen, um aktionale Eigenschaften erschöpfend zu behandeln, so sind sie doch geeignet, das Zusammenspiel von Aspekt I und II und Tempus zu verdeutlichen. Im Rahmen dieser Arbeit kann auf Einzelprobleme in diesem Zusammenhang nicht eingegangen werden. Hierzu sei der Leser auf Johansons Analyse verwiesen. Zwei Gesichtspunkte sollen jedoch hervorgehoben werden, da sie m. E. für den Zweitspracherwerb von Bedeutung sind. Es handelt sich dabei 1) um die Funktion des Aspekts II bei der aktionalen Bestimmung einer Verbalphrase, und 2) um die Rolle des Objektes bei der Interpretation eines Verbs. ad 1) Die Aspektopposition im Türkischen leistet mehr als eine externe Perspektivierung eines Sachverhaltes (siehe unten). Im Unterschied zum Englischen beispielsweise, wo der Aspekt grundsätzlich eine Betrachterperspektive in bezug auf einen bestimmten Referenzpunkt ausdrückt, also immer eine relationale Größe ist, dient die Aspektmarkierung im Türkischen auch der Unterscheidung aktionaler Momente. So können Verben der Nf-Gruppe durch aspektuelle Markierungen eine punktuelle (inchoative) oder eine durative Bedeutung erhalten,

z. B. tanimak - erkennen, kennen

Arkada§im görünce hemen tqmdim. (0 Aspekt)

Als ich meinen Freund sah, erkannte Onu iki yildan beri tamyorum

Ich kenne ihn seit zwei Jahren. 9

ich ihn sofort.

(imperf. Aspekt)

Diese beiden Verbgruppen unterscheiden sich auch im Hinblick auf ihre quantitativen Eigenschaften. Während die Tf nicht graduell teilbar sind (vgl. .additive' CARLSON, [1981]), also nur in ihrer Totalität als Wiederholungen dargestellt werden können, sind Nf Verben (.partitive') in Phasen teilbar, nicht jedoch im Sinne der Iteration additiv. ::"Tf -di, ve de hälä Tfiyor. / Tf-di, 50k kere Tf di. Nf -di, ve de hälä N%or. / *Nf-di, fok kere Nf di. Verg. noch Präsens mehrere Male (vgl. JOHANSON (1971) p. 218ff.). Dies impliziert, daß Tf-Verben grundsätzlich eine rechte zeitliche Grenze besitzen, während dies für Nf-Verben unbestimmt ist und erst in der konkreten Äußerung spezifiziert wird.

133

4.4. Ausdruck temporaler Referenz

oder oturmak - sich setzen, sitzen Ahmet oturdu, hemen i^mege ba§ladi. ( 0 Aspekt) Ahmet setzte sich und begann sofort zu trinken. Ahmet rüya görerek iki saattir bahgede otumyordu. (imperf. Aspekt) Ahmet saß seit Stunden träumend im Garten. Auch die Verben der Tf-Gruppe können durch aspektuelle Markierung aktional modifiziert werden. Durch Hinzufügung des imperfektiven -yorMorphems verliert das Tf-Verb seinen terminativen Charakter, z. B. adam öluyordu. (imperf. Aspekt) Der Mann war im Sterben. adam Öldü. ( 0 Aspekt) Der Mann starb. Ahmet partiyi kaybed\yordu. (imperf. Aspekt) Ahmet war dabei das Spiel zu verlieren. Ahmet partiyi kaybettz. (0 Aspekt) Ahmet verlor das Spiel. Die Verknüpfung dieser Verbgruppe mit dem imperfektiven Aspekt öffnet die rechte zeitliche Begrenzung. Die Vollendung des Ereignisses bleibt dadurch ausdrücklich offen, (vgl. für weitere Beispiele [Johanson (1971) p. 202ff.] ). Es ergibt sich damit folgendes Schema für das Zusammenwirken von Aspekt I und II: Aspekt II +imperfektiv Tf

-tf

Aspekt I

—imperfektiv

TT -nf

Nf

V

= unmarkierter Fall

Dabei ist jedoch zu betonen, daß kontextuelle Informationen für die Interpretation eine entscheidende Rolle spielen. Sie überwiegen in jedem Fall die syntaktisch kategoriale Bedeutung, wenn sich in einer Äußerung Divergenzen im Bezug auf Interpretationsvarianten ergeben sollten. Dies gilt beson-

134

4. Temporale Referenz im Türkischen

ders für solche Verben, die an sich nicht eindeutig aktional bestimmt sind, sondern im Rahmen einer jeweils komplexeren Proposition ihre aktionale Zuordnung erfahren. z.B. Cok igerim. (Aorist) Ich trinke viel, (habituell) [Iyi öleyse] bir bardak i^erim. (Aorist) [Gut, dann] trinke ich ein Glas Tee. ad 2) Dies letzte Beispiel zeigt einen weiteren Faktor, der für die aktionale Interpretation einer Äußerung eine Rolle spielt: Objekte können in ihrer Funktion als ,Quantoren' einer Proposition die Aktionsart definieren. Unbestimmte Objekte verbinden sich mit Nf-Verben zu durativen bzw. habituellen Aktionalphrasen. z.B. elma yemek - Apfel essen Mit bestimmten Objekten kombiniert ergeben diese Verben eine terminative Aktionalphrase. z. B. elmayi yemek - den Apfel essen Akk. Das Zusammenwirken von Objekten und Verb im Hinblick auf aktionale Eigenschaften ist auf allgemeine logische Prinzipien zurückzuführen. Es handelt sich um die schon häufig angesprochene Beziehung zwischen der Quantifikation über Objekte und der über Zeitpunkte innerhalb einer Proposition. Die gleichen Regeln lassen sich z.B. für das Deutsche oder Englische formulieren, Sprachen, in denen die Aktionsarten auch als inhärente temporale Qualitäten zu bestimmen sind, also nicht morphologisch markiert werden. Für den Sprecher des Türkischen lassen sich folgende Prinzipien im Hinblick auf aktionale Konzepte festhalten: - Die wesentliche aktionale Opposition ist die zwischen unbegrenzten, durativen und terminativen, punktuellen Sachverhalten. - Diese Kategorien können implizit bleiben. - Aktionale Eigenschaften müssen bei der Konzeptualisierung von Sachverhalten eine Rolle spielen, da sie als Bedingungen für die Anwendung bestimmter grammatischer Kategorien unterstellt werden. 4.4.1.3. Aspekt II (relationaler Aspekt) Die Bestimmung von Aspektsystemen einzelner Sprachen stellt sich als weitaus schwierigeres Problem als die Behandlung temporaler Einordnung dar. In der Literatur findet man eine Menge verschiedener, sich zum Teil widersprechender Definitionen, die zu voneinander abweichenden Syste-

135

4.4. Ausdruck temporaler Referenz

matisierungen führen. Dies gilt für das Türkische ebenso wie für Untersuchungen zum englischen oder slawischen Aspektsystem. Obwohl die Anzahl der Arbeiten zum Türkischen vergleichsweise gering ist10, findet sich auch hier keineswegs ein übereinstimmendes Bild. Der Grund für diese Divergenz liegt m. E. darin, daß eine Analyse des morphologischen Inventars und dessen Anwendungsbedingungen keine eindeutige semantische Kategorisierung zuläßt. Es ist nicht möglich, den morphologischen Formen eine semantische Funktion zuzuordnen, denn die Formen können in Abhängigkeit von ihrem Bedeutungsfeld in einer komplexen Proposition Modifikationen ihrer Bedeutung erfahren. Diese Funktionsvarianten dürfen jedoch nicht zu dem Schluß führen, daß es sich hier um die Vermischung semantischer Kategorien im Bezug auf eine linguistische Form handelt, (vgl. Bazin (1966) p. 182). Vielmehr zeigen genauere Analysen, daß Bedeutungsabweichungen von der aspektuellen ,Grund(Haupt-)Funktion' einer morphologischen Kategorie immer nur durch die Kombination mit bestimmten anderen semantischen Elementen zustande kommen. Eine modale bzw. diskurs-funktionale Lesart einer Aspektform ergibt sich aus der eigentlichen aspektuellen Bedeutung im Zusammenhang mit einer modifizierenden Kontextinformation. Ein Beispiel soll dies verdeutlichen. Die Kombination aspektueller und temporaler Bedingungen kann z.B. zu einer modalen Bedeutung der Gesamtproposition führen. Adverb

+ Verb

Futur ,hypothetisch' Ahmet

yarin morgen

Aorist ,real'

modal

gelir

Ahmet wird morgen

kommt

schon kommen

Diese Überlegungen verlangen für die Analyse des türkischen Aspektsystems eine klare Trennung zwischen den konzeptuellen Grundkategorien und deren Anwendung und Modifikation in Diskurszusammenhängen. Es wird im folgenden von der These ausgegangen, daß im Türkischen wesentliche Aspektoppositionen sprachlich markiert werden, d.h. den jeweiligen

10

Im folgenden werden die Untersuchungen von sechs Autoren herangezogen, die meines Wissens neben wenig ergiebigen Grammatiken, abgesehen von sowjetischen, die mir nicht zugänglich sind, die einzigen Arbeiten zum türkischen Aspektsystem darstellen: K o SCHMIEDER (1953), BAZIN (1966), JOHANSON (1971), KOCAMAN (1976), AKSU (1978), YAVA§ (1980).

136

4. Temporale Referenz im Türkischen

morphologischen Kategorien kommen diese aspektuellen Konzepte als ,Kernbedeutungen' zu. Der von Johanson eingeschlagene Weg entspricht dem in der vorliegenden Arbeit gewählten Ansatz weitgehend: Er unterstützt eine Vorgehensweise, von den Tendenzen in Begriffsdistinktionen auszugehen, die die Sprache tatsächlich aufweist, und diese Distinktionen erst danach durch behutsame, logische rationale Bearbeitung zu präzisieren, (fohanson [1971] p. 45).

Auch in der Zielvorstellung und deren Problematik angesichts des Forschungsstandes muß man meiner Meinung nach Johanson zustimmen. Vielleicht würde eine vervollkommnete Analyse es gestatten, die Aspektdistributionen konkreter Sprachen anhand ihrer Stellenwerte' in den erwähnten konzeptuellen Dimensionen zu bestimmen und ihre Positionen im Vergleich zu einer Anzahl von,Kardinalaspekten' anzugeben. (Johanson [1971] p. 45).

Ein weiterer Grund für die divergierenden Beschreibungen des türkischen Aspektsystems liegt in der unterschiedlichen Orientierung im Hinblick auf andere Sprachen. So wird eine Analyse, die sich auf einen Vergleich mit dem Englischen stützt (z. B. Kocaman, Yava§), sicherlich zu anderen Annahmen kommen als eine am slawischen Aspekt ausgerichtete Untersuchung (z.B. Koschmieder). Beide Vorgehensweisen sind für eine Klärung nur von bedingtem Nutzen. Den Vergleich zur Grundlage einer Analyse zu machen, impliziert häufig die Zurichtung des Materials anhand eines Maßstabes, der diesem nicht entspricht. Die Besonderheiten des jeweiligen Systems können damit gerade nicht erfaßt werden. Eine Gegenüberstellung zweier Systeme kann erst dann erfolgen, wenn beide Seiten des Vergleichs für sich bestimmt sind. Im folgenden sind die Hinweise auf das Englische in diesem Sinne nicht als Orientierungsrahmen, sondern als Kontrastierung zweier Systeme zu verstehen. Die bereits in Kapitel 3 angesprochenen Schwierigkeiten, die sich aus der Vermischung aktionaler und aspektueller Konzepte in vielen Arbeiten ergeben, erscheinen auch in den Analysen zum türkischen Aspektsystem. Deshalb soll hier noch einmal betont werden, was unter dem Aspekt II zu verstehen ist: Es handelt sich dabei um eine relationale Kategorie, die eine bestimmte Perspektive auf einen Sachverhalt ausdrückt. Das Kriterium für die Wahl einer Aspektmarkierung liegt deshalb nicht in den inhärenten temporalen Eigenschaften eines Verbs, sondern entweder in den kontextuellen Voraussetzungen (z. B. Formen der Subordination) oder der subjektiven Entscheidung des Sprechers. Der Aspekt ermöglicht ihm, seine Be-

4.4. Ausdruck temporaler Referenz

137

trachtungsweise in bezug auf ein bestimmtes Ereignis zum Ausdruck zu bringen.11 Daraus erklärt sich ein wichtiges Merkmal aspektueller Markierungen: Es können in vielen Fällen keine generellen Anwendungsbedingungen für eine Form auf Grund syntaktischer und semantischer Eigenschaften einer Äußerung angegeben werden. Wenn der Kontext die Interpretationsmöglichkeiten nicht bereits weitgehend eingeschränkt hat - z.B. durch temporale Adverbien - sind prinzipiell alle Aspektformen auf eine Proposition anwendbar. Eine Analyse, die sich mit Hilfe obligatorischer Kontexte' zu einer Bedeutungsbestimmung vortasten wollte, wäre deshalb zum Scheitern verurteilt. Im folgenden soll nun versucht werden, die begriffliche Struktur des Aspektsystems im Türkischen darzustellen. Hierzu werden im wesentlichen die Modelle von Bazin und von Johanson diskutiert. Aspektmarkierung ist ein obligatorisches Element des türkischen Verbsystems. Von manchen Turkologen wird sogar angenommen, daß es sich dabei um die primäre Kategorie des temporalen Verbsystems handelt, aus der die zweite obligatorische Kategorie, das Tempus, abzuleiten ist. Die temporalen Oppositionen sind der aspektuellen Opposition,accompli: non-accompli' hierarchisch untergeordnet... Wenn der Aspekt sich einerseits als die konstitutive Kategorie auch des türkischen Systems erweisen wird, ist andererseits zu erwarten, daß Tempus für seine Realisation eine bestimmte Rolle spielt. (Johanson [1971] p. 50/51)12

Inwiefern diese Annahme zutrifft, kann nur durch sorgfältige diachronische Studien herausgefunden werden. Da dies bisher für das Türkische jedoch nicht vorliegt, muß man sich auf thesenhafte Aussagen zu diesem Bereich beschränken. Zunächst ist festzuhalten, daß sich Tempus- und Aspektsystem im Türkischen wechselseitig beeinflussen. So ist für den Bereich der Vergangenheit das Aspektsystem am reichsten entfaltet. Hierbei stehen vier mögliche 11

Auch für die Definition des Aspektkonzeptes können wir uns auf Überlegungen von JOHANSON stützen:

12

„Aspektuelle Ideen sind ,subjektive Anschauungsformen', die die Perspektive auf das Ereignis in verschiedener Weise eröffnen. Wenn Aspektideen auch gelegentlich Objektivierungen dienen mögen, sind sie jedoch von aktionalen Modifikationen quantitativer und qualitativer Art grundsätzlich scharf zu trennen." (JOHANSON [1971] p. 46). Dieser Gedanke wird durch eine Reihe von Untersuchungen zu allgemeinen Tempus/ A s p e k t - F r a g e n u n t e r s t ü t z t ( z . B . COMRIE [ 1 9 7 6 ] , GIVON [ 1 9 7 9 ] , HOPPER/THOMPSON

[ 1 9 8 0 ] , BICKERTON [ 1 9 8 1 ] , KUMPF [ 1 9 8 2 ] ) . Der stichhaltigste Beleg k o m m t dabei aus der

Pidginforschung, wo gezeigt werden konnte, daß grundsätzlich aspektuelle Unterscheidungen vor Tempusunterscheidungen grammatikalisiert werden. Auch aus der L2-Forschung kann man sich einigen Aufschluß über diese Fragen erwarten.

138

4. Temporale Referenz im Türkischen

Formen zur Verfügung, während das Präsens nur drei aspektuelle Varianten aufweist. Es ergibt sich damit folgendes Schema für das Türkische: bestimmte Vergangenheit

bestimmtes Imperfekt/ Präsens

di

yordu13

mekteydi

-irdi

-yor

-mekte

-ir

Präteritum Präsens

andauernde unbestimmtes VergangenImperfekt/ heit/ Präsens Präsens

Dieses Formenrepertoire wird von Bazin in einem übergreifenden Bedeutungsschema nach strukturalistischer Methode zusammengefaßt, in dem er die verschiedenen Konzepte auf einer Ebene einander zuordnet. Es ergibt sich dabei ein System einer doppelten Opposition.

progressifs

»-parfaits

I

Constatation-« -yor -»

|

^non-Con. -mekte

I

Aorist |

Const.-*»-non Const. -di -mi§ ir/irdi achevé illimité

*•= Opposition

Bazin sieht diese Beziehung noch weitergehend intern strukturiert: Dans les cinq dernières classes, tout invite à grouper d'un côté les deux parfaits, d'un autre les deux progressifs: dans les deux groupes la différentation interne se fonde sur la nonconstatation. En face des deux parfaits et des deux progressifs resterait, finalement, l'aoriste. (Bazin [1966] p. 284). 13

Die Form -yor entwickelte sich aus einer ursprünglich analytischen, zusammengesetzten Verbform: yorxmak (heute: yürümek) gehen, vorrücken Im Unterschied zu anderen Sprachen, in denen eine Kombination von Verb + ,gehen' eine modale, zeitlich noch nicht realisierte Absicht ausdrückt, z.B. „I am going to seil my car" „Je vais acheter ta voiture" wird im Türkischen der Bewegungsaspekt auf das Hauptverb übertragen. Die Verbindung von Verb + yorir gibt an, daß der jeweilige Sachverhalt sich im Prozeß des, Ausgeführtwerdens' befindet.

4.4. Ausdruck temporaler Referenz

139

Diese Betrachtungsweise ist aus mehreren Gründen unbefriedigend. - Modale Konzepte und Tempuskategorien werden nicht klar von aspektuellen Merkmalen getrennt. Die Funktionen const./non-con. sind modaler Natur (was besonders für das -mi§ Morphem zutrifft, das hier in dieses Schema nicht hineingehört) und können lediglich als sekundäre Funktionen aspektueller Gegensätze betrachtet werden. - Der Aorist steht als,zeitlich unbestimmte' Kategorie dem ,progressif' viel näher als dem ,parfait*. Dies zeigt sich auch daran, daß er im Rahmen des Vergangenheitsparadigmas mit den anderen Formen des ,progressif' austauschbar ist und keine selbständige Verbform darstellt, wie das ,parfait'. In dem von Johanson vorgeschlagenen Modell werden diese Schwierigkeiten aufgehoben. Für ihn gliedert sich das türkische Aspektsystem auch in zwei Oppositionsdimensionen, die allerdings anders angelegt sind als bei Bazin. Opposition A - der ,Hauptaspektgegensatz': nicht-intraterminal intraterminal (imperfektiv) (perfektiv) yordu, irdi, mekteydi di markiert neutral In Bezug auf Intraterminalität (Idee A) besteht eine Äquivalenz zwischen yordu, irdi und mekteydi: Auf der Grundlage der genannten Idee gehen diese Einheiten ,en bloc' (als markiertes Glied) eine private Opposition A mit der Einheit di (als unmarkiertem Glied) ein (iyordu, mekteydi, irdi): di. (Johanson [1971] p. 114).

Die di-Form wird als neutral in ihrer aspektuellen Eigenschaft bestimmt, indem sie einen Sachverhalt lediglich als geschehen' konstatiert. In den anderen drei Fällen wird eine besondere Perspektive im Hinblick auf einen Sachverhalt markiert, die für alle drei Formen impliziert, daß die zeitlichen Grenzen nicht in Erscheinung treten. Damit wird auch ausgedrückt, daß ein Sachverhalt intern strukturiert ist, er kann in Bezug auf die zeitliche Dimension aufgegliedert werden. Der intraterminale Aspekt schließt ein Moment der Quantifizierbarkeit ein, während der nicht-intraterminale Aspekt ein Ereignis in seiner Totalität, also ohne innere Struktur, darstellt. Opposition B - ,Prägnanzopposition' kursiv14 nicht-kursiv yor, mekte ir markiert neutral 14

Der von JOHANSON verwendete Begriff,kursiv' entspricht der bisher mit dem Terminus ,imperfektiv' bezeichneten aspektuellen Kategorie, unter Ausschluß der Kategorien ,generisch' und ,habituell'.

140

4. Temporale Referenz im Türkischen

(vgl. Johanson [1971] p. 118ff.). Unter dem Begriff ,Prägnanz' versteht Johanson eine Fokussierung der aktionalen Eigenschaften eines Ereignisses: Die Kursivierung stellt nun den focus als den Schwerpunkt des Ereignisses als sein aktionales Identitätsmaximum dar. Diese ,konzentrierte Fülle im Blickfeld' ist als maximale aktionale Determination

zu verstehen, als Idee der Opposition wird sie im folgenden

prägnant (Idee B) genannt werden. (Johanson [1971] p. 134).

Diese auf aktionale Eigenschaften zurückgreifende Definition gibt keine klare Bestimmung dieser Aspektopposition. Sie kann vielmehr ohne Rückgriff auf aktionale Kategorien aus dem Begriff der ,Intraterminalität' abgeleitet werden: Der ,kursive Aspekt' stellt ein Ereignis zwar als aktuellen Prozeß ohne Bezug auf dessen zeitliche Grenzen dar, unterstellt aber zugleich, daß diese Grenzen grundsätzlich vorbanden sind. Nur konkrete, einmalige, prinzipiell zeitlich begrenzte Geschehen können in dieser Weise perspektiviert werden. Der,nicht-kursive Aspekt', der Aorist, rückt dagegen die benannten Sachverhalte in ihren Eigenschaften in den Vordergrund, ohne diesen eine bestimmte zeitliche Dimension zuzuweisen. M. Götz (persönliche Mitteilung) charakterisiert die Funktion des Aorist als ,NennFunktion': Nennung des durch den Kontext bezeichneten Sachverhaltes, wobei die durch das betreffende Verblexem bezeichnete Handlung als Vorgang oder Zustand nicht relevanzakzentuiert ist. Ein Text in -r- ist als Thema zu verstehen, als ein ,was betrifft', (vgl. unten Yava§ ,object level predication').

Dies sei an zwei Beispielen verdeutlicht: (1) El eli yikar. Eine Hand wäscht die andere. Aorist (Sprichwort) (2) El eli yikryor. Die Hand wäscht die andere. kursiv (Vorgangsbeschreibung) (Beispiele nach M. Götz.) Die Aoristform in (1) drückt aus, daß es sich nicht um einen bestimmten Vorgang handelt, dem benannten Sachverhalt wird keine besondere zeitliche Qualität zugeordnet. Unter dem Gesichtspunkt temporaler Diskursstrukturen ist der Aorist als »zeitlich unbegrenzte' Kategorie zu bestimmen. Ein Sachverhalt interessiert nur in seiner inhaltlichen Bestimmtheit, ohne einen Zeitwert zugewiesen zu bekommen. Diese Implikation des Aorist hat einige dazu veranlaßt, ihn als atemporal, außerzeitlich zu bestimmen (z.B. Bazin, Koschmieder). Betrachtet man jedoch die verschiedenen Aspekte im Rahmen eines kon-

4.4. Ausdruck temporaler Referenz

141

zeptuellen Gesamtsystems, so muß eine Ausgliederung des Aorist höchst unbefriedigend bleiben. Die Analyse seines Stellenwertes innerhalb des Gesamtsystems verlangt eine positive Bestimmung der Aoristfunktion und die liegt - wie bereits in Kap. 3 dargestellt wurde - in der Aufhebung des festgelegten, zeitlichen Gültigkeitsrahmens einer Aussage. Dies entspricht der Verwendung der Aoristform in habituellen und generischen Kontexten (Sprichwörtern). Yava§ liefert einige sehr interessante Gedanken für die Unterscheidung von progressive' (iyor) und Aorist (ir). Da sie sich dabei auf konzeptuelle Kategorien stützt, ist es im Hinblick auf das Zweitsprachproblem sinnvoll, hier auf diese Überlegungen einzugehen. Ausgangspunkt ihrer Betrachtungen ist die Beobachtung, daß das progressive' (Pr) im Unterschied zum Englischen auch auf Zustandsverben wie bilmek (wissen), sevmek (lieben) angewendet werden kann. Auf der Grundlage der von Carlson (1977) entwickelten Kategorie ,object-level' vs. ,state-level statements' kommt Yava§ zu folgender Unterscheidung im Hinblick auf die Funktionen von Aorist und Progressive'. The aorist in Turkish is the marker of object level predications. The progressive, we can claim, is used when we are predicating over stages of objects. (Yava§ [1980] p. 135).

Dabei sind die Kategorien,object-level - state-level' wie folgt zu verstehen: Carlson distinguishes between individuals/objects and stages of individuals/objects. Stages of individuals are manifestations or realizations in space and at times. Stages of an individual are what we make a given individual that individual. Carlson argues that stative predicates predicate over individuals while non-stative predicates predicate over stages of individuals. It seems to me that the very fact that non-statives can be used in making object-level statements shows that the distinction between predication over objects vs. predication over stages of objects is not a matter of the predicate itself but rather how the property denoted by the predicate is attributed to the object in question. I suggest that in Turkish the distinction between object-level predication and stage-level predication is made by the aorist and the progressive respectively. (Yava§ [1980] p. 134).

Die von Yava§ beschriebenen Funktionen der beiden Aspekte innerhalb komplexer Propositionen können jedoch nicht als primäre Funktionen betrachtet werden. Hier fehlt bei Yava§ die Vermittlung zwischen der originären Bedeutung der Aspektformen und deren Funktionen in propositionalen Zusammenhängen. Geht man von der oben ausgeführten Bedeutung der beiden Formen aus, so ergibt sich die Diskursfunktion als Konsequenz der aspektuellen Eigenschaften.

142 Aorist Aufhebung der zeitlichen Grenzen unbegrenzte Dauer typischer Sachverhalt (nicht in sich quantifizierbar) l Sachverhalt in der Perspektive der Eigenschaft des Objektes/Individuums ,property level' z.B. Ahmet Nilgünü begeniyor (Zustand) Ahmet Nilgünü begem'r. (Eigenschaft)

4. Temporale Referenz im Türkischen

.Progressive' implizierte zeitliche Grenzen Dauer (Grenzen irrelevant) bestimmter, aktueller Sachverhalt (in sich quantifizierbar) l Sachverhalt in der Perspektive seiner Zeitlichkeit ,stage-level'

Ahmet liebt Nilgün. (.Progressive') Ahmet liebt Nilgün. (Aorist)

In diesem Bereich tut sich eine Menge Fragen auf, die die unterschiedliche Konzeptualisierung und Strukturierung von Wahrnehmung und Erfahrung betreffen. Die unterschiedliche aspektuelle Behandlung von Verben aus dem Bereich,mentaler Zustände' im Englischen/Türkischen beispielsweise könnte Implikationen für den Spracherwerb haben. Detailuntersuchungen dieser Probleme können im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht geleistet werden, sie bieten jedoch einen guten Ausgangspunkt, um dem Zusammenwirken von Konzepten und sprachlichen Kategorien im Spracherwerb auf die Spur zu kommen. Die Tabelle auf Seite 143 soll abschließend einen Uberblick über die wesentlichen Kategorien des türkischen Aspektsystems geben. Eine kurze Bemerkung über das Verhältnis von -yor und -mekte ist noch anzufügen. Ubereinstimmend wird in der Literatur festgestellt, daß diese beiden Formen nicht eine Aspektopposition, sondern einen graduellen Unterschied des ,kursiven Aspekts' ausdrücken. Die ,mekte'-Form kann nur in solchen Fällen verwendet werden, bei denen ein Ereignis bereits angefangen hat, während der yor-Aspekt auch im Falle eines erst noch beginnenden Ereignisses gebraucht werden kann. Biraz sonra eeHyomm , , , , ., i l • Ich komme gleich "Biraz sonra gelmekteyim Während die Verwendung der beiden Formen früher mehr oder weniger eine Frage des Stils war, scheint in jüngster Zeit eine Tendenz zu einer funktionalen Trennung zu bestehen. Dabei bewegt sich die ,yor'-Form in Richtung einer neutralen, unmarkierten präsentischen Form (entsprechend

143

4.4. Ausdruck temporaler Referenz

Präteritum

perfektiv di

imperfektiv irdi, yordu, mekteydi

begrenzt kontrahiert konstativ neutral nicht teilbar

unbegrenzt dauernd markiert [teilbar] '1

1

habituelUgenerisch irdi

Grenzen ausgeschlossen unbestimmt neutral nicht teilbar Präsens

0

ir

kursiv

1

yordu

1

mekteydi

Grenzen impliziert bestimmt markiert teilbar

yor

mekte

der ,di'-Variante im Präteritum), während ,mekte' die Funktion des kursiven Aspekts systematisch übernimmt. Eine solche Verschiebung des Systems würde eine Angleichung des aspektuellen Repertoires auf den beiden Zeitstufen bewirken. Dieser Entwicklungsverlauf wäre plausibel, jedoch kann bei dem augenblicklichen ,Zwischenstadium' keine klare Voraussage über die tatsächliche Entwicklung gemacht werden. 4.4.1.4. Temporalität im Diskurs In den vorangehenden Kapiteln wurde dargestellt, welche temporalen Konzepte im Türkischen realisiert werden und in welcher Weise sie sprachlich repräsentiert sind. Eine weitere Frage ist nun, wie diese Kategorien verwendet werden, um Sachverhalte hinsichtlich ihrer temporalen Struktur im Diskurs darzustellen. Im folgenden wird untersucht, welche Rolle temporale Kategorien in komplexeren Zusammenhängen spielen, wie Zeitverhältnisse im Diskurs strukturiert werden und welche diskurs-funktionalen Aufgaben den sprachlichen Formen dabei zukommen. Bei den Betrachtungen der Einzelkonzepte wurde bereits deutlich, daß die drei Bereiche ,temporale Einordnung, Aspekt I und II' im Sprachgebrauch eng miteinander verknüpft sind. Sie erscheinen als wechselseitig

144

4. Temporale Referenz im Türkischen

voneinander abhängige Größen, die für die Bedeutungskonstitution einer Äußerung zusammenwirken. Die Grundbedeutungen einzelner Formen können in der Kombination mit anderen temporalen Komponenten Modifikationen erfahren. In diesem Zusammenhang ist der Gebrauch temporaler Adverbien von besonderer Bedeutung.

z. B. iki hafta onu tamdim hirdenhire onu tamdim

ich kannte ihn zwei Wochen plötzlich erkannte ich ihn

Es würde jedoch weit über den Rahmen dieser Arbeit hinausgehen, diese Verhältnisse im einzelnen zu untersuchen. Es soll deshalb versucht werden, die wesentlichen Prinzipien der Diskursorganisation im Hinblick auf temporale Strukturen darzustellen, wobei auch hier - wie in den vorangegangenen Analysen - der Gesichtspunkt des Sprachkontrastes miteinbezogen wird. Auch im Türkischen ist die Wahl bestimmter Ausdrucksmittel, bzw. Organisationsformen abhängig von den jeweiligen Diskurstypen (vgl. Johanson [1971] p. 47ff.). So haben sich stilistische Varianten herausgebildet, die z. B. einen poetischen Text formal von einem berichtenden oder narrativen unterscheiden. Je nach Inhalt eines Textes spielt die zeitliche Struktur eine unterschiedliche Rolle, was dazu führt, daß demselben Formeninventar unterschiedliche Funktionen für die Interpretation eines Textes zukommen können. Koschmieder ist dieser Frage am Beispiel des Verbaspektes nachgegangen: Es unterliegt also gar keinem Zweifel, daß die Aspekte in gewissen Verwendungstypen relevant, in anderen dagegen irrelevant sind. (Koschmieder [1953] p. 140).

In den folgenden Überlegungen wird der Diskurstyp der ,Erzählung' zu Grunde gelegt, da es sich dabei um die weitaus wichtigste Darstellungsform für die vorliegende Untersuchung handelt. In Erzählungen spielt die zeitliche Struktur eine besondere Rolle. Sie bildet gewissermaßen das Rückgrat, um das herum die Einzelereignisse aufgebaut werden. Man kann sogar soweit gehen, die interne temporale Strukturiertheit als das Kriterium des Diskurstypes ,Erzählung' zu bestimmen (vgl. Kap. 3). Die Organisation zeitlicher Verhältnisse kann dabei grundsätzlich nach zwei Prinzipien erfolgen, die hier als ,externe' und ,interne' Verknüpfung bezeichnet werden sollen. Bei der externen Verknüpfung werden die Ereignisse in bezug auf einen vorausgesetzten, äußeren Maßstab definiert. Dieser Maßstab ist die Zeitachse mit ihren chronometrischen Einheiten. Die externe Verknüpfung erfolgt, indem jedes Ereignis für sich auf der Zeitachse lokalisiert wird. Die Zuordnungsrelationen der Ereignisse untereinander können daraus abgeleitet werden. Für diese Funktion wird die temporale

145

4.4. Ausdruck temporaler Referenz

Deixis als das wichtigste Mittel eingesetzt (Tempus, Adverbien), neben absoluten Zeitangaben (Adverbien). Die interne Verknüpfung gibt lediglich die zeitlichen Relationen zwischen Ereignissen an, ohne diese noch einmal auf eine gemeinsame äußere Matrix zu beziehen. Damit ist eine kontextuelle Abhängigkeit zwischen den einzelnen Außerungseinheiten hergestellt, insofern die eine nur im Zusammenhang mit der anderen interpretiert werden kann. Für das Verstehen einer solchen komplexen zeitlichen Struktur kann deshalb nicht jede einzelne Äußerungseinheit zunächst für sich gedeutet und dann zu einer Textinterpretation zusammengesetzt werden (wie im Falle der externen Verknüpfung), sondern die Interpretation kann erst auf der Grundlage der Gesamtinformation erfolgen. Neben Adverbien und Gerundien sind die Formen des Aspekt II ein wichtiges Ausdrucksmittel dieser Strukturen (Formen der Hypotaxe). externe Verknüpfung

interne Verknüpfung

ÄEj

ÄE 2

abgeleitet Zeitachse Interpretationsschritte 'x (il + Ì2) Während im Deutschen eine Trennung von externer und interner Verknüpfung in komplexen Sätzen nicht möglich ist, ist im Türkischen die interne Verknüpfung allein ein wichtiges Organisationsprinzip temporaler Verhältnisse im Diskurs. Im folgenden soll näher betrachtet werden, welchen Gesetzmäßigkeiten die beiden Darstellungsvarianten unterliegen, und in welcher Weise sie zu kombinieren sind. a) externe Verknüpfung Das wichtigste Prinzip, dem diese Form der zeitlichen Strukturierung unterworfen ist, ist das der ,chronologischen Abbildung', oder ,linearen Sukzessivität' wie Johanson es nennt. Die Zeitachse, in ihrer eindimensionalen Orientierung wird auch dort als Interpretationsmaßstab genommen, wo z. B. deiktische Mittel die Abfolge der Ereignisse nur mangelhaft markieren.

146

4. Temporale Referenz im Türkischen

„Gittim, baktim, bulamadim." Ich ging und suchte (es), aber konnte (es) nicht finden. Es handelt sich dabei um ein Grundprinzip des Diskursaufbaus im Türkischen, das zum Teil stärkere Restriktionen für die Textorganisation impliziert als im Deutschen.15 Im unmarkierten Fall wird also die Abfolge der berichteten Ereignisse als chronologische Reihe interpretiert werden, d. h. der Referenzpunkt wird von einem berichteten Ereignis zum nächsten übertragen. Möglichkeiten, von diesem Prinzip abzuweichen, liegen i) im Bereich impliziter, d. h. semantischer oder kontextueller Information ii) im Bereich expliziter sprachlicher Markierung. i) Wie im Deutschen, so gilt auch im Türkischen, daß das Wissen, das der Interpretation einer Äußerung vorausgesetzt ist, in jedem Fall die Informationsquelle mit dem größten Gewicht darstellt. Ist z.B. der Ablauf eines Geschehens dem Hörer bekannt, so wird auch eine abweichende Reihenfolge in der sprachlichen Darstellung ihn nicht zu einer Korrektur seines Wissens veranlassen. ii) U m in einer Erzählung von der chronologischen Abfolge abweichen zu können, verlangt das Türkische die explizite Markierung durch das Aspektsystem. Umgekehrt kann man sagen, der Aspekt dient der Funktion, eine zweite Dimension einzuführen, er ermöglicht eine in U n t e r grund' und ,Vordergrund'16 gegliederte plastische Darstellung eines Geschehens. Der Einschub von intraterminalen Formen ermöglicht - trotz dem Sukzessivitätsprinzip der di-Formen - eine adäquate Darstellung der Beziehung zwischen zeitlich oder logisch nicht aufeinanderfolgenden Ereignissen . . . Durch die Intraterminalität können nicht nur zeitliche Unterscheidungen zum Ausdruck gebracht werden, es können auch Einschübe z.B. explikativer oder kausaler Natur in eine Reihenfolge von Tatsachen erfolgen. Die intraterminale Darstellungsweise hat,sukzessionsbrechenden' Charakter, (fohanson [1971] p. 247).

15

16

Daß es sich dabei um eine Grundstruktur für die Darstellung zusammenhängender Ereignisse handelt, wird auch in Untersuchungen zum LI-Erwerb türkischer Kinder bestätigt. „It is worth mentioning at this point that of those children who produced more than one event together, the majority followed the order of events in time." (AKSU [1981] p. 3). Es sei noch einmal darauf hingewiesen, was wir unter den Begriffen .Vordergrund/Hintergrund' verstehen. Als Vordergrund gilt, was die Ereigniskette einer Erzählung bildet, als Hintergrund werden die Teile angesehen, die ergänzende und erklärende Zusatzinformationen beinhalten. Keineswegs dürfen diese Kategorien als Urteil über die informative Wichtigkeit einer Aussage mißverstanden werden, wie dies bei JOHANSON ([1971] p. 247) der Fall ist. Eine,Hintergrundinformation' kann hinsichtlich ihrer kommunikativen Relevanz wichtiger sein als .Vordergrundinformationen'.

4.4. Ausdruck temporaler Referenz

147

Für die mit der Aspektmarkierung notwendig verknüpfte temporale Einordnung bedeutet eine ,yordu', ,di'-Abfolge, daß für beide Äußerungen der gleiche Rp unterstellt werden muß. Die ,yordu'-Phrase impliziert keine Weiterführung des Rp in bezug auf die Zeitachse, ,-yordu', ,-dic signalisiert eine temporale Inklusionsbeziehung zwischen zwei Außerungseinheiten, die hinsichtlich ihrer zeitlichen Einordnung in denselben Referenzbereich fallen. Einige Beispiele sollen die Diskursfunktion des Aspektes verdeutlichen. „Fakat o hälä hareketsiz, ba§i öne egik duruyordu (= stand). Onu daha fazla üzmek islemiyerek dersi cabuk b\tvcdim (= brach ab) ve ayrildim (= ging weg). Aber sie stand immer noch bewegungslos, mit nach vorn geneigtem Haupt da. Da ich sie aber nicht allzu sehr quälen wollte, brach ich die Stunde rasch ab und ging weg. „Pencerenin önüne giderek bu güzel §ehre baktim. Her§ey kimildtyor sendelryor ve gülüyordu. Acele giyinerek di§ari cik tim. Ich blickte auf die sich vor dem Fenster hinstreckende schöne Stadt hin. Alles war in Bewegung, alles taumelte, alles lachte. Da zog ich mich rasch an und ging hinaus. (Beispiele nach Koschmieder [1953] p. 144.) Weitere Möglichkeiten, das Prinzip der chronologischen Interpretation zu durchbrechen, sind durch den Gebrauch von temporalen Adverbien und Tempusformen gegeben. Durch sie können Wechsel von Rp explizit angezeigt werden. z.B.Geldim ali§ veri§ yapmqtim, pi§irmege ba§ladim. (Plusquamp.) Ich kam ich hatte eingekauft ich begann zu kochen nachhause oder: Okulu bitirdim. Iki hafta önce birakmak istemi§tim (Plusquamp.) Ich war fertig mit der Schule. Zwei Wochen vorher hatte ich (noch) aufgeben wollen. Da diese Ausdrucksformen denen des Deutschen weitgehend entsprechen, soll hier nicht weiter darauf eingegangen werden. b) interne Verknüpfung Wie bereits oben angesprochen wurde, handelt es sich hier um eine, im Deutschen nicht existierende Form der temporalen Zuordnung in hypotaktischen Konstruktionen. Der wesentliche Unterschied zu Hypotaxen im Deutschen liegt darin, daß im Türkischen der untergeordnete Teil des

148

4. Temporale Referenz im Türkischen

Satzgefüges weder Tempus- noch Aspektmarkierungen zuläßt. Das zeitliche Verhältnis zwischen AEj (subordinierter Satz) und AE2 (Hauptsatz) kann dabei nur implizit, bzw. kontextuell gegeben oder durch verbale zeitrelationale Suffixe (Gerundien) festgelegt sein. Besonders die erste Form führt häufig zu Vagheiten, die ausschließlich durch Einbeziehung des Kontextes gelöst werden können.17 Dies soll kurz am Beispiel türkischer Relativsatzkonstruktionen verdeutlicht werden. Dem deutschen Relativsatz entspricht im Türkischen eine Konstruktion mit Partizipialform, die hinsichtlich Tempus/Aspekt unbestimmt ist. j yarin gelecek- kommt morgen - Arkada§imin bana yazdigi mektup^ dün geldi - kam gestern Obj. Partizip der Brief, den mir mein Freund geschrieben hat, - Orada oturan adam amcaiWzr. Subj. Partizip Präs. Der Mann, der hier sitzt, ist mein Onkel. - Burada otur^« adam amcamdu Verg. Der Mann der dort saß, war mein Onkel. Die temporale Spezifikation des Relativsatzes kann entweder durch Bezugnahme auf die Redezeit oder auf die Referenzzeit des Matrixsatzes erfolgen. Letzteres ist die häufigere Form des Bezugs: It appears that the matrix rime is more dominant than the utterance time. This is borne out by the fact that in a number of cases (,ambiguous cases', d. Verf.) unless the context forces one to do otherwise, the sentence is given a matrix time-based interpretation. (Yava§ [1980] p. 154).

Dabei gelten zwei Prinzipien in unumstößlicher Weise: - Das Prinzip der voranschreitenden Qualifikation (vgl. Mundy [1955]). d.h. AE2 wird durch AEj spezifiziert. Der Relativsatz muß also dem Matrixsatz vorausgehen. - Die Reihenfolge AEj - AE2 spiegelt die chronologische Abfolge wider. ÄE1 kann zeitlich nicht vor ÄE2 liegen. Kann dieses Prinzip nicht eingehalten werden, so muß dies explizit markiert werden. Das zeitliche Verhältnis ÄEj nach ÄE2 kann durch das Partizip ,ecek' (Futur) ausgedrückt werden. 17

Z.B. Ahmet'e mektup yazan adam gelecigini bildirdi. - Der Mann, der Ahmet geschrieben hat, kündigte sein Kommen an. - Der Mann hat Ahmet geschrieben und sein Kommen angekündigt. (Beispiele aus: JOHANSON [ 1 9 7 5 ] p.

114/5).

4.4. Ausdruck temporaler Referenz

149

z.B. „Bana yardim edecek üc talebe varmi?" Sind hier drei Studenten, die mir helfen < werderi> können ,Ecek' wird dann verwendet, wenn der Sachverhalt in der subordinierten Position zu der durch das finite Verbum gesetzten Referenzzeit noch nicht begonnen hat. Die gleichen Gesetzmäßigkeiten gelten für die temporalen Verhältnisse in Satzgefügen, die den deutschen daß-Sätzen entsprechen. Für die explizite Markierung von Zeitbeziehungen zwischen ÄEj und ÄE2 steht im Türkischen eine Anzahl von Verbalsuffixen und Postpositionen zur Verfügung, die die Verhältnisse ,vorher, nachher und gleichzeitig' ausdrücken. Die temporale Einordnung von AEj muß dabei aus dem Matrixsatz abgeleitet werden.19 z. B. Herkes gid - ince toplarim. Ich räume auf, wenn alle weg sind. Yemegi pi§ir-irken geldiler. Sie kamen, während ich kochte. Berlin'e geldigimden beri onu görmedim. Seit ich nach Berlin gekommen bin, habe ich sie nicht gesehen.20 (Für das Inventar im einzelnen s. Tab. 4.2.) In den Fällen, in denen AEj (subordiniert) zeitlich nach ÄE2 einzuordnen ist, tritt zwischen zwei Grundprinzipien des türkischen Diskursaufbaus ein Widerspruch auf: das,Prinzip der voranschreitenden Qualifikation' (PvQ) verlangt die Reihenfolge AE j AE2, das der chronologischen Abbildung AE2 - AEj. Hier erweist sich PvQ als das dominante Prinzip, dem die chronologische Abbildung geopfert wird. Abschließend sollen noch einmal die spezifischen Merkmale komplexer 18

Der zeit-relationale Gehalt der Partizipien wird an ihrem Gebrauch mit der Postposition ,zaman' deutlich. Sie legen das zeitliche Verhältnis zwischen den im 1. und 2. Äußerungsteil benannten Sachverhalten fest: ,Seneye Türkiye 'ye gittigim zaman arkada§im da ziyaret ederim'. Partizip Perfekt

Wenn ich nächstes Jahr in die Türkei fahre, besuche ich auch deinen Freund.

,Seneye Türkiye 'ye gidecegim zaman senin e§yalanni da götürürüm.' Part. Futur

Wenn ich nächstesJahr in die Türkeifahre, nehme ich auch deine Sachen mit. (Beispiele nach 19

20

M. GÖTZ, persönliche Mitteilung.) Eine genaue Darstellung der Gerundien im Türkischenfindetsich in N . YÜCE, ,Gerundien im Türkischen, eine morphologische und syntaktische Untersuchung.', Mainz 1973. Vgl. zu den Beispielen, A K S U 1980.

150

4. Temporale Referenz im Türkischen

türkischer Temporalstrukturen - insofern sie sich von deutschen Strukturen unterscheiden - herausgestellt werden. - Im Türkischen können die Kategorien ,temporale Einordnung' und ,temporale Relation' in der Verwendung des Verbs getrennt werden. - Äußerungen können zeitlich ausschließlich relational bestimmt sein. - Dies hat zur Folge, daß dann die einzelnen Äußerungseinheiten in enger Abhängigkeit voneinander stehen, die Textkohärenz - zumindest im Bereich der Satzgefüge - ist dichter. Der Hörer muß in der Interpretation größere Äußerungseinheiten aufeinander beziehen. Inferenzen werden damit zu einem notwendigen Mittel des Verstehens. 4.4.2. Uberblick über das Formeninventar im Türkischen. Im folgenden werden die Ausdrucksmittel zusammengestellt, die das Türkische zur Repräsentation temporaler Kategorien aufweist. Der Überblick ist an formalen Kriterien orientiert. Zunächst sind in einer Tabelle die Tempus/Aspektformen des Verbsystems zusammengefaßt. Es folgt die Darstellung der wichtigsten grammatischen Ausdrucksmittel zur temporalen Kohärenz (Partizipien, Gerundien, Postpositionen). Abschließend wird kurz auf die Möglichkeiten lexikalischer Zeitreferenz eingegangen. 4.4.2.1. Das Verbalsystem (Tempusformen und Aspektformen) -Präsens ,mekte'/,-yor'/,-ir' gidiyorum gitmekteyim giderim -Präteritum a) bestimmte ,-di' Vergangenheit gittim b) unbestimmte ,mi§' Vergangenheit gitmi§ c) Aspekt

,mekteydi'/,-yordu'/ ,-irdi' geliyordum

kursiv kursiv Aorist

ich gehe

ich ging es wird angenommen, daß er ging

kursiv

151

4.4. Ausdruck temporaler Referenz

-Plusquamperfekt

-Futur a) Futuri b) Futur II

gelmekteydim gelirdim ,-didi7,-mi§tic geldiydim [ungebräuchlich] gelmi§tim ,-ecekc gelecegim ,-ecekti'/,-ecekmi§' gelecektim gelecekmi§im

kursiv Aorist

ich kam

ich war gekommen

ich werde kommen ich werde gekommen sein

Wie oben angeführt wurde, übernehmen die Tempusformen typischerweise die Aufgabe, Ereignisse in Bezug auf einen Rp (Redezeit oder sekundärer Referenzpunkt) einzuordnen. Doch kann auch im Türkischen das Tempussystem dafür verwendet werden, Perspektivierungen auszudrükken. Das bedeutet, daß Zeitformen entsprechend dem Betrachterstandpunkt ausgetauscht werden können. Kontextuellen Faktoren kommt dabei eine große Bedeutung zu (z.B. historisches Präsens)n. 4.4.2.2. Koordination/Subordination I.

Partizipien22 Subjektpartizip: Objektpartizip:

21

22

,Präsens' gelen adam ,Perfekt' beklenmedik haber

Stamm + en der Mann, der kommt/kam Stamm + dik (bestimmt) unerwartete Nachricht (ungebräuchl.)

Ö . BALKAN kommt in seiner Untersuchung „Interchangeability of Tenses in Colloquial Turkish" (1968) zu dem Ergebnis, daß „each tense can denote a time function different from that which is normally attached to it." ([1968] p. 13). Mit Beispielen belegt er, „that each tense in a sentence is interchangeable with another tense it happens to denote, without any significant semantic difference being involved in that change." ([1968] p. 13). In seiner Schlußfolgerung, es handle sich hier um ein Prinzip, der ,free variation', geht Ba§kan jedoch sicherlich zu weit. Abgesehen davon, daß die unterschiedlichen Formen in der Regel auch semantische, zumindest aber stilistische Varianten darstellen, sind inhaltliche Restriktionen zu beachten, die sich aus der unidirektionalen Natur der Zeitstruktur ergeben. Die Bezeichnungen .Partizip Präsens/Perfekt' werden zwar in den Grammatiken verwendet, sind jedoch irreführend, da die Partizipien keinerlei Implikationen für die zeitliche Einordnung der Verbalproposition haben (vgl. 4.4.1.4.).

152

4. Temporale Referenz im Türkischen

Objektpartizip:

gelmi§ adam

Stamm + mi§ (unbestimmt) der Mann, der kommt/kam ,Futur' Stamm + ecek bu i§i yapacak adam der Mann, der diese Arbeit machen wird.

II. Gerundien (im folgenden wird ein Uberblick über die wichtigsten Formen gegeben). Suffixe, die mit dem Stamm gebildet werden. - ince wenn, sobald - iken/-ken während - eli seit - ip und (gleichzeitig) - meden bevor Suffixe, die mit abgeleiteten Verbformen gebildet werden. - r . . . - mez sobald - dik?e jedesmal wenn - dikte als DI. Postpositionen Postpositionen bilden mit dem nominalisierten Verb eine subordinierte Verbalphrase. önce (+ Abi.) bevor gelmeden önce telefon ediyorum - bevor ich komme, rufe ich an sonra (+ Abi.) nachdem beri (+ Abi.) seit kadar (+ Abi.) bis zaman (+ Poss.) wenn IV. Kasus Lokativ 4.4.2.3.

-de/da

Angabe eines Zeitpunktes

lexikalische Mittel zur Zeitreferenz

Adverbien können im Türkischen folgende Konzepte spezifizieren: - Zeitpunkte ,§imdi' jetzt (deiktisch) - Bezugszeiten ,sali günü' am Dienstag (absolut) ,hemen' sofort (deiktisch, anaphorisch) - Zeitrelationen ,önce' vorher (vorzeitig) ,ondan sonra' danach (nachzeitig)

5. Die Daten 5.1. Informanten Drei Überlegungen, die sich aus der allgemeinen Themastellung dieser Arbeit ergeben, waren für die Auswahl der Informanten entscheidend: i) Um zu untersuchen, welche Rolle konzeptuelle Kategorien im L2Erwerb und -Gebrauch spielen, ist es zweckmäßig, Sprachdaten zu Grunde zu legen, bei denen kein Einfluß durch Unterricht vorausgegangen ist. Im ungesteuerten Spracherwerb ist der Lerner weitgehend sich selbst überlassen, die Kriterien für die selektive Aufnahme des Sprachmaterials werden von ihm selbst in den Lernprozeß eingebracht.1 Diese Lernersprachen sind deshalb besser geeignet, Einblicke in Prozesse konzeptueller Steuerung zu geben, so wie sie vom Lerner selbst entwickelt werden. Der Lernprozeß wird nicht durch gezielte Eingriffe von außen beeinflußt. ii) Der Schwerpunkt der Untersuchung liegt auf Fragen des L2-Gebraucbs. Für die Bestimmung des Verhältnisses von konzeptueller Grundlage und sprachlicher Repräsentation im Diskurs sind die Lernersprachen besonders geeignet, die ein verhältnismäßig stabiles System für den Sprecher darstellen. In solchen fossilierten Lemerspracken zeigt sich, wie die Sprecher - auf unterschiedlichen Kompetenzniveaus - einen bestimmten Referenzbereich erschlossen und sprachlich erfaßt haben, so daß die für sie wesentlichen Kategorien abgedeckt sind. Aus diesem Grund wurden Informanten gewählt, die mindestens fünf Jahre in Deutschland leben und für die die deutsche Sprache bereits - sicherlich in beschränkten Bereichen - routinierte automatisierte Kompetenz darstellt. iii) Ein weiterer Faktor, dessen Bedeutung für den Spracherwerb in der Forschung umstritten ist, ist der muttersprachliche Einfluß. Eine konzeptorientierte Analyse muß die Möglichkeit in Betracht ziehen, daß be1

Vgl. hierzu die Unterscheidung externe und interne Motivation (Kap. 2). Im Falle der temporalen Referenz können wir die externe Motivation als Erwerbsfaktor weitgehend vernachlässigen.

154

5. Die Daten

stimmte Formen der Konzeptualisierung, so wie sie in der Muttersprache vorkommen (vgl. Kap. 2), Einfluß auf den L2-Erwerb haben können. Um den Einfluß der Muttersprache nachweisen oder aber als irrelevant ausgrenzen zu können, wurden zwei Sprachen als TL und ML gewählt, die im Bereich der temporalen Referenz wesentliche Unterschiede aufweisen. Diese Überlegung führte zur Wahl einer türkischen Informantengruppe. Für die Analyse wurden Daten von insgesamt 20 türkischen Sprechern (5 Frauen, 15 Männern) erhoben, von denen 10 (2 Frauen, 8 Männer) für die Detailuntersuchungen ausgewählt wurden. Die Informanten gehören derselben sozialen Gruppe an. Wenn sie sich auch zum Teil durch ihre Herkunft unterscheiden, so sind sie in Deutschland als türkische Gastarbeiter auf die gleiche gesellschaftliche Stufe gestellt. Die meisten der Informanten arbeiten in Fabriken oder als ungelernte Kräfte in Positionen des Dienstleistungssektors. Bis auf drei sind sie der türkischen Unterschicht zuzurechnen. Ihr Bildungsstand ist entsprechend niedrig, viele haben nur eine fünfjährige Grundschulausbildung, die keinen Fremdsprachenunterricht einschließt. Es handelt sich um Erwachsene zwischen 27 und 42 Jahren, die alle zum Zeitpunkt der Aufnahme seit fünf oder mehr Jahren in West-Berlin lebten. Die Mehrzahl war zur Zeit der großen Anwerbung 1969/1970 nach Deutschland umgesiedelt. Keiner von ihnen hat je an Sprachkursen teilgenommen. Die Sprecher wurden so ausgewählt, daß unterschiedliche lernersprachliche Niveaus erfaßt wurden. Die Gruppe umfaßt ein Spektrum, das von ganz elementaren Lernersprachen bis hin zu beinahe vollständiger L2Kompetenz reicht. Bevor auf die Datenerhebungstechniken eingegangen wird, sollen kurz einige Probleme dargestellt werden, die sich im Zusammenhang mit den Aufnahmen ergaben. Die Kontaktaufnahme zu türkischen Familien erwies sich als recht einfach. Nach dem ,Schneeballprinzip' wurde ich von einer Familie zur anderen weitergereicht. So ergab sich in kurzer Zeit Kontakt zu einigen türkischen Familien. Die Bereitschaft, Deutsche zu sich einzuladen, war außerordentlich hoch. Schwierigkeiten ergaben sich jedoch, sobald das eigentliche Anliegen, die Tonbandaufnahme, zur Sprache kam. Es war oft nicht möglich, den Zweck der Untersuchung verständlich zu machen und auch eine praktische Begründung, die auf den späteren Nutzen für den Sprachunterricht hinwies, konnte häufig nicht überzeugen. Daraus resultierte ein Mißtrauen gegenüber der von den Informanten nicht mehr kontrollierbaren Verwen-

5.1. Informanten

155

dung ihrer persönlichen Äußerungen, das auch noch durch eine andere Quelle verstärkt wurde: bei vielen Türken gab es Bedenken, daß die Aufnahmen für politische Zwecke mißbraucht werden könnten. Aus einem verhältnismäßig großen türkischen Bekanntenkreis blieb eine kleine Gruppe, die auch bereit war, bei Sprachaufnahmen mitzumachen. Alle Informanten nahmen das erste Mal an einem Interview teil, das aufgezeichnet wurde. Damit ergab sich in verstärktem Maße eine Schwierigkeit, die grundsätzlich mit dieser Form der Datenerhebung verknüpft ist: Wie kann man vermeiden, daß der Informant das Gefühl hat, in einer Prüfungssituation zu stehen und durch das midaufende Tonbandgerät unter erheblichen psychischen Druck gerät? (vgl. hierzu Labov [1972], HPD [1975]). Solche Streßfaktoren verzerren erwiesenermaßen das Bild sprachlicher Kompetenz. Eine weitere Schwierigkeit liegt darin, daß Interviews oft der Charakter artifizieller Kommunikation anhaftet. Dies kann zur Folge haben, daß der Informant sich einer besonderen Sprache bedient (z.B. sich bemüht, besonders normengerecht zu sprechen). Solches Datenmaterial wäre als Grundlage der Analyse wenig geeignet. Das Ziel mußte deshalb sein, eine möglichst ungezwungene, natürliche' Gesprächssituation für die Datenerhebung herzustellen. Um dies zu erreichen, wurden folgende Bedingungen als notwendige Voraussetzungen angesehen und für die einzelnen Interviews geschaffen: - zwischen Informant und Interviewer muß zunächst ein Vertrauensverhältnis hergestellt werden. Der Kontakt sollte deshalb vorzugsweise über Freunde zustande gekommen sein. Die Aufnahme erfolgt erst dann, wenn nach einigen Besuchen die ersten Barrieren der Fremdheit abgebaut sind. - Die Aufnahmen werden in einer dem Informanten vertrauten Umgebung gemacht. Die vorliegenden Daten wurden bei den Sprechern zu Hause erhoben. In der eigenen Wohnung im Familienkreis ist der Informant gegenüber dem von außen dazukommenden Interviewer in der ,überlegenen' Position des Gastgebers. - Bei den Aufnahmen waren die Türkischsprecher immer in der Mehrzahl. Häufig waren außer dem Informanten weitere Familienmitglieder anwesend. In der Regel war ich die einzige Deutsche, begleitet von einer türkischen Linguistin. Dadurch war es dem Informanten möglich, auf das Türkische überzuwechseln, wenn er dies als erforderlich für eine erfolgreiche Kommunikation ansah. Durch diese Konstellation wurde die Sicherheit des Sich-Verständigen-Könnens hergestellt (vgl. auch unten ,bilinguales Interview'). Obwohl diese Methode manchmal zu Lasten der Aufnahmequalität

156

5. Die Daten

(Nebengeräusche, Parallelgespräche) ging, hat sie sich als dem Ziel angemessen erwiesen. Die Aufnahmen konnten in gelöster Atmosphäre gemacht werden, die Gespräche unterschieden sich nach meinem Eindruck nicht von anderen, nicht aufgezeichneten.

5.2. Datenerhebung Die Daten wurden 1980 im Zeitraum von ca. sechs Monaten in West-Berlin erhoben. Die Aufnahmen wurden von der Verfasserin, in Begleitung einer türkischen Linguistin oder eines türkischen Bekannten gemacht. Bei dem Aufnahmegerät handelt es sich um einen UHER-Kassettenrecorder. Das Datenmaterial stellt die Grundlage für eine Querschnittsstudie dar, für die jeder Informant mindestens zweimal in kurzem Abstand hintereinander aufgenommen wurde. Das 2. Interview war notwendig, um den Sprecher gezielt zu seinen eigenen Äußerungen befragen zu können (s.u. Elizitierungstechniken). Neben den Sprachdaten wurden anhand eines kurzen Fragebogens die wichtigsten Sozialdaten der Informanten festgehalten. Das geschah nach den Gesprächen durch die Interviewer. Die Fragebögen werden im folgenden Kapitel in einem kurzen Vorspann zu jeder Sprecheranalyse ausgewertet. Bei der Auswahl der Erhebungsmethoden war die allgemeine Fragestellung der Untersuchung maßgeblich. Der konzept-orientierte Ansatz warf das Problem auf, wie man zu einer Kontrolle der spezifischen lernersprachlichen Bedeutungen, der zugrundeliegenden Intentionen von L2-Außerungen gelangen könnte.,Selbstkonfrontationen' und Rückübersetzungen sowie sie z.B. von HPD (1979), E. Tarone (1981), Noyau (1982), Trevise (1982) vorgenommen wurden, erwiesen sich nur bedingt als taugliches Mittel. Da in der Regel ein gewisser Zeitraum zwischen der eigentlichen Äußerung und der Rückübersetzung lag, war man auf die Erinnerung des Informanten angewiesen. Eine genaue Wiedergabe der ursprünglichen Redeintention ist durch dieses Verfahren wohl kaum zu erreichen. Zur Umgehung dieses Problems erwies sich eine Aufnahmetechnik als besonders geeignet, die als ,bilinguales Interview' bezeichnet werden kann. Wie bereits erwähnt wurde, waren bei den Gesprächen grundsätzlich Gesprächspartner mit LI und L2 Kompetenz anwesend. Dadurch ergab sich selbstverständlich die Möglichkeit für den Informanten, beide Sprachen zu gebrauchen. Die Daten enthalten daher Passagen, in denen eine deutsche Äußerung von dem Informanten noch einmal ausführlicher auf Türkisch erklärt wird. Dadurch können Einblicke in die Redeabsichten gewonnen

5.2. Datenerhebung

157

werden. Wesentlich ist, daß der kommunikations-orientierte Sprachgebrauch nicht unterbrochen wird, wie es bei Rückübersetzungsaufgaben notwendigerweise der Fall ist. Dieses Datenmaterial wird im folgenden als ,Spontanparaphrasen' bezeichnet. Gezielte Erhebungsmethoden spielen für die vorliegende Untersuchung nur eine untergeordnete Rolle. Der Hauptteil der Aufnahmen besteht aus freier Rede', einem von den Kommunikationsinteressen (und -möglichkeiten) des Informanten gesteuerten Gespräch. Das Ziel, Daten zum Ausdruck temporaler Referenz zu elizitieren, ist durch die gängigen Gesprächsthemen zu erreichen. Erzählungen über das Leben in der Türkei, Erfahrungen in Deutschland usw. verlangen unterschiedliche Formen der Vergangenheitsreferenz, während eine Unterhaltung über Rückkehrpläne oder den weiteren Werdegang der Kinder dem Zeitbereich ,Zukunft' zuzuordnen ist. Daneben wurden drei quasi-experimentelle Elizitierungstechniken angewendet: 1. Eine Ubersetzungsaufgabe, bei der die Informanten je zehn Sätze aus dem Türkischen ins Deutsche und aus dem Deutschen ins Türkische übertragen sollten. Die Sätze waren unter dem Gesichtspunkt der temporalen Referenz in beiden Sprachen zusammengestellt. 2. Während des 2. Interviews wurden die Informanten mit eigenen Äußerungen konfrontiert und gebeten, sie auf Türkisch zu paraphrasieren. Auch hierbei wurde der Schwerpunkt auf Fragen der temporalen Referenz gelegt. 3. Den Informanten wurde eine türkische Geschichte vorgelegt, „Vezir ve Dilenci", die sie auf Deutsch nacherzählen sollten. Nicht alle Sprecher waren in der Lage, die Erzählung auf Deutsch wiederzugeben. Die metalinguistischen Aufgaben, v. a. Ubersetzungstests, erwiesen sich in einigen Fällen als äußerst schwierig. Dabei bestand das Problem weniger in der sprachlichen Kompetenz als vielmehr in der Art der Aufgabenstellung. Da diese Sprecher nie gelernt haben, ein theoretisches Verhältnis zur Sprache einzunehmen, war die Übersetzung von ,sinnlosen', weil unmotivierten Sätzen für sie nicht einsichtig. In einigen Fällen wurden bei der Übersetzung Veränderungen der Aussagen vorgenommen, so daß sie in Bezug auf den Sprecher zu einer realen Information wurden.2 Aus diesen Gründen erwies sich die ,freie Rede' als das Datenmaterial mit dem höchsten Informationswert.

2

Der Satz „Er mußte jedes Jahr zur Ausländerpolizei" wurde z. B. als „Ich muß nicht mehr zur Ausländerpolizei" im Türkischen wiedergegeben.

158

5. Die Daten

Auf weitere Probleme im Zusammenhang mit dem hier verwendeten Datenmaterial muß noch hingewiesen werden. - Das Bild, das in den folgenden Datenanalysen von der Kompetenz der einzelnen Sprecher gegeben wird, kann keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Es kann nicht ausgeschlossen werden, daß gerade im Bereich des Lexikons bestimmte Formen nicht in den Aufnahmen erfaßt wurden. - Obwohl Spontanparaphrasen und Rückübersetzungen eine gewisse Sicherheit hinsichtlich der Deutung sprachlicher Formen gewährleisten, muß man sich häufig auf der Grundlage verschiedener Gebrauchskontexte einzelner Formen deren Bedeutung annähern. Dabei sind Fehlinterpretationen nicht auszuschließen. Sprachliche Formen, für die sich aus den Daten keine klaren Bedeutungen oder Funktionen ergeben, werden in den folgenden Untersuchungen als unbestimmte stehen gelassen. Für eine Klärung müßten weitere Datenerhebungen erfolgen.

5.3. Transkription Die Tonbandaufnahmen wurden direkt nach den Sitzungen von mir transkribiert. Eine sofortige Transkription war notwendig, um das Material für die zweite Sitzung vorzubereiten. Diese sollte in möglichst kurzem Zeitabstand der ersten Sitzung folgen. Die Daten wurden mit dem orthographischen System des Deutschen, bzw. Türkischen transkribiert. Die Redetexte wurden durch Randbemerkungen ergänzt, in denen Besonderheiten in Hinblick auf Intonation und Aussprache, situativen Kontext, Diskursverhalten (Zögern, Korrigieren etc.) festgehalten werden. Die Transkripte enthalten neben den Äußerungen des Informanten auch die Redebeiträge des Interviewers und - wenn für den Gesprächsverlauf von Bedeutung - auch von weiteren Personen (Kinder!).

5.3. Transkription

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