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German Pages [329] Year 2016
Barbara Weber
Zwischen Vernunft und Mitgefühl Jürgen Habermas und Richard Rorty im Dialog über Wahrheit, politische Kultur und Menschenrechte
VERLAG KARL ALBER
https://doi.org/10.5771/9783495860601
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B
Barbara Weber Zwischen Vernunft und Mitgefühl
VERLAG KARL ALBER
A
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Einerseits ist die Idee der Menschenrechte aus westlicher Perspektive zunächst so eingängig, dass zu fragen bleibt, warum die globale Durchsetzung auf solche Widerstände stößt. Andererseits scheint es, als würde der Dialog darüber, welche konkreten Rechte mit dem Menschsein einhergehen, die globalisierte Gesellschaft an den Rand ihrer Fähigkeiten bringen. Philosophisch betrachtet stehen sich hier zwei Diskursmodi globaler Verständigung gegenüber: der auf kommunikativer Vernunft basierende »ideale« Diskurs (Habermas) und die auf Mitgefühl setzende »Kultur der Menschenrechte« (Rorty). Dieses Buch ist jedoch mehr als ein bloßer Vermittlungsversuch: Vielmehr begibt sich die Autorin auf eine Art Spurensuche und führt die divergierenden politischen Visionen auf deren zugrundeliegende Epistemologien zurück. Erst hierdurch wird verständlich, warum Habermas und Rorty folgende Fragen so unterschiedlich beantworten: Müssen wir uns zunächst in rationalen Diskursen annähern, um für Menschen fremder Kulturen Solidarität zu empfinden? Oder aber gelingt die Kultivierung eines umfassenden Mitgefühls, um von dort zu einer transkulturellen Solidarität vorzudringen? Ist eventuell die Substitution der Vernunft durch Mitgefühl ein Gestus der Aufrichtigkeit einer Disziplin, die sich ihrer Grenzen bewusst geworden ist: ein »selbstloser Akt«, der das Eingestehen des eigenen Unvermögens über die Denunziation anderer stellt? Oder aber ist der rationale Diskurs im multikulturellen Dialoggefüge aktueller politischer Diskurse unersetzlich?
Die Autorin Barbara Weber, geb. 1976 in München, ist Professorin für Philosophie und Psychologie im Department für Human Development, Learning and Culture an der University of British Columbia in Kanada. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich der Phänomenologie und Hermeneutik sowie der zeitgenössischen politischen Philosophie.
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Barbara Weber
Zwischen Vernunft und Mitgefühl Jürgen Habermas und Richard Rorty im Dialog über Wahrheit, politische Kultur und Menschenrechte
Verlag Karl Alber Freiburg / München
https://doi.org/10.5771/9783495860601 .
Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2013 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier ISBN (Buch) 978-3-495-48594-1 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-86060-1
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Für Ariadne Marie Weber-Madison, gewidmet in Liebe und Dankbarkeit für Dein Dasein
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Danksagung
Das hier vorliegende Buch ist Bestandteil eines größeren Forschungsprojekts zum Thema Menschenrechte, das im Rahmen meiner Habilitation an der Universität Regensburg entstanden ist. Die Ergebnisse jenes Projekts werden in drei getrennten Werken im Verlag Karl Alber erscheinen. Und wie jedes größere Werk, so speist sich auch dieses aus einem großzügigen und empathischen Kreis aus Förderern, Mentoren, Familie und Freunden, welche den langen Weg des Denkens und Schreibens geduldig begleitet haben. Hierzu gehört zuallererst mein langjähriger Mentor und Lehrer Prof. Dr. Herb, welcher mich in intensiven Gesprächen stets zum mutigen Weiter- und Anders-Denken angeregt hat. Ebenfalls danke ich Herrn Prof. Dr. Sebaldt und Herrn Prof. Dr. Gruber für ihre Fachkompetenz und Geduld, um die Arbeit fest im aktuellen Forschungskontext zu verankern. Beide standen mir jederzeit und zuverlässig bei allen Fragen zur Seite. An Prof. Dr. Eva Marsal geht ein ganz besonderer Dank. Nicht nur hat sie über all die Jahre sämtliche meiner Denkbewegungen verfolgt und nach allen Kräften unterstützt sowie die gesamte Arbeit akribisch und kritisch gelesen, sondern ferner ist sie einer der wenigen Menschen, der sowohl wissenschaftlich wie menschlich vollkommen selbstlos denkt und handelt – einzig mit der Ausrichtung auf das Beste unter den gegebenen Umständen. Für diese innige Verbindung, welche mich oftmals an die Freundschaften des Idealismus erinnert, danke ich ihr zutiefst. Prof. Dr. James Mensch danke ich für die langen »Philosophentage«, an welchen wir uns oft für viele Stunden in die komplexe Welt des Hinterfragens und Denkens zurückgezogen haben. Oft bin ich von unseren Begegnungen wie »umgekrempelt« zurückgekehrt und habe das ein oder andere Kapitel von neuem begonnen. Frau Prof. Dr. Bäuml-Roßnagl danke ich für ihren unerschütterlichen Glauben und Zuspruch des Mutes, meine ganz eigenen Denkwege zu beschreiten. Tamara Ralis und Fritz Hörauf sind seit jeher meine Seelen- und Geistesgeschwister. Ohne 7 https://doi.org/10.5771/9783495860601 .
Danksagung
ihren Zuspruch, ihre Liebe und all die tiefsinnigen Dialoge in ihren Ateliers hätte ich gar nichts von all dem zustande gebracht. Ganz Ähnliches gilt für meinen Ex-Partner und lebenslangen Freund Howard Fine, welcher durch seine kritischen, aber immer liebevollen Kommentare mein Denken und Schreiben oft über den Rand des noch »Denkbaren« hinausgetrieben hat. Auch Prof. Dr. Susan Gardner und Prof. Dr. Petra Schweitzer danke ich für die intensiven Gespräche sowie die herausfordernden Nachfragen und Anmerkungen. Meinen Eltern und Großeltern gilt natürlich ein ganz besonderer Dank, der jenseits des Sagbaren liegt und der sich aus einer Art der Demut des Daseins speist. Meinem Mann Kirk Madison danke ich für seine unerschütterliche Liebe und Ruhe, mit welcher er die ganze Geschichte und Dramatik des Buches mit mir gemeinsam durchlitten und ausgetragen hat. Nicht zuletzt danke ich meiner Tochter Ariadne Marie Weber-Madison, welche zeitgleich mit der Anmeldung zum Habilitationsverfahren begann, ein Teil meines Leibes und Lebens zu werden. Oft musste sie sich, anstatt sich gegen ein Geschwisterchen durchzusetzen, im Ansturm gegen diese gewaltige Kraft des Geistigen behaupten. Für ihr Verständnis und ihre Geduld bin ich sehr dankbar. Ihr sei deshalb auch das erste Buch gewidmet. Schließlich gilt mein inniger Dank Mareike Gebhardt, Dr. Mechthild Ralla, Dominik Fürst und Dominik Flubacher, die in meisterhafter Genauigkeit das ganze Manuskript auf Komma, Punkt und Strich überprüft haben, ohne dabei den Blick für die großen Zusammenhänge zu verlieren. Ferner verdanke ich Jan Kleine die präzise und kritische letzte Durchsicht der Arbeit sowie seine vertrauensvolle Kontaktaufnahme mit dem Karl Alber Verlag. Nicht zuletzt möchte ich den Frauenbeauftragten der Universität Regensburg aufrichtig danken: und zwar nicht nur für die generöse finanzielle Förderung, sondern auch für die emotionale Unterstützung sowie die kompetenten und pragmatischen Hilfestellungen. Der FazitStiftung danke ich ferner für die sehr großzügige und freundliche finanzielle Unterstützung in einer Kernzeit der Arbeit. Vancouver, der 1. Februar 2013
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Inhalt
Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einleitende Gedanken: Menschenrechte in Zeiten der Globalisierung: Probleme, Profile, Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1.
Jürgen Habermas: Kommunikative Vernunft als Garant der Einbeziehung des Anderen im Dialog über universale Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.1 Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.1 Zum methodischen Vorgehen . . . . . . . . . . . . 1.1.2 Verwendete Werke . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.3 Sekundärliteratur und Rezeption . . . . . . . . . . 1.2 Charakteristik der universalistischen Menschenrechtskonzeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.1 Konfliktlinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.2 Das Janusgesicht der Menschenrechte . . . . . . . . a. Faktizität und Geltung . . . . . . . . . . . . . . b. Moralische und positive Rechte . . . . . . . . . c. Demokratie und Rechtsstaat . . . . . . . . . . . 1.2.3 Aktuelle Kontroversen . . . . . . . . . . . . . . . a. Dialog mit dem Westen . . . . . . . . . . . . . b. Dialog mit dem Osten . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Die dreifache »Einbeziehung des Anderen« auf den Ebenen der politischen Philosophie, Diskursethik und kommunikativen Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.1 Politische Philosophie: deliberative Demokratie und Rechtstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a. Konfliktlinien . . . . . . . . . . . . . . . . . .
27 27 27 28 30 32 32 34 35 37 40 44 45 46
54 55 55 9
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Inhalt
b. Charakteristika der deliberativen Demokratie . . c. Strategien der Einbeziehung des Anderen . . . . 1.3.2 Diskurstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a. Konfliktlinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. Charakteristika der Diskurstheorie und Diskursethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c. Einbeziehung des Anderen . . . . . . . . . . . . 1.3.3 Kommunikative Vernunft . . . . . . . . . . . . . . a. Konfliktlinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. Charakteristika der kommunikativen Vernunft . c. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Erste Zwischenbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.1 Die kommunikative Vernunft als theoretisches Fundament der universalistischen Menschenrechtskonzeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.2 Kommunikative Vernunft als Garant der Einbeziehung des Anderen . . . . . . . . . . . . . 1.4.3 Offene Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a. Kommunikative Vernunft und Diskursethik in der Kritik: themenbezogene Strömungen . . . . . . b. Das Übergehen des Körpers in der Engführung des Intersubjektivitätsbegriffs . . . . . . . . . . c. Die Frage nach der Handlungsmotivation und illokutionären Absicht . . . . . . . . . . . . . . d. Möglichkeiten und Grenzen interkulturellen Verstehens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.
Richard Rorty: die Bedeutung des Mitgefühls für das neopragmatische Modell einer Kultur der Menschenrechte . . .
2.1 Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Zum methodischen Vorgehen . . . . . . . 2.1.2 Verwendete Werke . . . . . . . . . . . . 2.1.3 Sekundärliteratur und Rezeption . . . . . 2.2 Charakteristik der »Kultur der Menschenrechte« 2.2.1 Konfliktlinien . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Zentrale Thesen . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3 Aktuelle Kontroversen . . . . . . . . . .
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58 65 79 79 83 93 101 101 103 127 129
130 134 142 142 148 150 152
157 157 157 160 163 164 164 168 172
Inhalt
2.3 Mitgefühl als transkulturelle Solidarität: ein Ausweg aus der erkenntnistheoretischen und politischen Gleichgültigkeit . 2.3.1 Die Entzauberung des Spiegels: von der Erkenntniskritik zum Anti-Essentialismus . . . . . . . . . . . a. Konfliktlinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. Kritik: Kernprobleme des Essentialismus . . . . c. Therapie: Bildung statt Begründung . . . . . . . 2.3.2 Die unbeirrbare Hoffnung ohne Grund: vom AntiEssentialismus zur Philosophie als »cultural politics« (kulturelle Praxis) . . . . . . . . . . . . . . . . . . a. Konfliktlinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. Kritik: Kernprobleme der politischen Kultur . . . c. Therapie: die Trennung von privater Ironie und liberaler Hoffnung . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3 Wider die Gleichgültigkeit: von der Philosophie als »cultural politics« (kulturelle Praxis) zur Schule der Empfindsamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . a. Konfliktlinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. Kritik: Kernprobleme der Vernunft . . . . . . . c. Therapie: Empfindung statt Vernunft . . . . . . 2.4 Zweite Zwischenbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.1 Nischen für Mitgefühl . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.2 Grenzen des Mitgefühls . . . . . . . . . . . . . . . 3.
Habermas und Rorty sprechen über Wahrheit, Vernunft und Mitgefühl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
178 178 178 184 199
213 213 215 229
238 238 240 244 256 257 260
271
3.1 Philosophischer Melancholiker versus enttäuschter AntiPlatoniker? Habermas und Rorty im Dialog über Wahrheit 273 3.1.1 Zwei Thesen zur gegenseitigen Abgrenzung . . . . 274 a. Jürgen Habermas und das Janusgesicht der Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 b. Richard Rorty und der Abschied von der Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 3.1.2 Transatlantische Annäherungen zwischen Phänomenologie und Sprachphilosophie . . . . . . . . . . . . 284 a. Philosophische Denkbewegungen zwischen Wahrheit und Rechtfertigung . . . . . . . . . . 284
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Inhalt
b. Möglichkeiten und Grenzen des epistemischen Zweifels: phänomenologische versus sprachphilosophische Restriktionen . . . . . . . . . . . . . . . . 286 c. Objektivität, Solidarität oder Intersubjektivität? . 289 d. Funktion und Stellenwert der Vernunft . . . . . 293 3.1.3 Bleibende Differenzen zwischen Überzeugen und Überreden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 3.2 Politischer Realist versus idealistischer Träumer? Habermas und Rorty im Dialog über Vernunft und Mitgefühl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 3.2.1 Methodische Unterschiede . . . . . . . . . . . . . . 298 3.2.2 Philosophischer versus literarischer Perspektivenwechsel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 a. Die Gewichtung von Vernunft und Mitgefühl im öffentlichen Raum . . . . . . . . . . . . . . . . 299 b. Perspektivenwechsel als Chiasma zwischen Vernunft und Mitgefühl . . . . . . . . . . . . . 305 4.
Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.1 Die Kultivierung von Menschenrechten in Abhängigkeit von Vernunft und Mitgefühl . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Perspektivenwechsel ohne Körper? Eine phänomenologische Fußnote . . . . . . . . . . . . .
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einleitende Gedanken: Menschenrechte in Zeiten der Globalisierung – Probleme, Profile, Perspektiven
a.
Universale Menschenrechte oder kulturelle Pluralität?
Einerseits ist die grundlegende Idee der Menschenrechte aus westlicher Perspektive zunächst so eingängig, dass zu fragen bleibt, warum die globale Durchsetzung auf solche Widerstände stößt. Andererseits scheint es, als würde der Dialog darüber, welche konkreten Rechte mit dem Menschsein einhergehen, die globalisierte Gesellschaft an den Rande ihrer Fähigkeiten bringen. Ein Grund für diese Schwierigkeiten liegt darin, dass der interkulturelle Dialog über das Menschsein die Weltgesellschaft zur gegenseitigen Aufdeckung sogenannter »Lebensweltgewissheiten« drängt, Annahmen also, die wir für »allen vernünftigen Menschen gemein« halten. Und gerade von solchen Gewissheiten muss sich die globale Weltgesellschaft immer mehr verabschieden. Hinter diesen existentiellen Auseinandersetzungen mit eigenen Vorannahmen und fremden Sichtweisen stehen selbstverständlich nicht nur inhaltlich-rationale Uneinigkeiten, sondern komplizierte Anerkennungskämpfe 1 sowie die scheinbar uneinlösbare, aber implizite Forderung, mit allen Menschen Mitgefühl bzw. Solidarität zu empfinden. Die Liste der daraus resultierenden Probleme und Fragen ist lang und umfasst nicht nur die Begründungsproblematik solcher Rechte, Der kanadische Philosoph Charles Taylor betont in seiner »Politik der Anerkennung«, welche zentrale Bedeutung die wechselseitige Anerkennung in Dialogen für die Konstitution menschlicher Identität einnimmt. Das heißt, der Andere gilt nicht als antithetische Bedrohung der eigenen oder kulturellen Identität, sondern ist vielmehr deren essentielle Voraussetzung. Eine solche wechselseitige Anerkennung personaler und kultureller Identität ist jedoch besonders dann gefährdet, wenn globale Vereinbarungen und Gesetze kulturelle Besonderheiten bedrohen und hierdurch die Anerkennung versagen (z. B. Beschneidungsriten, arrangierte Hochzeiten, die Gleichberechtigung der Frau). Ein besonderes Problem stellt hier der Kampf um die internationale Einsetzung der Menschenrechte dar (vgl. Ch. Taylor, Multiculturalism and ›The Politics of Recognition‹, hg. v. Amy Gutmann, Princeton 1992).
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Einleitende Gedanken
sondern auch konkret inhaltliche Fragen, z. B. wie sich die verschiedenen Generationen von Menschenrechten zueinander verhalten bzw. ob sie überhaupt als »Rechte« im klassischen Sinne eingefordert werden können. Hinter einer solchen umfassenden Liste an offenen Fragen steht der Prozess und die Geschichte einer schrittweisen Bewusstwerdung der Menschen über ihre eigenen – und eigentlich schon lange als geklärt geglaubten – Vorurteile. Die Frage nach den Menschenrechten verweist die Bürger der globalisierten Welt aber nicht nur auf ihre Vorurteile gegenüber anderen Kulturen, sondern insbesondere auch auf ihr eigenes kulturelles und individuelles Selbstverständnis innerhalb eines globalen Beziehungsgefüges. Vielleicht erklärt dies die große Sensibilität und Verletzlichkeit, welche mit der Frage der Menschenrechte einhergehen. Die Frage, welcher im Folgenden nachgegangen wird, zielt genau auf jenes Verhältnis zwischen Vernunft und Gefühl bei der Kultivierung eines Bewusstseins für Menschenrechte. Die konkrete Fragestellung lautet: Müssen wir uns zunächst in rationalen Diskursen annähern, um für Menschen fremder Kulturen Solidarität zu empfinden, oder aber gelingt die Kultivierung eines umfassenden Mitgefühls für alle Menschen, um von dort zu allgemeinen Umgangsformen und transkultureller Solidarität vorzudringen? Denn letzten Endes ist jedes Recht auf den internen Zusammenhang von Faktizität und Geltung angewiesen, um als gesatztes Recht in Funktion zu treten.
b.
Konfliktlinien für die Umsetzung der Menschenrechte: bisherige Ansätze und wesentliche Fragestellungen
Der vorliegende Forschungsbericht konzentriert sich zuerst auf die Grundproblematik der Wertewandelforschung und ihre hervorstechendsten Ansätze. 2 Vor diesem Hintergrund wird sodann die Debatte um die interkulturelle Gültigkeit der Menschenrechte skizziert. Der Hauptfokus liegt dabei auf den verschiedenen Begründungsversuchen und Kritikpunkten. Abschließend werden die Hauptargumente von Habermas und Rorty im Hinblick auf die Menschenrechtsdebatte ge-
Ein detaillierter Forschungsbericht zu den jeweiligen Einzelkapiteln findet sich in Kapitel 1 zur Habermas-Rezeption, in Kapitel 2 zur Rorty-Rezeption.
2
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Einleitende Gedanken
genübergestellt. Hieraus rekurriert sich resümierend das Forschungsdesiderat. Der aktuelle Forschungsstand lässt sich darin zusammenfassen, dass es kein Übereinkommen mehr zu geben scheint, welche ethischen Voraussetzungen und Kriterien für ein sittlich verantwortliches Handeln gelten sollen. Mit anderen Worten, in den heutigen Demokratien kann dem Menschen nicht vorgeschrieben werden, nach welcher der pluralen Wahrheiten er leben soll. 3 Diese Beschreibung der Demokratie hat sich nach einem langen Weg der Emanzipations- und Befreiungsgeschichte in der Moderne – und in radikalerer Form durch die Postmoderne – durchgesetzt: unsere Lebenswelt selbst ist »postmodern« geworden. 4 Im Rückgriff auf Hannah Arendt wird von vielen Wissenschaftlern als Problem gesehen, dass soziokulturelle Fragen wie die der Wertebildung in den Bereich des Privaten abgedrängt werden, 5 da jeder Einzelne von seinem Selbstbestimmungsrecht innerhalb einer Demokratie Gebrauch macht. Als Folgeproblem wird propagiert, dass mit dem fortschreitenden Wertepluralismus eine zunehmende Verunsicherung des Individuums einhergeht, die sich in einer Zunahme von Werteskeptizismus, Werterelativismus und Werteindifferenz gegenüber jenen Grundwerten zeigt, auf denen andererseits das Ethos der Demokratie basiert. 6 Die Wertewandelforschung beurteilt diese Situation sehr unterschiedlich: Während Ronald Inglehart sie als eine Bewegung von materialistischen zu postmaterialistischen Werten rekonstruiert, 7 deutet Elisabeth Noelle-Neumann den zunehmenden Werteverfall kulturpessimistisch. 8 Vermittelnd zwischen diesen beiden Positionen steht Helmut Klages’ Theorie einer Wertedynamik, welche die extreme Wandelbarkeit von Werten per se aufzeigt. 9 Vgl. zur pluralen Lebenswelt im Kontext des Übergangs von der Moderne zur Postmoderne: Wolfgang Welsch, Unsere postmoderne Moderne, Weinheim 1987. 4 Ebd., 4. 5 Vgl. zum Verschwinden des öffentlichen Raumes: Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 2002, 33–98 und 62–73 u. 81–89. 6 Zu diesem Fazit kommt Karl Jüsten in seiner Forschungsarbeit über »Ethik und Ethos in der Demokratie«, Paderborn 1999. 7 Vgl. Ronald Inglehart, Kultureller Umbruch. Wertewandel in der westlichen Welt, Frankfurt am Main 1995. 8 Vgl. Elisabeth Noelle-Neumann, Politik und Wertewandel, in: Geschichte und Gegenwart, 1 (1985), 3–15. 9 Vgl. Helmut Klages, Wertedynamik. Über die Wandelbarkeit des Selbstverständlichen, Zürich 1988. 3
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Einleitende Gedanken
Diese Entwicklung spiegelt sich in besonderem Maße in dem Problem der globalen Wertebildung: So werden nach Meinung vieler Autoren die Realisierungschancen einer gemeinschaftlichen Wertebasis durch die Intensivierung europäischer Integrationsbemühungen erschwert.10 Auch der Diskurs über die Interkulturalität der Menschenrechte stellt in diesem Zusammenhang eine besondere Herausforderung dar. Nach Ulrich Beck bewirkt die Globalisierung eine unversöhnliche Dichotomie zwischen einer Universalisierung einheitlicher Standards einerseits und der Tendenz zur Partikularisierung und Betonung regionaler Besonderheiten andererseits. 11 Anthony Giddens sieht eine Verstärkung dieser Problematik durch die Intensivierung weltweiter sozialer Beziehungen. 12 Dabei scheint insbesondere die Verrechtlichung des Globus dem Globalisierungsprozess selbst hinterherzuhinken. Aufgrund dieser Bedingungen stellt Matthias Lutz-Bachmann die Hypothese auf, dass wir uns in einem Zustand befinden, der sich von Immanuel Kants skizziertem »rechtlichen Naturzustand« nur noch wenig unterscheidet. 13 Vgl. Gotthard Breit und Siegfried Schiele (Hg.), Werte in der politischen Bildung, Schwalbach/Ts. 2000; vgl. darin insbesondere den Artikel von Hörnlein. Durchaus relevant – vor allem für die theoretische Konzeption eines Modells der Wertebildung – ist, dass die Wertewandelforschung die Chancen für eine Revitalisierung bürgerschaftlicher Kompetenz grundsätzlich optimistisch sieht, insofern man Spielräume für selbständiges und eigenverantwortliches Handeln schafft (vgl. u. a. Ulrich Sarcinelli und Thomas Gensicke, in: G. Breit u. S. Schiele, a. a. O.). Das heißt, Demokratie muss als »Lebensform« und Kompetenz erlernt und praktiziert werden. Besonders Farnen sieht die demokratische Wertevermittlung im zusammenwachsenden Europa als Bildungsziel: »democracy as […] a principle or way of life. Democratic school practices are seen as a key method for learning the realities of democratic life, requiring democratic teaching and learning methods« (Russell F. Farnen (Hg.), Reconceptualizing Politics, Socialization, and Education. International Perspectives for the 21st Century. Oldenbourg 1993, 31). Auch Alemann betont, dass es bei der Demokratieerziehung darum geht, das Erlernen von Demokratie nicht nur als politisches System, sondern als alltägliche Lebensform zu betrachten (vgl. Ulrich von Alemann, Demokratie, in: W. Mickel (Hg.), Handlexikon zur Politikwissenschaft, Bonn 1986, 75–79). Hierfür müssen ein öffentlicher Raum geschaffen und entsprechende Diskurstechniken kultiviert werden. 11 Vgl. zur Globalisierungsproblematik: Ulrich Beck, Was ist Globalisierung? Irrtümer des Globalismus – Antworten auf Globalisierung, Frankfurt am Main 1997. 12 Anthony Giddens, Konsequenzen der Moderne, Frankfurt am Main 1996, 85. 13 Siehe zu diesem Vergleich: Matthias Lutz-Bachmann, »Weltstaatlichkeit« und Menschenrechte nach dem Ende des überlieferten »Nationalstaats«, in: H. Brunkhorst, W. R. Köhler und M. Lutz-Bachmann (Hg.), Recht auf Menschenrechte. Menschenrechte, Demokratie und internationale Politik, Frankfurt am Main 1999, 211. 10
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Einleitende Gedanken
Dies zeichnet nun den Problemkontext ab, vor welchem die ethische Debatte um die Menschenwürde14 auf einer praktisch-politischen Ebene um die Begründung universal geltender Menschenrechte ringt. Insbesondere ist begrifflich strittig, was man überhaupt unter der Bezeichnung von »Rechten« 15 versteht. In der aktuellen Analyse von Kommunikationsprozessen im interkulturellen Diskurs über die Menschenrechte von Thomas Risse, Anja Jetschke und Hans Peter Schmitz wird aus politikwissenschaftlicher Sicht auf das »Janusgesicht« der Menschenrechte aufmerksam gemacht: Einerseits sind sie Rechte konkreter Staaten bzw. andererseits internationale Rechtsabkommen. 16 In diesem Literaturbericht wird nun die argumentative Grundstruktur der Begründung einer transkulturellen Gültigkeit der Menschenrechte in ihrem Für und Wider dargestellt: Eine sehr umfangreiche Abwägung solcher Argumente sowie eine differenzierte philosophische Begründung der Menschenrechte versucht Walter Schweidler in seinem Buch »Geistesmacht und Menschenrechte« von 1994. 17 Jens Hinkmann strebt hingegen eine Systematisierung der verschiedenen Begründungen an. Dabei unterscheidet er zwischen Begründungen Im Sammelband über die aktuelle Debatte um die Menschenwürde erinnern Thomas Brose und Lutz-Bachmann, dass die Philosophie die Aufgabe haben sollte, die »Moral vernünftig zu begründen« bzw. allgemeingültige Werte zu finden (vgl. Thomas Brose u. Matthias Lutz-Bachmann (Hg.), Umstrittene Menschenwürde. Beiträge zur ethischen Debatte der Gegenwart, Berlin 1994). 15 Die grundsätzliche Idee der »Menschenrechte« ist natürlich nicht neu. Vergleichsweise »neu« ist hingegen, dabei von »Rechten« zu sprechen. So sieht z. B. Brieskorn die Entstehung der Menschenrechte als eine Folge des Verschwindens der Hoffnung auf ewiges Leben und der damit einhergehenden Wichtigkeit des irdischen Lebens (vgl. Norbert Brieskorn, Menschenrechte. Eine historisch-philosophische Grundlegung, Stuttgart, Berlin, Köln 1997, 75); Volker Gerhardt führt die Idee der Menschenrechte über den Begriff der dignitas bis Cicero zurück (vgl. Volker Gerhardt, Menschenrecht und Rhetorik, in: H. Brunkhorst, W. R. Köhler und M. Lutz-Bachmann (Hg.), a. a. O., 20); zur geschichtlichen Entstehung der Menschenrechte vgl. auch: Gerhard Oestreich, Die Idee der Menschenrechte in ihrer geschichtlichen Entwicklung, Berlin 1962. 16 Thomas Risse, Anja Jetschke u. Hans Peter Schmitz, Die Macht der Menschenrechte. Internationale Normen, kommunikatives Handeln und politischer Wandel in den Ländern des Südens, Baden-Baden 2002; in diesem Buch findet sich ein fünfstufiges Spiralmodell des Menschenrechtswandels, in dem auch versucht wird die »argumentative Selbstverstrickung« (191) verschiedener Interessengruppen im interkulturellen Diskurs zu analysieren. Insbesondere mit Blick auf die praktischen Konsequenzen eines solchen Prozesses ist dieses Buch auf vielen Ebenen ein Vorreiter. 17 Walter Schweidler, Geistesmacht und Menschenrechte. Der Universalanspruch der Menschenrechte und das Problem der Ersten Philosophie, Freiburg, München 1994. 14
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Einleitende Gedanken
über das Naturgesetz, die Diskursethik, den Liberalismus, den Kommunitarismus, den Utilitarismus, den transzendentalen Kontraktualismus, den fairnessorientierten Kontraktualismus und den normativen Individualismus. 18 Inhaltlich können als Begründungen der interkulturellen Gültigkeit der Menschenrechte folgende Argumentationslinien herausgearbeitet werden: 19 Robert Spaemann 20 spricht von einer Selbstzweckhaftigkeit des Menschen als eines absoluten Wertes. KarlOtto Apels 21 und Otfried Höffes 22 Theorien gleichen dem Versuch, Kants 23 Vernunfttheorie modernitätstauglich zu machen. Ihre transzendentale Argumentation misst dabei dem Menschen eine nichtrelative und objektive Bedeutung bei. John Rawls 24 versucht dagegen einer metaphysischen Begründung der Menschenrechte zu entgehen, indem er auf seine Theorie der Gerechtigkeit als Fairness zurückgreift. Ernst Tugendhat 25 sieht Menschenrechte im Kontext moralischer Rechte, während Jürgen Habermas 26 sie als legitime Grundrechte betrachtet. Robert Alexy 27 bestimmt hingegen Menschenrechte als grundrechtJens Hinkmann, Ethik der Menschenrechte. Eine Studie zur philosophischen Begründung von Menschenrechten als universale Normen, Marburg 2002. 19 Die folgende Darstellung ist eine nochmals erweiterte Version der verschiedenen Positionen wie sie von Stefan Gosepath u. Georg Lohmann bereits teilweise erarbeitet wurde; vgl. dies., Philosophie der Menschenrechte, Frankfurt am Main 1998. Jedoch weiche ich mit der Darstellung der Kritik an den universal geltenden Menschenrechten von deren Darstellung ab. 20 Robert Spaemann, Über den Begriff der Menschenwürde, in: Ernst-Wolfgang Böckenförde und Robert Spaemann (Hg.), Menschenrechte und Menschenwürde, Stuttgart 1987. 21 Karl-Otto Apel, Transformation der Philosophie, 2 Bde., Frankfurt am Main 1973. 22 Otfried Höffe, Ein transzendentaler Tausch: Zur Anthropologie der Menschenrechte, in: Philosophisches Jahrbuch 99 (1992), 1–28; vgl. auch das Kapitel über Menschenrechte, in: ders., Vernunft und Recht. Bausteine zu einem interkulturellen Rechtsdiskurs, Frankfurt am Main 1996. 23 Kant folgt in seiner Argumentation für die Menschenwürde der Tradition des Naturrechts bzw. Vernunftrechts; siehe Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten. Kants gesammelte Werke (Akademieausgabe), Berlin 1902 ff., Bd. 6. 24 John Rawls, Das Völkerrecht, in: Stephen Shute u. Susan Hurley, Die Idee der Menschenrechte, Frankfurt am Main 1996. 25 Ernst Tugendhat, Vorlesungen über Ethik, Frankfurt am Main 1993, 17. Vorlesung; sowie ders., Die Kontroverse um die Menschenrechte, in: Stefan Gosepath u. Georg Lohmann, Philosophie der Menschenrechte, Frankfurt am Main 1998. 26 Vgl. u. a. Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt am Main 1994. 27 Robert Alexy, Theorie der Grundrechte, Frankfurt am Main 1985. 18
18 https://doi.org/10.5771/9783495860601 .
Einleitende Gedanken
liche Freiheitsrechte. Martha Nussbaum 28 argumentiert ausgehend von anthropologischen Überlegungen, dass es grundlegend schützenswerte Bedürfnisse und Fähigkeiten gibt. Die Menschenrechte, welche die UNO am 10. Dezember 1948 festgelegt hat, sollen als kategorisch, egalitär und universell gelten. Dieser Anspruch führt jedoch gerade im Hinblick auf die Globalisierungsthematik zu mehreren Problemen und Kritikpunkten: So weist Thomas Göller 29 darauf hin, dass sowohl die naturrechtlichen, vernunftrechtlichen als auch rechtspositivistischen Begründungen der Menschenrechte auf dem westlich geprägten Vernunftbegriff und Autonomieverständnis basieren. Heutige Kritiker halten daher den Universalitätsanspruch der Menschenrechte für unangemessen, da sie die Idee der Menschenrechte lediglich für eine Ausformung der westlichen, individualistischen Kultur halten. Erschwerend kommt hinzu, dass sich in dem anthropozentrischen Weltbild der Menschenrechte ein Spezifizismus zeigt. Nach Hans Maier steht das Autonomie- und Individualismusstreben des Nordens den eher kollektiv ausgerichteten südlichen bzw. östlichen Staaten gegenüber. Insbesondere widerspricht die säkulare Natur der Menschenrechte dem nicht-säkularen Menschenrechtsverständnis vieler Staaten. 30 Hinter den Bemühungen des Nordens bzw. Westens wird daher ein Hegemoniestreben bzw. ein neuer Kulturimperialismus vermutet. 31 Maier macht in diesem Kontext auf das Problem aufmerksam, dass im aktuellen Menschenrechtsdiskurs die Forderung, universalistische Rechte für alle Menschen geltend zu machen, der Notwendigkeit widerspreche, auf die unterschiedlichen Anlagen und Bedürfnisse der Weltreligionen und -kulturen zu antworten. 32 Er sagt: [Es geht um …] »das Widerspiel von Freiheiten und Pflichten, den Antagonismus von Staatsmacht und Individuum, den Gegensatz liberaler und sozialer Grundrechte, endlich die Schwierigkeiten der Übertragung menschenrechtlicher Postulate in die höchst
Martha Nussbaum, Menschliches Tun und soziale Gerechtigkeit, in: M. Brumlik u. H. Brunkhorst (Hg.), Gemeinschaft und Gerechtigkeit, Frankfurt am Main 1993. 29 Vgl. Thomas Göller (Hg.), Philosophie der Menschenrechte. Methodologie, Geschichte, kultureller Kontext, Göttingen 1999. 30 Vgl. Hans Maier, Wie universal sind Menschenrechte?, Freiburg 1997, 42 ff. 31 Vgl. Heiner Bielefeldt, Philosophie der Menschenrechte. Grundlagen eines weltweiten Freiheitsethos, Darmstadt 1998. 32 Vgl. Maier, Wie universal sind Menschenrechte?, a. a. O. 28
19 https://doi.org/10.5771/9783495860601 .
Einleitende Gedanken
unterschiedlichen Nationen, Kulturen und Religionen.« 33 Natürlich werden solche intellektuellen Einwände gegen die universale Gültigkeit von Menschenrechten von verschiedenen Ländern bzw. Gruppen politisch instrumentalisiert. 34 Ein kurzer Blick in die Vergangenheit lässt Claude Lévi-Strauss 35 als den Vorreiter dieser Kritik erscheinen. Insbesondere weist er auf die kulturelle Kontingenz sowie die unüberwindbare Partikularität normativer Orientierungen hin. Diese Kritik greift Richard Rortys Kulturrelativismus auf. Sein pragmatischer Vorschlag zielt auf die Kultivierung des Mitgefühls. 36 Alasdair MacIntyre 37 radikalisiert diesen Ansatz und leugnet die Begründbarkeit des universellen Gültigkeitsanspruchs der Menschenrechte überhaupt. Als vermittelnd können dagegen Abdullahi An-Na’ims 38 und Michael Walzers 39 »cross-cultural-approaches« gesehen werden. Jean-François Lyotard 40 kritisiert insbesondere den Eurozentrismus und Imperialismus des universellen Anspruchs der Menschenrechte. Besonders im Zuge des letzten Vorwurfs sind alternative Menschenrechtsagendas entstanden, welche von alternativen Prämissen ausgehen. 41 Beide Seiten, die Befürworter wie die Gegner des Universalitätsanspruchs der Menschenrechte, sehen erhebliche Probleme bei der Umsetzung. Als Vertreter der kulturrelativistischen Position weist Rorty in diesem Kontext darauf hin, dass nicht die Inhalte, sondern Ebd., 40. Vgl. dazu u. a. Thomas Risse, Anja Jetschke u. Hans Peter Schmitz, Die Macht der Menschenrechte, a. a. O. 35 Vgl. Claude Levi-Strauss, Rasse und Geschichte, in: Ralf Konersmann (Hg.), Kulturphilosophie, Leipzig 1996, 168–221. 36 Richard Rorty, Menschenrechte, Rationalität und Gefühl, in: Stephen Shute u. Susan Hurley, Die Idee der Menschenrechte, Frankfurt am Main 1996. 37 Alasdair C. MacIntyre, Der Verlust der Tugend, Frankfurt am Main, New York 1986. 38 Abdullahi An-Na’im (Hg.), Human rights in Cross-Cultural Perspectives, Philadelphia 1992. 39 Michael Walzer, Lokale Kritik – globale Standards. Zwei Formen moralischer Auseinandersetzung, Berlin 1996. 40 Jean-François Lyotard, Der Widerstreit, München 1989, 241 ff., sowie ders., Die Rechte des Anderen, in: S. Shute und S. Hurley (Hg.), Die Idee der Menschenrechte, a. a. O. 41 Vgl. die Begründung der Menschenrechte in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte Art. 1 und z. B. die Arabische Charta der Menschenrechte. Präambel; vgl. weiterhin die sechs Länderfallstudien in T. Risse, A. Jetschke u. H. P. Schmitz, a. a. O.; vgl. Jürgen Habermas, Der interkulturelle Diskurs über Menschenrechte, in: H. Brunkhorst, W. R. Köhler, M. Lutz-Bachmann, a. a. O. 33 34
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Einleitende Gedanken
die Prämissen der Menschenrechte das Problem seien. Auch wirft er die Frage auf, wer überhaupt als Mensch im Sinne einer Person gilt. 42 Die Befürworter betonen hingegen eher die Problematik, die aus dem Verhältnis von Nationalstaat und globaler Verfassungsordnung, von moralischem und positivem/republikanischem Recht sowie aus dem Zusammenhang von Demokratie und Menschenrechten erwächst. 43 Die anfängliche Euphorie über die Erklärung der Menschenrechte löste sich im Zuge der Debatte um ihre universelle Gültigkeit auf. Und führte, wie Maier meint, zu einer »Quarantäne der Menschenrechte« 44. Wie die Diskussion schon abzeichnete, lässt sich durch den Literaturbericht belegen, dass kein Grundwertekonsens in den verschiedenen Definitions- und Begründungsansprüchen zu finden ist, sondern vielmehr eine kulturelle und religiöse Pluralität von Grundwerten. Habermas und Rorty entwerfen als Antwort auf diese Problematik zwei entgegenstehende Modelle, welche jedoch beide das Ziel haben, einen solchen globalen Minimalkonsens zu erzielen. Dabei steht Habermas’ Forderung nach einer herrschaftsfreien Diskurssituation, welche jedoch auf rationalen Kriterien basiert, 45 Rortys Forderung zur Kultivierung umfassenden Mitgefühls 46 gegenüber: Da nämlich für Rorty »Vernunft« weder kontext- noch kulturunabhängig gegeben ist, führt er »Mitgefühl« als diejenige Bedingung ein, welche ein Miteinander ohne Grausamkeit oder Demütigung garantieren soll. 47 Vgl. die interkulturell motivierte Diskussion der Thematik in: Stephen Shute and Susan Hurley (Hg.), Die Idee der Menschenrechte, a. a. O. 43 Vor allem auf Zweiteres versucht Habermas u. a. in seinen Artikeln zum interkulturellen Diskurs über Menschenrechte zu antworten. In eine ähnliche Richtung geht auch Rainer Forst, Das grundlegende Recht auf Rechtfertigung, in: H. Brunkhorst, W. R. Köhler, M. Lutz-Bachmann, a. a. O., 68; vgl. weiterhin: Claude Lefort, Menschenrechte und Politik, in: U. Rödel (Hg.), Autonome Gesellschaft und libertäre Demokratie, Frankfurt am Main 1990; vgl. dazu auch die Beiträge von E.-W. Böckenförde, R. Alexy, A. Wellmer und R. Dworkin zu dem Thema, in: S. Gosepath u. G. Lohmann (Hg.), Philosophie der Menschenrechte, Frankfurt am Main 1998. 44 H. Maier, Wie universal sind die Menschenrechte?, Freiburg 1997, 42 ff. 45 In 3.3 werde ich themenspezifisch nochmals aufführen, auf welche Werke ich mich für den Dialog zwischen Habermas und Rorty stütze. 46 Vgl. vor allem: Richard Rorty, in: S. Shute, und S. Hurley (Hg.). Die Idee der Menschenrechte, a. a. O. 47 In seinem politischen Hauptwerk Kontingenz, Ironie und Solidarität (Frankfurt am Main 1992, 127–162) versucht Rorty durch die Figur der »liberalen Ironikerin« die Kontingenz privater Überzeugungen einerseits und das gewalt- und demütigungsfreie Zusammenleben andererseits zu erörtern. 42
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Einleitende Gedanken
Der Forschungsbericht macht deutlich, dass die Frage nach den Menschenrechten philosophisch wie praktisch ein erhebliches Forschungspotential birgt, denn sowohl ihre philosophische Begründung als auch ihr kultureller Ort bleiben weiterhin umstritten. Insbesondere entsteht der Eindruck, dass mit Rorty und Habermas zwei Prototypen den Diskurs bestimmen und weder eine Einigung noch eine Alternative in Aussicht gestellt ist.
c.
Argumentationsverlauf
Die Auseinandersetzung mit der aktuellen Problematik der Menschenrechte zeigt, dass im Zuge der Globalisierung 48 und der Notwendigkeit transnationalen politischen Handelns der Ruf nach interkulturell anerkannten Menschenrechten immer dringlicher wird. Die Befürworter der Menschenrechte, wie z. B. Habermas, sehen eine Notwendigkeit in der einheitlichen Festlegung solcher Rechte auf der Grundlage rationaler Kriterien. Von Kritikern wird hinter diesem Vorgehen jedoch eine Form des Neo-Kolonialismus vermutet. Als Alternative zu Habermas’ kommunikativer Vernunft propagiert deshalb Rorty das Mitgefühl als kulturübergreifendes Element der Verständigung. Dieses Buch expliziert deshalb, wie sich die Kontroverse um die universale Gültigkeit der Menschenrechte zwischen Habermas und Rorty weiter zuspitzt und in der oben genannten Dichotomie von Vernunft und Mitgefühl mündet. Für Habermas können Menschenrechte erst im Rahmen einer staatlichen Ordnung als einklagbare Bürgerrechte realisiert werden. Daher besteht für ihn ein innerer Zusammenhang zwischen Rechtsstaat und Demokratie, der die Unteilbarkeit von liberalen und politischen Grundrechten erklärt. 49 Nach Habermas’ Theorie ist Demokratie nicht nur ein Rechtssystem, sondern vor allem ein Sprachsystem, durch welches sich die Gesellschaft als Gemeinschaft freier Individuen
Vgl. weiter oben Beck, Globalisierung, a. a. O. Jürgen Habermas, Der interkulturelle Diskurs über Menschenrechte, in: H. Brunkhorst, R. Köhler u. M. Lutz-Bachmann (Hg.), Recht auf Menschenrechte, a. a. O., 216; sowie ders., Faktizität und Geltung, a. a. O., bes. das Kapitel über Demokratie und Menschenrechte.
48 49
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Einleitende Gedanken
definiert und alle mit gleichen Rechten ausgestattet werden. 50 Deshalb steht Habermas’ Theorie der Menschenrechte in unmittelbarem Zusammenhang mit seiner Vorstellung einer Sprachgemeinschaft: »Der gesuchte interne Zusammenhang zwischen Menschenrechten und Volkssouveränität besteht dann darin, dass die Menschenrechte die Kommunikationsbedingungen für eine vernünftige politische Willensbildung institutionalisieren.« 51 Aus diesem Grund bilden Menschenrechte die Voraussetzung einer jeden demokratischen Gesellschaft, in der ethische Normen auf der Basis kommunikativer Vernunft verhandelt werden. Damit wird ein konsenstheoretisches Wahrheitskriterium proklamiert, das zu einem pragmatischen Verständnis von Sprache führt: Jede Aussage ist eine gemeinsame Aktion bzw. ein Sprechhandeln. Grundsätzlich hält Habermas also die Verständigung auf universal geltende Menschenrechte im interkulturellen Dialog für möglich, insofern sie an eine kommunikative Vernunft in einer herrschaftsfreien Diskurssituation rückgebunden bleibt. Im Gegensatz zu Habermas existiert für Rorty »Vernunft« niemals als singulärer Begriff. Daher lehnt er die Idee ab, dass die Vernunft Quelle der Moral sei. 52 Dort, wo sie sich als praktische Vernunft zeigt, ist sie lediglich eine Faktizität sozialer Konstrukte. 53 In diesem Sinne plädiert er für eine Kultivierung des Mitgefühls sowie eines »gerechtfertigten Vertrauens« 54. Andererseits betont Rorty, dass die Erweiterung des Mitgefühls nicht eine Vernachlässigung der präzisen Sprache impliziere, weil auch »Antiessentialisten« auf die Kohärenz
Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, a. a. O., 83. Jürgen Habermas, Die postnationale Konstellation: Politische Essays, Frankfurt am Main 1998, 175. 52 Rortys Lieblingsbeispiel lautet sinngemäß: Nicht der kategorische Imperativ macht uns zu besseren Menschen, sondern Romane wie Onkel Toms Hütte. Vgl. dazu auch: »Moral progress is a matter of wider and wider sympathy. It is not a matter of rising above the sentimental to the rational … (The pragmatists) substitute the idea of a maximally warm, sensitive and sympathetic human being for the Kantian idea of a Good Will« (Richard Rorty, Philosophy and Social Hope, London 1999, 82 f.). 53 Vgl. u. a. Richard Rorty, Der Spiegel der Natur. Eine Kritik der Philosophie, Frankfurt am Main 1981, 343–387; sowie ders., Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt am Main 1989, 21–52; vgl. ergänzend die Antwort von Jürgen Habermas, in: Habermas, Wahrheit und Rechtfertigung, a. a. O., 230–271. 54 Mit diesem Begriff bezieht sich Rorty auf Annette Baier; vgl. u. a. Annette Baier, A Progress of Sentiments: Reflections on Hume’s Treatise, Cambridge 1991. 50 51
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ihrer Aussagen Wert legen. 55 Anknüpfend an seinen Rationalitätsskeptizismus argumentiert Rorty in Bezug auf die Menschenrechte, dass z. B. ethnische Säuberungen nicht auf einen Mangel an Einsicht zurückzuführen seien, sondern auf einen Mangel an Sicherheit, Einfühlungsvermögen und Sympathie. 56 Alternativ zu einer universal gültigen Menschenrechtsagenda wird deshalb das »Erzählen« und »Zeigen« von Menschenrechtsverletzungen als Instrumentarium zur Kultivierung von Mitgefühl vorgeschlagen. Er begründet diese Idee damit, dass er in der verbindenden Kraft des Mitgefühls eine höhere Chance für die pragmatische Realisation eines menschenwürdigen Miteinanders sieht als in der Übertragung westlicher Strukturen auf andere Kulturkreise. 57 Inhaltlich soll durch diese Gegenüberstellung gezeigt werden, dass sowohl Habermas als auch Rorty darin übereinstimmen, dass Kulturen kontextspezifische Wahrheiten generieren. 58 Als Ort solcher Wahrheiten gilt der öffentliche Raum im Sinne einer gemeinsamen Lebenswelt, welche von Sprachbenutzern geteilt wird. Ziel ist die pragmatische Lösung von kontextimmanenten Problemen. Beide folgen hierin dem amerikanischen Pragmatismus. Die wesentlichen Uneinigkeiten zwischen Habermas und Rorty leiten sich jedoch aus deren gegensätzlichen Interpretationen des Stellenwerts und der Bedeutung von Wahrheit ab: Habermas glaubt, aus der kommunikativen Vernunft transkulturell gültige Prämissen ableiten zu können. Wahrheit bleibt an den lebensweltlichen Handlungskontext rückgebunden und erfährt erst von hier ihre Gültigkeit. Rorty sieht hingegen die »Vernunft« selbst als kulturspezifisch und kontingent. Aus seiner umfassenden Erkenntniskritik schließt er, dass Wahrheit für den Menschen unerreichbar ist. Der Gebrauch dieses Begriffs bleibt innerhalb menschlicher Belange sinnlos und soll deshalb durch Begriffe wie »Kohärenz« oder »Solidarität« ersetzt werden. Als Alternative proklamiert er die Kultivierung eines umfassenden Mitgefühls. Habermas kritisiert, dass Rorty den Kontextualismus zugleich als Lösung desselben Problems betrachtet. 59 Richard Rorty, Menschenrechte, Rationalität und Gefühl, in: S. Shute u. S. Hurley, Die Idee der Menschenrechte, a. a. O., 149. 56 Vgl. ebd., 160. 57 Ebd., 149. 58 Vgl. Detlef Horster, Richard Rorty zur Einführung, Hamburg 1991, 52. 59 Jürgen Habermas, Wahrheit und Rechtfertigung. Philosophische Aufsätze, Frankfurt am Main 2004. 55
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Resümierend wird deshalb in diesem Buch diskutiert, inwiefern sich die Diskursmodi von Habermas und Rorty unterscheiden bzw. zu einer dichotomen Interpretation von öffentlichem und privatem Raum bzw. Vernunft und Mitgefühl führen.
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1. Jürgen Habermas: Kommunikative Vernunft als Garant der Einbeziehung des Anderen im Dialog über universale Menschenrechte
1.1 Vorbemerkungen 1.1.1 Zum methodischen Vorgehen In einer scherzhaften Äußerung bringt Hauke Brunkhorst die Schwierigkeit einer eingehenden Auseinandersetzung mit Habermas auf folgende Pointe: »Habermas schlägt sich so lange mit seinen Fachkollegen herum, bis sie schließlich klein beigeben. Doch sobald sie eine erste Zustimmung zeigen, hat sich Habermas das Vokabular bereits angeeignet und ist auf dem Weg in neue unbekannte Gefilde.« 1 Habermas’ interdisziplinär angelegten Denkwege und das Bemühen, die verschiedenen Theoriesprachen kompatibel zu machen, führen zu mehrschichtigen Argumentationsstrukturen. Beispielsweise findet sich die Idee der kommunikativen Vernunft in verschiedenen Abwandlungen auf der Ebene der Diskurstheorie der Wahrheit, der kommunikativen Handlungstheorie sowie der Diskurstheorie des Rechts. Darüber hinaus entwickeln sich die Kerntheorien (d. i. Diskurstheorie und kommunikative Vernunft) in der kontinuierlichen Auseinandersetzung mit dem philosophiegeschichtlichen Diskurs einerseits und den aktuellen Geschehnissen der Politik andererseits weiter. Als »Hegel-Kenner« ist sich Habermas wohl bewusst, dass ein abgeschlossenes System zum Scheitern verurteilt ist. Aufgrund dieser Problematik begnügt sich ein großer Teil der Sekundärliteratur mit einer bloßen Nacherzählung, anstatt eine Systematisierung zu riskieren. 2 Die vorliegende Forschungsarbeit möchte Vgl. H. Brunkhorst, Habermas, Leipzig 2006, 21. Eine gute Ausnahme (neben einigen anderen sehr guten Einführungen) bilden hier H. Brunkhorst (Habermas, Leipzig 2006) sowie W. Reese-Schäfer (Jürgen Habermas, Frankfurt am Main 1991). Letzterer beschreibt das Problem ähnlich.
1 2
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Jürgen Habermas: Kommunikative Vernunft
diesem Problem entgehen, indem sie im Vorhinein das Ziel dieses Kapitels auf zwei konkrete Absichten beschränkt: Erstens soll gezeigt werden, inwiefern die Idee einer kommunikativen Vernunft das Fundament seiner Menschenrechtskonzeption darstellt, und zweitens wird aufgezeigt, inwiefern das vormoderne Vertrauen auf Mitgefühl durch eine öffentliche, verfahrensgeleitete und empirisch überprüfbare Einbeziehung des Anderen ersetzt wird. Die Hypothese lautet, dass eine solche Einbeziehung des Anderen konzeptionell mit der Idee einer kommunikativen Vernunft verschränkt ist. Die universalistische Theorie der Menschenrechte zeigt beispielhaft die Möglichkeiten und Grenzen der »Praktikabilität« kommunikativer Vernunft und bildet daher den thematischen Ausgangspunkt der folgenden Darstellung. Sozusagen im »Rückwärtsgang« werden daran anschließend die Kernelemente der Menschenrechtskonzeption freigelegt: Den Beginn bildet das Modell einer deliberativen Demokratie sowie die diskurstheoretischen Vorbedingungen für eine Institutionalisierung demokratischer Kommunikationsbedingungen. Rechts- und Diskurstheorie werden im dritten Abschnitt auf den Begriff der kommunikativen Vernunft rückgeführt (vgl. Ziel 1: die Rückführung der Menschenrechtskonzeption auf den Begriff der kommunikativen Vernunft). Eine dazu parallel laufende Argumentation hinterfragt auf jeder Stufe, also der Rechts-, Diskurs- und Vernunfttheorie, inwiefern eine »Einbeziehung des Anderen« abseits von einer bloßen Mitgefühlsethik garantiert werden soll (vgl. Ziel 2: die Substitution des Mitgefühls durch den kommunikativen Vernunftbegriff). Zentrale Themen dieser Analyse sind: die Idee der Zukunft, der öffentliche Vernunftgebrauch und das Verhältnis von Eigenheit und Fremdheit. Der letzte Abschnitt dient als Ergebnisbericht. Er untersucht ferner, welche Fragen im Hinblick auf die Praktikabilität im Bereich der politischen Bildung offen bleiben.
1.1.2 Verwendete Werke Die labyrinthisch-komplexen Gedankengänge in Habermas’ Gesamtwerk werden durch die Bandbreite sogenannter »Hauptwerke« zusätzlich erschwert: Selbst nach 45 Jahren haben diese nämlich in ihrer gesellschaftskritischen Schärfe und begrifflichen Präzision nichts an Relevanz eingebüßt, höchstens hinzugewonnen. Hierzu gehört bei28 https://doi.org/10.5771/9783495860601 .
Vorbemerkungen
spielsweise Habermas’ Habilitationsschrift Der Strukturwandel der Öffentlichkeit (1962). Sein zweites großes Werk Erkenntnis und Interesse sieht Habermas heutzutage selbst eher als Prolegomena seiner nachfolgenden Theorieentwicklung. Das umfangreichste und vielleicht am schwersten zugängliche Hauptwerk ist die Theorie kommunikativen Handelns I/II (1981). Die darin entwickelten Grundzüge einer philosophisch wie soziologisch fundierten Handlungstheorie stellt einen Höhepunkt in Habermas’ Schaffen dar. Es beschreibt gesellschaftskritisch die Kolonialisierung der Lebenswelt durch den Systemrationalismus. Thematisch bildet seine Theorie der Diskursethik ein zentrales Element. Sie durchzieht sämtliche Werke wie ein roter Faden. Habermas stellt den Kern dieser Theorie in »Diskursethik – Notizen zu einem Begründungsprogramm« in: Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln (1983) dar. In seinem neueren Buch Wahrheit und Rechtfertigung (1999) schränkt er jedoch seine Ausgangsthese sowohl politisch als auch erkenntnistheoretisch ein. Faktizität und Geltung (1992) gilt als sein Hauptwerk der politischen Philosophie. Darin verknüpft Habermas auf systematische Weise das Diskursprinzip mit einer soziologischen Institutionentheorie. Zentrale Begriffe sind die deliberative Demokratietheorie sowie die Idee der Zivilgesellschaft. Themen, die aus einer Rekonstruktion des Rechts im Kontext einer zunehmend säkularisierten Gesellschaft hervorgehen. In seinem neueren Buch Zwischen Naturalismus und Religion (2005) überwindet Habermas die Vormachtstellung des säkularen Bewusstseins zugunsten einer reflexiven Einklammerung dieses Begriffs. Statt dessen wird ein nachmetaphysisches Denken favorisiert, welches sich gegenüber der Religion agnostisch und zugleich lernbereit verhält. Insbesondere erscheinen folgende Werke für die vorliegende Arbeit zentral: Der Strukturwandel der Öffentlichkeit (1962) ist der Ausgangspunkt für die Idee einer politischen Öffentlichkeit, welche sich als kommunikativer Raum zwischen bürgerlicher Privatsphäre und Staat konstituiert. Es ist das einzige Frühwerk, das in diese Arbeit Eingang findet. Für die Darstellung seiner Menschenrechtskonzeption beziehe ich mich auf seine Aufsätze »Der interkulturelle Dialog über Menschenrechte«, in Brunkhorst et al. (1999), »Zur Legitimation durch Menschenrechte«, in: Die postnationale Konstellation (1998), »Zur Rekonstruktion des Rechts«, in: Faktizität und Geltung (1992), sowie »Menschenrechte – global und innerstaatlich«, in: Die Einbeziehung 29 https://doi.org/10.5771/9783495860601 .
Jürgen Habermas: Kommunikative Vernunft
des Anderen (1996). Zur Darstellung der Diskurstheorie beziehe ich mich hauptsächlich auf Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln (1981), Erläuterungen zur Diskursethik (1991) sowie auf den Aufsatz »Die Einheit der Vernunft in der Vielfalt ihrer Stimmen«, in: Nachmetaphysisches Denken (1988). Für die Rationalitätsproblematik werde ich insbesondere auf die Theorie des kommunikativen Handelns (1981) sowie auf Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln (1983) zurückgreifen und durch ausgewählte Abschnitte aus Der philosophische Diskurs der Moderne (1985), dem Nachmetaphysischen Denken (1988) sowie Abschnitten aus Wahrheit und Rechtfertigung (1999) ergänzen. Auf sein neuestes Buch Zwischen Naturalismus und Religion (2005) werde ich in der Auseinandersetzung mit der Rolle des Staatsbürgers sowie den Möglichkeiten der Einbeziehung des Anderen eingehen. Obgleich sein Werk Erkenntnis und Interesse (1968) einst als Hauptwerk gegolten hatte, werde ich es für diese Forschungsarbeit nur am Rande einbeziehen. Ferner wurden kürzlich veröffentlichte Texte wie Glauben und Wissen (2009), bisher unveröffentlichte Texte in Philosophische Texte: Studienausgabe in fünf Bänden (2009) oder der Aufsatzband Ach, Europa (2008) im Nachhinein stellenweise einbezogen. Eine eingehende Auseinandersetzung mit diesen Werken war jedoch nicht mehr möglich, weil dieses Buch bereits Ende 2009 fertiggestellt war. Ein spezifischer Literaturbericht zur kommunikativen Vernunft ist ferner dem Kapitel »Charakteristika der kommunikativen Vernunft« vorangestellt. Hier werden auch die wichtigsten und neueren Rezeptionen zur kommunikativen Vernunft aufgeführt.
1.1.3 Sekundärliteratur und Rezeption 3 Habermas gilt als ein »Grenzgänger« zwischen Philosophie und Sozialwissenschaften. Seine Werke wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und lösten disziplinübergreifende Kontroversen in Philosophie, Wissenschaftstheorie, Soziologie und Politikwissenschaft aus, z. B. Vgl. zu diesem aktuellen Überblick der Habermas-Rezeption die unveröffentlichte Dissertation von Mareike Gebhardt, Zwischen Ideal und Utopie: Zur Erosion und Rekonstruktion der politischen Öffentlichkeit bei Hannah Arendt und Jürgen Habermas, am Lehrstuhl für Politische Philosophie, Universität Regensburg. Frau Gebhardt hat mir für diese Darstellung zentrale Hinweise gegeben.
3
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Vorbemerkungen
gleich zu Beginn seiner Karriere durch die Habilitationsschrift Strukturwandel der Öffentlichkeit (1962), welche insbesondere in der Soziologie auf scharfe Kritik stieß. 4 Es kann deshalb mit Recht gesagt werden, dass Habermas einer der meistdiskutierten deutschen Philosophen der Gegenwart darstellt. Bereits in den 80er Jahren erschienen eine Reihe von Einführungen in sein Leben und Werk. Die Rezeption in der Politikwissenschaft und Philosophie konzentriert sich hauptsächlich auf seine Deliberations- bzw. Diskurstheorie. 5 Ein umfangreicher Überblick zu Habermas’ vielseitigen Forschungsfeldern findet sich in der Anthologie von Lutz Wingert und Klaus Günther. 6 Aber auch international sind seine Werke auf großes Interesse gestoßen. In den Vereinigten Staaten wird Habermas bereits seit den 70er Jahren zitiert. Im Vordergrund stehen hierbei der Handlungs- und Öffentlichkeitsbegriff, die kommunikative Vernunft sowie seine Auseinandersetzungen mit der Rechtsphilosophie. Im Jahr 1978 erschien dort die erste bedeutende Abhandlung über Habermas von Thomas A. McCarthy (The Critical Theory of Jürgen Habermas). Seit Beginn der 90er Jahre ist ein Anstieg an Veröffentlichungen zu beobachten, die sich mit unterschiedlichen Aspekten seines Denkens beschäftigen. Insbesondere konzentriert sich die Rezeption seither aber auf die Rechtstheorie und setzt sich mit seinem diskursiv-deliberativen Denken auseinander. 7 Anlässlich Habermas’ 70. Geburtstags entstand zwischen ihm und Hilary Putnam ein freundschaftlicher Dialog in mehreren Vgl. beispielsweise R. Heming, Öffentlichkeit, Diskurs und Gesellschaft. Zum analytischen Potential und zur Kritik des Begriffs der Öffentlichkeit bei Habermas, Wiesbaden 1997. 5 Vgl. beispielsweise P. Niesen u. B. Herborth (Hg.), Anarchie der kommunikativen Freiheit. Jürgen Habermas und die Theorie der internationalen Politik, Frankfurt am Main 2007; D. Horster, Jürgen Habermas zur Einführung, Hamburg 2006; W. ReeseSchäfer, Jürgen Habermas, Frankfurt am Main, New York 2001; I. Fuchs- Goldschmidt, Konsens als normatives Prinzip der Demokratie. Zur Kritik der deliberativen Theorie der Demokratie, Wiesbaden 2008. 6 L. Wingert u. K. Günther (Hg.), Die Öffentlichkeit der Vernunft und die Vernunft der Öffentlichkeit. Festschrift für Jürgen Habermas, Frankfurt am Main 2001. 7 Vgl. zur angelsächsischen Rezeption: S. Macedo (Hg.), Deliberative Politics. Essays on Democracy and Disagreement, Oxford 1999; sowie A. Hamlin u. P. Pettit, The Good Polity. Normative Analysis of the State, Oxford 1991. Als Beispiel der amerikanischen Rezeption kann: J. Heath, Communicative Action and Rational Choice. Cambridge 2001, gesehen werden. 4
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Jürgen Habermas: Kommunikative Vernunft
wechselseitigen Aufsätzen über die Begründung von Werten und Normen im Rahmen einer pragmatischen Philosophie. In Italien wird Habermas seit 1970 als Vertreter der Kritischen Theorie wahrgenommen. Seit Beginn der 80er Jahre verlagerte sich das Interesse jedoch auf seine Diskurstheorie der Moral. In Frankreich kam es in den 80er und 90er Jahren zu Kontroversen mit Vertretern der Postmoderne (insb. Jean-François Lyotard und Jacques Derrida). Anschließend richtete sich das Interesse verstärkt auf Habermas als Rechts- und Staatsphilosoph. Auch in Lateinamerika gilt in den letzten Jahren das Hauptinteresse seiner Rechts- und Staatstheorie. Seine auf der Diskurstheorie basierenden Konzepte wurden dort zu einer Art »drittem Weg zwischen den weit verbreiteten konservativen Positionen und den minderheitlichen, aber trotzdem stark präsenten Positionen linksrevolutionärer Bewegungen« 8. Generell wird heute sein späteres Werk, d. h. die Werke, welche er nach der Theorie des kommunikativen Handelns publizierte, rezipiert.
1.2 Charakteristik der universalistischen Menschenrechtskonzeption 1.2.1 Konfliktlinien Obgleich die meisten Staaten die Menschenrechtscharta der Vereinten Nationen ihrem Wortlaut nach angenommen haben, unterscheiden sich Geltung, Inhalt und Rangordnung oft drastisch und eine weltweite rechtliche Einsetzung liegt in weiter Ferne. Heinhard Steiger 9 teilt die Einstellung der verschiedenen Staaten gegenüber den Menschenrechten in vier Kategorien: Eine Kategorie von Staaten erkennt zwar die Menschenrechte als solche an, ist jedoch nachlässig in der Umsetzung. Eine weitere Kategorie ordnet die Menschenrechte anderen Zielen und Zwecken unter. Eine dritte Kategorie folgt einer anderen Menschenrechts-Charta 10 und eine vierte Kategorie erkennt die Menschenrechte A. Pinzani, Jürgen Habermas, München 2007, 200. H. Steiger, Brauchen wir eine universale Theorie für eine völkerrechtliche Positivierung der Menschenrechte?, in: H. Brunkhorst, W. R. Köhler, M. Lutz-Bachmann (Hg.), Recht auf Menschenrechte. Menschrechte, Demokratie und internationale Politik, Frankfurt am Main 1999, 41. 10 Vgl. z. B. Arabische Charta der Menschenrechte, verabschiedet vom Rat der Liga der 8 9
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Charakteristik der universalistischen Menschenrechtskonzeption
nur bedingt oder gar nicht an. Aus dieser Problematik folgt, dass Staaten die Menschenrechte nur unter der Bedingung einsetzen, dass sie von deren Wert und Inhalt überzeugt sind. Vor diesem theoretischen Hintergrund wird klar, dass einzig unter der Bedingung einer wiederhergestellten Verschränkung von Faktizität und Geltung, d. i. Legalität und Legitimität, eine globale Durchsetzung von Menschenrechten möglich ist. Hieraus ergibt sich jedoch bereits die zweite Schwierigkeit, nämlich die ambivalente Stellung der Menschenrechte zwischen Recht und Moral. 11 So sind die Menschenrechte einerseits subjektive Rechte, insofern sie abhängig von der Anerkennung und Legitimierung innerhalb eines Rechtsstaats sind, sich also auf Bürger eines Nationalstaats beziehen, welche diese im Falle eines Verstoßes einklagen können. Daher sprechen wir auch von »Menschenrechten«. Andererseits gehören sie aber dem Bereich der Moral an, weil sie sich per definitionem auf alle Menschen beziehen und damit immer schon die Grenzen eines Nationalstaats überschreiten. Hieraus folgt das pragmatische Problem, dass Menschenrechte einerseits einen universalen Anspruch haben, ihre Inhalte andererseits aber nichts über die lokale Durchsetzung aussagen. Habermas selbst erwägt hier zwei Möglichkeiten: 12 Entweder es verwandeln sich sämtliche Staaten in demokratische Rechtsstaaten, wobei jedem das Recht auf eine Wahlnationalität zukommt. Hieraus ergibt sich jedoch die Problematik, dass eine Rückkehr zum klassischen Nationalstaat aufgrund der zunehmenden global verdichteten Beziehungen eher unwahrscheinlich ist. 13 Oder das klassische Modell des Nationalstaats wird durch eine Art Weltbürgerrecht ersetzt. Beide Modelle liegen jedoch in weiter Ferne und bis zu ihrer Realisierung bieten die Menschenrechte zwar eine gewisse Orientierungsgrundlage, sind aber letztlich nicht mehr als Wünsche bzw. Handlungsorientierungen. Eine dritte Ambivalenz ergibt sich aus der Verschränkung von Volkssouveränität und Menschenrechten im modernen Konstrukt von arabischen Staaten am 15. September 1994 sowie die überarbeitete Version vom 15. Januar 2004. 11 Vgl. dazu J. Habermas, Zur Legitimation der Menschenrechte, in: ders., Die postnationale Konstellation (pnK), Frankfurt am Main 1998, 171 f. 12 Vgl. J. Habermas, Der interkulturelle Dialog über Menschenrechte, in: Brunkhorst et al., Recht auf Menschenrechte, Frankfurt am Main 1999, 217 f. 13 J. Habermas, Die postnationale Konstellation. Politische Essays, Frankfurt am Main 1998, 91 ff.
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Jürgen Habermas: Kommunikative Vernunft
Demokratie und Rechtsstaat. Legitime Rechte, welche im Rahmen einer staatlichen Ordnung eingeklagt werden können, setzen den Willen des politischen Gesetzgebers voraus. Andererseits sind es ebendiese Kommunikations- und Teilnahmerechte, welche ein demokratisches Gemeinwesen erst begründen. Daher kann der Gesetzgeber nicht willkürlich über diese Rechtsstrukturen entscheiden. Dies erklärt Habermas mit dem Hinweis, dass Rechtsstaat und Demokratie ineinander verzahnt sind. »Normativ betrachtet, kann es gleiche Freiheitsrechte für privatautonome Gesellschaftsbürger nicht geben ohne jene Kommunikations- und Teilnahmerechte, die gleichzeitig die politische Autonomie der Staatsbürger konstituieren.« 14 Mit dieser Einstellung setzt sich Habermas der Kritik beider Himmelsrichtungen aus: Der Westen beruft sich dabei auf den Vorwurf der Vernunft- bzw. Machtkritik. Wohingegen sich der Osten auf den Individualismusbegriff sowie den säkularen Charakter der Menschenrechte konzentriert. Beide Begriffe verdichten sich in der aufklärerischen Idee der Autonomie. 15
1.2.2 Das Janusgesicht der Menschenrechte Im Folgenden werde ich den ambivalenten Charakter der Menschenrechte anhand der Metapher des Janusgesichts 16 darstellen. Dabei wendet sich das »Antlitz« der Menschenrechte je nach thematischer Perspektive zwei gegensätzlichen Seiten zu, nämlich der Faktizität und der Geltung, dem moralischen und dem positiven Recht bzw. der Demokratie und dem Rechtsstaat. Die Janusgesichtigkeit der Menschenrechte ist jedoch nicht im Sinne einer dichotomen Trennung der Dualismen, sondern vielmehr als harmonisierendes Bindeglied zu verstehen. Bei der folgenden Darstellung von Habermas’ Menschenrechtskonzeption wird jedoch weniger auf die rechtsphilosophischen Aspekte eingegangen werden, 17 sondern vielmehr auf die Möglichkeiten und J. Habermas, Der interkulturelle Dialog über Menschenrechte, in: Brunkhorst et al., Recht auf Menschenrechte, Frankfurt am Main 1999, 216. 15 Dieses Für und Wider wird im dritten Abschnitt dieses Kapitels genauer erläutert. 16 Habermas verwendet selbst die Metapher des Janusgesichts im Zusammenhang seiner Menschenrechtskonzeption (vgl. pnK, 171 ff.). 17 Hierzu gibt es eine hervorragende und detaillierte Darstellung von A. Wernecke, Rechtsphilosophische Probleme der weltweiten Durchsetzung von Menschenrechten. 14
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Charakteristik der universalistischen Menschenrechtskonzeption
Grenzen einer Einbeziehung des Anderen. Es wird hierdurch als Alternativmodell einer ethnozentrischen oder postmodernen Menschenrechtsauffassung interpretiert. a.
Faktizität und Geltung
Als Ausgangspunkt greift Habermas die naturrechtliche Begründung auf, welche besagt, dass Menschenrechte in einer angeborenen und unveräußerlichen Würde des Menschen gründen. 18 Die Frage ist jedoch, inwiefern eine solche Unterordnung unter die Moral als globaler Legitimationsgrund für solche Rechte gesehen werden kann; insbesondere weil Habermas hierin einen metaphysischen Restbestand der Begründung dieser Rechte vermutet. Er leitet daraus die grundlegendere Frage ab, wie in einer säkularisierten Gesellschaft soziale Integration geleistet, d. h. die Spannung von Faktizität und Geltung überbrückt werden kann. 19 Denn in der einheitlich strukturierten und einvernehmlichen Lebenswelt tritt die Spannung von Faktizität und Geltung in den Hintergrund und verschwindet im fahlen Licht des Vorprädikativen, d. i. dem vergessenen Sinnfundament des alltäglichen Handelns. 20 Erst mit dem Aufkommen des säkularisierten Rechtsstaats treten Faktizität und Geltung mehr und mehr auseinander. 21 Dies wirkt sich insbesondere auf politischer Ebene aus: Hier treffen kapitalistische Modernisierungsprozesse auf die noch verschmolzene Einheit von Faktizität und Geltung von eher traditionellen Gesellschaften. Traditionsbewusste Kulturen müssen sich den globalen Geltungsansprüchen stellen und werden dadurch zu einer reflektierten Außenperspektive Eine Untersuchung zu I. Kant, J. Rawls und J. Habermas, Frankfurt am Main 2005. Ich werde jedoch auf ihre Einwände gegen Habermas weiter unten eingehen. 18 FuG 112. 19 Das ist auch die Grundfrage seines politischen Hauptwerkes Faktizität und Geltung (1992). 20 Eine ähnlich integrierende Funktion haben die tabugeschützten Institutionen von Stammesgesellschaften, welche mit einem scheinbar unanfechtbaren Autoritätsanspruch auftreten. Dabei handelt es sich im Gegensatz zur Vertrautheit der in der Lebenswelt ruhenden Gewissheiten eher um eine »gefühlsambivalent besetzte Autorität«, die uns innerhalb der Lebenswelt gegenübertritt (vgl. FuG 40). 21 Vgl. hierzu Habermas: »Faktizität und Geltung, also die bindende Kraft von rational motivierten Überzeugungen und der auferlegte Zwang äußerer Sanktionen, jedenfalls außerhalb der durch Sitte und Gewohnheit regulierten Handlungsbereiche, [sind] inkompatibel auseinander getreten« (FuG 43).
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Jürgen Habermas: Kommunikative Vernunft
genötigt. Eine solche Globalisierungsproblematik verstärkt sich grundsätzlich durch die Intensivierung weltweiter sozialer Beziehungen. 22 Durch dieses Auseinandertreten entsteht erstmals die Frage, inwiefern das, was »ist«, auch anerkannte Gültigkeit besitzt, d. h., ob die gesellschaftliche Ordnung auch legitim ist. Eine solche Bewusstwerdung ist die Folge der kommunikativen »Verflüssigung« 23 von Traditionen und Lebensformen, wie sie mit der Säkularisierung, Entzauberung und Pluralisierung von Gesellschaften einhergegangen ist. 24 Wo in traditionellen Gesellschaften das Recht noch auf die Autorität des Heiligen zurückgeht, stellt sich in modernen Gesellschaften die Frage, wie die normativen Ordnungen ohne metasoziale Garantien aufrechterhalten werden können. An dieser Stelle führt Habermas den Begriff des Rechts ein. Es hat die Funktion eines Prismas, 25 indem es die soziale Integration von Faktizität und Geltung gewährleistet. Doch auch hier müssen beide Seiten integriert werden: Sowohl die soziale/faktische Geltung als auch die Legitimität bzw. Gültigkeit des Rechts. Denn Rechtsnormen erhalten erst durch ihre Legitimität die faktisch zu erwartende Akzeptanz. 26 Eine solche sozialintegrative Kraft sieht Habermas einzig gegeben, insofern die Adressaten des Rechts zugleich deren Autoren sind. 27 Als zusätzliche Bedingung führt Habermas an, dass die Rechte auf intersubjektiv anerkannte normative Geltungsansprüche zurückgehen müssen. Dasselbe Prinzip fordert er für die Einsetzung der Menschenrechte, die er als Grundrechte ansieht. 28 Sie müssen also einerseits faktisch gesichert sein und verlangen andererseits eine kulturübergreifende Legitimität bzw. Anerkennung. Sie stehen damit in Vgl. zu dieser Thematik: U. Beck, Was ist Globalisierung? Irrtümer des Globalismus – Antworten auf Globalisierung. Frankfurt am Main 1997. 23 Habermas meint mit »Verflüssigung« das sprachliche Bewusst- und Reflexivwerden von Teilbereichen der kulturellen Lebenswelt. 24 Natürlich spielt die linguistische Wende keine unerhebliche Rolle in diesem Prozess der Verflüssigung und für das Auseinandertreten von Faktizität und Geltung (vgl. FuG 25 ff.). 25 Vgl. R. Forst, Kommentar zu Faktizität und Geltung, in: M. Brocker (Hg.), Geschichte des politischen Denkens. Ein Handbuch. Frankfurt am Main 2007, 759 f. 26 Wo sich Brauch oder Sitte auf eine gewachsene Faktizität stützen, da verlangt das gesatzte Recht die Unterstützung durch eine artifiziell hergestellte Faktizität (vgl. FuG 47). 27 Hiermit schließt Habermas natürlich an Kants Begriff der Autonomie an. 28 Hier klingt bereits der interne Zusammenhang von Demokratie und Rechtsstaat an, in welchem die Autonomie eine zentrale Rolle spielt. 22
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unmittelbarem Zusammenhang mit einem demokratischen Rechtsstaat, weil sie erst durch die Selbstgesetzgebung zu positiven Menschenrechten werden. 29 Das bedeutet aber, dass Habermas einen zwingenden Charakter (d. h. kulturübergreifend verrechtlicht) für die Menschenrechte verlangt, obgleich sie durch ihre universale Gültigkeit einen Zug von moralischen Rechten aufweisen (vgl. u. a. FuG 135 ff.). Dies führt zu einer weiteren Herausforderung, welcher sich eine universalistische Menschenrechtskonzeption stellen muss: nämlich der Harmonisierung von moralischen und positiven Rechten. b.
Moralische und positive Rechte 30
Der Prozess des Auseinandertretens von Faktizität und Geltung weist auf die Verflüssigung von Traditionen und Konventionen. Als Folge verlangen wir von Rechten nicht nur, dass sie faktisch anerkannt werden, sondern fragen auch danach, ob sie diese Anerkennung auch verdienen, d. h. Geltung besitzen. Da ihnen in säkularisierten Gesellschaften diese Geltung nur durch die Anerkennung der Staatsbürger zukommen kann, müssen die Autoren gleichzeitig die Adressaten des Rechts sein. Habermas bezeichnet dies als die öffentliche Autonomie der Staatsbürger. Innerhalb dieser Grenzen des Rechts ist jedoch niemand zu einer öffentlichen Rechtfertigung verpflichtet, d. h., es ist alles erlaubt, was nicht explizit verboten ist. 31 Dies bezeichnet Habermas als die private Autonomie der Staatsbürger. Deshalb können Menschenrechte als ermöglichende, nicht jedoch einschränkende Rechte bezeichnet werden. 32 Vgl. EdA 293 ff. Habermas spricht dem modernen Recht folgende Attribute zu: Es ist formal, insofern alles erlaubt ist, was nicht verboten ist; es ist individualistisch, weil es subjektive Rechte auf einzelne Personen überträgt; es ist zwingend, weil es staatlich sanktioniert ist und sich nur auf regelkonformes bzw. legales Verhalten erstreckt; es ist positives Recht, insofern es vom Gesetzgeber änderbar ist und sich auf ein bestimmtes Gebiet von Staatsbürgern beschränkt; es ist prozedural gesatztes Recht, weil es innerhalb eines demokratischen Verfahrens Legitimierung findet. 31 An dieser Stelle möchte ich kurz darauf hinweisen, dass Habermas’ Verständnis von Moral und Ethik von dem landläufigen Sprachgebrauch abweicht. Mit Moral meint Habermas Grundsätze des gesellschaftlich legitimen Handelns. Ethik bezieht sich dagegen auf den privaten Bereich des Handelns. 32 An diesem Punkt unterscheidet sich Habermas grundlegend von Ronald Dworkin, welcher Grund- und Menschenrechte durch Mehrheitsentscheidungen einschränken 29 30
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In diesem Kontext macht Habermas auf eine wichtige Unterscheidung aufmerksam, nämlich auf den Unterschied zwischen moralischen und positiven Rechten. 33 Bei moralischen Rechten handelt es sich um universale, ewige und auf alle Menschen und Orte anwendbare Richtlinien, welche ihre Gültigkeit aus metaphysischen Annahmen speisen. Sie leiten sich aus gegenseitigen Pflichten ab und haben damit eine einschränkende Qualität (vgl. pnK 171). Dagegen zeichnet sich das positive Recht durch »Berechtigungen« aus, welche räumlich und zeitlich begrenzt sind. »Trotz des gemeinsamen Bezugspunktes unterscheiden sich Recht und Moral prima facie dadurch, dass die posttraditionale Moral nur eine Form kulturellen Wissens darstellt, während das Recht zugleich auf institutioneller Ebene Verbindlichkeit gewinnt.« (FuG 137) Doch nur insofern die Angehörigen der Rechtsgemeinschaft den künstlich erzeugten Status von Trägern subjektiver Rechte einnehmen, können diese Rechte faktisch gewährt werden. Sie gehen, im Sinne Habermas, auf die autonome Selbstgesetzgebung zurück und erhalten hierdurch ihre Legitimität. Die Motivation, die jemanden dazu veranlasst, den Gesetzen zu gehorchen, steht einem jeden jedoch frei. 34 Diese Unterscheidung zwischen moralischen und positiven Rechten ist natürlich eine Folge der Trennung von Faktizität und Geltung in säkularisierten Gesellschaften. Denn eine einmütige Anerkennung von moralischen, im Lebenswelthintergrund verankerten Pflichten kann nicht mehr erwartet werden. Hieraus ergibt sich jedoch das weltweite Problem der Temporalität der Gesetze. Denn wie soll Legitimität garantiert werden, wenn der Gesetzgeber diese jederzeit ändern kann? Solange Gesetze hingegen auf ein religiös oder metaphysisch begründetes Naturrecht zurückgingen, war es möglich, Gesetze durch Moral einzudämmen. In pluralistischen Gesellschaften ist diese integrative Wirkung von verbindlichen Weltbildern jedoch abhandengekommen. Daher plädiert Habermas grundsätzlich für die demokratische Transformation der Moral in ein positiviertes System der Rechte (vgl. EdA 236). Das bedeutet jedoch keinesfalls eine unvermittelte Moralisierung der Politik, vielmehr soll die interne Verknüpfung von Rechtsmöchte (vgl. die Darstellung der Kontroverse zwischen Dworkin und Habermas in D. Horster, Jürgen Habermas zur Einführung, Hamburg 2001, 141). 33 Habermas nimmt mit dieser Unterscheidung auf folgenden Artikel Bezug: I. Maus, Die Trennung von Recht und Moral als Begrenzung des Rechts, in: dies., Zur Aufklärung der Demokratietheorie, Frankfurt am Main 1992, 308–336. 34 Diese Einsicht geht natürlich auf Kant zurück.
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staat und Demokratie eine wechselseitige Kontrolle gewährleisten: Das Recht garantiert die Faktizität innerhalb der Satzung eines Rechtsstaats, wohingegen die demokratische Anerkennung des Rechts garantiert, dass die Rechte mit den aktuellen Moralvorstellungen übereinstimmen. Erst hieraus beziehen sie ihre Geltung (vgl. EdA 234 ff.). Natürlich bleibt auch hier die Schwierigkeit bestehen, dass Moral und Recht nicht unabhängig voneinander existieren: »denn eine Rechtsordnung kann nur legitim sein, wenn sie moralischen Grundsätzen nicht widerspricht. Dem positiven Recht bleibt, über die Legitimitätskomponente der Rechtsgeltung, ein Bezug zur Moral eingeschrieben« (FuG 137). Gesetze können in säkularisierten Gesellschaften nur dann eine legitime Geltung wiedererlangen, wenn sie in einem »ihrerseits rechtlich verfassten diskursiven Rechtsetzungsprozess die Zustimmung aller Rechtsgenossen finden können« (FuG 141). In dieser vertrackten Beziehung zwischen Moral und Recht nehmen nun die Menschenrechte eine Sonderstellung ein: Als Verfassungsnormen haben sie einerseits positive Geltung, als die gesamte Menschheit umfassende Normen kommt ihnen andererseits eine überpositive Geltung zu. Habermas zeigt allerdings, dass die Menschenrechte nur nach außen hin den »Anschein moralischer Rechte« haben, weil sie über nationalstaatliche Rechtsordnungen hinausgehen; ihrer Struktur nach sind sie jedoch positive Rechte (vgl. EdA 222). »Eine Verwechslung mit moralischen Rechten wird […] dadurch nahegelegt, dass diese Rechte ungeachtet ihres universalen Geltungsanspruchs bisher nur in den nationalen Rechtsordnungen demokratischer Staaten eine unzweideutig positive Gestalt haben annehmen können. Darüber hinaus besitzen sie nur eine schwache völkerrechtliche Geltung und warten noch auf die Institutionalisierung im Rahmen der erst im Entstehen begriffenen weltbürgerlichen Ordnung.« (EdA 225) Für Habermas ist dieser Punkt entscheidend. Es geht ihm um eine demokratische Transformation der Moral in ein positiviertes System der Rechte mit rechtlichen Verfahren ihrer Anwendung und Durchsetzung. »Der Menschenrechtsfundamentalismus wird nicht durch den Verzicht auf Menschrechtspolitik vermieden, sondern allein durch die weltbürgerrechtliche Transformation des Naturzustandes zwischen den Staaten in einen Rechtszustand.« (EdA 236). Dies geht auf ein Problem zurück, das Habermas in Kants Konzeption der Menschenrechte entdeckt: Kant schreckt noch vor einer rechtlich institutionalisierten 39 https://doi.org/10.5771/9783495860601 .
Jürgen Habermas: Kommunikative Vernunft
Beziehung bzw. einem Weltbürgerrecht zurück. Daher konnte seine Konzeption nur an die »moralische Selbstbindung« (EdA 197) der jeweiligen Regierungen appellieren. Sie entbehrte jedoch jeglicher Möglichkeit zur sanktionierten Durchsetzung solcher globaler Rechte. 35 Das Problem, auf welches Habermas zwischen den Zeilen immer wieder verweist, ist Folgendes: Das Auseinandertreten von Faktizität und Geltung geht einher mit einer Verflüssigung von Traditionen und mündet in ein Aufeinandertreffen verschiedener Lebenswelten. Diese Kluft soll nun durch das Recht überbrückt werden. Rechte können jedoch nicht mehr auf eine metaphysisch übergeordnete Letztbegründung zurückgreifen: Niemand kann auf ein rettendes »Metaargument« verweisen. Angesichts dieser Verstrickungen in einer zunehmend komplexeren Weltwirtschaft und konfrontiert mit globalen Umweltproblemen, welche zur Aktion nötigen, können Menschenrechte nicht als »Artenschutz« fungieren. Jede Kultur sieht sich den Veränderungen von innen und außen ausgesetzt (EdA 257 f., 260 f.) und es ist vielmehr die Frage, ob eine Tradition und Kultur überzeugen kann oder nicht. Als Antwort auf das Auseinandertreten von Faktizität und Geltung sowie der ambiguosen Stellung der Menschenrechte zwischen moralischen und positiven Rechten glaubt Habermas deshalb, dass die Anerkennung von Rechtsgrundsätzen nur durch eine dezidierte und autonome Selbstgesetzgebung zu erreichen ist. Eine solche Autonomie ist jedoch wiederum auf solche Grundgesetze angewiesen, wie sie erst durch entsprechende Menschenrechte garantiert würden. Diese komplexe Verschränkung von Demokratie und Rechtsstaat einerseits sowie Volkssouveränität und Menschenrechten andererseits soll nun im folgenden Abschnitt thematisiert werden. c.
Demokratie und Rechtsstaat
Aus dem bisher Gesagten geht hervor, dass durch die Spaltung von Faktizität und Geltung das Recht seine Legitimität nicht mehr aus einem höheren moralischen Recht schöpfen kann. Vielmehr werden Rechte einzig durch die autonome Zustimmung der Bürger legitiBei Kant finden sich die Menschenrechte zwar in der Rechtslehre, jedoch gründet er die Idee der Menschenrechte in einem bloß moralisch bindenden Verhältnis zwischen den Staaten. International gilt weiterhin der Naturzustand zwischen Staaten (vgl. hier insbesondere die Schrift Zum Ewigen Frieden).
35
40 https://doi.org/10.5771/9783495860601 .
Charakteristik der universalistischen Menschenrechtskonzeption
miert. 36 »Deshalb dürfen wir Grundrechte, die in der positiven Gestalt von Verfassungsnormen auftreten, nicht als bloße Abbildungen moralischer Rechte verstehen, und die politische Autonomie nicht als bloßes Abbild der moralischen.« (FuG 138) 37 Auf die Frage der Legitimität des positiven Rechts in säkularen Gesellschaften gibt nun Habermas eine doppelte Antwort: die Verschränkung von Volkssouveränität und Menschenrechten im modernen Konstrukt von Demokratie und Rechtsstaat. Die Volkssouveränität bezeichnet grundsätzlich ein demokratisches Verfahren, welches die legitime Setzung von Rechten gewährleistet, d. h., sie umfasst Kommunikations- und Teilnahmerechte zur Sicherung der öffentlichen Autonomie von Staatsbürgern. Dagegen sind die klassischen Menschenrechte darauf ausgerichtet, private Handlungsspielräume bzw. die Privatsphäre des Einzelnen vor dem Eingriff des Staates zu schützen. Das heißt, die Volkssouveränität sichert die öffentliche, die Menschenrechte die private Autonomie von Staatsbürgern. 38 In der politischen Philosophie besteht jedoch traditionell eine gewisse Spannung zwischen öffentlicher und privater Autonomie. Im Republikanismus wird der öffentlichen Autonomie und damit der Volkssouveränität Vorrang gegeben, wohingegen im Liberalismus vor den Gefahren solcher Mehrheitsbeschlüsse gewarnt wird. Der Liberalismus sieht daher grundlegende Rechte (im Sinne der Menschenrechte) zur Sicherung von Leben und privater Freiheit vor, denen der Volkswille nachgeordnet wird. Sie bilden legitime Schranken, welche die unantastbaren subjektiven Freiheitsräume vor dem Übergriff des souveränen Willens des Volkes schützen. Dagegen beziehen die Menschenrechte im Republikanismus ihre Legitimität einzig aus der souveränen Selbstbestimmung. 39 Habermas gibt sich mit keiner dieser beiden LöDabei sieht Habermas private und öffentliche Autonomie als ineinander verschränkt (vgl. EdA 293). 37 O. Höffe wendet hier ein, dass das positive Recht nicht erst der Moderne entspringe, da die Integrationskraft die soziale Ordnung nicht mehr aufrechterhalten kann. Er verweist auf erste Gesetzestafeln und zeigt, dass Menschen noch nie das Risiko in Kauf genommen hätten, ohne jede rechtliche Regelung zu leben (vgl. O. Höffe, Vernunft und Recht. Bausteine zu einem interkulturellen Rechtsdiskurs, Frankfurt am Main 1996, 10 f.). 38 Vgl. zu dieser Problematisierung Habermas, pnK, 173 ff. 39 Vgl. zu dieser Gegenüberstellung pnK 174. 36
41 https://doi.org/10.5771/9783495860601 .
Jürgen Habermas: Kommunikative Vernunft
sungen zufrieden und fragt stattdessen: »Welche grundlegenden Rechte müssen sich freie und gleiche Bürger, wenn sie ihr Zusammenleben mit Mitteln des positiven Rechts legitim regeln wollen, gegenseitig einräumen?« (pnK 175 sowie FuG 109). Diese Frage geht auf Habermas’ grundlegenden Gedanken zurück, dass nur solche Grundsätze Legitimität beanspruchen können, welchen die Teilnehmer in rationalen Diskursen zustimmen. 40 Solche Diskurse müssen die Einbeziehung aller Argumente garantieren bzw. einen Ausgleich zwischen verschiedenen Interessen erreichen. 41 Habermas möchte hier eine vernünftige und legitimitätsverbürgende Willensbildung durch entsprechende Kommunikationsformen rechtlich institutionalisieren. Daraus ergibt sich ein interner Zusammenhang von Menschenrechten und Volkssouveränität, weil »Rechte, die die Ausübung der Volkssouveränität ermöglichen, […] dieser Praxis nicht wie Beschränkungen von außen auferlegt werden [können]« (pnK 176). Natürlich leuchtet eine solche Argumentation einzig für den Teil der Kommunikations- und Teilnahmerechte ein. Den Freiheitsrechten gesteht Habermas dabei nur einen »intrinsischen« und keinen »instrumentellen« Wert zu (pnK 176), d. h. im Sinne eines Status von Rechtsgenossen: Ohne klassische Freiheitsrechte gäbe es gar nicht die Möglichkeit, subjektive Rechte einzuklagen, »es gäbe keine rechtliche Institutionalisierung jener Bedingungen, unter denen die Bürger an der Selbstbestimmungspraxis teilnehmen können« (pnK 176). Und weiter: »Auf diese Weise setzen sich private und öffentliche Autonomie wechselseitig voraus. Der interne Zusammenhang von Demokratie und Rechtsstaat besteht darin, dass einerseits die Staatsbürger von ihrer öffentlichen Autonomie nur dann einen angemessenen Gebrauch machen können, wenn sie aufgrund einer gleichmäßig gesicherten privaten Autonomie hinreichend unabhängig sind; dass sie aber auch nur dann gleichmäßig in den Genuss der privaten Autonomie gelangen können, wenn sie als Staatsbürger von ihrer politischen Autonomie einen angemessenen Gebrauch machen« (pnK 177). Gerade für die »westlich-motivierte« Argumentation für universal geltende
Vgl. Ausführungen zu Faktizität und Geltung sowie der Unterscheidung zwischen moralischen und subjektiven Rechten. 41 Wie ein solches Verfahren aussehen soll, werde ich später im Kontext der Diskursethik näher beschreiben. 40
42 https://doi.org/10.5771/9783495860601 .
Charakteristik der universalistischen Menschenrechtskonzeption
Menschenrechte ist eine solche Gleichursprünglichkeit von Freiheitsund Bürgerrechten zentral. Die Verschränkung von Volkssouveränität und Menschenrechten wirkt nun wiederum zurück auf die Stellung der Menschenrechte im Kontext von Rechtsstaat und Demokratie. Kant hielt die Schranke staatlicher Souveränität für unüberwindlich, daher hat er die weltbürgerliche Vereinigung als eine Föderation von Staaten und nicht von Weltbürgern konzipiert. 42 In einer solchen Föderation können jedoch Menschenrechte nur moralisch »verordnet«, nicht jedoch rechtlich durchgesetzt werden. Weil jedoch für Habermas, vor allem angesichts einer zunehmenden Globalisierung, Menschenrechte nur als positive Rechte ihre eigentlich demokratisierende Kraft entfalten, plädiert er, anders als Kant, für ein Weltbürgerrecht. Ein solches Recht bestimmt freilich über die Köpfe der kollektiven Völkerrechtssubjekte hinweg und setzt sich für eine unmittelbare Mitgliedschaft individueller Rechtssubjekte in der Assoziation freier und gleicher Weltbürger ein. 43 In einer Fußnote expliziert Habermas diesen Anspruch und sagt: »Eine Analogiebildung zwischen der völkerrechtlich anerkannten Souveränität von Staaten und der grundrechtlich garantierten Freiheit natürlicher Rechtspersonen verkennt nicht nur den fundamentalen Stellenwert individueller subjektiver Rechte und den individualistischen Zuschnitt moderner Rechtsordnungen, sondern auch den spezifisch juristischen Sinn von Menschenrechten als subjektive Rechte von Bürgern einer weltbürgerlichen Ordnung« (EdA 209). Solange also die Menschenrechte nicht als subjektive Rechte innerhalb einer Weltbürgerschaft umgesetzt sind, vertraut man bei den Menschenrechten auf eine moralische Verpflichtung – im Sinne Kants – und verkennt dadurch deren eigentlichen Stellenwert: nämlich, dass sie die Grundvoraussetzung von Demokratie und Volkssouveränität Eine Reformulierung hält Habermas vor allem deshalb für nötig, weil sich die globale Situation faktisch geändert hat. So vereinigt die Weltorganisation heute fast alle Staaten. Sie bilden eine politische Einheit in der Generalversammlung der Vereinten Nationen, in welcher alle Regierungen repräsentiert sind. Dabei handelt es sich für Habermas um eine »Weltgesellschaft«, weil Kommunikationssysteme und Märkte die verschiedenen Regierungen immer näher aneinander rücken lassen. Es ist aber eine »stratifizierte« Weltgesellschaft, weil der Weltmarkt mit seiner wachsenden Produktivität zu wachsender Verelendung führt. »Die Globalisierung spaltet die Welt und zwingt sie als Risikogemeinschaft zugleich zu kooperativem Handeln.« (EdA 214) 43 Vgl. hierzu EdA 211. 42
43 https://doi.org/10.5771/9783495860601 .
Jürgen Habermas: Kommunikative Vernunft
bilden. 44 Eine solche Voraussetzung ergibt sich durch die Verschränkung von privater und öffentlicher Autonomie, welche einzig durch den Einsatz von Menschenrechten gesichert werden kann. Wenn aber Menschenrechte nicht moralische Verpflichtungen, sondern faktisch und legitim als Rechte eingesetzt werden sollen, dann muss sowohl innerhalb der einzelnen Staaten als auch transnational ein System geschaffen werden, welches eine kommunikative Einbeziehung aller Bürger garantiert. Hier plädiert Habermas »für eine abgeschwächte Form der kosmopolitischen Demokratie unter anderem mit einem durch die Souveränität der Einzelstaaten hindurch greifenden Weltbürgerrecht, einem funktionierenden Sicherheitsrat und regional übergreifenden Regimen als Unterbau der Weltorganisation.« 45 Im folgenden Kapitel werde ich Habermas’ Auseinandersetzung mit den verschiedenen Einwänden darstellen und zeigen, wie sich die Verschränkung von Demokratie und Rechtsstaat, moralischem und positivem Recht sowie Volkssouveränität und Menschenrechten für eine Verteidigung gegen Vorwürfe aus dem eigenen Lager bzw. aus anderen Kulturkreisen bewährt.
1.2.3 Aktuelle Kontroversen In dem 1999 veröffentlichten Artikel »Der interkulturelle Diskurs über Menschenrechte« 46 setzt sich Habermas dezidiert mit den Einwänden gegen die Charta der Menschenrechte auseinander. Dabei unterscheidet er klar zwischen den Einwänden des Westens einerseits und jenen östlicher bzw. afrikanischer Kulturen andererseits. Bei ersteren handelt es sich weitestgehend um Argumentationen, welche sich
Kant konstruiert zwar die Freiheitsgesetze so, dass sie wesentlich sind, jedoch darf er dann auch nicht die Autonomie der Staatsbürger durch die Souveränität ihrer Staaten mediatisieren lassen (vgl. EdA 210). 45 A. Wernecke, Rechtsphilosophische Probleme der weltweiten Durchsetzung von Menschenrechten, Eine Untersuchung zu I. Kant, J. Rawls und J. Habermas, Frankfurt am Main 2005, 62. 46 Dieser Aufsatz überschneidet sich zu einem Teil mit dem früheren Aufsatz »Zur Legitimation der Menschenrechte« in »Die postnationale Konstellation« (1998), enthält jedoch einige wichtige Neuerungen. Ich werde die überschneidenden Passagen aus dem älteren Aufsatz zitieren, die Ergänzungen aus dem neueren Artikel. Manche Passagen wurden überarbeitet. 44
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Charakteristik der universalistischen Menschenrechtskonzeption
auf die Vernunftkritik Heideggers bzw. die Machtkritik bei Carl Schmitt 47 beziehen. Ich werde diese im Folgenden nur erwähnen und erst im Kontext mit Rortys Einwänden ausführlicher darstellen. Das Hauptgewicht liegt jedoch auf der Darstellung der Kritikpunkte aus anderen Kulturen. Habermas antwortet dabei vor allem auf die vorgetragenen Einwände der Erklärung von Bangkok (1993) sowie den Shared Values von Singapur (1991). Diese kritisieren vornehmlich den Vorrang der Rechte vor den Pflichten, hinterfragen die Rangordnung der Menschenrechte und diskutieren die negativen Auswirkungen einer individualistischen Rechtsordnung auf den sozialen Zusammenhalt des Gemeinwesens. 48 Ziel der Darstellung ist eine Analyse der Argumente, warum und an welchen Stellen die »Einbeziehung des Anderen/Fremden« durch »Andere« in Zweifel gezogen wird. a.
Dialog mit dem Westen
Die Geschichte der Menschenrechte trägt den Schatten einer »berechtigten Ausgrenzung« bzw. der »Herabsetzung« anderer Kulturen. Sie hat zu dem Vorwurf geführt, sie seien ein Instrumentarium, durch das sich die abendländische Vernunft über ihre bloß lokale Geltung hinwegsetzt: Das heißt, die kulturell eigenständige Grundrechtsregelung wird mit der Infragestellung der Mündigkeit anderer Kulturen gleichgesetzt. Habermas versucht dieser Kritik zu begegnen, indem er auf den »detektivistischen Zug« des Menschenrechtsdiskurses hinweist, d. h. auf den Versuch des Westens, seine eigenen »blinden Flecken« aufzuspüren. »Menschenrechte, die die Einbeziehung des Anderen fordern, funktionieren zugleich als Sensoren für die in ihrem Namen praktizierten Ausgrenzungen.« 49 Gegen Carl Schmitts Machtkritik, welche sich in seinem provokativen Ausspruch »Wer Menschheit sagt, lügt« konzentriert, verfährt Habermas mit dem historischen Hinweis, dass die Domestizierung der Macht durch legitimes Recht gewährleistet wird. 50
Gegen die Einwände von Carl Schmitt wendet sich Habermas auch in seiner Auseinandersetzung mit Kant und den Menschenrechten (EdA 220 ff.). 48 Vgl. pnK 184. 49 J. Habermas in: Brunkhorst et al. (Hg.) 1999, a. a. O., 218. 50 Vgl. hierzu die ausführliche Darstellung der Habermas’schen Rechtstheorie weiter unten (1.3.1). 47
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Jürgen Habermas: Kommunikative Vernunft
b.
Dialog mit dem Osten
Habermas sieht die Menschenrechte und den demokratischen Verfassungsstaat grundsätzlich als eine Reaktion des Westens auf die Herausforderungen der gesellschaftlichen Moderne. Herausforderungen, welchen heute sämtliche Kulturen und Weltreligionen auf ähnliche Weise ausgesetzt sind: Weltwirtschaft, Mobilität und Telekommunikation lassen die Welt näher zusammenrücken und alle Kulturen müssen sich den globalen Geltungsansprüchen stellen. 51 Aus diesem Grund geht es für Habermas bei der angemessenen Interpretation der Menschenrechte nicht um die »Wünschbarkeit einer modern condition«, sondern vielmehr um die realpolitische Frage, wie eine zusammenwachsende Weltgemeinschaft den globalen Herausforderungen begegnen kann. 52 Dennoch wird die Idee der Menschenrechte von anderen Kulturen in drei Punkten grundsätzlich kritisiert: (a) die zentrale Stellung des Individuums, (b) der aufklärerische Autonomiebegriff sowie (g) der säkulare Charakter. 53 a. Zentrale Stellung des Individuums Viele Stammeskulturen kennen keine Trennung von Recht und Moral und das Gemeinwesen wird deshalb eher von Pflichten als von subjektiven Rechten bestimmt. Ein solches gemeinschaftsorientiertes Ethos erscheint jedoch unvereinbar mit dem individualistischen Rechtsverständnis der Menschenrechte und wird daher von vielen Kulturen kritisiert. Dieser Einwand hängt damit zusammen, dass die Idee der Menschenrechte grundlegend auf der Konzeption basieren, dass Individuen gegebenenfalls ihre Rechte vor einem Gericht einklagen können. Die Menschenrechte garantieren fernerhin einen privaten Handlungs- und Entscheidungsspielraum (private Autonomie), welcher gegen Übergriffe der Gemeinschaft geschützt ist. In diesem Sinne antwortet eine Rechtsform, wie sie in den Menschenrechten vorgesehen ist, auf die Erfordernisse einer WirtschaftsWie bereits weiter oben erwähnt, sieht Habermas aus diesem Grund die Menschenrechte nicht als eine Form des kulturellen Artenschutzes (vgl. auch in seinem neuesten Buch NuR 2005, 145). 52 Vgl. FuG 112 ff. 53 Für die folgende Darstellung beziehe ich mich vornehmlich auf Habermas’ Argumentationen in seinen beiden Artikeln zu den Menschenrechten (in: Brunkhorst et al. (Hg.) 1999, a. a. O., und pnK (170–195) sowie auf sein neuestes Buch NuR (2005). 51
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Charakteristik der universalistischen Menschenrechtskonzeption
gesellschaft. 54 Auch asiatische Gesellschaften setzen im Kontext eines globalen Wirtschaftsverkehrs subjektive Rechte als Steuerungsmedium ein. Rechtliche Grundsätze bilden das Fundament des wirtschaftlichen Verkehrs, denn sie sind Voraussetzung für Berechenbarkeit, Zurechnungsfähigkeit und Vertrauensschutz.55 Aus diesem Grund wendet Habermas gegen die erste Kritik anderer Kulturen ein: »Die asiatischen Gesellschaften können sich nicht auf eine kapitalistische Modernisierung einlassen, ohne die Leistungen einer individualistischen Rechtsordnung in Anspruch zu nehmen. […] die Frage ist nicht, ob die Menschenrechte als Teil einer individualistischen Rechtsordnung mit eigenen kulturellen Überlieferungen vereinbar sind, sondern ob die überlieferten Formen der politischen und gesellschaftlichen Integration an die schwer abweisbaren Imperative einer insgesamt bejahten wirtschaftlichen Modernisierung angepasst werden müssen oder gegen sie behauptet werden können.« 56 Das Argument gegen den individualistischen Charakter der Menschenrechte wird jedoch noch in einem anderen Zusammenhang hervorgebracht. Insbesondere wird versucht, die Rangordnung57 der Menschenrechte in Frage zu stellen. Beispielsweise wird bei Verstößen gegen Justizgrundrechte oder politische Bürgerrechte argumentiert, dass soziale und kulturelle Grundrechte vor den individuellen Rechten der Einzelnen Vorrang hätten. Oder auch, dass das Recht auf wirtschaftliche Entwicklung und der allgemeine Wohlstand des Landes von höherem Wert sei als liberale Freiheits- und politische Teilhaberechte. Schließlich sollten solche Rechte »aufgeschoben« werden, bis das Land eine gewisse wirtschaftliche Entwicklung erreicht hat. 58 Natürlich verweist Habermas an dieser Stelle sofort auf die perlokutionäre Absicht einer solchen Argumentation – insbesondere wenn dieses Argument von Regierungen wie Singapur, Malaysia, Taiwan oder China vorgebracht wird, welche als Entwicklungsdiktaturen bezeichnet werden können. Habermas kritisiert, dass solche strategischen
Vgl. Habermas in: Brunkhorst et al. (Hg.) 1999, a. a. O., 221. Vgl. ebd. 56 Habermas, in: Brunkhorst et al. (Hg.) 1999, a. a. O., 221. 57 Habermas verweist zunächst auf die lexikalische Ordnung von Grundrechten wie sie u. a. bei J. Rawls gefordert wird (vgl. J. Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt am Main 2001). 58 Vgl. ebd., 221 f. 54 55
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Absichten den Nährboden für einen aufrichtigen und verständigungsorientierten Dialog entbehren. b. Autonomer Charakter der Menschenrechte Der zweite Einwand bezieht sich auf den autonomen Charakter der Menschenrechte, welcher als logische Folge des Individualismusbegriffs gedeutet werden kann. Dahinter steckt die Angst, der Vorrang des Individuums vor dem Kollektiv könne sich desintegrierend auf die gewachsene Lebensordnung auswirken und damit die gewachsene Sozialität von Familie, Nachbarschaft und politischer Gemeinschaft entzweien. Das Hauptargument besteht darin, subjektive Rechte seien grundlegend auf einen Konflikt zwischen Individuum und Kollektiv angelegt und zerstörten dadurch die Konsensorientierung traditioneller Gesellschaften. 59 Habermas erinnert jedoch daran, dass auch individuelle Rechtsansprüche nur aus den intersubjektiv anerkannten Normen einer Rechtsgemeinschaft hervorgehen können. Subjektive Rechte sind daher nicht auf »atomistische und entfremdete Individuen bezogen, die sich possessiv gegeneinander versteifen« (FuG 117). Vielmehr kommt es auf die gegenseitige Anerkennung sowie die Kooperation aller Teilnehmer an. Hieraus resultiert auch der Status der Rechtsperson innerhalb einer Gruppe freiwillig assoziierter Mitglieder. Allgemeine Gesetze resultieren aus dem kommunikativen Modus einer diskursiven Meinungs- und Willensbildung. Das bedeutet jedoch auch, dass sich die Menschenrechtsdebatte von der metaphysisch geprägten Naturrechtsdebatte entfernt, welche dem Individuum angeborene Rechte zuspricht. 60 Für Habermas individuiert sich der Einzelne erst als volle Rechtsperson durch die Vergesellschaftung. 61 »Weil auch Rechtspersonen nur auf dem Wege der Vergesellschaftung individuiert werden, kann die Integrität der einzelnen Person nur zugleich mit dem freien Zugang zu jenen interpersonalen Beziehungen und zu den kulturellen Überlieferungen gestützt werden, in denen diese ihre Identität auf-
Vgl. ebd. Vgl. ebd. 61 Vgl. zur »Dekonstruktion« der Begriffe von Individuum und Kollektiv in: Habermas, nD, 187–242. 59 60
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rechterhalten kann. Der richtig verstandene Individualismus ist ohne diesen Schuss von ›Kommunitarismus‹ unvollständig.« 62 Um von hier aus zu einer Entkräftung der Autonomiekritik zu gelangen, bedarf es eines Umwegs über die Debatte zwischen Liberalismus und Kommunitarismus. 63 In diesem Kontext weist Habermas insbesondere auf die Verschränkung von Sozialisationsprozessen hin: Personen wachsen unter spezifischen kulturellen Bedingungen auf. Daher unterliegen Gesetzgebung und Demokratisierung gewissen ethischen Imprägnierungen, d. h., »Persönlichkeitsstrukturen bilden gleichsam Knotenpunkte in einem askriptiven Netzwerk von Kulturen und Überlieferungen von intersubjektiv geteilten Erfahrungs- und Lebenszusammenhängen. Dieser Kontext ist auch der Horizont, vor welchem die Staatsbürger, ob sie es wollen oder nicht, ihre ethischpolitischen Selbstverständigungsdiskurse führen« (EdA 255). Hierin kündigt sich bereits Habermas’ Kritik an der Subjektphilosophie an, d. h., er versucht die subjektphilosophischen Reduktionen durch die intersubjektivistisch angelegte Bewusstseinstheorie George Herbert Meads zu überwinden: Das Subjekt wird von vorneherein als intersubjektiv verstanden und damit die konfliktgeladene Dichotomie zwischen Individuum und Gesellschaft entspannt. Fernerhin macht die intersubjektivistische Interpretation von Individuum und Gesellschaft die bereits erwähnte Verschränkung von privater und öffentlicher Autonomie deutlicher, denn private Autonomie können wir nur durch eine Selbstgesetzgebung erreichen. Eine solche Selbstgesetzgebung bleibt jedoch in einer dialogischen Auseinandersetzung mit Anderen verankert und bedarf des öffentlichen Vernunftgebrauchs. Private Rechtssubjekte klären berechtigte Interessen und Maßstäbe nur in der gemeinsamen Ausübung der staatsbürgerlichen Autonomie. Publizität und Prozesshaftigkeit garantieren dabei eine entsprechende Offenheit gegenüber kulturellen Unterschieden und ungleichen sozialen Vorbedingungen und beides verweist damit auf den internen Zusammenhang von Rechtsstaat und Demokratie. 64 »Die ›Farbenblindheit‹ der selektiven Lesart verschwindet, vorausgesetzt, dass wir auch den Trägern subjektiver Rechte eine intersubjektivisch begriffene Identität zuHabermas, in: Brunkhorst et al. (Hg.) 1999, a. a. O., 223. Ich stelle diese Debatte im Kontext von Habermas’ politischer Philosophie ausführlicher dar. 64 Vgl. zu dieser Argumentation Habermas, EdA 242. 62 63
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schreiben. Personen, auch Rechtspersonen, werden nur durch Vergesellschaftung individuiert.« (EdA 242 f.) g. Säkularer Charakter der Menschenrechte Habermas zieht eine Parallele zwischen den gegenwärtigen globalen Spannungen verschiedener Religionen und der Zeit konfessioneller Spaltungen im früheren Europa. Diese Spannungen werden heute durch übergreifende globale Themen wie dem Weltmarkt, der wachsenden Mobilität und den Naturkatastrophen verstärkt. Daraus folgt die Notwendigkeit, dass alle Nationen – trotz vielfältiger kultureller und religiöser Unterschiede – Regeln für ein Zusammenleben finden müssen. Die Menschenrechte stellen für Habermas hierfür einen wesentlichen Lösungsansatz dar. Mit dieser Forderung steht Habermas nicht alleine. Insbesondere liberale Theoretiker sehen ein ziviles Verhalten und den öffentlichen Vernunftgebrauch – unabhängig von konfessionellen Überzeugungen – als staatsbürgerliche Pflicht: »The ideal of citizenship imposes a moral, not legal duty – the duty of civility – to be able to explain to one another on those fundamental questions how the principles and policies they advocate and vote for can be supported by the values of public reason. Their duty also involves a willingness to listen to others and a fairmindedness in deciding when accommodations to their views should reasonably be made.« 65 Die globale Anerkennung der Menschenrechte wird hierbei mit einem grundlegenden Problem konfrontiert: Auf der einen Seite steht das liberale Staatsbürgerethos, welches religiöse Begründungen von vorneherein vom öffentlichen Dialog ausschließt; auf der anderen Seite wächst die Angst vieler Nationen, eben jener liberale Gehalt der Menschenrechte führe zu einer beschleunigten Säkularisierung in ihrem eigenen Land. Denn nicht für alle Kulturen ist eine Trennung von Politik und Religion mit ihren traditionellen Überzeugungen vereinbar. 66 Gegen den liberalen Gehalt der Menschenrechte werden von Gläubigen vor allem zwei Einwände vorgebracht: Erstens wird daran erinnert, dass viele Bürgerrechtsbewegungen, z. B. zur Verteidigung der Demokratie, zur Inklusion von anderen Kulturen oder gar die
65 66
J. Rawls, Political Liberalism, New York 1993, 217. Vgl. zu dieser Darstellung: Habermas, in: Brunkhorst et al. (Hg.) 1999, a. a. O., 225.
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Menschenrechtsbewegung selbst, von religiösen Überzeugungen motiviert waren. 67 Zweitens geben Gläubige zu bedenken, dass von Staatsbürgern keine Pflicht abverlangt werden dürfe, welcher einige nicht nachkommen können oder wollen: sei es aus mangelnder Kompetenz oder der Unvereinbarkeit mit ihren religiösen Überzeugungen. Zum Beispiel ist es für manche Staatsbürger gar nicht möglich, zwischen kognitiven und religiösen Gründen zu unterscheiden – ob in der Wahlkabine oder im öffentlichen Dialog. Aus diesem Grund sind religiöse und kognitive Begründungen oftmals so sehr miteinander verschlungen, dass eine Trennung künstlich wäre oder die Wahrhaftigkeit der Aussagen untergraben würde. »Der totalisierende Zug einer Glaubensweise, die in die Poren des täglichen Lebens eindringt, widersetzt sich aber, so lautet der Einwand, jeder alerten Umstellung religiös verankerter politischer Überzeugungen auf eine andere kognitive Grundlage.« (NuR 133) Besonders der zweite Einwand führt Habermas deshalb zu der Forderung, dass eine Trennung von kognitiven und religiösen Gründen nicht verlangt werden dürfe, wenn Staatsbürger dies als Angriff auf ihre persönliche Integrität empfinden. Habermas bleibt jedoch andererseits bei der Überzeugung, dass der liberale Staat die institutionelle Trennung von Religion und Staat als absolut sehen und aufrechterhalten müsse. 68 Wie ist es aber möglich, zwischen diesen entgegengesetzten Ansprüchen zu vermitteln? Zunächst verlangt Habermas, dass es Gläubigen erlaubt sein muss, auch dann ihre Meinung zu äußern, wenn sie dafür keine »Übersetzung« in ein säkulares Argument finden. Denn in der Tat verlangt eine solche Übersetzungsleistung eine entsprechende Kompetenz, welche nicht von allen Staatsbürgern erwartet werden kann. 69 Er setzt fernerhin ein inklusives Denken voraus, d. h., die säkularen Mitbürger sind wirklich an allen Argumenten interessiert und leisten – falls notwenVgl. R. Bellah, R. Madson, W. M. Sullivan, A. Swidler, St. M. Tipton, Habits of the Heart, Berkeley 1985, zit. in: Habermas, NuR 130. 68 Vgl. zu beiden Postulaten: Habermas, NuR 133. 69 Dieses Zugeständnis geht innerhalb Habermas’ Theorie auf seine Idee einer deliberativen Demokratie zurück. Auch dort hält er es als für den öffentliche Dialog essentiell, dass er in einer Sprache abgehalten wird, welche allen zugänglich ist und in welcher alle Teilnehmer ihre Argumente vorbringen können (vgl. in FuG 440 f.) – auch die religiösen Mitbürger (vgl. NuR). 67
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dig – eine solche Übersetzung für andere Mitglieder: »Weil sie sich nur unter der Bedingung der Anerkennung des institutionellen Übersetzungsvorbehalts in religiöser Sprache äußern dürfen, können sie sich, im Vertrauen auf die kooperativen Übersetzungsleistungen ihrer Mitbürger, als Teilnehmer am Gesetzgebungsprozess verstehen, obwohl darin allein säkulare Gründe zählen« (NuR 136). Bis hierher verlangt Habermas jedoch einzig von den religiösen Mitbürgern bestimmte Eingeständnisse, nämlich: dass sie eine epistemische Einstellung a. zu fremden Religionen und Weltanschauungen, b. zum Eigensinn säkularen Wissens sowie c. zu dem Vorrang säkularer Gründe auf politischem Terrain einnehmen (vgl. NuR 143). Kurz: Habermas verlangt, die eigene Religion – selbstreflexiv – aus der Perspektive eines anderen Weltverständnisses zu betrachten. An dieser Stelle findet sich jedoch eine entscheidende Wendung, wodurch sich Habermas sowohl von seinem eigenen bisherigen Standpunkt 70 als auch von der Einstellung des Liberalismus distanziert. Er verlangt nämlich nicht nur von den religiösen Mitbürgern eine selbstreflexive Einstellung gegenüber ihren religiösen Argumenten, sondern auf gleiche Weise von den säkularen Bürgern. Das heißt, die säkularen Mitbürger sollen ihr eigenes Weltbild – selbstreflexiv – aus der Perspektive der Anderen betrachten und seine Allgemeingültigkeit in Frage stellen: »Vorausgesetzt wird eine epistemische Einstellung, die aus einer selbstkritischen Vergewisserung der Grenzen der säkularen Vernunft hervorgeht. Diese Voraussetzung bedeutet, dass das demokratische Staatsbürgerethos […] nur dann gleichmäßig allen Bürgern zugemutet werden kann, wenn die religiösen und die säkularen Bürger komplementäre Lernprozesse durchlaufen« (NuR 146). Nur dann ist Religionsfreiheit mehr als der »kulturelle Naturschutz für aussterbende Arten« (NuR 145). Als Gegenstück zum reflexiv gewordenen religiösen Bewusstsein setzt Habermas daher das postmetaphysische Bewusstsein. Ein solches Bewusstsein hält sich an zwei grundsätzliche Prämissen: Einerseits beharrt es auf einer strikten Trennung zwischen Glauben und Wissen, andererseits wendet es sich »gegen eine szientistisch beschränkte Konzeption der Vernunft und den Ausschluss der religiösen Lehren aus der Genealogie der Vernunft« (NuR 147). Damit drängt Habermas auf eine Vgl. z. B. Habermas, Der interkulturelle Dialog über Menschenrechte, in: Brunkhorst et al. (Hg.), Recht auf Menschenrechte, a. a. O.
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Unterscheidung zwischen säkularen Aussagen und Gründen einerseits und den säkularen Weltbildern andererseits, welche ebenso wenig wie religiöse Weltbilder einen Anspruch auf Allgemeingültigkeit erheben dürfen. 71 Diese neueren Überlegungen über das Verhältnis von säkularen und religiösen Gründen erscheint insbesondere im Hinblick auf die Menschenrechtsdebatte entscheidend. Auf methodischer Ebene wendet Habermas hier den »detektivistischen Zug« der Menschenrechte auf die Vernunft selbst an, d. h. auf dasjenige »Instrumentarium«, welches die Menschenrechte originär hervorgebracht hat. Inhaltlich werden religiöse Argumente oftmals als das »intransparente Andere« 72 oder auch als das Gegenstück zur Vernunft gesehen. Habermas’ eingestandener Fallibilismus leitet ihn jedoch zu der Einsicht, dass es »unvernünftig« wäre, Argumente a priori auszuschließen, nur weil sie religiös sind. »Der Aufwand an philosophischer Selbstreflexion zeigt, dass die demokratische Staatsbürgerrolle bei säkularen Bürgern eine Mentalität unterstellt, die nicht ärmer an Voraussetzungen ist wie die Mentalität aufgeklärter Religionsgemeinschaften. Insofern sind die kognitiven Bürden, die der Erwerb angemessener epistemischer Einstellungen beiden Seiten auferlegt, keineswegs asymmetrisch verteilt« (NuR 150). Durch diesen weiteren Schritt setzt er das szientistische Weltbild auf die gleiche Stufe mit religiösen Weltbildern: Beide Seiten sind dazu angehalten, einen gleichberechtigten und symmetrischen Lernprozess zu unterlaufen. Zentral für diesen Lernprozess ist die Einsicht, dass alle Argumente aus ihrer Partikularität in die gemeinsame Deutung bzw. Bedeutung übersetzt werden müssen. 73 Natürlich muss sich eine solche Theorie in der Praxis beweisen. Und hier kommt es vor allem auf die grundsätzliche Bereitschaft an, sich auf einen solchen Dialog einzulassen. 74 Hiermit bezieht sich Habermas auf die Diskussion zwischen R. Audi u. N. Wolterstorff, in: Religion in the Public Sphere, New York 1997, zit. in: Habermas, NuR 129. 72 Vgl. auch Habermas, NuR 149. 73 Aber auch unter diesen Vorzeichen ist es fraglich, ob schließlich der Liberalismus als die richtige Antwort auf den religiösen Pluralismus gesehen werden kann. Schließlich hängt alles davon ab, ob sich alle Beteiligten auf eine gemeinsame Interpretation von Glauben und Wissen einlassen. Hierzu kommen sie jedoch wiederum nur, wenn sie innerhalb der politischen Öffentlichkeit ein selbstreflexives und aufgeklärtes Verhalten zueinander einnehmen (vgl. NuR 154). 74 Die Rahmenbedingungen für einen solchen Dialog bleiben natürlich die gleichen: Nämlich »symmetrische Beziehungen zwischen den Kommunikationsteilnehmern […] 71
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Auch im Hinblick auf die Menschenrechtskonzeption geht es schließlich darum, Kommunikationsbedingungen zu schaffen, die eine möglichst gleichberechtigte Koexistenz verschiedener Glaubensformen ermöglichen und dadurch die Einbeziehung vieler und verschiedenartiger Argumente garantieren. Dies verlangt von allen Bürgern, den eigenen Standpunkt aus der Perspektive der anderen zu betrachten und damit reflexiv die Allgemeingültigkeit sämtlicher Argumente zu erwägen. In den folgenden Kapiteln wird ausführlich dargestellt, auf welche Weise solche Kommunikationsbedingungen gesellschaftlich verankert werden können, wie solche idealen Bedingungen aussehen und auf welchen Begriff der Vernunft diese zurückgehen.
1.3 Die dreifache »Einbeziehung des Anderen« auf den Ebenen der politischen Philosophie, Diskursethik und kommunikativen Vernunft Die Bezeichnung der »Einbeziehung des Anderen« greift den Titel von Habermas’ 1996 erschienen Buches auf. Er thematisiert darin die Konsequenzen, welche sich aus dem universalistischen Gehalt republikanischer Grundsätze ergeben haben. Kern seiner These ist, dass ein richtig verstandener Universalismus, 75 sowohl im Bereich der Moral- als auch der Rechtstheorie, für Differenzen hochempfindlich bleibt. Dieser respektiert den Anderen gerade in seiner Andersartigkeit. »Einbeziehung heißt hier nicht Einschließen ins Eigene und Abschließen gegen Andere. Die ›Einbeziehung des Anderen‹ besagt vielmehr, dass die Grenzen der Gemeinschaft für alle offen sind – auch und gerade für diejenigen, die füreinander Fremde sind und Fremde bleiben wollen.« (EdA 8) Die Darstellung der Konzeption der Menschenrechte hat deutlich gemacht, dass sowohl die Einwände des Westens als auch diejenigen anderer Kulturen um jenes zentrale Problem kreisen: Nämlich die – Beziehungen der gegenseitigen Anerkennung, der wechselseitigen Perspektivenübernahme (und) der gemeinsam unterstellten Bereitschaft, die eigene Tradition auch mit den Augen eines Fremden zu betrachten (und) voneinander zu lernen« (Habermas, Der interkulturelle Dialog über Menschenrechte, a. a. O., 225). 75 Das heißt, insofern sich dieser auf die Diskurstheorie stützt.
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Möglichkeiten und Grenzen der adäquaten Einbeziehung aller Kulturen. Habermas’ Theorie muss daher im Detail zeigen, auf welche Weise sie eine solche »Einbeziehung des Anderen« gewährleistet. Meine beiden Hypothesen lauten: a. Sowohl Habermas’ politische Theorie als auch die Diskurstheorie lassen sich auf den Kern der kommunikativen Vernunft zurückführen. b. Ihre intersubjektivistische Ausgangsposition sowie die Verlagerung des inneren Reflexionsprozesses in die Öffentlichkeit garantieren die »Einbeziehung des Anderen« in seiner Andersheit auf einer erhöhten reflexiven Stufe. Die kommunikative Vernunft ersetzt damit das vormoderne, präreflexiv angelegte Konstrukt des Mitgefühls, ohne die Kritik der Postmoderne zu übergehen.
1.3.1 Politische Philosophie: deliberative Demokratie und Rechtstheorie a.
Konfliktlinien »Die im Gedankenexperiment nachkonstruierten Grundrechte sind für jede Assoziation freier und gleicher Rechtsgenossen konstitutiv; in diesen Rechten spiegelt sich die horizontale Vergesellschaftung der Bürger gleichsam in statu nascendi.« (Habermas, FuG 494)
a. Liberalismus versus Republikanismus Habermas greift hinsichtlich der Konstruktion der Grundrechte ein Dilemma auf, das sich zwischen den Theoretikern des Republikanismus bzw. des Liberalismus und entsprechend auch zwischen den Vertretern des Rechtspositivismus bzw. des Naturrechts entfaltet. Für jene, die das Naturrecht und den Liberalismus vertreten, können die Menschenrechte durchaus als etwas Vorgegebenes angesehen werden, das der Staat lediglich zu wahren hat. Für die Vertreter des Rechtspositivismus und der Volkssouveränität kann es nur Rechte geben, die der Entscheidung der Bürger entspringen und von einer entsprechenden Zwangsstruktur gestützt werden. Mit dieser Zweiteilung von Republikanismus und Liberalismus als entgegengesetzte Demokratiemodelle bezieht sich Habermas u. a. auf Frank I. Michelman 76 und antwortet auf die in den Staaten von F. I. Michelman, Political Truth and the Role of Law, Tel Aviv Univ. Studies in Law, 8, 1988, zit. nach Habermas, EdA 279.
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den Kommunitaristen ausgelöste Debatte über die Spannung zwischen Volkssouveränität und Menschenrechten. Dabei werden die entgegengesetzten Positionen von Habermas folgendermaßen skizziert: 77 Im Liberalismus stehen die einzelnen Privatinteressen dem Staat gegenüber. Der Staat selbst ist spezialisiert auf die administrative Verwendung politischer Macht für kollektive Ziele. Im Republikanismus wird Politik dagegen als sittliches Zusammenleben begriffen. Die Bürger werden sich ihrer wechselseitigen Angewiesenheit aufeinander bewusst. Im Gegensatz zum Liberalismus, bei dem sich Staat und Gesellschaft gegenüberstehen und das einzelne Subjekt durch vorgelagerte Sondergesetze vor den Übergriffen des Staates bewahrt wird, soll im Republikanismus eine solche integrierende Funktion durch die Idee der Solidarität erreicht werden.
Wie die Graphik veranschaulicht, stehen im Liberalismus die Einzelwillen der Staatsbürger einander gegenüber. Das oberste Ziel ist der Schutz der Privatsphäre, welche gegen die Übermacht des Staates verteidigt wird. Der Bürger konstituiert sich als Träger subjektiver Rechte, welche den privaten Interessen möglichst nicht widersprechen, d. h., in diesen Grenzen gestehen sich die Bürger wechselseitig so viel Freiheit wie möglich zu. Die Entbindung von moralischen Pflichten garantiert die negative Freiheit. Das republikanische Modell sieht dagegen in der politischen Partizipation eine positive Freiheit, d. h., politisches Handeln gilt als Privileg und ist deshalb nicht nur Mittel zum Zweck der persönlichen Freiheit bzw. des privaten Wohlstands. Mit einer solchen Einstellung geht Die Kontroverse zwischen Liberalismus und Republikanismus wird von Habermas an unterschiedlichen Stellen behandelt; bes. ausführlich in EdA 278 ff., FuG 129 ff. und pnK 173 ff.
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einher, dass sich Bürger als verantwortliche Personen einer Gemeinschaft von Freien und Gleichen verstehen. 78 Im Hinblick auf die Konstruktion des Rechts handelt es sich im Fall des Liberalismus um eine Rechtsordnung, welche von den subjektiven Rechten ausgeht, im Falle des Republikanismus wird dagegen dem »objektivrechtlichen Gehalt« ein Primat eingeräumt (vgl. EdA 280). Die Unterschiede im Staatsbürgerbegriff wirken sich entsprechend auf die Entscheidungsprozesse der beiden Modelle aus. 79 Im Liberalismus geht es vornehmlich um den eigenen Machterhalt, welcher sich im zweckrationalen Handeln bzw. in der Konkurrenz zwischen einzelnen Positionen ausdrückt. Der erreichte Kompromiss reflektiert daher nicht den Gemeinwillen im Sinne Rousseaus, sondern allenfalls einen als Gesamtwillen mediatisierten Privatwillen. Im Falle des Republikanismus handelt es sich idealtypisch um den Prozess einer verständigungsorientierten öffentlichen Kommunikation. Es dominiert nicht das Paradigma des Marktes, sondern des Gesprächs. Anders als Rousseau sieht Habermas (und ähnlich wie John Dewey) jedoch den Dialog zwischen den Bürgern als Notwendigkeit, um einen Gemeinwillen herauszukristallisieren. Wie bereits in der Gegenüberstellung klar geworden ist, favorisiert Habermas selbst das republikanische Modell. Es hält am radikaldemokratischen Ideal der kommunikativ vereinigten Bürger fest. Dennoch deutet Habermas darauf hin, dass im Republikanismus der Einzelne dem »Gutwill« der Anderen ausgeliefert ist. Solidarität ist in diesem Sinne »moralisch wünschenswert«, kann jedoch weder garantiert noch rechtlich durchgesetzt werden. An dieser Stelle meldet sich natürlich die liberalistische Kritik am Republikanismus zurück: Basierend auf einem ursprünglichen Naturrecht des Menschen werden Menschenrechte als Grundlage des Staates gefordert, um so den Einzelnen vor der Willkür des Volkes zu schützen. Aus demselben Grund wirft Habermas dem Republikanismus eine gewisse »ethische Engführung politischer Diskurse« vor (vgl. u. a. FuG 359). 80 Vgl. EdA 278 f. Vgl. zu folgender Darstellung bes. Habermas, EdA, 278 ff., jedoch auch FuG 129 ff. und pnK 173 ff. 80 Die Kontroverse zwischen Liberalismus und Republikanismus entfaltet sich ideengeschichtlich besonders prägnant zwischen den politischen Theorien von Locke und Rousseau. Rousseau vertraut rein auf die Vernunft der Volkssouveränität. Dagegen insistiert Locke auf eine angeborene Menschenwürde, welche den Einzelnen vor der Will78 79
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b. Globale Konfliktsituation Habermas schließt mit seiner eigenen Konzeption eines deliberativen Demokratiemodells an Kants Gedanken einer staatsbürgerlichen Autonomie an. Andererseits begründet er Erweiterungen und Transformationen der kantischen Theorie – insbesondere mit Blick auf die außenpolitischen Beziehungen – mit aktuellen Veränderung der Konfliktlinien zwischen Staaten. Kant schreckte insbesondere vor einer rechtlichen Verankerung interstaatlicher Beziehungen zurück. Daher war die Einhaltung der Menschenrechte allein auf den Gutwill bzw. auf die moralische Verpflichtung der Staaten angewiesen. Habermas hingegen hält die Notwendigkeit einer Trennung von Moral und Recht für unerlässlich; insbesondere im Kontext eines interkulturellen Dialogs über allgemeingültige Grundsätze. 81 Daher müssen Menschenrechte als Rechte sowohl legale als auch legitime Geltung besitzen. 82 Legitimität erhalten solche Rechte jedoch nur, insofern sie ein Volk gewählt hat und damit als rechtmäßig anerkennt. Der entscheidende Konflikt besteht darin, dass sich »Gleichheit mit Freiheit, Einheit mit Vielfalt oder das Recht der Mehrheit mit dem Recht der Minderheit nur schlecht vereinbaren lassen« (FuG 610). Entweder wird also die Einheit des Volkswillens auf Kosten der Unterdrückung der Heterogenität erzwungen oder die konkurrierenden Einzelwillen stehen sich unversöhnlich gegenüber. Das Volk existiert einzig im Plural und das Problem zwischen souveräner Willensbildung und apodiktischer Vernunftseinsicht meldet sich in neuem Gewande zurück (vgl. FuG 604). b.
Charakteristika der deliberativen Demokratie »[…] die Ahnung, dass im Zeichen einer vollständig säkularisierten Politik der Rechtsstaat ohne radikale Demokratie nicht zu haben und nicht zu erhalten ist. Aus dieser Ahnung eine Einsicht zu machen, ist das Ziel der vorliegenden Untersuchung. Letztlich können die privaten Rechtssubjekte nicht in den Genuss gleicher subjektiver Freiheiten ge-
kür der Menge schützt. Kant versucht diese Kontroverse zu überwinden, indem er die Autonomie der Gesetzgebungspraxis selbst als vernünftig begreift. Habermas übernimmt natürlich diesen kantischen Gedanken der Selbstgesetzgebung (volenti non fit iniuria) als Vereinigung von praktischer Vernunft und souveränem Willen (vgl. hierzu auch FuG 611). 81 Siehe das Kapitel zu »Recht und Moral«. 82 Vgl. hierzu die ausführlichen Abhandlungen in FuG.
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langen, wenn sie sich nicht selbst, in gemeinsamer Ausübung ihrer politischen Autonomie, über berechtigte Interessen und Maßstäbe klar werden und auf die relevanten Hinsichten einigen, unter denen Gleiches gleich und Ungleiches ungleich gehandelt werden soll.« (Habermas, FuG 13)
Als Antwort auf die veränderte politische Situation entwickelt Habermas das Modell der deliberativen Demokratie, das grundlegend aus einer Transformation der kantischen praktischen Vernunft in eine kommunikative Vernunft hervorgeht (vgl. FuG 17). Auf politischer Ebene wirkt sich diese perspektivische Verschiebung in einer Reformation der Idee der Volkssouveränität aus. Habermas versteht Volkssouveränität nicht mehr substantiell, sondern als Verfahren, welches über die Institutionalisierung idealer Kommunikationsbedingungen gesichert werden soll. Ziel ist es, das beste Argument hörbar zu machen. Eine prozedural-diskursive Rechtssetzung soll deshalb, im Sinne eines kontinuierlichen Dialogs, auch Ansprüche marginalisierter oder unterdrückter Gruppen sichtbar werden lassen. Insofern stellt das deliberative Modell einen Kompromiss zwischen Liberalismus und Republikanismus dar: Mit der Institutionalisierung von Entscheidungsprozessen stützt sich Habermas auf liberale Ideen, mit der Orientierung an den Meinungs- und Willensbildungsprozessen in einer dialogisierenden Öffentlichkeit auf republikanische Ideale (vgl. FuG 361). »Es kommt also alles auf die Kommunikationsbedingungen und Verfahren an, die der institutionalisierten Meinungs- und Willensbildung ihre legitimierende Kraft verleihen.« (EdA 285) Dabei geht es Habermas grundsätzlich darum, die Prozesse der Meinungsbildung mit denen der administrativen Entscheidung gleichrangig zu behandeln. Denn nur so kann die Spannung zwischen Faktizität und Geltung immer wieder gesamtgesellschaftlich harmonisiert werden. Die Idee der Volkssouveränität als Verfahren bezeichnet die Verflüssigung rechtlicher Beschlüsse, durch welche eine relative Offenheit garantiert werden soll: 83 über die integrierende Kraft der Verbände und Organisationen der Zivilgesellschaft dringen die Belange der Bürger an die Öffentlichkeit. Dort kumulieren sie zu kommunikativer Macht 84.
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Vgl. hierzu den Vortrag »Volkssouveränität als Verfahren« in: FuG 600 ff. Natürlich bezieht sich Habermas mit dem Begriff der kommunikativen Macht auf
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Kommunikative Macht hat jedoch keinen Einfluss auf politische Entscheidungen bzw. die Rechtssetzung, vielmehr ist sie auf eine Transformation in administrative Macht angewiesen. Kommunikative und administrative Macht sind über die Dynamik zwischen Faktizität und Geltung verschränkt: Administrative Macht ist auf Legitimität, d. h. auf normative Gründe, angewiesen. »Die kommunikativ erzeugte legitime Macht kann auf das politische System in der Weise einwirken, dass sie den Pool von Gründen, aus dem die administrativen Entscheidungen rationalisiert werden müssen, in eigene Regie nimmt. Es ›geht‹ eben nicht alles, was für das politische System machbar wäre, wenn die ihm vorgeschaltete politische Kommunikation die von ihm nachgeschobenen normativen Gründe durch Gegengründe diskursiv entwertet hat« (FuG 623). 85 Kommunikative Macht entspringt einer autonomen Öffentlichkeit und wird »ausgeübt im Modus der Belagerung.« (FuG 626). Die rechtlichen Beschlüsse selbst bleiben jedoch den Institutionen mit administrativer Macht vorbehalten, weil vor allem folgenreiche Beschlüsse eine institutionelle Zurechnung benötigen. Im Gegensatz zu den bewusstseinsphilosophischen Denkfiguren des Liberalismus, welche die »Selbstbestimmungspraxis der Bürger einem gesamtgesellschaftlichen Subjekt zuschreiben oder die anonyme Herrschaft der Gesetze auf konkurrierende Einzelsubjekte beziehen« (FuG 362), geht es Habermas um ein gemeinschaftliches Legitimationsprinzip, welches über intersubjektive und öffentliche Verständigungsprozesse fungiert. »Der Kommunikationsfluss zwischen öffentlicher Meinungsbildung, institutionalisierter Wahlentscheidung und legislativen Beschlüssen soll gewährleisten, dass der publizistisch erzeugte Einfluss und die kommunikativ erzeugte Macht über die Gesetzgebung in administrativ verwendbare Macht umgeformt werden.« (FuG 363) Dadurch ergibt sich eine Gewichtsverschiebung zwischen den Ressourcen: Geld, administrativer Macht und kommunikativer Macht (Solidarität). Diese wird nicht mehr wie im Republikanismus aus den »[…] Quellen des kommunikativen Handelns allein ge-
Arendts Analysen zu Macht und Gewalt (vgl. H. Arendt, Macht und Gewalt, München 1993). 85 Dabei lehnt sich Habermas an die Begriffsverwendung von Max Weber an: Während Herrschaft immer schon an Institutionen gebunden ist, kann Macht auch in unbestimmteren Verhältnissen auftreten.
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Die dreifache »Einbeziehung des Anderen«
schöpft […], [sondern] soll sich über weit ausgefächerte autonome Öffentlichkeiten und rechtsstaatlich institutionalisierte Verfahren der demokratischen Meinungs- und Willensbildung entfalten und über das Rechtsmedium auch gegen die beiden anderen Mechanismen gesellschaftlicher Integration, Geld und administrative Macht, behaupten können« (FuG 363). Anstatt also auf bloße Solidarität zu vertrauen, versucht Habermas die marginalisierten Gruppen selbst zu mobilisieren und durch die rationale Darlegung ihrer Belange in Form von normativen Gründen an die Öffentlichkeit zu bringen. Rationalisierung bedeutet in diesem Kontext mehr als Legitimation, aber weniger als Konstituierung von Macht (vgl. FuG 364). Die kommunikative Macht bildet jedoch nur eine Ressource neben der administrativen Macht und Geld. Durch organisierte Beschaffung von Massenloyalität einerseits und die autonome Meinungsbildung andererseits können nämlich je andere Ressourcen die Oberhand gewinnen. Das Recht ist schließlich dasjenige Medium, durch welches kommunikative Macht in administrative Macht umgesetzt wird. Dabei übernimmt das Recht eine normative, die Macht eine instrumentelle Perspektive: aus der Sicht des Rechts bedürfen Gesetze einer normativen Begründung, aus der Sicht der Macht dienen Gesetze der Beschränkung und fungieren daher als Mittel (vgl. FuG 621). »Die kommunikativ verflüssigte Souveränität des Volkes kann sich nicht allein in der Macht informeller öffentlicher Diskurse zur Geltung bringen – auch dann nicht, wenn diese autonomen Öffentlichkeiten entspringen. Ihr Einfluss muss sich auf die Beratungen demokratisch verfasster Institutionen der Meinungs- und Willensbildung auswirken und in formellen Beschlüssen eine autorisierte Gestalt annehmen, um politische Macht zu erzeugen.« (FuG 449 f.) Den verschiedenen Ressourcen ist jeweils ein Handlungssystem zugeordnet: a. administrative Macht der politischen Administration (Staat), b. das Geld dem ökonomischen Handlungssystem (Markt) und c. die kommunikative Macht dem öffentlichen Kommunikationsnetz, in welchem sich die Belange der Bürger kumulieren und dadurch auf das staatliche System Einfluss ausüben. Alle drei Systeme wurzeln im präreflexiven Hintergrund einer gemeinsamen Lebenswelt.
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Jürgen Habermas: Kommunikative Vernunft Ressource
System
Bereich
Administrative Macht
Politische Administration
Staat
Geld
Ökonomisches Handlungssystem
Markt (bürgerliche Gesellschaft)
Kommunikative Macht (Solidarität)
Öffentliche Kommunikationsnetze
Zivilgesellschaft
Tabelle nach Reese-Schäfer, Jürgen Habermas, a. a. O., 104
Zwischen Privatsphäre und politischer Öffentlichkeit steht die Zivilgesellschaft. Sie umfasst Vereinigungen, Assoziationen, Organisationen und Bewegungen. Durch diese werden Problemlagen der privaten Lebensbereiche identifiziert und lautverstärkend an die politische Öffentlichkeit weitergeleitet. Obwohl die Arbeits-, Kapital- und Gütermärkte nicht in den Bereich der Zivilgesellschaft gehören, sondern zum ökonomischen Handlungssystem, wird die Zivilgesellschaft durch den Markt beeinflusst (z. B. durch Werbung, Propaganda, Markt- und Meinungsforschung sowie durch das Element der Einschaltquoten in den Massenmedien). Der ökonomische Bereich ist dadurch als entfremdendes Moment mit eigenen Kommunikationsformen und Handlungsdirektiven zwischen die Zivilgesellschaft und das politischem System geschaltet. »Dabei ist die Absicht leitend, das kapitalistische Wirtschaftssystem zu zähmen, d. h. auf einem Wege sozial und ökologisch ›umzubauen‹, auf dem gleichzeitig der Einsatz administrativer Macht ›gebändigt‹, nämlich unter Effektivitätsgesichtspunkten auf schonende Formen indirekter Steuerung trainiert sowie unter Legitimitätsgesichtspunkten an kommunikative Macht rückgebunden und gegen illegitime Macht immunisiert werden kann.« (FuG, 494; siehe auch 490) Idealerweise sollte nämlich die Zivilgesellschaft direkt mit privaten Kernbereichen der Lebenswelt rückgekoppelt sein, jedoch von anderen Bereichen, wie der Ökonomie, dem Staat oder den gesellschaftlichen Funktionssystemen, abgegrenzt bleiben. Das heißt, kommunikative Inhalte der Zivilgesellschaft werden erst vermittels einer Öffentlichkeit sichtbar. Deshalb ist es die Verantwortung der Zivilgesellschaft, diesen Kanal so offen wie möglich zu halten, was jedoch nur über eine frequente Kommunikationspraxis erreicht werden kann (vgl. FuG 447). Hieraus ergibt sich die janusgesichtige Ausrichtung der Öffentlichkeit: Ein Gesicht ist der funktionierenden Zivilgesellschaft und das 62 https://doi.org/10.5771/9783495860601 .
Die dreifache »Einbeziehung des Anderen«
andere der rechtsstaatlich institutionalisierten Meinungs- und Willensbildung zugewandt. Organisatorisch gliedern sich die verschiedenen Handlungssysteme in konzentrische Kreise:
Graphik angeregt durch Reese-Schäfer (Jürgen Habermas, a. a. O., 111), jedoch modifiziert und ergänzt.
Das Zentrum umfasst das politische System, das ökonomische Handlungssystem sowie eine organisierte Öffentlichkeit mit Verbänden und Medien. Die Zivilgesellschaft stellt sich als äußerer und halb privater Bereich dar, welcher durch eine absteigende Organisation und Komplexität gekennzeichnet ist und direkt mit der Lebenswelt in Verbindung steht. Die kommunikative Macht der Zivilgesellschaft übt Druck aus auf die Rechtssetzung und hat damit letztlich an der Herrschaft teil. Natürlich setzt eine solche Verfassungsdemokratie dem Volkswillen auch Grenzen und antwortet auf diese Weise auf den Einwand des Liberalismus am republikanischen Modell: 86 Solidarität wird durch Vgl. hier den Einwand Lockes, man liefere sich hierdurch zu sehr der Willkür und dem Zufall der Massen aus.
86
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Jürgen Habermas: Kommunikative Vernunft
eine verfahrensgeleitete Volkssouveränität ersetzt und begünstigt damit eine möglichst rationale Willens- und Entscheidungsbildung. Als regulative Zielidee gilt die räsonierende Öffentlichkeit, welche die ganze Gesellschaft mit einschließt: d. h. eine diskutierende und mitunter kampagnenförmige, jedoch nicht direkt abstimmende Zivilgemeinschaft, welche den Prozess einer sich stets intersubjektiv regulierenden Rechtsetzung vorantreibt. Soziologisch gesehen geht es Habermas natürlich auch um die Qualität der öffentlichen Meinungsbildung bzw. um Möglichkeiten einer empirischen Messbarkeit. Hierbei kann er sich auf seine frühen Analysen der Argumentationstheorie beziehen (vgl. TkH), bei denen er u. a. zwischen verschiedenen Kommunikationsformen unterscheidet, da sich der gemeinsame Wille nicht nur auf dem Weg der »ethischen Selbstverständigung bildet, sondern auch durch Interessenausgleich und Kompromiss sowie durch zweckrationale Mittelwahl, moralische Begründung und rechtliche Kohärenzprüfung« auszeichnet (EdA 284). Angestrebt wird deshalb eine Verschränkung von instrumentellen und dialogischen Verfahrensweisen. 87 Auf politisch-gesellschaftlicher Ebene müssen kommunikative Privilegien abgebaut werden, um eine Verständlichkeit zentraler Belange zu erreichen. Das heißt, es muss eine allgemeinverständliche Sprache gefunden werden, welche garantiert, dass alle Belange an die Öffentlichkeit gelangen. 88 Eine aktive Teilnahme an der politischen Meinungsbildung verlangt jedoch die Kompetenz, die eigenen Belange zu äußern und zu verteidigen. »Resonanz finden öffentliche Diskurse nur im Maße ihrer Diffusion, also nur unter Bedingungen einer breiten und aktiven, zugleich zerstreuenden Partizipation. Diese wiederum erfordert den Hintergrund einer egalitären, von allen Bildungsprivilegien entblößten, auf ganzer Breite intellektuell gewordenen politischen Kultur« (FuG 630). Aus dieser Situation ergibt sich jedoch auch, dass die Bedeutung der Zivilgesellschaft nicht ins Zentrum rücken darf, da sonst verhärtete Traditionsbestände aus der Lebenswelt zu antidemokratischen Formen Ich werde im folgenden Kapitel, und im Zusammenhang mit der Diskurstheorie, die Bedingungen einer idealen Sprechsituation noch genau darstellen. An dieser Stelle weise ich lediglich auf die institutionell relevanten, äußerlichen Bedingungen hin. 88 Ich werde den Prozess und die Gewährleistung der Möglichkeit der Publizität im Verhältnis »Öffentlich und Privat« weiter unten genauer ausführen und belasse es an dieser Stelle bei der Begriffsbestimmung von deliberativer Demokratie und Zivilgesellschaft. 87
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Die dreifache »Einbeziehung des Anderen«
führen könnten. Die Zivilgesellschaft muss sich aus einer unversehrten und zerstreuten Halb-Privatsphäre einbringen dürfen. Reese-Schäfer sieht den Entwurf einer deliberativen Gesellschaft keineswegs als realutopischen Zukunftsentwurf, sondern vielmehr als einen normativen Maßstab der Gegenwart. 89 Es wird keine vollkommen neue Ordnung angestrebt, sondern versucht, in den bestehenden Verhältnissen die Einbeziehung des Anderen zu garantieren. In welchem Maße dieses Anliegen gelingt, wird im folgenden Abschnitt näher untersucht. c.
Strategien der Einbeziehung des Anderen
a. Bedeutung der Zukunft: das revolutionäre Bewusstsein M. Rainer Lepsius unterscheidet zwischen Ethnos und Demos als sozialintegrierende Momente in einem Staat. »Ethnos« bezeichnet eine auf vorpolitische Verwandtschaftsbeziehungen und gemeinsame Abstammung gegründete Gemeinschaft. Das Wir-Bewusstsein resultiert aus der imaginierten Blutsverwandtschaft und gemeinsamen Identität. »Demos« verweist dagegen auf eine staatlich verfasste sowie auf politische Unabhängigkeit drängende Nation. 90 Carl Schmitt und Hannah Arendt bilden in diesem Zusammenhang zwei völlig entgegengesetzte Pole: Für Carl Schmitt ist der »zentrale Begriff der Demokratie« das »Volk« und nicht die »Menschheit«. »Es gibt, wenn Demokratie überhaupt eine politische Form sein soll, nur eine Volks- und keine Menschheitsdemokratie«. 91 Denn die einzige Garantie für einen gemeinsamen Volkswillen bildet die Gleichartigkeit der Volksgenossen. Auch Hannah Arendt unterscheidet in diesem Kontext zwei grundverschiedene Möglichkeiten, wie die Identität von Bürgern begründet werden kann: Die erste Möglichkeit entspricht weitestgehend derjenigen von Carl Schmitt. Sie fungiert über die integrierende WirVgl. Reese-Schäfer, Jürgen Habermas, a. a. O., 100. Vgl. M. R. Lepsius, Ethnos und Demos, in: ders., Interessen, Ideen und Institutionen, Opladen 1990, 247–256; vgl. auch Habermas, EdA, 154 ff. 91 C. Schmitt 1983, 234, zitiert nach Habermas, EdA 162 f. Natürlich verwirft Schmitt damit von vorneherein jede Möglichkeit einer globalen Durchsetzung von Menschenrechten, weil für ihn die Gleichartigkeit der Volksgenossen die einzige Garantie für einen einheitlichen Volkswillen ausmacht. Habermas argumentiert entschieden gegen einen solchen Standpunkt (vgl. EdA 160–163). 89 90
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kung einer geteilten Vergangenheit, d. h. einer gemeinsamen Ethnie, Kultur oder Religion. Dabei hat die identitätsstiftende Vergangenheit eine stark integrierende Wirkung auf die gegenwärtige Gemeinschaft: Faktizität und Geltung sind im gemeinsamen Lebenswelthintergrund harmonisiert und durch autoritätsstiftende Institutionen stabilisiert. Die zweite Möglichkeit gemeinsamer Identität wird hingegen über gemeinsame Projekte bzw. politisches Handeln generiert. Identität stabilisiert sich dann vermittels einer gemeinsamen Zukunftsvision. 92 Aufgrund von Immigration, Mobilität, Kriegen etc. stehen Nationen heutzutage jedoch de facto vor dem Problem, dass sie sich nicht mehr auf eine einheitliche Abstammung, Religion oder Kultur als integrierende Größe berufen können. Das Aneinanderrücken von verschiedenen Lebensentwürfen und Weltbildern bringt das einstmals unhinterfragte moralische Bezugssystem, welches die Harmonisierung von Faktizität und Geltung sicherstellte, ins Schwanken und führt zu verschiedenen Abwehrreaktionen: »Die Annahme einer unverfügbaren kollektiven Identität nötigt zu repressiven Politiken, sei es die zwangsweise Assimilation fremder Elemente oder die Reinerhaltung des Volkes durch Apartheid und Säuberung […]« (EdA 169). In den häufigsten Fällen bestehen Staaten jedoch nicht aus solch klar abgegrenzten Ethnizitäten, sondern beherbergen vielmehr Subkulturen sowie verschiedene Sprach- und Religionsgemeinschaften, welche aus Kriegen oder ähnlichen Übergriffen hervorgegangen sind. Die meisten Staaten müssen sich also ohnehin mit der Problematik einer Pluralität von moralischen Wertesystemen auseinandersetzen. Die legitime Anerkennung eines Rechtssystems kann hier nur über das Einverständnis der Selbstgesetzgebung erreicht werden. Solche Rechte beziehen sich jedoch wiederum per definitionem nur auf ein bestimmtes Gebiet und eine bestimmte Zeit, d. h. auf die Gültigkeit einer im »Hier und Jetzt« konkreten und frei gewählten Gemeinschaft von Bürgern. An dieser Stelle setzt Arendts zweite Möglichkeit an, nämlich Solidarität weder über eine gemeinsame Herkunft noch über eine gemeinsame Religion zu erreichen, sondern vielmehr durch Antizipation einer gemeinsamen und gewünschten Vision: Nicht die gemeinsame Vergangenheit knüpft das Band der Solidarität, sondern der Entwurf einer gemeinsamen Zukunft. An ein solches Modell einer zukunftsorientierten Volkssouveränität schließt auch Habermas’ Modell der deli92
Vgl. H. Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 2002.
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Die dreifache »Einbeziehung des Anderen«
berativen Demokratie an: »Der Gedanke einer derart prozeduralisierten und zukunftsorientierten Volkssouveränität macht die Forderung, die politische Willensbildung an das inhaltliche Apriori eines vergangenen, vorpolitisch eingespielten Konsenses unter gleichgearteten Volksgenossen rückzukoppeln, sinnlos« (EdA 164). Eine vorgelagerte kulturelle Homogenität wird obsolet, insofern die demokratisch strukturierte Meinungs- und Willensbildung ein normatives Einverständnis auch unter Fremden ermöglicht. Arendt verankert die Potentialität der Zukünftigkeit in der human condition der Natalität: »Weil jeder Mensch auf Grund des Geborenseins ein initium, ein Anfang und Neuankömmling in der Welt ist, können Menschen Initiative ergreifen, Anfänger werden und Neues in Bewegung setzen.« 93 Auch während unseres Lebens haben wir in jedem Augenblick die Möglichkeit uns umzuwenden. 94 Natürlich steckt dahinter die Beobachtung, dass Kinder durch die relative Unvoreingenommenheit Traditionen und Lebensformen in Frage stellen oder umdeuten. 95 Eine solche, einst den Kindern vorbehaltene »Revolution« der Lebenswelt ist aufgrund der Pluralität von Einstellungen, Gewohnheiten und Überzeugungen alltäglich geworden und hat zu einer grundsätzlich hypothetischen Einstellung gegenüber bestehenden Institutionen und Lebensgewohnheiten geführt. Oder wie Habermas formuliert: »Die Revolution ist selbst zur Tradition geworden« (FuG 606). Mit dieser Äußerung spielt Habermas natürlich einerseits auf die reale Geschichte Europas an, welche im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts eine Kette von Revolutionen vorweist. Andererseits verweist er hiermit auf das Auseinandertreten von Faktizität und Geltung vor dem Hintergrund eines Reflexivwerdens der Lebenswelt. Er folgert, dass aus dieser Kette von inneren und äußeren Revolutionen ein »revolutionäres Bewusstsein« hervorgegangen ist, welches die andauernde H. Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, a. a. O., 215. Arendt bezieht sich hier u. a. auf Augustinus: »[Initium] ergo ut esset, creatus est homo, ante quem nullus fuit.« Augustinus, De Civitate Dei XII, 20. 94 Dies entspricht zu einem Teil der jüdischen Idee des Teschuwa (innere Umkehr). 95 Dieser bekannte Gedanke in Arendts »Vita Activa« umfasst natürlich noch mehr Deutungen. Er deutet z. B. auf die archetypische Bedeutung des Kindes als »Unschuld« oder Symbol der »Unbeflecktheit« in fast allen Kulturen (vgl. D. Kennedy, Changing Conceptions of the Child from the Renaissance to Post-Modernity: A Philosophy of Childhood, Lewiston 2006). 93
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Jürgen Habermas: Kommunikative Vernunft
Aufgabe der Selbstgesetzgebung angenommen hat. Das bedeutet, dass die Möglichkeit des Neuanfangs, welche bei Arendt noch von Geburt zu Geburt weitergegeben wurde, für das revolutionäre Bewusstsein in jedem Augenblick gegeben ist: Denn die hypothetische Einstellung gegenüber bestehenden Institutionen und Lebensformen ist zur Normalität geworden. Das heißt jedoch nicht, dass die Geschichte oder die Vergangenheit unbeachtet bliebe, vielmehr findet man auch hier die Metapher des Janusgesichts: »Jede historische Verfassung hat einen doppelten Zeitbezug: als geschichtliches Dokument erinnert sie an den Akt der Gründung, den sie interpretiert – sie markiert einen Anfang in der Zeit; zugleich besagt ihr narrativer Charakter, dass sich die Aufgabe der Interpretation und Ausgestaltung des Systems der Rechte für jede Generation von neuem stellt – als Projekt einer gerechten Gesellschaft artikuliert eine Verfassung den Erwartungshorizont einer je gegenwärtigen Zukunft. Dadurch stellt sich eine solche Verfassung die Aufgabe, dass sie auf der reflexiven Ebene die Sozialintegration fortsetzt, welche andere Handlungssysteme nicht mehr hinreichend leisten können« (FuG 465). Hierbei stellen die Begriffe der Autonomie und Selbstverwirklichung Schlüsselbegriffe für eine politische Praxis dar, welche ihren Zweck in der steten Annäherung an ein menschenwürdiges Leben sieht (vgl. auch FuG 607). 96 Das radikal-demokratische Projekt einer deliberativen Demokratie kann nicht als eine Republik von »glücklichen Erben« einer gegebenen Vergangenheit gesehen werden, sondern ist vielmehr ein zukunftskonstituierendes Projekt, welches durch die stetige Infragestellung des Gegebenen von innen heraus angetrieben wird (vgl. FuG 609). Der Arendt’sche Begriff der kommunikativen Macht fungiert dabei als eben jener Sensor, welcher die stete Anpassung an aktuelle Bedürfnisse und Wünsche sicherstellt. Auf nationalstaatlicher Ebene schließt ein Modell, welches lediglich auf die Vergangenheit als identitätsstiftendes Moment baut, Fremde von vorneherein aus, weil die »Unzugehörigkeit« nicht rückgängig zu machen ist. Dagegen bleibt eine deliberative Demokratie im Sinne Habermas’ für Andere offen, weil es den Anderen an der Konstituierung des Rechtssystems nachträglich aktiv teilhaben lässt. Darüber Was dabei als »menschenwürdig« gilt, beruht weder auf Metaphysik noch auf Naturrecht, sondern ausschließlich auf dem Fundament der Vernunft.
96
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hinaus bringt die aktive Auseinandersetzung mit den pluralen Ansprüchen die Identität der Staatsbürger erst hervor. Die Selbstgesetzgebung ist als einschließendes Moment gedacht, nämlich als gleichmäßige Einbeziehung aller Bürger. »Inklusion heißt, dass sich eine solche politische Ordnung offenhält für die Gleichstellung der Diskriminierten und die Einbeziehung der Marginalisierten, ohne diese in die Uniformität einer gleichgearteten Volksgemeinschaft einzuschließen.« (EdA 166) Einbeziehen bedeutet deshalb, weder den Anderen an das Eigene zu assimilieren und damit »einzuschließen« noch ihn von vorneherein »auszuschließen«. Es bedeutet vielmehr, den Fremden am Prozess der Rechtssetzung gleichberechtigt teilhaben zu lassen. Weil ein solches an der Zukunft orientiertes Rechtssystem ein unabgeschlossenes und im Prinzip auch unabschließbares Projekt darstellt, bleibt es auch für unvorhergesehene Perspektiven offen. An dieser Stelle wird deutlich, dass es sich bei Habermas’ deliberativem Demokratiemodell nicht nur um eine Antwort auf das inzwischen global gewordene Problem einer pluralistischen Zusammensetzung von Nationalstaaten handelt, sondern gleichermaßen um das Bemühen, eine internationale Verständigung zwischen Fremden zu ermöglichen, d. i. Fremde, die auch Fremde bleiben wollen. Ein so verstandener Universalismus ist deshalb ein für Differenzen hochempfindliches, weil flexibles System. Zwar zeichnet dieser Universalismus sich durch eine gemeinsame »Vision« aus, aber diese »Vision« ist keine fixe oder totalitäre Idee, sondern vielmehr die Annäherung an Etwas, das per definitionem nie ganz zu erreichen ist. »Dem revolutionären Bewusstsein ist die Melancholie eingeschrieben – die Trauer über das Scheitern eines gleichwohl unaufgebbaren Projektes« (FuG 609). Die Sicherung von Offenheit und Flexibilität sind daher die einzig »feststehenden« Merkmale der deliberativen Demokratie. b. Die Idee der »Verflüssigung«: Volkssouveränität und Dialog In der Einbeziehung des Anderen fragt Habermas ganz zu Beginn, welche Konsequenzen sich aus dem universalistischen Gehalt republikanischer Grundsätze für pluralistische Gesellschaften ergeben, d. h. für Gesellschaften, in welchen sich multikulturelle Gegensätze verschärfen, für Nationalstaaten, die sich zu supranationalen Einheiten zusammenschließen, und für die Bürger einer Weltgesellschaft, die hinter ihrem Rücken zu einer unfreiwilligen Risikogemeinschaft vereinigt worden sind (vgl. EdA 7). Und es scheint fast, dass sich der von Rous69 https://doi.org/10.5771/9783495860601 .
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seau herbeigesehnte Gemeinwille angesichts dessen nur mehr um den Preis der Unterdrückung der Heteronomie der Einzelwillen erreichen lässt. 97 Der vorhergehende Abschnitt stellt dar, wie durch das Merkmal der Zukünftigkeit einer Gemeinschaft die »Einbeziehung des Anderen« zu jeder Zeit ermöglicht wird und den identitätsstiftenden Prozess der Selbstgesetzgebung beeinflusst. Der folgende Abschnitt beschäftigt sich mit der daran anschließenden Frage, wie die verschiedenen Ansprüche solcher pluralistischer Gesellschaften auch während des kontinuierlichen Prozesses einer autonomen Rechtssetzung hör- und sichtbar bleiben. Hierbei rückt der Begriff der »Verflüssigung« ins Zentrum des Geschehens. Um die Idee der »Verflüssigung« in Habermas’ diskurstheoretischer Rechtstheorie deutlich zu machen, möchte ich kurz an Jean-François Lyotards sprachphilosophische Analyse des Verhältnisses zwischen Gerechtigkeit und Pluralität in seinem Buch »Postmodernes Wissen« erinnern. Lyotard wirft darin der konsensorientierten Diskursethik vor, dass Konsens immer nur das Prinzip bestimmter Sprachspiele sei, nie jedoch alle integrieren könne. 98 Daraus schließt Lyotard, dass verschiedenartige Diskurse inkompatibel sind: Jede Entscheidung oder Erlangung eines Konsenses geht mit der Unterdrückung aller anderen Diskurse oder Bedürfnisse einher. Die Diskurstheorie könne sich daher keinesfalls zur Rolle eines »Metadiskurses« oder »Metaprinzips« aufschwingen. 99 Für Lyotard ergibt sich daraus, dass der Wunsch nach Gerechtigkeit immer auch den Wunsch nach dem Unbekannten beinhalten müsse. 100 Diese knappe Darstellung Lyotards 101 Kritik macht auf Vgl. zu dieser Thematik FuG 611. F. Lyotard, Postmodernes Wissen, Wien 2006, 188 ff. (org. 106 ff.). 99 Im Kollisionsfall solcher unterschiedlicher Diskurse ist freilich von Teubner die Diskurstheorie als ein Metadiskurs hingestellt worden, um zwischen Diskursen zu vermitteln. Habermas selbst lehnt diese Sichtweise jedoch ab. Die Diskurstheorie will zwischen den verschiedenen Diskursarten nicht die Rolle eines »Superdiskurses« oder »Metadiskurses« annehmen (vgl. EdA 370 u. 376). Die Philosophie selbst ist nicht mehr als eben ein Diskurs unter vielen. 100 Vgl. F. Lyotard, Postmodernes Wissen, a. a. O., 190 (org. 108). 101 Folgende Rahmenbedingungen Lyotards machen seinen Einwand deutlich: Lyotard entfaltet eine subtile Form von Ungerechtigkeit im Kontext des Gebrauchs von Sprache. Für Lyotard ist es unmöglich zu sprechen, ohne dabei ein Unrecht zu begehen, denn indem wir auf eine Frage antworten, entscheiden wir uns für eine Möglichkeit und damit gleichzeitig gegen alle anderen. Auf die Frage, was der Mensch sei, können wir 97 98
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Die dreifache »Einbeziehung des Anderen«
einen wichtigen Punkt aufmerksam: dass nämlich die Unterdrückung von Andersheit jedem Augenblick des Sprechens und Entscheidens eingekerbt ist. Wenn Habermas beansprucht, mit seinem deliberativen Modell eine Einbeziehung des Anderen zu erreichen, dann dürfen die institutionalisierten Kommunikationsbedingungen keinen Konsens als abgeschlossen betrachten. Inwiefern Habermas diese Prämisse mit Hilfe der Idee der »Verflüssigung« erreicht und was damit genau gemeint ist, soll im Folgenden dargestellt werden: Der Begriff der »Verflüssigung« taucht bereits in der Theorie des kommunikativen Handelns auf und wird zumeist im Kontext der Reflexivwerdung von präreflexiven Strukturen verwendet, d. h. der Versprachlichung von bisher unhinterfragten Aspekten der Lebenswelt. Erst die Verflüssigung von Traditionen macht eine kommunikative Aufarbeitung der reflexiv gewordenen Lebenswelt möglich und führt zu einer erneuten Integration verschiedener Perspektiven von Wirklichkeit. 102 Habermas macht vornehmlich die Säkularisierung für eine solche Verflüssigung verantwortlich. Und das vermehrte Aufeinandertreffen pluraler Lebensentwürfe durch Migration, Medien und internationale Beziehungen führt zu einer Verschärfung der Situation.
mit soziologischer Statistik, philosophischer Spekulation etc. antworten. Jedoch geht die Wahl unserer Antwort immer auf Kosten aller anderen. Daraus schließt Lyotard, dass die Ungerechtigkeit aus dem Konflikt verschiedener gleichwertiger Möglichkeiten entsteht. Dialog geschieht in der Zeit. Kommt der Dialog zu einem Ende und Entschluss, so kann nur eine der Möglichkeiten gewählt werden, auch wenn es sich dabei um einen Kompromiss handelt, so ist es immer ein Kompromiss entgegen allen anderen Möglichkeiten von Kompromissen. Ein solcher Konflikt wird besonders drängend, wenn eine Metaregel (z. B. in Form eines Gottes, Königs, Jüngsten Gerichts u. a.) die Entscheidung nicht mehr abnimmt. Dies beschreibt die reale globale Situation der Absenz einer übergreifenden Moral oder eines metaphysischen Bekenntnisses. Weiterhin geht Lyotard von einer semantischen Geschlossenheit von verschiedenen Diskursen aus. Im Aufeinanderprallen solcher unterschiedlicher Diskurse entsteht nicht nur Schaden, sondern Unrecht, weil die Ansprüche nur der einen Gruppe, nicht aber der anderen formulierbar sind. Ein Beispiel wäre der Widerstreit zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern. Dabei findet der Umstand kein Gehör, dass Arbeitskraft eben keine Ware ist. Denn die Annahme, dass Arbeitskraft eine Ware ist, zählt zu den konstitutiven Annahmen des ökonomischen Diskurses. Stehen sich nun zwei heteronome Rechtsansprüche gegenüber, so handelt es sich dabei nicht um einen Rechtsstreit, sondern um einen Widerstreit. Das heißt, die Beeinträchtigung hat nicht nur die Bedeutung eines Schadens, sondern eines Unrechts. 102 Natürlich ähnelt dieser Prozess der Horizontverschmelzung in Gadamers philosophischer Hermeneutik.
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Auch in Habermas’ politischer Theorie wird der Begriff der Verflüssigung im Kontext einer solchen Reflexivwerdung der Lebenswelt verwendet. Das »revolutionäre Bewusstsein« inkorporiert den Zustand der Verflüssigung und hält sich im Zustand einer hypothetischen Einstellung gegenüber traditionellen Institutionen und Lebensentwürfen. »Die horizontalen Kontakte auf der Ebene einfacher Interaktionen sollen sich zu einer intersubjektiven Beratungs- und Entscheidungspraxis verdichten, die stark genug ist, um alle anderen Institutionen im flüssigen Aggregatzustand der Gründungsphase festzuhalten und gleichsam vor dem Gerinnen zu bewahren« (FuG 619). Die Metapher bewegt sich natürlich auf der Ebene der Aggregatszustände und verweist auf das Ziel, das Rechtssystem im Zustand der Beweglichkeit und Flexibilität zu halten, um sich auf diese Weise den je neuen Bedürfnissen optimal anzugleichen. Es ist also weder starr, d. h. verschlossen gegenüber neuen Sichtweisen, noch gasförmig, d. h. wirkungslos, unsichtbar oder unbeständig. Natürlich ist in der Metapher der Verflüssigung auch der Aspekt der Zukünftigkeit enthalten. Ein starres System basiert auf den Gegebenheiten des Vergangenen, wohingegen ein flexibles System seine Energie aus der Freiheit der Zukunft speist. Grundbedingung der Verflüssigung des Rechtsystems ist die Institutionalisierung von Kommunikationsbedingungen (FuG 614). Bei Julius Fröbel, auf welchen Habermas sich mit dieser Idee bezieht, hat der öffentliche Diskurs die Aufgabe, zwischen Vernunft und Willen zu vermitteln. 103 Denn ein Gesetz gibt es nur für denjenigen, der es gemacht oder ihm beigestimmt hat. Für jeden Anderen ist es lediglich ein Befehl oder Gebot. 104 Eine solche hypothetische Einstellung gegenüber dem aktuellen Rechtssystem verweist nun wiederum auf das »revolutionäre Bewusstsein«. Das heißt, dass die legale und permanente Revolution zum Dauerzustand geworden ist und ein Einspruch zu jedem Zeitpunkt möglich ist. Und selbst wenn dem Anspruch einer Minorität nicht stattgegeben wird, so bedeutet das nicht zugleich, dass die Mei103 Diese Idee geht originär auf Fröbel (vgl. Habermas, FuG 613 ff.) zurück, welcher eine solche Institutionalisierung als Erweiterung des Rousseau’schen Modells sieht. Es ist jedoch einzuwenden, dass ein öffentlicher Diskurs bei Rousseau nicht vorgesehen war. Denn in öffentlichen Diskursen wäre der Bürger jener Manipulation ausgesetzt, vor welcher Rousseau gewarnt hat. 104 Vgl. J. Fröbel, System der sozialen Politik, Mannheim 1847, zitiert nach: Habermas, FuG 613.
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nung der Minorität irrig ist, sondern vielmehr, dass die Gruppe so lange auf die praktische Anwendung verzichten muss, bis es ihr gelingt, bessere Gründe zu finden; d. h. Gründe, welche auch für andere Staatsbürger einsichtig sind (vgl. FuG 614). Alle Beteiligten sind deshalb den gegenseitigen Lernprozessen der Perspektivenübernahme ausgesetzt (vgl. NuR). 105 Als Beispiel führt Habermas die Arbeiterbewegung oder den Feminismus an: Selbst die universalistischen Diskurse der bürgerlichen Öffentlichkeit des 19. und 20. Jahrhunderts konnten sich nicht gegen die Kritik der Minoritäten verschließen, also Strukturen, die sie zunächst als »das Andere« einer bürgerlichen Öffentlichkeit konstituiert hatten (vgl. FuG 452 f.). Natürlich war dies das Ergebnis eines zähen und langen Kampfes. In jedem Fall hält Habermas die Rechte uneingeschränkter Einbeziehung und Gleichheit als ausreichend, um Ausschlussmechanismen zu verhindern und ein »Potential der Selbsttransformation« zu begründen (vgl. FuG 452). Dabei bilden die Kommunikationsstrukturen der Öffentlichkeit ein weitgespanntes Netz von Sensoren, welche auf die gesamtgesellschaftliche Problemlage reagieren und einflussreiche Meinungen stimulieren (vgl. FuG 364). »Die administrativ verfügbare Macht verändert ihren Aggregatzustand, solange sie mit einer demokratischen Meinungs- und Willensbildung rückgekoppelt bleibt, weil die Ausübung politischer Macht nicht nur nachträglich kontrolliert, sondern mehr oder weniger auch programmiert.« (FuG 364). Die Stärke von Habermas deliberativer Demokratie besteht weniger in einer Analyse der Ergebnisse, sondern vielmehr in der Bereitstellung eines Verfahrens der Willensbildung. Die Idee der Verflüssigung gewährleistet auf dieser Ebene eine stufenweise Einbeziehung des Anderen, indem das Rechtssystem für Widersprüche, Ergänzungen und Veränderungen offen bleibt. Zwischenzeitliche Kompromisse gelten nur so lange, bis ein besseres und bisher ungehörtes Argument zur Geltung kommt. Andererseits stellt die Kanalisierung der Macht über verschiedene Institutionen sicher, dass z. B. radikale Hetzbewegungen aufgefangen werden können. Sicherlich gibt es an dieser Stelle keine eindeutige Antwort auf die Frage, inwiefern die kommunikative Macht über die Institutionalisierung von Kommunikationsbedingungen und Transformation in administrativer Macht abgebremst wird bzw. wer105 Vgl. hierzu auch zur Rolle der Staatsbürger in säkularen Gesellschaften in NuR 119– 155.
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Jürgen Habermas: Kommunikative Vernunft
den muss. Offen bleibt auch die Frage, inwiefern nur bestimmte Formen von Dialogen gehört werden, andere jedoch durch die institutionelle Regelung von Kommunikationen unterdrückt bleiben. Und obgleich Habermas der Idee eines Metadiskurses widerspricht, bleibt es fraglich, ob nicht die Diskurstheorie eben durch eine solche Institutionalisierung automatisch die Funktion eines Metaprinzips erhält. Vielleicht besteht der wesentliche Unterschied zwischen Habermas und Lyotard jedoch in deren Grad des Pessimismus. Bei Habermas zeigt sich ein pessimistischer Zug im melancholischen Wesen des revolutionären Bewusstseins, welches trotz der Unerreichbarkeit dennoch am Projekt der Gerechtigkeit festhält. Lyotard dagegen hat die Illusion bereits aufgegeben und schließt: »das Gute ist eben nicht zu erreichen, sondern nur das weniger Schlechte.« 106 g.
Publizität: Öffentlichkeit, Zivilgesellschaft und kommunikative Macht Das Modell einer deliberativen Demokratie breitet sich in Form von konzentrischen Belagerungsringen um das Zentrum eines politischen Systems aus. Die Öffentlichkeit stellt dabei das vermittelnde Element zwischen halb-privatisierter Zivilgesellschaft und administrativ-politischem System dar. Über das Medium der Öffentlichkeit wird kommunikative Macht in administrative Macht transformiert. Dabei übernimmt sie eine Doppelfunktion: Auf der einen Seite hält sie die Gesellschaft durch Weiterleitung und Verstärkung der kommunikativen Macht im Modus der »Verflüssigung«; auf der anderen Seite kanalisiert und bremst sie die administrative Macht. »Der Kommunikationsfluss zwischen öffentlicher Meinungsbildung, institutionalisierter Wahlentscheidungen und legislativen Beschlüssen soll gewährleisten, dass der publizistisch erzeugte Einfluss und die kommunikativ erzeugte Macht über die Gesetzgebung in administrativ verwendbare Macht umgeformt werden.« (FuG 362 f.) Insofern ist das Modell einer deliberativen Demokratie als ein System sich gegenseitig regulierender Funktionen zu verstehen. 107 In Faktizität und Geltung greift Habermas, ca. 30 Jahre nach dem Erscheinen von Strukturwandel der Öffentlichkeit, die Thematik des F. Lyotard, Der Widerstreit, München 1989. Dabei kommt den Medien als vermittelnde Institution eine solche Macht zu, dass sie nicht nur von Habermas als »vierte Macht« bezeichnet wird (vgl. u. a. FuG 455). 106 107
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Verhältnisses zwischen Öffentlichkeit und Demokratie erneut auf. Öffentliche Meinungsbildung und administrative Entscheidung werden nun als gleichrangig gesehen. Dahinter steckt sein Ideal einer großflächig räsonierenden Öffentlichkeit: Dieses »public reasoning« 108 umfasst sowohl moralische (die Gerechtigkeit betreffende) als auch ethische Diskurse (das gute Leben betreffend). Im Sinne eines Netzwerks für die kommunikative Vermittlung von Inhalten und Stellungsnahmen ist die Öffentlichkeit damit der Ort des Vernunftgebrauchs. Denn was in modernen Gesellschaften als richtig gilt, hängt nicht mehr von einem prädestinierten Subjekt ab, sondern ist das Resultat eines intersubjektiven Prozesses der Verständigung in praktischen Diskursen. Die Öffentlichkeit kann als eine Art höherstufige Intersubjektivität gedeutet werden, in welcher die Subjekte in kooperativer Weise an der allgemeinen Meinungs- und Willensbildung teilnehmen. Auf solche Weise bilden sie ein gesamtgesellschaftliches Bewusstsein. Dennoch bleibt die Frage, wie die Öffentlichkeit die Einbeziehung des Anderen garantiert und welche Funktion sie dadurch im Modell der deliberativen Demokratie übernimmt. Durch die Publizität von Meinungsbildungsprozessen fungiert die Gesamtgemeinschaft als Korrektiv und relativiert Extreme. Der öffentliche Raum ist daher nicht »ausschließend«, sondern »einschließend«, d. h. offen für weitere Einwände und Argumente. Im Sinne einer Peirce’schen »indefinite community« bezieht sie hiermit auch zukünftige Einwände mit ein – ein Punkt, der im nächsten Kapitel näher besprochen wird. Als Gegengewicht zur integrierenden Kraft der Öffentlichkeit steht die Kanalisierung und Bündelung von Interessengruppen innerhalb der vorgelagerten Zivilgesellschaft. Dadurch soll einer Überschwemmung der Öffentlichkeit vorgebeugt werden. »Den Kern der Zivilgesellschaft bildet ein Assoziationswesen, das problemlösende Diskurse zu Fragen allgemeinen Interesses im Rahmen veranstalteter Öffentlichkeiten institutionalisiert.« (FuG 443 f.). Denn die Vervielfältigung und Belagerung von Einzelinteressen kann genauso zum Verschwinden oder der Ausgrenzung des Fremden führen wie die gänzliche Unterdrückung von Information. 109 108 Vgl. J. Cohen, Deliberation and Democratic Legitimacy, in: A. Hamlin, P. Pettit (Hg.), The Good Polity, Oxford 1989, 17 ff., zit. nach Habermas, FuG 369. 109 Zur Problematik der Überschwemmung mit Daten in einer Informationsgesellschaft
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Ferner bringt die Prozesshaftigkeit und Vorläufigkeit immer wieder neue Aspekte ans Licht und ermöglicht dadurch erst das Funktionieren einer pluralistischen Gemeinschaft. Dazu bedarf es einerseits einer ständigen Erweiterung der realen Kommunikationsgemeinschaft und andererseits möglichst ideale Sprechbedingungen, 110 um trotz komplexer Strukturen dialogfähig zu bleiben. Erst eine demokratische, kritikfähige und begründungspflichtige Öffentlichkeit kann eine gesellschaftliche Vernunft hervorbringen. Der Diskurs über den rechten Ort der Meinungs- und Öffentlichkeitsbildung ist natürlich nicht neu: So bevorzugte Rousseau die Entscheidung im »Dunkeln«, um jede Möglichkeit der Manipulation oder auch Verfälschung des Gemeinwillens auszuschließen. Arendt befürwortet dagegen klar den öffentlichen Diskurs. Licht und Dunkel symbolisieren hier die Extreme von Öffentlichkeit/sozialer Wirklichkeit einerseits und Privatheit/Verborgenheit andererseits. 111 Habermas lehnt sich mit der Idee der Publizität an Kant an, 112 bei dem die Idee der Publizität das Scharnier für die Unterscheidung zwischen einer moralischen Politik einerseits und einer Interessen- bzw. Machtpolitik andererseits darstellt. »Darum gilt Kants Publizität als dasjenige Prinzip, das allein die Einhelligkeit der Politik mit der Moral verbürgen kann.« (FuG 128) Selbstverständlich geht es hierbei nicht um die Macht der Mehrheit, sondern vielmehr darum, auf welche Weise es zu einer solchen Mehrheit kommt. 113 »Erst das Prinzip der Gewährleisvgl. E. Esposito, Soziales Vergessen. Formen und Medien des Gedächtnisses der Gesellschaft, Frankfurt am Main 2002. 110 D. h. die rechtliche Institutionalisierung eines Neutralitätsprinzips bei gleichzeitiger öffentlicher gesellschaftlicher Selbstreflexion und Verständigung; siehe hierzu das Kapitel über das Diskursprinzip weiter unten. 111 Vgl. zu dieser Gegenüberstellung von Licht und Dunkel bei Rousseau und Arendt: K. Herb, Licht und Schatten. Zum Republikideal bei Jean-Jacques Rousseau und Hannah Arendt, in: Politisches Denken. Jahrbuch 2001, hg. von K. Graf Ballestrem, V. Gerhardt, H. Ottmann, M. P. Thompson, Berlin 2001, 59–68. 112 »Alle auf das Recht anderer Menschen bezogene Handlungen, deren Maxime sich nicht mit der Publizität verträgt, sind unrechte« (I. Kant, Zum ewigen Frieden, a. a. O., A93). 113 Vgl. dazu J. Dewey: »The means by which a majority comes to be a majority is the more important thing: antecedent debates, modification of views to meet the opinions of minorities […] the essential need, in other words, is the improvement of the methods and conditions of debate, discussion and persuasion.« J. Dewey, The Public and its Problems, Chicago 1954, 207 f. Habermas bezieht sich natürlich mit seiner Theorie der Öffentlichkeit auf jenes Standardwerk von Dewey (vgl. u. a. FuG 211).
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tung autonomer Öffentlichkeiten und der Grundsatz der Parteienkonkurrenz erschöpfen, zusammen mit dem parlamentarischen Prinzip, den Gehalt des Prinzips der Volkssouveränität.« (FuG 211) Bezüglich des Stellenwerts einer öffentlichen Deliberation für den Meinung- und Willensbildungsprozess wählt Habermas nun eine Art moderaten Mittelweg zwischen Rousseau und Arendt, zwischen öffentlichem und privatem Raum, Licht und Dunkel. In der Graphik zur Zivilgesellschaft weiter oben wird sichtbar, dass die Kommunikationskanäle der Öffentlichkeit einerseits direkt an die privaten Lebensbereiche angeschlossen sind, jedoch andererseits einen getrennten Bereich dargestellen, so dass »die Raumstrukturen einfacher Interaktionen erweitert und abstrahiert, aber nicht zerstört werden. Damit bleibt die in der Alltagspraxis vorherrschende Verständigungsorientierung auch für eine Kommunikation unter Fremden erhalten, die in komplex verzweigten Öffentlichkeiten über weite Distanzen geführt wird. Die Schwelle zwischen Privatsphäre und Öffentlichkeit ist nicht durch einen feststehenden Satz von Themen oder Beziehungen markiert, sondern durch veränderte Kommunikationsbedingungen. Diese variieren gewiss die Zugänglichkeit, sichern die Intimität der einen, die Publizität der anderen Seite, aber sie riegeln die private Sphäre nicht gegen die Öffentlichkeit ab, sondern kanalisieren nur den Fluss von Themen aus der einen Sphäre in die andere. Denn die Öffentlichkeit bezieht ihre Impulse aus der privaten Verarbeitung lebensgeschichtlich räsonierender gesellschaftlicher Problemlagen« (FuG 442 f.). Anders als Arendt anerkennt Habermas sehr wohl die Bedeutung der privaten »Vorverarbeitung« von Belangen. 114 In seinen Augen wird hierdurch eine erste Kanalisation und Relativierung von Belangen erreicht. Durch die Organisation und Verstärkung durch den Zusammenschluss von Interessengemeinschaften innerhalb der Zivilgesellschaft wird eine weitere Prüfung vorgenommen. Schließlich gelangen diese so »vorverarbeiteten« Belange vermittels der Medien an eine Öffentlichkeit. »[…] denn nicht die harten verfassungsrechtlich kartierten Institutionen des Staates, sondern die Souveränität der öffentlichen Deliberation kann für eine hinreichende Offenheit sorgen.« 115 Durch eine solche stufenweise Vermittlung und Deliberation 114 Vgl. H. Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, a. a. O.: Hier kritisiert sie, dass die Meinungsbildung ganz in den privaten Bereich »abgeschoben« wird. 115 Vgl. W. Reese-Schäfer, Jürgen Habermas, a. a. O., 92.
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auf verschiedenen Ebenen soll einerseits eine Rationalisierung von Ansprüchen erreicht und andererseits eine hinreichende Offenheit für alle Gruppen sichergestellt werden. Natürlich unterliegt eine solche Deutung der Öffentlichkeit im Hinblick auf eine Einbeziehung des Anderen unterschiedlichen Problemen. Zunächst besteht die Möglichkeit einer Manipulation oder auch Vorherrschaft der Intellektuellen. »Ein solches kulturalistisches Verständnis der Verfassungsdynamik scheint zu suggerieren, dass sich die Souveränität des Volkes in die kulturelle Dynamik meinungsbildender Avantgarden verlagern soll.« (FuG 629) Diesem Einwand steht jedoch entgegen, dass die kommunikative Macht keinen direkten Einfluss ausübt, sondern nur durch die Resonanz der öffentlichen Diskurse durch eine breite und aktive Gemeinschaft Druck auf die administrative Macht ausüben kann. Dennoch gesteht Habermas ein, dass ein solches Modell auf eine von Bildungsprivilegien entblößte und intellektuell gewordene politische Gesamtkultur einerseits sowie die Transformation politischer Gegebenheiten in eine allgemeinverständliche Sprache andererseits angewiesen ist (vgl. FuG 630). Zunächst soll jedoch der Gebrauch der natürlichen Sprache für eine Teilnahme ausreichen (FuG 436). Natürlich verweist dieser Einwand bereits auf das nächste Problem: denn die Kommunikationsstrukturen der Öffentlichkeit müssen von einer vitalen Bürgergesellschaft intakt gehalten werden. Alle Bevölkerungsschichten müssen mit solchen Fähigkeiten ausgestattet werden, welche sie zu einer Teilnahme an öffentlichen Diskursen befähigen. Wenn Habermas die Einbeziehung des Anderen für sein Modell der deliberativen Demokratie beansprucht, so darf eine solche Einbeziehung nicht über mehrere Generationen »verschleppt« werden. Die Bürger müssen die Fähigkeit erwerben, diese Kommunikationsbedingungen zu nutzen. Dies kann jedoch allein durch eine frühe Kultivierung und Normalisierung der Partizipation erreicht werden – auch und vor allem bei Kindern und Jugendlichen (vgl. FuG 447). 116 Ein weiteres Problem ist die Entkörperlichung des öffentlichen Raumes. Habermas selbst sieht: »Je mehr sie sich von dessen physischer Präsenz lösen und auf die medienvermittelte virtuelle Gegenwart von verstreuten Lesern, Zuhörern oder Zuschauern ausdehnen, desto 116 Ich habe diesen Punkt in meinem Buch ›Philosophieren mit Kindern zum Thema Menschenrechte‹ (Verlag Karl Alber 2013) aufgegriffen und praktisch ausgearbeitet.
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deutlicher wird die Abstraktion, die mit der Öffentlichkeitsgeneralisierung der Raumstruktur einfacher Interaktionen einhergeht« (FuG 437). Eine solche Abstraktion wird sich auf das Interesse am Anderen und das Gefühl einer political efficacy aus. Schlussendlich bleiben nämlich sämtliche Vorkehrungen zur Einbeziehung des Anderen wirkungslos, wenn es nicht gelingt, in einer breiten Öffentlichkeit ein genuines Interesse am Anderen zu mobilisieren.
1.3.2 Diskurstheorie Bereits 1972 entwickelt Habermas in seinem Aufsatz »Wahrheitstheorien« die Grundzüge seiner Diskurstheorie. In den darauffolgenden Jahren wird sie in mehreren Arbeitsschritten und in Auseinandersetzung mit der vielfältigen Kritik modifiziert und weiterentwickelt. Sie gilt als Schlüssel zu seinem Gesamtwerk. Obgleich Habermas in seinem jüngeren Buch Wahrheit und Rechtfertigung eine Korrektur seiner Diskurstheorie vornimmt, sollen die Grundzüge zunächst ohne diese spätere Eingrenzung dargestellt werden. Erst zum Ende des Kapitels werden schließlich Habermas’ eigene Einwänden gegen eine Konsenstheorie der Wahrheit angesprochen werden. a.
Konfliktlinien
Die Diskurstheorie im Sinne einer Konsenstheorie der Wahrheit gehört zu einer der wichtigsten Antworten unseres Jahrhunderts auf den zunehmend problematisch gewordenen Begriff der Wahrheit. 117 Für lange Zeit galt Wahrheit, im Sinne der Korrespondenztheorie, als Erkennen und Abbilden von Weltinhalten. Jedoch hat Nietzsches Abwertung der Wahrheit zur »konventionellen Lüge« die Diskussion um diesen Begriff bis heute »angeheizt«. 118 Seither lassen sich verschiedene weitere Ansätze unterscheiden:119 Die Evidenztheorie geht aus der Phänomenologie hervor. Sie wurde von Heidegger durch die Aspekte Vgl. W. Reese-Schäfer, Jürgen Habermas, a. a. O., 22 f. Vgl. F. Nietzsche, Sämtliche Werke, Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Bd. 1, München 1980, 873–890. 119 Für die folgende Darstellung beziehe ich mich auf: L. B. Puntel, Wahrheitstheorien in der neueren Philosophie, Darmstadt 1983, ders.: Grundlagen einer Theorie der Wahrheit, Berlin, New York 1990. Außerdem nehme ich auf Reese-Schäfer Bezug, behalte 117 118
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der Unverborgenheit und der Erschlossenheit des Daseins erweitert. 120 Die Redundanz-Theorie von Ramsey 121 und Ayer 122 bestreitet dagegen, dass Wahrheit über die Bedeutung der Aussage eines Satzes hinausgehe. Ausdrücke wie »wahr« und »falsch« sind daher redundant und dienen allenfalls als Bejahung oder Verneinung. Daraus leitet Strawson 123 seine performative Theorie von Wahrheit ab, welche von Habermas an mehreren Stellen kritisiert wird. 124 Tarskis 125 semantische Theorie der Wahrheit nimmt Bezug auf den Grundgedanken der Korrespondenztheorie, klammert dabei jedoch die metaphysischen Vorannahmen aus. Diese knappe Darstellung ist jedoch nur ein kleiner Ausschnitt des vielschichtigen Diskurses und noch immer erscheinen ständig neue Ansätze, welche jedoch zumeist eine Kombination der einzelnen Lösungsmodelle darstellen. Diese Strömungen sind für das Verständnis der Diskurstheorie der Wahrheit essentiell, weil sich Habermas in den ideengeschichtlichen Diskurs über Wahrheit einreiht und kritisch auf die verschiedenen Theorien Bezug nimmt. Die Diskurstheorie, welche über viele Jahre in kollegialer Kooperation mit Karl-Otto Apel entwickelt wurde, schlägt grundsätzlich eine zweistufige Konsenstheorie der Wahrheit vor. In dieser wird zwischen einem momentanen Konsens und dem Konsens innerhalb einer ewigen Diskursgemeinschaft unterschieden. Diese ultimate opinion wird natürlich zur Debatte gestellt. Dies hat zur Folge, dass die Diskurstheorie formal zwar an dem Begriff der Wahrheit als Orientierung festhält, jedoch keine letzte Wahrheit im metaphysischen Sinne anstrebt. Ungleich vielen anderen Kritikern sieht Reese-Schäfer hierin eine besondere Stärke und schließt: »Damit hat sie in der Tat ein letztes Stück Mythos, nämlich den substanziellen Wahrheitsbegriff der Tradition, in einen Verfahrensbegriff aufgelöst.« 126 Mit der Verabschiedung des metaphysischen Restbezugs der Wahrheit rührt die Diskurstheorie jemir jedoch das Recht auf Ergänzungen und Modifikationen für den Zweck dieser Darstellung vor. 120 Vgl. M. Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 1949. 121 Vgl. u. a. F. P. Ramsey, Facts and Propositions, in: Proceedings of the Aristotelian Society, Vol. 7, 1927. 122 Vgl. u. a. A. J. Ayer, Language, Truth and Logic, New York 1952. 123 Vgl. u. a. P. F. Strawson, Knowledge and Truth, in: Indian Philosophical Quarterly, Vol. 3., No. 3, 1976. 124 Vgl. u. a. Habermas, WuR, 42. 125 Vgl. u. a. A. Tarski, Truth and Proof, Scientific American 220, 1969, 63–77. 126 W. Reese-Schäfer, Jürgen Habermas, a. a. O., 30.
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doch auch an das problematische Verhältnis zwischen Vielheit und Einheit innerhalb der Metaphysikkritik. Hier berührt sie insbesondere drei Themenbereiche: das Verhältnis von Identität und Differenz, das Problem des unaussprechlich Individuellen sowie das Unbehagen gegenüber dem affirmativen Denken. 127 Habermas ordnet sich auch hier in den ideengeschichtlichen Diskurs ein. 128 Grundsätzlich geht es um das Verlangen, das Viele auf Eines zurückzuführen. Ein frühes Beispiel hierfür findet sich in Platons Ideenlehre. 129 Plotin sieht umgekehrt das Eine als Urprinzip, aus welchem alles andere hervorgeht. 130 Ein »Paradebeispiel« der Moderne ist in Kants berühmtem Versuch zu sehen, die synthetischen Leistungen der Einbildungskraft und des Verstandes durch die Mannigfaltigkeit der Empfindungen und Vorstellungen zu einer Einheit von Erfahrungen und Urteilen zu bündeln. Hegel, Marx und Kierkegaard interpretieren dagegen die historisierte Welt prozessual. Das Medium der Geschichte umspannt die Welt im Ganzen, d. i. die Menschenwelt bzw. die Lebensgeschichte zu einer Einheit. 131 Habermas selbst geht es nun vor allem darum, auf die nicht hintergehbare symmetrische Struktur von Perspektiven aufmerksam zu machen. »So behauptet sich im Medium der Sprache eine schwache, transitorische Einheit der Vernunft, die nicht dem idealistischen Bann einer übers Besondere und Einzelne triumphierenden Allgemeinheit verfällt.« (ND 155) Daraus folgt nun Habermas’ Kernthese, nämlich dass »die Einheit der Vernunft allein in der Vielheit ihrer Stimmen vernehmbar bleibt« (ND 155). Damit nimmt die Diskurstheorie eine vermittelnde Position im verhärteten Streit zwischen den sogenannten objektivistischen und relativistischen Theorien ein. 132 Ferner nimmt sie in ihrer Abwandlung als Diskursethik auf eine andere Konfliktlinie Vgl. hierzu auch ND 155. Vgl. hierzu ND 155 ff. 129 Vgl. Platon, Politeia, in: Werke in 8 Bänden, gr./dt., in der Übers. v. F. D. Schleiermacher, hg. von G. Eigler, Darmstadt 2001. 130 Vgl. Plotins Schriften 1–54, übers. von R. Harder, Hamburg 2004. 131 Hierauf antworten später natürlich der Historismus und Positivismus. 132 Denker des objektivistischen Lagers, wie z. B. Putnam, stehen dabei vor dem Problem, dass ihre Argumentation einen Standpunkt zwischen Sprache und Realität fordert. Und selbst für einen solchen »Nullkontext« bleibt ihnen kein anderes Mittel als die von ihnen benutzte Sprache. Die relativistische Sichtweise, welche jeder Weltsicht ein perspektivisches Recht zugesteht, verfängt sich dagegen in Selbstwidersprüchen (vgl. hierzu auch Habermas, ND 174 ff.) 127 128
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Bezug, nämlich auf eine kognitivistische Begründung einer Moraltheorie: In dem Buch After virtue 133 resümiert MacIntyre, dass die Aufklärung mit ihrem Projekt, eine von jeder Metaphysik oder Religion befreite Moral zu begründen, gescheitert ist. Zweckrationalität bzw. instrumentelle Vernunft können keine letzte Zwecksetzung hervorbringen. Dies muss, wie Horkheimer letztlich geschlossen hatte, der Intuition bzw. der Dezision überlassen werden. 134 Deshalb konstatiert MacIntyre: »Reason is calculative; it can assess truth of fact and mathematical relations but nothing more. In the realm of practice it can speak only of means. About ends it must be silent.« 135 Innerhalb der Diskursethik geht es deshalb um einen Wahrheitsbegriff in Bezug auf moralische Fragen. Habermas möchte zeigen, dass sich Geltungsansprüche moralischer Phänomene sehr wohl mit Hilfe formalpragmatischer Untersuchungen erschließen lassen. Vermittels des diskursethischen Ansatzes soll deshalb die philosophische Ethik die Gestalt einer speziellen Argumentationstheorie annehmen. Habermas verweist dabei auf den Unterschied zwischen assertorischen und deontologischen Geltungsansprüchen und begründet fernerhin, warum die Moraltheorie die Form einer moralischen Argumentation innehat. Offen bleibt die Frage, wie der Universalisierungsgrundsatz, welcher ein argumentatives Einverständnis ermöglichen soll, selbst begründet werden kann. Die Trennung von Pflicht- und Güterethik ist die letzte Konfliktlinie, welche hier kurz angesprochen wird. Normalerweise wird die Frage der Gerechtigkeit des Einzelnen und die Frage nach dem Wohl aller getrennt behandelt. Im Bereich der politischen Philosophie stellt sich Rawls mit seiner Theorie der Gerechtigkeit auf einen liberalen Standpunkt und plädiert für eine Verteilungsgerechtigkeit. 136 Der Kommunitarismus kritisiert diesen liberalen Standpunkt und bemüht sich um die Kultivierung von Solidarität über eine Pflichtethik. Die Diskursethik nimmt auch hier einen vermittelnden Standpunkt ein und versucht, eine einsichtsvolle Willensbildung zu erreichen, so dass
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A. MacIntyre, After Virtue, London 1981. Vgl. hierzu auch Habermas, MkH 53. A. MacIntyre, After Virtue, a. a. O., 52, auch zitiert in: Habermas, MkH 53. J. Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt am Main 2001.
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sowohl die Interessen des Einzelnen gewahrt als auch das soziale Band zwischen den Bürgern gestärkt wird. 137 b.
Charakteristika der Diskurstheorie und Diskursethik
Wie bereits erwähnt, handelt es sich bei der Diskurstheorie um eine Konsenstheorie der Wahrheit, welche sich auf zwei Ebenen vollzieht: formal und inhaltlich. Den Unterschied dieser beiden Ebenen möchte ich anhand des von Reese-Schäfer konstruierten Beispiels einer Wette erläutern: 138 Im Vorfeld einer Wette einigen sich alle Beteiligten, unter welchen Bedingungen die Wette je als gewonnen bzw. als verloren gilt. Dazu gehört sowohl der Inhalt, d. i. »was« der Fall sein soll, als auch der Zeitpunkt. Um den Inhalt der Wette wird ein »Gerüst« errichtet, das alle akzeptieren. Wenn im Vorfeld nichts Entscheidendes übersehen wurde, so lässt sich objektiv feststellen, wer die Wette gewonnen hat. Dieses Gerüst steht jedoch unabhängig vom Ausgang der Wette. »Der Konsens wird also gerade nicht erzielt über den Wettinhalt selbst, sondern über die formalen Bedingungen seines Eintretens.« 139 Dieses Beispiel macht deutlich, dass es sich bei dem Begriff des Konsenses nicht um einen Konsens auf inhaltlicher Ebene handelt, sondern zunächst nur auf der formalen Ebene. Innerhalb solcher formalen Kriterien lässt sich schließlich objektiv beurteilen, wer »Recht« bzw. »gewonnen« hat. Der Unterschied zur Konsenstheorie der Wahrheit besteht darin, dass bei einer Wette die formalen Bedingungen von Fall zu Fall anders vereinbart werden. Dagegen versucht die Konsenstheorie zumindest auf der formalen Ebene eine Art »Universalität« zu erreichen. Dahinter steckt die Idee, dass ein Einvernehmen über formale Kriterien die Relativität spezifischer Aussagen überwinden könnte. Dies verlangt jedoch die Zustimmung »aller« Personen, d. h. auch der in der Zukunft lebenden Personen.140 Eine solche pragmatische Wahrheitsvorstellung wird daher nie eine »letzte Meinung oder Wahrheit« erreichen, sondern immer nur eine Annäherung darstellen.
Vgl. Habermas, EzD 18. W. Reese-Schäfer, Jürgen Habermas, a. a. O., 23. 139 Ebd., 24. 140 Hier beziehen sich Habermas und Apel auf die Idee der »indefinite community of investigators« von Peirce, vgl. K.-O. Apel, Der Denkweg von Charles Sanders Peirce. Eine Einführung in den amerikanischen Pragmatismus, Frankfurt am Main 1975. 137 138
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a. Diskurstheorie Im Folgenden werden die formalen Kriterien der Diskurstheorie dargestellt. Als Rahmenbedingung gilt, dass jeder Sprechakt immer auch eine Handlung ist, welche der Herstellung interpersonaler Beziehungen dient und nach einer Ja/Nein-Stellungnahme verlangt. Grundsätzlich unterscheidet Habermas zwischen folgenden Typen von Sprechakten, die verschiedenen Kommunikationsmodi und Geltungsansprüchen zugeordnet sind. 141 a. Imperative bringen den Willen von S zum Ausdruck und möchten den Hörer zu etwas bewegen b. Mit konstativen Sprechhandlungen bezieht sich der Sprecher auf einen Sachverhalt in der objektiven Welt. Das Verneinen einer solchen Aussage bedeutet, dass der Hörer die behauptete Proposition des Wahrheitsanspruchs bestreitet. c. Mit regulativen Sprechhandlungen nimmt der Sprecher auf ein Verhältnis in der sozialen Welt Bezug. Er behauptet die Legitimität eines Verhältnisses in einer interpersonalen Beziehung. Wenn H dies bestreitet, so bestreitet er die normative Richtigkeit des Verhältnisses. Zu dieser Klasse können auch die Kommunikative gezählt werden. 142 d. Mit expressiven Sprechhandlungen bezieht sich der Sprecher auf etwas in der subjektiven Welt. Dabei enthüllt er ein Erlebnis vor einem Publikum. Im Falle einer Negation wird die Wahrhaftigkeit von S angezweifelt. e. Die Operative bezeichnen die Anwendung konstruktiver Regeln (z. B. Logik, Grammatik) und dienen der Verständlichkeit von Aussagen. Insofern haben sie einen performativen, aber keinen genuin kommunikativen Sinn. Der Hörer kann auf dieser Ebene
141 Mit dieser Unterscheidung von verschiedenen Sprechakten bezieht sich Habermas auf Searle. Im Unterschied zu Searle geht Habermas jedoch davon aus, dass »die illokutionären Ziele von Sprechhandlungen durch die intersubjektive Anerkennung von Macht- oder Geltungsansprüchen erreicht werden, wenn wir weiterhin normative Richtigkeit sowie subjektive Wahrhaftigkeit als wahrheitsanaloge Geltungsansprüche einführen und diese ebenfalls durch Aktor-Welt-Beziehungen interpretieren« (TkH I 435). Durch eine ebensolche Revision von Searle gelangt Habermas zu obiger Aufteilung (vgl. TkH I 435 ff.). 142 Wobei Habermas selbst unschlüssig ist, ob die Kommunikative nur eine Teilklasse oder eigenständige Klasse darstellen (TkH I 436).
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zwar die Verständlichkeit einer Aussage in Zweifel ziehen, meint damit jedoch nicht den Inhalt. Durch die Klassifizierung von Sprechakten gelangt Habermas zu den bereits angedeuteten Geltungsansprüchen von Wahrheit für die Konstativa, Richtigkeit für die Regulativa, Wahrhaftigkeit für die Expressiva und Verständlichkeit für die Operativa. Wobei der letzte Geltungsanspruch, aufgrund der mangelnden Relevanz für den Inhalt der Aussage, ausgeklammert bleibt. Die Geltungsansprüche bleiben im Hintergrund, solange eine Verständigung zwischen H und S gelingt. Im Falle der Ablehnung einer Aussage muss nun überprüft werden, welcher Geltungsanspruch von H in Zweifel gezogen wird. Für jeden Geltungsanspruch gibt es unterschiedliche Reparaturstrategien. Dabei können Reparaturleistungen auf den Ebenen der Wahrheit, Richtigkeit und Verständlichkeit innerhalb desselben Diskurses eingelöst werden. Wahrhaftigkeit kann jedoch nur durch entsprechendes Verhalten bewiesen werden. Die diskursive Einlösung von Geltungsansprüchen erfolgt im begründeten Konsens einer »idealen Diskurssituation«, d. h. einer Sprechsituation, in welcher jede systematische Verzerrung der Kommunikation ausgeschlossen ist, Handlungszwänge außer Kraft gesetzt werden und ausschließlich der zwanglose Zwang des besseren Arguments Geltung besitzt. Im Einzelnen zählt Habermas vier zentrale Charakteristika einer solchen idealen Sprechsituation auf: 1. »Alle potentiellen Teilnehmer eines Diskurses müssen die gleiche Chance haben, kommunikative Sprechakte zu verwenden, so dass sie jederzeit Diskurse eröffnen sowie durch Rede und Gegenrede, Frage und Antwort perpetuieren können.« 2. »Alle Diskursteilnehmer müssen die gleiche Chance haben, Deutungen, Behauptungen, Empfehlungen, Erklärungen und Rechtfertigungen aufzustellen und deren Geltungsanspruch zu problematisieren, zu begründen oder zu widerlegen […].« 3. »Zum Diskurs sind nur Sprecher zugelassen, die als Handelnde gleiche Chancen haben, repräsentative Sprechakte zu verwenden, d. h. ihre Einstellungen, Gefühle und Wünsche zum Ausdruck zu bringen […].« (Wahrhaftigkeitspostulat) 4. »Zum Diskurs sind nur Sprecher zugelassen, die als Handelnde die gleiche Chance haben, regulative Sprechakte zu verwenden, d. h. zu befehlen und sich zu widersetzen, zu erlauben und zu verbieten […]« (VuE 177). 85 https://doi.org/10.5771/9783495860601 .
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Zusammenfassend kann man sagen, dass Öffentlichkeit, Gleichverteilung der Kommunikationsrechte, Gewaltlosigkeit und Aufrichtigkeit als Voraussetzungen für eine solche ideale Sprechsituation gelten. Die Idee der idealen Sprechsituation hat weder den Status einer empirischen Wirklichkeit noch den eines bloß idealen Konstrukts. Sie ist vielmehr eine »in Diskursen reziprok vorgenommene Unterstellung.«143 Mit dieser zweistufigen Konsenstheorie der Wahrheit versucht Habermas das Problem der Wahrheit sowohl theoretisch als auch praktisch in den Griff zu bekommen. Eine Aussage gilt nämlich genau dann als (wenngleich vorläufig) wahr, wenn darüber ein Konsens innerhalb eines solchen herrschaftsfreien Diskurses besteht. 144 Als politischer Denker betrachtet Habermas nicht nur die argumentative und strukturelle Verortung von Entscheidungsprozessen. Vielmehr entwickelt er solche Kriterien, die die rationale und gleichberechtigte Genese von Entscheidungen begünstigen. Darin besteht letztlich auch die Stärke von Habermas: Weder Inhalt noch Ergebnis werden vorrangig diskutiert, sondern das prozedurale Zustandekommen demokratischer Entscheidungsprozesse. In der späteren Anwendung des Diskursprinzips auf seine politische Theorie 145 zeigt sich der Versuch, die Gesellschaft in ein reflexives Verhältnis zu sich selbst treten zu lassen. b. Diskursethik In den 80er Jahren entwickelt Habermas im Dialog mit Apel und ausgehend von seinen Überlegungen zur Universalpragmatik die ›Diskursethik‹. Ihre Grundzüge werden in Form des Begründungsprogramms der Diskursethik und den Erläuterungen zur Diskursethik kurze Zeit nach der Theorie des kommunikativen Handelns veröffentlicht. Grundsätzlich sieht sich Habermas mit der Diskursethik in der Tradition Kants. Sein darüber hinausgehendes Ziel ist es jedoch, die kantische Ethik mit Hilfe der Kommunikationstheorie zu detranszendentalisieren, d. h. von ihren metaphysischen Restbeständen zu befreien (vgl. WuR 186 ff.).
143 J. Habermas: Wahrheitstheorien, in: H. Fahrenbach (Hg.): Wirklichkeit und Erfahrung, Pfullingen 1973, 211–265, 258. 144 Natürlich bleiben die im vorigen Abschnitt aufgezeigten Einschränkungen bestehen. 145 Allen voran in FuG.
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Die dreifache »Einbeziehung des Anderen«
Habermas charakterisiert die Diskursethik – ebenso in einer Linie mit Kant – als deontologisch, kognitivistisch, formalistisch und universalistisch (vgl. EzD 11 ff.): Sie ist deontologisch, weil sie die Menge begründbarer normativer Urteile begrenzt. 146 Habermas führt hier auch seine eigenwillige Unterscheidung zwischen Moral und Ethik ein: »Wir machen von der praktischen Vernunft einen moralischen Gebrauch, wenn wir fragen, was gleichermaßen gut ist für jeden; einen ethischen Gebrauch, wenn wir fragen, was jeweils gut ist für mich oder für uns.« 147 Als kognitivistisch bezeichnet Habermas die kantische Ethik sowie die Diskursethik, weil sie die normative Richtigkeit als wahrheitsanalogen Geltungsanspruch begreift. Die Richtigkeit von Normen und Geboten wird als analog zur Wahrheit assertorischer Sätze gesehen. Das bedeutet, dass moralische Urteile ebenso über den Weg der Argumentation gefunden werden, ihnen jedoch der für andere Wahrheitsansprüche charakteristische Weltbezug fehlt. Diese Unterscheidung zwischen moralischer Richtigkeit und theoretischer Wahrheit geht grundlegend auf die kantische Trennung zwischen theoretischer und praktischer Vernunft zurück. Sie ist formalistisch, insofern sie von einem Rechtfertigungsprinzip ausgeht. Das heißt, ein Prinzip gilt im moralischen Sinne als gerechtfertigt, wenn alle vernünftigen Wesen es wollen. Der wesentliche Unterschied der Diskursethik besteht nun darin, dass an die Stelle des kategorischen Imperativs ein Verfahren der öffentlichen moralischen Argumentation tritt. Es gilt der Grundsatz »D«, nämlich »dass nur diejenigen Normen Geltung beanspruchen dürfen, die die Zustimmung aller Betroffenen als Teilnehmer eines praktischen Diskurses finden könnten« (EzD 12). Gleichzeitig wird der kategorische Imperativ in eine Argumentationsregel verwandelt und findet seine Formulierung in »U«: »[…] bei gültigen Normen müssen Ergebnisse und Nebenfolgen, die sich voraussichtlich aus einer allgemeinen Befolgung für die Befriedigung der Interessen eines jeden ergeben, von allen zwanglos akzeptiert werden können« (EzD 12). 146 Im Gegensatz zu den klassischen Ethiken, welche auf die allgemeine Frage des guten Lebens antworten, beschränkt sich Kant auf die Frage des richtigen bzw. gerechten Handelns. 147 J. Habermas, Text und Kontexte, Frankfurt am Main 1991, 149; vgl. auch ebd. 127– 156 sowie EzD 7.
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Jürgen Habermas: Kommunikative Vernunft
Ein solches Moralprinzip gilt schließlich als universalistisch, weil es sich nicht auf die Anwendung in einer bestimmten Kultur oder Epoche beschränkt, sondern eine allgemeine Geltung beansprucht. Mit Strawson geht Habermas von einer phänomenologischen Realität moralischer Erfahrungen aus: Der Realitätsgehalt einer Norm zeigt sich in der Differenz zwischen normativer Erwartung und dem Ressentiment im Falle einer Enttäuschung der Erwartung. Der Moralphilosoph muss also eine Teilnehmerperspektive einnehmen, um moralische Phänomene als solche wahrzunehmen (MkH 65). Auch die Diskursethik beansprucht einen moral point of view. Beispiele eines solchen moral point of view sind z. B. John Rawls’ »Schleier des Nichtwissens« oder George Herbert Meads Idee einer idealen Rollenübernahme. In all jenen Konstruktionen versetzt sich das urteilende Subjekt in die Perspektive aller primär und sekundär betroffenen Personen. Die Diskursethik hat nun einen Vorzug gegenüber beiden Konstruktionen: Durch die aktuelle Kommunikationssituation entfällt einerseits der fiktive Urzustand, andererseits stellt der praktische Diskurs einen Verständigungsprozess dar, in »welchem alle Beteiligten gleichzeitig zur idealen Rollenübernahme angehalten« (EzD 14) werden. Dadurch wird die private Rollenübernahme in eine öffentliche und intersubjektiv praktizierte Tätigkeit transformiert. Welche moralische Intuition verbirgt sich aber hinter einem solchen Verfahren? Mit »moralisch« bezeichnet Habermas solche Intuitionen, welche uns darüber beraten, wie wir uns am besten verhalten sollen, damit wir durch Schonung und Rücksichtnahme die extreme Verletzbarkeit von Menschen berücksichtigen (vgl. EzD 14). Dies bringt die Verschränktheit zweier sonst polarer Bedingtheiten des Menschseins zum Ausdruck: auf der einen Seite durch die Unantastbarkeit und Verletzlichkeit des Einzelnen und auf der anderen Seite durch die primordinale Intersubjektivität und gesellschaftliche Abhängigkeit. »In kommunikativen Bildungsprozessen formen und erhalten sich die Identität des Einzelnen und die des Kollektivs gleichursprünglich.« (EzD 15) Im Kontext der Menschenrechtsdebatte wurden diese beiden Pole sowohl durch die Verschränkung von Menschenrechten und Solidarität als auch durch die entgegengesetzten Denkrichtungen von Liberalismus und Republikanismus thematisiert. Bereits dort versuchte Habermas zu zeigen, dass die Polarität zwischen Individuum und Kollektiv über eine kommunikativ vermittelte, gemeinsame Handlungswelt zu harmonisieren sei. Im Bereich der Moral88 https://doi.org/10.5771/9783495860601 .
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ethik taucht dieselbe Problematik wieder auf: »Weil Moralen auf die Versehrbarkeit von Lebewesen zugeschnitten sind, die durch Vergesellschaftung individuiert werden, müssen sie stets zwei Aufgaben in einem lösen: Sie bringen die Unantastbarkeit der Individuen zur Geltung, indem sie gleichmäßige Achtung vor der Würde eines Jeden fordern; im selben Maße schützen sie aber auch die intersubjektiven Beziehungen reziproker Anerkennung, durch die sich die Individuen als Angehörige einer Gemeinschaft erhalten. Den beiden komplementären Aspekten entsprechen die Prinzipien der Gerechtigkeit und der Solidarität« (EzD 16). Gerechtigkeit bezieht sich in diesem Kontext auf die subjektiven Freiheiten des Einzelnen, Solidarität dagegen auf das Wohl der intersubjektiv geteilten Lebensform. Die Diskursethik zeigt, warum und auf welche Weise beide Prinzipien auf ein und dieselbe Wurzel zurückgehen: nämlich die »Verletzbarkeit von Lebewesen, die sich nur durch Vergesellschaftung vereinzeln« (EzD 16). Daher kann die Moral nicht das Eine ohne das Andere schützen, d. h. nicht die Rechte des Individuums ohne gleichzeitig das Wohl der Gemeinschaft. Diesen Standpunkt überträgt Habermas nun auf die politische Ebene, indem er die deliberative Demokratie als Vermittlungsmodell zwischen Liberalismus und Republikanismus sieht. Die Diskurstheorie nimmt Elemente von beiden Seiten auf und vereint sie in einer idealen Prozedur für ein demokratisches Verfahren. Hierdurch stellt Habermas einen internen Zusammenhang her zwischen pragmatischen Überlegungen, Kompromissen, Selbstverständigungs- und Gerechtigkeitsdiskursen. Einem solchen gesellschaftlich-rationalen Diskurs kommen drei Bedeutungen zu: 1. Die Informationsverarbeitung soll zu vernünftigen bzw. fairen Ergebnissen führen: »[N]ach dieser Vorstellung zieht sich die praktische Vernunft aus den universalen Menschenrechten oder aus der konkreten Sittlichkeit einer bestimmten Gemeinschaft in jene Diskursregeln und Argumentationsformen zurück, die ihren normativen Gehalt der Geltungsbasis verständigungsorientierten Handelns, letztlich der Struktur sprachlicher Kommunikation und der nichtsubstituierbaren Ordnung kommunikativer Vergesellschaftung entlehnen« (FuG 360). Damit versucht Habermas die ethische Engführung des Republikanismus durch ein reines Verfahren zu ersetzen, mit welchem Solidarität qua gerechten Diskurs kultiviert werden soll, d. h., Solidarität wird durch eine weit ausgefächerte autonome Öffentlichkeit und 89 https://doi.org/10.5771/9783495860601 .
Jürgen Habermas: Kommunikative Vernunft
ein rechtsstaatlich institutionalisiertes Verfahren der Meinungs- und Willensbildung gewährleistet (vgl. EdA 288 f.). 148 2. Für die demokratische Öffentlichkeit bedeutet das Diskursprinzip, dass die kommunikative Vernunft 149 in modernen Gesellschaften einen institutionellen Ort bekommt, der ihre Spontaneität durch Vermeidung von Bürokratisierung bewahrt. Mit der Universalität des Diskursprinzips geht jedoch auch eine gewisse Kontextsensibilität einher: Innerhalb der Formulierung der eigenen Sichtweise müssen im kooperativen Deutungsprozess auch alle anderen Sichtweisen berücksichtigt werden. Jeder Einzelne muss die Perspektive aller anderen einnehmen und dadurch auch seine eigene Sichtweise im Sinne einer »Horizontverschmelzung« transzendieren. Dem liegt im Kern ein dialektisches Prinzip zugrunde. 3. Schließlich soll der erzielte Konsens zwischen zuvor im Streit liegenden Parteien die Solidarität stärken. »[…] die kommunikative Bewährung dieser Konflikte bildet in einer säkularisierten Gesellschaft, die mit ihrer Komplexität auf bewusste Weise umzugehen gelernt hat, die einzige Quelle für eine Solidarität unter Fremden – unter Fremden, die sich bei der kooperativen Regelung ihres Zusammenlebens, auch das Recht zugestehen, füreinander Fremde zu bleiben« (FuG 374), d. i. die Verknüpfung von Eigeninteresse und moralischer Verpflichtung auch mit solchen Menschen, die nicht zu der Gruppe des »Wir« gehören. 150 Grundlegendes Ziel ist, dass die Gesellschaft als Ganzes in ein reflexives Verhältnis zu sich selbst tritt und dadurch das gesamte Reflexivitätspotential moderner Gesellschaften auszunutzen. 151 148 Die Diskursethik rechnet mit einer höherstufigen Intersubjektivität von Verständigungsprozessen, welche eine Verflechtung von Eigeninteresse und staatsbürgerlicher Moral offenlegt (vgl. EdA 288). 149 Diesen Begriff werde ich im folgenden Abschnitt genau darstellen. 150 Dies sei erwähnt mit einem vorauswerfenden Blick auf Rorty. 151 Natürlich stellt sich an dieser Stelle die Frage nach der Motivation für einen solchen kommunikativen Prozess: Inwiefern können und wollen komplexe Gesellschaften eine vernünftige Identität ausbilden? (Vgl. Th. Bonacker, Kommunikation zwischen Konsens und Konflikt. Möglichkeiten und Grenzen gesellschaftlicher Rationalität bei Jürgen Habermas und Niklas Luhmann, Oldenburg 1997, 63.) Diese Frage zielt auf den Zusammenhang zwischen kollektiven Lernprozessen, kollektiven Identitäten und einer demokratischen Willensbildung (vgl. ebd. 63). Ziel ist die »rechtliche Institutionalisierung des Neutralitätsprinzips bei gleichzeitiger öffentlicher gesellschaftlicher Selbstreflexion und Verständigung« (Ebd. 64). Auf eine solche Weise kann das volle Potential einer kommunikativen Vernunft gesellschaftlich freigesetzt werden. Wichtig ist, dass diese
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Auf der Grundlage dieser theoretischen Vorüberlegungen kann nun der diskursethische Grundsatz »D« auf die Rechtstheorie angewendet werden. Dabei verhält sich das Diskursprinzip gegenüber der Trennung der Begriffe von Recht und Moral neutral, weil es beiden sozusagen vorgelagert ist. Das Diskursprinzip bezieht sich auf »generalisierte Verhaltenserwartungen« und erklärt sozusagen den moral point of view, der eine unparteiliche Beurteilung von Handlungsnormen erlaubt; d. h., es geht von der Prämisse aus, dass praktische Fragen unparteilich beurteilt werden können (vgl. FuG 140 ff.). In einem weiteren Schritt werden sodann Moral und Recht aus dem Diskursprinzip abgeleitet. Hierbei versucht Habermas dem Vorurteil zu entgehen, wonach sich Moral nur auf persönlich zu verantwortende soziale Beziehungen, Recht dagegen auf institutional vermittelte Interaktionsbereiche bezieht (vgl. FuG 141). Die Diskurstheorie überschreitet hier die klassische Trennung von privaten und öffentlichen Bereichen, indem der Kern ihrer Forderung darin besteht, dass »die ideale Rollenübernahme, die nach Kant von jedem Einzelnen und privatim vorgenommen wird, in eine öffentliche, von allen gemeinsam durchgeführte Praxis zu überführen« ist (FuG 141). Ohnehin ist die Trennung von Recht und Moral in komplexen, d. h. multikulturellen Gesellschaften nicht messerscharf. 152 Durch was aber zeichnet sich die Trennung von Moral- und Demokratieprinzip genau aus? Die Diskurstheorie geht davon aus, dass alle Gründe Berücksichtigung finden müssen. Jedoch bildet die Art der Gründe das entscheidende Kriterium zur Charakterisierung der beiden Prinzipien. »Das Demokratieprinzip ergibt sich aus einer entsprechenden Spezifizierung für solche Handlungsnormen, die in Rechtsform auftreten und mit Hilfe pragmatischer, ethisch-politischer und moralischer Gründe – und nicht allein aus moralischen Gründen – gerechtfertigt werden können.« (FuG 139) Eine solche Spezifizierung von Gründen ergibt sich aus der je unterschiedlichen Art der Fragestellung. Bei moralischen Fragestellungen ist das Bezugssystem die Menschheit als Ganzes. Daher müssen Begründungen im Interesse aller liegen. Bei ethisch-politischen Fragestellungen ist das je gültige Gemeinwesen das BezugssysArt der Vernunft per se nur kollektiv zu erreichen ist und nicht auf ein internalisiertes Verfahren reduziert werden kann. 152 Vgl. die Darstellung des Verhältnisses von Recht und Moral weiter oben.
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tem. Regelungen sind dann der Ausdruck des je bewussten kollektiven Selbstverständnisses. Entgegengesetzte Interessen verlangen außerdem nach einem rationalen Ausgleich, d. h., Kompromisse müssen unter fairen Verhandlungsbedingungen zustande kommen, können jedoch von den jeweiligen Parteien aus je unterschiedlichen Gründen akzeptiert zu werden (FuG 139). Daher stellt das Demokratieprinzip lediglich ein Verfahren legitimer Rechtsetzung dar. Nur solche Gesetze können als legitim gelten, welche von allen anerkannt wurden. »Das Demokratieprinzip erklärt […] den performativen Sinn der Selbstbestimmungspraxis von Rechtsgenossen, die einander als freie und gleiche Mitglieder einer freiwilligen eingegangenen Assoziation anerkennen.« (FuG 141) Das Demokratieprinzip gibt daher auch keine Antwort, welche Angelegenheiten diskursiv bearbeitet werden können, sondern sagt nur, wie eine vernünftige politische Meinungs- und Willensbildung zu institutionalisieren ist (gleiche Teilnahmerechte etc.). Das Moralprinzip findet dagegen Anwendung auf der Ebene der internen Verfassung der Argumentation selbst (vgl. FuG 142). Ein weiteres Unterscheidungsmerkmal ist der Bezug des Demokratieprinzips auf Rechtsnormen, wohingegen das Moralprinzip alle anderen Handlungsnormen betrifft. Dabei muss das Demokratieprinzip nicht nur das Verfahren einer legitimen Rechtssetzung festlegen, sondern die »Erzeugung des Rechtsmediums selbst steuern« (FuG 142 f.). Diese beiden Unterscheidungsmerkmale von Demokratie- und Moralprinzip umschreiben also zwei Aufgabenbereiche, nämlich a. die Institutionalisierung von politischer Willensbildung und b. die Gewährleistung des Mediums, in welchem sich der Wille frei assoziierter Rechtsgenossen ausdrücken kann (vgl. FuG 143). Aus diesem Grund kann das Demokratieprinzip als Verschränkung von Diskursprinzip und Rechtsform gesehen werden. Diese Verschränkung stellt schließlich das Fundament für den Zusammenhang von Menschenrechten und Volkssouveränität dar: Erst die Menschenrechte institutionalisieren die Kommunikationsbedingungen für eine vernünftige politische Willensbildung (vgl. pnK 175). Auf der Ebene der Menschenrechte präsentiert sich das Demokratieprinzip als Rechtsform des Diskursprinzips und führt durch kommunikatives Handeln zu einer kollektiven Identität in komplexen Gesellschaften. Umgekehrt kann eine solche Revitalisierung gesellschaftlicher Vernunft nur durch eben solche Kommunikationsbedingungen erreicht werden, welche 92 https://doi.org/10.5771/9783495860601 .
Die dreifache »Einbeziehung des Anderen«
gleiche Teilnehmerrechte, Entbürokratisierung der Öffentlichkeit etc. garantieren. Deshalb kann Habermas behaupten, dass die Menschenrechte auf eine Überbrückung der Dichotomie von Individualität und Kollektivität abzielen. 153 Schließlich, und mit Blick auf den phänomenologischen Ausgangspunkt dieser Darstellung, soll die »scheinbar selbstlose, normativ erblindete Einfühlung in den Anderen« (vgl. VsE 43), welche als Kernproblem vieler Moraltheorien gesehen wird und auf politischer Ebene in der Verkleidung einer geforderten ›Solidarität‹ auftritt, auf rechtlicher Ebene durch das Demokratieprinzip ersetzt werden. Inwiefern die Diskurstheorie jedoch auf der Ebene der Menschenrechtsproblematik eine Einbeziehung des Anderen gewährleistet, wird nun im nächsten Abschnitt anhand verschiedener Charakteristika überprüft und dargestellt. c.
Einbeziehung des Anderen
Im Folgenden werden die bereits auf der Ebene der deliberativen Demokratie genannten Aspekte einer Einbeziehung des Anderen aufgegriffen und auf der Ebene der Diskurstheorie weiter entfaltet. Natürlich kommen andere Elemente hinzu, welche erst durch die Darstellung der Diskurstheorie offenbar geworden sind. a. Bedeutung der Zukunft: Einbeziehung künftiger Einwände Die Darstellung der pragmatischen Ausgangslage der Diskurstheorie verdeutlicht nochmals, dass Habermas den je erzielten Konsens »wahrheitstheoretisch« einklammert, d. h., der je erzielte Konsens ist immer nur eine Etappe und beharrt auf der dezidierten Unterscheidung zwischen ultimativer Meinung und gegenwärtigem Diskussionsstand. Der Begriff der Wahrheit gilt allenfalls als regulative Idee, denn die Einsicht in die Fallibilität des Konsenses folgt aus der Theorie selbst. Der zweistufige Aufbau der Theorie schließt die Fallibilität der Kriterien selbst nicht aus. Die Illusion einer absoluten Wahrheit im metaphysischem Sinne wird damit aufgegeben. 154 Dieser eingestandene Fallibilis153 Damit einher geht die Verabschiedung bewusstseinsphilosophischer Denkfiguren (vgl. EdA 288), welche ich weiter unten näher ausführen werde. 154 Hiermit setzt sich Habermas von der Idee eines historischen Bewusstseins, welches die synthetische Leistung im Vollzug der Geschichte vollbrachte, ab. Mit Marx und
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mus, welcher aus wahrheitstheoretischer Sicht oftmals als Schwäche kritisiert wurde, erhält jedoch auf gesellschaftlicher Ebene eine außergewöhnliche Stärke: denn trotz der reflexiven Einsicht, fehlbar zu sein, kann sie dennoch an der regulativen Idee der Wahrheit festhalten und sogar eindeutige Konsenskriterien dafür benennen. Die Diskurstheorie selbst beweist somit jenen »detektivistischen Zug«, den Habermas dem westlichen Diskurs über die Menschenrechte zuschreibt (vgl. pnK 180). Anders als andere Wahrheitskonzeptionen ziehen Einwände, Kursänderungen oder neue Perspektiven die Legitimität des Wahrheitsbegriffs nicht in Zweifel, sondern tragen gerade dadurch zu seiner Legitimität bei. Der Verfahrensbegriff der Wahrheit bezieht natürlich auch die Idee der Verflüssigung mit ein. Ähnlich wie das Rechtssystem wird auch Wahrheit nicht mehr statisch gesehen, sondern ihre Inhalte unterliegen gleichfalls der kommunikativen Verflüssigung. b. Publizität: Perspektivenwechsel versus Mitleidsethik Es gibt viele Rechtfertigungspraktiken, welche die Einbeziehung des Anderen postulieren. Eine Moral ist jedoch nur insofern anderen Möglichkeiten der Handlungskoordinierung überlegen, als sie ihren kognitiven Gehalt auch begründen kann. Nun schafft der reflektierende Nachvollzug von Handlungen innerhalb einer lebensweltlichen Begründungspraxis allenfalls ein kritisches Verständnis, bietet aber noch keine rationale Erklärung. Eine kognitive Moral muss also die Beteiligungsperspektive auch über den Kreis der unmittelbar Beteiligten erweitern können (vgl. EdA 13). Weiter oben wurde bereits auf die Unterscheidung zwischen dem Wahrheitsbegriff in Bezug auf Tatsachen einer äußeren Welt und moralischen Urteilen hingewiesen, d. i. der Unterschied zwischen reiner und praktischer Vernunft. Die Diskursethik begründet nun, inwiefern auch im Kontext von moralischen Urteilen von Wahrheit gesprochen werden kann, insofern die bereits erläuterten Geltungsansprüche gelten. Bei Kant wie auch bei Habermas werden hier die Schranken der instrumentellen Vernunft überschritten: Nicht mehr das gilt als richKierkegaard erkennt Habermas die Provinzialität des historischen Bewusstseins gegenüber der Zukunft (vgl. ND 169). Daraus zieht er die Konsequenz, Wahrheit aus der Teilnehmerperspektive zu beschreiben – wenn auch anders als Marx und Kierkegaard, d. h. nicht mehr mit teleologischer Ausrichtung.
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tig, das meinen eigenen Interessen dient, sondern es gilt das Prinzip der Verallgemeinerung. Damit antwortet das Diskursprinzip auf eine »Verlegenheit, in die Mitglieder beliebiger moralischer Gemeinschaften geraten, wenn sie beim Übergang zu modernen, weltanschaulich pluralistischen Gesellschaften des Dilemmas innewerden, dass sie sich über moralische Urteile und Stellungsnahmen nach wie vor mit Gründen streiten, obgleich ihr substantieller Hintergrundkonsens über zugrundeliegende moralische Normen zerbrochen ist« (EdA 56). 155 Auf welche Weise kann jedoch unter diesen Umständen eine posttraditionale Moral gerechtfertigt werden? Wie kann eine moralische Verpflichtung über die traditionell eingespielten Handlungsnormen der Familie oder des Stammes hinausreichen? Der kontextualistische oder auch emotivistische Standpunkt kann hier lediglich mit einer Steigerung des Mitgefühls argumentieren, weil ein darüber hinausgehendes, rationales Verständnis durch die inkommensurablen Sprachwelten ausgeschlossen bleibt. Die Schwäche einer solchen Position ergibt sich in einem Vergleich mit dem kategorischen Imperativ, denn in beiden Fällen wird die »Einbeziehung des Anderen« privatim vorgenommen: Im Falle des kategorischen Imperativs wird die Sichtweise des Anderen internalisiert und dadurch versucht, eine verallgemeinerungsfähige Maxime zu finden. In den emotivistischen Theorien besteht das Bestreben darin, eine ähnliche Perspektivenübernahme vermittels Einfühlung zu erreichen, d. h., die Teilnehmer versuchen sich in den anderen gefühlsmäßig hineinzuversetzen. Wobei mir die Aussicht auf ein tatsächliches Verstehen von Andersheit verwehrt bleibt. Habermas’ Neuerung liegt gerade in der »Externalisierung« des kognitivistischen Perspektivenwechsels: Das heißt, alle Teilnehmer werden in den öffentlichen Diskurs einbezogen. Dem Prinzip der Publizität kommt daher auf der Ebene der Diskursethik eine weitere Aufgabe zu: nämlich der Schutz vor der Reduktion des Anderen auf dasselbe. Dies geht auf die Einsicht zurück, dass insbesondere in pluralen Gesellschaften die Sichtweise des Anderen niemals internalisiert werden kann. Vielmehr muss der Andere als aktuell Sprechender in den
155 Natürlich geht Habermas von der idealisierten Grundannahme aus, dass die jeweiligen Kulturen ihre Streitigkeiten nicht durch Gewalt oder Kompromiss, sondern durch Verständigung beilegen wollen.
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Jürgen Habermas: Kommunikative Vernunft
Diskurs einbezogen werden. Er allein kann die Richtigkeit seines Verstandenwerdens durch den Anderen bezeugen. Habermas schließt trotz dieses kognitivistischen Ansatzes moralische Gefühle nicht aus. 156 Vielmehr bildet die grundsätzliche Verletzbarkeit des Einzelnen das konditionale Moment, welches eine ethische Verhaltensregulierung nötig macht. »Das ethische Grundproblem ist die verhaltenswirksame Garantie der gegenseitigen Schonung und des Respekts; das ist der wahre Kern der Mitleidsethiken.« 157 Moralische Gefühle, wie Ressentiment, Schuld etc. dienen als Fundament oder auch Ausgangspunkt für das weitere diskursethische Verfahren, welches die tatsächliche Perspektivenübernahme aller Beteiligten anstrebt. Resümierend kann die Diskursethik als eben jenes Verfahren begriffen werden, das den Perspektivenwechsel aus der privatimen Internalisierung des Anderen heraus in die Sphäre der »Öffentlichkeit« verlegt und damit der Gefahr einer Reduktion des Anderen zuvorkommt. Der Prozess der Einfühlung wird durch die öffentliche Perspektivenübernahme ersetzt und durch ein Verfahren institutionalisiert. Sie kumuliert im kommunikativen Vernunftbegriff. g.
Verhältnis von Einheit und Vielheit: Einbeziehung des Anderen als Anderen Der Poststrukturalismus hat mit dem Hinweis auf ein differenzsensibles Denken die Ideale von Vernunft und Einheit weitgehend aus den philosophischen Diskussionen verdrängt, jedoch nicht eliminiert. Habermas bezieht nun mit seiner Konsenstheorie der Wahrheit einen vermittelnden Standpunkt zwischen Vielheit und Einheit. 158 Damit versucht er auch im Zuge des nachmetaphysischen Denkens am Projekt der Aufklärung festzuhalten. Auf gesellschaftspolitischer Ebene bringt die Konsenstheorie der Wahrheit einen entscheidenden Vorteil gegenüber anderen Extrempositionen. Sie geht weder auf perspektivistische Distanz zum Ideal der Einheit noch sieht sie sich in Gefahr durch die Vielheit der Perspektiven in einen Relativismus zu verfallen. Sie ist vielmehr so konstru156 Methodisch integriert er Gefühle auf dieselbe Weise wie Kant, d. i. im synthetischen Akt der Wahrnehmungen für die theoretische Erklärung von Tatsachen (vgl. MkH 60). 157 J. Habermas, Philosophisch-politische Profile, Frankfurt am Main 1981, 118. 158 Beispielsweise zwischen dem Kontextualismus Rortys und dem Objektivismus Putnams.
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iert, dass sie zwar die Wahrheit als regulative Idee beibehält und vermittels eines Verfahrens eine Annäherung gewährleistet, jedoch eine solche Annäherung gerade durch die Vielheit der Perspektiven erreichen möchte. Daher stellt Habermas die These auf, dass in der Epoche eines nachmetaphysischen Denkens, »die Einheit der Vernunft allein in der Vielheit ihrer Stimmen vernehmbar bleibt« (ND 155). Im Unterschied zu Kants Synthesis, die als Brücke zwischen objektiver Weltordnung und Vernunfteinheit fungiert und vom einzelnen Vernunftsubjekt geleistet wird, verlegt Habermas diese Syntheseleistung in einen aktuellen, öffentlichen Diskurs. Der kantische Wahrheitsbegriffs soll dadurch ›detranszendentalisiert‹ werden (vgl. WuR 186 ff.). Auf der Ebene der praktischen Vernunft verfährt Habermas ähnlich: Er verlegt den internen Rationalisierungsprozess des kategorischen Imperativs in den intersubjektiven Raum zwischen Personen. »Auch die praktische Vernunft entwirft also, wie die theoretische, eine unbedingte synthetische Einheit aller Bedingungen.« (ND 164) In beiden Fällen erhält der Andere als Anderer ein Sprachrohr, durch welches die Andersartigkeit seiner Bedürfnisse und Ansprüche Gehör finden. Dadurch entledigt sich Habermas der bei Kant noch notwendigen empathischen Fähigkeit der Einfühlung, denn der Andere bekennt nun selbst, ob er verstanden wurde. Insgesamt führt die vermittelnde Position der Diskurstheorie im Streit um Einheit und Vielheit zu folgenden zwei Möglichkeiten einer Einbeziehung des Anderen: a. Der Andere muss nicht unterdrückt werden, sondern gerade die Differenz seiner Perspektive ist essentiell, um eine möglichst umfassende gemeinsame Perspektive zu erreichen. Er ist also aufgefordert zu sprechen und sich aktiv an der Konsens- bzw. Wahrheitssuche zu beteiligen. b. Die Verlagerung einer Internalisierung der anderen Perspektive in einen äußeren, öffentlichen Raum gibt dem Anderen außerdem die Möglichkeit selbst zu bekennen, wann und ob er »richtig« verstanden wurde. Dadurch wird eine bloße Einfühlung in den Anderen übersteigert. Natürlich setzt sich die Wahrheitstheorie hierdurch einem zweiseitigen Beschuss aus: Für die Objektivisten ist der Verfahrensbegriff der kommunikativen Vernunft zu schwach, weil der Inhalt der Wahrheit selbst als kontingent begriffen wird. Für die Kontextualisten ist der Begriff dagegen zu stark, weil für sie die verschiedenen Welten per se inkommensurabel sind und dadurch ein echtes Verstehen bzw. ein Kon97 https://doi.org/10.5771/9783495860601 .
Jürgen Habermas: Kommunikative Vernunft
sens unmöglich ist (vgl. ND 154). Das Problem besteht im Falle des Relativismus insbesondere darin, dass »die Vernunft kaleidoskopisch in die Mannigfaltigkeit inkommensurabler Verkörperungen zerfällt, wenn auch noch die reflexiven Tätigkeiten des Geistes in den grammatischen Grenzen jeweils einer, nämlich ihrer sprachlich konstituierten Sonderwelt gefangen bliebe« (ND 174). Die Frage ist, wie ein gemeinsames Referenzsystem angesichts eines auf solche Weise zerfallenen Vernunftbegriffs überhaupt erreicht werden kann. Habermas unterscheidet hier zwischen der Unbedingtheit der kontextüberschreitenden, transzendierenden Geltungsansprüchen einerseits und der Faktizität der kontextabhängigen und handlungsrelevanten Ja/Nein-Stellungnahmen vor Ort andererseits. 159 Diese Unterscheidung kehrt in der kommunikativen Alltagspraxis in Form von Gemeinsamkeitsunterstellungen wieder, denn wir unterstellen jeder Kommunikation, dass wir uns – zumindest in Teilen – auf ein und dieselbe Welt beziehen (vgl. ND 182). Kritisierbare Geltungsansprüche und regulative Ideen wie Richtigkeit, Wahrheit, Verständlichkeit, Gerechtigkeit, Eindeutigkeit, Wahrhaftigkeit oder Zurechnungsfähigkeit hinterlassen in dieser Alltagswelt ihre Spuren im Sinne »heuristischer Vernunftideen« (vgl. ND 183). Sie verhelfen den Situationsdeutungen, welche die Beteiligten aushandeln, zu Einheit und Zusammenhang. Nicht mehr, aber auch nicht weniger strebt Habermas auf praktischer Ebene mit seiner Diskurstheorie der Wahrheit an. Hinter dem Einwand der Kontextualisten versteckt sich jedoch noch ein weiterer Aspekt: Das Nichtidentische oder Andere soll vor dem Einheitsdenken der Vernunft bewahrt werden. Habermas kommt diesem Einwand jedoch bereits in seiner Theorie des kommunikativen Handelns zuvor, indem er Vernunft nicht auf eine Zweckrationalität reduziert, sondern als kommunikative Vernunft begreift, welche die verschiedenen Aspekte umspannt. Damit bildet die Idee der kommunikativen Vernunft den eigentlichen Brennpunkt der unterschiedlichen Perspektiven in der Debatte um Einheit und Vielheit bzw. der Möglichkeit oder Unmöglichkeit interkulturellen Verstehens. 160 Sie wird deshalb im folgenden Kapitel eingehend dargestellt werden.
159 Hiermit verweist Habermas natürlich auf Kant und erinnert an die Trennung zwischen mundus intelligibilis und mundus sensibilis. 160 Sowohl der Vernunftbegriff als auch die Auswirkungen desselben auf den Zusam-
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d.
Verhältnis von Individuum und Gesellschaft: Verschränkung von Andersheit und Ähnlichkeit Inwiefern dekonstruiert die Diskurstheorie die Dichotomie von Einheit und Vielfalt, Selbem und Fremdem, Individuum und Kollektiv? Ideengeschichtlich hält die Philosophie für das Individuelle grundsätzlich private Begriffe bereit: wie z. B. das Seiende bei Platon, die Erkenntnis bei Kant oder der Aussagesatz bei Putnam. Das heißt, dass ihr propositionaler Gehalt privilegiert und mit der Idee des Verständlichen gleichgesetzt wird. Die Existenzphilosophie setzt dem die Idee der Einzig- und Andersartigkeit entgegen. 161 Habermas versucht nun die Begriffe der Bewusstseinsphilosophie mit dem Vokabular des amerikanischen Philosophen und Psychologen George Herbert Mead zu ersetzen. Kern seiner Theorie ist, dass der reflexive Selbstbezug als Resultat einer gegenseitigen Perspektivenübernahme gesehen wird, d. h. nicht auf einen inneren Diskurs reduziert werden kann (vgl. ND 153–186). 162 Die Begriffe von Individuum und Gesellschaft existieren daher nur in folgender gegenseitiger Verschränkung: Einerseits gehören Ego und Alter über die kommunikative Verständigung einer gemeinsamen Lebenswelt an, andererseits ist die Lebenswelt ein Resultat der kommunikativen Verständigung zwischen getrennten Individuen. In diesem Kontext übernimmt die Diskurstheorie die Rolle der kommunikativen Vermittlung. Sie trägt damit sowohl zur Konstitution eines kollektiven Bewusstseins, im Sinne einer gemeinsamen Interpretation fraglich gewordener Lebensweltaspekte, als auch zu einer vollen Entfaltung der Einzigartigkeit des Einzelnen bei (vgl. ND 184). »In kommunikativen Bildungsprozessen formen und erhalten sich die Identität des Einzelnen und die des Kollektivs gleichursprünglich.« (EzD 15) Auf der Ebene der Moralphilosophie ergibt sich eine ähnliche Verschränkung, welche in der grundsätzlichen Verletzlichkeit von Individuen wurzelt und deshalb die Rechte des Individuums nicht ohne das menhang von kulturellem Verstehen, Individualisierung und Gesellschaft werde ich im nächsten Kapitel näher ausführen. 161 Kierkegaard beschreibt diese Einzigartigkeit aus der biographischen Perspektive, welche der Einzelne nur gegenüber sich selbst einlösen kann. 162 Ich werde im Kontext der kommunikativen Vernunft Habermas’ Bemühen der Überwindung der Bewusstseinsphilosophie mit Hilfe des Vokabulars von Mead noch genauer ausführen. In diesem Kontext geht es mir lediglich um die Rolle der Diskurstheorie im Kontext des Verhältnisses zwischen Individuum und Gesellschaft.
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Jürgen Habermas: Kommunikative Vernunft
Wohl der Gemeinschaft geschützt werden können: Der Begriff der Gerechtigkeit umfasst die subjektiven Freiheiten des grundsätzlich unvertretbaren Individuums, welches in seiner absoluten Andersheit anerkannt wird. Der Begriff der Solidarität zielt hingegen auf das Wohl einer intersubjektiv geteilten Lebensform und der Gleichheit aller (EzD 16, EdA 56 ff.). »Der Aspekt, dass alle Personen gleich sind, darf nicht auf Kosten des anderen Aspekts, dass sie als Individuen von allen anderen zugleich absolut verschieden sind, zur Geltung gebracht werden. Der reziprok gleichmäßige Respekt für jeden, den der differenzempfindliche Universalismus verlangt, ist von der Art einer nicht-nivellierenden und nicht beschlagnahmenden Einbeziehung des Anderen in seiner Andersheit.« (EdA 58) Aus diesem Grund kritisiert Habermas auf der Ebene der Rechtssetzung, dass die intersubjektive Verschränktheit von Individuum und Kollektiv zu wenig Beachtung findet. Er fordert dagegen, dass ein »Rechtskonzept der Integrität des Einzelnen und seinen subjektiven Freiheiten gleiches Gewicht beimisst wie der Integrität der Gemeinschaft, weil sich erst dadurch die Einzelnen zugleich als Individuen und als Mitglieder wechselseitig anerkennen können« (EdA 281). Als Fazit lässt sich schließen, dass die Verschränkung von Kollektiv und Individuum essentiell auf die Notwendigkeit eines veränderten Vernunftbegriffs verweist, d. h. ein Verständnis von Vernunft, welches den Einzelnen nicht mehr bewusstseinsphilosophisch im Begriff der Monade abschließt, sondern ihn vielmehr in seiner Andersartigkeit einbezieht. 163 Erst über die Perspektive des Anderen wird dem Einzelnen eine reflexive Beziehung zu seinen Äußerungen sowie zu sich selbst als Person ermöglicht. Oder in anderen Worten: Erst die gegenseitige Perspektivenübernahme führt zum Selbstbewusstsein des Einzelnen. Damit ist die Perspektive des Anderen immer schon ein Teil meiner »eigenen« Interpretation der Welt. »In der Kommunikation, und das ist der alles entscheidende Grundgedanke von Habermas, ist
163 »Die Option für den langfristigen Ausstieg aus Kontexten verständigungsorientierten Handelns und damit aus kommunikativ strukturierten Lebensbereichen bedeutet den Rückzug in die monadische Vereinsamung strategischen Handelns – er ist auf Dauer selbstdestruktiv.« (J. Habermas, in: W. Lieth, M. Buber und J. Habermas, Krise, Dialog und Kommunikation, Konstanz 1988, Umschlagcover).
100 https://doi.org/10.5771/9783495860601 .
Die dreifache »Einbeziehung des Anderen«
jede Subjektivität von vorneherein dezentriert. In der Kommunikation ist der Andere immer schon inkludiert.« 164
1.3.3 Kommunikative Vernunft a.
Konfliktlinien
Die Idee der Rationalität bzw. der Vernunft hat eine lange Begriffsgeschichte. Eine erste Assoziation geht zurück auf den griechischen logos-Begriff; 165 d. h. auf die Abgrenzung der objektiven Einsicht vom Mythos oder der sinnlichen Wahrnehmung. Im Mittelalter kommt die Unterscheidung zwischen übersinnlicher Erkenntnis (intellectur), dem diskursiven und dem schlussfolgernden Denken hinzu. Mit Kant entfaltet der Vernunftbegriff seine beiden Gesichter, nämlich der reinen und der praktischen Vernunft. Und durch die Bewusstseinsphilosophie (von Descartes bis Husserl) entledigen sich die Vernunft und das Denken endgültig aller öffentlichen Diskursivität und werden auf die private Tätigkeit des Geistes reduziert. 166 Erst Wittgenstein hebt die Bedeutung der intersubjektiv geteilten Umgangssprache für das Denken hervor. Durch Peirce bzw. Dewey erlangt die Vernunft schließlich ihr argumentativ-diskursives Moment zurück. Auf dieser Grundlage kann ihre geschichtlich-kulturelle Relativität neu thematisiert werden. Die Neuzeit ist geprägt vom Bewusstsein der Zweckrationalität. Allen voran hat Max Weber auf das Handeln hingewiesen, das »nach Zweck, Mitteln und Nebenfolgen [agiert,] […] dabei werden die Mittel gegen die Zwecke, wie die Zwecke gegen die Nebenfolgen, wie endlich auch die verschiedenen möglichen Zwecke gegeneinander rational abgewägt.« 167 Diese Definition bildet den Ausgangspunkt für Webers
H. Brunkhorst, Habermas, Leipzig 2006, 28. Als Quelle der folgenden Darstellung diente das Historische Lexikon der Philosophie. Die Darstellung wurde an verschiedenen Stellen für den Zweck dieser Arbeit ergänzt, insgesamt natürlich stark gekürzt und modifiziert. 166 Obgleich Hegel natürlich die Vernunft als eine in gesellschaftlichen Institutionen veräußerte und objektive Vernunft hervorhebt (vgl. u. a. Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, in: Werke in zwanzig Bänden (Theorie Werkausgabe), neu ediert, Red. E. Moldenhauer u. K. M. Michel, Bd. 7, Frankfurt am Main 1970). 167 M. Weber, Gesammelte Aufsätze der Wissenschaftslehre, Tübingen 1973, 566. 164 165
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Jürgen Habermas: Kommunikative Vernunft
Kritik, die abendländische Kultur zeichne sich durch eine Ausdehnung der Zweckrationalität auf sämtliche Lebensbereiche aus. 168 Adorno und Horkheimer greifen diesen Gedanken auf und beschreiben den »Verfall« der Vernunft zum Mittel der Selbsterhaltung. Hierdurch verwandelt sich die Welt der Selbstzwecke in eine Welt der bloßen Mittel. Im Resultat ergreift die Verselbständigung technischökonomischer Mittel die Herrschaft über die menschlichen Zwecke und mündet später in die Technokratiedebatte. 169 Als problemgeschichtliche Eckpunkte des postmodernen Vernunftskeptizismus gelten Nietzsche, Heidegger, Bataille, Foucault, Derrida, Lyotard und Castoriadis. Vernunft wird als »Wille zur Macht« degradiert und mit einer erneuten westlichen Kolonialisierung, dieses Mal auf ideeller Ebene, gleichgesetzt. Habermas gibt in Der philosophische Diskurs der Moderne jedoch zu bedenken, dass einer radikalen Vernunftkritik nichts anderes übrig bleibt, als selbst einen transzendenten Standpunkt der Macht zu beziehen (vgl. pDM 149 ff.). Eine solche Kritik kann daher nicht als »postmodern«, sondern allenfalls als Rückfall in eine Vormoderne bezeichnet werden, da sich solche »Heilsbotschaften« jeder demokratischen Kontrolle entziehen (vgl. pDM 390 f.). 170 In der Theorie kommunikativen Handelns verfährt Habermas deshalb zunächst soziologisch und führt die soziokulturelle Integration früherer Gesellschaften auf deren jeweilige Glaubenspraktik zurück. Im Gegensatz hierzu sieht er die kulturelle und gesellschaftliche Rationalisierung von Traditionen als reflexive Verflüssigung der Lebenswelten. Daraus leitet er schließlich seine entscheidende Frage ab, nämlich: Wie sind im Zuge des fortschreitenden Rationalisierungsprozesses neue soziokulturelle Integrationsformen zu finden? Integrationsformen, welche sich einerseits von der klassenantagonistisch-anarchischen Integration durch das kapitalistische Wirtschafts- und Staatssystem unterscheiden171 und andererseits eine klare Alternative zum
168 Sicherlich hat das Primat der Subjektphilosophie mit ihrer Vorstellung eines monadischen Subjekts sein Übriges getan, um den Vernunftbegriff auf die Idee der Instrumentalität zu reduzieren. 169 M. Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, Frankfurt 1967. 170 Vgl. hierzu die Auseinandersetzung Habermas’ mit emotionalen Ansätzen der Moraltheorie; in dieser Arbeit unter dem Punkt der Diskurstheorie. 171 Vgl. Habermas, TkH II 171 ff.
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Die dreifache »Einbeziehung des Anderen«
radikalen Abschied von der Vernunft als solche darstellen. 172 Ziel ist, dass auch komplexe Gesellschaften eine gemeinsame Identität generieren. Hierfür muss Habermas einen Zusammenhang zwischen demokratischer Willensbildung, gemeinsam vollzogenen Lernprozessen und kollektiven Identitäten, d. i. eine Verschränkung von deliberativer Demokratie, Diskursprinzip und kommunikativer Vernunft, herstellen. Dabei bildet die »[…] kritisierende Vernunft, die sich in jedem Stadium der gesellschaftlichen und kulturellen Rationalisierung den Widersprüchen neu stellt, um diese in öffentlich kommunikativen Lernprozessen auszutragen«, in Habermas’ Konzeption den »problemgeschichtlichen Generator«. 173 b.
Charakteristika der kommunikativen Vernunft
Entwicklungslinien und Rezeptionsgeschichte Die Idee der kommunikativen Vernunft ist vielfach rezipiert worden und die einzelnen Beiträge können an dieser Stelle nicht alle genannt werden. Als eine der wichtigsten Diskussionsgrundlagen gilt jedoch das von Honneth und Joas 1986 (3. aktualisierte und erweiterte Ausgabe 2002) herausgegebene Buch Kommunikatives Handeln, welches kurze Zeit nach der TkH erschienen ist. 174 Spezifisch zur kommunikativen Vernunft äußern sich darin Seel, Dux und Krüger. Letzterer präsentiert im Jahre 1990 eine umfassende Kritik der kommunikativen Vernunft in seiner gleichnamigen Habilitationsschrift. 175 Eine der aktuellsten Darstellungen der kommunikativen Vernunft findet sich bei H. Brunkhorst (2006). Weitere umfassendere wissenschaftliche Arbeiten, welche sich explizit mit dem Begriff der kommunikativen Vernunft beschäftigen, sind von Steinhoff (2006), Balkenhol (1991) oder auch von Pojana (1985) angefertigt worden – jedoch mit sehr spezifischem Fokus und unterschiedlicher wissenschaftlicher Qualität. Bonacker diskutiert 1997 aus politikwissenschaftlicher Perspektive die Pole von Konsens und Konflikt in Auseinandersetzung mit Habermas und Vgl. zu dieser Thematik auch die Aufsätze in Habermas pDM. H.-P. Krüger, Kritik der kommunikativen Vernunft, Berlin 1990, 365; vgl. auch Habermas, pDM 65 ff. 174 Im Anhang des Buches findet sich eine umfassende und seit der Erstausgabe erweiterte Bibliographie sämtlicher Sekundärliteratur zu Habermas. 175 In einer Fußnote auf Seite 368 der Habilitationsschrift liefert Krüger eine umfassende Darstellung der ersten Rezeptionsrunde der kommunikativen Vernunft. 172 173
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Luhmann. Ein eher linkshegelianisches Verständnis der Vernunft bei Habermas liefert Roderick (1989). Göller (2000) diskutiert hingegen das Problem des Kulturverstehens und kritisiert u. a. Habermas’ Ansatz, nimmt jedoch nicht spezifisch auf die kommunikative Vernunft Bezug, sondern beschränkt sich auf die Begriff des Sinnverstehens und den universellen Anspruch von Geltungsansprüchen. 176 Noch hilfreicher und spannender ist es jedoch, Habermas’ eigenen Modifikationen seiner Theorie als Antwort auf verschiedene kritische Einwände zu folgen: Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln (1984) hebt nochmals prägnant die wichtigsten Akzente der Theorie kommunikativen Handelns hervor. Der philosophische Diskurs mit der Moderne (1985) interpretiert Nietzsche als Drehscheibe der Postmoderne und setzt sich detailliert mit der neostrukturalistischen Vernunftkritik auseinander. Die »Entgegnungen« in dem Sammelband Kommunikatives Handeln können als direkte Antwort auf die Einwände und Anregungen von außen gesehen werden. Hier findet sich auch ein Kapitel zur Idee der kommunikativen Vernunft. Das philosophische Grundgerüst wird im 1988 veröffentlichten Buch Das nachmetaphysische Denken voll ausgearbeitet. Insbesondere der Teilbereich zur Vernunftkritik ist von zentraler Bedeutung. Die Erläuterungen zur Diskursethik (1991) enthalten Hinweise zur praktischen Vernunft sowie zur Bedeutung der kommunikativen Vernunft für die Moraltheorie. Faktizität und Geltung (1992) enthält im Anfangsteil des ersten Kapitels weitere wichtige Hinweise für die Bedeutung der kommunikativen Vernunft und des Prinzips der Öffentlichkeit innerhalb seiner politischen Theorie. In seinem Aufsatz Anerkennungskämpfe im demokratischen Rechtsstaat 177 wird erneut der individualistische Zug subjektiver Rechte diskutiert. Das Primat des Subjekts in der Subjektphilosophie wird durch den Begriff der vermittelnden Intersubjektivität aufgelöst. In der Einbeziehung des Anderen (1996) wird diskutiert, inwiefern die Andersheit des Anderen durch die kommunikative Vernunft Anerkennung findet. In dem Buch Vom sinnlichen Eindruck zum symbolischen Ausdruck (1997) diskutiert Habermas in Auseinander176 Diese Darstellung bezieht sich allerdings lediglich auf einen kleinen Ausschnitt der breiten Rezeptionsgeschichte der TkH seit 1985. Denn im deutschen Sprachraum erscheinen jährlich durchschnittlich 8–10 Bücher über Habermas. 177 In: Ch. Taylor, Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, Frankfurt am Main 1993.
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Die dreifache »Einbeziehung des Anderen«
setzung mit Jaspers den Kampf zwischen den Glaubensmächten im Konflikt zwischen Kulturen, wodurch die kommunikative Vernunft einen weiteren praktischen Anwendungsbereich erhält. Schließlich enthält sein neueres Buch Wahrheit und Rechtfertigung (1999) einen wichtigen Beitrag zur Modifizierung des Begriffs der kommunikativen Vernunft als Antwort auf die Einwände Schnädelbachs. Seine nach 2009 entstandenen Schriften zum Thema wie z. B. Philosophische Texte, 5 Bände (2009) und Nachmetaphysisches Denken II. Aufsätze und Repliken (2012) konnten nur mehr bruchstückhaft und im Nachhinein in die folgenden Ausführungen eingearbeitet werden. Vorgehensweise Mit der Thematisierung der Vernunft spricht Habermas das Grundthema der Philosophie an: »Wenn den philosophischen Lehren etwas gemeinsam ist, dann die Intention, das Sein oder die Einheit der Welt auf dem Wege einer Explikation der Erfahrungen der Vernunft im Umgang mit sich selbst zu denken« (TkH I 15). Zweckrationalität und Vernunftkritik lassen sie schließlich ins Zentrum des Diskurses zwischen Moderne und Postmoderne rücken. Und obgleich sich Habermas der Tradition der Frankfurter Schule verpflichtet weiß, folgt er Adorno und Horkheimer in einem Punkt nicht: Nämlich dem Glauben, dass die Rationalisierungsprozesse der Gesellschaft etwas Negatives darstellen. Vielmehr hält er diese Kritik für eine Fehleinschätzung und Reduktion der Vernunft auf den von Weber geprägten Begriff der Zweckrationalität. Ausgehend von der aktuellen Debatte um verschiedene Vernunftbegriffe, wird im Folgenden Habermas’ Argumentationslinie entlang der zentralen Einwände gegen die Menschenrechtskonzeption dargestellt: Aus diesem Grund beginne ich bei der phänomenologischen Problematisierung eines gemeinsamen Lebenszusammenhangs, welcher die Notwendigkeit eines konsensualen und realitätsstiftenden Vernunftbegriffs verdeutlicht (a). Ein daraus resultierender Universalitätsanspruch des Vernunftbegriffs verweist jedoch auf das problematische Verhältnis von Macht und Vernunft. Dem entgeht Habermas durch die Explikation verschiedener Vernunftbegriffe, welche in der kommunikativen Vernunft konvergieren (b). Damit wird die Vernunft nicht mehr nur als Resultat synthetisierender Akte eines monadisch abgeschlossenen Subjekts gesehen, sondern entsteht im intersubjekti105 https://doi.org/10.5771/9783495860601 .
Jürgen Habermas: Kommunikative Vernunft
ven Raum zwischen Menschen. Dieser Zug entkräftet das individualismuskritische Argument anderer Kulturen und wehrt im selben Augenblick die westliche Kritik ab, die Vernunft würde das Andere auf das Eigene reduzieren (g). Zugleich versucht Habermas durch eine intersubjektivistische Rekonstruktion des Subjektbegriffs den dichotomen Konflikt zwischen Individuum und Gesellschaft zu entschärfen (d). Schließlich kann die Theorie der kommunikativen Vernunft als Rettungsversuch gedeutet werden, den postmodernen Relativismus vor dem Fall in eine »emotivistische Vormoderne« zu bewahren. Hiermit schlägt Habermas einen Mittelweg zwischen Objektivismus und Relativismus ein (e). 178 Aus dieser Darstellung ergibt sich die These, dass die kommunikative Vernunft in der phänomenologischen Infragestellung der vorgegebenen Lebenswelt ihren Ausgang findet. Der kommunikative Paradigmenwechsel führt sie jedoch weg von der Subjektphilosophie und hinein in die Intersubjektivität von Wahrheitsgehalten. Damit bezieht sie den Blick des Anderen immer schon mit ein. Dieser Perspektivenwechsel macht fernerhin deutlich, dass die Konzeption einer kommunikativen Vernunft bereits in ihrem Kern empathische Züge enthält. Das heißt, die unreflektierte, einmalige und rein emotivistische Einfühlung wird durch ein öffentliches und empirisch überprüfbares Verfahren eines Perspektivenwechsels ersetzt. a. Phänomenologische Ausgangssituation Habermas unterscheidet zunächst zwischen zwei Handlungsweisen: 179 Das teleologische Handeln verfolgt einen bestimmten Zweck. Das heißt, jemand handelt rational, wenn er die Mittel, welche er für den Erfolg seiner Handlung einsetzt, begründen kann. Den Geltungsanspruch der Wirksamkeit kann er durch den Erfolg seiner Handlung einlösen. 178 Sowohl Kant als auch Habermas reglementieren ein Verfahren, dessen Inhalte als kontingent gelten. Dies wirft natürlich die Frage auf, ob die Hegel’sche Kritik an der inhaltlichen Abstraktion des kategorischen Imperativs auch für die Diskursethik zutrifft (vgl. hierzu Habermas, EzD 9 ff.). 179 In der vorläufigen Begriffsbestimmung der TkH zieht Habermas eine enge Verbindung zwischen Wissen und Rationalität. Es geht ihm weniger um ein »Haben von Erkenntnis« (vgl. TkH 25), sondern vielmehr um den prozeduralen Erwerb und die Verwendung eines solchen Wissens. Damit schließt er sich an das pragmatische Verständnis von Rationalität von Peirce und Dewey an.
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Die dreifache »Einbeziehung des Anderen«
Dagegen strebt das kommunikative Handeln nach einer Einigung über etwas, das in der Außenwelt erscheint. Natürlich können die jeweiligen Interpretationen des Erscheinenden angezweifelt werden. Eine Sprechhandlung wird jedoch dann als rational anerkannt, wenn der Handelnde mit Gründen die Wahrheit seiner Aussage behaupten kann. Im ersten Fall geht der Handelnde von einer real existierenden Außenwelt aus, darin er etwas zu seinem Zwecke bewirken möchte, d. h., es besteht eine Beziehung zwischen einer Außenwelt und einem Subjekt. Letzteres wirkt manipulativ auf das Objekt dieser Außenwelt ein. Im Falle des kommunikativen Handelns geht es um die gegenseitige Versicherung bezüglich eines Zustands in einer Außenwelt, welcher seinen objektiven Gehalt erst durch die intersubjektive Beziehung zwischen Subjekten erhält. In beiden Fällen setzt Vernunft bei dem propositionalen Wissen und der objektiven Welt an. Der Unterschied besteht jedoch in der Art der Verwendung dieses Wissens: Das strategische Handeln zielt auf eine instrumentelle Verfügung, das kommunikative Handeln auf kommunikative Verständigung. Die Möglichkeit des Irrtums besteht in beiden Fällen. Dagegen gilt eine Aussage als objektiv, wenn sie einem transsubjektiven Geltungsanspruch genügt, d. h. für jeden beliebigen Beobachter oder Adressaten dieselbe Bedeutung hat. 180 Aus dem Gesagten folgert Habermas nun zwei paradigmatische Realitätsauffassungen: die »realistische« und die »phänomenologische«. 181 Der Realist geht von der ontologischen Voraussetzung der Welt aus, d. h. dem »Inbegriff dessen, was der Fall ist« (TkH I 30). Auf dieser Grundlage erklärt sich die Vernünftigkeit eines Verhaltens. Der Phänomenologe macht hier eine transzendentale Wendung, indem er erkennt, dass rationales Verhalten immer schon von der Objektivität der Welt ausgeht. Eine solche Anerkennung der Lebenswelt als präreflexive Sinnstruktur stellt in diesem Sinne die objektive Interpretation einer solchen Außenwelt in Frage. »Objektivität gewinnt die Welt erst dadurch, dass sie für eine Gemeinschaft sprach- und handlungsfähiger Subjekte als ein und dieselbe Welt gilt.« (TkH I 31) Für den PhänoVgl. hierzu Habermas, TkH I 25–30. Natürlich sieht Habermas beide Begriffe als Vereinfachungen, welche lediglich auf das Reflexivwerden von Lebensweltstrukturen hindeuten. Nur der »Phänomenologe« kann durch sein kommunikatives Handeln thematisieren, was vom Realisten unreflektiert übernommen wird. 180 181
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menologen muss daher zunächst geklärt werden, unter welchen Bedingungen sich die Welt für Angehörige einer Kommunikationsgemeinschaft zu einer objektiven Einheit konstituiert. Nach Husserl bewegt sich der intentionale Charakter des Bewusstseins immer schon innerhalb eines endlosen Horizonts an Erfahrungen. Daher ist die gemeinsame Welt nicht die Ansammlung fertiger Gegenstände, sondern das Korrelat eines Gesamthorizonts sinnstiftender Subjekte. Die Lebenswelt bildet das »vorurteilende« und implizite Hintergrundwissen einer noch unproblematischen Verständigung. 182 Dieser »Lebensweltbegriff« fand durch Schütz auch Eingang in die Soziologie und stellt den Ausgangspunkt für die Notwendigkeit kommunikativen Handelns dar: Er umfasst die Teilnehmerperspektive kommunikativ handelnder Subjekte, welche sich immer schon vor dem Horizont gemeinsamer Sinnstrukturen verständigen. Die Lebenswelt kennzeichnet daher denjenigen »transzendentalen Ort, an welchem sich Sprecher und Hörer begegnen« (TkH I 31 ff.). Sie ist den Subjekten fernerhin gegeben und kann nur in Ausschnitten problematisiert werden. Ihre Gewissheit verdankt sie der Intersubjektivität von a priori Annahmen, welche der sprachlichen Verständigung eingekerbt sind. Sie bildet in diesem Sinne den unhintergehbaren und unerschöpflichen Kontext aller Kommunikationen (vgl. TkH I 198 ff.). Der Lebensweltbegriff bei Habermas dient als Korrelat zu Verständigungsprozessen sowie als Hintergrund und Quelle für Situationsdefinitionen. Angehörige einer Kommunikationsgemeinschaft grenzen ihre intersubjektiv geteilte soziale Welt gegen die subjektiven Welten von Einzelnen sowie von anderen Kulturen ab. In der Lebenswelt speichert sich die Interpretationsarbeit vorhergehender Generationen 183 und liefert damit ein Gegengewicht zu dem stets drohenden Dissens zwischen Individuen. 182 Vgl. zum Lebensweltbegriff, E. Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, Hua VI. Fernerhin: »Es steht in dieser Hinsicht nicht im Wege, zunächst ganz konkret mit unserer menschlichen Lebensumwelt und mit dem Menschen selbst als wesensmäßig auf diese Umwelt bezogenem anzufangen und eben rein intuitiv das überaus reichhaltige und nie herausgestellte Apriori einer solchen Umwelt überhaupt zu erforschen, es zum Ausgang einer systematischen Auslegung der Wesensstrukturen menschlichen Daseins und sich korrelativ in ihm erschließender Weltschichten zu nehmen« (E. Husserl, Cartesianische Meditationen, hg. v. Elisabeth Ströker, Hamburg 1995, § 59). 183 Im Sinne der historischen Deutung Husserls.
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Die Bedeutung und Stabilität der kulturellen Lebenswelt ändert sich jedoch drastisch mit der »Dezentrierung von Weltbildern« in multikulturellen Gesellschaften (vgl. TkH I 107). Hinzu kommt die Kolonialisierung weiter Bereiche der Lebenswelt durch ökonomische und bürokratische Systemrationalität. Problematisch gewordene Teilbereiche der Lebenswelt können nicht mehr durch einen Rückgriff auf die Tradition »gekittet« werden. Ein jeder Dissens stellt damit eine Herausforderung für den lebensweltlichen und vorreflexiven Verstehenshintergrund dar. 184 Hieraus erklärt sich nun die Notwendigkeit eines kommunikativen Handelns, welches zunächst die problematisch gewordenen Lebensweltbereiche thematisiert – natürlich wird hierdurch immer nur ein Teilbereich sichtbar. In einer späteren Veröffentlichung unterscheidet Habermas zwischen drei Ebenen: »a. die Ebene der sprachlichen Artikulation des lebensweltlichen Horizonts, b. die Ebene der Verständigungspraxis innerhalb einer solchen intersubjektiv geteilten Lebenswelt und c. die Ebene der von den Kommunikationsteilnehmern formal unterstellten objektiven Welt als der Gesamtheit der Entitäten, über die etwas gesagt wird« (WuR 132). Jedoch ist nur auf der mittleren Ebene eine »[…] wissenserweiternde und bedeutungsverschiebende Interaktion zwischen Welterschließung und innerweltlichen Lernprozessen möglich« (WuR 132 f.). Um nun zu einer weiteren Klärung des Vernunftbegriffs zu gelangen, müssen zunächst die Bedingungen, unter welchen ein kommunikativer Konsens erzielt werden kann, untersucht werden. In diesem Kontext gelangt Habermas zu einer ersten klaren Definition der kommunikativen Vernunft 185: »Der Begriff kommunikativer Rationalität führt Konnotationen mit sich, die letztlich zurückgehen auf die zentrale Erfahrung der zwanglos einigenden, sinnstiftenden Kraft argumentativer Rede, in der verschiedene Teilnehmer ihre zunächst nur subjektiven Auffassungen überwinden und sich dank der Gemeinsamkeit vernünftig motivierter Überzeugungen gleichzeitig der Einheit der ob-
184 Vgl. hierzu die ausführlichere Darstellung der Problematik im Zusammenhang mit Habermas’ Demokratietheorie. 185 Ich folge hier der einheitlichen Verwendung des Begriffs der »Vernunft«, auch wenn Habermas an dieser Stelle »Rationalität« verwendet. Ich habe diese Begriffsverwendung eingangs erläutert und begründet.
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jektiven Welt und der Intersubjektivität ihres Lebenszusammenhangs vergewissern« (TkH I 28). Der Lebensweltbegriff reflektiert den »vorurteilenden« Sinnhorizont, der vor dem bewussten Verstehen geschieht. Wird dieser Hintergrund problematisch, so wird eine erneute Situationsreflexion nötig. Das zweckrationale Handeln setzt jedoch eine solche objektive Welt immer schon voraus und manipuliert die äußere Welt für eigene Zwecke. Dagegen problematisiert das kommunikative Handeln den intersubjektiven Weltbezug und versucht so zu einer neuen und gemeinsam erzielten Deutung zu gelangen. Im Kontext der globalen Dezentralisierung von Weltbildern sieht Habermas deshalb die kommunikative Vernunft als Alternativprogramm zur reinen Zweckrationalität. Diese Darstellung macht deutlich, dass die kommunikative Vernunft durch ihr phänomenologisches Weltverständnis der Zweckrationalität genetisch vorgelagert ist: Sie besitzt die Fähigkeit, die Lebenswelt auch in problematisch gewordenen Situationen – siehe am Beispiel der Menschenrechte – wieder zu »heilen« bzw. eine soziale Integration zu erzielen. Die Reflexivität des erneuten Einvernehmens führt dabei zu einer bewussten Identifikation mit der vorgenommenen Neuinterpretation. Vernunft in diesem Sinne bemisst sich am Erfolg von bewussten Verständigungsprozessen zwischen aktuell anwesenden Kommunikationsteilnehmern. »Diese kommunikative Rationalität drückt sich in der einigenden Kraft der verständigungsorientierten Rede aus, die für die beteiligten Sprecher gleichzeitig eine intersubjektiv geteilte Lebenswelt und damit den Horizont sichert, innerhalb dessen sich alle auf ein und dieselbe objektive Welt beziehen können.« (WuR 110) Es kann deshalb geschlossen werden, dass die kommunikative Vernunft m. E. eine objektivitätsstiftende Funktion im Sinne der Phänomenologie darstellt. 186 b.
Gegen die Vormacht der Zweckrationalität: Erweiterung des Vernunftbegriffs Habermas will eine Theorie entwickeln, welche trotz der Desintegration der Lebensweltstrukturen die Vernünftigkeit von Handlungen be186 E. Fink beschreibt »objectivity of objects by the character […] of intersubjectivity.« Discussions – Contents by Eugen Fink on Alfred Schütz’s Essay, ›The Problem of Transcendental Intersubjectivity in Husserl‹, in: Alfred Schütz, Collected Papers III, hg. v. I. Schütz, Phaenomenologica, No. 22, The Hague 1966, 86.
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schreiben und kritisieren kann. Weil sich für einen Phänomenologen die Vernünftigkeit einer Handlung nur in Relation zu einem Lebenswelthintergrund ergibt, muss zunächst ein solcher Hintergrund wiederhergestellt werden. Und obgleich sich Habermas seinen Lehrern der Frankfurter Schule verpflichtet fühlt, beginnt seine Kritik bei Adornos und Horkheimers Rationalitätsskeptizismus: Er weist nach, dass deren bewusstseinsphilosophische Argumente sich in Widersprüche verstricken und eine Reduktion der Vernunft auf die Zweckrationalität zur Folge haben. Ideengeschichtlich hält Habermas deshalb grundsätzlich an Max Webers Rationalisierungsbegriff fest, möchte diesen jedoch kommunikationstheoretisch erweitern. 187 Aus diesem Grund fügt Habermas der instrumentellen Vernunft die moralische sowie die ästhetische Vernunft bei. Alle drei Vernunftarten konvergieren jedoch in einem vierten Typus, nämlich der kommunikativen Vernunft. 188 Ich werde im Folgenden die verschiedenen Rationalitätsformen, Handlungs- und Weltbezüge sowie deren Geltungsansprüche kurz darstellen und zueinander in Beziehung setzen. Die kognitiv-instrumentelle Rationalität äußert sich in einem teleologischen Handeln innerhalb der »objektiven Welt« der »Sachverhalte«. Sie bestimmt die Auswahl aus verschiedenen Handlungsalternativen, welche als Mittel zur Erreichung eines spezifischen Zweckes dienen. 189 Ihr Ziel ist die Optimierung des egozentrischen Nutzenkalküls, da jeder auf den eigenen Erfolg ausgerichtet ist. Andererseits ist dieser Erfolg von anderen Faktoren abhängig. Als konstativen Sprechakt begründet die kognitiv-instrumentelle Rationalität ein wissendes und reflektiertes Verhalten zur gezielten Beeinflussung der Umwelt. Insofern gilt der Sprechakt als perlokutionär, weil sein Ziel die bewusste Beeinflussung der objektiven Welt bzw. der Kommunikationsteilnehmer ist. Der Geltungsanspruch der kognitiv-instrumentellen Rationalität ist die Wahrheit innerhalb einer als »objektiv« geltenden Welt. 190 187 Reese-Schäfer bezeichnet den Übergang von Weber zu der Theorie kommunikativen Handelns als den »große[n] philosophische[n] Paradigmenwechsel von der Bewusstseins- zur Sprachphilosophie.« W. Reese-Schäfer, Jürgen Habermas, a. a. O., 58. 188 Vgl. Habermas, TkH I. 189 Vgl. hierzu weiter oben die Ausführungen zum »Objektivisten« und dem »teleologischen Handeln«. 190 Obgleich ich an dieser Stelle mit einem Vergleich Kants vorsichtig sein möchte, schlage ich vor, diese Art der Rationalität am ehesten der theoretischen Vernunft zuzu-
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Als zweite Rationalitätsform nennt Habermas die moralischpraktische Rationalität, welche sich in einem regulativen Sprechakt äußert. Im Sinne eines normenregulierten Handelns bezieht sich die moralisch-praktische Rationalität nicht nur auf das Verhalten eines singulären Akteurs, sondern auf »die Mitglieder einer sozialen Gruppe, welche ihr Handeln an gemeinsamen Werten orientieren« (TkH I 127). Normen bezeichnen die in einer Gruppe übereingekommene Verhaltensweisen. Daher sind die Angehörigen der Gruppe zur Erwartung des entsprechenden Verhaltens »berechtigt« (vgl. TkH I 127): Damit sind grundsätzlich zwei Welten involviert, nämlich die objektive und die soziale Welt. Die moralisch-praktische Rationalität soll nun mit Gründen belegen, dass das gezeigte Verhalten in einer gegebenen Situation den normativen und gesellschaftlich verankerten Verhaltenserwartungen bzw. der normativen Richtigkeit entspricht. 191 Ihr Ziel ist der Fortbestand kultureller Werte sowie die Bestätigung von Verhaltenserwartungen. Die praktisch-ästhetische Rationalität umfasst den subjektiven Weltbezug und bezeichnet die Selbstdarstellung der Akteure. Dabei sind die Interaktionsteilnehmer füreinander ein Publikum, vor welchem sie sich präsentieren. Diese Selbstrepräsentation bedeutet für Habermas kein spontanes Ausdrucksverhalten, sondern eine »zuschauerbezogene Stilisierung des Ausdrucks eigener Erlebnisse« (TkH I 128). Eine solche ästhetisch-praktische Rationalität äußert sich in einem expressiven Sprechakt und beansprucht für ihre Aussage Wahrhaftigkeit. Dieser Geltungsanspruch kann jedoch nicht in der kommunikativen Situation selbst eingelöst werden, sondern in der Weise, dass jemand aus einem Wunsch oder einem Gefühl praktische Konsequenzen für sein Handeln zieht. Der Weltbezug ist ein subjektiver. Das Ziel dieser Rationalität ist die Selbstinszenierung 192 und sie entspricht bei Kant am ehesten der ästhetischen Urteilskraft. Die kommunikative Vernunft bezieht sich schließlich auf die sprachliche »Interaktion von mindestens zwei sprach- und handlungsfähigen Subjekten«, die »eine Verständigung über die Handlungssituaordnen. Grundsätzlich geht es um die Wahrheit einer objektiven äußeren Welt, in der der Erfolg von zweckrationalen Handlungen glücken oder misslingen kann. 191 In Auseinandersetzung mit Kant kann sie am ehesten der praktischen Vernunft zugeordnet werden. 192 Die praktisch-ästhetische Rationalität entspricht bei Kant am ehesten der ästhetischen Urteilskraft.
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tion« suchen, »um ihre Handlungspläne und damit ihre Handlungen einvernehmlich zu koordinieren« (TkH I 128). 193 Warum aber bildet die kommunikative Vernunft die Einheit aller vorherigen Vernunftarten? Im teleologischen Handlungsmodell ist der Akteur bereits inmitten der objektiven Welt, welche als solche unhinterfragt angenommen wird. Er handelt rational, insofern er im Nachhinein die Mittel seiner Wahl begründen kann. Die moralisch-praktische Vernunft wird relevant in der sozialen Welt. Sie begründet, wie und auf welche Weise sich ihr Verhalten an bestimmte Verhaltenserwartungen anschließt. Die Verhaltenserwartungen werden jedoch nicht selbst in Frage gestellt. Die ästhetisch-praktische Vernunft dient der wahrhaftigen Selbstdarstellung und bleibt somit innerhalb der Subjektivität der eigenen Welt. Einzig die kommunikative Vernunft macht sich der phänomenologischen Ausgangssituation bewusst: für den »Phänomenologen« 194 ist ein Teilbereich der Lebenswelt fraglich geworden. Daher bedarf er der kommunikativen Vernunft, um die soziale Integration wiederherzustellen. Erst auf dieser Grundlage ist eine rationale Handlung möglich. »Allein das kommunikative Handlungsmodell setzt Sprache als ein Medium unverkürzter Verständigung voraus, wobei sich Sprecher und Hörer aus dem Horizont ihrer vorinterpretierten Lebenswelt gleichzeitig auf etwas in der objektiven, sozialen und subjektiven Welt beziehen, um gemeinsame Situationsdefinitionen auszuhandeln. Dieses Interpretationskonzept der Sprache legt den verschiedenen Bemühungen eine formale Pragmatik zugrunde.« (TkH I 142) Der Grund für die übergeordnete Stellung der kommunikativen Vernunft ist, dass sie die objektiven, sozialen oder subjektiven Welten selbst in Parenthese setzt. Der Handlung geht die gemeinsame Konsensbildung über die vorliegende Situation voraus. Die kommunikative Praxis, die vor dem Hintergrund einer Lebenswelt praktiziert wird, ist »[…] auf die Erzielung, Erhaltung und Erneuerung von Konsens angelegt, und zwar eines Konsenses, der auf der intersubjektiven Anerkennung kritisierbarer Geltungsansprüche beruht« (TkH I 37). Von der 193 Das kommunikative Handeln stellt keineswegs den »Normalfall kommunikativer Alltagspraxis« dar, was es schwer macht, es als allgemeingültig nachzuweisen. Um diesen Nachweis zu leisten, versucht Habermas eine »Aufarbeitung der soziologischen Ansätze zu einer Theorie der gesellschaftlichen Rationalisierung« von Weber bis Parsons (TkH I 129). 194 Im Gegensatz zum »Realisten« (vgl. dieses Kapitel weiter oben).
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Zweckrationalität unterscheidet sich die kommunikative Vernunft dadurch, dass ihr Ziel nicht der erfolgreiche Einsatz von Mitteln ist, sondern die argumentative Begründung, welche von allen Kommunikationsteilnehmern akzeptiert wird. 195196 Die Bedeutung der phänomenologischen Ausgangssituation der kommunikativen Vernunft lässt sich auch daraus ableiten, dass Habermas nicht aus der Beobachter-, sondern aus der Teilnehmerposition argumentiert: 197 Der Teilnehmer kann nie den Lebenswelthintergrund in einer »pensée du survol« transzendieren. Teildeutungen dieser Lebenswelt werden jedoch reflektiert und grenzen so auch die moralischpraktische von der kommunikativen Vernunft ab: »Rational nennen wir eine Person, die ihre Bedürfnisnatur im Lichte kulturell eingespielter Wertstandards deutet; aber erst recht dann, wenn sie eine reflexive Einstellung zu den bedürfnisinterpretierenden Wertstandards selbst einnehmen kann. Kulturelle Werte treten nicht wie Handlungsnormen mit Allgemeinheitsanspruch auf. Werte kandidieren allenfalls für Interpretationen, unter denen ein Kreis von Betroffenen gegebenenfalls ein gemeinsames Interesse beschreiben und normieren kann. Der Hof intersubjektiver Anerkennung, der sich um kulturelle Werte bildet, kann allerdings keineswegs einen Anspruch auf kulturell allgemeine oder gar universale Zustimmungsfähigkeit erheben. Daher erfüllen Argumentationen, die der Rechtfertigung von Wertstandards dienen, nicht die Standards von Diskursen« (TkH I 41). Eben diese lebensweltreflektierende Teilnehmerperspektive macht die kommunikative Vernunft so wertvoll für die Menschenrechtsdiskurse: Sie fragt noch vor der Festsetzung objektiver Maßstäbe und in einem öffentlichen Diskurs, ob die eigene Deutung derjenigen aller anderen Kommunikationsteilnehmer entspricht. Oder noch konkreter formuliert: Die kommunikative Vernunft fragt, ob »der Andere sieht, Vgl. H. Brunkhorst, Habermas, a. a. O., 31. Ich möchte an dieser Stelle darauf hinweisen, dass Habermas in Wahrheit und Rechtfertigung eine alternative Einteilung vornimmt, nämlich in epistemische, teleologische und kommunikative Rationalität, welche in der Diskursrationalität miteinander verflochten sind (vgl. WuR 102 ff.). In Auseinandersetzung mit Schnädelbach werden auf den folgenden Seiten verschiedene Sprachgebräuche unterschieden. Im Kern bleibt jedoch die kommunikative Vernunft dieselbe und daher werde ich bei der Ursprungsdarlegung der kommunikativen Vernunft, wie sie in der TkH erstmals vollständig entwickelt wurde, bleiben. Ich gehe jedoch weiter unten auf diese begriffliche Unterscheidung nochmals ein. 197 Vgl. Habermas, TkH I 40. 195 196
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was auch ich sehe«, bevor eine Entscheidung über eine Intervention getroffen wird. Denn erst auf der Grundlage einer Re-integration verschiedener Lebenswelten kann schließlich der Handlungsakt als rational bezeichnet werden. Natürlich beansprucht die kommunikative Vernunft eine gewisse Universalität: Das heißt, eine maximale Annäherung an die Wahrheit von Aussagen ist möglich, insofern die Bedingungen der idealen Sprechsituation gelten und der Diskurs auch für zukünftige Einwände offen bleibt. Die conditio sine qua non einer solchen Sprechsituation ist die illokutionäre Sprecherabsicht, d. h., der Dialog muss mit kommunikativer Absicht geführt werden. »[…] in theoretischen, praktischen und explikativen Diskursen müssen die Argumentationsteilnehmer von der (oft contrafaktischen) Voraussetzung ausgehen, dass die Bedingungen einer idealen Sprechsituation in hinreichender Annäherung erfüllt sind. Von ›Diskursen‹ will ich nur dann sprechen, wenn der Sinn des problematisierten Geltungsanspruches die Teilnehmer konzeptuell zu der Unterstellung nötigt, dass grundsätzlich ein rational motiviertes Einverständnis erzielt werden könnte, wobei ›grundsätzlich‹ den idealisierenden Vorbehalt ausdrückt: wenn die Argumentation nur offen genug geführt und lange genug fortgesetzt werden könnte.« (TkH I 71) Habermas sieht damit den Dialog als Voraussetzung jeglicher Vernunft. Andererseits ist sich die kommunikative Vernunft über die Möglichkeit des Fallibilismus bewusst: Manche Geltungsansprüche sind nicht für alle geplanten Handlungen zweifelsfrei einzulösen (z. B. bei der Äußerung von nicht normativen Wertstandards, also der Ablehnung von Abtreibung oder Krieg). Hier kann der Einzelne lediglich auf den Hinweis eines »guten Grundes« zurückgreifen, d. h. ein Grund, von dem wir erwarten können, dass er auf grundsätzliches Verständnis stößt. Zudem werden Ergebnisse als vorläufig, d. h. erweiter- und veränderbar angesehen. Argumentationen sind also nur in dem Maße rational, als sie sich als lernfähig erweisen, d. h. gegenüber Kritik offen halten und darauf antworten. 198 Als idiosynkratisch bezeichnet Habermas solche Äußerungen, welche weder durch die Kraft der Poesie noch durch Überzeugung auf 198 Die Fallibilität rationaler Aussagen wurde bereits im Kontext der idealen Diskurssituation und der prozessualen Wahrheitstheorie von Habermas hervorgehoben. Hierdurch versucht er insbesondere der Machtkritik den Wind aus den Segeln zu nehmen. Vgl. den Abschnitt über Wahrheitstheorie innerhalb der Diskurstheorie weiter oben.
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Zustimmung stoßen und damit einen rein privaten Charakter beibehalten. »Wer sich in seinen Einstellungen und Bewertungen so privatistisch verhält, dass sie durch Appelle an Wertestandards nicht erklärt und plausibel gemacht werden können, der verhält sich nicht rational.« (TkH I 37) 199 Die allgemeine Akzeptanz eines Grundes ist gleichzeitig Ausdruck seiner Vernunft. Dabei bemessen sich die Gründe an ihrer Kontextualität und Überzeugungskraft (vgl. TkH I 38). Zusammenfassend muss betont werden, dass die kommunikative Vernunft durch die phänomenologische Ausgangsposition und ihre dadurch übergeordnete Position gegenüber den anderen Vernunftformen überhaupt erst die Möglichkeit eröffnet, die »Stimme des Anderen« zu vernehmen: Grund hierfür ist ihre kritische Haltung gegenüber einer fälschlicherweise als »gegeben« angenommenen Lebenswelt und den darin impliziten »Vorurteilen«. Erst durch die Einklammerung dieser Vorannahme ist ein Verständnis für solche Denkstrukturen und Begründungsformen möglich, welche sich auf andere Sinnstrukturen beziehen. Der richtig verstandene Fallibilismus der kommunikativen Vernunft ist daher nicht eine Schwäche, sondern vielmehr ihre eigentliche Stärke. g. Von der praktischen zur kommunikativen Vernunft Im Zuge der Aufklärung wird der Vernunftbegriff insbesondere durch Rousseau und Kant revitalisiert und auf die Bereiche Politik, Recht und Gesellschaft bezogen. Darüber hinaus führt das Vokabular der Subjektphilosophie weg vom aristotelischen Vernunftgebrauch: der vormals öffentliche Vernunftgebrauch zieht sich aus den kulturell-politischen Lebensformen zurück. 200 Und obgleich die Konzepte der Autonomie und Freiheit des Einzelnen immer im Kontext eines Zusammenlebens zwischen Zivilbürgern, Staatsbürgern oder auch Weltbürgern gesehen 199 Fraglich bleibt jedoch, inwiefern sich solche Wertvorstellungen und poetischen Verständnisse kulturell übertragen lassen, wo sie akzeptabel bleiben dürfen und wo die allgemeine Akzeptanz, der gute Geschmack etc. überschritten wird. Habermas glaubt, dass sich die panische Angst vor leeren Plätzen »in den Alltagskontexten der meisten Kulturen« kaum durch eine »bleierne« oder »soghafte« Leere poetisierend erklären ließe (TkH I 37). Hier ist nicht die Zeit dem weiter nachzugehen. Ich möchte jedoch bereits jetzt darauf hinweisen, dass Habermas trotz aller kommunikativen Offenheit bereits von einer »objektivierbaren« Beurteilung von Argumenten ausgeht, welche Verhalten rationalisieren. 200 Vgl. Habermas, FuG 15 ff.
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werden, ergeben sich hieraus folgende Dichotomien: Subjekt versus Staat, Teil versus Ganzes, Individuum versus Gesellschaft. Habermas hält grundsätzlich an dem Projekt der Moderne fest. Er sucht jedoch nach einer praktischen Vernunft jenseits eines subjektphilosophischen Vokabulars: d. i. eine Vernunft, welche ihren Platz im intersubjektiven Bereich politischen Handelns wieder einnimmt. Ausgangspunkt hierfür ist Habermas’ Bewusstsein für die zunehmende Komplexität von Gesellschaften: 201 »Die Spuren des vernunftrechtlichen Normativismus verlieren sich also in dem Trilemma, dass wir die Gehalte einer in ihre subjektivphilosophische Gestalt zerborstenen praktischen Vernunft weder in der Teleologie der Geschichte noch in der Konstitution des Menschen auffinden, noch aus dem zufälligen Fundus gelungener Überlieferungen begründen können« (FuG 17). Als scheinbar einzige Alternative bleibt die radikale Vernunftkritik der Postmoderne wie sie insbesondere durch Nietzsche eingeläutet wurde. 202 Habermas’ Rettung und Erneuerung des Projekts der Moderne soll also keinesfalls zurück zur Metaphysik, sondern definitiv aus ihr herausführen. Damit führt sie ihn jedoch mitten in die Gesellschaftstheorie hinein: 203 »[A]n die Stelle der praktischen Vernunft tritt die kommunikative. Das ist mehr als ein Etikettenwechsel« (FuG 17). Denn anstatt des Subjekts, des Menschen, der Idee der Natur oder Gottes wird nun die »Gesellschaft zum eigentlichen Sitz der Vernunft.« 204 Was bedeutet dieser Etikettenwechsel für die Revitalisierung des öffentlichen Vernunftgebrauchs und auf welche Weise kann entgegen den Einwänden der Postmoderne eine universale Geltung beansprucht werden? In einer neueren Veröffentlichung bezeichnet Habermas die praktische Vernunft nicht als elementares Phänomen, sondern als die Verschränkung der epistemischen und der teleologischen in der kommunikativen Vernunft (vgl. WuR 121). Die Handlungskoordinierung und 201 In diesem Kontext ist für Habermas die Systemtheorie keine Alternative: Ihr Konstrukt der Autopoiesis führt zur Eliminierung der praktischen Vernunft per se. Deshalb ersetzt Habermas das Element der Autopoiesis durch die Idee der Verständigung und verhilft so der Gesellschaft als Ganzes wieder zu ihrer Selbstbestimmung. 202 Habermas warnt jedoch davor, in eine vormoderne, rein emotivistische Phase zurückzufallen, in welcher Verbindlichkeiten keinen festen Platz mehr finden. 203 Vgl. hierzu auch H. Brunkhorst, Habermas, a. a. O., 35. 204 Ebd., 25.
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-rechtfertigung geht dem Was und Wie einer Handlung voraus. Dabei geht es der kommunikativen Vernunft eben nicht um eine inhaltliche Bestimmung, sondern um eine »Rekonstruktion jenes Geflechts meinungsbildender und entscheidungsvorbereitender Diskurse, in das die rechtsförmig ausgeübte demokratische Herrschaft eingebettet ist« (FuG 19). Brunkhorst bezeichnet deshalb die kommunikative Vernunft auch als »Vergesellschaftung der Vernunft« 205. Das heißt, kommunikative Vernunft existiert lediglich in und durch die Gesellschaft. Auf methodischer Ebene externalisiert sie den im kategorischen Imperativ privatim vorgenommenen Perspektivenwechsel und stellt ihn zur öffentlichen Debatte. »Das diskurstheoretisch begriffene Moralprinzip […] fordert, die ideale Rollenübernahme, die nach Kant von jedem einzeln und privatim vorgenommen wird, in eine öffentliche, von allen gemeinsam durchgeführte Praxis zu überführen.« (FuG 141). Oder anders formuliert in den Erläuterungen zur Diskursethik: »In der Diskursethik tritt an die Stelle des Kategorischen Imperativs das Verfahren der moralischen Argumentation« (EzD 12). Das heißt, der äußere, aktuelle und institutionalisierte Diskurs tritt an die Stelle des inneren Perspektivenwechsels bei Kant. Erst hierdurch verlagert sich der Sitz der Vernunft von den »naturbelassenen Sachen (Ideen) oder imaginierenden Personen (Subjekten) in den argumentativen, öffentlichen Diskurs (Kommunikation).« 206 Als Antwort auf die zunehmende Komplexität in multikulturellen Gesellschaften wählt Habermas einen Zwischenweg: Einerseits erkennt er die postmoderne Kritik an, dass die Sichtweise des Anderen nicht mehr problemlos antizipiert werden kann, andererseits möchte er nicht durch die radikale Ablehnung der Vernunft in eine »vormoderne« emotivistische Epoche zurückfallen. Die kommunikative Vernunft verlangt daher nach einer idealen Sprechsituation, in welcher der Andere selbst bekennt, ob und wie er sich verstanden fühlt. Da Vernunft im Zwischenbereich der Intersubjektivität entsteht und sich durch den Erfolg einer solchen Kommunikation auszeichnet, spricht Brunkhorst auch von einer »entsubjektivierte[n] und denaturierte[n] Vernunft«. 207 Dadurch verlässt die kommunikative Vernunft die monadische Abgeschlossenheit des den-
205 206 207
Vgl. die Ausführungen zum Thema in: H. Brunkhorst, Habermas, a. a. O., 24 ff. H. Brunkhorst, Habermas, a. a. O., 42. Ebd., 36.
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kenden Subjekts. »Es ist vielmehr das sprachliche Medium, durch das sich Interaktionen vernetzen und Lebensformen strukturieren, welches kommunikative Vernunft ermöglicht.« (FuG 17 f.) Diese wechselseitige Koordination führt schließlich zu einer Wiedervernetzung von Denken und Handeln: denn ideengeschichtlich bleibt normalerweise dem Denken der abgeschiedene Bereich des bios theoreticos bzw. der vita contemplativa, wohingegen der Bereich des bios politicos bzw. der vita activa immer schon das soziale Gefüge betrifft. 208 Und obgleich sich vor allem Hannah Arendt Zeit ihres Lebens um eine Harmonisierung von Denken und Handeln bemüht, 209 konnte sie ihr Werk nicht zu Ende bringen. Insbesondere in ihrer Konzeption einer kommunikativen Macht 210 findet sich eine Andeutung: eine Macht, welche dem öffentlichen Dialog entspringt und zu gemeinsamem Handeln führt. Diese Idee kommt der Konzeption einer kommunikativen Vernunft zumindest nahe, d. i. ein kommunikativer Raum, der eine gemeinsame Realität schafft. Denken ist nicht mehr auf den privaten Raum beschränkt, sondern wird in den intersubjektiven Zwischenraum der Kommunikationsteilnehmer eines gemeinsamen Handlungsraums verlegt. 211 Die kommunikative Vernunft gibt jedoch, genauso wie die praktische Vernunft, keinerlei Inhalte vor: »Sie äußert sich in einem dezentrierten Zusammenhang transzendental ermöglichender, strukturbildender und imprägnierender Bedingungen« (FuG 18). Das heißt, sie beschreibt, unter welchen Bedingungen ein kommunikatives Einverständnis zustande kommen kann. Einerseits geht hiermit eine schwache Idealisierung einer faktischen Verständigungspraxis einher, andererseits stellt sie auch auf dieser Ebene ihre Ergebnisse immer wieder kritisch in Frage. Und durch diese kritische Infragestellung und Distanzierung von den eigenen Vorannahmen wirft sie die Frage auf, ob das, was ist, auch sein soll, d. i. das Verhältnis von Faktizität und Geltung (vgl. FuG 19). In der Notwendigkeit einer sozialen Re-integration von verschiedenen Lebenswelten vermittels eines öffentlichen Vernunftgebrauchs liegt deshalb ihre wesentlich gesellschaftliche Aufgabe. Sie 208 Aristoteles, Politik, 1332b2, 1333a30 ff. und 1332b32; vgl. 1333a30–33 über das Leben des Philosophen; vgl. auch Aristoteles, Nikomachische Ethik, Buch X. 209 D. h. weder ein Denken, das geistlos bleibt, noch ein Handeln, das wirkungslos bleibt. 210 Vgl. H. Arendt, Macht und Gewalt, München 1993. 211 Vgl. die Arendt-Rezeption Habermas’ u. a. in FuG 435 ff.
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ersetzt damit nicht die praktische Vernunft, sondern geht ihr wesensmäßig voraus. d. Die intersubjektive Wende: Perspektivenwechsel versus Mitgefühl Für Habermas kennzeichnet die instrumentelle Rationalität einen egozentrischen Eingriff in eine scheinbar objektive Umwelt (Subjekt-Objekt-Beziehung). Die praktische Vernunft entscheidet durch einen inneren Perspektivenwechsel über die Angemessenheit einer Handlung. Beide Denkvorgänge beziehen sich auf eine scheinbar objektive Realität und gehen von der Abgeschlossenheit des Subjekts aus. Plurale Lebenswelten in multikulturellen Gesellschaften zerstören die Illusion einer gemeinsamen objektiven »Realität«. Dies macht eine vorgelagerte kommunikative Vernunft notwendig, um in öffentlichen Diskursen eine erneuerte soziale Integration zu erreichen. Damit verabschiedet sich die kommunikative Vernunft von dem Begriff der denkenden Monade und ersetzt diese durch die Idee der Intersubjektivität. Es handelt sich um den »Paradigmenwechsel von der subjektzentrierten zur kommunikativen Vernunft« (pDM 351). 212 Um die Notwendigkeit für diesen Paradigmenwechsel zu verdeutlichen, gebe ich einen kurzen Überblick über die Probleme, welche der Begriff eines apriorischen Subjekts aufwirft: 213 Die meisten subjektphilosophischen Theorien versuchen das Subjekt vom Subjekt aus zu erklären. 214 Dadurch bleibt das Subjekt in der Abgeschlossenheit seines Selbst, und andere Subjekte werden auf den Status von Objekten reduziert. 215 Hieraus resultieren all die argumentativen Versuche, den Ego212 Habermas grenzt sich damit von der instrumentellen und subjektzentrierten Rationalität klar ab, welche einen egozentrischen Eingriff in eine scheinbar objektive Umwelt bedeutet (Subjekt-Objekt-Beziehung). 213 Für die folgende Darstellung greife ich auf Habermas’ Interpretation der Ideengeschichte zurück. Für den Zweck der Darstellung habe ich an einigen Stellen gekürzt bzw. ergänzt. Vgl. Habermas, ND 187–242. 214 Vgl. das Cogito bei Descartes, das transzendentale Ich bei Kant, die Monadologie bei Leibniz und dessen transzendentale Umformulierung durch Hegel. Oder bei Fichte, der die Leistungen des erkennenden und des praktischen Ichs in dem Begriff der Selbsttätigkeit fusioniert, welche letztlich zum Begriff der Selbstsetzung gelangt. 215 Diese wechselseitige Verobjektivierung spitzt sich in der Parabel von Herr und Knecht bei Hegel und schließlich bei Sartre immer weiter zu. Erst Humboldt vermag die unterschiedlichen Perspektiven auf der Ebene der gewaltfreien Sprache sowie der verständigungsorientierten Wechselrede miteinander zu verschränken (vgl. Habermas, ND 201 f.). Dies geht auf Humboldts Einsicht zurück, dass Einzelsprachen nur im Plural
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isten davon zu überzeugen, dass gerechtes Handeln seinem eigenen Wollen entspricht. Natürlich folgt eine solche Argumentation der zweckrationalistischen Denkungsart, denn ein »Volk von Teufeln« wird nur gerecht handeln, wenn dies dem eigenen Wohl dient, d. h. den Anderen auf ein Mittel zum Zweck reduziert. 216 Um diesem subjektphilosophischen Dilemma zu entgehen, knüpft Habermas zunächst bei Kierkegaard an. Kierkegaard begreift Fichtes Begriff der Selbstsetzung als die verantwortete Übernahme der eigenen Lebensgeschichte. Obwohl Zeitpunkt und Ort meiner Geburt, mein Name, mein Aussehen etc. kontingent sind, kann ich mir meine Lebensgeschichte in einem selbstbewussten Akt der Selbstsetzung aneignen. 217 Habermas schließt: »Individualität und sprachliche Intersubjektivität sowie Individualität und lebensgeschichtliche Identität. Das eine ist mit dem anderen durch den Gedanken verknüpft, dass es des Anrufs, der Aufforderung oder der Erwartung eines Gegenübers bedarf, um in mir das Bewusstsein der Selbsttätigkeit zu wecken« (ND 204). Bei Kierkegaard kommt diese Anrufung von Gott und die Rechtfertigung erfolgt im Zwiegespräch mit ihm durch das Gebet. Habermas sieht diese innere Zwiesprache mit Gott als analog mit der öffentlichen Rechtfertigung vor dem Lesepublikum bei Rousseau. »Nachdem sich die vertikale Achse des Gebets in die Horizontale der zwischenmenschlichen Kommunikation geneigt hat, kann der einzelne den emphatischen Anspruch auf Individualität nicht mehr allein durch rekonstruierende Aneignung seiner Lebensgeschichte einlösen.« (ND 206) 218 Habermas folgert daraus, dass sich ein sprach- und handlungsfähiges Subjekt, als »unvertretbare und unverwechselbare Person«, gegenüber anderen Teilnehmern der Kommunikationsgemeinschaft darstellen und rechtfertigen kann (vgl. ND 207).
existieren und dass das gemeinsame Ziel die Verständigung sei (vgl. W. v. Humboldt, Über die Verschiedenheiten des menschlichen Sprachbaues (1827–29), in: Werke, hg. v. A. Flitner, Bd. III, 160 ff.; vgl. auch Habermas, ND 200 ff.). 216 Natürlich versucht Kant dieser Folgerung durch den kategorischen Imperativ zu entgehen. 217 Vgl. Sören Kierkegaard, Entweder Oder, München 1988, Teil 2, 773 ff. und bei Habermas, ND 203. 218 Habermas hinterlässt den Eindruck, als wäre dies eine zeitliche Abfolge. Es ist jedoch klar, dass Kierkegaard auf Rousseau folgt. Höchstwahrscheinlich spielt Habermas daher auf die Rechtfertigung bei Augustinus (Bekenntnisse) oder anderen religiösen Philosophen an und übernimmt von Kierkegaard nur die Idee.
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Weil jedoch niemand über ein absolutes ethisches Selbstverständnis verfügt, bedarf es immer der Rechtfertigung und Anerkennung durch andere. Diese Problematik führt Habermas schließlich zu dem Sozialpsychologen George H. Mead. 219 Dieser entwarf als Erster ein intersubjektives Modell, welches die wechselseitige Bedingtheit von Subjekt und Gesellschaft erklärt. Seine grundlegende These lautet: Weder geht das Subjekt dem Kollektiv noch das Kollektiv dem Subjekt voraus, sondern beides entsteht wechselseitig in spezifischen Stufen der Annäherung und Abgrenzung. 220 Selbstbewusstsein wird definiert als kommunikativ erzeugtes Phänomen und ist dadurch weder ursprünglich noch als Verfügbares zuhanden. Mead begründet dies auf folgende Weise: Er erweitert zunächst den problemlösenden Handlungsbegriff bei Dewey, welcher sich allein auf die Sphäre zwischen Subjekt und Welt konzentriert hatte, um die soziale Dimension eines interaktiven Miteinanders zwischen mehreren Akteuren. Zentral sind hier die Lautgebärde sowie deren wechselseitige Interpretation. Denn erst durch die Reaktion eines Anderen auf meine Gebärde, werde ich mir meines eigenen Handelns bewusst: Meine Gebärde hat einen merkbaren Effekt auf meine Umwelt. Daher ist die Grundidee Meads, dass wir uns erst »im anderen erkennen«. Wir erlangen erst Selbstbewusstsein, indem wir das eigene Verhalten aus der Perspektive des Anderen apperzipieren. Es folgt, dass für Mead das eigentliche Ich nicht das spontane auf sich zurückblickende Ich ist (wie z. B. Fichtes »sich selbst setzendes Ich«), sondern: »Wenn man also fragt, wo das Ich in der eigenen Erfahrung direkt auftritt, lautet die Antwort: als historische Figur. Was man eine Sekunde vorher war, das ist das Ich des Mich.« 221 Damit hat Mead »die linguistische Wende für den Kernbereich der Subjektphilosophie, nämlich die Ich-Identität, vollzogen« 222. Das Ich eines solchen naturalistischen Pragmatismus ist eben nicht das niedere Produkt eines höheren spontanen Ich, sondern das eigentliche, weil reflektierte und »selbst bewusste« Bewusstsein. In diesem Sinne ist es das »übernommene und verantwortete Ich« im Sinne Kierkegaards. 219 Reese-Schäfer bezeichnet Mead als eine der wichtigsten Quellen von Habermas (vgl. W. Reese-Schäfer, Jürgen Habermas, a. a. O., 74). 220 Vgl. Hans Joas, George Herbert Mead, a. a. O. 221 G. H. Mead, Geist, Identität, Gesellschaft, Frankfurt am Main 1968, jedoch zitiert in der von Habermas um ein Vielfaches verbesserten Übersetzung, vgl. ND 216. 222 Vgl. W. Reese-Schäfer, Jürgen Habermas, a. a. O., 72.
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Die Anrufung erfolgt durch den internalisierten Blick von außen, der uns dieses Ich verantworten lässt. Das eigentliche Ich stellt ein kommunikativ erzeugtes und nicht etwa verfügbares oder zuhandenes Ich dar. Diese Perspektiven- und Rollenübernahme erweitert Mead um eine weitere normative Komponente. Das Ich ist nämlich nicht nur die übernommene Lebensgeschichte, sondern vor allem auch der »generalized other« bzw. die generalisierte Verhaltenserwartung, welche das spontan handelnde Ich an die Erinnerung rückbindet und auf diese Weise das Subjekt als Kontinuum erleben lässt. »Das praktische Selbstverhältnis wird durch ein ›Me‹ ermöglicht, das der Impulsivität und der Kreativität eines widerständigen ›Ich‹ aus der intersubjektiven Perspektive des gesellschaftlichen ›Wir‹ Schranken zieht.« (ND 219) Es ist Träger des moralischen Bewusstseins, indem es die generalisierte Einstellung der Gruppe übernimmt. 223 Dadurch ermöglicht es Selbstkontrolle und garantiert Zurechnungsfähigkeit in einer Kommunikationsgemeinschaft. 224 Ähnlich dem Lebensweltbegriff kann der Einzelne nicht »aus der Gesellschaft überhaupt heraustreten« (vgl. ND 223), sondern sich nur aus partikularen Lebenszusammenhängen lösen. 225 Ein »nur« konventionelles Moralbewusstsein ist jedoch mit der fortschreitenden Infragestellung der Lebenswelt schnell überfordert. Daher ist für Habermas die Entwicklung eines postkonventionellen Bewusstseins im Kontext moderner Gesellschaften besonders wichtig: Es verlangt von Individuen eine Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung, welche eine Ich-Identität nicht-konventioneller Art voraussetzt. 226 Und die Odyssee des Selbstbewusstseins findet sich auch hier wieder bzw. kehrt zum kommunikativen Handeln zurück: Moralische und existentielle Selbstbestimmung bzw. Selbstverwirklichung ist im Kontext der Desintegration der Konvention bzw. Lebenswelt nur über 223 Vgl. Hans Joas; George Herbert Mead, in: Dirk Käsler (Hg.), Klassiker des soziologischen Denkens, München 1999, Bd. 2, 171–189. 224 Diese Übernahme normativer Erwartungen der Gruppe in die eigene Identität erinnert an die Ausführungen zur Lebenswelt in Auseinandersetzung mit Husserl. »Auch die Solidaritäten der über Werte integrierten Gruppen und die Kompetenzen vergesellschafteter Individuen gehören – wie die kulturell eingewöhnten Hintergrundannahmen – zu den Komponenten der Lebenswelt.« (Habermas, pDM 349) 225 Andererseits schreibt Mead: Eine »Person [kann] den Punkt erreichen, wo sie sich der ganzen Welt in den Weg stellt […].« (G. H. Mead, Geist, Identität und Gesellschaft, Frankfurt am Main 1988, 210). 226 »Rousseaus universalisierte Öffentlichkeit und Kants intelligible Welt werden von Mead gesellschaftlich konkretisiert und zeitlich dynamisiert.« (ND 224)
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die gegenseitige Perspektivenübernahme möglich. Weil das Ich nur über den Umweg eines universellen und öffentlichen Diskurses zu sich findet, hält sich auch das kommunikative Handeln für die Perspektive des Anderen offen. 227 Dies erklärt die zentrale Bedeutung der gegenseitigen Perspektivenübernahme für die kommunikative Vernunft: Die Selbstbeziehung des erkennenden und rational handelnden Subjekts ist das Resultat der Perspektivenübernahme einer zweiten Person auf sich selbst. Die Reflexion verdankt sich »einem vorgängigen dialogischen Verhältnis und schwebt nicht im Vakuum einer kommunikationsfrei konstituierten Innerlichkeit« (WuR 103). Weil Subjekt und Gesellschaft aufeinander verwiesen sind, ist dem Einzelnen eine Lebenswelt im Sinne eines »generalisierten Anderen« mitgegeben. Erst durch die Verinnerlichung dieses fremden Blickes wird der Einzelne innerhalb einer Gesellschaft »zurechnungsfähig«. Natürlich kann und muss er – in Folge der zunehmenden Infragestellung der Lebenswelt – aus seinem konventionellen Moralbewusstsein heraustreten. Dies geschieht bei Mead durch die Erweiterung der vorgegebenen Gesellschaft durch »alle möglichen zukünftigen und vergangenen Gesellschaften« im Sinne Peirces. Habermas’ entscheidende Erweiterung besteht nun darin, dass er eben diese Gesellschaft aus der privatimen Innensphäre in den öffentlichen Dialog der aktuellen Gesellschaft verlegt. Dabei handelt es sich sowohl um eine gesellschaftlich gewordene praktische Vernunft im Sinne Kants als auch um die konsequente Weiterführung von Peirces Kommunikationsgemeinschaft und Meads Perspektivenübernahme. Entscheidender Grund hierfür ist, dass die Desintegration von Lebenswelten die private Antizipation von Subjekten unmöglich macht. Sie wird durch den Versuch ersetzt, im aktuellen Gespräch die Perspektive des Anderen einzunehmen. Diese Fähigkeit der Perspektivenübernahme ist, nach Mead, die Voraussetzung, um überhaupt Selbstbewusstsein zu entwickeln. Sie ist daher eine Basisfähigkeit, die jedem Menschen ursprünglich zukommt. Ein solcher Perspektivenwechsel ist fernerhin Grundvoraussetzung für die kommunikative Vernunft, auch 227 Im Gegensatz hierzu ist der intersubjektive Bezug vom strategischen Handeln ausgeschlossen, weil das Ziel lediglich der Erfolg eines isolierten und manipulativen Eingriffs in die objektive Außenwelt ist. »Autonomie verwandelt sich dann in Willkürfreiheit, Individuierung des vergesellschafteten Subjekts in die Vereinzelung eines freigesetzten Subjekts, das sich selbst besitzt.« (Habermas, ND 233).
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wenn das Resultat eines solchen Aktes im aktuellen Dialog mit dem Anderen verifiziert werden muss. Das Verfahren des praktischen Diskurses hat einen entscheidenden Vorteil gegenüber einem ideal role taking bei Mead: 228 »In Argumentationen müssen die Teilnehmer davon ausgehen, dass im Prinzip alle Betroffenen als Freie und Gleiche an einer kooperativen Wahrheitssuche teilnehmen, bei der einzig der Zwang des besseren Arguments zum Zuge kommen darf. […] der praktische Diskurs lässt sich als Verständigungsprozess begreifen, der seiner Form nach alle Beteiligten gleichzeitig zur idealen Rollenübernahme anhält. Er transformiert also die (bei Mead) von jedem einzeln und privatim vorgenommene ideale Rollenübernahme in eine öffentliche, von allen intersubjektiv gemeinsam praktiziert Veranstaltung« (EzD 14). Die Verlagerung in den aktuellen äußeren Dialog kann als die wesentliche Neuerung bei Habermas gesehen werden und antwortet auf die globale Problematik der Desintegration übergreifender Sinnstrukturen. e. Diskursive Vernunft als Novum? Ich möchte im Abschluss auf eine terminologische Änderung bei Habermas hinweisen und überdenken, inwiefern sie die bisherige Darstellung modifiziert bzw. die Argumentationslinie dieser Arbeit beeinflusst. In Habermas’ Auseinandersetzung mit Schnädelbachs Einwänden zur kommunikativen Vernunft in Wahrheit und Rechtfertigung spricht Habermas nicht mehr nur von kommunikativer, sondern auch von argumentativer oder auch diskursiver Vernunft (WuR 102). Habermas wendet gegen den Vorschlag Schnädelbachs, Vernunft auf eine »Disposition vernünftiger Personen zurückzuführen« (WuR 103), ein, dass »auch die Reflexion sich einem vorgängigen dialogischen Verhältnis verdankt und nicht im Vakuum einer kommunikationsfrei konstituierten Innerlichkeit schwebt« (WuR 103). In der folgenden Auseinandersetzung entwickelt Habermas eine neue Struktur, indem nun der Diskurs zwischen den verzweigten Vernunftstrukturen (Wissen, Handeln, Reden) einen Zusammenhang stiftet und damit die propositionalen, teleologischen und kommunikativen
228 Diesen Vorteil hat die Diskursethik dem »Schleier des Nichtwissens« bei Rawls voraus.
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Wurzeln zusammenführt. Dies hat zur Folge, dass Habermas nicht mehr die kommunikative, sondern die Diskursrationalität als integrative Größe sieht. »Die kommunikative Rationalität bildet nicht die umfassende Struktur, sondern eine von drei Kernstrukturen, die allerdings über die – aus der kommunikativen Rationalität hervorgehende – Diskursrationalität miteinander verflochten sind.« (WuR 104) Die Diskursrationalität entfaltet Habermas im Folgenden als jene Vernunft, durch welche ich mir die Perspektive des Gegenübers zu eigen machen kann und aus dieser Perspektive meine eigenen Äußerungen beurteile. 229 Dies geht zurück auf die Annahme, dass ich nur dann mit einem Anderen in einen Dialog treten kann, wenn mein Wissen, Handeln und Reden auch auf den Anderen bezogen ist. »In der Reflexion der vernünftigen, von sich selbst Distanz nehmenden Person spiegelt sich mithin allgemein jene Rationalität, die der Struktur und dem Verfahren der Argumentation innewohnt. Zugleich zeigt sich aber, dass auf der integrativen Ebene von Reflexion und Diskurs die drei Teilnehmerrationalitäten des Erkennens, Handelns und Redens zusammenlaufen, eben ein Syndrom bilden.« (WuR 106) Habermas hebt hier hervor, dass alle Formen der Vernunft auf den Diskurs zurückgehen. Selbst wenn wir Wissen und Handeln vom Reden abtrennen können, so geht auch Wissen und Handeln im Sinne eines Reflexivwerdens von Inhalten auf den Diskurs zurück. Es handelt sich also um eine Metaperspektive. In seinem neuesten Buch Naturalismus und Religion (2005) kehrt Habermas zum Begriff der kommunikativen Vernunft zurück. In der Auseinandersetzung mit säkularen und religiösen Weltbildern radikalisiert Habermas den Fallibilismus eines nachmetaphysischen Denkens für den praktischen Bereich. Dabei stellt das nachmetaphysische Denken in der Auseinandersetzung mit religiösen Argumenten selbst das säkulare Weltbild in Frage bzw. sieht es nur mehr als ein Weltbild neben anderen möglichen Weltbildern. An einer säkularen Argumentationsbasis jenseits spezifischer Weltbilder hält Habermas im Hinblick auf eine funktionierende Demokratie weiterhin fest (vgl. NuR 119 f.).
229 Vgl. den Prozess der Selbstbewusstwerdung bei Mead im vorhergehenden Abschnitt.
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c.
Resümee »Die kommunikative Vernunft ist gewiss eine schwankende Schale – aber sie ertrinkt nicht im Meer der Kontingenzen, auch wenn das Erzittern auf hoher See der einzige Modus ist, in der sie Kontingenzen bewältigt.« (ND 185)
Im Folgenden werde ich davon absehen, die einzelnen Aspekte der kommunikativen Vernunft zu wiederholen. Vielmehr soll gezeigt werden, wie sie durch ihre Sonderstellung zwischen Postmoderne und Moderne, Universalismus und Relativismus, Vernunft und Mitgefühl die anspruchsvolle Aufgabe einer Einbeziehung des Anderen als »Anderen« meistert. Habermas sieht die kommunikative Vernunft den anderen drei Vernunftarten über- bzw. vorgeordnet. Der Grund hierfür ist, dass sie zunächst von einer Manipulation der Außenwelt absieht, um sich in einer ersten illokutionären Geste dem Anderen zuzuwenden. Indem sie die unmittelbare und nur präreflexiv zuhandene Lebenswelt in Parenthese setzt, ist es ihr möglich, sich über den Gehalt des Gesehenen zu versichern. Sie setzt also der Manipulation folgende Frage voraus: »Siehst Du, was ich sehe?« Erst nach Übereinkunft über das Gesehene, macht die Frage, ob eine Handlung auch rational sei, Sinn. Die konsensuale Weltinterpretation geht daher einer jeden rationalen Handlung voraus. Habermas bezieht den Anderen von Anbeginn in den Prozess der Wirklichkeitskonstruktion ein. Daraus folgen verschiedene Sprechakte und Geltungsansprüche, welche vom Gegenüber natürlich in Frage gestellt werden können. Diese Sprechakte sowie die Einlösung von Geltungsansprüchen werden jedoch in den äußeren Diskurs verlegt. Das grundlegende Ziel der kommunikativen Vernunft ist die Verständigung. 230 Dem liegt der Paradigmenwechsel vom manipulativen Weltbezug eines einsamen Subjekts zur intersubjektiven Verständigung zugrunde. »Die noch so furiose Arbeit der Dekonstruktion hat gangbare Konsequenzen erst dann, wenn das Paradigma des Selbstbewusstseins, des Selbstbezuges eines einsam erkennenden und handelnden Subjekts, durch ein anderes ersetzt wird – durch das Paradigma der Verständigung, d. h. der intersubjektiven Beziehung kommunikativ vergesellschafteter und sich reziprok anerkennender Individuen. […] nämlich als eine Kritik am 230
Ein illokutionärer Sprechakt im Gegensatz zu einem perlokutionären.
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abendländischen Logozentrismus, die nicht ein Zuviel, sondern ein Zuwenig an Vernunft diagnostiziert.« (pDM 361) Zentral ist Habermas’ »intersubjektive Wende«: Sie (die Wende) überwindet sowohl das privatime Gedankenexperiment des kategorischen Imperativs als auch die Internalisierung des »generalized other«, indem sie den Anderen als gleichberechtigten Partner eines öffentlichen Dialogs anerkennt. Habermas erreicht dadurch eine weitere Stufe der Einbeziehung des Anderen. Mit dieser veränderten Perspektive verändert sich gleichzeitig auch der Ort der Vernunft: Dieser ist nicht mehr die Innerlichkeit des Subjekts, sondern der intersubjektive, öffentliche Raum. Das heißt, vernünftig ist der Mensch überhaupt nur in der Gesellschaft – in der Intersubjektivität des öffentlichen Raums. Der moralische Autonomiebegriff wird dadurch sowohl intersubjektivprozedural reformuliert als auch detranszendentalisiert. Fernerhin verändern sich Ziel und Zweck der Vernunft. Ziel ist nicht mehr die erfolgreiche Manipulation oder Durchsetzung des Eigenen, sondern vielmehr das möglichst umfassende gegenseitige Verstehen, d. i. die geglückte Kommunikation. Dadurch ist bereits in der Definition der kommunikativen Vernunft die Einbeziehung des Anderen angesprochen. »Nur die auf das subjektive Vermögen von Verstand und Zwecktätigkeit reduzierte Vernunft entspricht dem Bild einer exklusiven Vernunft.« (pDM 356) 231 Weil aber Vernunft die Verständigung zwischen Subjekten ist, kann sie nur im Plural erreicht werden – ein vereinzeltes Subjekt kann nicht kommunikativ vernünftig sein. Die intersubjektivistische Wende gibt schließlich die Beobachterperspektive auf, deren Blick alles zum Gegenstand gefrieren lässt (vgl. pDM 347). Erst die Substitution des subjektphilosophischen Vokabulars durch die Idee der Intersubjektivität ermöglicht eine teilnehmende Perspektive. »Eine nachvollziehende Rekonstruktion des immer schon verwendeten Wissens tritt an die Stelle eines reflexiv vergegenständlichten Wissens, also des Selbstbewusstseins« (pDM 347). Schließlich 232 gilt für die kommunikative Vernunft das, was bereits im Kontext von Diskurstheorie und politischer Philosophie ange231 Auch die kommunikative Vernunft kann den »Purismus der reinen Vernunft« nicht revitalisieren (vgl. pDM 351). 232 Dieser Aspekt wurde in diesem Abschnitt nicht extra angesprochen, weil er schon in der Darstellung von Habermas’ politischer Philosophie und der Diskursethik eingehend diskutiert wurde.
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Erste Zwischenbetrachtung
sprochen wurde: Jeder Konsens, jede Verständigung ist immer nur temporär. Dieser eingestandene Fallibilismus stellt sich im Kontext einer geglückten Einbeziehung des Anderen nicht als Schwäche, sondern als besondere Stärke dar. Und selbst der notwendige Ausschluss, welcher jedem Konsens wie ein Schatten folgt, ist zeitlich begrenzt. Damit erreicht Habermas vielleicht nicht immer das »absolute Gute«, wohl aber das »weniger Schlechte«. 233 Das »melancholische Bewusstsein« wird das Übrige tun, um sich in der Spur einer maximalen Annäherung an jenes Gute zu halten. Letztendlich ist die Hörbarmachung von marginalisierten Bedürfnissen oder Gruppen Teil eines gesamtgesellschaftlichen Lernprozesses: Denn Kommunikationsbedingungen können zwar institutionalisiert, jedoch nicht »an Stelle der Betroffenen« diskutiert und hörbar gemacht werden. 234
1.4 Erste Zwischenbetrachtung Die ausführliche Darstellung hat das Ziel folgende beiden Hypothesen zu belegen: a. Die kommunikative Vernunft kann als Fundament der Menschenrechtskonzeption begriffen werden, b. die öffentliche und empirisch überprüfbare Einbeziehung des Anderen ersetzt das vormoderne Vertrauen auf Mitgefühl und ist konzeptionell in der kommunikativen Vernunft verankert. Das Ergebnis der beiden Argumentationen wird im Folgenden noch einmal nachgezeichnet. Daran anschließend werden drei offene Fragen diskutiert: die Rolle des Körpers, die illokutionäre Absicht sowie die Möglichkeiten und Grenzen interkulturellen Verstehens.
Vgl. die Auseinandersetzung mit Lyotard weiter oben. Habermas führt hier das Beispiel der Frauen- und der Arbeiterbewegungen auf und schließt: »[D]ie subjektiven Rechte, die Frauen eine privatautonome Lebensgestaltung gewährleisten sollen, können gar nicht angemessen formuliert werden, wenn nicht zuvor die Betroffenen selbst in öffentlichen Diskussionen die jeweils relevanten Hinsichten für die Gleich- und Ungleichbehandlung typischer Fälle artikulieren und begründen« (EdA 245). 233 234
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1.4.1 Die kommunikative Vernunft als theoretisches Fundament der universalistischen Menschenrechtskonzeption Habermas bringt die Problematik der bisherigen Debatte über die Menschenrechte auf eine wichtige Pointe. Menschenrechte haben trotz ihres moralischen Gehalts die strukturellen Merkmale von subjektiven Rechten. 235 Dennoch gilt die allgemeine Charta der Menschenrechte nach wie vor lediglich als moralische Richtlinie, während eine globale Institutionalisierung in weiter Ferne steht. Darin sieht Habermas die eigentliche Problematik, denn moralische Normen sind kulturell bedingt und können daher nicht auf alle Kulturen übertragen werden. Diese ortsgebundene Geltung kann nur überwunden werden, indem Menschenrechte als subjektive Rechte weltweit institutionalisiert werden. Voraussetzung hierfür ist ein globaler Diskurs über deren Inhalte, so dass sich die Adressaten gleichzeitig als Autoren solcher Rechte verstehen. 236 Die Menschenrechtskonzeption unterliegt jedoch einem doppelseitigen Beschuss: Der Vernunftkritik aus dem Westen sowie der skeptischen Haltung anderer Länder gegenüber Begriffen wie Autonomie und säkularer Gesellschaft. Beide Seiten ziehen also in Zweifel, dass der Andere auf adäquate Weise in die Konzeption solcher Rechte einbezogen wird. Insbesondere argumentieren viele asiatische Kulturen, dass eine individualistische Rechtsordnung sich negativ auf die konsensorientierte gemeinschaftliche Lebensordnung auswirkt, und lehnen daher das Modell verbindlicher subjektiver Rechte ab. Habermas ermöglicht jedoch in seinem Modell einer deliberativen Demokratie mit Hilfe einer Institutionalisierung von entsprechenden Kommunikationsstrukturen die aktive Teilnahme jedes Einzelnen an der Konstitution von Rechten. Jeder individuelle Rechtsanspruch wurzelt in dessen vorgängiger konsensualer Anerkennung. Das Streben nach Konsens statt nach Dissens geht wiederum auf die Theorie einer Diskursethik zurück. Und die Diskursethik setzt schließlich die Fähigkeit zur kom235 Das verrät auch der allgemeine Sprachgebrauch, der eben von Menschenrechten und nicht von Menschenpflichten oder moralischen Verpflichtungen spricht. Das heißt, der Name suggeriert, dass es sich um Rechte handelt, die im Zweifelsfall eingeklagt werden können. 236 Vgl. dazu auch als aktuelle Abhandlung zu dieser Problematik: Habermas, Zeit der Übergänge, Kleine Politische Schriften IX, Frankfurt am Main 2001.
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Erste Zwischenbetrachtung
munikativen Vernunft voraus. Darüber hinaus geht es Habermas um eine Überwindung subjektphilosophischer Prämissen, d. h. der Anerkennung einer präreflexiven Verschränkung von Subjekt und Gemeinschaft. Diese Idee soll in den Grundbegriff des Rechts aufgenommen werden: »[A]uch Rechtspersonen [werden] nur auf dem Wege der Vergesellschaftung individuiert.« 237 Dennoch gibt Habermas zu Bedenken, dass die westliche Gesellschaft gerade im Hinblick auf ihre Konsensorientierung und gemeinschaftliche Ausrichtung von anderen Kulturen lernen kann und soll. 238 Der zweite Einwand betrifft den Autonomiebegriff sowie den säkularen Charakter der Menschenrechte. Für Kant gilt derjenige als autonom, der seinen eigenen Willen an normative und aus dem öffentlichen Vernunftgebrauch resultierende Einsichten bindet. Habermas verlegt nun diesen Vernunftgebrauch in den tatsächlichen und öffentlichen Diskurs. Damit wird der Autonomiebegriff an die Teilnahmerechte geknüpft. Die Vernünftigkeit solcher öffentlichen Diskurse misst sich am Grad des gegenseitigen Verstehens und Findens eines Konsenses. Die Diskursethik liefert hierfür empirisch überprüfbare Kriterien, welche mit Hilfe institutionalisierter Kommunikationsbedingungen gesamtgesellschaftlich gesichert werden. Schließlich stellt die Entkoppelung der Menschenrechte von der göttlichen Autorität nicht nur für Fundamentalisten eine ernste Herausforderung dar. 239 Das Hauptproblem sieht Habermas jedoch auch hier in einem verkürzten Vernunftbegriff (sEsA 45). Er führt entweder zu einer einseitigen Verherrlichung der Vernunft oder aber in eine Generalkritik. Interkulturelle Verständigung wird so entweder »problemlos oder sinnlos« (sEsA 45). Hier hilft es, auf Habermas’ Auseinandersetzung mit Jaspers einzugehen: Jaspers steht als Existenzphilosoph der Aufklärung, und damit der Vernunft, zunächst skeptisch gegenüber: Einerseits setzt die Aufklärung an der Metaphysik und Religion jene Entzauberungsarbeit fort, welche sie einstmals am Mythos vollbracht hat, andererseits drohen die Traditionen überhaupt verloren zu gehen und die Lebenswelt auf das objektiv Wissbare und technisch Verfüg237 Habermas, in: H. Brunkhorst et al. (Hg.), Ein Recht auf Menschenrechte, a. a. O., 223. 238 Vgl. ebd. 239 Habermas kritisiert hier die »übervereinfachten« Antworten aus dem Lager der Universalisten und der Relativisten.
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bare reduziert zu werden. 240 Jaspers setzt sich von Kierkegaard dadurch ab, dass er eine »reflektierte Religiosität ohne Heilsgewissheit in Anspruch« nimmt (vgl. sEsA 50). Eine so verstandene Existenzphilosophie ringt um eine Ethik, welche auch ohne den weltstützenden Kontext möglich ist. Damit nun der Einzelne die Freiheit zur Umkehr 241 oder auch zum Selbstsein erlangt, muss er sich die »Lebenswelt« sprachlich strukturieren und »Umgreifendes« innewerden. Das Innewerden des Umgreifenden geschieht bei Jaspers – und dies ist Habermas’ zentraler Anknüpfungspunkt – durch und in der Begegnung mit fremden Existenzen. »Selbstsein und In-Kommunikation-Sein ist untrennbar.« 242 Interessanterweise ähnelt diese Idee des »Innewerdens« dem Prozess der Selbstbewusstwerdung durch die Anrufung des Anderen, wodurch Habermas an anderer Stelle bei Kierkegaard anknüpft und schließlich über Rousseau und Humboldt zu Meads Übernahme des Me durch den Blick des Anderen gelangt. 243 Habermas kritisiert bei Jaspers, dass der Abgrund zwischen kontextabhängigem Glauben 244 einerseits und der vernünftigen Analyse von allgemeinen Kommunikationsverhältnissen andererseits nicht überbrückt werden kann. Die Gefahr eines weltanschaulichen Pluralismus besteht nämlich vor allem darin, dass über Wahrheiten von Erklärungen, die Richtigkeit von Geboten und Glaubwürdigkeit von Versprechungen gestritten wird, ohne sich dabei auf »die Sorte von Gründen beschränken zu können, für die in modernen Gesellschaften allgemeine und öffentliche Anerkennung zu erwarten ist« (sEsA 56). Daher fordert Habermas eine »reflexive Brechung von dogmatischen Wahrheitsansprüchen, also keine kognitive Selbsteinschränkung, sondern den Übergang zu einer anderen Stufe des moralischen Bewusstseins« (sEsA 58). Dies führt zu seiner zentralen Einsicht, dass interkulturelle Verständigung nur unter der Bedingung des wechselseitigen Zugeständnisses von gleichen Freiheiten sowie einer gegenseitigen Perspektivenübernahme gelingen kann. Habermas gesteht Jaspers jedoch die frühe Einsicht zu, dass nur eine Vernunft, welche sich durch ihren öffentlichen Gebrauch und der wechselseitigen Mitteilbarkeit und Ver240 241 242 243 244
Vgl. Habermas, sEsA 49. Natürlich erinnert der Begriff der Umkehr an die jüdische Idee des Teschuwa. K. Jaspers, Von der Wahrheit, München 1991, 546, zit. nach Habermas, sEsA 51. Vgl. zur intersubjektiven Wende weiter oben. Zu dem auch die Philosophie zählt.
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ständigungsbereitschaft ausdrückt, den Fundamentalismus erweichen kann. Es geht ihm wie Jaspers nicht um den Konsens mit Bezug auf Glaubensinhalte, sondern vielmehr um die Authentizität der Glaubensanhänger, welche durch die Lebensführung bezeugt wird (sEsA 43), oder wie Jaspers es selbst ausdrückt: »[…] Menschen, die notwendig miteinander reden, aber nicht notwendig miteinander beten.« 245 In Habermas’ Theoriekonzept bezieht sich dieser Gedanke auf die Relevanz der verschiedenen Geltungsansprüche: Religiöse Bekenntnisse brauchen in der Öffentlichkeit nicht dem Kriterium der Wahrheit gerecht zu werden, wohl aber dem Geltungsanspruch der Wahrhaftigkeit. Ziel ist die gleichberechtigte Koexistenz verschiedener Glaubensund Lebensformen. Um diese Unterscheidung weiter zu verdeutlichen, hilft der skeptische Blick des »Phänomenologen«: Zunächst werden die verschiedenen Interpretation des Gegebenen in Frage stellt und damit versucht, die eigenen »Vorurteile« stufenweise zu überwinden. Auf diesem Weg gelangt nicht nur der Phänomenologe, sondern auch Habermas zu der Schlussfolgerung, dass auch das säkulare Weltbild nur eines unter vielen anderen Weltbildern darstellt (vgl. NuR 119 ff.), der Einzelne aber dennoch auf solche Begründungen zurückgreifen muss, welche auch für andere Kommunikationsteilnehmer verständlich sind. 246 Auf politischer Ebene argumentiert Habermas pragmatisch und verweist auf die schlichte Gegebenheit sich als kollektive und kollaborative Akteure verschiedener kultureller Traditionen zu verstehen. 247 Die Abschirmung gegenüber anderen Glaubensansprüchen stellt in einer globalisierten Welt keine Option mehr dar. Eine reflektierte und rechtliche Institutionalisierung von Menschenrechten kann daher als der Versuch angesehen werden, sowohl die partikularen religiösen und kulturellen Überzeugungen in ihrer Wahrhaftigkeit anzuerkennen als auch jedem einzelnen Menschen, durch die kommunikative Verständigung über eine gemeinsame Interpretation der Welt, solche Rechte zukommen zu lassen, welche sich mit K. Jaspers, Von der Wahrheit, a. a. O., 110, zit. nach Habermas, sEsA 53. D. h. die Notwendigkeit einer säkularen Kommunikationsbasis, trotz des eingestandenen Fallibilismus eines säkularen Weltbildes. Staatsbürger helfen sich bei den entsprechenden Übersetzungsarbeiten von religiösen in allgemeinverständlich säkulare Gründe (vgl. NuR 119 ff.). 247 Vgl. Habermas, Der interkulturelle Diskurs über Menschenrechte, in: Brunkhorst et al. (Hg.), Ein Recht auf Menschenrechte, a. a. O., 226. 245 246
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dem eigenen Glauben vereinbaren lassen. Conditio sine qua non eines solchen Dialogs ist der grundsätzliche Wille für eine interkulturelle Annäherung, d. h. der Entwicklung einer kommunikativen Vernunft, welche in der gegenseitigen Perspektivenübernahme und Anerkennung auf gegenseitiges Verstehen abzielt. Schließlich können die meisten Einwände, die des Westens sowie diejenigen anderer Kulturen, durch den Paradigmenwechsel von einer instrumentellen zu einer kommunikativen Vernunft entkräftet werden. Dennoch ist es eben gerade das Merkmal oder auch der »detektivistische Zug« der kommunikativen Vernunft, weiterhin für Einwände – in letzter Konsequenz auch gegenüber der kommunikativen Vernunft selbst – offenzubleiben.
1.4.2 Kommunikative Vernunft als Garant der Einbeziehung des Anderen Abschließend soll reflektiert werden, ob und auf welche Weise Habermas versucht, den Anderen, gerade in seiner Andersheit, einzubeziehen. Auf der Ebene der politischen Philosophie wurden drei Kriterien expliziert: die Offenheit gegenüber der Zukunft, die Publizität sowie die Idee der Verflüssigung. Durch die Offenheit ist es möglich, dass unterdrückte Stimmen immer wieder die Möglichkeit haben, sich Gehör zu verschaffen. Dieser Punkt wird durch das Prinzip der Publizität noch verstärkt, denn jeder bekommt die Chance, den Geltungsanspruch der beschlossenen Gesetze kritisch zu hinterfragen. Ein Beispiel hierfür ist die Emanzipationsbewegung: Erst die wiederholten Versuche, das Scheitern und das Wiederanpassen von Gesetzesentwürfen führten über viele Jahre hinweg zu einer stufenweisen Integration und Gleichstellung von Frauen. Ein Prozess, der bis heute nicht vollkommen abgeschlossen ist. Alle Parteien sind hier den komplexen Lernprozessen ausgesetzt. Der Grund für diesen Prozess ist die stufenweise Bewusstwerdung der Lebensweltstrukturen. Das heißt, der Rechtsapparat muss sich als aufnahmebereit und flexibel gegenüber den beschleunigten Änderungen der Gesellschaftsstrukturen erweisen. Habermas bezeichnet dies als die »Verflüssigung der Rechtssetzung«. Natürlich deuten all diese Möglichkeiten der Einbeziehung auf einen wesentlichen Punkt hin: Die Notwendigkeit der Institutionalisie134 https://doi.org/10.5771/9783495860601 .
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rung entsprechender Kommunikationsbedingungen. Diese ergeben sich aus Diskurstheorie und Diskursethik. Auf dieser Ebene wird nun die Einbeziehung zukünftiger Einwände nochmals verstärkt: Weil Wahrheit per se immer nur im Sinne einer optimalen Annäherung möglich ist, muss die Diskurstheorie per definitionem für künftige Einwände offen bleiben. Ihr Fallibilismus ist die notwendige Konsequenz ihrer Prozesshaftigkeit. Das heißt, das theoretische Fundament für den Begriff der Zukünftigkeit und Verflüssigung findet das deliberative Demokratiemodell im prozessualen Wahrheitsbegriff der Diskurstheorie. Das heißt, idealerweise hält sich die Gesellschaft für zukünftige Einwände offen und lässt von der Versuchung ab, die Zukunft nachfolgender Generationen in ihrem Sinne zu usurpieren. Die Idee der Publizität verlegt den privatim vorgenommenen Perspektivenwechsel in den öffentlichen Diskurs. Dadurch wird dem Anderen die Andersheit nicht im privatimen Vorgriff bereits weggenommen, sondern Mitgefühl wird durch den öffentlichen Prozess der Perspektivenübernahme ersetzt: Fairness, Grad der Verständigung etc. werden beurteilbar und dem Anderen wird die Möglichkeit gegeben, durch die Ablehnung von Geltungsansprüchen zu protestieren. Die Diskursethik eröffnet darüber hinaus zwei neue Möglichkeiten der Einbeziehung: einerseits wertet die Diskurstheorie die Andersheit des Anderen auf, weil die fremde Perspektive für eine möglichst effiziente Annäherung an die Wahrheit notwendig ist. Andererseits drängen Diskurstheorie und Diskursethik nach einer Überwindung der Subjektphilosophie und damit der absoluten Trennung von Selbst und Anderem. Die erste Möglichkeit der Einbeziehung ist eine Folge des prozessualen Wahrheitsbegriffs, welche als »Etappenkonsens« verschiedener Perspektiven gesehen wird. Die Andersheit einer anderen Perspektive ist daher nicht bedrohlich, sondern vielmehr ein konstruktiver Beitrag. Und der Andere wird gerade in seiner Andersheit und Unvertretbarkeit anerkannt und einbezogen. Vielheit und Einheit sind also keine unvereinbaren Gegensätze, sondern das eine bedingt das andere. »Noch immer gilt die Zuschreibung identischer Bedeutungen als Verletzung metaphorischer Vieldeutigkeit, nicht als deren Bedingung. Noch immer gilt die Einheit der Vernunft als Repression, nicht als Quelle der Vielfalt ihrer Stimmen.« (ND 180). Andererseits versucht Habermas die zur Vereinzelung führenden Prämissen der Subjektphilosophie zu überwinden. Im Rückgriff auf Mead zeigt Habermas, dass die Ver135 https://doi.org/10.5771/9783495860601 .
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einzelung nur durch Vergesellschaftung erreicht werden kann: Selbstbewusstsein geht auf die Möglichkeit zur Perspektivenübernahme zurück, d. h., der Einzelne wird erst durch den Blick des Anderen zum Subjekt. Daraus folgt, dass Subjekt und Anderer nicht unvereinbar sind, sondern kollateral verschränkt. Dieser Punkt führt schließlich zur kommunikativen Vernunft: die Möglichkeit des Verstehens steht in Verbindung mit dem frühkindlichen Prozess der Perspektivenübernahme. 248 Erst durch diese Perspektivenübernahme entwickeln Kinder ein Bewusstsein für sich in der Welt und in Bezug auf andere. 249 Diese Perspektivenübernahme setzt jedoch voraus, dass sich Mutter/Vater-Kind grundsätzlich verstehen – wenn auch dieses Verstehen zunächst mehr auf einer körperlichen und weniger sprachlichen Ebene basiert. Die kommunikative Vernunft knüpft nun an dieser grundsätzlichen Möglichkeit des Verstehens an. Ihr Desiderat ergibt sich aus der Infragestellung der Lebenswelt. Es wurde gezeigt, warum die kommunikative Vernunft vor dem vereinzelten und rein zweckgeleiteten manipulativen Eingriff auf die objektive Außenwelt zurückschreckt und sich zunächst dem »Anderen« zuwendet, um zu fragen: »Siehst Du, was ich auch sehe?«. Durch diese phänomenologische »Einklammerung« stellt sie die eigene Wahrnehmung der Welt zunächst in Frage und bleibt dadurch offen für den Blick des Andern. 250 Dieser Blick gewinnt hier vor allem eine objektivitätsstiftende Bedeutung. Das heißt, der Andere wird sowohl in die Situationsdeutung als auch in die Handlung miteinbezogen. Der Aspekt der Publizität erhält auch auf dieser Ebene eine weitere Vertiefung durch die Idee der »Veräußerlichung« des kategorisches Imperativs einerseits (im Gegensatz zur Internalisierung des Anderen) sowie dem public ideal role taking (im Gegensatz zur privatim vorgenommenen Rollenübernahme) andererseits. In der Diskursethik wurden hierfür bereits optimale Bedingungen konstruiert. In der kommunikativen Vernunft werden nun die subjektphiloso248 Ich habe diesen Aspekt in meinem Buch ›Vernunft, Mitgefühl und Körperlichkeit‹ (Verlag Karl Alber 2013) im Kontext mit sozialpsychologischen Studien und den phänomenologischen Analysen von Merleau-Ponty weiter ausgearbeitet. 249 Vgl. J. Seewald, Leib und Symbol. Ein sinnverstehender Zugang zur kindlichen Entwicklung. München 1992. 250 Sie vollzieht auf der Ebene der Vernunft, was die Diskurstheorie für eine Annäherung an die Wahrheit fordert.
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Erste Zwischenbetrachtung
phischen Prämissen endgültig durch den Begriff der Intersubjektivität ersetzt: Perspektivenübernahme und kommunikatives Handeln werden auf den Prozess der Selbstbewusstwerdung bezogen. Und durch Mead werden sowohl Perspektivenübernahme als auch die kommunikative Beziehung auf eine gemeinsame äußere Welt als primordinal erkannt. Natürlich kann eine solche unmittelbare Beziehung verlernt oder negiert werden, grundsätzlich geht jedoch die Möglichkeit zur Individuierung aus diesem Zustand der Intersubjektivität hervor. Die institutionalisierten und idealisierten Sprechbedingungen liegen daher auf einer Linie zu einer primordinalen Fähigkeit zur Perspektivenübernahme, welche der kommunikativen Vernunft vorausgeht und sie bedingt. In diesem Sinne kann die kommunikative Vernunft als regelgeleitete und damit als von der emotionalen Zufälligkeit befreites Mitgefühl (im Sinne der Perspektivenübernahme) begriffen werden. Sie hat ihren Platz in der intersubjektiven Sphäre zwischen Menschen. Entsprechend besteht ihr Ziel darin, eine Verständigung über eine gemeinsame Wirklichkeitsinterpretation sicherzustellen. In diesem Sinne ist sie allen weiteren Arten der Vernunft vorgelagert. Die Verhärtung einer isolierten Manipulation der Welt ist selbstverständlich und grundsätzlich möglich. Eine solche Zweckrationalität hat sich dann jedoch von der eigentlich intersubjektiven Bezogenheit zwischen Menschen entfernt. Die folgende Graphik soll diese These nochmals verdeutlichen:
Exkurs: die kommunikative Vernunft und die Postmoderne Habermas möchte das Projekt der Moderne ins nachmetaphysische Denken retten. Damit einher geht die Überzeugung, dass auf der Ebene 137 https://doi.org/10.5771/9783495860601 .
Jürgen Habermas: Kommunikative Vernunft
eines modifizierten Vernunftbegriffs interkulturelles Verstehen grundsätzlich möglich ist. Demgegenüber steht der postmoderne Einwand, dass kulturelle Diskurse grundsätzlich inkommensurabel sind. Reese-Schäfer sieht den Anfang dieser Auseinandersetzung zwischen Habermas und der Postmoderne in seinem Vortrag »Die Moderne – ein unvollendetes Projekt« 251, welchen er bei der Verleihung des Adorno Preises 1980 in der Paulskirche hielt. 252 Habermas unterscheidet darin zwischen den Jungkonservativen, den Altkonservativen und den Neukonservativen. 253 Trotz der teils sehr polemischen Kritik an der Postmoderne hat Habermas immer wieder zentrale Gedanken der vernunftskeptischen Position aufgenommen. 254 Er ist sich der Problematik des nachmetaphysischen Denkens, welche die Postmoderne so deutlich hervorhebt, bewusst. 255 Habermas wehrt sich jedoch entschieden gegen die Reaktionen der Postmoderne auf diese »neue Unübersichtlichkeit«. 256 Sein Versuch geht nämlich in eine ganz andere Richtung: »Ich meine, dass wir eher aus den Verirrungen, die das Projekt der Moderne begleitet haben, aus den Fehlern der verstiegenen Aufhebungsprogramme lernen, statt die Moderne und ihr Projekt selbst verloren geben sollten« 257 (KPS 460). Aus dieser Grundintention entwickelt sich in den folgenden Jahren ein vielschichtiger Dialog, welcher Politik, Kunst und Philosophie gleichermaßen tangiert. In dem folgenden Abschnitt werde ich mich auf Habermas’ Erwiderungen auf die Einwände der Postmoderne gegen die Idee der kommunikativen Vernunft beschränken müssen. 258 Habermas selbst bringt die Einwände, welchen die kommunikative Vernunft ausgesetzt ist auf folgende zwei Punkte: Den Metaphysikern ist sie zu schwach, weil alles Inhaltliche als kontingent gesehen wird, den Relativisten ist sie zu stark, weil sie die Inkommensurabilität 251 Abgedruckt in: J. Habermas, Kleine Politische Schriften I–IV, Frankfurt am Main 1981. 252 Vgl. W. Reese-Schäfer, Jürgen Habermas, a. a. O., 138. 253 Vgl. Habermas, KPS 444 f. 254 Vgl. u. a. seine Auseinandersetzung mit Adorno. 255 Vgl. Habermas, pDM 133 sowie ND 153 ff., um hier nur zwei Beispiele aufzuführen. 256 Vgl. J. Habermas, Die Neue Unübersichtlichkeit. Kleine Politische Schriften V, Frankfurt am Main 1985, 145 ff. 257 Vgl. Habermas, KPS 460. 258 Die Kritik der Postmoderne werde ich erst im nächsten Kapitel am Beispiel Richard Rortys genauer darstellen sowie im abschließenden Kapitel die direkte Auseinandersetzung und wechselseitige Bezugnahme von Habermas und Rorty explizieren.
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Erste Zwischenbetrachtung
verschiedener Welten missachtet. 259 Er kontert gegen beide Kritikpunkte mit einer Verschränkung der Extreme von Einheit und Vielheit: Die kommunikative Vernunft zielt einerseits auf die Hörbarmachung möglichst vieler verschiedener Stimmen. Dies gelingt ihr andererseits nur über ein prozedurales Kommunikationsverfahren, d. i. die Einigung auf bestimmte idealisierte Rahmenbedingungen und Geltungsansprüche, welchen zuvor alle Kommunikationsteilnehmer zugestimmt haben. Solche Kriterien ermöglichen die Identifikation von Fehlerquellen im Falle von Dissens oder Unverständnis. Oftmals wird in der Postmoderne Verstehen mit Assimilation gleichgesetzt: Da Diskurse per se inkommensurabel sind, ist Verstehen die Illusion, welche auf Assimilation beruht. 260 Diesem Einwand versucht Habermas durch einen Verstehensbegriff zu entgehen, mit welchem er sich weitgehend auf Gadamer stützt (vgl. TkH I 188 ff.). In der philosophischen Hermeneutik wird Verstehen als die Antizipation verschiedener Lebensweltkontexte begriffen. Dem gehen eine Infragestellung und ein Innewerden der eigenen »Vorurteile« voraus. 261 Daraus folgt, dass die Horizontverschmelzung kein einseitiger Prozess ist. Vielmehr geht es um eine wechselseitige Annäherung, welche bestenfalls eine beidseitige Horizonterweiterung zur Folge hat. In diesem Sinne ist ein Verstehensprozess immer auch ein Lernprozess bzw. eine Art der Akkommodation. 262 »Verstehen« verlangt nach der inneren Bereitschaft zur Veränderung und der Einsicht, dass mir der Andere etwas zu sagen hat, das ich noch nicht kenne: »[…], dass Verstehen dort, wo es gelingt, ein Innewerden bedeutet, das als seine neue Erfahrung in das Ganze unserer eigenen geistigen Erfahrung eingeht. Verstehen ist ein Abenteuer und ist wie jedes Abenteuer gefährlich.« 263 Sinngemäß nach Habermas, ND 14. Vgl. die übergreifende Darstellung der Postmoderne von W. Welsch, Unsere postmoderne Moderne, Berlin 2002. 261 H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Tübingen 1990, 270 ff. 262 Vgl. zur Akkommodation und kognitiven Entwicklung des Kindes: J. Piaget, Das Weltbild des Kindes. München 1978. 263 H.-G. Gadamer in: Schönherr-Mann, H.-P. (Hg.), Hermeneutik als Ethik, München 2004, 51. Schönherr-Mann erweitert den Verstehensbegriff Gadamers auf die politische Gerechtigkeit, denn »einer Sache gerecht werden, indem man sie richtig versteht, indem man sie nicht bloß aus der eigenen Perspektive betrachtet, ihre Interpretation nicht bloß an den eigenen Interessen orientiert, verbindet Hermeneutik und Deskription originär mit dem ethischen Anspruch der Gerechtigkeit« (Schönherr-Mann in: HE 25). 259 260
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Dem liegt ein gewisses idealisierendes Moment zugrunde, nämlich das »Vorurteil« der Vollkommenheit einer Aussage oder eines Textes. 264 Habermas grenzt sich von Gadamer insofern ab, als er auch den Umkehrschluss nachvollzieht: Nicht nur muss ich vom Anderen annehmen, dass seine Aussage vernünftig, wahrhaftig etc. ist, sondern dasselbe muss auch vom Anderen gefordert werden. Habermas kritisiert, Gadamer würde zu sehr der philologischen Sichtweise verhaftet bleiben. Für Habermas hingegen muss die Verstehensintention reziprok gelten (vgl. TkH I 193 f.). Den meisten Einwänden aus dem machtkritischen Lager lässt sich ein zweckrationaler Vernunftbegriff nachweisen. 265 Dadurch lassen sich diese Einwände leicht durch den Hinweis auf einen erweiterten Vernunftbegriff entkräften. Schwieriger wird es im Hinblick auf die Frage, wie und ob objektive Erkenntnis möglich ist. Die »Objektivisten« halten hierbei weiterhin an einer Konvergenztheorie der Wahrheit fest, müssen dabei aber eine vermittelnde Stellung zwischen Sprache und Realität einnehmen. Die »Relativisten« behaupten hingegen, es gebe keine über die lokale Gültigkeit hinausgehenden Verbindlichkeiten. Dadurch muss der Relativismus von einem Vernunftbegriff Abstand nehmen, weil dieser bereits einen normativen Gehalt aufweist, der den lokalen Gültigkeitsbereich übertritt. Die Schwierigkeit einer solchen Position ist jedoch, dass sie sich entweder Widersprüche einhandelt, sobald sie die Teilnehmerperspektive verlässt oder aber den Preis des Ethnozentrismus bezahlt und den Anderen per se ausschließt. An dieser Stelle hilft dem Relativismus einzig der Rückfall in eine emotivistische Vormoderne. Und Habermas wittert in diesem Falle die Gefahr der Assimilation des Fremden, weil ein Verfahren fehlt, das die Verschiedenartigkeit der Perspektiven berücksichtigt. 266 Die kommunikative Vernunft nähert sich dem relativistischen Standpunkt insofern an, als sie fast alles als kontingent setzt. »Aber für alles, was innerhalb sprachlich strukturierter Lebensformen Geltung beansprucht, bilden die Strukturen möglicher sprachlicher Verständigung ein Nicht-Hintergehbares« (ND 180 f.). Jedoch anders als H. G. Gadamer, Wahrheit und Methode, a. a. O., 278 f. Hierzu gehört auch der Einwand Adornos aus dem eigenen Lager: Die Intention, das Nichtidentische vor dem Zugriff der Zweckrationalität zu bewahren (vgl. T. W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt am Main 1968). 266 Vgl. Habermas, ND 178. 264 265
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Erste Zwischenbetrachtung
der Relativismus bleiben für die kommunikative Vernunft die Ideen von Wahrheit, Vernunft und Rechtfertigung kulturübergreifende Phänomene einer jeden Sprachgemeinschaft. Habermas’ Bedenken gelten hierbei insbesondere der dezentrierten Gesellschaft, in welcher Verobjektivierungen in die Lebenswelt eindringen und zur Entfremdung des Einzelnen führen. Deshalb versucht er den folgenden Mittelweg: sowohl die Differenzen wahrzunehmen als auch die Möglichkeit zur Verständigung und zum koordinierten Handeln nicht von vorneherein auszuschließen; insbesondere in einer Risikogesellschaft, in welcher koordinierte Entscheidungen über globale Probleme keine freie Option mehr darstellen, sondern eine Notwendigkeit, welcher sich keine Kultur entziehen kann. »Auch die dezentrierte Gesellschaft braucht des Bezugspunktes der projektierten Einheit eines intersubjektiv gebildeten gemeinsamen Willens nicht zu entraten.« (ND 181) Hier gewinnt Habermas’ Konzeption von schwach kulturtranszendierenden Geltungsansprüchen einerseits und kontextabhängigen Ja/Nein-Stellungnahmen vor Ort andererseits vor allem an praktischer Relevanz. Sie schafft allen voran eine gewisse gegenseitige Zurechnungsfähigkeit, indem sich die Kommunikationsteilnehmer auf grundlegende Strukturen eines Dialoges einlassen; dies impliziert, dass die Einzelnen für ihre Überzeugungen und Handlungen Gründe hervorbringen und im Zweifelsfall diese verteidigen oder ändern. Aber selbst für diese idealisierten Rahmenbedingungen der kommunikativen Vernunft räumt Habermas einen letzten Rest Metaphysik ein. »Das Moment der Unbedingtheit, das in den Diskursbegriffen der fehlbaren Wahrheit und Moralität aufbewahrt ist, ist kein Absolutes, allenfalls ein zum kritischen Verfahren verflüssigtes Absolutes. Nur mit diesem Rest von Metaphysik kommen wir gegen die Verklärung der Welt durch metaphysische Wahrheiten an.« (ND 184) Im Unterschied zu den prophetischen Lehren, welche Utopien in die Zukunft verlegen, geht es Habermas um die – wenn auch notwendigerweise – immer unvollständige Annäherung eines solidarischen Lebens. »Produzieren heißt allerdings nicht Herstellen nach dem Modell der verwirklichungsintendierten Zwecke; es bedeutet vielmehr das nichtintendierbare Hervorgehen aus der fehlbaren und immer wieder misslingenden kooperativen Anstrengung, die Leiden versehrbarer Kreaturen zu mildern, abzuschaffen oder zu verhindern.« (ND 186) Gerade hier nähert sich Habermas mehr als sonst Rortys Formulierun141 https://doi.org/10.5771/9783495860601 .
Jürgen Habermas: Kommunikative Vernunft
gen an. Oder in anderen Worten: Das »melancholische Bewusstsein« gibt trotz der Einsicht in das tagtägliche Scheitern nicht auf.
1.4.3 Offene Fragen Ich schließe dieses Kapitel mit einigen bescheidenen Anmerkungen im Hinblick auf das Verhältnis zwischen Mitgefühl und Vernunft im Kontext einer Kultivierung von Menschenrechten. Keinesfalls kann es das Ziel sein, die komplexe Theoriekonzeption als Ganzes zu untergraben, sondern vielmehr soll ein Forschungsdesiderat an der einen oder anderen Stelle vorgeschlagen werden, um das Theoriekonzept auch für die politische Bildung nutzbar zu machen. Nichtsdestotrotz möchte ich diesen Anmerkungen einen kurzen Überblick voranstellen, welcher die wichtigsten Kritikpunkte der Habermas-Rezeption der letzten Jahre anspricht. Auch hier muss ich mich auf solche Kritikpunkte beschränken, welche sich direkt auf die hier vorliegende Argumentation beziehen. Alles Weitere würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. 267 a.
Kommunikative Vernunft und Diskursethik in der Kritik: themenbezogene Strömungen
Sowohl die Diskurstheorie als auch die kommunikative Vernunft 268 sind seit ihrem Aufkommen von verschiedenen Seiten unter Beschuss geraten. Insbesondere von Axel Honneth wird gegen das Kommunikationsparadigma der Einwand hervorgebracht, es verhalte sich ignorant gegenüber moralischen Gefühlen. Zudem ignoriere es die normativen Erwartungsansprüche in Interaktionsprozessen, welche eine soziale Anerkennung erst konstituieren. 269 267 Es gibt hierfür gute und ausführliche Darstellungen, z. B. H.-P. Krüger, Kritik der kommunikativen Rationalität, Berlin 1990; W. Reese-Schäfer, Jürgen Habermas, a. a. O.; A. Honneth u. H. Joas (Hg.), Kommunikatives Handeln, Frankfurt am Main 2002; Detlef Horster, Einführung in Habermas, Hamburg 2001. Vgl. auch Habermas’ eigene Erwiderungen auf Einwände je am Ende seiner Werke. Außerdem verweise ich an dieser Stelle auf die vollständige Auflistung aller Werke zu und über Habermas am Ende des Buches: A. Honneth u. H. Joas (Hg.), Kommunikatives Handeln, a. a. O. 268 Die Einwände gegen Habermas’ Menschenrechtskonzeption habe ich bereits weiter oben themenspezifisch dargestellt. 269 A. Honneth, Die soziale Dynamik von Missachtung. Zur Ortsbestimmung einer kritischen Gesellschaftstheorie, in: Leviathan, 22. Jg., 1994, 81 u. 85 f. Vgl. hierzu auch:
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Die Diskursethik wird grundsätzlich als kognitivistischer Ansatz bezeichnet. 270 Sie steht daher in enger Verwandtschaft mit der praktischen Vernunft bei Kant. Dem Diskursprinzip fehle deshalb eine Letztbegründung. 271 Habermas wendet dagegen ein, dass hier der Begründungsbegriff zu eng sei, d. h., dass »Begründen« einzig als die Rückführung auf ein letztes Prinzip verstanden wird. Reese-Schäfer eilt an dieser Stelle Habermas zur Seite und führt aus, dass bei philosophischen Grundfragen der Weg nicht so sehr über die Deduktion, sondern über das Reflexivwerden des Gesamtzusammenhangs geschieht. »Logik z. B. kann nicht deduktiv begründet werden, weil sie bei dieser Begründung selbst immer schon vorausgesetzt werden muss. Hier hilft nur die Reflexion über die eigenen Bedingungen. In der praktischen Argumentation heißt das, dass nicht mehr nach der Deduktion als Begründungsform gesucht werden muss, sondern nach Argumentationsregeln.« 272 Genau dieses tut Habermas, wenn er den Universalisierungsgrundsatz U als Argumentationsregel einführt. 273 Habermas sieht in diesem Fehlen einer Letztbegründung kein Problem, weil es im Zuge der Sprachphilosophie ohnehin nur um Sätze geht. Es handelt sich »nicht um wirkliche letzte Gewissheiten, sondern um hypothetische und fallible Rekonstruktionen. Freilich entsteht auch gar kein Schaden, wenn wir der transzendentalpragmatischen Begründung den Charakter einer Letztbegründung absprechen. Vielmehr fügt sich dann die Diskursethik ein in den Kreis jener rekonstruktiven Wissenschaften, die es mit den rationalen Grundlagen von Erkennen, Sprechen und Handeln zu tun haben« (MkH 107). Des Weiteren geht Habermas mit seiner Diskurstheorie nicht von einem substanziellen, sondern einem konsensualen und prozesshaften Wahrheitsbegriff aus. 274 Der Begriff D. Horster, Habermas, a. a. O., 123 f. Auf den Aspekt der moralischen Gefühle und der Motivation versuche ich weiter unten einzugehen, wenn auch auf ganz andere Weise als Honneth. 270 Vgl. weiter oben Kap. zur Diskursethik. 271 H. Albert stellt in seinem Traktat über die kritische Vernunft die Unmöglichkeit der Begründung hervor, indem er nur drei Möglichkeiten in einem solchen Fall aufzeigt, nämlich den infiniten Regress, den logischen Zirkel oder den Abbruch des Verfahrens (Tübingen 1980, 13), auch in: Reese-Schäfer, Jürgen Habermas, a. a. O., 78. 272 W. Reese-Schäfer, Jürgen Habermas, a. a. O., 79. 273 Apel bringt hier den performativen Widerspruch als Argumentationsregel hervor, welchen er für eine unabweisbare Voraussetzung hält. Doch auch hier steht eine Letztbegründung aus. 274 Vgl. weiter oben zum Wahrheitsbegriff in der Diskurstheorie.
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der Wahrheit gilt dabei lediglich als »Orientierungsbegriff« 275: »Dass unsere Gründe wirklich gute Gründe sind und hinreichen, um uns der Wahrheit zu vergewissern, ändert nichts daran, dass sich grundsätzlich das, was wir für – endgültig – wahr halten, sich einmal als Irrtum herausstellen könnte. Vielleicht betrifft der Dissens zwischen Apel, Kuhlmann und mir gar nicht den Fallibilismus, sondern die Wahrheitstheorie. Ich verstehe die Diskurstheorie der Wahrheit so, dass sie den diskursiv erzielten Konsens nicht (wie einige meiner eigenen früheren Formulierungen besagen) als Wahrheitskriterium auszeichnen soll; vielmehr soll sie anhand der diskursiven Einlösung von Geltungsansprüchen den Sinn jenes Momentes von Unbedingtheit erklären, das wir intuitiv mit dem Begriff Wahrheit verbinden.« 276 In seinem Buch Wahrheit und Rechtfertigung schränkt Habermas jedoch diesen orientierenden und prozessualen Wahrheitsbegriff erkenntnistheoretisch ein. Denn die diskurstheoretischen Voraussetzung reichen entweder für eine adäquate Annäherung an die Wahrheit nicht aus oder aber sind so idealisiert, dass sie nicht realisierbar sind. »Diese prozedurale Fassung von Wahrheit als diskursive Einlösung von Wahrheitsansprüchen ist insofern kontraintuitiv, als Wahrheit offensichtlich kein ›Erfolgsbegriff‹ ist. Wohl besteht für uns, solange wir uns auf der Ebene des Diskurses bewegen, ein nicht hintergehbarer epistemologischer Zusammenhang von Wahrheit und Rechtfertigung. Aber inzwischen habe ich mich […] davon überzeugen lassen, dass sich aus diesem Umstand kein konzeptioneller Zusammenhang zwischen Wahrheit und rationaler Behauptbarkeit unter idealen Bedingungen ergibt. Sonst dürften wir Wahrheit nicht als eine ›unverlierbare Eigenschaft‹ von Aussagen verstehen.« (WuR 50 f.) Habermas hält zwar an der rationalen Akzeptabilität fest, bringt jedoch einen zusätzlichen Gedanken hervor: Es ist das Ziel von Rechtfertigungen, auf eine Wahrheit zu stoßen, die über alle Rechtfertigungen hinausragt. Dies versetzt die Diskursteilnehmer in eine paradoxe Situation: »Einerseits können sie kontroverse Wahrheitsansprüche ohne direkten Zugriff auf Wahrheitsbedingungen nur dank der Überzeugungskraft guter Gründe einlösen; andererseits stehen auch die besten Gründe unter Fallibilitätsvorbehalt, so dass gerade dort, wo ja die Wahrheit und Falschheit von Vgl. W. Reese-Schäfer, Jürgen Habermas, a. a. O., 30. J. Habermas, Entgegnungen, in: A. Honneth, H. Joas (Hg.), Kommunikatives Handeln, a. a. O., 352. 275 276
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Aussagen allein zum Thema gemacht wird, die Kluft zwischen rationaler Akzeptabilität und Wahrheit nicht überbrückt werden kann« (WuR 53). 277 Der Erfolgsbegriff von Wahrheit wird nun ersetzt durch einen offenen, elliptischen und falliblen Begriff der Wahrheit. Es bleibt dann natürlich fraglich, inwiefern ein diskursiv erzieltes Einverständnis die Teilnehmer dazu befähigt, das Ergebnis für wahr zu halten. Hier verweist Habermas auf das Verhaftetbleiben innerhalb eines Lebensweltkontextes. Diskurse haben lediglich das Ziel, einen gestörten Teilbereich des Lebensweltkontextes zu reparieren (WuR 53). 278 Daher bleibt die ideale Diskurssituation als Kontrollbedingung bestehen, allein ihre tatsächliche Umsetzung ist unwahrscheinlich geworden. Damit hat Habermas den Wahrheitsbegriff radikalisiert und jenseits der realen Sprechsituation gesetzt. 279 Im Endeffekt bleibt der Wissensstand für Habermas immer relativ zur jeweils bestmöglichen epistemischen Situation. Daher ist der Rückzieher von der Diskurstheorie nicht als Verabschiedung der Theorie als Ganzes zu verstehen. Der Bezug zur Welt geschieht immer über die Sprache. Das bedeutet, dass uns als Teilnehmer, vor dem präreflexiven Hintergrund einer problematisch gewordenen Lebenswelt, gar nichts anderes übrig bleibt, als uns mit einer rationalen Akzeptabilität von Aussagen innerhalb möglichst idealer Diskurse zufriedenzugeben. 280 Dieser Rückzieher bezieht sich deshalb hauptsächlich auf den Wahrheitsbegriff bei Habermas. Für den Geltungsanspruch der Richtigkeit ändert sich jedoch nichts. »Der Geltungsbegriff der moralischen Richtigkeit hat die ontologische Konnotation des rechtfertigungstranszendenten Wahrheitsbegriffs verloren. Während ›Richtigkeit‹ ein epistemischer Begriff ist und nichts anderes bedeutet als universale Anerkennungswürdigkeit, geht der Sinn der Wahrheit von Aussagen nicht in noch so anspruchsvollen epistemischen Bedingungen der Bewäh-
277 Es hat viel Aufhebens um diesen Aspekt in der Diskurstheorie gegeben. Daher zitiere ich, um Widersprüche und weitere Verwirrungen zu vermeiden an diesem Punkt Habermas selbst. 278 An dieser Stelle setzt sich Habermas eingehend mit der Differenz zwischen Wahrheit und Rechtfertigung bei Rorty auseinander (vgl. WuR 271 ff.); ich werde auf diesen Punkt später eingehen. 279 Vgl. hierzu W. Reese-Schäfer, Jürgen Habermas, a. a. O., 32. 280 Vgl. ebd. 32.
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rung auf: truth goes beyond idealized justification.« (WuR 291) 281 Das heißt, für die praktische Philosophie ändert sich nichts. 282 Ein weiterer Einwand betrifft den Abstraktionsgrad der Diskursethik. Dabei handelt es sich um die bekannte Kritik, welche Hegel seinerzeit gegen Kant vorgebracht hatte. 283 Habermas hält trotz alledem an der Grundidee der Diskurstheorie fest, nur die Rahmenbedingungen für moralische Diskurse vorzugeben und die Antworten den Beteiligten selbst zu überlassen (vgl. EzD 9 ff.). Er gesteht ein, dass seine restriktive Auffassung von der Leistungsfähigkeit der philosophischen Ethik eine Enttäuschung sein mag, aber er sieht diese auch als einen Ansporn: »[D]ie Philosophie nimmt niemandem die praktische Verantwortung ab. Übrigens auch nicht den Philosophen, die sich, wie alle anderen, moralisch-praktischen Fragen von großer Komplexität gegenübersehen und gut daran tun, sich zunächst einmal ein klares Bild von ihrer Situation zu verschaffen. Dazu können die Geschichts- und Sozialwissenschaften mehr beitragen als die Philosophie« (EzD 30). Insofern gibt die Diskursethik nicht schon inhaltliche Gebote vor, sondern stellt nur in Aussicht, unter welchen Bedingungen ein Konsens zu erwarten ist. Die Verantwortung trägt dabei ein jeder selbst, weil er sich eben nicht auf ein letztes Prinzip berufen kann außer auf dasjenige, welches die Kommunikationsteilnehmer selbst ausgehandelt haben. Reese-Schäfer gibt ferner zu Bedenken, dass »eine Brücke von den (ganz einleuchtenden) allgemeinen Begründungen dafür, dass man moralisch zu handeln habe, zu Fragen der Gerechtigkeit, der Politik, des Rechts und des Staates« 284 fehle. Hier stehen die »institutionsfreien Diskurstheoretiker« den »ethikfreien Institutionstheoretikern« gegenüber, welche die ethische Reflexion durch den Systembegriff zu ersetzen suchen. 285 Die Frage betrifft also die Umsetzbarkeit der Diskurs-
281 In dieser Unterscheidung von moralischer Richtigkeit und Wahrheit spiegeln sich natürlich die Begriffe der praktischen und der theoretischen Vernunft wider. 282 Diese Einsicht ist für die vorliegende Arbeit zentral, welche sich natürlich vor allem mit der praktischen Philosophie von Habermas beschäftigt. 283 Vgl. das Kapitel zu Moralität in: G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Bd. 7, in: Werke in 20 Bänden, hg. v. E. Moldenhauer u. K. M. Michel, Frankfurt am Main 1969–1971. 284 W. Reese-Schäfer, Jürgen Habermas, a. a. O., 88. 285 Vgl. O. Höffe, Politische Gerechtigkeit. Grundlegung einer kritischen Philosophie von Recht und Staat, Frankfurt am Main 1987, 26 f.
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theorie: 286 Das heißt, wer gehört zur Diskursgemeinschaft? Wo finden solche Diskurse statt? Wer kann sich als »Betroffener« deklarieren? 287 In der Auseinandersetzung zwischen dem »Relativisten« Rorty und dem »Universalisten« Habermas bringt Charles Taylor folgenden Einwand hervor: Er sieht in der starken Abstraktion des Verfahrensprinzips bereits zu viele westliche Vorurteile enthalten. 288 Z. B. hält Taylor die ›Vernunft‹ für einen besonderen Wert unserer westlichen Kultur und fordert: »Ich muss zeigen können, warum die rationale Verständigung einen so großen Wert für mich hat, dass sie allen anderen Zwecken vorgezogen werden soll.« 289 Seyla Benhabib greift den Einwand Taylors auf und bringt ihn auf folgenden Punkt: Entweder man hat es bei dem Verfahren mit Wertungen zu tun und ist damit dogmatisch oder aber die Vorgaben bleiben trivial und stehen damit in der Gefahr tautologisch zu sein. 290 Als Alternative schlägt Benhabib einen »historischen Universalismus« 291 vor, welcher von zwei – m. E. kontroversen – Grundsätzen ausgeht, nämlich einer »universalen moralischen Achtung« und der »egalitären Reziprozität«. 292 Die Auseinandersetzung schließlich zwischen Habermas und Rawls gleicht hingegen mehr einem ›Familienstreit‹. 293 Der wesentliche Unterschied besteht darin, dass Rawls jenseits des Pluralismus Vgl. dazu W. Reese-Schäfer, Jürgen Habermas, a. a. O., 88 f. Wenn auch die Praktikabilität solcher Diskurse noch zu erarbeiten ist, so behält die Diskurstheorie insofern Recht, als sie den Diskurs als Ort der gesellschaftlichen Willensbildung zuallererst ausfindig macht. Als solche Diskursinstitutionen sind verschiedene Möglichkeiten vorstellbar. Die Frage nach Praktikabilität der Diskursethik ist letztlich ein Forschungsdesiderat, welches ich an anderer Stelle diskutieren werde (vgl. Weber, Philosophieren mit Kindern über das Thema Menschenrechte, München 2013). 288 V. Hösle kritisiert umgekehrt, die Diskurstheorie habe zu wenige grundlegende Werte, und sieht die Gefahr eines kollektiven Wahnsinns (vgl. V. Hösle, Die Krise der Gegenwart und die Verantwortung der Philosophie. Transzendentalpragmatik, Letztbegründung, Ethik, München 1997, 248 ff.). 289 Vgl. Ch. Taylor, Sprache und Gesellschaft, in: A. Honneth u. H. Joas (Hg.), Kommunikatives Handeln, Frankfurt am Main 2002, 45 f. 290 S. Benhabib, Selbst im Kontext. Kommunikative Ethik im Spannungsfeld von Feminismus, Kommunitarismus und Postmoderne, Frankfurt am Main 1995, 40. 291 Ebd., 42. 292 Ebd., 40 ff. 293 Der Einwand Rawls’ tangiert die vorliegende Argumentation nur peripher, soll jedoch aufgrund der Prominenz Rawls’ und seiner Nähe zu Habermas zumindest kurz dargestellt werden. 286 287
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einen »overlapping consensus« vermutet, den es durch ein Gedankenexperiment zu finden gilt. 294 Dagegen möchte Habermas selbst für einen gefundenen Konsens keine absolute und ewige Gültigkeit beanspruchen. 295 Natürlich bleibt Rawls mit seiner Anwendungsintention innerhalb seiner kulturellen Grenzen, während Habermas eine transkulturell gültige Verfahrensweise entwickeln will. Deshalb gibt Habermas die inhaltliche Komponente an die Teilnehmer selbst ab und zieht dadurch eine Verbindung zu seinem Autonomiebegriff. b.
Das Übergehen des Körpers in der Engführung des Intersubjektivitätsbegriffs
Problem In den vorhergehenden Kapiteln wurde eingehend dargestellt, auf welche Weise Habermas versucht, das Individuum aus der subjektphilosophischen Vereinzelung herauszulösen und stattdessen als intersubjektiv zu begreifen: Die privatime, imaginäre und rein geistig vorgenommene Einbeziehung des Anderen wird öffentlich und empirisch überprüfbar. Indem aber die Vernunft den Innenraum des Subjekts verlässt, um in die intersubjektive Sphäre des Öffentlichen zu gelangen, ist sie nicht mehr von den Bedingtheiten des Körpers entbunden: Wo immer sich Menschen miteinander zu verständigen suchen, ist der Körper Medium dieser Verständigung. Fernerhin ist es u. a. die Verletzlichkeit des Körpers, welche eine moralische Zurechnungsfähigkeit notwendig macht. In den Erläuterungen zur Diskursethik verweist Habermas selbst auf jene »extreme Verletzbarkeit«, welche moralische Intuitionen zur Rücksichtnahme und Schonung aufrufen. Diese führt Habermas schlüssig auf die intersubjektive Verwobenheit der Individuen in komplexen Gesellschaften zurück: 296 Je weiter die Individuierung fortschreitet, desto mehr verstrickt sich das einzelne Subjekt in ein Netz »reziproker Schutzlosigkeiten und exponierter Schutzbedürftigkeiten« (EzD 15). Diese menschliche Bedingtheit ist für Habermas der eigentliche Grund für
294 Vgl. die Idee des »Schleiers des Nichtwissens« in: J. Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt am Main 1992. 295 Vgl. zur Wahrheitstheorie in diesem Abschnitt weiter oben. 296 Vgl. hier die Nähe zu George Herbert Mead.
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die Mitleidsethiken: »[…] in den kompensatorisch aufgebauten kulturellen Systemen selbst ist jene tiefe Verletzbarkeit angelegt, die als Gegenhalt eine ethische Verhaltensregulierung nötig macht. Das ethische Grundproblem ist die verhaltenswirksame Garantie der gegenseitigen Schonung und des Respekts; das ist der wahre Kern der Mitleidsethiken.« 297 Es ist eben der Körper, der uns einerseits mit anderen verbindet und damit die Möglichkeit eines intersubjektiv-öffentlichen Raumes schafft, andererseits aber von anderen trennt und damit die Notwendigkeit hervorruft, uns mit anderen – sei es vermittels Mitgefühl oder Vernunft – zu verständigen bzw. unsere Handlungen zu koordinieren. 298 Forschungsdesiderat für die Zukunft Habermas löst durch seinen Rückgriff auf Mead das Subjekt aus der monadischen Vereinzelung heraus und platziert das Subjekt in die intersubjektive Vermittlung zwischen Individuum und Kollektiv. Um die Idee der kommunikativen Vernunft in ihrer vermittelnden Position zwischen Trennung und Gemeinsamkeit, Individuum und Kollektiv, Privatheit und Öffentlichkeit besser zu begreifen, müsste, u. a. auf der Grundlage der phänomenologisch-sozialpsychologischen Analysen, der Körper in Habermas’ Theoriekonzept integriert werden: die körperliche Seite der kommunikativen Vernunft. Meine Vermutung ist, dass die kommunikative Vernunft in der körperlichen Fähigkeit zum Mitgefühl wurzelt und auf diese Weise eine Vorstufe eines natürlichen Verstehensprozesses darstellt. 299
297 J. Habermas, Philosophisch-politische Profile, Frankfurt am Main 1981, 118. Insbesondere im Rahmen der Menschenrechte wird der Aspekt des Körperlichen allzu oft vernachlässigt. 298 Einerseits ist die Verletzlichkeit und Sichtbarkeit des Körpers etwas, das wir mit allen Menschen gemeinsam haben. Andererseits bleiben spezifische Empfindungen im Bereich des Unteilbaren und Privaten – weder können wir unsere Schmerzen noch unser Wohlbefinden mit einem Andern teilen und dennoch können wir aufrichtiges Mitgefühl empfinden. 299 Ich habe diese These in meinem Buch ›Vernunft, Mitgefühl und Körperlichkeit‹ (Verlag Karl Alber 2013) genauer ausgearbeitet.
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c.
Die Frage nach der Handlungsmotivation und illokutionären Absicht
Problem In Auseinandersetzung mit dem Konflikt der Kulturen und der existentiellen Kommunikation bei Jaspers bringt Habermas sein Anliegen auf einen wichtigen Punkt: Es »soll das gegenseitige Verständnis zwischen fremden Traditionen und Lebensentwürfen fördern, aber nicht auf dem Wege einer scheinbar selbstlosen normativ erblindeten Einfühlung in den Anderen« (sEsA 42 f.). Der Übergang von einem vorreflexiven Mitgefühl zu einem öffentlichen und empirisch-überprüfbaren Verfahren hat einen entscheidenden Vorsprung gegenüber dem Mitgefühl. Dennoch wird in diesem Wechsel ein wichtiger Aspekt übergangen, welcher die kommunikative Vernunft später vor ein ernstes Problem stellt: Mitgefühl impliziert bereits die Anteilnahme bzw. das Interesse am Anderen. Zwar mag der Inhalt des empathischen Aktes falsch sein, doch die Wahrhaftigkeit eines solchen Empfindens kann nicht angezweifelt werden. In der kommunikativen Vernunft scheint uns hingegen das umgekehrte Problem zu begegnen: Sie bietet klare Strukturen, welche den gegenseitigen Verstehensprozess optimieren, aber es bleibt fraglich, ob die Teilnehmer auch wirklich ›nur‹ illokutionäre Absichten haben. Dies nämlich wird von der kommunikativen Vernunft vorausgesetzt: »Diese Art von Interaktionen, in denen alle Beteiligten ihre individuellen Handlungspläne aufeinander abstimmen und daher ihre illokutionären Ziele vorbehaltlos verfolgen, habe ich kommunikatives Handeln genannt« (TkH I 395). 300 Dies ist problemlos, solange es keinen Konflikt gibt und beide in einvernehmendem und verständigungsorientiertem Interesse handeln, oder aber wenn bereits eine altruistische Einstellung vorliegt. Diese wird jedoch im Allgemeinen immer nur als Binnenmoral angenommen, d. h. für eine spezifische Gruppe (z. B. die eigene Kultur, die eigene Familie). Gerade dieses Problem soll nun durch die kommunikative Vernunft überwun300 Natürlich räumt Habermas ein, dass es Interaktionen gibt, in denen perlokutionäre Ziele vorherrschen. Er unterscheidet auch zwischen einem schwachen kommunikativen Handeln, welches erstmal nur dem Geltungsanspruch der Wahrheit und der Wahrhaftigkeit gerecht werden muss und nur die Willkürfreiheit umfasst; und dem stark kommunikativen Handeln, welches sich dagegen auch dem dritten Geltungsanspruch der Richtigkeit stellt und verlangt, die Willkürfreiheit zugunsten der Autonomie zu überwinden (vgl. TkH I 122).
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den werden. Dabei übersieht Habermas, dass es gerade diese Konfliktfälle sind, in welchen Menschen am wenigsten bereit sind, sich auf einen Dialog mit illokutionärer Absicht einzulassen. Detlef Horster bringt die klassische Dichotomie zwischen Vernunft und Willen auf folgenden Punkt: »Wenn moralische Wahrheit eine objektive Tatsache ist, kann sie nur durch Vernunft erkannt werden, unabhängig vom Willen. Ist moralische Wahrheit hingegen eine willkürliche Vereinbarung, muss Vernunft dem Willen folgen.« 301 Freilich versucht Habermas diese Spannung durch seine Unterscheidung von privater und öffentlicher Autonomie zu überwinden. Dennoch hält Horster dagegen, dass aus dem Sollen des Befolgens der eigenen Gesetzgebung noch nicht die tatsächliche Umsetzung resultiert. »Ist es nicht eine schlichte Erfahrungstatsache, dass es nicht ausreicht, die Triftigkeit einer Norm einzusehen, um auch nach ihr zu handeln. Zweifellos ist die Überzeugung von der Richtigkeit einer Norm ein guter Grund, sie zu beachten und entsprechend zu handeln. Aber das reicht nicht als Motivation aus, da Gründe nicht als solche schon Motive sind.« 302 Forschungsdesiderat Das heißt, das ausgefeilteste Verfahren des Perspektivenwechsels ist nutzlos, wenn es am Willen und dem grundlegenden Interesse zur Verständigung mit dem Anderen scheitert. Daher stellt sich an dieser Stelle die Frage, wie die Konzeption des Mitgefühls (im Sinne eines grundlegenden Interesses am Anderen) in die Idee der kommunikativen Vernunft integriert werden kann. Am naheliegendsten ist es, hier auf die Idee einer Kultivierung des Mitgefühls einzugehen, wie sie von Rorty vorgeschlagen wurde. Ziel des nächsten Kapitels ist es deshalb, Rortys Konzeption genauer zu untersuchen. Das dritte Kapitel wird die Unterschiede und Anknüpfungspunkte zwischen beiden Ansätzen explizieren. An anderer Stelle werde ich vorschlagen, dass es sich bei der Dichotomie zwischen Vernunft und Mitgefühl keinesfalls um einander
D. Horster, Habermas, a. a. O., 145. G. Patzig, Moralische Motivation, unveröffentlichtes Manuskript, zit. nach: D. Horster, Habermas, a. a. O., 146. Ähnliches zeigt G. Nunner-Winkler auf, welche die moralische Motivation bei Kindern untersucht hat (G. Nunner-Winkler, in: A. Honneth, Th. McCarthy, C. Offe, u. A. Wellmer (Hg.), Zwischenbetrachtungen. Im Prozess der Aufklärung. Jürgen Habermas zum 60. Geburtstag. Frankfurt am Main 1989. 301 302
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ausschließende Konzepte handelt. 303 Vielmehr soll die kommunikative Vernunft auf die primordinale Fähigkeit zum Mitgefühl zurückgeführt werden. Diese ist aber im Sediment des Körpers verankert: Es ist die Sichtbarkeit des Anderen, die mir seine Verkörperung zu Bewusstsein bringt. Der Andere ist ein Mensch »wie ich«, der leidet, der Schmerzen hat oder sich wohl fühlt. Eine solche phänomenologische Argumentation knüpft an die beiden phänomenologischen Begriffe der Lebenswelt und der Intersubjektivität an und führt auf die Idee des Körpers, wie sie z. B. bei Merleau-Ponty angelegt ist, zurück. 304 Denn es scheint, als würde Habermas’ Theorie erst an dem Punkt ansetzen, an welchem alle schon damit einverstanden sind, einen gleichberechtigten Diskurs zu führen. Was hingegen fehlt, ist ein »Mittelstück«, welches zeigt, wie wir zu diesem Basiskonsens gelangen. d.
Möglichkeiten und Grenzen interkulturellen Verstehens
Problem Habermas setzt sich durch das Verfahren des kommunikativen Handelns das Ziel, dass das Potential eines freigesetzten kulturellen Pluralismus sich voll entfalten kann. Natürlich sind darin sowohl Konflikte als auch bedeutungsstiftende Lebensformen enthalten: Aber »[…] die kommunikative Bewältigung dieser Konflikte bildet in einer säkularisierten Gesellschaft, die mit ihrer Komplexität auf bewusste Weise umzugehen gelernt hat, die einzige Quelle für eine Solidarität unter Fremden – unter Fremden, die auf Gewalt verzichten und die sich, bei der kooperativen Regelung ihres Zusammenlebens, auch das Recht zugestehen, füreinander Fremde zu bleiben« (FuG 374). Was umfasst die Reichweite interkulturellen Verstehens, wenn sich die Kommunikationsteilnehmer dennoch fremd bleiben. Welche Bereiche sind Teil der öffentlichen Kommunikation, welche Bereiche sind davon ausgeschlossen? Und auf welche Gemeinsamkeiten beruft sich eine solche Solidarität zwischen Fremden? Grundsätzlich geht Habermas davon aus, dass Kulturen in ihrem Wert unvergleichbar sind (vgl. TkH I 94), jedoch gerade in der Ver303 Vgl. Barbara Weber, Vernunft, Mitgefühl und Körperlichkeit: Eine phänomenologische Rekonstruktion des politischen Raumes, Freiburg 2013. 304 Wie sich später noch zeigen wird, versäumt Merleau-Ponty umgekehrt seine phänomenologischen Analysen auf das politische Handeln zu übertragen.
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schiedenheit der Lebensformen ein großes Potential liegt. Menschenrechte sind kein romantisierender Artenschutz, sondern die Kulturen sind in ihrer Andersheit ernst zu nehmen (vgl. TkH I 101). Daraus ergibt sich das Doppelpaar »Gleichwertigkeit und Andersartigkeit«. Eine solche Andersartigkeit wurde durch die Postmoderne häufig als Inkommensurabilität verschiedener Kulturen gedeutet. Habermas versucht dieses Problem durch die Doppeldeutigkeit der Geltungsansprüche – als kontextimmanent und kontexttranszendent – zu überwinden. Thomas Göller situiert diese Doppeldeutigkeit in der Vernunft als faktische Möglichkeit der sprachlichen Verständigung. Er zeigt, dass Geltungsansprüche insofern kontextimmanent sind, als sie sich immer schon auf bestehende Sprach- und Handlungsstrukturen beziehen; sie sind jedoch kontexttranszendent, weil wir stets die Möglichkeit haben, diese Strukturen zu kritisieren. 305 Dieser Aspekt geht zurück auf die kommunikative Vernunft, welche sich gerade in dieser »Infragestellung der Lebenswelt« auszeichnet. »Transzendent ist die kommunikative Vernunft nur aufgrund der ihr zukommenden (universalen) Möglichkeit, die Strukturen der Lebenswelt bzw. der kulturellen, sprachlichen oder auch kommunikativen Kontextualität in Frage zu stellen, d. h. zu kritisieren bzw. Aussagen mit dem Anspruch auf Wahrheit zu formulieren.« 306 Die Beteiligten müssen sich also lediglich darüber verständigen, unter welchen Bedingungen eine Aussage als wahr gilt. Dabei geht Habermas durchaus von schwachen transzendentalen Annahmen aus, z. B. dass sprachliche Konzepte wie »Wahrheit, Begründung oder Konsens in allen Sprachen und in jeder Sprachgemeinschaft dieselbe grammatische Rolle« (FuG 379) spielen. 307 Auf diese Weise gründet sein Verfahren zum wechselseitigen Verstehen in einem sachorientierten Dialog. Ziel ist die Verständigung über konkrete Handlungen, welche die Beteiligten betreffen. Dabei müssen sich die Teilnehmer nicht hundertprozentig verstehen, sondern lediglich einen größtmöglichen Konsens erreichen. Es interessiert Ha305 Th. Göller, Kulturverstehen. Grundprobleme einer epistemologischen Theorie der Kulturalität und kulturellen Erkenntnis, Würzburg 2000. Göller kritisiert, dass Habermas sich mit dieser Doppelrolle der Geltungsansprüche nur einer Objektivität bzw. einem Sinnverstehen auf pragmatisch-hermeneutischer Ebene annähert, jedoch eine epistemische bzw. wissenschaftstheoretische Antwort schuldig bleibt (vgl. ebd., 195). 306 Göller, Kulturverstehen, a. a. O., 197 f. 307 Jedenfalls in solchen Gesellschaften mit positivem Recht, säkularisierter Politik und Vernunftmoral.
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bermas dabei auch nicht, aus welchen Gründen die Beteiligten zustimmen. Dadurch soll eine größtmögliche private Freiheit mit einem konsensorientierten kommunikativen Handeln erreicht werden. »Wenn wir uns mit Fragen der Konfliktregelung oder der Verfolgung kollektiver Ziele konfrontiert sehen und die Alternative gewaltsamer Auseinandersetzungen vermeiden wollen, müssen wir uns auf eine Praxis der Verständigung einlassen, deren Verfahren und Kommunikationsvoraussetzungen uns nicht zur Disposition stehen.« (FuG 377). Die Frage ist, ob Habermas durch die schwach transzendenten Annahmen der Geltungsansprüche in idealen Diskurssituationen sich zwischen der Scylla des Partikularismus und dem Charybdis des Universalismus hindurchmanövrieren kann. Oder mit den Worten Göllers formuliert: »Wie, so kann hierbei die leitende Frage sein, lässt sich eine durch die gegenwärtige Situation praktisch motivierte und philosophisch begründete interkulturelle Sichtweise gewinnen, die den jeweiligen kulturellen Besonderheiten einzelner Kulturen gerecht wird – ohne in einen kontextualistischen Partikularismus zu verfallen, der kulturübergreifende Gemeinsamkeiten weitgehend leugnet, und ohne einen falsch verstandenen kontexttranszendenten Universalismus zu propagieren, der kulturspezifische Differenzen ebenso weitgehend nivelliert.« 308 Göller kritisiert hier an Habermas, dass dieser explizit lediglich den Geltungsanspruch der Wahrheit als universal ansieht, implizit dadurch aber den gesamten Komplex der argumentativen Rede auf alle Kulturen überträgt. An dieser Stelle setzt bekanntlich Rortys Kritik an, welcher die Rechtfertigung zwar als brauchbares, jedoch nur relatives epistemisches Konzept ansieht (GA 977). Daraus resultiert für Rorty die notwendige Unterscheidung zwischen Belangen des öffentlichen und Überzeugungen des privaten Raumes. 309 Im Bereich der Öffentlichkeit wird Verstehen durch Mitgefühl anstatt durch Vernunft erreicht. Ich werde die Möglichkeiten und Grenzen einer solchen thematischen Trennung im nächsten Kapitel hinterfragen. An die Thematik der Andersheit des Anderen schließt noch eine weitere offene Frage nach der Möglichkeit des Verstehens an: Seit Freud, und später vor allem durch Poststrukturalisten wie Derrida, ist vielfach in Frage gestellt worden, inwiefern sich der Einzelne selbst transparent ist. In der Phänomenologie ist dieses Thema u. a. durch 308 309
Th. Göller, Kulturverstehen, a. a. O., 15. Vgl. R. Rorty, Contingency, Irony, and Solidarity, Cambridge 1989, 189 ff.
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Erste Zwischenbetrachtung
Merleau-Ponty und später durch Waldenfels aufgegriffen worden: Anders als von Habermas angenommen, versteht Merleau-Ponty das Subjekt gerade nicht »als in seinem Leib zentriert« (pDM 369). Die Idee einer Intercorporéité verweist vielmehr auf die Intersubjektivität zwischen Individuum und Kollektiv über das Medium des Leibes. Die Verlagerung des Selbst in diesen Zwischenbereich der Begegnung nimmt ihm jedoch die Gewissheit über sich selbst. 310 Daher geht mit der Überwindung der Subjektphilosophie der Verlust der Selbsttransparenz einher. Für Habermas gilt hingegen ein solcher Gesprächsteilnehmer als zurechnungsfähig, welcher ein reflexives Verhältnis zu sich selbst und seinen Handlungen einnehmen kann, diese begründen und nötigenfalls auch seine Gründe argumentativ verteidigen kann (vgl. WuR 105). Fraglich ist jedoch, inwiefern sich der dezentrierte Subjektbegriff, welcher sich aus Habermas’ intersubjektiver Wende ergibt, mit einer solchen Selbsttransparenz vereinen lässt. 311 Ich werde diesen Aspekt an anderer Stelle und in Auseinandersetzung mit Merleau-Pontys Konzeption des Chiasmus weiter ausführen sowie die Möglichkeiten und Grenzen des Verstehens, unter Einbeziehung des Körpers, hinterfragen. 312 Dabei soll die Möglichkeit nicht ausgeschlossen werden, dass wir mit einer »Restunsicherheit« leben müssen. Ein Rückgriff auf das Mitgefühl, auch wenn dies in den Augen Habermas’ eine Regression bedeutet, mag vielleicht in solchen Situationen die einzig menschliche Alternative bleiben, wo die Tiefe eines Erlebens die rationale Kommunizierbarkeit übersteigt bzw. eine Übersetzung in eine säkulare Argumentation scheitert. 313 Ein wortloser Schmerz kann die Sphäre des 310 Die Andersheit des Selben, das Unbewusste oder auch der blinde Fleck sind Ausdrücke, die auf jene Schwachstelle der Subjektphilosophie verweisen. 311 Es ergeben sich u. a. folgende Fragen: Ist es überhaupt möglich, dass sich der Einzelne seiner eigenen Wünsche, Absichten und Gründe voll bewusst ist? Könnte der Einzelne eine verborgene perlokutionäre Absicht haben, die ihm selbst jedoch gar nicht bewusst ist? 312 Vgl. ›Vernunft, Mitgefühl und Körperlichkeit‹ (Verlag Karl Alber 2013). Hierin greife ich auf die ersten Kommunikationsversuche innerhalb der körperlich-empathischen Mutter-Kind-Beziehung zurück wie sie von Merleau-Ponty und der phänomenologischen Kindheitsforschung beschrieben wurden. 313 Ein traumatisierter Gesprächsteilnehmer wird kaum in der Lage sein, die Gründe für sein Leid genau darzulegen und es käme einer Missachtung gleich, seine Bedürfnisse an die Formulierbarkeit seines Leides zu knüpfen.
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Jürgen Habermas: Kommunikative Vernunft
bloß rationalen Verstehens überschreiten. Vielleicht ist es gerade in solchen Situationen »adäquater« oder vielleicht auch »menschlicher« mit den Worten Rortys zu fragen: »Leidest Du?« Und ein solches »Ja«, welches nur dem Geltungsanspruch der Wahrhaftigkeit nachkommt, fraglos zu akzeptieren. Die Sprache hat eine Grenze. Weder die Offenheit der Zukunft noch das Licht der Öffentlichkeit reichen hinter diese Grenze. Und dennoch hat auch das Schweigen ein Recht gerade in dieser Ungreifbarkeit gehört zu werden.
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2. Richard Rorty: die Bedeutung des Mitgefühls für das neo-pragmatische Modell einer Kultur der Menschenrechte
2.1 Vorbemerkungen 2.1.1 Zum methodischen Vorgehen Noch verhalten, aber durchwegs süffisant schreibt Rorty in der Einleitung zu seinem Sammelband The Linguistic Turn: »Uncovering the presuppositions of those who think they have none is one of the principal means by which philosophers find new issues to debate. If this is not progress, it is at least change« (LT 2). Mit dieser Aussage deutet Rorty bereits an, welche Rolle er selbst kurze Zeit später im philosophischen Diskurs annehmen wird – nämlich die eines »parasitären Querdenkers«: Er konstruiert kein in sich konsistentes System, sondern deckt die Schwächen anderer auf. Er möchte nicht überzeugen, sondern zum Nachdenken oder bestenfalls zum anders Denken anregen, um dadurch unbegangene Wege aufdecken. Und in diesem Bestreben unterscheidet sich Rorty grundsätzlich von der durchwegs konstruktiven Denkintention bei Habermas. 1 Im Einzelnen lässt sich Rortys Methode wie folgt beschreiben: Zunächst wird das alte Vokabular auf eine Weise verwendet, die es »schlecht« aussehen lässt: Das heißt, die begrifflichen Unterscheidungen eines »abschließenden Vokabulars« werden sinnlos und so sein Gebrauch überflüssig. Vor diesem Hintergrund führt er schließlich sein neues Vokabular ein, welches sich parasitär gegenüber dem alten verhält. »Each sentence that rejects a particular philosophical mythology or problematic is invariably followed by a sentence that puts for-
Rorty bezeichnet Habermas als konstruktiven Denker, sich selbst hingegen als bildenden Denker (vgl. SN 349).
1
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Richard Rorty: die Bedeutung des Mitgefühls
ward some thinker in a particular argumentative breakthrough that allows to dispense with what was rejected in the prior sentence.« 2 Als Abgrenzung von absoluten Begriffen wie »das Gute«, »das Beste« oder »das Wahre«, welche ein vertikales Verhältnis zur Lebenswelt konstituieren, versucht Rorty sich an Komparative zu halten, welche ein horizontales Verhältnis zwischen zwei Gruppen oder Epochen ausdrücken. Der Ausdruck »besseres Vokabular als früher« heißt deshalb nichts anderes als »angepasster an die neue soziale Situation«, d. i. mehr Vorhersagbarkeit, mehr Konsens, mehr »glückliche« Menschen etc. Dabei geht es ihm gerade nicht um begriffliche Klarheit, sondern um »the proper sort of uncertainty«. 3 Damit wendet sich Rorty gegen die analytische Denkweise, welche allen voran darin besteht, die versteckten Annahmen und unklaren Begriffe in einem Argument ausfindig zu machen. Rorty hingegen versucht durch ein Ringen mit dem alten Vokabular auf neue Beschreibungen vorzustoßen. Dabei ist weniger die Präzision, sondern vor allem Phantasie gefragt: »If you don’t allow people to be unclear, intellectual progress grinds to a halt. It’s the vague people who are the pioneers.« 4 Um diesem methodischen Unterschied gerecht zu werden, aber dennoch eine klare thematische Gegenüberstellung mit Habermas’ Vernunftkonzept zu erreichen, werden die inhaltlichen Fragestellungen und Themengebiete des vorangegangenen Kapitels wieder aufgenommen. Die Struktur folgt jedoch dieses Mal einem konzentrischen Aufbau. Das heißt im Einzelnen: 2.2 stellt zunächst Rortys grundsätzliche Position im Kontext der Menschenrechtsdebatte dar und wird in Auseinandersetzung mit einigen kritischen Stimmen präzisiert. 2.3 bildet den Hauptteil und beginnt mit der Philosophiekritik, denn erst auf der Grundlage seiner umfangreichen Überlegungen zur Erkenntnis- und Wahrheitstheorie werden seine – von außen oft als radikal bis relativistisch wahrgenommenen – politikphilosophischen Ansätze verständlich. 2.4 leitet daraus seine erziehungsorientierte »Schule des Mitgefühls« ab. Sie soll die rationalistischen Diskursmodelle, wie z. B. jenes von Habermas, ersetzen. Obgleich Rorty selbst Eduardo Mendieta (Hg.), Take Care of Freedom and Truth will take Care of Itself, Stanford 2006, XV. 3 Ebd., 17. 4 R. Rorty in an Interview with James Ryerson, in: Eduardo Mendieta (Hg.), Take Care of Freedom and Truth will take Care of Itself, a. a. O., 17. 2
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Vorbemerkungen
thematisch die politische Philosophie ins Zentrum seines Denkens stellt, bleibt diese unausweichlich in seiner Erkenntniskritik verwurzelt (vgl. u. a. KIS 21 ff.), so dass er im Vorwort seines neuesten Buchs schreibt: »Readers of my previous books will find little new in this volume« (PCP X). Im Einzelnen ergibt sich dadurch auf der Ebene der Epistemologie eine Gegenüberstellung von Diskurstheorie (Habermas) und Erkenntniskritik (Rorty), auf der Ebene der politischen Philosophie eine Gegenüberstellung von deliberativem Demokratiemodell (Habermas) und liberaler Ironikerin (Rorty) sowie auf der Ebene der Menschenrechte eine Gegenüberstellung von kommunikativer Vernunft (Habermas) und Mitgefühl (Rorty). Innerhalb der Unterkapitel werden, ähnlich wie bei Habermas, zunächst die geistesgeschichtlichen Konfliktlinien skizziert. Anders als bei Habermas wird diesen keine »Gegenkonzeption« folgen, sondern vielmehr Rortys Dekonstruktion vorangegangener Lösungsversuche nachgezeichnet. Hieraus wird hervorgehen, dass es eben keine erkenntnistheoretisch eindeutige Lösung dieser Probleme geben kann. Alternativ zu einer »Gegenkonzeption« erfolgt deshalb als dritter Unterpunkt die »bildungsphilosophische Therapie«, indem alternative und kreative Möglichkeiten aufgezeigt werden – ohne hierfür einen absoluten Wahrheitsanspruch einzufordern. Beurteilt werden diese Vorschläge nach Rortys Nützlichkeitskriterium, nämlich der jeweiligen Pragmatik eines Vorschlags für eine konkrete Gesellschaft. In den meisten Fällen bedeutet das die Verringerung von Leiden und Grausamkeiten bzw. die Vision und Hoffnung auf eine »bessere Zukunft«. Den Abschluss bildet eine Darstellung derjenigen Nischen, welche die Idee des Mitgefühls – im Gegensatz zu dem rationalistischen Konzept bei Habermas – auszufüllen vermag. Freilich stößt Rortys Mitgefühlsdenken durch seine implizite sprachphilosophische Engführung an klare Grenzen. Dies beginnt bereits in der Metapher des »Spiegels der Natur«, welche den phänomenalen Körper und die Verankerung allen Denkens und Fühlens in einer präreflexiven Lebenswelt nicht berücksichtigt. Sie findet ihre Fortführung in Rortys Anliegen, eine Sensibilität für »die Sprache des Anderen« zu entwickeln, welches den Körper bzw. alternative Ausdrucksgehalte dezidiert übergeht.
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2.1.2 Verwendete Werke Die Quellenlage des amerikanischen Philosophen ist nicht ganz übersichtlich. Zwar sind die meisten Hauptwerke leicht in englischer Sprache zu beziehen, jedoch sind manche Aufsatzsammlungen für das deutsche Publikum neu zusammengestellt worden. In manchen Fällen erschienen Aufsatzsammlungen zuerst in Deutsch, um schließlich in erweiterter Form auch im englischsprachigen Raum publiziert zu werden. 5 In den deutschen Aufsatzsammlungen finden sich wiederum spezielle Einleitungen, welche ausschließlich in Deutsch existieren. 6 Die inhaltlichen Themenschwerpunkte in Rortys Denken lassen sich grob in die Bereiche Erkenntnistheorie (bzw. Philosophiekritik), politische Philosophie und Ästhetik einteilen. Im Laufe der Jahrzehnte ließ sich jedoch eine Schwerpunktverschiebung zugunsten der letzten beiden Themengebiete beobachten. Dass in der Philosophie zwar Wissen gesucht, jedoch nur Meinung erreicht wird (vgl. LT 2), stellt Rorty bereits 1967 in seinem berühmten Vorwort des Linguistic Turn (LN) fest. Zum Ende seiner Kritik bietet Rorty sechs mögliche Zukunftsvisionen der Philosophie an, behält sich aber das Recht vor, sich nicht auf eine Richtung festzulegen. Thematisch bildet dieses Vorwort den kritischen Ausgangspunkt für Rortys weiteres Bemühen, die Zukunft der Philosophie in ein pragmatisch-gesellschaftsorientiertes Licht zu rücken. Diesem weitgefassten Ziel geht jedoch eine eingehende Kritik an der klassischen Erkenntnistheorie voraus, welche bei Platon und Aristoteles anfängt und sich ideengeschichtlich über Descartes, Hume und Locke, Kant, Husserl sowie Quine erstreckt. Als Hauptwerk seiner Erkenntniskritik gilt Philosophy and the Mirror of Nature (1979) 7, worin Rorty die grundlegende Unterscheidung zwischen systematischer und bildender Philosophie Vgl. »Hoffnung statt Erkenntnis« und die englische, jedoch um vieles erweiterte Entsprechung Philosophy and Social Hope. Teilweise wurden die in der deutschen Ausgabe nicht abgedruckten Artikel in Philosophie und die Zukunft (2000) abgedruckt. Dort finden sich des Weiteren Artikel, die wiederum in anderen englischen Sammelbänden verstreut abgedruckt wurden. 6 Für die hier vorliegende Veröffentlichung wird deshalb folgende Vorgehensweise vorgeschlagen: Für solche Zitate, die in einwandfreier Übersetzung in Deutsch vorliegen, wird das Zitat in Deutsch wiedergegeben. Für solche Zitate hingegen, für die es keine adäquate Übersetzung gibt, wird auf das englische Original zurückgegriffen. 7 Deutsch 1981, Spiegel der Natur (SN). 5
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Vorbemerkungen
trifft. 1991 findet diese Kritik in Objectivity, Relativism and Truth (1991) eine weitere Fortsetzung. In Philosophy and Social Hope (PSH 1999) fordert Rorty die Philosophie auf, die Vergeblichkeit des Bestrebens, eine einheitliche Erkenntnistheorie zu finden, endlich zuzugestehen und daraus die notwendigen und pragmatischen Konsequenzen zu ziehen: nämlich auf Hoffnung, statt auf Erkenntnis zu setzen. Dabei erhält der Begriff der Zukünftigkeit zunehmende Bedeutung und erfährt 2000 in seinem Aufsatz Philosophy and the Future (1995) 8 schlussendlich eine eingehende Auseinandersetzung. Truth and Progress (1998) 9 bildet Rortys umfangreichste aktuelle Abhandlung zur Erkenntniskritik. In der Auseinandersetzung mit der analytischen und »kontinentalen« Philosophie argumentiert er für die Substitution des Strebens nach Wirklichkeit und Wahrheit durch eine phantasievolle Erfindung von nützlichen Beschreibungen der Welt, welche zu umfangreicheren Frieden führen. Damit gehört für Rorty die Kohärenztheorie zum wiederholten Male zu den »Altlasten« der Philosophie. Konsequenterweise rückt er deshalb die Philosophie in die Nähe der Poesie und Literatur, um hieraus einen tatsächlichen gesellschaftlichen Nutzen abzuleiten. Natürlich erscheint es zunächst widersinnig, der Philosophie irgendeinen gesellschaftlichen Nutzen zuzusprechen, wo ihr soeben durch die Erkenntniskritik jeder »Wirklichkeitsbezug« abgesprochen wurde. Aber gerade hier setzt Rortys poetisierendes Philosophieverständnis an: Eben nicht nur die Philosophie entbehrt jedes Wirklichkeitsbezugs, sondern auch jede andere sog. Wissenschaftsdisziplin (vgl. WuF 17 ff.). Die Philosophie als poetisch-kreatives Unterfangen erhält deshalb sogleich zwei neue Aufgaben: Sie soll einerseits das Empfindungsvermögen schulen und andererseits neue Visionen, Weltbilder und Ideen kreieren, welche in besseren Lebensbedingungen für alle resultieren. Diese Ideen entwickelt Rorty in mehreren Etappen: In Solidarität und Objektivität (SO 1988) 10 reflektiert er in drei knappen Essays über die beiden scheinbaren Alternativen und argumentiert, dass Objektivität für ein solidarisches Verhalten nicht notwendig sei. Dieser Gedanke wird in seinem politikphilosophischen Hauptwerk Richard Rorty, Philosophy and the Future, in: Herman J Saatkamp, Jr., (Hg.), Rorty and the Pragmatism: The Philosopher Responds to His Critics, Nashville, TN, 1995. 9 Deutsch 2000, Wahrheit und Fortschritt (WuF). 10 Aufsatzsammlung, die nur in Deutsch erschienen ist. 8
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Contingence, Irony, Solidarity (1989) 11 weiter ausgeführt und um die Trennung zwischen öffentlichem und privatem Denken und Handeln ergänzt, d. h. der Einsicht in die Kontingenz eigener Überzeugungen einerseits und die weitestmögliche Vermeidung von Leid andererseits. Diese Spannung findet sich in der Figur der liberalen Ironikerin verwirklicht. Eine Kultur ohne Zentrum (1993) versammelt vier Essays und entwirft das postmoderne Bild der Naturwissenschaften und Kulturenvielfalt, welches jedoch nicht in Gleichgültigkeit oder Rivalität enden muss, insofern es sich der Spannung der liberalen Ironikerin aussetzt. Philosophy and Social Hope (PSH 1999) spricht schließlich die lange unterschwellige Vermutung aus, dass Erkenntnis keine notwendige Bedingung für Weltfrieden ist, sondern allein gegenseitige Solidarität, Mitgefühl und gemeinsame Visionen ein solches Band der Solidarität knüpfen. Die Rolle des Pragmatismus für eine solche Kultivierung wird in diesem Buch nochmals betont. Über den gesellschaftlichen Wert der Wahrheit diskutiert Rorty mit Davidson auch in Wozu Wahrheit? Eine Debatte (2005). Reflexionen zum Verhältnis zwischen Politik und Philosophie finden sich in Take Care of Freedom and Truth Will Take Care of Itself. Toward a Postphilosophical Politics (2006, hg. v. E. Mendieta). Da der Philosophie der Wahrheitsanspruch abgesprochen wurde, wird ihr in Philosophy as Cultural Politics (PCP 2007) eine neue Rolle zugesprochen, nämlich »to contribute to humanity’s ongoing conversation about what to do with itself« (PCP IX). Damit rückt Rorty deutlich in die Nähe von Hegels berühmter Äußerung, die Philosophie sei die Zeit in Gedanken gefasst. 12 Sein thematisch umfangreichster Beitrag zur Menschenrechtsdebatte findet sich in dem Aufsatz Human Rights, Rationality and Sensitivity (auch abgedruckt in Truth and Progress). 13
Deutsch 1989, Kontingenz, Ironie und Solidarität (KIS). Vgl. in der Einleitung von G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts. Naturrecht und Staatswissenschaft, hg. und eingeleitet v. Helmut Reichelt, Frankfurt am Main 1972. 13 Ich werde mich in Punkt 2.2 hauptsächlich hierauf sowie auf die Sekundärquelle Hinter den Spiegeln, hg. v. U. Tietz u. R. Zill (2001) beziehen. 11 12
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Vorbemerkungen
2.1.3 Sekundärliteratur und Rezeption Rorty ist einer der meist rezipierten und diskutierten zeitgenössischen Philosophen. Seine Arbeiten provozierten sowohl heftige Kritik als auch die emphatische Zustimmung vieler bekannter Denker. In beiden Lagern finden sich Theoretiker verschiedenster philosophischer Richtungen, unter ihnen Donald Davidson, Jürgen Habermas, Hilary Putnam, John McDowell, Jacques Bouveresse, Daniel Dennett und viele mehr. 14 Auch Gianni Vattimo, Jacques Derrida, Albrecht Wellmer, Hans Joas, Chantal Mouffe, Simon Critchley, Alexander Bard, Esa Saarinen und Mike Sandbothe wurden maßgeblich von ihm beeinflusst. 15 Umgekehrt bezieht sich auch Rorty auf zeitgenössische wie vergangene Denker verschiedenster Disziplinen. Interessanterweise wird jedoch von noch lebenden Denkern die Adaption ihrer Werke durch Rorty oftmals abgelehnt. Dabei wird aber übersehen, dass es Rorty eben gar nicht um eine ›akkurate Rezeption‹ geht, sondern vielmehr um eine poetische Neuinterpretation bzw. den ›Absprung‹ in ein neues Vokabular. Im Allgemeinen lassen sich innerhalb der Rorty-Rezeption eine »deflationistische« und eine »inflationistische« Rezeption unterscheiden: Erstere sieht Rorty als einen konsequenten Weiterentwickler der analytischen Philosophie seit dem pragmatic turn. Die zweite Interpretationslinie liest seine Werke als den Versuch, die Philosophie zu beenden. Hinzu kommen solche Rezensionen, welche versuchen Rorty in eine philosophische Richtung einzuordnen bzw. seine »philosophischen Wurzeln« offenzulegen. 16 Eine weitere Gruppe von Interpreten konzentriert sich auf die Rezeption seiner politischen Ideen. 17 Seit seinem Tod folgten ferner viele biographisch orientierte Werke. 18 Seine stark liberalistischen Ideen wurden insbesondere von Links stark attaVgl. R. Brandom (Hg.), Rorty and his Critics, Oxford 2000. Vgl. u. a. A. Vieth, Richard Rorty: his philosophy under discussion, Heusenstamm bei Frankfurt 2005. 16 Vgl. u. a. M. Bacon, Richard Rorty: Pragmatism and Political Liberalism, Lanham 2007; L. Fabbri, The domestication of Derrida: Rorty, pragmatism and deconstruction, London; New York 2008; W. Zhang, Heidegger, Rorty, and the Eastern thinkers: a hermeneutics of cross-cultural understanding, New York 2006. 17 Vgl. u. a. C. Voparil, Richard Rorty: politics and vision, Lanham 2006. 18 Vgl. u. a. N. Gross, Richard Rorty: The Making of an American Philosopher, Chicago 2008. 14 15
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ckiert, da sie ein klares System sowie die Garantie sozialer Gerechtigkeit vermissen lassen. Insbesondere wird seine Heldin, die »liberale Ironikerin«, von vielen Seiten als »intellektueller Sonderling« verhöhnt und die damit einhergehende Proklamierung eines Intellektualismus verneint. Die Naturwissenschaften kritisieren schließlich Rortys starke Abwertung des Wahrheitsgehaltes der Wissenschaft.
2.2 Charakteristik der »Kultur der Menschenrechte« 2.2.1 Konfliktlinien Für Rorty stellen sich in der Auseinandersetzung mit der klassischen Menschenrechtsdebatte 19 drei grundlegenden Fragen: 1. Wer wird überhaupt als Mensch anerkannt? (Problem der Entmenschlichung) 2. Wie sehr beeinflussen rationale Argumente tatsächlich das moralische Handeln? (Rationalitätsskeptizismus) 3. Führt das Pochen der westlichen Kultur auf ein exklusives und statisches moralisches Wissen nicht eher zu einer Ablehnung der Menschenrechtskultur in anderen Ländern anstatt zu ihrer Durchsetzung? (Problem des Kulturkolonialismus). Ich werde im Folgenden diese Fragestellungen genauer ausführen, 20 um im zweiten Abschnitt seinen Alternativvorschlag einer »Schule der Empfindsamkeit« vorzustellen: 1. Rorty unterscheidet drei Stigmatisierungen aufgrund derer in der Geschichte und jüngsten Vergangenheit versucht wurde, anderen Menschen das Personsein abzusprechen: a. indem sie als menschliche Bestien oder Tiere klassifiziert wurden, wie z. B. jüdische MitbürgerInnen in den Augen der Nazis oder die muslimische Gläubige in serbischer Gefangenschaft, b. indem sie als ungebildet oder primitiv abgestuft wurden, wie z. B. Kinder oder Schwarze, und c. indem sie durch das gebrauchte Vokabular einfach aus dem Sprachgebrauch ausgeVgl. Menschenrechte, Rationalität und Empfindsamkeit, in: R. Rorty, WuR, zuerst erschienen in: S. Hurley, S. Shute (Hg.), On Human Rights: The Oxford Anmesty Lectures, New York 1993 unter dem Titel »Human Rights, Rationality and Sensitivity«. 20 Hierbei beziehe ich mich sowohl auf den bereits erwähnten Artikel zu den Menschenrechten sowie auf den im selben Band abgedruckten Artikel »Rationality and Cultural Diversity« (zunächst erschienen unter dem Titel »A Pragmatist View of Rationality and Cultural Differences«, in: Philosophy East and West, Band 42, Oktober 1992, 581–596). 19
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schlossen wurden, wie z. B. Frauen durch die Vermeidung der weiblichen Geschlechtsform. Für Rorty entsteht kulturelle Identität oftmals durch das Prinzip der Abgrenzung, soll heißen, über die Bestimmung dessen, was eine Gruppe nicht ist: Z. B. man ist Weißer und kein Schwarzer, Mann und keine Frau, Erwachsener und kein Kind mehr, Christ und kein Atheist etc. Dadurch vermögen sich Menschen durch Gegensatzbildung von anderen »unfertigen, abartigen oder missgestalteten Exemplaren der Menschheit« (WuF 258) abzugrenzen. Ein solcher Wunsch nach Abgrenzung und Verfestigung kultureller Identitätsgrenzen wird durch den Prozess der Globalisierung weiter verstärkt. Da aber kulturelle Identität einerseits von der Anerkennung anderer abhängt, andererseits jedoch das Eingestehen einer solchen Abhängigkeit die Fragilität der Identität bloßlegt, werden häufig »scheinrationale« Gründe für die Erlangung eines kulturellen Sonderstatus vorgeschoben oder es tritt der Fall auf, dass kulturelle Identität sogar zu einer noch tiefergreifenden Ablehnung anderer Kulturen bzw. gesellschaftlicher Klassen führt. 21 Das »Wir« im Sinne der Ab- und Ausgrenzung rückt damit ins Zentrum der kulturellen Identitätsbildung. Der Versuch, eine allumfassende Eigenschaft des Menschseins freizulegen, kann hier als das Bestreben interpretiert werden, kulturelle Ausgrenzungen zu begründen. Die Abgrenzung von Tieren soll Menschen unterschiedlicher Kulturen einen Grund liefern, jenseits aller Differenzen eine kulturübergreifende Identität zu entwickeln. Eine solche Argumentation möchte ferner begründen, warum nur Menschen spezifische Rechte zukommen sowie dass solche Rechte allen Menschen zukommen, die über diese Eigenschaft(en) verfügen. Menschenrechte werden dadurch von kultureller Identität und Solidarität entbunden. Oder in den Worten Rortys: »Die Achtung vor diesem speziellen Bestandteil (dieser Eigenschaft des Menschseins) liefert den Leuten einen Grund, nett zueinander zu sein« (WuF 244). 22 Zwar stimmt Rorty mit der Absicht eines solchen Vorhabens vollkommen überein, einzig die Wirksamkeit und Wahrheit solcher anVgl. zum Prozess kultureller Anerkennung und Identität: Ch. Taylor, Multiculturalism and ›The Politics of Recognition‹, hg. v. Amy Gutmann, Princeton 1992. 22 Rorty kritisiert hier beide Seiten: a. Platon, der versucht den Unterschied zwischen Mensch und Tier auf ontologische Kategorien zurückzuführen, und b. Nietzsche, der darin den hilflosen Versuch sieht, dass ein schwächerer Vertreter dieser Spezies sich gegen den Stärkeren zur Wehr setzt (vgl. WuF 244). 21
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thropologischen Begründungsversuche zweifelt er grundlegend an. »Es ist keineswegs klar, wieso das Vorhandensein einer solchen Eigenschaft eine Voraussetzung sein muss für die ›Achtung vor der Würde des Menschen‹, also unser Empfinden, dass die Unterschiede zwischen Serben und Muslimen […], Männern und Frauen keine Rolle spielen.« (WuF 246) 2. Auf erkenntnistheoretischer Ebene kritisiert Rorty die Verbindung zwischen dem Konstrukt der Vernunft und dem Anspruch auf unveräußerliche Rechte, weil er diese für beliebig hält. Insbesondere sieht er eine begriffliche Unklarheit im Begriff der »Vernunft«. Rorty selbst extrahiert drei unterschiedliche Bedeutungen: a. Anpassungsfähigkeit, b. spezifisch menschliche Eigenschaft, c. Toleranz. 23 Die Vermischung dieser Bedeutungen führt zu Argumentationen, die u. a. vorschlagen, der Westen, welcher die meisten technischen Errungenschaften hervorgebracht hat, sei auch »der Ort, wo man seine moralischen Idealvorstellungen und seine sozialen Tugenden hernehmen sollte« (WuR 271). Dies führt wiederum zu Gegenreaktionen, welche vor allem die Bedeutung b. anzweifeln. 24 Auf pragmatischer Ebene bezweifelt Rorty ferner, dass Argumente dieser Art einen Einfluss auf das tatsächliche Verhalten der Peiniger haben: Z. B. war natürlich auch den Nazis bewusst, dass es intelligente Juden gibt. Diese Erkenntnis hat ihren Hass aber nur noch vergrößert. Ein Kulturkolonialismus, welcher durch Wissen oder Vernunft eine scheinbar moralische Überlegenheit vorgibt, wird deshalb nur zu weiteren Ab- und Ausgrenzungsversuchen führen. Anstatt eines ewigen Wissens soll vielmehr die allen gemeinsame Zukunft ins Blickfeld rücken und vor diesem Horizont eine gemeinsame Hoffnung nähren. Eine gemeinsame Identität kann deshalb weder durch Rasse noch durch eine Eigenschaft des Menschseins begründet werden, sondern einzig durch gemeinsame Visionen und Wünsche. 25 Obgleich also Rorty mit Habermas darin übereinstimmt, dass Diese in »Rationality and Cultural Difference« (WuF 269–291) erwähnte Unterscheidung werde ich weiter unten genauer ausführen und zeigen, warum sie eine Grenzziehung zwischen Mensch und Tier beliebig macht. 24 Die Gründe verlaufen entlang der philosophischen Konfliktlinien um den Rationalismus, Phallogozentrismus, Metaphysik der Präsenz, Platonismus sowie auf politischer Ebene den Behauptungen, der Westen sei krank bzw. kolonialisiere auf geistiger Ebene andere Teile der Welt. 25 Vgl. weiter oben zu Habermas und Arendt. 23
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Charakteristik der »Kultur der Menschenrechte«
Menschenrechte keine Naturrechte sind, entsteht eine Konfliktlinie, weil er Vernunft oder Wissen als Quellen einer universalen Ethik nicht anerkennt. »Sofern es den Anschein hat, dass die Veränderung intuitiver Moralvorstellungen nicht durch Wissenszuwachs bewirkt wird, sondern durch die Manipulation von Gefühlen, wird das ein Grund sein für die Annahme, dass es ein Wissen der von Philosophen wie Platon, Thomas und Kant erhofften Art gar nicht gibt.« (WuF 248) Sein Zweifel betrifft nicht so sehr den erkenntnistheoretischen Status – über den Rorty als Neo-Pragmatist ohnehin nichts zu sagen vermag –, sondern vielmehr die kausale Wirksamkeit. Anstatt durch das Anwachsen ethischen Wissens Menschenrechten zur Durchsetzung zu verhelfen, setzt er auf die konkreten erschreckenden Geschichten z. B. aus Albanien oder dem Irak. Rortys Lieblingsbeispiel lautet demnach sinngemäß: Nicht der kategorische Imperativ 26 macht uns zu besseren Menschen, sondern Romane wie Onkel Toms Hütte. 27 3. Philosophiegeschichtlich streicht Rorty heraus, dass es in den meisten moralphilosophischen Abhandlungen darum ginge, den rationalen Egoisten, der sich um niemanden außer sich selbst kümmert, im Laufe eines Gesprächs und durch Argumente davon zu überzeugen, dass es für ihn von Vorteil ist, gerecht zu handeln. 28 Er sieht hierin eine fatale Fehlinterpretation des eigentlichen Problems und argumentiert, dass z. B. der Nazi oder serbische Soldat durchaus freundlich und zuvorkommend zu seinen Kameraden, seiner Familie und seinen anderen Artgenossen ist. Diesen Personen wird er auch bestimmte Rechte zuerkennen, welche den Menschenrechten ähneln. Das Problem besteht vielmehr darin, dass er in dem Juden bzw. dem Moslem und anderen, die nicht zu seiner identitätsstiftenden kulturellen Gruppe gehören, eben keine Personen sieht. Und indem der Andere nicht als »zu uns gehörig« angesehen wird, kommen ihm weder Rechte noch Mitgefühl Insbesondere greift Rorty hiermit die Behauptung bei Kant an, Moral habe nichts mit Gefühl zu tun, sondern es gebe einen kulturübergreifenden Sinn für moralische Pflicht (vgl. WuF 253). 27 »Moral progress is a matter of wider and wider sympathy. It is not a matter of rising above the sentimental to the rational. … [The pragmatists] substitute the idea of a maximally warm, sensitive and sympathetic human being for the Kantian idea of a Good Will.« (Truth and Progress, 82 f.) 28 Vgl. z. B. Thrasymachos im Gespräch über Gerechtigkeit in Platons Politeia; vgl. auch die Idee eines »Volks von Teufeln« in: I. Kant, Zum Ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf, Berlin 1995. 26
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Richard Rorty: die Bedeutung des Mitgefühls
zu. »Solche Leute fühlen sich moralisch gekränkt, wenn man vorschlägt, sie sollten jemanden mit dem sie nicht verwandt sind, wie einen Bruder behandeln, einen Nigger wie einen Weißen, einen Schwulen wie einen Normalen oder eine Gottlose wie eine Gläubige.« (WuR 257) An dieser Tatsache ändern auch übergreifende Kriterien des Menschseins wenig. Der rationale Egoist, der zu niemandem eine emotionale Bindung aufbaut, ist demnach ein Ausnahmefall und damit gar nicht das eigentliche Problem. Die Frage lautet vielmehr, wie man die Zugehörigkeit zur identitätsstiftenden Kategorie des »Wir« emotional auszudehnen vermag. Oder anders gesagt: Das Hauptproblem ist nicht die Einigung auf grundlegende Menschenrechte, sondern wer überhaupt als Mitmensch gilt bzw. zu unserer moralischen Gemeinschaft gehört. Anstatt der Frage »Warum soll ich moralisch sein?« geht Rorty der Frage nach: »Warum soll ich mich um einen Fremden kümmern, um jemanden, mit dem ich nicht verwandt bin und dessen Gewohnheiten mich abstoßen?« (WuF 266). Rorty argumentiert im Unterschied zu Habermas empirisch, denn er möchte keine normativen Handlungsmaximen generieren, sondern ein pragmatisches Ziel verfolgen. Es geht nicht um ein gutes Argument, sondern um die moralische Motivation und den tatsächlichen Erfolg der Kultivierung der Menschenrechte.
2.2.2 Zentrale Thesen Parallel zu den Konfliktlinien der Entmenschlichung, des Rationalitätsskeptizismus und dem Kulturkolonialismus werde ich nun Rortys Antwortversuche darstellen. Rorty ist vorsichtig genug, nicht mit einem systematischen Alternativprogramm aufzufahren, vielmehr besteht seine Methode darin, Kernprobleme und -fragen so umzuformulieren, dass sie entweder verschwinden oder durch konkrete Handlungsanweisungen verbessert werden können. Es geht also nicht um die Frage, ob seine Umformulierungen wahr oder falsch sind, sondern vielmehr, ob sich dadurch mit dem Problem besser umgehen lässt bzw. Leiden vermindert werden kann. 29 Zunächst rechnet Rorty mit historischen und ethnologischen An»Dewey meint, alles Forschen – egal, ob im Bereich der Physik oder auf dem Gebiet der Ethik – sei ein Lösen praktischer Probleme« (WuF 249). Ich werde diese Vorgehens-
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Charakteristik der »Kultur der Menschenrechte«
thropologien ab, welche dem Menschen eine besondere Fähigkeit oder Vernunft zusprechen. Als Abgrenzung zu solchen Argumentationen stellt er einzig die übersteigende Wandlungsfähigkeit des Menschen in den Vordergrund. »Nach und nach kommen wir zu der Auffassung, dass wir nicht das vernünftige oder das grausame Tier sind, sondern das anpassungsfähige, das proteische, das sich selbst formende Tier.« (WuF 244 f.) Es geht nicht um den Versuch, den Menschen vom Tier zu unterscheiden, denn sämtliche Vokabulare bzw. Kriterien sind ohnehin konstruiert und beliebig. 30 Anstatt hinter der historischen Kontingenz nach dem eigentlichen Wesen des Menschen zu suchen, soll deshalb Darwins Beschreibung des Menschen, d. i. als enorm anpassungsfähig, in den Vordergrund gestellt werden, weil hierin das eigentliche Potential liegt, um eine immer empfindungsfähigere Gesellschaft zu kultivieren: »Je mehr wir erkennen, dass eine Chance zur Umgestaltung unserer selbst besteht, desto eher werden wir Darwin nicht als Vertreter einer weiteren Theorie über unser eigentlichen Wesen lesen, sondern als einen Autor, der Gründe nennt, weshalb wir gar nicht zu fragen brauchen, was wir eigentlich sind« (WuF 253). In der Bezeichnung, der Mensch sei nichts weiter als ein gescheites Tier, liegt deshalb nichts Pessimistisches, sondern etwas Politisches und Hoffnungsvolles. Und wenn wir mutig und gescheit genug sind, um dieses Potential der Freiheit selbst in die Hand zu nehmen, dann können wir zu dem werden, was wir uns wünschen. 31 Das heißt, anstatt zu fragen »Was ist der Mensch?« – Egoist oder Altruist?, sollte die Frage lauten: »Welche Vorbereitungen können wir treffen, um eine Welt für unsere Urenkel zu schaffen?« (WuF 253). Wenn aber Vernunft keine gemeinsame Eigenschaft des Menschweise im nächsten Abschnitt genau begründen. Denn nur auf dieser Grundlage können die Argumente adäquat nachvollzogen werden. 30 Aufgrund der Ausweglosigkeit vermittels anthropologischer Theorien die Menschenrechte zu begründen, schließt er mit Rabossis Worten, der Versuch der Fundierung der Menschenrechte sei »aus der Mode« gekommen (vgl. La teoria de los derechos humanos naturalizada, in: Revista del Centro de Estudios Constitucionales (Madrid), Nr. 5 (1990), 159–179, zit. nach Rorty, WuF 245). Rorty spekuliert, dass es so weit gekommen sei, weil die Idee, der Mensch hätte einen Sonderbestandteil, der ihn genuin auszeichne, von der darwinistischen Deutung überschattet wurde, dass Menschen einfach sehr begabte Tiere sind (vgl. WuF 251). 31 Natürlich erinnert dies stark an die bekannte Idee Sartres, dass die Existenz der Essenz vorausgehe (vgl. J.-P. Sartre, Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie, Hamburg 1998).
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Richard Rorty: die Bedeutung des Mitgefühls
seins ist, welche Rolle kommt diesem Begriff dann überhaupt im Hinblick auf die Menschenrechtsproblematik zu? Für Rorty existiert Vernunft niemals im Singular. Dort wo sie sich als praktische Vernunft zeigt, ist sie lediglich eine Faktizität sozialer Konstrukte. Rorty sieht sich als »Anti-Platonist« 32. Er weist aber darauf hin, dass ein solcher Anti-Platonismus oder auch Kulturrelativismus nicht mit Irrationalismus gleichzusetzen sei. Denn obgleich er davon ausgeht, dass es keine kulturübergreifenden Tatsachen gibt, so bedeutet es gleichwohl nicht, das Streben nach Kohärenz aufzugeben. »[M]an braucht kein Irrationalist in dem Sinne zu sein, dass man aufhört, das eigene Netz von Überzeugungen so kohärent und durchsichtig wie möglich zu gestalten.« (WuF 246) Vielmehr liegt genau hierin eine wichtige Aufgabe der Vernunft und damit auch der konstruktiven Philosophie, nämlich unsere kulturell beeinflusste Vorstellung, das in verschiedenen Situationen als richtig Anerkannte, möglichst kohärent zusammenzufassen. Wir sollen unsere Vorstellungen also »nicht fundieren, sondern resümieren« (vgl. WuF 247) 33. Solche Zusammenfassungen dienen dem Ziel, die Prognostizierbarkeit, Macht und Leistungsfähigkeit von Institutionen zu steigern. Die Philosophie kann uns hierbei Klarheit über unser kulturspezifisches Konstrukt aus Überzeugungen verschaffen, kann es jedoch nicht transzendieren. Damit gelangt die Philosophie freilich an ihre erkenntnistheoretische Grenze. 34 Eine weitere Begrenzung erfährt sie auf der Ebene der Wirksamkeit, wenn Rorty rhetorisch fragt, was denn das moralische Handeln des Menschen auf der Straße eher beeinflusse: der kategorische Imperativ oder die anrührenden Geschichten aus anderen Kulturen? Da nämlich Vernunft weder als kulturtranszendentes, erkenntnissicherndes noch menschenverbindendes Element gesehen werden kann, wird die Idee der Vernunft auf politischer Ebene durch die Idee der Empfindsamkeit ersetzt. Das Ziel ist die Vgl. PSH XVIf. Zwar nicht an dieser Stelle, dafür aber in vielen späteren Aufsätzen, verweist Rorty im Zusammenhang mit der Frage, welche Aufgabe der Philosophie denn zustünde, auf den bekannten Ausspruch Hegels: »so ist auch die Philosophie, ihre Zeit in Gedanken erfasst.« (G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Naturrecht und Staatswissenschaft, hg. und eingeleitet v. Helmut Reichelt, Frankfurt am Main 1972, Vorrede). 34 Hierin nähert sich Rorty an Habermas an, der ebenfalls betont, die Philosophie solle sich bescheiden geben und die Teilnehmerperspektive nicht verlassen (vgl. J. Habermas, Die nachholende Revolution, Frankfurt am Main 1990, 144 f.). 32 33
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Charakteristik der »Kultur der Menschenrechte«
optimale Erweiterung des Wir-Gefühls bei möglichst vielen Menschen. »People can be very intelligent, in this sense, without having wide sympathies. But their compassion can have a narrow scope […] So it is best to think of moral progress as a matter of increasing sensitivity, increasing responsiveness to the needs of a larger and larger variety of people and things.« (PSH 81) Solidarität ist aus diesem Grund nicht notwendigerweise an Objektivität bzw. Vernunft gebunden. Rorty sieht jedoch in der Preisgabe eines ewigen Wissens noch einen weiteren Vorteil: Er lädt auch andere Kulturen zu einem originären Beitrag für die Kultivierung der Menschenrechte ein. Dann haben wir »nicht die Ewigkeit, sondern die Zukunft im Blick. Ihnen [diesen Intellektuellen] sind neue Ideen für mögliche Veränderungen der Dinge lieber als feststehende Kriterien« (WuF 252). Die Hoffnung auf eine bessere, weniger grausame Zukunft soll deshalb das Bedürfnis nach ewigem Wissen ersetzen. Auf welche Weise vermag jedoch die Empfindsamkeit die inkommensurable kulturelle Differenz zu überbrücken? Müssen wir denn nicht bei aller Unterschiedlichkeit annehmen, dass auch die Gefühlswelt entsprechend unvereinbare Züge trägt? Natürlich ist auch Rorty nicht frei von solchen Prämissen. »Der Fortschritt besteht in der zunehmenden Fähigkeit zu erkennen, dass die Ähnlichkeiten zwischen uns selbst und ganz andersartigen Leuten die Unterschiede wettmachen. […] dies sind so geringfügige oberflächliche Ähnlichkeiten wie Eltern- und Kinderliebe, also Ähnlichkeiten, die keinen interessanten Unterschied machen zwischen uns und vielen Tieren, die nicht zur Menschengattung gehören.« (WuF 261) Er ist sich also darüber im Klaren, dass es für diese Annahme keine klassische Begründung gibt. Aber darum geht es ihm auch nicht, sondern vielmehr um die Maximierung gegenseitigen Mitgefühls. Was es braucht, ist die Erziehung ganzer Generationen von »netten, toleranten, wohlhabenden, geborgenen und andere Menschen respektierenden Studenten« (WuF 259). Obgleich dieser Gedanke zunächst hoffnungslos idealistisch klingt, weiß er selbst, dass eine solche »Schule der Empfindsamkeit« nur dann fruchtet, wenn es in Gesellschaften und an Orten geschieht, wo man es sich ›lange genug bequem machen kann, um sich hinzusetzen und einander zuzuhören‹ (WuF 260). Hinter einer solchen Forderung steht die Einsicht, dass es nicht das moralische Wissen ist, das den Vergewaltigern und Nazischlägern mangelt, sondern vielmehr an Geborgenheit und Mitgefühl. Es braucht Lebensbedingungen, die so friedlich sind, 171 https://doi.org/10.5771/9783495860601 .
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dass die Andersheit des Anderen für meine eigene Selbstachtung und mein eigenes Selbstwertgefühl nicht bedrohlich ist. Damit taucht das Problem der kulturellen Identität durch Anerkennung wieder auf. Identität entwickelt sich in einem intersubjektiven Raum der reziproken Anerkennung. Aber diese Form der Abhängigkeit lässt sich in bedrohlichen Situationen nur schwer eingestehen. Das bekannte hegelsche Dilemma zwischen Herr und Knecht bleibt bestehen, 35 solange sich nicht die Augen der Starken auf das Leiden der Schwachen richten. Freilich mag es für die meisten nur ein schwacher Trost sein, auf das Entgegenkommen der anderen zu setzen, anstatt auf das zu vertrauen, worüber sie selbst Macht haben: »Es ist jedoch empörend, wenn man bedenkt, dass unsere einzige Hoffnung auf eine anständige Gesellschaft darin besteht, dass es gelingt, die selbstzufriedenen Herzen der Hautevolee zu erweichen« (WuF 262). Weil aber Rorty davon ausgeht, dass es die Starken sind, welche ihre Augen auf die Armen richten müssen, soll der kategorische Imperativ durch Romane und andere Kunstprodukte ersetzt werden. Dabei geht es eben nicht um moralische Pflicht – welche für Rorty ein Zeichen der Unreife ist –, sondern um die Frage, ob es uns gelingt, auch Menschen, deren Gewohnheiten oder Überzeugungen uns fremd sind und die wir als Angriff auf unsere eigene kulturelle Identität erleben, dennoch in unser Herz zu schließen, und dadurch unser Mitgefühl auf immer mehr Menschen auszudehnen.
2.2.3 Aktuelle Kontroversen »Wir Pragmatisten stützen uns in unserer Argumentation auf die Tatsache, dass die Entstehung der Menschenrechtskultur offenbar nichts dem wachsenden sittlichen Wissen verdankt, dafür aber alles den traurigen und aufwühlenden Geschichten, die man hört« (Rorty, WuF 267). Natürlich trifft eine solche radikale Infragestellung der vernunftorientierten Praktiken der Moralphilosophie auf heftige Kritik. Ich werde im Folgenden exemplarisch auf Matthias Kettners ausführliche Kritik an dem Konzept einer Menschenrechtskultur eingehen, um so die gängigsten Einwände darzustellen. 36 Es geht mir ledig35 36
Vgl. Ch. Taylor, Multiculturalism and ›The Politics of Recognition‹, a. a. O. Da an dieser Stelle nicht sämtliche Einwände wiedergegeben werden können, sich
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lich darum zu zeigen, dass Rortys Kritik an einem moralphilosophisch begründeten Menschenrechtskolonialismus nicht ohne seine fundierte und umfassende Erkenntniskritik und dem daraus resultierenden Neopragmatismus verstanden werden kann. Kritikversuche, die es einzig auf thematische Inkonsistenzen anlegen, verfehlen hingegen das eigentliche Anliegen Rortys. Kettners Kritik stützt sich im Wesentlichen auf drei Punkte: a. eine mangelnde Unterscheidung zwischen begründungsorientierter Philosophie und ahistorischem Rationalismus, b. die Ambivalenz einer Wirksamkeit des Mitgefühls 37 sowie c. die fehlende Identifikation mit einer mitgefühlsgeleiteten Menschenrechtskultur. a. In der Tat unterscheidet Rorty nicht wirklich zwischen den vielschichtigen philosophischen Bezugnahmen auf die Vernunft einerseits und den dahinterliegenden unterschiedlichen Vernunftbegriffen andererseits. Und nicht all diese Versuche lassen sich dem Oberbegriff des ahistorischen Rationalismus unterordnen. »Man sollte aber nicht die begründungsorientierte Philosophie abschießen, wenn man einen ahistorischen Rationalismus treffen will.« 38 Wer nämlich das philosophische Kind mit dem rationalistischen Badewasser ausschüttet, der gerät laut Kettner in Gefahr, damit jedwede Empfänglichkeit für eine symmetrische Kritik zu verlieren: Statt an Verhandlungstischen zu sitzen, sollte man dann vielleicht lieber ins Kino gehen. Kettner gesteht zwar ein, dass im nachmetaphysischen Zeitalter nicht mehr an einem ahistorischen Rationalismus festgehalten werden kann, sich aber in allen Kulturen diskursive Argumentationspraktiken finden lassen und wir über Meinungsverschiedenheiten ins Gespräch kommen können. 39 Rorty stimmt mit Kettner darüber überein, dass wir ohne das Spiel des Fragens und Antwortens nicht auskommen. Der einzige Unterschied besteht darin, dass dieses Für und Wider bei ihm »Gespräch« jedoch die Einwände der begründungsorientierten Kontinentalphilosophie stark wiederholen, ist es sinnvoll, sich auf eine ausführliche Kritik zu beschränken. Ich werde weitere Einwände im Kontext von Rortys politischer Philosophie darstellen. 37 D. i. im Einzelnen die Scheinkontroverse zwischen Mitgefühl und moralphilosophischer Begründung, das Fehlen von einer inhaltlichen Einigung sowie die Machtlosigkeit gegenüber »schlechter« Manipulation. 38 M. Kettner, Rortys Restbegründung der Menschenrechte. Eine Kritik, in: Thomas Schäfer, Udo Tietz u. Rüdiger Zill (Hg.), Hinter den Spiegeln, Beiträge zur Philosophie Richard Rortys mit Erwiderungen von Richard Rorty, Frankfurt am Main 2001, 205. 39 Vgl. ebd., 221.
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und nicht »begründungsorientierte Philosophie« heißt. Und in der Tat bleibt es umstritten, worin die beiden sich in Anbetracht eines nachmetaphysischen Denkens genau unterscheiden. Ahistorischer Rationalismus, begründungsorientierte Philosophie und Gespräch scheinen sich eher graduell denn qualitativ zu unterscheiden. Kettner selbst hat hier vermutlich etwas Ähnliches wie die ideale Diskurssituation im Blick, worin sich die Gesprächsteilnehmer vorher darüber verständigt haben, unter welchen Voraussetzungen eine Aussage als wahr bezeichnet werden kann. Kommen Menschen über solche idealen Voraussetzungen trotz aller kulturellen Unterschiede überein, dann ist das natürlich ein Pluspunkt, gegen den auch Rorty auf politischer Ebene nichts einzuwenden hätte. Falls nicht, dann bietet Rortys Vorschlag zumindest einen gangbaren Ausweg, über den wir trotz solcher inkommensurablen kulturellen Unterschiede im Gespräch bleiben. Alles hingegen, was bei Kettner über eine solche pragmatische Notwendigkeit von Begründungen hinausgeht, d. h. über die Absicht, den anderen von der eigenen Meinung zu überzeugen, muss bei Rorty notwendigerweise auf Unverständnis stoßen: »Zu welchem Zweck muss es denn geschehen, außer um die Meinungen unserer Gegner zu ändern?« 40 Rorty kritisiert an dieser Stelle die gesamte Leistungsfähigkeit der philosophischen Ausbildung, da sie keine Aussage darüber machen kann, wie man sich in Fragen der Abtreibung, Homosexuellenehe etc. »richtig« verhält. Rorty expliziert dies am Beispiel von politischen Verhandlungen: »Was meine Erinnerungen an diese Kongresse betrifft, fällt mir kein durch philosophisches Raffinement geförderter fruchtbarer Gedankenaustausch ein, sondern mir kommen Leute in den Sinn, die sich vage, nutzlose, nichtssagende, abgedroschene Allgemeinplätze zurechtlegen. Anschließend unterschreibt jeder das daraus resultierende hochtrabende Abschlussdokument, während er weiß, dass er es nach der Heimkehr im eigenen Interesse umdeuten kann.« 41 Also nicht genug, dass solche begründungsorientierten Verhandlungen und Formulierungen natürlich immer genug Spielraum für Auslegung lassen und damit zuallererst die gutwillige Auslegung gefordert ist. Vielmehr wird bezweifelt, dass ein solches Nachdenken zu einer tatsächlichen Einstellungsveränderung führt: dass »Nazis und Mafiosi zu guten Menschen unseres Schlages würden, wenn sie nur 40 41
Ebd., R. Rorty, Erwiderung auf Kettner, 230. Ebd., R. Rorty, 231.
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intensiv genug nachdächten.« 42 Natürlich stecken hinter solchen Forderungen verstrickende Annahmen, auf welche Rorty mit seinen provozierenden Aussagen aufmerksam machen möchte: dass wir aus dem Westen besser sind als die anderen, weil wir rationaler, philosophischer, kohärenter etc. sind. Hinter solchen Sätzen steht aber nicht einzig seine Kritik an der Wirksamkeit moralphilosophischer Begründungen für die pragmatische Umsetzung, sondern er zielt auch auf die Naturwissenschaften und empirischen Wissenschaften. Seine Kritik ist deshalb nur innerhalb seines großangelegten Dekonstruktionsversuches zu verstehen. 43 b. Bei der Ambivalenz einer Wirksamkeit des Mitgefühls geht es Kettner zunächst darum, auf die Scheinkontroverse zwischen Mitgefühl und moralphilosophischer Begründung hinzuweisen. Immerhin gilt Mitgefühl als charakteristischer Zug aller Moral. 44 Fehlt das Mitgefühl, ist auch jeder moralische Appell, jedes Gespräch und jede Möglichkeit zur Verständigung halbherzig oder gar verfehlt. In solchen Situationen hilft es auch nicht weiter, Kants Leserstimmen mit Rortys »verflossenen Tränen über traurige Geschichten« zu vergleichen. Und in der Tat erweckt es den Anschein, als würde Rorty die Dichotomie zwischen Begründung und Mitgefühl unnötig dramatisieren. Denn im Kontext einer edifying philosophy, wie sie Rorty vorschwebt, übernimmt das Gespräch eine durchaus wichtige Rolle. Sobald aber solche Begründungen auf einen Wahrheitsanspruch pochen und damit überzeugen wollen, wird Rorty skeptisch. Solange es also funktioniert, dass z. B. ein Vergewaltiger durch die Lektüre von Kant einsieht, dass er sein Opfer als Mittel zum Zweck seiner egoistischen Bedürfnisbefriedigung benutzt hat und bekehrt wird, liegt Rorty mit Kettner ganz auf einer Linie. Sein Alternativvorschlag beginnt hingegen dort, wo die begründungsorientierte Philosophie nichts mehr auszurichten vermag. Es geht darum, die Schnittstellen und Verflechtungen zwischen Vernunft und Mitgefühl freizulegen, anstatt den ohnehin viel zu tief gegrabenen Abgrund zu dramatisieren. Ebd., R. Rorty, 232. Ich werde darauf in 2.3.1 im Kontext seiner umfassenden Philosophiekritik eingehen, um auf dieser Grundlage die Rolle der Philosophie und des Gesprächs im Sinne Rortys zu explizieren. 44 Vgl. ebd., M. Kettner, 202. 42 43
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Richard Rorty: die Bedeutung des Mitgefühls
Kettner hält jedoch Rortys Ansicht, die Erweiterung des Mitgefühls sei eine Vorbedingung der Kultivierung von Menschenrechten, für abwegig. Vielmehr entstünden Mitgefühl und die Notwendigkeit, sich auf bestimmte Inhalte von Menschenrechten zu einigen, parallel bzw. in Abhängigkeit voneinander. Vorschläge für eine pragmatische Einigung auf solche Inhalte fehlen in Rortys Konzept völlig: »Leider verstummt Rortys Text vor allen besonderen Inhalten von Menschenrechten.« 45 Die begründete Frage, warum also manche Inhalte besser sein sollen als andere, bleibt offen. Setzen wir dann auch noch auf der inhaltlichen Seite auf Mitgefühl, so sind Massenmanipulation u. Ä. Tür und Tor geöffnet. »Was, wenn aber nicht die gefühlsbewegenden Geschichten des zur Menschenrechtskultur gehörenden egalitären Universalismus […] das Rennen machen würden, sondern die gefühlsbewegenden Geschichten von Rassismus, Hass, Segregation oder Suprematie […]?« 46 Kettner kritisiert hier insbesondere die Machtlosigkeit gegenüber sog. »schlechten« Manipulationen. Thomas Schäfer bezeichnet dies hingegen als »darwinistisches Fortschrittsverständnis«. 47 Im Kampf der Kulturen kann es sein, dass Bösewichte überleben und die Guten untergehen. Rorty nimmt diese Möglichkeit in Kauf, denn es gibt ohnehin keinen absoluten Standpunkt, von dem aus zu beurteilen wäre, ob dieses Geschehen langfristig gesehen gut oder schlecht ist. An dieser Stelle zeigt sich die extreme Spannung zwischen Pragmatiker und Romancier am deutlichsten: Er gibt zu, dass die gezielte Manipulation durch Bücher, Bilder und Geschichten vielleicht ohne Wirkung bleibt oder missbraucht wird. Dennoch hält er es für das Beste, solange als möglich dafür zu sorgen, dass die Guten den Sieg davontragen: »[S]olange es geht, bedienen wir uns dabei der Worte (ohne uns sonderlich darum zu kümmern, ob unser Einsatz von Worten als Überreden oder als Überzeugen gilt). Wenn Worte nichts ausrichten, wenden wir Gewalt an. Wir können nicht anders.« 48 Besonders das letzte Zitat mag den Eindruck erwecken, Rorty rufe zu einem poli-
Ebd., 209. Ebd., 212. 47 T. Schäfer, Politisches Engagement ohne philosophische Begründung? Rortys politisches Denken zwischen Ethnozentrismus, Relativismus, Habermas und Foucault, in: Schäfer, Tietz, Zill (Hg.), Hinter den Spiegeln, a. a. O., 166 f. 48 Ebd., R. Rorty, Erwiderung auf Schäfer, 200 f. 45 46
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Charakteristik der »Kultur der Menschenrechte«
tischen Glaubenskrieg auf, doch auch hier ist Vorsicht geboten, denn hinter dieser Konzeption steht natürlich die berühmte Figur der liberalen Ironikerin, die streng zwischen privatem Vokabular und öffentlichem Mitgefühl trennt. 49 c. Schließlich kritisiert Kettner die fehlende Identifikationsmöglichkeit mit einer mitgefühlsgeleiteten Menschenrechtskultur. Dem geht die Vermutung voraus, dass Menschen Begründungen brauchen, um sich mit bestimmten Ideen zu identifizieren: »Auffassungen von Menschenwürde und Menschenrechten auf argumentativ-diskursive Weise konstruieren lassen, so dass alle, die es betrifft, diese nicht nur verstehen, sondern auch akzeptieren können.« 50 Rorty sieht dagegen keine Möglichkeit, »berechtigten Stolz in gute Gründe einzubetten« 51, um damit zu einer Identifikation mit einer Menschenrechtskultur zu gelangen. Rorty unterschätzt hier, welche Rolle die Begründung von Überzeugungen für die Motivation spielt. Und obgleich bezweifelt werden kann, dass diese Art von ›Rationalisierung‹ ein kulturübergreifendes Phänomen ist, so gilt sie immerhin als zentral für die westliche Kultur. Dennoch gesteht er diesem Phänomen durchaus eine gewisse rhetorische Wirksamkeit zu, denn auf der gesellschaftlichen Ebene sollen Zusammenfassungen von Überzeugungen so durchsichtig und kohärent wie möglich sein. 52 Ich denke, Rorty geht es hier allem voran um den adäquaten Ort und Rolle für kohärente Begründungen. Die Schule des Mitgefühls muss nicht in einem Widerspruch zu solchen öffentlichen Diskussionen stehen, weil diese den Bereich des Privaten, jene den Bereich der Öffentlichkeit einnehmen. 53
Daher ist auch dieser Schachzug Rortys nur im Kontext seiner politischen Philosophie und der Figur der liberalen Ironikerin zu verstehen. Ich werde dies in 2.3 herausarbeiten. 50 Ebd., M. Kettner, 219. 51 Ebd., R. Rorty, Erwiderung auf Kettner, 233. 52 Vgl. WuF 246. 53 Ich werde diese Unterscheidung im Kontext der Idee des Mitgefühls näher ausführen. 49
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Richard Rorty: die Bedeutung des Mitgefühls
2.3 Mitgefühl als transkulturelle Solidarität: ein Ausweg aus der erkenntnistheoretischen und politischen Gleichgültigkeit 2.3.1 Die Entzauberung des Spiegels: von der Erkenntniskritik zum Anti-Essentialismus »I have spent 40 years looking for a coherent and convincing way of formulating my worries about what, if anything, philosophy is good for.« (PSH 10 f.)
Im Folgenden soll dargestellt werden, dass Rorty nicht nur die Moralphilosophie, sondern das gesamte Paradigma der Wissenschaftlichkeit an den Pranger stellt. Nur auf dieser Grundlage macht sein Alternativkonzept einer Schule der Empfindsamkeit, die so leicht als naiver bis verantwortungslos ethnozentrischer Relativismus abgetan wird, überhaupt Sinn. a.
Konfliktlinien
Philosophieren ohne Prämissen Gleich zu Beginn des berühmten Vorworts zum 1967 erschienenen Linguistic Turn bringt Rorty die Problematik der Philosophie auf einen kurzen Nenner: »Every philosophical rebel has tried to be ›presuppositionless‹, but none has succeeded« (LT 1). Es folgt eine, für den damals erst 26-jährigen Philosophen, merkwürdig abgeklärte Analyse der Situation der analytischen Philosophie: Den Versuch eines ›Denkens ohne Geländer‹ 54, hier verstanden als eine prämissenlose Beschreibung der Welt, entdeckt Rorty bei Descartes genauso wie bei Kant oder Husserl. Die Hauptaufgabe der Philosophie bestehe nun darin, die Prämissen aufzudecken, welche auch in solch radikalen Zweifeln oder scheinbaren a priori Kategorien stecken. Dies gebe schließlich den Zündstoff für immer neue Auseinandersetzungen und Versuche einer »voraussetzungslosen Philosophie«, d. h., die Welt von einem neutralen Standpunkt aus zu beschreiben (LT 3 f.). Um die Frage zu beantworten, ob die analytische Philosophie durch ihre Methodik diese Schwierigkeit zu überbrücken vermag, muss sie jedoch zunächst zwei zentrale Fragen beantworten: a. Sind die Aussagen der analytischen Philosophie über 54
Ausdruck angelehnt an Hannah Arendt.
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Mitgefühl als transkulturelle Solidarität
die Natur der Philosophie und über die philosophischen Methoden voraussetzungslos? b. Verfügen analytische Philosophen über solche Kriterien des philosophischen Erfolgs, die klar genug sind, um rationales Einverständnis zu sichern? (Vgl. LT 4) Die darauf folgenden Ausführungen über die Entstehung und Begründung der analytischen Philosophie müssen uns hier nicht interessieren. Denn im Kern besteht der Versuch dieser Philosophie darin, dem Problem der Voraussetzungslosigkeit zu entgehen, indem sie entweder die Sprache reformiert oder sich um ein besseres Verständnis der Sprache bemüht. »All linguistic philosophers talk about the world by means of talking about a suitable language. This is the linguistic turn.« 55 Dies führt schließlich zu der Feststellung der analytischen Philosophie, dass der großangelegte Versuch der traditionellen Philosophie, d. i. neben der Sprache nach dem zu graben, was Sprache ausdrückt, zum Scheitern verurteilt ist. Und zwar weil es neben der Sprache eben nichts gibt, nach dem gegraben werden könnte (vgl. LT 10). Daraus ergibt sich jedoch bereits die erste Vorannahme der analytischen Philosophie selbst, nämlich diejenige des »methodical nominalism« (vgl. LT 11). Nominalismus und Konstruktivismus Im 12. und 14. Jahrhundert gelangte der Universalienstreit zwischen den gemäßigten Realisten und den Nominalisten bzw. Konzeptionalisten zu einem Höhepunkt. Erstere gehen davon aus, dass die Universalien abstrakte Gegenstände darstellen, welche mehreren Einzeldingen zugleich zukommen können (universalia ante rem). In diesem Sinne sind sie atemporal, nicht-wahrnehmbar, nicht kausal wirksam und rein begrifflich identifizierbar. 56 Ein gemäßigter Begriffsrealismus situierte die Dinge nicht unabhängig oder vor ihnen, aber in den Dingen selbst (universalia in re). Der Nominalismus hingegen geht davon aus, dass die Entstehung von Begriffen Teil eines Abstraktionsprozesses sei: Bestimmte Eigenschaften eines Gegenstandes ähneln den Eigenschaften anderer Gegenstände. Sie werden vom einzelnen Gegenstand abstrahiert und so durch allgemeine Begriffe erfasst. Im Gegensatz zum Realismus geht der Nominalismus davon aus, dass verbale Begrifflichkeiten nur Weisen des Sprechens sind: Sie sind nur 55 56
Bergmann, 3, zit. nach Rorty, LT 8. D. M. Armstrong, Nominalism & Realism, Cambridge 1978.
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Richard Rorty: die Bedeutung des Mitgefühls
Wörter, nur Namen, die Ähnliches zusammenfassen, jedoch keine Existenz außerhalb der menschlichen Gedanken oder Diskurse haben (universalia post rem). 57 In der Neuzeit galt der Universalienstreit als entschieden und man reduzierte ihn auf ein Problem der scholastischen Terminologie. Im Kontext des Grundlagenstreits der modernen Mathematik und der Logik erlebte diese Auseinandersetzung eine Renaissance. Denn nun hatte die Frage, ob Gebilde der Mengenlehre tatsächlich existierten oder nur Abstraktionen von realen Gegenständen waren, eine neue Relevanz. 58 Auch Wittgenstein greift auf die Terminologie des Nominalismus zurück und konstatiert, dass wir weder das Ding selbst noch das dahinterstehende Konzept erforschen könnten, ohne dass wir dabei den Sprachgebrauch dieses Begriffs untersuchten. Ayer und Carnap erweiterten diese These, indem sie annahmen, dass alle philosophischen Fragen eigentlich Fragen des Sprachgebrauchs seien (vgl. LT10 ff.). In der analytischen Philosophie führte dies zu zwei grundverschiedenen Ansätzen, nämlich der Ideal Language Philosophy (ILP) und der Oridinary Language Philosophy (OLP). Die ILP möchte durch die Konstruktion einer idealen Sprache solche Bedingungen schaffen, unter denen Wahrheitsverhältnisse untersucht werden können. Dabei ist fraglich, ob sich die Lösungsmodelle der idealen Sprache auch auf die gewöhnliche Welt übertragen lassen. Die OLP untersucht hingegen den tatsächlichen Sprachgebrauch. Sie ist der Gefahr ausgesetzt, das Englische selbst zu einer idealen Sprache zu stilisieren. Rorty subsumiert den Unterschied zwischen diesen beiden Ansätzen ironisch in den Worten: »[T]he only difference between Ideal Language Philosophers and Ordinary Language Philosophers is a disagreement about which language is Vgl. hier die hilfreichen Hinweise in Reese-Schäfer, Richard Rorty zur Einführung, Dresden 2006, 26 f. 58 Vgl. hierzu die Darstellung in Reese-Schäfer, Richard Rorty, a. a. O., 27 f.; Rorty selbst bezeichnet sich als »gesunder Nominalist«, gesund bedeutet hier »gemäßigt«, »weil in dieser Spielart nominalistischen Denkens nicht nur Einzeldinge akzeptiert werden, sondern auch Sprachkonventionen und Sprachspiele, die gewissen Allgemeinbegriffen Bedeutungen zumessen« (Reese-Schäfer, Richard Rorty, a. a. O., 28). Auf diese Weise sollen philosophische Probleme schnell aufgelöst werden. Z. B. kritisiert Rorty, dass Adjektive mit Substantiven vertauscht bzw. verwechselt werden; z. B. wird Rot als Farbe in »der rote Stift« zum »Roten« an sich stilisiert. Vgl. auch die Diskurse um den »epistemological behaviourism« und zum Begriff der Wahrheit (vgl. Ch. U. Guignon, D. Hiley (Hg.), Richard Rorty. Cambridge 2003, 9 ff. u. 44 bzw. 9 ff. u. 17 ff.). 57
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Mitgefühl als transkulturelle Solidarität
ideal« (LT 12). Charakteristisch für beide Ansätze ist die grundsätzlichere Frage: »Should we philosophize?«, womit gemeint ist: »Should we attempt to find answers to these questions other than the answers which can be given by common sense and by science?« (LT 13). Denn Fragen solcher Art machen nur Sinn, insofern wir Kriterien angeben können, welche zufriedenstellende Antworten kennzeichnen. Das Hauptproblem besteht also darin, solche Kriterien für philosophischen Erfolg zu finden, von welchen wir erwarten können, dass sie auf allgemeine Zustimmung treffen (vgl. LT 15). 59 Interessant ist in diesem Zusammenhang, welchen Stellenwert hier die philosophischen Probleme erhalten. Für die ILP haben sie den Stellenwert einer physischen Krankheit: Sie sind wie Krebsgeschwüre, die es gilt zu entfernen. Für die OLP handelt es sich bei solchen Problemen hingegen um Neurosen, von denen man geheilt werden kann (vgl. zu dieser Metapher LT 16 f.). 60 Dieser süffisante Vergleich macht die Bedeutung philosophischer Probleme innerhalb der analytischen Philosophie sehr deutlich: »A philosopher who takes this line will therefore have to swallow the conclusion that philosophical problems are made, not found« (LT 22). Diese Aussage Rortys deutet bereits damals seine Kernthese an: Dass es ein Erkennen von Wahrem nicht gibt, sondern dass der Begriff der Wahrheit als Ganzes verabschiedet werden muss. Und in der Tat ist der Schritt vom methodischen Nominalismus zur Aussage, »die Wahrheit sei ein Konstrukt von Worten, die vom Menschen gemacht ist« 61, nur ein kleiner. Wenngleich er diese Vermutung im Linguistic Turn noch vorsichtig formuliert: »The linguistic turn in philosophy is a reaction against the notion of philosophy as a discipline which attempts the solution of certain traditional problems – problems (apparently) generated by certain commonsense beliefs« (LT 23). Der analytischen Philosophie hält Rorty zugute, dass sie die gesamte philosophische Tradition in Bedrängnis versetzt, weil sie ihren Sprachgebrauch grundsätzlich in Frage stellt. Das heißt jedoch nicht, dass ihr letzten Endes nicht dasselbe Schicksal beschert sein wird wie allen anderen Epochen der Philosophiegeschichte, nämlich dass man Obgleich Rorty diese Fragen als Pluspunkt der analytischen Philosophie herausstreicht, ist fraglich, ob ihr die Beantwortung dieser Frage tatsächlich gelungen ist bzw. sie solche Kriterien bereitstellen kann. 60 Diese Bemerkung im LT ist wichtig, da sie die Grundlage der Methodik im Spiegel der Natur darstellt. 61 Vgl. auch KIS 21. 59
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Richard Rorty: die Bedeutung des Mitgefühls
ihre eigenen Prämissen und blinden Flecken gegen sie selbst verwendet. Wissenschaft oder Dichtung? Über die Zukunft der Philosophie Als durchaus sprachanalytisch kann Rortys Einstellung gedeutet werden, dass die Zukunft der Philosophie nicht in der Suche nach einer Wahrheit außerhalb der Sprache besteht, sondern vielmehr darin, andere und bessere Wege des Sprechens aufzuzeigen. Neu ist hingegen, dass er dies in Richtung einer Reformulierung des Verhältnisses zwischen Philosophie und Poesie interpretiert. »Ever since Plato invented the subject, philosophy has been in a state of tension produced by the pull of the arts on one side and the pull of the sciences on the other.« (LT 38) Der Linguistic Turn hat diese Spannung in keiner Weise verringert, sondern die immer noch aktuelle Schwierigkeit einer Positionierung der Disziplin zwischen diesen Polen aufgedeckt. Rorty unterscheidet hierbei grundsätzlich zwischen zwei Extremen: »philosphyas-proposal« (Nähe zur Poesie) bzw. »philosophy-as-discovery« (Nähe zur Wissenschaft) – je nachdem, ob das Bild einer zu-kreierenden oder zu-entdeckenden Wahrheit der Philosophie zugrunde gelegt wird. Im Linguistic Turn eröffnet Rorty sechs mögliche Weiterentwicklungen der Philosophie. Er selbst legt sich jedoch an dieser Stelle (noch) nicht fest (vgl. LT 34 f.): 1. Sollte sich herausstellen, dass sich Fragen nicht in sprachliche oder empirische unterscheiden lassen, so wäre der methodische Nominalismus an sein Ende gekommen. Unter diesen Umständen wäre insbesondere die Phänomenologie im Sinne Husserls ein gangbarer Weg. 2. Eine zweite Möglichkeit besteht darin, dass sowohl der methodische Nominalismus als auch die Notwendigkeit, klare Kriterien für eine intersubjektive Übereinstimmung zu finden, fallengelassen würden. Dann wäre Philosophie keine argumentative Disziplin mehr, sondern würde in die Nähe der Poesie rücken. Heideggers spätere Essays deuten in eine solche Richtung. 3. Vorstellbar ist auch, dass zwar der methodische Nominalismus bestehen bleibt, jedoch die Notwendigkeit für klare Kriterien der Übereinstimmung über die tatsächliche Wahrheit fallen gelassen würde. Damit wäre der Weg frei für die Erfindung neuer Sprachen. Jedoch nicht im Sinne der ILP, sondern vielmehr indem man ganz neue Wege findet über die Welt zu sprechen, um ihr 182 https://doi.org/10.5771/9783495860601 .
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dadurch eine tiefere Bedeutung zu verleihen. Solche Beschreibungen enthielten freilich keinen Wahrheitsanspruch darüber, wie die Dinge »wirklich« sind. Dieser Vorschlag rückt in die Nähe von Waismann. 4. Natürlich kann man die Frage, ob die Philosophie an ihr Ende gelangt ist, mit »Ja« beantworten und damit der Meinung Wittgensteins folgen. Philosophie wäre dann so etwas wie eine »Kulturkrankheit«, von welcher wir nun geheilt wären. Das menschliche Bedürfnis nach einer Weltanschauung würde von nun an durch die Künste oder die Wissenschaften erfüllt werden. 5. Folgt man Austin, so könnte man die Hoffnung hegen, dass die Philosophie zu einer Art »empirischen Linguistik« 62 würde und durch die Analyse unserer Sprachpraktiken zumindest einige Fragen beantwortet, welche die traditionelle Philosophie zu stellen pflegte. 6. Schließlich könnte die Philosophie ihre rein kritische Funktion überwinden und zu einer Aktivität werden, welche die notwendigen Bedingungen der Möglichkeit unserer Sprache selbst aufdeckt (so wie Kant zu den notwendigen Bedingungen der Erfahrung vorgestoßen ist). Sie würde dann zu einer deskriptiven Metaphysik. 63 Möglichkeit 3 und 4 teilen sowohl die Voraussetzungen des methodischen Nominalismus als auch die Annahme, dass es keine philosophischen Wahrheiten zu entdecken gibt. 4 zieht daher mit Wittgenstein den Schluss, dass die Philosophie an ihr Ende gelangt sei. 3 macht dennoch weiter, widmet sich aber lediglich der Aufgabe, neue und interessante Wege des Nachdenkens über allgemeine Dinge zu erfinden. Ein Beispiel ist hier Sellars, d. h., »wie Dinge im weitestmöglichen Sinne dieses Begriffs miteinander im weitestmöglichen Sinn zusammenhängen«. 64 Ähnliches kann natürlich auch für 2 behauptet werden, jedoch mit dem Unterschied, dass hier nicht von einem methodischen Nominalismus gesprochen werden kann und dadurch der Unterschied zwischen Philosophie und Poesie noch weiter eingeebnet wird. Der Unterschied verläuft im Ergebnis jedoch graduell. Diese Übersetzung verdanke ich W. Reese-Schäfer, Richard Rorty, a. a. O., 16. Diese Darstellung findet sich in LT 34 f. Ich habe sie hier in freier Übersetzung wiedergegeben. 64 W. Sellars, Philosophy and the Scientific Image of Man, in: ders., Science, Perception and Reality, London 1967, 1, zitiert in: W. Reese-Schäfer, Richard Rorty, a. a. O., 16. 62 63
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Interessant ist insbesondere, dass sich Rorty in seinen nachfolgenden Werken mehr auf Heidegger denn auf Waismann konzentriert, allerdings am methodologischen Nominalismus festhält. Inwieweit dies konsequent ist und ob er hierdurch nicht eine wichtige Komponente des phänomenologischen Denkens Heideggers vernachlässigt, wird sich später zeigen. Jedenfalls liegt schon jetzt die Vermutung nahe, dass ein rein sprachlich gefasster Mitgefühlsbegriff fragmentarisch bleibt. Im Folgenden soll Rortys Auflösung des Leib-Seele Problems, seine Erkenntnis- sowie seine Philosophiekritik dargestellt werden. Die Auflösung des Begriffs des Mentalen bildet den verdeckten Ausgangspunkt für sein Mitgefühlsverständnis und die Kritik der Begriffe Erkenntnis und Philosophie das Fundament für Rortys Vernunftkritik. b.
Kritik: Kernprobleme des Essentialismus 65
Rortys Zielperspektive wird im Wesentlichen durch drei Denker vorgegeben: Wittgenstein, Heidegger und Dewey. Auf den ersten Blick könnte diese Kombination nicht kontroverser sein. Denn, so schreibt Reese-Schäfer treffend, »[w]er in dieser (der analytischen) Tradition steht, wird Dewey normalerweise für oberflächlich und Heidegger für völlig ungenießbar halten.« 66 Auf den zweiten Blick erkennt man jedoch, dass alle drei, ganz abgesehen von ihrer zeitlichen Parallelität, 67 noch viele andere Gemeinsamkeiten haben. Alle drei Denker versuchten in ihrer Frühzeit eine neue Fundamentalphilosophie zu begründen. In ihren späteren Werken gelangen sie jedoch zu der Einsicht, dass dieser Versuch sinnlos sei (vgl. SN 15 f.). Inhaltlich stimmen sie darin überein, dass die Vorstellung, Erkennen sei ein akkurates Darstellen, aufgegeben werden muss. Die Idee eines Bewusstseins »als eines besonderen, in einem inneren Raum angesiedelten Forschungsbereichs, in dem sich die Bestandteile und Prozesse finden, die unser Erkennen ermöglichen« (SN 16) – eine Vorstellung, die Descartes, Locke und Im Folgenden werde ich Rortys Interpretation der Ideengeschichte darstellen. Eine kritische Reflexion dieser oft sprachphilosophisch geprägten Sichtweise kann in diesem Rahmen nur bedingt geleistet werden und wird sich auf solche Punkte beschränken müssen, welche für die weitere Argumentation entscheidend sind. 66 Vgl. W. Reese-Schäfer, Richard Rorty, a. a. O., 21. 67 Die Lebenszeiten der drei Philosophen überschneiden sich zu einem großen Teil, sogar mit einer interessanten Synchronizität der Geburts- und Todesjahre: Dewey (1859–1951), Wittgenstein (1889–1951), Heidegger (1889–1976). 65
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Kant gemeinsam war –, soll verabschiedet werden. Methodisch geht es ihnen nicht um ein Widerlegen, sondern ein »Verabschieden«. »Wittgenstein, Heidegger und Dewey führten uns in ein Zeitalter ›revolutionärer‹ Philosophie […], indem sie neue Landkarten des Terrains […] entwarfen, auf welchen die vormals dominanten Merkmale einfach nicht gekennzeichnet waren.« (SN 17) Im Anschluss daran liest sich der Spiegel der Natur nicht wie die Konstruktion eines Alternativsystems. Philosophie wird als eine Art »Kulturkrankheit des Westens« gesehen und Rorty sieht sich in der Rolle des »geistesgeschichtlichen Therapeuten«: Er möchte uns von den Scheinproblemen der Philosophie heilen. Durch neue Fragestellungen und Reformulierung von Problemstellungen wird versucht, traditionelle Probleme der Philosophiegeschichte aufzulösen. Dieses Vorgehen ist bewusst gewählt: Mit gekonnter Rhetorik baut Rorty ein »Blendwerk des scheinbar Leichtverständlichen« auf, um so den Blick auf seine dahinterliegende und gewichtigere Argumentation zu verschleiern. Auf diese Weise ist man geneigt zuzustimmen, ohne die Kernargumente überhaupt in Betracht zu ziehen. 68 Natürlich könnte man hinter einem solchen Vorgehen Böswilligkeit vermuten, aber das Gegenteil ist der Fall. Rorty ist es gar nicht so wichtig, den Anderen zu überzeugen. Sein Anliegen ist vielmehr therapeutisch: Er erarbeitet ein »hermeneutisches Verständnis dafür, wie man außerhalb und vor der analytischen Philosophie eigentlich auf diese seltsamen Fragen und bizarren Antworten gekommen ist und wie man sich durch Einsicht davon freimachen könnte«. 69 Ebenso wie ein Patient seine Vergangenheit nochmals »durchleben« muss, so muss es auch die Philosophie (vgl. SN 45). Hinter seiner leichtfertigen Sprache und dem saloppen Umgang mit philosophischen Kernthesen aus 2500 Jahren Philosophiegeschichte steckt also Methode: Dezidierte Kritik und gekonnte Rhetorik möchten den Leser nicht nur überzeugen, sondern, falls nötig, auch ›überführen‹. Und Rorty geht dabei äußerst präzise vor, denn an keiner Stelle verwechselt er Kritik und Therapie. Seine Kritik umfasst drei Themenbereiche: Das Leib-Seele-Problem, die Erkenntnistheorie und die Objektivität von moralischen Normen.
68 69
W. Reese-Schäfer, Richard Rorty, a. a. O., 20. Ebd., 21.
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Die fatalen Folgen der Verbindung von Mentalem und Fundamentalem »Nicht Sätze, sondern Bilder, nicht Aussagen, sondern Metaphern dominieren den größten Teil unserer philosophischen Überzeugungen. Das Bild, das die traditionelle Philosophie gefangen hält, ist das Bild vom Bewusstsein als einem großen Spiegel, der verschiedene Darstellungen enthält, – einige davon akkurat, andere nicht – und mittels reiner, nichtempirischer Methoden erforscht werden kann.« (SN 22) Rorty zeigt in seiner therapeutisch-hermeneutischen Rekonstruktion, wie es zu dieser Metapher gekommen ist. In zweiter Instanz wird versucht, das Leib-Seele-Problem mit Hilfe nominalistischer Argumente aufzulösen. Den größten »Fehler« der Philosophiegeschichte sieht Rorty in der Verbindung von Mentalem und Fundamentalem, welche die Trennung von Materie und Geist zur Folge hatte. Aus dieser Trennung entstanden drei grundsätzliche Problemfelder, welche a. das Bewusstsein (Welche Beziehung besteht zwischen intentionalen und neutralen Zuständen?), b. die Personalität (Sind wir mehr als Fleisch und Knochen?) und c. Die Vernunft (Was ist der Unterschied zwischen Mensch und Tier?) umfassen. Diese drei Bereiche werden jedoch in Folge von begrifflichen Unklarheiten miteinander vermengt. Auf die erste Frage antwortet Rorty mit einer detaillierten Analyse der Genese des Leib-Seele-Konstrukts. In seiner »Archäologie der Begriffe« zeigt er, dass das Leib-Seele-Problem der Antike ein gänzlich anderes war als das der Moderne. Für Platon 70 enthielt die Seele vorgeburtliche Ideen im Sinne von a priori Begriffen, welche die äußere Vielheit der Erscheinungen strukturierten. 71 Die Seele war demnach Trägerin der Vernunft, wohingegen das Körperliche die Wahrnehmungsvorgänge und alles Sinnliche beinhaltete. Das erklärte, warum das äußere Auge Bergketten sehen konnte und das innere Auge diese mit der Idee paralleler Linien identifizierte (vgl. SN60 ff.). 72 Und obgleich für Aristoteles die Seele zum Körper gehört, ähnlich Vgl. u. a. die nuancierten Veränderungen der Diskussion der Leib-Seele-Problematik in den Platon-Dialogen Symposion, Phaidon und Menon. 71 Ein Problem sieht Rorty im Sprachgebrauch Platons, welcher Adjektive auf eine Weise gebrauchte, als wären sie Substantive (vgl. SN 44). 72 Dies führte zu Fragen, wie sich die Parallelität einer Bergkette zur Parallelität als Idee verhalte und die Auseinandersetzung zwischen radikalem Begriffsrealismus und Nominalismus ausfällt (siehe die Ausführungen weiter oben). 70
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wie die Fähigkeit des Frosches, Fliegen zu fangen, ist für ihn der Intellekt dennoch etwas Besonders, weil er die Idee der ›Froschheit‹ als Universalie vom einzelnen Frosch abstrahieren kann. Deshalb konstatiert Rorty, dass nous etwas Immaterielles und dasjenige Merkmal war, das den Menschen vom Tier unterschied. Die Antike bediente sich dabei einer Reihe visueller Metaphern, die im Laufe der Philosophiegeschichte zu der bereits genannten Vorstellung des Bewusstseins als Spiegel führten. Rorty zeigt dadurch, dass sich im Griechischen nicht zwischen bewussten Zuständen bzw. Zuständen des Bewusstseins einerseits und Ereignissen eines inneren Lebens bzw. Ereignissen einer äußeren Welt andererseits unterscheiden lässt (vgl. SN 61). Ein grundsätzlicher Bedeutungswandel dieser Metapher sieht Rorty in den Meditationes bei Descartes, der durch seine Unterscheidung zwischen res extensa und res cogitans einzig das innere Auge als Intellekt begreift. Er fasst das Intentionale und das Phänomenale im Begriff des Mentalen zusammen, indem er zwischen ihnen durch den Begriff des »unkorrigierbar Erkannten« eine Brücke schlägt (vgl. SN 84). Dem Bewusstsein kommt damit eine privilegierte Zugangsweise zur Realität – im Sinne der Spiegelmetapher – zu (vgl. SN 84). Dabei gehörte das Empfinden zum Denken, d. h., es war nun ein Teil des bewussten Innenraumes. 73 Eine konsequente Fortsetzung dieser Unterscheidung findet sich, laut Rorty, bei Locke, der das Wort »Idee« nun für alles gebraucht, was Gegenstand des Verstandes ist, d. h., wenn ein Mensch denkt. Rorty schließt daraus, dass das cartesische Konstrukt des Bewusstseins (als vom Körper getrennte Instanz) völlig verschieden von der aristotelischen Intention ist, weil es Letzterem vornehmlich um die Unzerstörbarkeit der Vernunft ging (vgl. SN 66). Da mens nun nicht mehr zwingend Vernunft bedeutete, musste etwas anderes für den Begriff des Geistes stehen. Denn bei Descartes bleibt unklar, inwiefern Schmerzen, Träume o. Ä. mit Begriffen des Urteilens oder der Zahlenlehre zusammenhängen. Klar ist einzig der Unterschied zwischen der res extensa und der res cogitans, also die Getrenntheit von Körper und Bewusstsein. Diese Unterscheidung »hilft uns jedoch nicht bei den Grenzfällen (der sinnlichen Wahrnehmung von Einzelnem), die eben zufälligerweise den entscheidenden Punkt der ganzen Angelegenheit ausmachen. Gerade der Status der verworrenen Ideen der Sinne und der Einbil73
Vgl. R. Descartes, AT VII, 29, zit. nach SN 61.
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dungskraft ist es nämlich, was den Unterschied zwischen dem Mentalen-qua-Vernunft und dem Mentalen-qua-Bewusstsein ausmacht« (SN 67). Natürlich steht hinter Descartes’ Unterscheidung der Versuch, endgültig zwischen Schein und Realität unterscheiden zu können. Trotzdem bleibt Rorty im Recht darüber, dass die Frage nach dem Geist als Ort der Vernunft und dem Geist als Ort des Bewusstseins (oder innerem Schauplatz) je eine andere ist. Er bringt dies etwas überspitzt zum Ausdruck, wenn er schließt: »Für die Antike war der Geist ganz offenkundig einer selbständigen Existenz fähig, wenn er das Unveränderliche anschaute und selbst unveränderlich war. Die Moderne dagegen gesteht sie ihm vor allem dann zu, wenn er ein aufgeregtes Bündel von Empfindungen ist« (SN 82 f.). Die Ablösung des ontologischen Paradigmas durch die Bewusstseinsphilosophie führt jedoch zu einem weiteren Problem: Bei den Griechen unterschied sich der Mensch vom Tier, indem er einen Geistqua-Vernunft hatte. Im Gegensatz dazu unterscheidet sich das Bewusstsein der Neuzeit mit seinen Schmerzen, Wünschen und Begierden zunächst nicht wesentlich von dem der Tiere. Daher bleibt die Frage nach dem Ort der Vernunft bzw. nach der Person.74 Die daraus resultierende Vermengung der Begriffe Vernunft, Bewusstsein und Person sieht Rorty als den Grund für alle daraus folgenden »Scheinprobleme«. Und er begrenzt sich deshalb im Folgenden auf die Frage, in welcher Beziehung intentionale und neuronale Zustände stehen und wo demnach der Raum des Bewusstseins anzusiedeln sei. Diese Frage ist insofern relevant, weil Rorty das Mentale auf das Physische reduziert und damit seine These des »nonreductive Physicalism« 75 belegt: »[H]uman beings, like everything else in the universe, should be seen as physical objects in causal interaction with a physical environment, no different in type from other physical organisms.« 76 In einem Gedankenexperiment, das er als »Antipoden-Metapher« bezeichnet, schlägt er deshalb vor, dass wir Wesen auf einem anderen Für Rorty besteht der Begriff der Person in der Beschreibung der Situation des Menschen (SN 49). 75 Vgl. R. Rorty, Objectivity, Relativism and Truth, Philosophical Papers I, Cambridge 1991, 121 f. 76 C. Guignon und D. Hiley, Introduction, in: dies., a. a. O., 20. Innerhalb seiner Konzeption einer Kultur der Menschenrechte wird Rorty dafür plädieren, Menschen nicht als Wesen mit Sonderrechten zu sehen, sondern vielmehr als empathische und intelligente Tiere. 74
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Planeten treffen, welche anstatt über »Gefühlszustände« über »neuronale Zustände« sprechen. Rorty legt dar, dass sich unser Vokabular zwar unterscheidet, dies jedoch kein Grund für die Behauptung ist, die Antipoden hätten keine Empfindungen. Erst durch die Substantivierung emotionaler Zustände würde die Metapher eines imaginären Innenraums begünstigt. Er argumentiert weiter gegen Leibniz’ Metapher der Gedankenfabrik 77, dass uns einzig das notwendige Wissen fehle, um die neuronalen Vorgänge richtig zu deuten. Ansonsten würden wir tatsächlich »die Gedanken sehen« (vgl. SN 37). 78 Menschen sind demnach Wesen mit Intentionen, Glauben und Begierden und ähneln aus diesem Grund komplizierten Computern bzw. intelligenten Tieren. Und obgleich es für unsere soziale Praxis von Vorteil ist, dass wir uns als kontinuierlich veränderbares und komplexes Netz aus Überzeugungen und Begierden begreifen, so widerspricht diese Metapher nicht notwendigerweise der Vorstellung, wir seien physische Körper, welche in kausaler Beziehung zur physischen Außenwelt stehen (vgl. ORT 122). »Die Pragmatisten wollen unsere Kultur von diesem Selbstbild befreien und es durch ein Bild ersetzen, das Maschinen zeigt, die sich durch die Entwicklung neuartiger Verhaltensweisen fortwährend an das Verhalten der anderen Maschinen und an ihre Umwelt anpassen.« (WuF 74) Die Kombination aus »nonreductive Physicalism« und genauer Begriffsanalyse des Leib-Seele-Problems führt Rorty schließlich zu dem Vorschlag der kreativen und autonomen Persönlichkeitsbildung. Indem er versucht, die anthropologischen Restriktionen der Philosophiegeschichte abzustreifen, eröffnet er die Möglichkeit, den Prozess der Identitätsbildung ins Zentrum zukunftsorientierter, multikultureller Gesellschaften zu stellen. »Our identification with our community – our society, our political tradition, our intellectual heritage – is heightened when we see this community as ours rather than natures, Leibniz möchte die Vorstellung eines Innenraumes damit unterstützen, dass er zu bedenken gibt, wir würden bei einem imaginären Spaziergang durch das Gehirn keine Gedanken sehen. 78 Rorty folgert daraus jedoch nicht, dass der Mensch dadurch als Ganzes »begreifbar« würde, denn die Interpretation der Gedanken bleibt auch dem »Gedankenleser« verschlossen: »Man kann wissen, welche Gedanken durch jemandes Bewusstsein ziehen, ohne sie zu verstehen. Unsere unverbrüchliche Einzigartigkeit besteht in unserem poetischen Vermögen, einzigartige und dunkle Dinge zu sagen, nicht in unserem Vermögen, gewisse Trivialitäten nur zu uns selbst sagen zu können« (SN 141). 77
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shaped rather than found, one among many which men have made. [… W]hat matters is our loyalty to other human beings clinging together against the dark, not our hope of getting things right.« 79 Weil für Rorty – bereits in seinem frühen Werk SN – Personsein weder an die Existenz eines nicht-räumlichen Bewusstseins noch – etwa später in CP und WuF – durch anthropologische Vorbedingungen gebunden ist, kann der Identitätsprozess vom Inneren des Bewusstseins in den intersubjektiven Dialograum verlegt werden. Die daran anschließende Frage ist, ob dem Menschen kraft der Vernunft tatsächlich eine privilegierte Zugangsweise zur Wahrheit zukommt bzw. inwiefern die Sprache eine adäquate Spiegelung der Natur darstellt. In der Antike verlief die Grenze zwischen Geist und Körper entlang folgender Unterscheidung: der Vernunft zugehörig bzw. der Vernunft nicht zugehörig. Descartes zieht diese Grenze dagegen zwischen nicht-ausgedehnter und ausgedehnter Materie bzw. Bewusstsein und Nicht-Bewusstsein. Für die Erkenntnistheorie hat diese Grenzverschiebung weitreichende Konsequenzen, welche Rorty später dazu führen, eine relativistische Position in politischen Fragen einzunehmen. Descartes leitet nämlich aus seiner Unterscheidung zwischen res cogitans und res extensa ab, dass es Wissen von einer äußeren Welt nur in Form von mentalen Repräsentationen geben kann, welche diese Welt in akkurater Weise spiegeln. Seine subjektive Wende führt ihn jedoch in die prekäre Lage, dass er auf Grundlage innerer Ideen zu fundamentalen Fakten über die Welt gelangen möchte. Aus diesem Grund versucht Locke diese Repräsentationen in Relation zur akkuraten Sinnestätigkeit zu setzen. 80 Da aber die Wahrnehmung nicht direkt, sondern nur indirekt auf den Geist einwirkt, haben wir kein direktes, sondern nur ein indirektes Wissen von der Welt. Der veil of perception steht also zwischen der Welt und dem Geist. Und aus diesem Grund fragt Locke nicht normativ, was wir mit Recht behaupten, sondern empirisch, was wir herausfinden können: 81 Was können wir erkennen und wie können wir es besser erkennen? R. Rorty, Consequences of Pragmatism, Minneapolis 1982, 166. Vgl. Lockes Argumentation der tabula rasa und dass des Menschen Kenntnis nicht über die Erfahrung hinausgehen könne, in: J. Locke, An Essay Concerning Human Understanding, hg. v. Roger Woolhouse, London 1997, 306 ff. 81 Dieses Menschenbild führte bei Locke zur der grundlegenden Unterscheidung zwi79 80
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Kant wendete gegen dieses Vorgehen ein, dass solche Anschauungen ohne Begriffe blind seien. Er löste dieses Problem, indem er den äußeren Raum in den inneren Raum verlegte. Ziel war es, dadurch für den inneren Raum die gleiche Gewissheit zu erlangen, welche vormals einzig der äußere Raum beanspruchte. Rorty deutet dieses Vorgehen folgendermaßen: »Er vereinbarte auf diese Weise die Cartesische These, wir könnten Gewissheit nur über unsere Ideen haben, mit der Tatsache, dass wir bereits über etwas Gewissheit – Erkenntnis a priori – hatten, was sich nicht allein aus unseren Ideen zusammenzusetzen schien« (SN 156). Daraus folgte, dass wir von Objekten nur dann Erkenntnis haben können, insofern wir sie selbst konstitutieren. Umgekehrt ist es nicht möglich, alles auf solche Begriffe zu reduzieren, denn Begriffe ohne Anschauungen bleiben »leer«. Die Erfahrung eines Objekts braucht also beides: Begriff und Anschauung. Dadurch transformierte Kant das empirisch angelegte Unternehmen Lockes in ein nichtempirisches, welches sich bequem ›vom Lehnstuhl aus‹ vollziehen ließ. In eins damit verlieh Kant somit der Philosophie den Titel der »Königinwissenschaft des Wissens«. Für Rorty ist diese Transformation der Philosophie entscheidend und er sagt: »Philosophy is no longer, as in ancient times, the culmination of human knowing. Rather, it is the foundation of human knowing, providing the ultimate justification of all epistemic claims and adjudicating conflicts between rival bodies of alleged knowledge.« 82 Frege transformiert die Philosophie schließlich ein weiteres Mal: Anstatt nur die Ursprünge von z. B. mathematischen Ideen zu untersuchen, fragt Frege nach deren Gültigkeit. Durch diese Konzentration auf Sprache und Logik sollte die Philosophie als normative Disziplin gerettet werden. Das Bestreben bleibt natürlich das Gleiche: die Grenze zwischen Realität bzw. Wahrheit und Erfindung zu definieren. 83 Vor dieser geistesgeschichtlichen Interpretation stellt Rorty drei Kernthesen der modernen Philosophie in Frage: 1. Wahrheit als akkurate Repräsentation der Welt im Geiste, 2. Rechtfertigung als normatives Fundament einer solchen privilegierten Beziehung zwischen Welt schen der Wissenschaft vom Menschen (moral philosophy) und der Naturwissenschaft (natural philosophy). 82 G. Gutting, Rorty’s Critique of Epistemology, in: Guignon u. Hiley (Hg.), a. a. O., 43. 83 Vgl. hierzu die Ausführungen zur analytischen Philosophie und dem Linguistic Turn in 2.2.1 a.
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und Geist und 3. die Philosophie als Königsdisziplin, die entscheidet, welche Rechtfertigungen wahre Geltungsansprüche sind. Gegen 1. wendet er ein, dass es keine nontriviale Wahrheitstheorie gibt, gegen 2., dass Rechtfertigung einzig intersubjektiver Konsens sein kann, weil es keine transzendentalen Kriterien für »wahre und falsche« Rechtfertigungen gibt, und daher gegen 3., dass Philosophie keinen privilegierten Zugang zur Wahrheit hat. Dieser Skeptizismus hat Rorty häufig den Vorwurf eingebracht, er würde sich gegen jegliche Art von Wissen aussprechen und damit sein eigenes Vorgehen ad absurdum führen. Eine eingehendere Analyse wird jedoch zeigen, dass ihn diese Kritik mitten ins Herz der »Philosophie als Kulturpolitik« hineinführt. 84 Epistemische Apriori unter Beschuss »No area of culture, and no period of history gets reality more right than any other.« 85
Rorty macht im späteren Verlauf (TP) seiner Erkenntniskritik deutlich, dass diese sich nicht auf die Geisteswissenschaften beschränkt, sondern die Naturwissenschaften in gleichem Maße betrifft. »Einer der Vorteile der Befreiung vom Begriff des inneren Wesens der Realität liegt darin, dass man sich von der Vorstellung löst, die Quarks besäßen einen anderen ontologischen Rang als die Menschenrechte.« (WuF 17) 86 Oder anders gesagt: Der Glauben, die Naturwissenschaften hätte einen höheren epistemischen Stellenwert hält Rorty lediglich für eine weitere Variante der Behauptung, die Priester stünden in engerem Kontakt mit Gott als der Rest der Gesellschaft. 87 Vgl. das spätere Werk Philosophy as Cultural Politics, a. a. O. R. Rorty, in R. Brandom (Hg.), Rorty and his Critics, a. a. O., 375. 86 Natürlich ruft das die Frage nach dem Verhältnis von Inhalt und Schema nochmals auf den Plan (content and scheme), d. h. die Welt einerseits als vollkommen unabhängig von unserem System der Kategorien und andererseits die Kategorien als einzige Fundamente des Wissens. Ein weiterer Einwand kommt von Taylor, der sagt: Wir können unterscheiden, ob sich die Realität geändert hat oder nur unsere Beschreibung, wenn z. B. an einem Tag 12 Stühle in einem Raum sind, am nächsten Morgen nur 10; in einem solchen Fall hat sich nicht unsere Beschreibung, sondern die Realität geändert. Hierfür benötigen wir jedoch zunächst eine unproblematische Beschreibung der Realität als solche (vgl. G. Gutting, Rorty’s Critique of Epistemology, in: Guignon u. Hiley (Hg.), a. a. O., 56 f.). 87 Rorty ist mit dieser Kritik des Szientismus streng genommen nicht weit von Haber84 85
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Korrespondenztheoretiker hingegen – wie z. B. Taylor – sind der Ansicht, dass einige Vokabulare nicht nur besser funktionieren als andere, sondern deshalb besser funktionieren, weil sie die Wirklichkeit angemessener repräsentieren. Da Rorty dem zweiten Teil solcher Aussagen wenig Glauben schenken kann, wird ihm häufig vorgeworfen, er bestreite, dass es ein eigentliches So-Sein der Welt überhaupt gäbe; z. B. es habe weder Atome noch Dinosaurier gegeben, bevor man diese erfunden habe (vgl. WuF 83). Natürlich kann Rortys Aussage auf diese Weise interpretiert werden. 88 Gemeint ist jedoch, dass die »Gelenke« der Welt von uns willkürlich eingesetzt werden und dadurch Dinge von anderen unterscheiden; z. B. das Blatt vom Zweig, den Zweig vom Baum, den Baum von der Giraffe, die daran isst usw. »We shall not see reality plain, unmasked, naked to our gaze«. 89 Was Rorty daher grundlegend an Kant und der analytische Philosophie kritisiert, ist deren Unterscheidung zwischen Schema und Inhalt. Das heißt, es wird untersucht, welche Elemente a priori Elemente unseres Systems und welche empirisch vorfindbar sind, also »true-by-virtue-of-fact« oder »true-by-virtue-of-meaning«. 90 Rorty hingegen hält diese Unterscheidung zwischen »harten« (Wissenschaft) und »weichen« (Ethik) Tatsachen für einen unnötigen Dualismus und eine Folge der Spiegelmetapher. Zu sagen, dass Werte subjektiver sind als Fakten, heißt einzig, dass es schwerer ist, einen Konsens zu finden, ob etwas schön oder hässlich ist, als darüber, ob der Tisch vier Ecken hat (vgl. PSH 51). Auch die Naturwissenschaften sind einem steten Wechsel von Vokabularen und Neubeschreibungen unterworfen. Dieses Phänomen ist von Thomas Kuhn als »Paradigmenwechsel« beschrieben worden. Ein Paradigma ist eine standardisierte und weitläufig akzeptierte Formulierung: Also das, was real ist, welche Fragen sinnvoll sind sowie der Hintergrund geteilter Praktiken. Für Kuhn ist ein Diskurs normal, wenn sich eine große Zahl von Forschern des Gebiets in Übereinstimmung mas entfernt, der ebenfalls das naturwissenschaftliche Weltbild als nur eines unter vielen sieht (vgl. das neuere Werk von Habermas, Zwischen Naturalismus und Religion, a. a. O., 155 f.). 88 Die Empfehlung Davidsons, aufgrund dieses lauernden Missverständnisses folglich gar nichts mehr über das Verhältnis zwischen Sprache und Welt zu sagen, kann natürlich nur schwerlich befriedigen. 89 R. Rorty, Consequences of Pragmatism, a. a. O., 154. 90 Vgl. M. Williams, Rorty on Knowledge and Truth, in: Guignon u. Hiley (Hg.), a. a. O., 66.
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über diese Matrix befinden. Wissenschaft wird revolutionär, wenn Forscher nicht mehr mit dieser Matrix übereinstimmen und chaotisch nach anderen Vokabularen Ausschau halten. 91 Normale Diskurse sind wie »tote Metaphern«, die niemand mehr als Metapher bemerkt, weil wir uns so an diese Art zu Sprechen gewöhnt haben. 92 Wenn aber solche Beschreibungen nicht mehr funktionieren, dann werden sie durch andere, neue Sprechweisen ersetzt. Weil sich diese Entwicklungen nicht fließend vollziehen, kann nicht von einer kontinuierlichen »Weiterentwicklung« (beispielsweise zwischen Newton und Einstein) gesprochen werden. Vielmehr geht es um die Reinterpretation von Schlüsselbegriffen. »This, in turn, leads to the idea that all we have access to shifting, incommensurable conceptual schemes, with no way to determine which, if any, is correct.« 93 Wenn aber Wahrheit keinesfalls eine eins zu eins Repräsentation der äußeren Welt sein kann, kann dann überhaupt noch von Wahrheit gesprochen werden? An dieser Stelle ist Rorty wieder ganz klar Sprachphilosoph, wenn auch aus sehr pragmatischen Gründen: »Da Wahrheit eine Eigenschaft von Sätzen ist, da die Existenz von Sätzen abhängig von Vokabularen ist und da Vokabulare von Menschen gemacht werden, gilt dasselbe für Wahrheiten« (KIS 49). Da also Vokabulare immer geschaffen und nicht gefunden werden, gilt das Gleiche für die Wahrheit. Das vermittelnde Tertium quid zwischen »Selbst« und »Welt« ist damit nicht mehr der Geist oder das Bewusstsein, sondern die Sprache (vgl. KIS 33). Und hier liegen auch die Grenzen und Möglichkeiten von sogenannten »wahren Aussagen«. Aus diesen Gründen gibt Rorty folgende Fragen zurück an die Korrespondenztheoretiker: »(1) Könnt ihr ein Verfahren ausfindig machen, mit dessen Hilfe es gelingt, zwischen die Sprache und ihren Gegenstand zu treten […], um auf diese Weise angeben zu können, welche Gelenke der Natur (oder zum Inhalt) und welche lediglich ›uns‹ (oder zum Schema) gehören? (2) Wenn das nicht geht, könnt ihr dann
Vgl. Th. Kuhn, The Structure of Scientific Revolutions, Chicago 1970, 26. Ich werde diese Unterscheidung später weiter ausführen. An dieser Stelle dient sie nur zur Verdeutlichung. 92 Im Sinne Nietzsches »bewegliches Heer von Metaphern« gilt auch für Rorty, dass sich Weltbilder bzw. Paradigmen verändern, wenn sie nicht mehr »passen«. Neue Metaphern bilden sich jedoch immer auf der Grundlage von alten. 93 Vgl. Guignon u. Hiley, Introduction, in: dies., a. a. O., 17. 91
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Mitgefühl als transkulturelle Solidarität
irgendeinen Sinn in der These sehen, dass einige Beschreibungen besser mit der Realität übereinstimmen als andere« (WuF 134). Aus dieser pragmatischen Überlegung heraus, dass es keine Möglichkeit gibt, absolute Aussagen zu machen bzw. absolute »rationale« Kriterien anzugeben, leitet Rorty seinen Begriff der Rechtfertigung als soziale Praxis ab. 94 Denn Wissen wird als Relation zwischen Propositionen gesehen, d. i. Rechtfertigung als eine Relation zwischen den in Frage stehenden Propositionen und anderen Propositionen, aus denen die ersten gefolgert werden können (vgl. SN 178). »Damit wird Rechtfertigung zum sozialen Phänomen und ist nicht die Wechselwirkung zwischen erkennendem Subjekt und Wirklichkeit« (SN 19). Und deshalb ist Sprache nicht mehr als ein Werkzeug, aber keinesfalls Spiegel der Wirklichkeit (vgl. ebd.). Von der Wahrheit zur Rechtfertigung »Wollen wir verstehen, was Descartes zu verstehen suchte – die Überlegenheit der neuen Wissenschaft gegenüber Aristoteles, die Beziehung der Wissenschaft zu Mathematik, Common Sense, Theologie und Moralität –, so haben wir uns nach außen zu wenden statt nach innen, zum sozialen Rechtfertigungskontext, nicht zu den Relationen zwischen inneren Darstellungen.« (SN 233)
Als »epistemological behaviourist« wird für Rorty die Idee eines »commonsense models« der Vernunft nun gänzlich überflüssig, weil selbst in komplexeren Problemlagen allein »gute Gründe« mit entsprechender Unterstützung von anderen 95 zum Erfolg oder Durchsetzung eines Glaubens führen. Denn selbst solche Normen, welche auf »guten Gründen« basieren, sind letzten Endes nichts anderes als das Resultat allgemeiner Zustimmung. 96 Dies führt Rorty zu der Schlussfolgerung, Wissen und Bedeutung seien holistisch, kohärent und pragmatisch: Sie sind holistisch, weil es keine absolute Beobachterperspektive gibt, sondern lediglich ein konstantes intersubjektives Weben von BeDamit bezieht sich Rorty auf Sellars, der sagt: »Science […] is a self-correcting enterprise which can put one claim in jeopardy but not all at once« (W. Sellars, Science, Perception and Reality, Atascadero, CA, 1991, 170, auch zit. in: R. Rorty, Philosophy as Cultural Politics, a. a. O., 192). 95 Vgl. die Idee der Solidarität, welche die Objektivität ersetzen soll (SO 11 ff.). 96 Im Grunde stimmt hier Rorty mit Habermas’ Diskursethik überein und hält m. E. auch dessen Geltungsansprüche für nützlich. Einzig deren schwach transzendentaler Anspruch wird in Zweifel gezogen. 94
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deutungsmustern, welches dem Licht der Beobachtung, unterschiedlicher Interessen und Kriterien unterliegt. »This holistic outlook puts an end to the projects of epistemological or metaphysical demarcation that philosophers want to keep alive, because it erases all the methodological distinctions – between the a priori and the a posteriori, the necessary and the contingent, fact and value, the sciences and the humanities, and so on – that such projects depend on. At this point, analytic philosophy transcends and cancels itself (at the same time).« 97 Das positivistisch geprägte Kulturverständnis sieht die Entstehung von Sprache entlang der Konturen der physikalischen Welt. Für Rorty dagegen ist Wissen eine Art Relation zwischen Propositionen und Rechtfertigung, eine Verbindung zwischen möglichen Propositionen und anderen Propositionen, aus denen die ersten abgeleitet werden können (vgl. SN 178). Rechtfertigung ist deshalb nicht die Relation zwischen Wörtern und Gegenständen, sondern eine soziale Redepraxis oder auch einfach das Gespräch zwischen zwei Menschen. Damit tritt an die Stelle der Konfrontation zwischen Welt und Person (Objekt und Subjekt) die Kommunikation zwischen Menschen: »Wir können das Erkennen als die soziale Rechtfertigung von Meinungen verstehen, wir brauchen es daher nicht als die Genauigkeit von Darstellungen aufzufassen. Setzen wir Kommunikation, das Gespräch zwischen Personen, für Konfrontation, das Gegenüberstellen von Personen- und Sachverhalten, so können wir uns des Spiegels der Natur entledigen« (SN 191). Aus dem Gesagten folgt, dass Wahrheit nicht als absoluter Begriff gesehen werden kann, der die Übereinstimmung zwischen Sprache und Wirklichkeit meint. Denn selbst unter der Voraussetzung, dass Rechtfertigung das Kriterium der Wahrheit ist, wären auch die Kriterien der Rechtfertigung relativ. 98 Wenn aber Rechtfertigung bloß ein Bereitstellen von Gründen ist, dann scheint es, als würde der Unterschied zwischen objektivem Wissen und subjektiver Meinung eingeebnet. Oder wie Gutting es formuliert: »mob psychology has (then) become the only standard of knowledge.« 99 An dieser Stelle unterscheidet Rorty zwischen drei Definitionen von Objektivität und Subjektivität. 1. Wissen versus Geschmack; z. B. M. Williams, Rorty on Knowledge and Truth, in: Guignon u. Hiley (Hg.), a. a. O., 66. Mit Verweis auf Davidson bringt Rorty dagegen hervor, dass es keine Definition des Wahrheitsbegriffs gibt, welche in alle Sprachen übersetzt werden könne (WuF 10). 99 G. Gutting, Rorty’s Critique of Epistemology, in: Guignon u. Hiley (Hg.), a. a. O., 48. 97 98
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die subjektive Frage, ob Barolo ein guter Wein ist, im Gegensatz zur Frage, ob Barolo häufig in Italien angebaut wird?, 2. intersubjektive Übereinstimmung innerhalb einer Sprachgemeinschaft versus vereinzelte Meinung und 3. die Unterscheidung zwischen den Dingen, wie sie erscheinen, von der Frage, wie die Dinge tatsächlich sind. Hier lässt sich weiterhin unterscheiden zwischen der naiven Variante a. »auf den ersten Blick erscheinen« oder b. »wie sie erscheinen nach eingehender Untersuchung«.100 Daher ist auch bei Rorty Konsens eng an die Begründungspraxis gebunden, und zwar im Ursprung sowie im Effekt. Und etwas später bekennt Rorty selbst zu diesem Thema in WuF: »Die Gleichsetzung der idealisierten rationalen Akzeptierbarkeit mit Akzeptierbarkeit für uns in Bestform ist genau das, was mir vorschwebte, als ich sagte, die Pragmatisten sollten keinen Relativismus, sondern einen Ethnozentrismus vertreten« (WuF 76). Dahinter steht keine Beliebigkeit, sondern das aufrechte Bemühen um Kohärenz. 101 »Epistemological behaviorism is not a view about the content of the norms involved in our practice of justification, but only about the ultimate basis of these norms. Its claim is that, in the final analysis, there is nothing underlying these norms other than the practice that they define. This is not a contradiction of our practice, but merely a rejection of an indefensible philosophical interpretation of that practice.« 102 Rorty be-
100 Vgl. zu dieser Unterscheidung G. Gutting, Rorty’s Critique of Epistemology, in: Guignon u. Hiley (Hg.), a. a. O., 49 f. Natürlich lässt sich auch im dritten Fall einwenden, dass Gesellschaften die Entscheidungen anderer verdammen (vgl. den Fall Sokrates). Oder es lässt sich der Fall konstruieren, dass jemand die geltenden Kriterien einer Gesellschaft »richtig« anwendet, jedoch andere diese Anwendung nicht als richtig anerkennen; z. B. dass der eigentliche Milleniumwechsel erst 2001 stattgefunden hat, weil es ein Jahr 0 gab (vgl. Gutting, ebd.). 101 Ein Einwand, den Gutting an dieser Stelle hervorbringt und den ich nicht übergehen möchte, ist, dass z. B. Astrophysiker, welche an schwarze Löcher glauben, dies nicht einfach tun, weil sie als scientific community übereinstimmen, sondern weil dieser Glaube auf einem komplizierten Gewebe von Argumentationen und Beweisen basiert. Im Unterschied dazu mag ein Laie an schwarze Löcher glauben, weil er sich auf den Konsens zwischen Astrophysikern als Autorität verlässt (vgl. G. Gutting, Rorty’s Critique of Epistemology, in: Guignon u. Hiley (Hg.), a. a. O., 51). Umgekehrt lässt sich jedoch argumentieren, dass dieses Beispiel Rortys Absicht, Rechtfertigung als soziale Praxis zu sehen, nur bestätigt, d. h. konkret, dass jeder an diesem Gespräch auf der Ebene teilnimmt, wie er es eben vermag. 102 Vgl. G. Gutting, Rorty’s Critique of Epistemology, in: Guignon u. Hiley (Hg.), a. a. O., 50 f.
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streitet also nicht, dass es da draußen »etwas« gibt, sondern lediglich, dass Behauptungen auf eine soziale Praxis zurückgehen. Und das äußerste, das wir über diese Behauptungen sagen können, ist, dass sie in unseren Augen gerechtfertigt sind. 103 Solche Rechtfertigungsprozesse laufen für Rorty immer auf einer sprachlichen Ebene ab. Und weil wir nur als Teil einer Kommunikationsgemeinschaft Sprache erlernen, übernehmen wir die Kriterien für Rechtfertigungsprozesse implizit mit. »Die Besonderheit der Sprache liegt nicht darin, dass sie die Qualität unserer Erfahrung verändert oder dem Bewusstsein neue Perspektiven eröffnet oder ein bislang unbewusstes Mannigfaltiges synthetisiert oder irgendeine andere innere Veränderung hervorruft. Ihr Erwerb verschafft uns vielmehr Eintritt in eine Gemeinschaft, deren Mitglieder ihre Behauptungen und andere Handlungen einander gegenüber rechtfertigen.« (SN 206) Obgleich die Sprache keine epistemische Relevanz besitzt, formt sie dennoch das soziale Gewebe menschlicher Beziehungen und Bedeutungen. Damit bringt Rorty im letzten Kapitel des »Spiegels der Natur« seinen moralischen und epistemologischen Zweifel auf einen Nenner. Insbesondere fürchtet er, die traditionelle Philosophie würde – gegeben, sie hätte mit ihrer Suche nach einer absoluten Wahrheit Erfolg – die kulturellen Bewegungen und Veränderungen einfrieren. Dieses Einfrieren käme einer Entmenschlichung des Menschen gleich. Rorty zieht deshalb mit Lessing das unendliche Streben nach Wahrheit der ganzen Wahrheit vor (SN 408 f.). Hierdurch geht er von einer argumentativen Abwendung des Wahrheitsbegriffs auf eine pragmatisch-gesellschaftliche Argumentation über. Das Ziel ist es, eine Vermenschlichung durch erweiterte Toleranz und ein Bedürfnis nach Frieden direkt zu unterstützen, anstatt solche Eigenschaften als »Nebenprodukt« der wahren Natur des Menschen zu erhoffen. Dieser argumentative Wechsel führt ihn schließlich zu der Aussage: »Our identification with our community – our society, our political tradition, our intellectual heritage – is heightened when we see this community as ours rather than natures, shaped rather that found, one among many which men have made […]
103 Wenn auch Rorty selbst oft den Eindruck vermittelt, als wäre die Rechtfertigung von grundlegenden Überzeugungen unserer Weltsicht etwas, worüber die Mehrheit beim nächsten Bürgerentscheid abstimmt.
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[W]hat matters is our loyalty to other human beings clinging together against the dark, not our hope of getting things right.« 104 Aufgrund dieses Übergangs von der Erkenntniskritik zur Selbsterschaffungspraxis bleibt die Sprache auch im Folgenden Zentrum und Medium seiner Überlegungen. Sie tritt nicht nur zwischen Selbst und Welt, sondern vielmehr konstituiert sie die Welt für das Subjekt. Zusammen mit der sozial konstituierten Rechtfertigungspraxis führt sie ihn ins Herz der ›bildenden Philosophie‹ als originärer Beitrag zu Kultur und Politik. Insbesondere im Spätwerk Rortys tritt die Lösung philosophischer Probleme immer mehr in den Hintergrund und wird durch den pragmatischen Versuch ersetzt, die Welt immer »besser« zu beschreiben (vgl. PCP 133). c.
Therapie: Bildung statt Begründung
Die Diagnose Rortys ist eindeutig: Die Philosophie leidet an Überheblichkeit. Und eine Therapie gelingt nur durch das Fragen völlig neuer Fragen, nicht durch neue Antworten auf alte Probleme. Mit einer solchen Interpretation der Philosophie versucht er sie über ihr eigenes Ende hinüberzuretten: »Vielleicht wird es zur Klärung der Dinge beitragen, wenn ich der Hoffnung Ausdruck verleihe, man möge nie aufhören, Autoren wie z. B. Platon, Aristoteles, Kant und Hegel zu lesen, aber zugleich hoffe, man werde früher oder später aufhören, Studienanfänger zur Begeisterung für das Problem der Außenwelt und das Problem des Fremdseelischen zu verleiten« (WuR 68). Natürlich ergibt sich hier ein gewisses Paradox: Einerseits streitet er ab, die Philosophie könne irgendeinen Wahrheitsanspruch oder universale Kriterien für Vernunft geltend machen, andererseits solle man sie nicht aufgeben. Auf welche Weise kann Philosophie unter diesen Vorbedingungen überhaupt noch von Nutzen sein? Rortys Antwort auf diese Frage verläuft über mehrere Stufen: Von der Hermeneutik als bildende Philosophie (SN) über verschiedene Neuentwicklungen der Sprachphilosophie zu seiner eigenen Variation des Neopragmatismus 105, über die Trennung von privatem und öffentlichem Raum (KIS) zur schließlichen Umdeutung der Philosophie als Kulturpolitik (PCP). 104 R. Rorty, Consequences of Pragmatism, a. a. O., 166, auch zit. in: Guignon u. Hiley (Hg.), Introduction, in: dies., a. a. O., 24. 105 R. Rorty, Consequences of Pragmatism, a. a. O.
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Diesen Verlauf werde ich im Folgenden nachzeichnen. 106 Ziel ist es, Rortys Anliegen einer hermeneutisch verstandenen, bildenden Philosophie als Zielperspektive interkultureller Verstehens- und Übersetzungsprozesse, gerade im Fokus einer Kultivierung umfassenden Mitgefühls, geltend zu machen. Objektivität als intersubjektive Übereinstimmung: der Dialog als philosophische Methode Rortys radikale Erkenntniskritik spricht Naturwissenschaften und analytischer Philosophie in eins ihre erkenntnistheoretische Vormachtstellung ab. Die kulturelle Leerstelle, welche hieraus entsteht, soll bleiben. »Das Absterben der fundamentalistischen Erkenntnistheorie scheint jedoch manchem ein Vakuum zu hinterlassen, das ausgefüllt werden muss. […] Im vorliegenden Kapitel möchte ich über Hermeneutik sprechen. Hierbei muss von Anfang an klar sein, dass ich die Hermeneutik nicht als eine ›Nachfolgedisziplin‹ der Erkenntnistheorie verstehe, nicht als ein Unternehmen, das die kulturelle Lücke ausfüllt, die vormals die erkenntnistheoretisch orientierte Philosophie eingenommen hatte. […] Hermeneutik ist der Ausdruck der Hoffnung, die kulturelle Leerstelle werde nach dem Abgang der Erkenntnistheorie gerade nicht neu besetzt – unsere Kulturen werden zu einer Kultur, in der das Bedürfnis nach Einschränkung und Konfrontation nicht mehr verspürt wird.« (SN 343) Reese-Schäfer beschreibt diesen Versuch Rortys mit den erfrischenden Worten: »Mach dich frei von der Erkenntnistheorie, ersetze sie durch nichts und glaube fest daran, dass an die Stelle dieses Nichts Nichts gehört.« 107 Zentral sind hier die Begriffe der Einschränkung und der Konfrontation. 108 Als Einschränkung begreift Rorty den Versuch, sich auf die Grenzen rationaler Behauptbarkeit zu einigen. Hiergegen argumentiert Rorty, dass Diskurse immer inkommensurabel bleiben, d. h., die Philosophie kann keinen universalen Begriffsrahmen für alle Diskurse analysieren, um daraus eine gemeinsame Grundlage zu destillieren (vgl. SN 344 f.). Dagegen wurde der Einwand vorgebracht, dies 106 Die Trennung zwischen privatem und öffentlichem Raum werde ich im nächsten Kapitel genauer darstellen. 107 W. Reese-Schäfer, Richard Rorty, a. a. O., 67. 108 Ebd., 57.
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führe in eine Regression zurück in den absoluten Kriegszustand aller gegen alle, bzw. Menschen würden unter diesen Umständen zu Gewalt anstatt zu Überredung greifen. »Holistische Theorien scheinen es jedermann zu gestatten, sein eigenes kleines Ganzes zu konstruieren – sein eigenes kleines Paradigma, sein eigenes Stückchen Praxis, sein eigenes Sprachspielchen – und sich dann hineinzukuscheln.« (SN 345) Mit Ayer versteht man im amerikanischen Sprachraum unter Vernünftigkeit »ein als zuverlässig anerkanntes Verfahren anwenden.« 109 Rorty kritisiert jedoch, dass die Beurteilung eines Verfahrens als zuverlässig ebenfalls auf einen sozialen Rechtfertigungsprozess zurückgeht: »Der Gebrauch solcher Ehrentitel wie objektiv und kognitiv ist nie mehr als der Ausdruck der Übereinstimmung von Forschern untereinander (oder der Hoffnung auf solche Übereinstimmung)« (SN 365). Natürlich kommt hierbei erneut der Einwand zum Zug, es gebe dennoch einen Unterschied zwischen Werten und Tatsachen, subjektiven Vorlieben und objektiv Überprüfbarem. Rorty versucht jedoch zu zeigen, dass die Unterscheidung zwischen solchen »hard facts« und »soft facts« nicht standhält und selbst nach eingehender Überprüfung auch in den Wissenschaften immer wieder zu Paradigmenwechseln 110 geführt hat. 111 Durch diese Grenzverwischung zwischen Wissenschaft auf der einen und Kunst, Politik, Religion auf der anderen Seite gelingt es Rorty schließlich, die Vorgehensweise der Hermeneutik auf sämtliche »nichtnormale Diskurse« zu übertragen. Dadurch sollen folgende Unterscheidungen kontaminiert werden: a. zwischen dem, was angepasst und unangepasst ist, b. zwischen spezifisch menschlichen und andersartigen Merkmalen, c. zwischen dem Vermögen der Spontaneität und der Rezeptivität (vgl. SN 383). Das Ziel einer so verstandenen Hermeneutik 112 ist kein abgeschlossenes Vokabular, sondern die Offenheit für Erweiterung und VerA. J. Ayer, Sprache, Wahrheit und Logik, Stuttgart 1970, 131. Vgl. die Ausführungen zu Kuhn 2.2.1b. 111 Ich werde die Unterscheidung von objektiv und subjektiv an dieser Stelle nicht wiederholen, sondern verweise lediglich auf meine Ausführungen in 2.3.1b. 112 Selbstverständlich kann an dieser Stelle nicht auf sämtliche »kreativen« Neudeutungen eingegangen werden, welche in Rortys hermeneutischem Verständnis enthalten sind. Rortys Neigung zum kreativen Missverständnis ist jedoch als Teil seiner Methode anzusehen. Vgl. zu Rortys Interpretation der Hermeneutik bei Steven Taubeneck, ›The Limit of the Other: Gadamer, Derrida, Rorty‹, Vortrag gehalten auf der Konferenz Understanding the Stranger, 16.–17. Juli 2010, Universität Regensburg. 109 110
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änderung des eigenen Sprachspiels. Anstatt der Suche nach gemeinsamen Grundvoraussetzungen liegt ihr die Hoffnung auf Übereinstimmungen oder auch interessante Nicht-Übereinstimmungen zugrunde. Auf die Frage, wann welche Art des Diskurses angebracht ist, erklärt Rorty, dass wir uns immer dann erkenntnistheoretisch verhalten sollten, wenn wir bereits über anerkannte und übereinstimmende Forschungspraktiken verfügen. Hermeneutisch sollte man hingegen dann vorgehen, »wo man nicht versteht, was vorgeht, und ehrlich genug ist, dies zuzugeben statt einen unverschämten Whiggismus zu vertreten« (SN 349). Das heißt, dort wo es unproblematisch ist, allgemeine Diskurspraktiken zu definieren, kann man dies tun. In solchen Situationen ist es jedoch banal, weil diese Praktiken dann ohnehin unproblematisch sind. Dort wo sie hingegen problematisch werden, sollte man es nicht versuchen, um sich gegenüber neuen und kreativen Beschreibungen offen zu halten. Hermeneutik ist also das, was wir erreichen, wenn wir nicht länger erkenntnistheoretisch eingestellt sind (vgl. SN 354). 113 Rorty plädiert deshalb gerade in solchen Situationen für mehr Kreativität und Offenheit, in welchen andere auf ein Mehr an rationalen Kriterien pochen. Seine Parteinahme für Offenheit anstatt Beschränkung führt Rorty von einem klassisch konstruktiven Philosophiebegriff zum Begriff der »edifying« (d. h. bildenden) Philosophie: »[M]eine naturalistische These im vorangegangenen Abschnitt – dass die Irreduzibilität der Geisteswissenschaften nicht auf einen metaphysischen Dualismus schließen lässt – mit unserer existentialistischen Intuition vereinbar zu machen, dass wir keine wichtigere Aufgabe haben, als uns immer wieder auf neue Weisen zu beschreiben. Hierfür ersetzt er (Gadamer) den Erkenntnisbegriff durch den Begriff der Bildung (Selbstformung) als der Bestimmung unseres Denkens« (SN 389). Rorty knüpft hier an Gadamers Idee eines »wirkungsgeschichtlichen Bewusstseins« 114 an, d. i. ein Bewusstsein, welches mit der Vergangenheit immer wieder neue Dialoge zu führen versteht und dadurch zum Identifikationsprozess eines Menschen oder einer Kultur 113 Rorty geht es daher auch nicht um eine Konkurrenz zwischen Hermeneutik und anderen Wissenschaften. Vielmehr gilt die Hermeneutik der Untersuchung nicht-normaler Diskurse. Für normale Diskurse gelten andere Kriterien (SN 376). 114 Vgl. H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode, a. a. O.
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beiträgt. Rorty entwickelt diesen Gedanken jedoch frei weiter, indem er schließt, dass es weitaus wichtiger sei, unterschiedliche Möglichkeiten zu finden, um etwas zu beschreiben, anstatt sich um die Aneignung einer einzigen Wahrheit zu bemühen. »Denn der bildende Diskurs soll nichtnormal sein, uns durch die Kraft seiner Fremdartigkeit aus unserem alten Selbst herausführen, dazu beitragen, dass wir andere Wesen werden.« (SN 390) Der Wunsch nach einer solchen bildenden Erweiterung soll nun den Wunsch nach Wahrheit ablösen. Denn Selbstbeschreibungen kennen wir sowohl aus der Naturwissenschaft als auch aus der Poesie, Literatur, Tiefenpsychologie, der Mystik etc. Rorty schlägt nun vor, all diese Weisen als einen Teil des uns verfügbaren Repertoires von Selbstbeschreibungen zu verstehen. Normale oder starre Diskurse (im Sinne Foucaults) beschränken hingegen die Möglichkeit der kreativen Selbstbeschreibung und kultureller Selbstbildung: »[D]ie philosophische Fiktion, ein solches (kommensurables und rigides) Vokabular läge uns schon immer auf der Zunge, ist jedoch vom erzieherischen Standpunkt aus eine Katastrophe« (SN 394). 115 Rorty sieht in dem Bedürfnis nach Wahrheit den Versuch, der Verantwortung zur Selbsterziehung und Weiterentwicklung zu entfliehen. 116 Durch die (Wieder)-Einsetzung der Freiheit in den Selbsterschaffungsprozess kommt im Gegensatz dazu dem Einzelnen die volle Verantwortung zu, weil er sich nicht auf ein übergeordnetes System verlassen kann. Selbstverständlich ist sich Rorty bewusst, dass sich jeder nichtnormale Diskurs immer parasitär gegenüber den normalen Diskursen verhält. Einen nichtnormalen Diskurs einfach zu erfinden wäre nämlich ein Zeichen der Verrücktheit (SN 396). Daher möchte er auch nicht die normalen Diskurse der systematischen, erkenntnistheoretischen Philosophie ersetzen, sondern stellt ihnen die Idee einer bildenden Philosophie ergänzend zur Seite. Die Unterscheidung zwischen normalen und revolutionären Philosophen verläuft jedoch nicht parallel zu der Unterscheidung zwischen systematischen und bildenden Philosophen. Revolutionäre Philoso115 Rorty führt die Überwindung der Unterscheidung zwischen Tatsachen und Werten bei Gadamer darauf zurück, dass er das Bild des Menschen als Erkenner von ewiger Wesenheit durch das Bild des Menschen als im Gespräch mit der Geschichte ersetzt (SN 395). 116 Natürlich lässt sich an dieser Stelle eine Nähe zu Sartres bekanntem Ausspruch »Jeder ist zur Freiheit verdammt« erkennen.
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phen wie z. B. Kant, Husserl oder Russell revolutionieren zwar das bestehende Vokabular, gründen dann jedoch Schulen, so dass der einst nicht-normale Diskurs wieder normal wird (die neue wird zur gewohnten Metapher und in Folge dessen nicht mehr als eine Metapher erkannt). Wittgenstein, Heidegger oder auch Nietzsche zählt er hingegen zu den bildenden Philosophen. »Große bildende Philosophen reagieren und schreiben Satiren, Parodien und Aphorismen. Sie wissen, dass ihre Schriften deren Stoßkraft einbüßen werden, wenn die Epoche, auf die sie reagieren, vorüber ist. Sie halten sich absichtlich an der Peripherie auf. Große systematische Philosophen bauen wie große Wissenschaftler für die Ewigkeit. Große bildende Philosophen zertrümmern um ihrer eigenen Generation willen. Systematische Philosophen möchten ihr Fach auf den sicheren Pfad einer Wissenschaft führen. Bildende Philosophen wollen dem Staunen seinem Platz erhalten wissen, das die Dichter manchmal hervorrufen können – dem Staunen, dass es etwas Neues unter der Sonne gibt, etwas, das nicht im genauen Darstellen des schon Vorhandenen aufgeht, etwas, das (zumindest im Augenblick) nicht zu erklären und kaum zu beschreiben ist.« (SN 400 f.) Die wichtigsten Unterscheidungen lassen sich also wie folgt darstellen: Revolutionärer Philosoph Systematischer Philosoph Traditioneller Philosoph
Konstruktiver Philosoph
Bildender Philosoph
Bleibt innerhalb des vorhande- Gründet neue Schule, Hält sich in der nen normalen Diskurses, ohne nichtnormales VokaGegenwart, ihn in Frage zu stellen, bular wird normal, verhält sich parasitär basiert auf Erkenntnistheorie, baut für die Ewigkeit, zu normalen Diskurmöchte aus normaler WissenErkenntnis durch sen, ohne neue zu schaft mehr machen als bloße Schaffung neuer schaffen, Erkenntnis Rechtfertigungsstrukturen, Er- Methoden zur Kondurch Gespräch, kenntnis durch Anwendung frontation mit der Ziel ist die kreative von gängigen Methoden als Wirklichkeit, Selbsterschaffung im Konfrontation zwischen SubZiel ist die akkurate Dialog mit der Verganjekt und Wirklichkeit, Darstellung der Welt genheit Ziel ist die akkurate Darstellung der Welt z. B. Rechtshegelianer, Platoniker
z. B. Kant, Husserl oder Russell
z. B. Heidegger, Dewey, Wittgenstein, Nietzsche, Kierkegaard
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Hermeneutische Vernunft: von der Konfrontation zum Gespräch Die Unterscheidung zwischen den Methoden der Konfrontation einerseits und dem Gespräch andererseits wird auf folgenden Punkt gebracht: Der erkenntnistheoretische, normale Philosoph möchte durch die Konfrontation von Fakten und Wirklichkeit – im Sinne eines Verhörs, bei dem jemand ein Beweisstück vorbringen muss – eine genaue Darstellung der Wirklichkeit erreichen. Diese Konfrontation zwischen untersuchendem Subjekt und zu-erkundendem Objekt soll in der bildenden Philosophie durch das Gespräch zwischen Menschen bzw. dem Dialog mit der Philosophiegeschichte ersetzt werden. Der bildende Philosoph ist daher kein Theoretiker, sondern lediglich ein Gesprächspartner. Damit wird jede Beziehung zur phänomenalen Welt endgültig aufgegeben. Sie (die bildenden Philosophen) »sind eben nicht der Meinung […], man bringe notwendig eine Theorie über Etwas vor, wenn man etwas zu sagen habe. Unter Umständen sagt man einfach etwas – man leistet keinen Forschungsbeitrag, sondern man partizipiert an einem Gespräch« (SN 402). Dadurch soll verhindert werden, dass das offene Gespräch zu einer »Tauchbeziehung von Theorien« degradiert bzw. dem ökonomischen Denken des berechnenden Gebens und Nehmens zum Opfer fällt. 117 Das naturwissenschaftliche Weltbild legt die Vermutung nahe, Selbsterkenntnis könne durch objektive Tatsachen erzielt werden. Diese Versuchung ist groß, weil man Verantwortung abstreift, indem man einfach zwischen einigen zur Verfügung stehenden Systemen wählt. Für Rorty ist die Vorstellung erschreckend, dass es tatsächlich eine richtige Antwort gäbe, welche auf diese Weise den Menschen in seinem Sein festsetzt. Denn eine solche Reduktion auf ein Tatsachenwissen birgt die Gefahr des »Einfrierens der Kultur«. »[D]urch zu viel Erkenntnis von einer Person zu einem Ding zu werden, ist die Furcht davor, dass alle Diskurse zu normalen Diskursen werden. […] Es ist beängstigend, denn es schließt die Möglichkeit aus, dass es etwas Neues unter der Sonne gibt, dass das menschliche Leben poetisch ist statt bloß kontemplativ.« (SN 420 f.) Rorty geht es neben seiner erkenntniskriti-
117 Diese Intention erinnert im Ansatz an Habermas’ Anliegen, den öffentlichen und wahrhaft illokutionären Diskurs vor dem Einbruch des rein berechnenden, ökonomischen (zweckrationalen) Diskurses zu schützen.
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schen Argumentation vor allem auch um die pragmatisch-gesellschaftsrelevanten Konsequenzen eines solchen Denkens. 118 Rorty greift deshalb ideengeschichtlich auf Gadamers philosophische Hermeneutik und den Begriff der Wirkungsgeschichte zurück. In Wahrheit und Methode beklagt Gadamer, man habe die Hoffnung aufgegeben, in der Überlieferung etwas für uns Brauchbares zu finden. Aus diesem Grund wird der Text auf ein zu-analysierendes Objekt reduziert. Die philosophische Hermeneutik ist hingegen der Versuch, mit dem überlieferten Text in ein Gespräch zu kommen, so dass letzten Endes der Text wieder »zu uns spricht«. Im Bewusstsein der eigenen Kultur gelingt ein Verstehen ohnehin nur vor dem Hintergrund einer gegebenen Lebenswelt. Verstehen ist deshalb für Gadamer nicht etwas, das richtig oder falsch sein kann, und erst recht kann es hierfür keine Methode geben. »Es genügt zu sagen, dass man anders versteht, wenn man überhaupt versteht.« 119 Erst in einer solchen offenen Fragehaltung gegenüber einem historischen Text erwacht dieser zu neuem Leben und wirkt damit aus der Geschichte in die Gegenwart hinein. »Das in literarischer Form Überlieferte wird damit aus der Entfremdung, in der es sich befindet, in die lebendige Gegenwart des Gespräches zurückgeholt, dessen ursprünglicher Vollzug stets Frage und Antwort ist.« 120 Innerhalb eines solchen Verstehensprozesses geht es nicht um das Erfassen einer Information, sondern um das Erscheinen der Präsenz eines Schriftstücks oder eines Kunstobjekts. Es kann in der Begegnung nie ganz erfasst werden, sondern verlangt, dass wir immer wieder zu ihm zurückkehren. Deshalb ist ein solcher Verstehensprozess niemals abgeschlossen. Verstehen ereignet sich in einer Art »Horizontverschmelzung«, d. h., Altes und Neues wächst in immer wieder anderer, aber je lebendiger Geltung zusammen. 121 Auf diese Weise gelangen wir zu einem 118 Hierin spiegelt sich einer der Kerngedanken seines neopragmatischen Ansatzes, welcher entscheidend ist für die weitere Entwicklung seines politischen Denkens bzw. des Stellenwerts der Philosophie für die Konstitution des öffentlichen Raumes. 119 H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode, a. a. O., 302. 120 Ebd., 374. 121 Vgl. hierzu die Interpretation der Horizontverschmelzung bei Rorty: »Wir können Kultur, Praxis, Theorie, Sprache nicht recht verstehen, ohne schon zumindest versuchsweise Vorgriffe auf ein Verständnis des Ganzen zu machen, ohne es im sogenannten hermeneutischen Zirkel zu beweisen: man muss immer schon ein Vorverständnis des Ganzen entwickeln, das dann überprüft wird. Verstehen gleicht nach diesem Modell dem Kennenlernen einer Person, nicht dem Durchlaufen eines Beweisganges« (SN 347).
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Selbstbewusstsein, das sich aus der Tiefe der Geschichte speist, jedoch nicht auf diese beschränkt ist. »Wenn sich unser historisches Bewusstsein in historische Horizonte versetzt, so bedeutet das nicht eine Entrückung in fremde Welten, die nichts mit unserer eigenen verbindet, sondern sie insgesamt bilden den einen großen von innen her beweglichen Horizont, der über die Grenzen des Gegenwärtigen hinaus die Geschichtstiefe unseres Selbstbewusstseins umfasst.« 122 Vor diesem Hintergrund lässt sich Rortys Ansatz der bildenden Philosophie nun besser verstehen: Im Gespräch mit der »Wirkungsgeschichte der Philosophie« soll nämlich das Potential eines kreativen und eigenverantwortlichen Selbstschaffungs- und Bildungsprozesses wieder freigesetzt werden. Die Philosophie hat dabei weder den Anspruch noch die Aufgabe »richtige Antworten« zu geben, sondern soll lediglich Gesprächspartner zu sein. Das heißt, es handelt sich um einen kulturellen Bildungsprozess, der von jedem Einzelnen zu betreiben und zu verantworten ist: »Hat man verstanden, dass das Erkennen nicht ein Wesen hat, das von den Wissenschaftlern oder den Philosophen beschrieben werden könnte, sondern dass es die Berechtigung ist, kraft momentan gültiger Maßstäbe etwas zu glauben, so ist man ein gutes Stück in die Richtung der Auffassung weitergekommen, für die das Gespräch der unhintergehbare Kontext ist, in dem Erkenntnis verstanden werden muss« (SN 421 f.). Die Philosophie mitsamt ihren je unterschiedlichen Fragen gleicht den Stationen eines Dialogs durch die Geschichte. 123 Da aber die Philosophie nur eine von vielen Stimmen ist, welche sich an diesem Gespräch beteiligen, ist es schwer von eng umgrenzten Disziplinen zu sprechen, innerhalb derer nur bestimmte Fragen oder Antworten Platz hätten. 124 Letzten Endes möchte Rorty eine Kultur der Selbsterschaffung, welche nicht auf die Eingrenzung auf eine Wahrheit und Konfrontation zwischen Subjekt und Objekt, Selbst und Welt, Sein und Wissen beschränkt bleibt, sondern sich in die Offenheit des Gesprächs hinauswagt, um von dort mit neuen Antworten oder Ideen zurückzukehren – Antworten, welche jenseits des normalen Dialogs liegen. Das philosoGadamer, Wahrheit und Methode, a. a. O., 309. Im übertragenen Sinne hat Platon dieses Gespräch begonnen. Seither hat es durch die Geschichte der Zeit hindurch mehr Stimmen aufgenommen, als Platon je selbst gedacht hätte (vgl. SN 420 f.). 124 Dass die verschiedenen Diskurse irreduzibel sind, heißt jedoch nicht zugleich, sie seien auch inkompatibel (vgl. SN 420). 122 123
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Richard Rorty: die Bedeutung des Mitgefühls
phische Gespräch wird so zu einer Kultur, in welcher es nicht »die philosophische Methode« oder Technik gibt (SN 425). »Das moralische Interesse der Philosophen sollte sich auf die Fortsetzung des abendländischen Gesprächs richten, nicht darauf, dass den traditionellen Problemen der modernen Philosophie ein Platz in diesem Gespräch reserviert bleibt.« (SN 427) Durch die Therapie des Philosophen zu Beginn des »Spiegels der Natur«, der die Probleme der Vergangenheit im Alleingang zwischen Lehnstuhl, Selbst und Welt zu lösen versucht, wird der Philosoph zum Ende des Buches selbst zum Therapeuten, der von nun an den Fragen folgender Generationen als Gesprächspartner zur Seite steht und dadurch ihnen zu einer Vertiefung der Erfahrung verhilft. Pragmatische Wahrheiten: von der Dichotomie zur Einheit von Denken und Handeln Rorty selbst bezeichnet sich aus diesem Grund gerne als nach-nietzscheanisch-europäischer oder darwinistisch-amerikanischer Philosoph bzw. als »Antifoundationalist« und »Antidualist«. Seine Erkenntniskritik bringt ihn schließlich zu der Überzeugung, dass a. alles eine soziale Konstruktion ist 125 und b. alles Bewusstsein sprachlich ist (PSH 48). Diese Einstellung hat zusammen mit seiner pragmatischen Forderung, das Bedürfnis nach wahrer Repräsentation durch die kulturpolitische Frage nach der besten Welt- und Selbstbeschreibung zu ersetzen, weitreichende Konsequenzen: Da Realität nämlich konstruiert ist, allerdings alles Bewusstsein sprachlich ist, nimmt nun die Sprache eine dominante Rolle bei kulturellen Selbstbeschreibungs- und Selbstgestaltungsprozessen sowie der Konstitution einer Öffentlichkeit ein. Dadurch grenzt sich der Neopragmatismus klar vom klassischen Pragmatismus ab, weil er den Begriff der Erfahrung126 durch die Idee der Sprache ersetzt. Öffentliche wie private Selbsterschaffungsprozesse entfernen sich weiter von einer phänomenal gegebenen Welt. Aber anders als in vielen anderen Ansätzen der Sprachphilosophie geht es ihm nicht darum, mit Hilfe der Sprache eine äußere Wirklichkeit zu beschreiben und damit die Sprache zwischen Subjekt und Ob125 Insbesondere argumentiert er, es gebe ohnehin keine universalen Kriterien, die anzeigen, wann wir uns der Wahrheit annähern bzw. von ihr entfernen. 126 Vgl. u. a. bei J. Dewey, Experience and Nature, sowie Art as Experience, beides in: The Collected Works of J. Dewey, hg. v. Jo Ann Boydston, 37 volumes, Carbondale 1967–1991.
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jekt zu setzen, sondern vielmehr wird die Sprache als ein Werkzeug gebraucht, mit deren Hilfe der Mensch mit der Welt in eine Beziehung tritt. Wörter sind »nodes in the causal network which binds the organism together with its environment« (PSH XXIII). Daraus leitet er die holistische Annahme ab, dass wir nicht außerhalb der Sprache treten bzw. Wirklichkeit unmittelbar, nicht-relational erfassen können. 127 Sprache hat damit keine intrinsische Natur, sie ist vielmehr »a way of abbreviating the kinds of complicated interactions with the rest of the universe which are unique to the higher anthropoids. These interactions are marked by the use of strings of noises and marks to facilitate group activities, as tools for coordinating the activities of individuals« (PSH 64). Weil also Sprache die Wirklichkeit kreiert und diese Beschreibungen von uns gemacht sind, schlägt Rorty in pragmatischer Manier vor, wir sollten anstatt zwischen wahren und falschen, gefundenen und erfundenen Beschreibungen besser zwischen nützlichen und weniger nützlichen Beschreibungen unterscheiden.128 Diese Absage an die Vernunft als universale Größe legt die Vermutung nahe, dass Kommunikation oder Rechtfertigung unter diesen Umständen unmöglich sind und dem Relativismus (im Sinne eines »anything goes«) Tür und Tor geöffnet werden. Rorty entgegnet hiergegen ironisch: »We irrationalists do not foam at the mouth and behave like animals« (PSH XIX). Irrationalismus ist also nicht gleichbedeutend mit Inkohärenz in der Darstellung von Überzeugungen oder Einstellungen. Denn hierfür ist Rorty die Sprache viel zu wichtig. Vielmehr sind »inquiry and justification […] activities we language-users cannot help engaging in« (PSH 37). Weil Menschen immer schon in soziale und kulturelle Zusammenhänge eingebunden sind, können sie nicht anders als einen ethnozentrischen Standpunkt einzunehmen (SO 26). Sprache ist nämlich so eng an die sich stets verändernde Lebenswelt gebunden, dass es wahre Sätze immer nur innerhalb eines Sprachsystems geben kann. Oder wie der Rorty-Experte Horster schließt: »Erst hinter dem Schleier der Begriffe wird soziale Praxis als
127 Da es kein nicht-relationales Wissen von Dingen geben kann, soll der Unterschied zwischen dem Wissen und dem Gebrauch von Dingen aufgegeben werden. 128 Wenn Rorty daher von einer »guten« oder »besseren« Zukunft spricht, dann gebraucht er das Wort »gut« nicht substantivisch, sondern fragt pragmatisch: Gut für wen? Gut für was?
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konstitutive Größe sichtbar.« 129 Daher hat jede Kultur ihr eigenes Weltbild und ihren eigenen Wahrheitsanspruch. Fernerhin, und um Davidson beim Wort zu nehmen, können wir nicht beliebiger sein als die Welt es uns erlaubt: Die Welt als physisch gegebene übt einen gewissen Druck auf uns aus und obgleich dieser Druck in verschiedenen Zeiten und Kulturen unterschiedlich interpretiert und gedeutet wird, ist es schwer, seine Existenz abzustreiten, wenn er sich physisch aufdrängt. Anstatt repräsentativ möchte Rorty deshalb die Sprache kausal verstehen. »It [the world] causes us to hold beliefs, and we continue to hold the beliefs which prove to be reliable guides to getting what we want.« (PSH 33) Da wir immer schon in einer Beziehung zu den Dingen der Welt stehen, können wir einzig darüber etwas aussagen, auf welche Weise wir zu den Dingen in Beziehung stehen. Dieses Netzwerk an Beziehungen kann natürlich durch ein anders gewebtes Netz an Beziehungsdeutungen ersetzt werden oder sich verändern (vgl. PSH 53). Aber solche Veränderungen antworten immer auf veränderte Ansprüche, Notwendigkeiten oder Zielsetzungen in Austausch mit der Welt. Die Philosophie übernimmt hier eine mediative Rolle und vermittelt zwischen solchen Übergängen. »I agree with Dewey that the function of philosophy is to mediate between old ways of speaking, developed to accomplish earlier tasks, with new ways of speaking, developed in response to new demands.« (PSH 66) 130 Neopragmatische Hoffnungen: von der Reduktion zur Kreativität Als Konsequenz aus Rortys Erkenntniskritik soll nun Wahrheit mit der Idee relativer Neubeschreibungen ersetzt werden, welche sich pragmatisch am Erfolg von Handlungen orientieren. In diesem Sinne fungiert die Philosophie kulturbildend und steht in Auseinandersetzung mit den Fragen des konkreten Lebens. »Antiessentialism is one expression of that shift. The willingness to see philosophy as an aid to creating ourselves rather than to knowing ourselves is another.« (PSH 69) Die Praxis des »Auffindens« der Epistemologie wird durch »Neuschöpfung«, die »Einschränkung« durch »Kreativität« ersetzt. Erst unter dieD. Horster, Richard Rorty, Hamburg 1991, 47. Wobei es natürlich fraglich bleibt, inwiefern es Rorty tatsächlich gelingt, den Erfahrungsbegriff durch die Sprache ganz zu ersetzen. Exemplarisch habe ich deshalb die Thematik der »pressure points« erwähnt. 129 130
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ser Voraussetzung wird dem Einzelnen die volle Freiheit zugestanden: Es gibt tief in uns nichts, das wir nicht selbst hineingelegt hätten, kein Kriterium, keine Argumentation, keine Konvention. 131 Geschichte ist kein Vorfinden, sondern ein Machen, nicht der Einsatz der Vernunft oder Entschleierung von Prinzipien, sondern es ist die »Geschichte von radikal situierten Individuen und [von] Gemeinschaften bewerkstelligten Errungenschaft« (SO 100). Die Hermeneutik ist eine Möglichkeit, um mit der Geschichte (als Wirkungsgeschichte) in einen selbstbildenden Dialog zu treten. Die Zukunftsorientierung des Neopragmatismus ergänzt diesen eher rückwärtsgewandten bzw. vergangenheitsorientierten Dialog der Hermeneutik einerseits durch die Offenheit für Zukünftiges und andererseits durch seinen Praxisbezug. Als Gegengewicht zu Einschränkung und Konfrontation 132 der konstruktiven Philosophie möchte sich der Neopragmatismus überraschen lassen. Philosophie soll verändern, anstatt zu konservieren, soll für die konkrete Zukunft anstatt für Ewigkeit arbeiten (vgl. PSH 29). Damit gewinnt (in Anschluss an Dewey) die Imagination an Bedeutung. »To say that one should replace knowledge by hope is to say much the same thing: that one should stop worrying about whether what one believes is well grounded and start worrying about weather one has been imaginative enough to think up interesting alternatives to one’s present beliefs.« (PSH 34) Ralph W. Emersons Idee der »self-reliance« im Sinne eines »kollektiven Träumens« von einer bestmöglichen Zukunft 133 soll in den intersubjektiven Raum verlegt und zu einem kulturellen Projekt der Selbstbildung werden. »Pragmatists would, for the first time, treat theory as an aid to practice, rather than seeing practice as a degradation of theory.« (PSH 30) Natürlich wird diese romantische Seite in Rortys Denken oft müde belächelt, denn ein Kriterium für »gut« oder »besser« liefert er freilich nicht. Erfolg begründet sich einzig durch das Kriterium der Zweckmäßigkeit, welches in sich relativ bleibt: »they [the pragmatists] have no detailed answer, any more than the first mammals could specify in what respects they were better than the dying dinosaurs. […] Vgl. R. Rorty, Consequences of Pragmatism, a. a. O., XII. D. i. die Philosophie, welche ihren Glauben an die Epistemologie noch nicht aufgegeben hat. 133 Damit wird klar, dass Rorty durchaus Ehrfurcht empfindet, wenn auch nicht vor der Ewigkeit, sondern vielmehr vor der unendlichen Wandlungsfähigkeit des Menschen. 131 132
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Better in the sense of containing more of what we consider good and less of what we consider bad« (PSH 28). 134 Oder anders gesagt: Es gibt kein richtig oder falsch, sondern nur eine verpasste Chance, dass mehr Menschen glücklich werden (vgl. PSH XXIII). 135 Für Pragmatiker gibt es keinen scharfen Kontrast zwischen den Naturwissenschaften und den Sozialwissenschaften, weil alle diese Gebiete, insofern es sich nicht nur um Spielereien handelt (vgl. PSH XXV), dem Vorhaben einer Verbesserung des Lebens dienen. Als Leitmotiv für eine Philosophie als kulturelle Politik schlägt Rorty deshalb vor, stets Folgendes im Blick zu haben: »They [the philosophers] should ask themselves whether taking one side rather than another will make any difference to social hopes, programs of action, prophecies of a better future. If it will not, it may not be worth doing. If it will, they should spell out what that difference amount to« (PCP X). In diesem Sinne könnten die klassischen vier Fragen Kants auf folgende Weise umformuliert werden: I. Kant
R. Rorty
1. Was kann ich wissen?
Was ist die beste bzw. nützlichste Beschreibung der Welt?
2. Was darf ich hoffen?
Welche Hoffnungen sprengen unsere höchsten Erwartungen? Welche phantasievollen Ideen haben wir für die konkrete Zukunft bzw. die Zukunft unserer Enkel?
3. Was soll ich tun?
Wie kann die Gesellschaft freier, toleranter, mitfühlender, glücklicher werden?
4. Was ist der Mensch?
Wer wollen wir sein bzw. werden?
Die erste dieser Fragen wurde in diesem Kapitel ausführlich behandelt. Die 2. und 3. Frage wird das Zentrum des nächsten Kapitels bilden. Die 4. Frage werde ich im Kontext von Rortys Mitgefühlsbegriff eingehender darstellen.
134 Als ungefähre inhaltliche Richtlinien finden sich allenfalls vage Bezüge auf Whitmans Begriffe der »variety and freedom« bzw. Dewey’s Idee des »growth«. 135 Dewey beschreibt intellektuellen und moralischen Fortschritt einzig als Zunahme von Freiheit, welche uns der Demokratie, nicht der absoluten Wahrheit näherbringt (vgl. PSH 49).
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2.3.2 Die unbeirrbare Hoffnung ohne Grund: vom Anti-Essentialismus zur Philosophie als »cultural politics« (kulturelle Praxis) »Es fällt schwer, sich von einer Weltversion verzaubern zu lassen und sich zu allen anderen tolerant zu verhalten.« (SO 110)
a.
Konfliktlinien
Holismus, Kontingenz und historische Bedingtheit unserer Urteile lassen uns nur zwei Möglichkeiten, unserem Leben einen größeren Sinn zu verleihen: a. Entweder indem wir uns selbst zu einer nichtmenschlichen Realität in eine unmittelbare, vertikale Beziehung setzen und daraus ahistorische Prämissen für unser Handeln ableiten. b. Oder indem wir uns auf eine horizontale Beziehung zwischen den Mitgliedern einer Gesellschaft einlassen, um darüber eine Geschichte zu erzählen, welchen Beitrag wir zu dieser Gesellschaft geleistet haben. Die erste Möglichkeit strebt nach Objektivität und entfernt sich im Zuge dessen aus dem unmittelbaren gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang. Sie versucht jedoch das private Streben nach Vollkommenheit mit dem Sinn für Gemeinschaft zu vereinen. Der zweite Versuch zielt auf Solidarität und wendet sich damit den konkreten Personen des sozialen Umfelds zu, um von dort Zustimmung einzuholen (SO 12). Die Konfliktlinie zwischen Subjektivität und Objektivität soll durch das Streben nach Solidarität (Intersubjektivität) aufgelöst werden. Damit lässt Rorty die Hoffnung, Philosophie würde eine Verbindung zwischen uns und einer ahistorischen Instanz bzw. Richtlinie herstellen, endgültig hinter sich. Vielmehr werden gesellschaftliche Strukturen als kontingent beschrieben. Sie gleichen einem Netzwerk an Bedeutungen und Beziehungen, die jedoch eines jeglichen Zentrums entbehren (KoZ 5 ff.). 136 Auf ähnliche Weise verfährt Rorty mit dem Konflikt zwischen Individuum und Gesellschaft. Die »Seele« als Fixpunkt des Handelns wird nicht mehr als Zentrum mit Peripherie, sondern vielmehr als Netzwerk von Verbindungen beschrieben, welche wiederum in ein soziales Gewebe eingesponnen sind. 137 Die Frage, wie sich eine solche
136 Ein solches Zentrum könnte die Kunst, die Wissenschaft, die Philosophie, die Religion o. Ä. einnehmen (vgl. KoZ ff.). 137 Diese Vorstellung knüpft an Nietzsches Ideal der Selbst-Erschaffung sowie an Heideggers bzw. Sartres Vorstellung des Selbst als Authentizität an.
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fortschreitende Selbst-Schaffung, auch mit »komplexeren Strickmustern«, in die demokratisch-freiheitlichen Institutionen einfügt, bleibt noch zu beantworten. Grundsätzlich soll die schwierige Beziehung zwischen staatsbürgerlicher Solidarität und religiösem Pluralismus überwunden werden. Hier kehren jedoch die erkenntnistheoretischen Schwierigkeiten auf handlungspragmatischer Ebene zurück. Ideengeschichtlich wurde immer wieder versucht, das gespaltene Verhältnis zwischen Selbst und Anderen, privatem Glauben und öffentlichem Wissen, Realismus und Relativismus (Ethnozentrismus) durch rationalistische Konzeptionen zu überbrücken, um damit einen Unterschied zwischen Wahrheit und Rechtfertigung aufrechtzuerhalten. Trotz des steigenden nachmetaphysischen Bewusstseins bezüglich der Pluralität von Begründungsformen wurde der Begriff einer transkulturellen Vernunft von vielen Philosophen nicht ganz über Bord geworfen. Der Glaube, eine umfassendere philosophische Perspektive könne Selbsterschaffung und Gerechtigkeit in einer einzigen Vision harmonisieren, unterliegt der Gefahr in einer petitio principii zu enden. Rorty versucht nun diesen Konflikt zwischen privatem Glauben bzw. Selbsterschaffung und öffentlich-solidarischem Handeln zu überwinden, indem sich öffentliche Solidarität nicht mehr aus geteilten Überzeugungen oder Weltanschauungen speist, sondern aus emotionaler Zuwendung, d. i. Mitgefühl: »die Forderung nach einer Theorie, die das Öffentliche und das Private vereint, aufgeben und uns damit abfinden, die Forderung nach Selbsterschaffung und nach Solidarität als gleichwertig, aber inkommensurabel zu betrachten« (KIS 14). Um jedoch nicht wieder in die Selbstbezüglichkeit der Erkenntnistheorie zurückzufallen bzw. sich in relativistischen Widersprüchlichkeiten zu verfangen, verlagert Rorty seine Argumentation von der Erkenntnistheorie auf die Kulturpolitik, d. h. von Wissensansprüchen auf pragmatische Vorschläge. Eine weitere Konfliktlinie ergibt sich an der Front zwischen Kommunitarismus und Liberalismus: Mit den Denkern des Kommunitarismus (wie z. B. Horkheimer und Adorno) hat Rorty gemeinsam, dass er die individualistischen Vernunfttheorien ebenso anzweifelt wie die Idee angeborener Rechte. Dennoch geht er nicht so weit, damit die gesamte demokratische Kultur mitsamt ihren Institutionen ad acta zu legen. Vielmehr wird er die anthropologischen Begründungsversuche des Kommunitarismus durch sein pragmatisches Demokratiemodell er214 https://doi.org/10.5771/9783495860601 .
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setzen. Insgesamt ordnet er jedoch seine politische Theorie dem Liberalismus zu. Im Folgenden soll entlang der Kontingenzen von Sprache, Selbst und Gesellschaft gezeigt werden, warum private Selbsterschaffung und öffentliche Solidarität nicht unter einem metaphilosophischen Vokabular subsumiert werden können. Eine solche Inkommensurabilität kann den Begriff einer transkulturellen Vernunft entbehren, weil sie nicht mehr auf gemeinsame Überzeugungen angewiesen ist, sondern sich lediglich auf die Schaffung von empfindungsgeleiteter Solidarität verlässt: »Dies ist nicht durch Untersuchung, sondern durch Einbildungskraft erreichbar, durch die Fähigkeit, fremde Menschen als Leidensgenossen zu sehen. Solidarität wird nicht entdeckt, sondern geschaffen. […] diese gesteigerte Sensibilität macht es schwieriger, Menschen, die von uns verschieden sind, an den Rand unseres Bewusstseins zu drängen« (KIS 15 f.). Die Substitution von Vernunft durch gesteigertes Mitgefühl ist die Folge eines solchen pragmatischen Vorgehens, das die Philosophie der Demokratie unterordnet und kulturelle Praxis in den Mittelpunkt des politischen Handelns stellt. b.
Kritik: Kernprobleme der politischen Kultur
Kontingenz von Sprache 138 Einer der Schlüsselbegriffe in Rortys Denken ist der Begriff der Kontingenz. 139 Seine Grundthese lautet, dass Veränderungen in der Beschreibung der Welt keine Entdeckungen sind, welche uns das Wesen der Wahrheit enthüllen, sondern vielmehr sind es Veränderungen »unserer Redeweisen und damit Veränderungen dessen, was wir tun wollen und was wir zu sein glauben« (KIS 47). Die folgende Darstellung wird die Kernthesen aus Spiegel der Natur aufgreifen und zeigen, auf welche Weise sich aus der Kontingenz der Sprache – als soziale Konstruktion von Glaubensnetzen und Gesellschaftsformen – das politische Handeln pragmatisch ableiten lässt. 138 Diese Sichtweise knüpft in vielen Punkten an die Erkenntniskritik im Spiegel der Natur wieder an. Ich werde hier hauptsächlich auf die Weiterentwicklung dieser vorhergehenden Erkenntniskritik eingehen. 139 Er gebraucht diesen Begriff jedoch anders als in der klassischen Unterscheidung von notwendig–möglich versus kontingent–unmöglich im Anschluss an Aristoteles und später bei Kant, sondern denkt den Begriff eher im Sinne der lateinischen Grundbedeutung des »sich Ereignens« bzw. des »Zufälligen«.
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An der Grundthese aus Spiegel der Natur, dass Wahrheit nicht ge-, sondern erfunden wird, hält Rorty fest und überträgt diese nun auf den Bereich der Gesellschaft. Der Unterschied zwischen »soft facts« und »hard facts« wird eingeebnet, weil jegliche Art der Beschreibung, ungeachtet dessen, ob sie wissenschaftlicher, poetischer oder moralischer Natur ist, nur Sinn hat, insofern sie einen bestimmten Zweck erfüllt. Solche Zwecke können die Vorhersagbarkeit, die Praktikabilität, die Rechtfertigung eines bestimmten Verhaltens u. Ä. sein. Erst in Bezug auf diesen Zweck lässt sich sagen, ob eine Theorie als »wahr« gilt. »Wahr« bedeutet folglich nichts anderes, als dass die Beschreibung dem gewünschten Zweck entspricht. 140 Da die Beschreibung sprachlich und zweckbestimmt ist, kann sie weder das Ding an sich beschreiben noch sämtliche mögliche oder für andere Zwecke nützlichen Beschreibungen in sich enthalten. Beispielsweise wird sich die Kaufbeschreibung eines Tisches in einem Möbelgeschäft von einer mikroperspektivischen Partikelbeschreibung des Tisches radikal unterscheiden. Wenn wir dennoch beide Beschreibungen für wahr halten, dann bezieht sich diese Aussage auf den Zweck der Beschreibung, sie sagt uns jedoch nichts Absolutes über das Ding an sich. »Weil Wahrheit eine Eigenschaft von Sätzen ist, die Existenz von Sätzen abhängig von Vokabularen ist und Vokabulare von Menschen gemacht werden, gilt dasselbe für Wahrheiten.« (KIS 49) Daraus folgt, dass nicht die Beschreibungen dort draußen sind, wohl aber die Welt. Wahrheit existiert nur in Relation zu Sprache und damit zu Menschen. Die triviale Aussage, dass die Welt Ursache dafür sein kann, dass wir das eine oder das andere für wahr halten, heißt nicht, dass wir die Welt in satzförmige Stücke einzuteilen vermögen, welche wir Tatsachen nennen: »dass Newtons Vokabular uns zwar Vorhersagen über die Welt leichter macht als das des Aristoteles, dass das aber nicht bedeutet, dass die Welt Newtonisch spricht. Die Welt spricht überhaupt nicht. Nur wir sprechen« (KIS 25). Damit möchte Rorty den Naturwissenschaften und auch allen anderen akademischen Fächern nicht seine Wertigkeit nehmen, wohl aber darauf hinweisen, dass eine nützliche Beschreibung zur Vorhersagbarkeit 140 Natürlich unterscheidet Rorty genau zwischen der trivialen Behauptung, dass eine Welt dort draußen ist, von der erkenntnistheoretischen Behauptung, dass es eine innere Natur dieser Welt gibt, welche durch Sprache beschrieben wird. »Die Idealisten verwechselten nämlich die Vorstellung, dass nichts eine solche Natur habe, mit der anderen, dass Raum und Zeit nicht real seien, also mit der Idee, dass Menschen die Ursache für die Existenz der Welt in Raum und Zeit seien.« (KIS 23)
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von Vorgängen nicht zugleich bedeutet, man habe hier eine unumstößliche oder absolute Wahrheit »entdeckt«. Auf gesellschaftlicher Ebene stimmt Rorty weder mit den Realisten noch mit den Idealisten ganz überein. Denn obgleich jedes gewählte Sprachspiel oder Vokabular zweckbestimmt und perspektivisch ist, wird dieses Vokabular, zumindest auf gesellschaftlicher Ebene, nicht bewusst gewählt. Im Sinne des semantischen Holismus werden wir in eine Sprachgemeinschaft hineingeboren, von welcher wir uns (ähnlich dem Lebensweltbegriff) niemals ganz befreien können. 141 Vokabulare sind also eine Art der Gewohnheit und sie verändern sich nur, insofern sie keine befriedigende Beschreibung mehr liefern bzw. sich das Ziel der Beschreibung verändert. Ganz im Sinne des Pragmatismus geht es ihm deshalb nicht darum, zu beweisen, dass es keine innere Natur der Dinge gibt, sondern lediglich, dass die Suche nach einer »inneren Natur der Dinge« nichts Wesentliches beisteuert. Denn jede direkte Gegenargumentation, welche die »Abwesenheit einer inneren Natur« zu beweisen versuchte, würde natürlich auf eine petitio principii hinauslaufen. Sie müsste zudem Anleihen bei einem alten Vokabular machen und würde es damit erst recht am Leben erhalten. Deshalb greift Rorty auch hier auf seine Methode der Verabschiedung und Neubeschreibung zurück, so dass sich das neue Vokabular schrittweise »einbürgert« und irgendwann jedem geläufig wird. »Diese Art Philosophie arbeitet nicht schrittweise, analysiert nicht ein Konzept nach dem anderen, prüft nicht eine These nach der anderen. Sie arbeitet vielmehr holistisch und pragmatisch.« (KIS 30) Anknüpfend an Spiegel der Natur ist Sprache nicht mehr das vermittelnde Medium zwischen Selbst und Welt, denn eine solche Trennung würde die Dichotomie zwischen Subjekt und Objekt unterstützen, sondern Sprache ist ein Werkzeug im Umgang mit der Welt und anderen Menschen. Daraus resultiert Rortys pragmatische »Umdeutung« des Wahrheitsbegriffs zu dem, was zu glauben für uns gut ist. 142 141 Vgl. Rorty in seinem späteren Werk PCP 176 ff.: Geist und Sprache werden nicht getrennt, sondern Rationalität als soziales Phänomen begriffen. Soziale Phänomene werden auf dem Boden der kulturellen Deutung in einem erweiterten hermeneutischen Sinne immer wieder neu strukturiert und interpretiert. 142 Natürlich greift Rorty mit dieser Formulierung auf den Pragmatisten James zurück. »The true is the name of whatever proves itself to be good in the way of belief, and good, too, for definite, assignable reasons.« (W. James, Pragmatism, Cambridge, MA, 1979, org. 1907, 42)
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Richard Rorty: die Bedeutung des Mitgefühls
Die Frage, ob ein Vokabular die Welt wahrheitsgemäß repräsentiert, wird deshalb durch die Frage ersetzt, ob unser Gebrauch der Sprache dem Gebrauch einer anderen Sprache im Wege steht bzw. ob wir unser Werkzeug adäquat gebrauchen. Insbesondere im Hinblick auf ein interkulturelles Verstehen kommt es darauf an, in welchem Maße wir das Verhalten des Anderen vorhersagen können. Rorty verdeutlicht dies anhand des Beispiels eines Fallschirmsprungs in eine vollkommen fremde Kultur: Beide Seiten werden in diesem ›Fall‹ dazu genötigt, sich eine Theorie über das Verhalten und die begleitenden Geräusche des anderen zu machen. 143 Schwierigkeit im interkulturellen Verstehen bedeutet lediglich, dass das Verhalten des Anderen schwer voraussagbar ist. Solche Schwierigkeiten treten jedoch nicht nur zwischen zwei Kulturen auf, sondern können gleichermaßen zwischen Menschen eines ähnlichen Kulturkreises auftreten. Die Unterschiede sind also nicht qualitativ, sondern graduell. Da Rorty die repräsentative Subjekt-Objekt-Konstellation, in deren Mitte die Sprache steht, überwinden möchte, ersetzt er den Begriff der Theorie bzw. des Denkens durch den Begriff der Metapher. Die Menschheitsgeschichte ist für ihn kein Prozess von Entdeckungen, sondern vielmehr ein evolutionäres und nicht-teleologisches Werden und Vergehen sprachlicher Kontingenzen; das heißt, verschiedene Beschreibungen von Phänomenen wechseln einander ab. Dabei sterben alte Metaphern »zur Buchstäblichkeit ab« und dienen als Folie für neue Metaphern (vgl. KIS 41). Solche Abläufe gehorchen dem Zufall bzw. speisen sich aus dem Prinzip der optimalen Angepasstheit an die jeweilige soziale Situation. Damit wendet sich Rorty vom reduktionistischen Metaphernbegriff der Positivisten ab und nähert sich eher dem expansionistischen Verständnis der Romantik an. Erstere sehen in der Metapher eine Satzkonstruktion, die weder wahr noch falsch sein kann und damit als Wahrheitskandidat nicht in Frage kommt. Für Romantiker drückt die Metapher hingegen etwas wesentlich mystisch Verstecktes und Eigentliches aus. 144 Rorty selbst sieht in Metaphern potentielle Wahrheits143 Davidson sagt: »Alles, was zwei Leute brauchen, um einander beim Sprechen zu verstehen, ist die Fähigkeit, sich in vorläufigen Theorien von Äußerung zu Äußerung einander anzunähern« (vgl. D. Davidson, The Structure and Content of Truth, in: The Journal of Philosophy, Vol. 87, 1990, H. 6, 279–328). 144 »In der Betrachtungsweise der positivistischen Kulturgeschichte gewinnt Sprache allmählich ihre Form entlang der Konturen der physikalischen Welt. In einer romanti-
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kandidaten, jedoch nur insofern als für ihn alle Wahrheiten 145 nichts weiter sind als eben sprachliche Beschreibungen der Welt. Daher unterscheidet er lediglich zwischen toten und lebendigen Metaphern. Sie sind tot, wenn sie bereits in den unbewussten Teil unseres Vokabulars übergegangen sind. Lebendig sind sie dagegen, wenn sie noch einen gewissen Überraschungseffekt mit sich bringen, d. h. den Gesprächspartner aus dem gewohnten Sprachspiel für eine kurze Zeit hinausmanövrieren. Im zweiten Fall übermitteln Metaphern keine direkte Botschaft bzw. bleibt ihre Deutung offen und der Sprecher muss abwarten, ob sein Sprachspiel beim Hörer auf fruchtbaren Boden fällt. Da Theorien keine Repräsentationen sind, ist die Art und Weise, wie wir die Welt beschreiben, kontingent. Theorien bleiben immer kausal auf unsere Zielsetzung und Absicht einer Beschreibung bezogen. Metaphern können nicht – und hierbei stimmt er mit der sprachanalytischen Philosophie überein – mit einem Ding an sich oder Tatsachen verglichen werden, sondern nur Vokabulare und Metaphern können miteinander verglichen werden. Es gibt keine besseren oder schlechteren Beschreibungen der Welt, sondern lediglich bessere Werkzeuge zum Mittel für einen bestimmten Zweck. 146 Damit vollzieht Rorty, ähnlich wie Habermas, einen Perspektivenwechsel von der vertikalen Ebene zwischen Subjekt und Objekt (Mensch und Welt) auf die horizontale Ebene zwischen Subjekt und Subjekt bzw. zwischen verschiedenen Vokabularen. In einem späteren Werk schreibt Rorty: »This switch from metaphors of vertical distance to metaphors of horizontal extent ties in with the pragmatists insistence on replacing traditional distinctions of kind with distinctions of complexity« (PSH 83). Eine solche Vorgehensweise ist aus diesem Grund weniger relativistisch als vielmehr ethnozentrisch: Sie argumentiert immer vor dem Hintergrund eines bestimmten Sprachspiels und kann sich nicht in die Vertikale eines übergeordneten Sprachspiels oder eine begriffliche Reduktion flüchten. 147 schen Sichtweise der Geschichte der Kultur bringt Sprache schrittweise den Geist zum Bewusstsein seiner selbst.« (KIS 46) 145 Wahrheiten sind Beschreibungen der Welt und haben den Wert eines Werkzeugs. Sie gelten nicht als objektive Aussagen. 146 Das wird später wichtig, wenn es um die Auseinandersetzung zwischen kommunikativer und zweckrationaler Vernunft geht. 147 Oder an anderer Stelle: »to replace traditional metaphors of depth or hight with metaphors of breadth and extent« (PSH 87).
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Richard Rorty: die Bedeutung des Mitgefühls
Aus diesen Gründen steht der »strong poet« im Mittelpunkt der gesellschaftlichen Veränderungen. 148 »Verstünden wir die Geschichte der Menschheit als Geschichte einander ablösender Metaphern, dann könnten wir den Dichter im allgemeineren Sinn eines Schöpfers neuer Wörter, Formen und Sprachen – als Vorkämpfer der Spezies sehen.« (KIS 48) Das heißt, die Geschichte des Denkens soll auf solche Weise neu erzählt werden, dass weder die Liebe zu Gott, der Wahrheit oder zu uns selbst unser Denken bestimmt. Nichts soll wie eine Quasi-Gottheit behandelt werden, sondern »Sprache, Bewusstsein und Gemeinschaft sind Produkte von Zeit und Zufall«. In diese kulturelle Praxis vermögen wir deshalb kreativ einzugreifen (KIS 50). Für Rortys politisches Denken ist diese Einsicht entscheidend, weil wir uns in dem Maße auf eine Quasi-Gottheit oder außerweltliche Instanz berufen, als wir uns von den wirklichen Personen unserer Umgebung entfernen. Eine solche Haltung führt zum einsamen Intellektuellen, der scheinbar auf unmittelbare Weise mit den Dingen in Beziehung steht, jedoch wenig mit den Menschen um ihn herum zu schaffen hat. Die Einsamkeit des neurotischen Egoisten wird deshalb in den meisten philosophischen Werken dadurch gelöst, dass im Rückgriff auf moralische und anthropologische Theorien Gerechtigkeit einerseits und private Vervollkommnung andererseits miteinander harmonisiert werden (vgl. SO 11 ff.). Rorty schlägt dagegen vor, dass eine solche Übereinstimmung von privater Vervollkommnung und öffentlichem Handeln gar nicht unbedingt notwendig ist. Viel wichtiger ist es, eine so offene Gesellschaftsform zu kultivieren, dass Toleranz und glaubensunabhängige Solidarität das Miteinander bestimmen und damit jedem die private Freiheit der Selbstentfaltung zusteht. 149 Das heißt, wir beteiligen uns an gesellschaftlichen Dialogen über Moral, Vorlieben, Überzeugungen, ohne dabei zu erwarten, dass dieser Dialog kontinuierlich auf die Wahrheit zusteuert. Indem ein absoluter Standpunkt aufgegeben wird, kann nicht mehr beurteilt werden, ob wir uns mit einer bestimmten Einstellung oder Entscheidung auf die Wahrheit zu- oder von ihr wegbewegen. Aus der horizontalen Perspektive 148 Habermas’ letzte Utopie kann hingegen mit der Forderung beschrieben werden: »Jeder ein Intellektueller«. 149 Die Trennung von Öffentlichem und Privatem werde ich weiter unten eingehend erläutern.
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kann die Geschichte einzig im Nachhinein als eine Geschichte des Fortschritts erzählt werden. 150 Oder in anderen Worten: Es gibt nur den Dialog, aber keinen Konvergenzpunkt dieses Dialogs. Die folgende Graphik soll dies veranschaulichen:
Die Kontingenz des Selbst Rorty beschreibt den Essentialismus (im Hinblick auf das Selbst) als das Streben, ein Kontinuum in den Facetten und Erscheinungsformen des Selbst ausfindig zu machen bzw. den »wahren Kern« des Selbst freizulegen. 151 Die Überwindung der eigenen Kontingenz soll z. B. durch philosophisches Streben 152 überwunden werden. Rorty plädiert hingegen für die Anerkennung der Kontingenz des Selbst und fordert dazu auf, die »Erschaffung des Selbst« ganz in die eigene Hand zu neh150 Und selbst die Gründe, welche die Geschichte zu einer Geschichte des Fortschritts machen, werden sich immer wieder verändern. Insofern kann die Bewusstwerdung, in Bezug auf die Geschichte der Menschheit, selbst als ein kollektiver Identifikationsprozess im Sinne einer »narrativen Psychologie« gesehen werden (vgl. u. a. J. S. Bruner, In search of mind: Essays in autobiography, New York 1983). 151 Ähnlich wie Nietzsche sieht Rorty im Streben nach Universalität eine Einengung, weil es universale Kriterien für notwendig, wesentlich, zielgerichtet und konstitutiv für das Menschsein hält. Die Suche nach einer »zufallsblinden Prägung« gibt natürlich immer schon eine Richtung vor. Hinter einem solchen Streben steckt die Angst vor der Auslöschung. Das Finden einer universalen Wahrheit des Selbst vereinigt den Einzelnen mit dieser Wahrheit und damit mit der Ewigkeit. »Auslöschung fiele nicht ins Gewicht, denn man wäre eins mit der Wahrheit geworden, und Wahrheit in diesem traditionellen Verständnis ist unvergänglich.« (KIS 58) 152 Rorty verwendet hier den Begriff Philosophie im Hinblick auf die erkenntnistheoretische Philosophietradition von Platon über Kant bis hin zu ebensolchen analytischen Ansätzen. Er akzentuiert damit den Unterschied zu seinem neuen philosophischen Denken, welches sich nicht mehr klar von der Dichtung unterscheiden möchte, sondern vielmehr Anleihen bei ihr nimmt.
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men. Eine solche Haltung wird als dichterisches Streben bezeichnet, innerhalb dessen der Phantasie ein zentraler Stellenwert zukommt und so die vormalige Position der Vernunft ersetzen soll: Selbsterkenntnis durch Selbsterschaffung. Um den Begriff der Kontingenz des Selbst noch klarer zu machen, greift Rorty auf Kierkegaard zurück und erinnert, dass das Selbst in seinem Anfang vollkommen zufällig und fremdbestimmt ist; z. B. Geburt, Eltern, Herkunft und selbst der eigene Name sind kontingent. Die Aneignung dieser Kontingenz geschieht für Kierkegaard als Selbstsetzung, d. h., wir übernehmen unsere Lebensgeschichte bewusst als die eigene. 153 Durch diese narrative Interpretation der kontingenten Vergangenheit geschieht bereits eine Neudeutung, 154 bei der eine »geniale« Persönlichkeit »einen Weg zur Beschreibung dieser Vergangenheit, den die Vergangenheit selbst nicht kannte, und damit ein Selbstsein gefunden hat, das nicht einmal der Möglichkeit nach ihren Vorgängern bekannt war.« (KIS 62) 155 Ein solcher Aneignungsprozess ist natürlich nur möglich, wenn erkannt wird, dass die Beschreibungen der Vergangenheit ebenso kontingent sind, wie diejenigen der Gegenwart. Eine solche ›Nietzscheanische‹ Sichtweise »weiß die Stärke der Behauptung einzuschätzen, dass ›Wahrheit ein bewegliches Heer von Metaphern ist‹, weil sie aus eigener Kraft den Ausbruch aus einer Perspektive, einer Metaphorik, in eine andere geschafft hat« (KIS 61). 156 Damit verändert sich die zeitli-
153 Die Selbstsetzung bei Kierkegaard ist eine etwas eigenwillige Interpretation des fichteschen Selbstsetzungsbegriffs. Vgl. auch die Rezeption dieses Selbstsetzungsbegriffs bei Kierkegaard durch Sartres Freiheitsbegriff. Eine ähnliche Richtung lässt sich auch in den Ansätzen der narrativen Psychologie ausfindig machen, welche ebenfalls den Selbstwerdungsprozess als Narration begreift (vgl. Bruner, The Search of Mind, a. a. O.). 154 Vgl. H. Bloom zur Gedichtinterpretation: Ein Gedicht lesen heißt, es misszuverstehen, weil man immer nur sein eigenes Lesen versteht, (Vgl. J. Barry u. D. H. Scherr, Lawrence’s Response to Plato: A Bloomian Interpretation, New York 1995.) 155 In spielerischen Lernprozessen bei Kindern können solche hermeneutischen Aneignungprozesse häufig beobachtet werden – der Stuhl wird zum Zug, der Bereich unter dem Tisch zur Höhle etc. (vgl. Ansätze aus der hermeneutisch-phänomenologischen Entwicklungspsychologie, u. a.: T. Fuchs, Leib, Raum, Person. Entwurf einer phänomenologischen Anthropologie, Stuttgart 2000). Sprache wird übernommen und zugleich erhält sie im Gebrauch eine idiosynkratische Note (vgl. W. v. Humboldt, Über die Verschiedenheiten des menschlichen Sprachbaus (1827–29), in: Werke, hg. v. A. Flitner, Bd. III, 160 f.). 156 Rorty orientiert sich mit diesem Ausspruch natürlich an F. Nietzsche, Wahrheit und
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che Orientierung: Weg von der Ewigkeit und hin zu einer offenen Zukunft – nicht zeitlose Beschreibungen sind interessant, sondern der Unterschied zwischen alt und neu. Aber genauso wie bei der bildenden Philosophie und dem offenen Diskursen machen solche Neubeschreibungen nur vor dem Hintergrund eines bereits bestehenden Vokabulars Sinn. Es geht nämlich nicht um die Unterscheidung zwischen Wörtern, die mit der Welt zusammenpassen bzw. nicht zusammenpassen, 157 sondern vielmehr um den Unterschied zwischen buchstäblicher und metaphorischer Redeweise: Metaphern erstarren zu einem buchstäblichem Verständnis, wenn sie bei den meisten Menschen auf fruchtbaren Boden fallen und ohne Irritation übernommen werden. Von Wahnvorstellung oder Perversion sprechen wir, wenn eine Metapher lediglich der persönlichen Zwangsvorstellung entspricht. Das heißt: »Fortschritt in der Dichtung, Kunst, Philosophie, Wissenschaft oder Politik ergibt sich aus der zufälligen Koinzidenz einer privaten Zwangsvorstellung und eines weitverbreiteten Bedürfnisses« (KIS 75). Rorty unterscheidet nun im Folgenden zwei Weisen der Dezentrierung des Selbst: Es wurde bereits dargestellt, warum für die Selbsterschaffung die Auseinandersetzung mit Anderen und der Vergangenheit unerlässlich ist: Denn nur durch jene dialogischen Abgrenzungen werden Neubeschreibungen überhaupt möglich. »Metaphern sind unvertraute Verwendungen alter Wörter, aber diese Verwendungen sind nur vor dem Hintergrund anderer alter Worte möglich, die weiter in vertrauter Weise gebraucht werden.« (KIS 80) Daraus resultiert die erste Dezentrierung des Selbst: Das Selbst ist immer schon von den »Anderen« besetzt bzw. Selbst und Anderer (Gesellschaft, Vergangenheit) gehen ineinander über. Erst im Nachhinein kann sich das Selbst teilweise lösen, um sich selbst zu setzen (im Sinne Kierkegaards). Es braucht aber weiterhin die Anderen, um zu merken, ob es sich bei den Neubeschreibungen um Zwangsvorstellungen oder aber um fruchtbare Metaphern handelt. Schlussendlich müssen wir dem guten Willen anderer vertrauen und hoffen, dass diese unsere Deutungen wohlwollend betrachteten. Eine zweite Dezentrierung des Selbst ergibt sich aus dem RückLüge im außermoralischen Sinne, Gesammelte Werke, hg. v. K. Schlechta, München 1979. 157 Vgl. hierzu auch den Metapherbegriff bei Davidson wie beschrieben in 2.3.1.
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griff auf das psychoanalytische Vokabular Freuds. 158 Rorty versteht nämlich die verschiedenen bewussten und unbewussten Teile des Selbst als eigenständige Personen. Dies geht wiederum auf seinen sprachanalytisch geprägten Personenbegriff zurück, dass Personen nichts anderes sind als »eine kohärente und plausible Menge von Überzeugungen und Wünschen« (SO 44) 159. Ebenso wie das Bewusste ist auch das Unbewusste eine Menge solcher Überzeugungen und Wünsche. »Das Unbewusste lässt sich als alternative Menge auffassen, die zwar nicht mit der bekannten, von uns mit dem Bewusstsein gleichgesetzten Menge in Einklang steht, aber in sich kohärent genug ist, um als Person zu gelten.« (SO 44) Das ist zunächst eine eigenwillige Interpretation Freuds, denn er selbst zielt auf eine Erhellung des Unbewussten durch das Bewusste, d. h. eine Art platonische Herrschaft des Ich über das Unbewusste. 160 Dennoch vollzog sich im Anschluss an Freuds Psychoanalyse in den folgenden Jahren eine Aufwertung des Unbewussten durch die Kultur der Ästheten. Und Philip Rieff bringt diese auf den Punkt, wenn er sagt: »Freud hat das Genie demokratisiert, indem er jedem ein schöpferisches Unbewusstes verliehen hat.« 161 Das Unbewusste wird nicht so sehr als die Bestie gesehen, gegen welche der Intellekt ankommen muss, sondern als Quelle für Witz und kreative Neubeschreibungen aller Art. Wichtig für Rorty ist in diesem Zusammenhang, dass das Unbewusste ebenso über eine Sprache verfügt wie der bewusste Teil, d. h., das Unbewusste ist, als sprachfähiges Bündel an Überzeugungen und Wünschen, dem Ich beigestellt. Damit ist es nicht mehr Zentrum des Selbst, sondern erfährt durch das Unbewusste als »Alter Ego« eine weitere Dezentrierung. Dies führt schließlich zu einer wichtigen Schlussfolgerung: Das Selbst ist die vage Kombination von zwei (oder auch mehreren) Personen, welche unterschiedliche Charakterzüge haben. Dabei ist der bewusste Teil die angepasste, konstruktive und das alte Vokabular aufgreifende Person; der unbewusste Teil hingegen eine Person voller 158 Diese zweite Deutung der Dezentrierung ergibt sich aus einem etwas späteren Aufsatz der deutschen Aufsatzsammlung Solidarität oder Objektivität (1988). 159 Mit dieser Interpretation des Personenbegriffs lehnt sich Rorty an Davidsons Personenbegriff an (vgl. seine Bezugnahmen in SO 44). 160 Dies wird u. a. deutlich in seinem bekannten Ausspruch: »Wo Es war, soll Ich werden.« 161 Ph. Rieff, The Mind of the Moralist, New York 1961, 36, auch zit. in SO 48.
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Überraschungen, unvorhersehbar und neues Vokabular erfindend. Da beide Teile jedoch in sich konsistent sind und, für Freud wie für Rorty, Vernunft ein Mechanismus ist, der Kontingenzen anderen Kontingenzen anpasst, ist diese Funktion nicht auf den bewussten Teil beschränkt. Vielmehr verläuft die Unterscheidung bewusst/unbewusst quer durch die Unterscheidung Mensch/Tier bzw. Vernunft/Instinkt (vgl. SO 49). Erst auf der Grundlage dieser Kritik lässt sich nun Rortys »Therapie« in Kontigenz, Ironie und Solidarität verstehen. Er empfiehlt, das Unterscheidungskriterium der Vernunft durch das der Phantasie zu ersetzen. »Indem wir sehen, dass jeder Mensch bewusst oder unbewusst eine idiosynkratische Phantasievorstellung auslebt, können wir den spezifisch menschlichen, im Gegensatz zum animalischen Anteil im menschlichen Leben als die Verwendung aller besonderen Personen, Dinge, Situationen, Ereignisse und Worte, auf die wir später im Leben treffen, zu symbolischen Zwecken verstehen.« (KIS 73) Hieraus resultiert auch Rortys Umdeutung Freuds: Anstatt nämlich das Unbewusste dem Bewussten zu unterwerfen, möchte er – und dies in gewohnt hermeneutischer Manier – das Unbewusste als Gesprächspartner dem bewussten Teil zur Seite stellen. Auf diese Weise soll in jedem die Fähigkeit für kreative Neubeschreibungen und künstlerisches Potential weitestmöglich kultiviert werden. Ein starker Charakter ist nämlich kein starrer Charakter, sondern ein solcher, der im Sturm der Kontingenzen Toleranz gegenüber Diskontinuitäten und Ambiguitäten entwickelt. Nicht das Ich, sondern die Vielseitigkeit soll herrschen. »Reife besteht nach dieser Ansicht eher in der Fähigkeit, noch nicht dagewesene Neubeschreibungen der eigenen Vergangenheit ausfindig zu machen, und das ist die Fähigkeit zur nominalistischen, ironischen Selbstbetrachtung.« (SO 52) Erst hierdurch erklärt sich schließlich die positive Deutung der Ironikerin, welche Rorty als Pendant zur Idee einer human condition setzt. In ihrem Wunsch der Selbst-Erweiterung möchte sie immer mehr Möglichkeiten in sich aufnehmen, ohne eine als die einzig Wahre hervorzuheben. Anstatt sich auf ein wahres Zentrum zuzubewegen, strebt sie nach Grenzerweiterung, Dezentrierung und verschiedenen Neubeschreibungen, welche sich aus dem Unbewussten speisen. Natürlich folgt die These der Neubeschreibungen einer gewissen spielerischen Neigung. Denn anstatt an einer Beschreibung festzuhalten, zielt Rorty eher darauf, das weitläufige Repertoire möglichst unterschiedlicher Beschreibungen zu erweitern. »Der endgültige Sieg der 225 https://doi.org/10.5771/9783495860601 .
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Dichtung in ihrem alten Streit mit der Philosophie, der endgültige Sieg der Metaphern für Selbsterschaffung über die Metaphern für Entdeckung würde darin bestehen, dass wir uns mit dem Gedanken versöhnen, dass dies die einzige Art von Macht über die Welt ist, auf die wir hoffen können.« (KIS 79) Das bedeutet: die Kontingenz anzuerkennen und sich damit mit der Freiheit und Verantwortung der Selbsterschaffung abfinden. Hieraus ergibt sich schließlich die entscheidende Spaltung Rortys in Selbsterschaffung und Solidarität, Privatem und Öffentlichem. Die Kontingenz der Gesellschaft Die Idee, den Liberalismus von seinen aufklärerischen Altlasten zu befreien und ihm stattdessen zu einem neuen, antiessentialistischen Vokabular zu verhelfen, ist das Hauptanliegen Rortys politischer Schriften. Mit diesem Streben folgt er im Ansatz dem Rationalitätsskeptizismus Adornos und Horkheimers, weicht jedoch entscheidend von deren Schlussfolgerung ab: 162 Weil für Rorty die philosophische Grundlegung eines politischen Systems nicht entscheidend für dessen Legitimität ist, sieht er davon ab, die Vernunftkritik auf die liberalen Institutionen bzw. den politischen Liberalismus als solchem zu übertragen. Mit diesem Anliegen liegt er auf einer Linie mit Dewey, Oakeshott und Rawls, welche allesamt den Versuch verabschieden, durch ein überhistorisches Begriffssystem absoluter Geltung die Idee des Liberalismus zu legitimieren. Paradigmatisch hierfür gilt der Satz Schumpeters: »Die Einsicht, dass die Geltung der eigenen Überzeugungen nur relativ ist, und dennoch unerschrocken für sie einzustehen, unterscheidet den zivilisierten Menschen vom Barbaren« 163. Das Problem besteht aber darin, sich unter diesen Umständen von einer Weltversion verzaubern zu lassen und gleichzeitig sich zu allen anderen tolerant zu verhalten. Insbesondere wenn es um die Frage geht, welches Bindemittel notwendig ist, um eine Gemeinschaft zusammenzuhalten (d. h. politische Institutionen und philosophische Grundlagen als kodependent 162 Adorno und Horkheimer glauben, der Liberalismus sei moralisch bankrott, weil er das egoistisch-rationalistische Individuum durch Rechte lediglich gegenüber dem Staat absichert; er entbehrt dadurch jedes sozialen Zusammenhalts (vgl. M. Horkheimer, Th. Adorno, Dialektik der Aufklärung, Frankfurt am Main 1971, insb. 42 ff.; sowie M. Horkheimer, Autoritärer Staat, in: Wirtschaft, Recht und Staat im Nationalsozialismus, hg. v. H. Dubiel u. A. Söllner, Frankfurt am Main 1981). 163 J. Schumpeter, zit. in: I. Berlin, Four Essays on Liberty, Oxford 1969, 172.
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zu sehen). Rorty folgt hier am ehesten Charles Taylor, weil er das Ich weniger als autonom, sondern vielmehr als gesellschaftlich konstituiert sieht. Hieraus ergibt sich ein Gesellschaftsmodell, das mehr auf Solidarität denn auf Autonomie setzt. Die Frage ist jedoch mit Sandel: »Und wenn Freiheit keinen moralisch privilegierten Status hat, wenn sie nur ein Wert unter vielen ist, was kann dann zugunsten des Liberalismus gesagt werden?« 164 Rorty versucht diesen Einwand aufzulösen, indem er zunächst fragt, auf welche Weise wir unerschrocken für etwas einstehen können. Eine Antwort hierauf fällt leicht, solange es sich um einen banalen Inhalt handelt, der ohnehin vor jedermann zu rechtfertigen ist. Schwierig wird es hingegen, wenn es sich um solche Themen handelt, über welche man in der Tat sehr unterschiedlicher Meinung sein kann. In solchen Fällen werden die Protagonisten auf ganz verschiedene Gründe zurückgreifen, um die eigene Position zu rechtfertigen. Das heißt, es geht darum, etwas zu rechtfertigen, indem man sich auf eine »höhere Instanz« – die Wahrheit, die Vernunft etc. – beruft. Natürlich sind Rechtfertigungen zunächst lediglich kohärent und möglichst intersubjektiv nachvollziehbare Darlegungen von Gründen. Die Frage ist, mit welcher Legitimität sich jemand auf einen solchen archimedischen Punkt außerhalb seines eigenen Subsystems aus Überzeugungen bezieht. Aus diesem Grund spricht Rorty nicht von der Relativität von Überzeugungen, sondern lediglich von der »Ethnozentrizität«, d. h., Überzeugungssysteme sind in sich abgeschlossen und begegnen anderen Überzeugungssystemen auf horizontaler, nicht auf vertikaler Ebene. Der so verstandene »zivilisierte Mensch« Schumpeters165 ist also von etwas überzeugt und kann sehr wohl Gründe hierfür hervorbringen. Er glaubt aber nicht, dass sein Glaubenssystem absolut sei. Das heißt, das gesamte Vokabular »absolut, Begründung, Argument, rational« soll durch die zeitliche Beziehung zwischen »alter und neuer, unangepasster und angepasster« Beschreibung ersetzt werden. Um diesen Schritt methodisch zu verstehen, hilft es, sich die Sprachphilosophie Wittgensteins in Erinnerung zu rufen. Sprache ist 164 M. Sandel, Introduction, in: ders. (Hg.), Liberalism and its Critics, New York 1984, 8, zit. nach Rorty, KIS, 88. 165 Vgl. Zitat auf der vorherigen Seite: »Die Einsicht, dass die Geltung der eigenen Überzeugungen nur relativ ist, und dennoch unerschrocken für sie einzustehen, unterscheidet den zivilisierten Menschen vom Barbaren.«
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eben nicht das Medium zum Auffinden von Wahrheit, sondern lediglich eine historische Kontingenz. Sprache und Denken stehen fernerhin in einer unauflösbaren Verbindung, d. h., es kann keine Beobachtungsposition zum Vergleich verschiedener Begriffsschemata eingenommen werden. 166 Anstatt also zu fragen: »Woher weiß man das?«, sollte man besser fragen »Warum sprichst Du so?« (vgl. KIS 95). Für Rorty ist die Sprache ein Werkzeug. Aber anders als ein Handwerker wissen wir oft nicht, zu welchem Zweck wir unser Werkzeug einsetzen. Vielmehr ist es das Privileg der Spätgeborenen, den Fortgang der Geschichte als Fortschritt zu deuten. »Wir können diese Pioniere als Werkzeugmacher statt als Entdecker betrachten, weil wir ein klares Verständnis des Produktes haben, das mit den Werkzeugen angefertigt wurde. Das Produkt sind wir, unser Bewusstsein, unsere Kultur, unsere Lebensform.« (KIS 102, vgl. auch SoO 100) Wenn sich demnach das Vokabular der Aufklärung langsam aus der Idee des politischen Liberalismus löst, dann tut es das auf dem Rücken und durch Anleihen an dieses alte Vokabular, welches heute nur mehr sein hegelianisches »Grau in Grau« malt. Der Entwurf eines neuen Vokabulars ist hingegen parasitär, weil es sich nur vor dem Hintergrund der Aufklärung hervorhebt. Erst auf dieser Grundlage wird Rortys zunächst banale Forderung verständlich, dass »alles erlaubt ist, sofern es um Worte im Gegensatz zu Werken, um Überzeugungskraft im Gegensatz zu Gewalt geht. […] eine Gesellschaft ist dann liberal, wenn sie sich damit zufrieden gibt, das wahr zu nennen, was sich als Ergebnis solcher Kämpfe herausstellt« (KIS 96). 167 Das bedeutet, dass der Liberalismus kein inhaltliches Ziel hat, sondern lediglich die äußeren, institutionellen Rahmenbedingungen für Freiheit und Zukünftigkeit schafft. Natürlich kommt auch Rorty nicht umhin, sich aufklärerischer bzw. normativer Ausdrücke wie »wir müssen« oder »wir können nicht« zu bedienen. Dennoch versucht er immer wieder darauf hinzuweisen, dass es sich dabei nicht um einen neutralen Standpunkt, sondern vielmehr um Empfehlungen 166 Hier kommt natürlich auch Rortys zweiter Lieblingsphilosoph zum Zug, indem er Heidegger mit dem Ausspruch zitiert »Die Sprache spricht den Menschen« und nicht der Mensch die Sprache (vgl. KIS 96). 167 In dieser Beschreibung gewinnt Rorty eine große Nähe zu Habermas, obgleich er freilich die Idee absoluter Geltungsansprüche ablehnt. Auf der Oberfläche könnte man hier in der Tat vermuten, dass sich Rorty und Habermas nur »philosophisch« nicht verstehen, politisch jedoch einer Meinung sind.
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handelt, um m. E. hilfreiche und neue Perspektiven auf alte Probleme zu gewinnen. Er möchte der gegenwärtigen liberalen Kultur zu ihrem ganz eigenen Vokabular verhelfen, welches ihren aktuellen Bedürfnissen entspricht und von den Rückständen der alten Bedürfnisse vergangener Tage gereinigt ist. Es geht ihm nicht um das Überzeugen oder Beweisen, sondern – um mit Oakeshott zu sprechen – »um das praktische Einüben der Begriffe, in denen man Denken, Entscheiden, Handeln und sich ausdrücken soll.« 168 c.
Therapie: die Trennung von privater Ironie und liberaler Hoffnung »Eine historistische, nominalistische Kultur, wie ich sie mir vorstelle, würde sich statt dessen auf Erzählungen einstellen, die unsere Gegenwart einerseits mit Vergangenheit, andererseits mit zukünftigen Utopien verbinden.« (KIS 17)
Rortys utopische Gesellschaft der Zukunft ist eine Kultur ohne Zentrum. Weder Religion, Wissenschaft, Philosophie noch Kunst geben ein Metavokabular vor, sondern vielmehr handelt es sich um ein Netzwerk von möglichen Verbindungen, die sich immer wieder neu knüpfen und seitlich zu erweitern vermögen. Ebenso kann sich der Schwerpunkt verändern. Die Frage, ob etwas als Philosophie oder Kunst zu gelten habe, ist unnötig. »Eine solche Kultur würde ihr wichtigstes Ziel nicht in der Wahrheit, sondern in der Freiheit erblicken, wobei Freiheit in etwa das gleiche bedeutete wie die Bedingungen, unter denen sich kulturelle Entwicklungen so rasch ausbreiten, wie es mit der gemeinschaftlichen Solidarität und der staatsbürgerlichen Ordnung zu vereinbaren ist.« (KoZ 11) Diese Schnittstelle zwischen persönlicher Freiheit und gemeinschaftlicher Solidarität möchte Rorty nicht mehr durch ein »philosophisches Bindemittel« kitten, sondern ihre Inkommensurabilität anerkennen. An die Stelle des Philosophen tritt die postmoderne Figur der liberalen Ironikerin, welche die Kontingenz von Sprache, Selbst und Gesellschaft akzeptiert hat und die Dezentrierung der Kultur bejaht. »Das Vokabular der Selbsterschaffung ist zwangsläufig privat, wird von niemandem geteilt, ist ungeeignet zur Argumentation. Das Voka168
M. Oakeshott, Of Human Conduct, Oxford 1975, 78 f.
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bular der Gerechtigkeit ist zwangsläufig öffentlich, wird von vielen geteilt, ist Medium für den Austausch von Argumenten.« (KIS 13) Ziel des folgenden Kapitels ist es, die Bereiche von Öffentlichkeit und Privatheit nachzuzeichnen und zu fragen, welche Möglichkeiten und Grenzen sich daraus für das politische Handeln ergeben. Dies bildet schließlich den Hintergrund, vor welchem sich Mitgefühl als notwendige Konsequenz herausschält. Das Janusgesicht der liberalen Ironikerin Die liberale Ironikerin anerkennt die Kontingenz von Sprache, Selbst und Gesellschaft und nimmt die daraus hervorgehende Verantwortung an. Im privaten Bereich ist sie ganz Ironikerin, d. h., sie kann sich selbst nie wirklich ernst nehmen. Weil es ihre größte Angst ist, in einem Sprachspiel stecken zu bleiben, strebt sie nach der unermüdlichen Expansion ihres Vokabulars. Als bestes Mittel hierfür hat sie das Lesen von Büchern erkannt: Dabei ist für sie die Disziplin weniger interessant als vielmehr, welche verschiedenen Traditionen sich über die Jahrhunderte herausgebildet haben. Sie ist Nominalistin und Historistin, weil sie in einem steten Dialog mit der Geschichte steht. Dabei hinterfragt sie in hermeneutischer Manier, inwiefern diese Beschreibungen aus der Geschichte uns bei der Lösung aktueller Probleme helfen können bzw. verdeckte Neubeschreibungen enthalten. Auch das Lesen von Literaturkritik 169 dient der Expansion des Vokabulars. Dabei haben natürlich auch Kritiker keinen privilegierten Zugang zu einer moralischen Wahrheit. Der Wert liegt vielmehr darin, dass sie »geistig viel herumgekommen sind«. Durch das Lesen vieler Bücher geht man sicher, sich nicht von dem Vokabular eines einzigen Buches gefangen nehmen zu lassen. Auf der Ebene der Öffentlichkeit kann Schumpeters Äußerung, die »Einsicht, dass die Geltung der eigenen Überzeugungen nur relativ ist, und dennoch unerschrocken für sie einzustehen, unterscheidet den zivilisierten Menschen vom Barbaren« 170, als paradigmatisch für die Figur der liberalen Ironikerin gelten. Sie verhält sich einerseits skeptisch gegenüber jedem abschließenden Vokabular, weil sie weiß, dass keine philosophische Überlegung einen privilegierten Zugang zu einer 169 Unter Literatur versteht Rorty alle Bücher, die als Kandidaten für abschließende Vokabulare in Frage kommen (vgl. KIS 140). 170 Vgl. 2.3.2b zur Kontingenz der Gesellschaft.
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Macht außerhalb hat. Andererseits ist für sie Grausamkeit und Demütigung das Schlimmste, was in einer Gesellschaft passieren kann. Aus diesem Grund setzt sie sich unermüdlich für die Verringerung von Leid ein, obwohl sie kein absolutes Argument dafür vorbringen kann. Das heißt, sie ist ganz Pragmatikerin: Sie weiß um die Kontingenz von Sprache, Selbst und Gesellschaft und sieht zu, was sie selbst konkret zur Verringerung von Leid tun kann. »Ich habe, wie gesagt, den Eindruck, dass der Pragmatismus keine Philosophie der Verzweiflung ist, sondern eine Philosophie der Solidarität. Die sokratische Abwendung von den Göttern, die christliche Abkehr vom allmächtigen Schöpfer bei gleichzeitiger Hinwendung zu dem leidenden Menschen am Kreuz, Bacons Abwendung von der Wissenschaft als Schau ewiger Wahrheiten und seine Hinwendung zur Wissenschaft als Werkzeug gesellschaftlichen Fortschritts lassen sich […] als Vorstufen eines solchen sozialen Glaubensakts sehen.« (SO 31) Der »soziale Leim« besteht für Rorty auf der Ebene des Privaten in dem Konsens, dass jedem eine Chance zur maximalen Selbstverwirklichung, durch die Erweiterung des Vokabulars gegeben wird (vgl. KIS 145). Auf der Ebene der Öffentlichkeit ist es die Solidarität mit der »kreatürlichen Seite« des Menschen. 171 Konkret gesprochen wird damit nichts anderes vorgeschlagen als bei einer jeden Verwirklichung einer Idee zu fragen, ob dadurch die Fähigkeit anderer beeinträchtigt würde, etwas für die »eigene Erlösung« zu tun. 172 In diesen Kontext hat die Politik Vorrang vor der Philosophie, d. h., der freie Meinungsaustausch und der liberale politische Pluralismus gehen dem privaten philosophischen Universalismusstreben voraus. 173 171 Selbstverständlich bleibt auch hier wieder der kommunitaristische Einwand, ob diese Art von »sozialem Leim« tatsächlich »dickflüssig« genug ist oder ob die innere Spaltung der liberalen Ironikerin nicht ebenso in die gesellschaftliche Vereinzelung führt, in welcher jeder nur nach der eigenen Vervollkommnung strebt. Rorty versucht diesem Argument mit Hilfe der Idee des Mitgefühls beizukommen. 172 An dieser Stelle kann man Rorty natürlich Willkür vorwerfen: Wenn Schumpeter sagt, der Kultivierte trete unerschrocken für etwas ein, auch wenn klar ist, dass man sich nicht auf eine universelle Wahrheit berufen kann, dann ist das m. E. weniger willkürlich als vielmehr aufrichtig (vgl. SoO 110). Das einzige philosophische Argument, das Rorty für diese Trennung von privater und öffentlicher Meinung wirklich hervorbringen kann, ist, dass eine solche Haltung am besten zur liberalen Gesellschaftsform passt (vgl. ebd.). 173 Die Philosophie im Sinne der Erfindung von Menschenrechten o. Ä. steht im Dienste der demokratischen Politik und hat den Zweck zur Herstellung des Reflexionsgleichge-
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Konflikte sind Teil dieser Einigungs- und Auseinandersetzungsprozesse. Aber es wäre kontraproduktiv, solche Konflikte durch ein Metavokabular unterdrücken zu wollen. Denn es gibt eben nichts anderes als komplexe und mehr oder weniger konsistente Netze an Überzeugungen. Das einzige, was wir deshalb anstreben können, ist ein reflexives Gleichgewicht, nicht jedoch einen Gleichklang aller solcher Netze. Die liberale Ironikerin zeichnet sich nun dadurch aus, sich mit den Spannungen solcher Kontingenzen und der damit einhergehenden Verantwortung zu identifizieren, d. h., sie hat ein Gesicht der privaten Vervollkommnung und das andere der öffentlichen Solidarität zugewandt. Utopischer Pragmatismus: für eine Philosophie der Zukünftigkeit Das Interessante an der Figur der liberalen Ironikerin ist, dass sie das Machbare mit dem Poetisch-Träumerischen verknüpft. Das Machbare bedeutet hier mitnichten Einengung oder Resignation, sondern, und in Verbindung mit der Idee der Kontingenz und einer Philosophie der Zukünftigkeit, die Ermöglichung des Utopischen. 174 »The willingness to see philosophy as an aid to creating ourselves rather than to knowing ourselves is another.« (PSH 69) Aus diesem Grund bleibt der Begriff der Utopie bei Rorty vollkommen antitotalitär, weil er von allen Restbeständen des Endgültigen oder Ewigen befreit ist. »[D]ie Verwirklichung von Utopien und die Vorstellung noch fernerer Utopien als einen unendlichen Prozess auffassen – als unendliche, immer weiter ausgreifende Verwirklichung von Freiheit, nicht als Konvergieren gegen eine schon existierende Wahrheit.« (KIS 17) Ein solcher Paradigmenwechsel von der Ewigkeit zur Unterscheidung zwischen Gegenwart und Zukunft führt zu einer perspektivischen Verschiebung sowohl auf intellektueller als auch auf moralischer Ebene: »We see imagination as the cutting edge of cultural evolution, the power which […] constantly operates so as to make the human future richer than the human past. Imagination is the source both of new scientific pictures of the physical universe and of new conceptions of possible communities. wichts. »So verstanden ist Philosophie eine von verschiedenen Techniken, unser Vokabular moralischer Überlegungen neu zu weben, damit es neue Überzeugungen aufnehmen kann.« (KIS 317) 174 Diesen Gedanken arbeitet Rorty insbesondere in seiner späteren Artikelsammlung in Philosophy and Social Hope aus.
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It is […] the ability to redescribe the familiar in unfamiliar terms« (PSH 87). Auf gesellschaftlicher Ebene schlägt Rorty vor, die Hoffnung auf ein Paradies (also die Ewigkeit) durch die Hoffnung auf eine bessere Zukunft für die Enkel zu ersetzen. 175 Er geht davon aus, dass Gesellschaften nicht so sehr durch einen metaphysisch-philosophischen Glauben zusammengehalten werden, sondern durch eine gemeinsame Hoffnung. »[U]m an sozialen Hoffnungen festzuhalten, müssen die Mitglieder einer solchen Gesellschaft selbst eine Geschichte erzählen können, die davon handelt, wie alles besser werden kann.« (KIS 148) 176 Die Helden einer solchen Gesellschaft sind deshalb der »strong poet« bzw. der utopische Denker, weil sie durch Überzeugung (statt Gewalt) und in offenen Begegnungen ihre Vorschläge einbringen. In diesem Sinne spricht Rorty auch von einer Poetisierung der Kultur, welche das Streben nach Wissen durch Hoffnung und Phantasie zu ersetzen vermag: »This element of romantic love, this willingness to substitute imagination for certainty, and curiosity for pride, breaks down the Greek distinction between contemplation and action« (PSH 88). Rorty versucht auf diese Weise den Ansprüchen einer multikulturellen Gesellschaft gerecht zu werden, weil er nicht von vorneherein ein Sprachspiel vorgibt, sondern ethnozentrische Differenzen zuallererst eingesteht. Er »empfiehlt« über die ethnozentrischen Grenzen hinweg in einen Dialog mit anderen Vokabularen zu treten, um auf diese Weise eine gemeinsame Diskussionsgrundlage und Einigung zu suchen. Differenzen sieht er als wertvoll, weil sie auf der Ebene des Selbst zur Erweiterung des eigenen Vokabulars beitragen. Auf der Ebene der Gesellschaft bringen sie unvorhergesehene Neubeschreibungen hervor. Es kann jedoch sein, dass keine Gemeinsamkeiten gefunden werden. Deshalb sind »Selbsterschaffung und Solidarität in Rortys Sicht zwei inkommensurable Ziele, die sich nicht in eine gemeinsame Sprache übersetzen lassen.« 177 Da es bei intra- und interkulturellen Annäherungen nicht darum geht, die Irrationalität des Anderen unter Beweis zu stellen, sondern darum, sich dem Andern anzunähern, hält Rorty die DichHiermit bezieht sich Rorty natürlich auf einen Gedanken bei Hans Blumenberg. Natürlich bleibt die Frage, inwiefern sich private Ironie mit öffentlicher Solidarität verträgt. Ich kann an dieser Stelle nur die grobe Linie der Argumentation nachzeichnen (vgl. die Argumentationsline KIS 151 ff.). 177 W. Reese-Schäfer, Richard Rorty, a. a. O., 100. 175 176
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ter für hilfreicher als die epistemologischen Philosophen. Damit wird die traditionelle Aufgabenverteilung zwischen Philosophie und Literatur umgedreht: Der Metaphysiker assoziiert die Theorie mit sozialer Hoffnung und Literatur mit privater Vervollkommnung. Rorty hingegen legt die Kultivierung sozialer Solidarität in die Hände von Literatur und Poesie, weil nur so Menschen für die Schmerzen derer sensibilisiert werden, welche nicht unsere Sprache sprechen. Philosophie, Naturwissenschaften, Theologie hingegen dienen der privaten Erweiterung von abschließenden Vokabularen. Sie bieten jedoch nichts für die Erweiterung der Solidarität. In dieser poetisierten Kultur wird Solidarität deshalb nicht in philosophischen Grundlagen gefunden, sondern durch Einbildungskraft geschaffen (vgl. ebd.). 178 Von der Sprache zur Körperlichkeit: über Solidarität und Empfindungsfähigkeit Rortys »Vorzeige-Metaphysiker« glaubt, dass wir ein gemeinsames Ur-Vokabular benötigen, damit wir das private Streben nach Vervollkommnung mit der öffentlichen Solidarität verbinden können. Rorty kritisiert den Versuch, die Solidarität auf intellektuelle Übereinstimmung zu begrenzen, sondern weitet sie auf das Empfindungsvermögen aus. »Die liberale Ironikerin möchte nur, dass unsere Chancen, freundlich zu sein und die Demütigung anderer zu vermeiden, durch Neubeschreibungen erhöht werden.« (KIS 156) Im Gegensatz zum Metaphysiker, der danach fragt, warum man sich gerecht, solidarisch, freundlich verhalten soll, fragt die liberale Ironikerin lediglich danach, was demütigt bzw. verletzt. Diese Entscheidung Rortys ist markant, weil er hier zum ersten Mal von der Idee des Vokabulars, welches bisher im Mittelpunkt seines Denkens stand, zurücktritt. An seine Stelle tritt die vor-sprachliche und körperliche Fähigkeit des Schmerzempfindens, d. h. nicht das Vokabular oder das Wort, sondern die Empfindungsfähigkeit und Verletzlichkeit des Körpers wird zum öffentlichkeitsstiftenden Sozialleim. Hierzu gehört auch die Liebe und Sorge für die Familie und Verwandten, d. h. jenes Gefühl, welches uns über alle sonstigen Unterschiede hinweg mit allen anderen fühlenden Lebewesen verbindet. 179 Diese Wendung wird bereits in der Einleitung des Linguistic Turn (vgl. 2.2.1a) angedeutet. 179 Anders als beim »Vorzeige-Metaphysiker« ist es für Rorty nicht Macht oder Besitz, 178
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Mitgefühl als transkulturelle Solidarität
Darüber hinaus gibt es einen Schmerz, der spezifisch menschlich ist: die Demütigung. Der Unterschied zwischen der ersten Art des Schmerzes und der Demütigung ist – und Rorty übergeht diesen Unterschied –, dass sich körperliche Schmerzen nicht wesentlich von Mensch zu Mensch, oder auch Tier, unterscheiden: Zahnschmerzen werden einem Schwarzen ebenso zusetzen wie einem Weißen, einem Chinesen oder einem Pferd, auch wenn sich der subjektive Grad des Schmerzempfindens unterscheiden mag. Der Unterschied zur Demütigung besteht jedoch darin, dass sich dabei nicht genau vorhersagen lässt, was in anderen Kulturen als demütigend empfunden wird. Dieser Unterschied macht verständlich, warum in Rortys »solidarischem Staat« das Lesen von Büchern, Hören von Geschichten und die Begegnung zwischen Kulturen zum gesellschaftlichen »Pflichtprogramm« wird: Nur auf diese Weise wird die Resonanzfähigkeit für Ungerechtigkeit, Demütigungen und Grausamkeiten aller Art kultiviert. Weil nun Menschen durch Worte gedemütigt werden können, die Ironikerin aber kein abschließendes Vokabular wirklich ernst nehmen kann, muss sie zwischen privater und öffentlicher Neubeschreibung unterscheiden. Denn zu meinen privaten Zwecken kann ich mit allen möglichen Beschreibungen der Welt spielen. Auf der öffentlichen Ebene kann dies zu ernsten Demütigungen anderer führen. Das Lesen von Büchern, insbesondere von Romanen, ist daher nicht nur für die Extension des eigenen abschließenden Vokabulars und damit zur eigenen Bildung notwendig, sondern »um wirkliche und mögliche Demütigungen der Menschen zu verstehen, die diese alternativen Vokabulare benutzen« (KIS 157). Natürlich liefert uns das Bücherlesen keinen Grund, uns um das Leiden anderer zu kümmern. Das Ziel ist vielmehr, sicherzugehen, dass man merkt, wenn jemand leidet. Diese Sorge um das Vermeiden von Grausamkeit führt Rorty nun zu seiner entscheidenden Wendung: nämlich von der Vernunft zum phantasievollen Mitgefühl. »Für die liberale Ironikerin leistet phantasievolles Einfühlungsvermögen die Arbeit, die der liberale Metaphysiker lieber von einer spezifisch moralischen Motivation – Rationalität oder Liebe zu Gott oder Liebe zur Wahrheit – getan wüsste.« (KIS 158 f.) Diese Umdeutung resultiert in einem veränderten Solidaritätsverständnis, i. d. R. empfinden wir Solidarität, wenn wir im Anderen ein was uns verbindet, sondern vielmehr eine gemeinsame Gefahr: Wir alle sind verletzliche Tiere.
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Richard Rorty: die Bedeutung des Mitgefühls
spezifisch »menschliches« Charakteristikum entdecken. 180 Rorty geht es jedoch nicht um ein rationales Wiedererkennen, sondern um die Einfühlung in die Einzelheiten des Lebens eines anderen. Solidarität ist deshalb allein abhängig von unserem eigenen Vermögen und der Bereitschaft, Mitgefühl für einen Fremden zu empfinden. Wenn wir diese Möglichkeit ablehnen, dann bricht das solidarische Band zwischen Menschen. Solidarität wird deshalb auch ›geschaffen‹ und nicht durch anthropologische Thesen ›gefunden‹. In diesem Sinne ist sie weder »wirklich« noch »unwirklich«, sondern bedeutet lediglich das Haben bzw. Nicht-Haben von Mitgefühl. Natürlich ist Mitgefühl abhängig von der Idee, dass wir eine bestimmte Gruppe von Menschen als »zu uns gehörig« sehen. Das solidarische Band in einer solchen Gruppe besteht aus der Idee der Ähnlichkeit und Gemeinsamkeit. Aus diesem Grund ist es notwendig, dass wir versuchen, immer mehr Personen als »zu uns gehörig« als »Wir« zu sehen. 181 Es soll jedoch weniger um ein Wiedererkennen eines KernSelbst im Anderen gehen, sondern um die Fähigkeit, traditionelle Unterschiede wie Religion oder Rasse als weniger wichtig zu empfinden und dafür die Ähnlichkeiten (z. B. dass wir alle Eltern haben, Schmerz und Demütigung empfinden etc.) hervorzuheben. 182 Diese Erweiterung des Wir kann damit beginnen, dass die Bewohner des Nachbardorfs im Kampf gegen eine Plage zu Verbündeten werden, dann die Menschen am nächsten Flussufer und so weiter. Dieser Versuch ist insofern problematisch, weil das Pronomen »Wir« zur Abgrenzung immer auch ein »Ihr« bedingt. Daher möchte Rorty solche Unterscheidungen am liebsten abmildern oder vermeiden. 183 Selbstverständlich wird es immer Interferenzen zwischen privaten Hoffnungen und dem öffentlichen Leben geben. Schon allein deshalb, weil wir verschiedenen Systemen und Gemeinschaften angehören, Beispielsweise Vernunft, Empfindungsfähigkeit etc. Rorty greift den Begriff des »Wir« bei Sellars’ Theorie der Schuldigkeit auf (vgl. KIS 309). 182 »Pragmatists suggest that we simply give up the philosophical search for commonality. They think that moral progress might be accelerated if we focused instead on our ability to make the particular little things that divide us seem unimportant – not by comparing them with the one big thing that unites us but by comparing them with other little things.« (PSH 86) 183 Zu solchen Unterscheidungen gehören z. B. vernünftige und unvernünftige Wesen. Ziel solcher Unterscheidungen ist es, festzulegen, wo Pflicht aufhört und Neigung beginnt (oder im Vokabular Sellars’ – Schuldigkeit und Benevolenz, vgl. KIS 309). 180 181
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Mitgefühl als transkulturelle Solidarität
welche uns mit moralischen Dilemmata konfrontieren. 184 Aber das einzige, was wir wirklich tun können, ist, unser destruktives Streben zu privatisieren und auf diese Weise mit umfassender Solidarität verträglich zu machen. Konkret bedeutet dies, das Verhindern von Grausamkeit und Schmerz über das Erhabene zu stellen, die Demokratie über die Philosophie.
Natürlich gibt es keine nicht-zirkuläre Weise, eine solche liberale Behauptung zu verteidigen. »Wir können nicht zurückblicken hinter die Sozialisierungsprozesse, die uns Liberale des zwanzigsten Jahrhunderts davon überzeugt haben, dass diese Behauptung richtig ist.« (KIS 319) 185 Aber es ermöglicht uns, zwei wesentliche Fragen voneinander zu trennen, nämlich die private Frage »Glaubst und wünscht du, was ich glaube und wünsche?« und die Frage »Leidest du?«. Die erste fragt nach dem Sinn des Lebens und prüft, ob wir dasselbe Vokabular benutzen. Die zweite fragt nach den Schmerzen des anderen. Durch diese Unterscheidung ist es möglich beides zu sein: Liberaler und Ironiker (vgl. KIS 320). 184 Ein solches Dilemma ist z. B.: Soll ich meinen Kindern weniger zu Essen geben, weil vor meiner Türe ein Mitbürger hungert? 185 Das heißt, Rorty unterscheidet klar zwischen Solidarität als Identifikation mit der Menschheit als solcher und Solidarität als immerwährendem Selbstzweifel – »als Zweifel an der eigenen Sensibilität für die Schmerzen und Demütigungen anderer« (KIS 320).
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Richard Rorty: die Bedeutung des Mitgefühls
2.3.3 Wider die Gleichgültigkeit: von der Philosophie als »cultural politics« (kulturelle Praxis) zur Schule der Empfindsamkeit a.
Konfliktlinien
Loyalität gilt zumeist nur für kleine Gruppen und gründet auf einer präreflexiv-emotionalen Verbundenheit, Gerechtigkeit hingegen erstreckt sich auf alle rationalen Wesen und geht zurück auf vernünftige Einsicht. Aus diesem Grund wird traditionell versucht, die Lücke zwischen Wahrheit und Rechtfertigung durch eine transkulturelle Form der Vernunft zu schließen. 186 Anschließend an Rortys Erkenntniskritik in Kapitel 2.2 und der daraus abgeleiteten Verabschiedung des Wahrheitsbegriffs, soll nicht mehr zwischen Vernunft und kulturell variierenden Rechtfertigungsverfahren unterschieden werden (vgl. SO 15). Es geht nicht um Gerechtigkeit versus Loyalität, sondern einzig um Loyalitäten zwischen kleineren und größeren Gruppen. Damit wird suggeriert, dass der Gebrauch eines Vokabulars, welches Begriffe wie Objektivität, Vernunft und Wahrheit einschließt, überflüssig und durch den Begriff der Solidarität ersetzt werden kann. »Wenn man die Problematik nicht in erkenntnistheoretischer oder metaphilosophischer, sondern derart in moralischer und politischer Terminologie formuliert, wird meines Erachtens klarer, worum es eigentlich geht. Denn jetzt bezieht sich die Frage nicht mehr auf die Definitionsweise von Wörtern wie Wahrheit, Vernunft, Erkenntnis oder Philosophie, sondern darauf, wie die Selbstdarstellung unserer Gesellschaft aussehen sollte.« (SO 24) Die Frage ist jedoch, ob eine mitgefühlsgeleitete Solidarität, wie sie in Kapitel 2.3 als Fundament des öffentlichen Raumes vorgeschlagen wurde, tatsächlich den Platz der Vernunft einzunehmen vermag. Eine daran anschließende Frage ist, inwiefern eine transkulturell verstandene Vernunft als Fundament interkultureller Verstehensprozesse dienen kann. Ähnlich wie Putnam sieht Rorty Vernunft nicht als die Anwendung von Kriterien, sondern als »unaufhörliches Neuweben eines Glaubensnetzes« (SO 20). Das heißt, wir können nicht anders als uns ethnozentrisch zu verhalten, wenn wir auf andere Kulturen treffen, weil wir zunächst von unseren eigenen Überzeugungen und unse186 Von ihnen wird Rorty oftmals als Relativist bezeichnet. Rorty selbst bevorzugt jedoch den Ausdruck des Ethnozentristen bzw. des Antiessentialisten. Vgl. zu Rortys Auseinandersetzung mit dem Begriff und Vorwurf des Relativismus in PSH XVIff.
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Mitgefühl als transkulturelle Solidarität
rem Lebenswelthintergrund ausgehen müssen. Überzeugungen anderer Kulturen werden erst auf dieser Grundlage überprüft. Es wird auf diese Weise versucht, beide Glaubensnetze miteinander zu verweben. Das heißt, verschiedene Kulturen können nicht im Sinne von alternativen Geometrien gedeutet werden. Denn Geometrien besitzen unterschiedliche axiomatische Strukturen, welche unter keinen Umständen in Einklang gebracht werden können (vgl. SO 20). Deshalb wird das Bild axiomatischer Strukturen verabschiedet und durch institutionalisierte Normen ersetzt, die sich im Kontext von Machtstrukturen entwickeln. »Betreffende institutionelle Stützen nehmen nicht die Form von ›Sprachregeln‹ oder ›Rationalitätskriterien‹ an, sondern haben die Gestalt von Beamten und Polizisten.« (SO 21) In diesem Kontext spielt die Unterscheidung Davidsons und Quines zwischen dem Begrifflichen und dem Empirischen eine große Rolle. Die Verständigungsschwierigkeiten innerhalb einer Kultur einerseits und zwischen den Kulturen andererseits sind nicht von einer anderen Art, sondern nur graduell unterschiedlich. In beiden Fällen lautet nämlich die Frage: Warum stimmt der Andere nicht mit mir überein? Verstehen bedeutet, dass wir unser Netz an Überzeugungen so erweitern, dass die Meinungsverschiedenheiten der Anderen darin integriert werden können. Für eine solche Erweiterung sieht Rorty Mitgefühl und Phantasie als geeignetere Helfer als die Vernunft. 187 Um die Schwierigkeit eines universalistischen Vernunftbegriffs (insb. auf Ebene der Moralphilosophie) zu verdeutlichen, wird auf die traditionelle Unterscheidung zwischen Gerechtigkeit und Loyalität bzw. moralischer Verpflichtung und gefühlsmäßiger Loyalität zurückgegriffen. Insbesondere geht es dabei um die Frage, ob Gerechtigkeit und Loyalität aus zwei verschiedenen Quellen hervorgehen, resp. Vernunft und Gefühl, oder ob es sich dabei nur um die Unterscheidung zwischen weiteren und engeren Kreisen der Loyalität handelt. 188 Um Rortys Paradigmenwechsel von der Vernunft zum Mitgefühl genau nachzuvollziehen, ist es wichtig, beide Begriffe genau zu explizieren. Denn auch hier verwendet Rorty seine inzwischen bekannte Methode: Zunächst wird das alte Vokabular auf eine Weise verwendet, die es schlecht aussehen lässt bzw. überflüssig macht. Vor diesem Hin187 Phantasie und Mitgefühl sind im Wortschatz Rortys expandierende und offene Begriffe, wohingegen Rationalität einengend und reduzierend wirkt. 188 Vgl. hierzu PCP 42–56.
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Richard Rorty: die Bedeutung des Mitgefühls
tergrund führt er schließlich sein neues Vokabular ein, welches sich parasitär gegenüber dem alten verhält. Daraus ergibt sich, dass beinah jeder Begriff zwei Bedeutungen erhält: Eine Bedeutung innerhalb des alten Vokabulars, das jedoch auf eine unvorteilhafte Weise gebraucht wird, und eine weitere Bedeutung innerhalb des neuen Vokabulars. b.
Kritik: Kernprobleme der Vernunft
Bedeutungsfelder der Vernunft In der Auseinandersetzung mit kultureller Pluralität unterscheidet Rorty zwischen drei Verwendungen des Begriffs Vernunft: 1. Die erste Verwendung des Begriffs Vernunft bedeutet die Fähigkeit, optimal mit Anforderungen der Umwelt zurechtzukommen. Die Komplexität dieser Fähigkeit (in Form von Lösungsvorschläge, Techniken oder Ideen) zeigt den Rationalitätsgrad an. In diesem Sinne kann hier von einer »technischen Vernunft« oder auch »Überlebenstüchtigkeit« gesprochen werden. Rorty nennt dieses Verständnis »neutral«, insofern es nicht angibt, welcher Kultur oder Spezies man am besten angehören sollte (vgl. WuF 269). 2. Die zweite Verwendung sieht in der Vernunft eine Fähigkeit, die nur Menschen und nicht den Tieren zukommt. Sie vermag eine Hierarchie der Werte zu begründen, um damit der Anpassung der Mittel an die Zwecke zu entkommen (vgl. WuF 269). 3. Die dritte Verwendung sieht Vernunft als eine Art erweiterte Toleranz. Das heißt, rationale Wesen sehen sich durch die Abweichungen im Verhalten anderer nicht allzu sehr gestört oder negativ beeinträchtigt. Diese innere Stabilität führt dazu, ungewohnte Einflüsse als Chance zur Erweiterung und Umgestaltung unserer eigenen Persönlichkeit zu sehen. Eine solche Toleranz gegenüber Fremdheit ermöglicht es, Unstimmigkeiten durch Überredung und nicht durch Gewalt auszutragen. »Diese Fähigkeit ist eine Tugend, die es Individuen und Gemeinschaften ermöglicht, in friedlicher Koexistenz mit anderen Individuen und Gemeinschaften zusammenzuleben.« (WuR 270) 189 189 Man sieht hier eine gewisse Nähe zur liberalen Ironikerin, die bereits durch die Spaltung in privates Vokabular und öffentliche Solidarität daran gewöhnt ist, Disharmonien auszuhalten und sogar in solchen Situationen des Aufeinandertreffens inkommensurabler privater Vokabulare dennoch für den Anderen als Lebewesen zu empfinden.
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Das Hauptproblem sieht Rorty darin, dass die verschiedenen Rationalitätsbegriffe miteinander vermengt werden und zu inkonsistenten Argumentationsschlüssen führen. 190 Ein Beispiel hierfür ist der Gedanke, dass »der Ort, von dem der größte Teil der Technik herkommt – nämlich der Westen –, zugleich der Ort sei, wo man seine moralischen Idealvorstellungen und seine sozialen Tugenden hernehmen sollte« (WuF 271). 191 Die Frage ist, welche Bedeutung Vernunft im Kontext der sozialen Integration von Unterschieden und der Kultivierung interkulturellen Verstehens annimmt. In der Regel wird die Vernunft im Sinne der zweiten Definition instrumentalisiert: Durch die Argumentation, dass ein bestimmter Wert »rationaler«, der Natur des Menschen besser entspreche und folglich näher an der Wahrheit sei, wird dem eigenen »Werteranking« eine gewisse Autorität verliehen. Der Unterschied zwischen dem Westen und religiösen Gemeinschaften besteht dann einzig darin, dass der Westen hierfür das Konzept der Vernunft oder Wahrheit heranzieht, religiöse Gemeinschaften dagegen Gott. »To use the word rational to commend one’s chosen solution to such dilemmas, or to use the term yielding to the force of the better argument, to characterize one’s way of making up one’s mind is to pay oneself an empty compliment.« (PCP 54) Die Suche nach einem »besseren Argument« macht für Rorty keinen Sinn, weil sie ein transkulturelles Ranking voraussetzt, das »objektiv« gefunden werden kann. Das Fehlen einer universalen Abfolge engt unsere Beurteilungskompetenz auf das simple Kriterium ein, welches Ranking eine maximale Übereinstimmung erzielt. Dieses Unvermögen, ein absolutes Ranking auszumachen, reduziert die Bedeutung der Vernunft 2 (Ranking von Werten) auf das Bestreben, die eigenen Überzeugungen und Wünsche mög190 Beispiel einer Argumentation: Menschen, die komplexe technische Hilfsmittel zum Überleben besitzen, haben gleichzeitig die richtige Hierarchie an Wünschen. Sie verhalten sich tolerant zu anderen, weil sie verstehen, warum die anderen zu alternativen Wunschlisten gekommen sind. 191 In der Darstellung springt Rorty von einer Definition der Rationalität zu einer anderen und es scheint fast so, als würde Rorty verzweifelt versuchen, den Begriff der Rationalität »abzuschütteln«. Er wechselt immer wieder seine Bedeutung bis der Begriff innerhalb Rortys eigener Terminologie vollständig an Bedeutung verliert und auch durch andere Begriffe ersetzt werden könnte. Dies kann als Schwäche oder auch als Manipulation abgetan werden. Ich vermute dahinter jedoch einzig die Schwierigkeit und den Kampf Rortys vor dem Hintergrund eines alten Vokabulars ein neues entstehen zu lassen.
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lichst intersubjektiv nachvollziehbar und kohärent darzustellen. Für Rorty, der sich selbst als »Anhänger« des quineschen Holismus beschreibt, ist Vernunft ohnehin ein soziales Phänomen und nicht etwas, das jemand alleine für sich zu entwickeln vermag (vgl. PCP 176). Sie erweist sich als nützlich für die intersubjektive Einigung innerhalb eines gemeinsamen Projekts (vgl. PCP 189). 192 Damit wird der Unterschied zwischen Rechtfertigung und Vernunft obsolet. Vernunft kann kein Kriterium für Wahrheit sein oder im Sinne einer »objektiven Rechtfertigung« als Fundament für interkulturelle Verständigung fungieren. 193 Anreize für »gutes« Benehmen: Vertrauen oder Verpflichtung? Im Anschluss an die Moralphilosophin Baier möchte Rorty den vernunftbeladenen Begriff der »moralischen Pflicht« durch die Idee des »angemessenen Vertrauens« ersetzen. Dieser Schritt ist von hier aus kein großer. Denn der Rationalitätsbegriff Rortys, welcher von allen metaphysischen Restbeständen befreit ist, hat ohnehin seine eigentliche Funktion eingebüßt: »there is no room for moral theory as something which is more philosophical and less committed than moral deliberation, and which is not simply an account of our customs and styles of justification, criticism, project, revolt, conversion, and resolution.« 194 Für Baier und für Rorty hat deshalb moralische Pflicht im Sinne eines Werterankings keine andere Quelle als Tradition und Gewohnheit. Aus diesem Grund können wir uns bei einander entgegengesetzten Loyalitätsgefühlen nicht von der konkreten Situation abwenden und auf etwas kategorisch Verschiedenes – wie z. B. universale moralische Verpflichtungen oder Gerechtigkeit – zurückgreifen. »We have to substitute the Hegelian-Marxist idea that the so-called moral law is, at best, a handy abbreviation for a concrete web of social practices.« (PCP 47) Der endgültige Abschied: Bedeutungsverlust des Begriffs »Vernunft« Damit gibt Rorty den Anspruch des Westens auf objektive (transkulturelle, ahistorische) Überlegenheit auf. Dennoch möchte er sowohl an 192 Mit diesem Rationalitätsbegriff bezieht sich Rorty auf D. Davidson, Paradoxis on irrationality, in: R. Wollheim u. J. Hopkins (Hg.), Philosophical Essays on Freud, Cambridge 1982, 305, auch zit. in KIS 92. 193 Dieses Argument ergibt sich aus der Erkenntniskritik, welche in 2.3.1b dargestellt wurde. 194 Annette Baier, Postures of the Mind, Minneapolis 1985, 232, auch zit. in PSH 76.
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der Vernunft 1 (optimale Angepasstheit und technische Raffinesse) als auch an Vernunft 3 (Toleranz) festhalten. Denn beide – technische Raffinesse als Problembewältigung und Toleranz als Friedenssicherung – sind Zwecke, die im Sinne des Pragmatismus wünschenswert sind. 195 Da Vernunft 1 viel offensichtlicher ist als die eher ungewöhnliche Bedeutung von Vernunft 3, werde ich mich im Folgenden nur auf die Begründung der letzteren konzentrieren. Vernunft 3 ist für Rorty die Voraussetzung für eine gewaltfreie Einigung zwischen Individuen oder Gruppen. 196 Die Toleranz von Fremdheit reduziert das Gefühl der Bedrohung durch Fremdheit. Dadurch wird ein Konsens wahrscheinlicher, weil die Kommunikation nicht auf Assimilation drängt, sondern durch die gegenseitige Toleranz der Unterschiede diese überhaupt erst bewusst macht. Erst im Bewusstsein der eigenen Vorurteile wird ein Verstehen im Sinne einer Horizontverschmelzung (d. i. beidseitiger Erweiterung) möglich und führt zur Akkommodation auf beiden Seiten. Eine solche Kommunikation und Kooperation stärkt das Gefühl der – wenn auch losen – Zusammengehörigkeit und macht es wahrscheinlicher, dass das Gemeinschaftsgefühl der einen Gruppe auch auf die andere Gruppe ausgedehnt wird. Darüber hinaus wird die andere Gruppe durch solche Verstehensprozesse zurechnungsfähig, weshalb sich die Ungewissheit reduziert und eine angstfreie Atmosphäre geschaffen werden kann. Auf diese Weise sieht Rorty eine Verbindung zwischen »Rationalität im Sinne einer gewaltfreien Einigung« und »fellow-feelings«. 197 Diese Interpretation des Rationalitätsbegriffs ist insofern interessant, weil sie implizit eine Begründung für Habermas’ Argumentation liefert, dass Solidarität durch ideale Dialoge entsteht. Eine Frage bleibt dabei jedoch offen: Nicht-westliche Gesellschaf195 Bereits hier merkt man eine gewisse Mühseligkeit des Arguments. Ich vermute an dieser Stelle die Absicht, dem Leser klar zu machen, dass der Gebrauch des Begriffs Rationalität nicht wirklich notwendig ist. Der Begriff hat durch die Entkoppelung von Wahrheit ohnehin seine argumentative Sprengkraft verloren. 196 Hier findet sich ein Beispiel einer solchen Begriffsambiguität: Die gewaltfreie Kommunikation kann sowohl im Sinne der Rationalität 3 als auch als modifizierte Version der Rationalität 2 gesehen werden. 197 Jedoch geht es eben nicht darum, den Anderen als wahnsinnig oder irrational zu sehen, sondern um eine graduelle Steigerung der Übereinstimmung von Überzeugungen und Bedürfnissen. Natürlich findet sich hier eine gewisse Annäherung zwischen Habermas und Rorty, also der kommunikativen Vernunft und der Kultivierung von Solidarität.
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ten zeigen sich skeptisch, wenn es darum geht, das westliche Werteranking zu übernehmen, d. h. die Todesstrafe abzuschaffen, Chancengleichheit zu ermöglichen, andere Religionen zu tolerieren. Müssen wir diese Skepsis als Konsequenz kultureller Verschiedenheit tolerieren? 198 Rorty argumentiert auch hier mit einer Vertauschung der verschiedenen Rationalitätsbegriffe: 199 Die westliche Lebensform muss der Verlockung widerstehen, andere Kulturen durch den rhetorischen Gebrauch des Begriffs der Vernunft von unserem Werteranking zu überzeugen. Die Argumentation muss daher – soll sie andere wirklich überzeugen – auf horizontaler und nicht auf vertikaler Ebene geführt werden. 200 »But I think that the rethoric we Westerners use in trying to get everyone to be more like us would be improved if we were more frankly ethnocentric and less professedly universalist. It would be better to say: here is what we in the West look like as a result of ceasing to hold slaves, beginning to educate women […] Saying that sort of thing seems preferable to saying: look at how much better we are at knowing what differences between persons are arbitrary and which not – how much more rational we are.« (PCP 55) Ein solcher Ethnozentrismus hat deshalb nichts mit Beliebigkeit, sodern mit Aufrichtigkeit zu tun. c.
Therapie: Empfindung statt Vernunft
Die Suche nach einem neuen Vokabular Seit der Antike findet man in Moralphilosophien häufig das Stereotyp eines rationalen Egoisten, den man mit rationalen Argumenten davon zu überzeugen sucht, sich gegenüber anderen gerecht zu verhalten. 201 Dem geht das Bild eines Menschen voraus, der sich nur um sich selbst kümmert und dessen Handeln rein egoistisch motiviert ist. Natürlich ist ein solches Bestreben paradox, weil der Egoist eben auch nur ego198 Etwa im Sinne Reese-Schäfers, der an einer Stelle süffisant bis kritisch auf Rortys Ethnozentrismus antwortet: »Für den, der in einem orientalischen Land als Geisel festgehalten wird, ist es wenig beruhigend zu wissen, dass dies dort ortsüblich ist« (ReeseSchäfer, Richard Rorty, a. a. O., 145). 199 Wie in der ironischen Bemerkung Ian Hackings »Me rational, you Jane«. 200 Rorty will uns hier wohl verdeutlichen, dass es damit keinen Grund gibt, warum man den Begriff der Rationalität gegenüber dem Begriff der Toleranz bevorzugen sollte. Rationalität ist nun endgültig zur leeren Worthülse geworden, welche mit beliebiger Bedeutung gefüllt werden kann. 201 Ein klassisches Beispiel hierfür ist der Dialog zwischen Sokrates und Thrasymachos über den Nutzen der Gerechtigkeit in Platons Politeia.
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Mitgefühl als transkulturelle Solidarität
istische Gründe akzeptieren wird bzw. sich selbst bei Erfolg der Überredung nur »scheinbar« freundlich gegenüber anderen verhält. 202 Die Moralphilosophin Baier kritisiert ein solches Menschenbild, weil sie die Vorstellung eines beziehungslosen, unbeteiligten Individuums für unrealistisch bzw. allenfalls für eine psychopathische Abwandlung normaler Individuierungsprozesse hält. 203 Sie stellt diesem Stereotyp einen »gesunden« Sozialisierungsprozess gegenüber, d. i. ein Individuum, das emotional an seine Familie, Eltern und Freunde gebunden ist. »Responding to the needs of family members is the most natural thing in the world. Such responses come naturally because most of us define ourselves, at least in part, by our relations to members of our family.« (PSH 78) Das heißt, soziale Gruppen sind Teil eines solchen Identifikations- bzw. Selbstwerdungsprozesses. Diese Umdeutung steht in Relation mit Rortys Personenbegriff, da es sich nicht um Personen mit einem Kern-Selbst handelt, sondern vielmehr um kohärente Strukturen von Wünschen und Überzeugungen, welche sich infolge komplexer Selbstbeschreibungsprozesse immer weiter vernetzen und ausdehnen. 204 Das heißt, Personen sind offen und konstituieren sich durch die Beziehung zu anderen Strukturen von Wünschen und Überzeugungen. Damit ist das kontingente Selbst schon immer von Fremdheit durchzogen. Und erst durch die bewusste Übernahme der Lebensgeschichte und die Rekonstruktion bzw. Neuinterpretation der eigenen Vergangenheit erfolgt die Identifikation mit dem Selbst. 205 Die Eigenschaft der Vernetzung mit fremden Strukturen bleibt jedoch ein zentrales Charakteristikum. Die Grenzen einer Person bleiben verwischt und flexibel (vgl. PSH 80). 206
202 Das Problem der Motivation bleibt deshalb auch bei der traditionellen Gegenüberstellung von moralischer Pflicht und Präferenz bestehen. 203 »Baier and Dewey agree that the central flaw in much traditional moral philosophy has been the myth of the self as nonrelational, as capable of existing independently of any concern for others, as a cold psychopath needing to be constrained to take account of other peoples needs.« (PSH 77) 204 Vgl. hier wiederum die Ähnlichkeit eines solchen Personenbegriffs mit neueren Theorien aus der narrativen Psychologie (vgl. J. Bruner, The Search for the Mind, a. a. O.). Vgl. auch die ausführliche Beschreibung der Kontingenz des Selbst in Kapitel 2.2.2b. 205 Vgl. hier Kierkegaards Selbstsetzungsbegriff und Übernahme der kontingenten Lebensgeschichte. 206 Das problematische Verhältnis zwischen Fremdheit und Selbstheit wird bei Rorty
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Richard Rorty: die Bedeutung des Mitgefühls
Aus diesem Personenbegriff folgt, dass für Rorty die Idee einer menschlichen Essenz (in Form einer Ähnlichkeit) als Grund für Solidarität undenkbar ist. Als einzige Alternative bietet sich die Möglichkeit an, in den Identifikationsprozess einzugreifen, um die Grenzen des Selbst fluide und dehnbar zu halten. Die Mutterliebe ist hierfür der entscheidende Ausgangspunkt: »the role of the family, and in particular of maternal love, in creating nonpsychopaths, that is, human selves who find concern for others entirely natural« (PSH 78). Rortys entscheidendes Argument lautet daher: Wenn der Individuierungsprozess nur in der Beziehung zu anderen möglich ist, dann gehen wir mit diesen signifikanten Anderen eine Beziehung ein, die noch vor der Möglichkeit der Individualisierung und egoistischen Abgrenzung von anderen liegt. Natürlich ist eine solche Erweiterung der Solidarität nicht zwingend gegeben und entwickelt sich unabhängig von Vernunft: »People can be very intelligent, in this sense, without having wide sympathies. It is neither irrational nor unintelligent to draw the limits of ones moral community at a national, or racial, or gender border« (PSH 81). Das heißt, selbst überzeugte Nazis oder Fundamentalisten besitzen ein solidarisches Gefühl für ihre Familie, Kinder oder Freunde. Wenn es uns also gelingt, dort einzugreifen, wo Solidarität entsteht, dann wäre es möglich, dieses Gefühl auf mehrere Personen auszuweiten. Eine solche Intervention ist nicht auf das Kindesalter beschränkt. Dies hat mit der fortlaufenden Rekonstruktion unserer Selbstbeschreibung zu tun; beispielsweise kann das Bedürfnis, dem hungrigen Fremden zu Essen zu geben, ebenso zu unserem Selbstkonzept gehören wie das Bedürfnis, meinen Kindern Essen zu geben. »Moral development in the individual and moral progress in the human species as a whole is a matter of remarking human selves so as to enlarge the variety of the relationships which constitute those selves.« (PSH 79) Weil nun Rorty die Selbstbeschreibung vor allem als Erweiterung des Vokabulars interpretiert, möchte er durch viel Phantasie, Literatur und anrührende Geschichten einen maximal warmen, sensiblen und leidenschaftlichen Menschen kultivieren, der die Sorge um andere als natürlich empfindet. Dadurch soll das Bild des kalten, vernünftigen, moralisch verpflichteten und egoistischen Universalisten, dessen moralische Pflicht entlang seines nur gestreift; Jacques Lacan ist einer der Franzosen, welcher diese Thematik ausführlich beschreibt.
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Mitgefühl als transkulturelle Solidarität
»preference rankings« rangiert, verdrängt werden. Und an die Stelle der moralischen Pflicht tritt das Empfinden für Andere: »Should this progress ever be completed, the term morality would drop out of the language. For there would no longer be any way, nor any need, to contrast doing what comes naturally with doing what is moral. We should all have what Kant calls a holy will. The term moral obligation becomes increasingly less appropriate to the degree to which we identify with those whom we help: the degree to which we mention them when telling ourselves stories about who we are, the degree to which their story is also our story.« (PSH 79) Damit möchte Rorty endgültig die Idee verabschieden, dass moralischer Fortschritt mit einer Erweiterung der Vernunft einhergeht. An seine Stelle setzt er die Erweiterung unserer Fähigkeit zu Mitgefühl. »Moral progress is a matter of wider and wider sympathy. It is not a matter of rising above the sentimental to the rational.« (PSH 82) Mitgefühl als relationaler Begriff Rorty verwendet für seinen pathozentrischen Ansatz die Begriffe sentiment, sensitivity 207 und sympathy 208, jedoch niemals empathy. Die ersten beiden Begriffe ähneln dem deutschen Wort »Sensibilität«, d. h. einer gewissen Resonanzfähigkeit gegenüber dem Empfinden anderer. 209 Der zweite Begriff kann heutzutage aus dem Englischen mit »kognitives Nacherleben« übersetzt werden. Die Begriffe werden jedoch weitgehend bedeutungssynonym verwendet. Um diese Begriffswahl zu verstehen, ist eine kurze Exkursion in die etymologische Geschichte des Begriffs notwendig. Das englische Wort empathy ist ein relativ moderner und künstlich aus griechischen Silben zusammengesetzter Begriff. Zwar gibt es denselben Ausdruck im Griechischen, aber er hat dort eine durchwegs negative Konnotation, nämlich »Vorurteil« oder »Gehässigkeit«. Im Altgriechischen wird für die Bedeutung des Mitgefühls hingegen der Ausdruck sympathy (sympatheia) verwendet, was wörtlich »mit dem anderen fühlen oder leiden« bedeutet. Vor allem in KIS (1987). Vor allem in der Aufsatzsammlung PSH (1999). 209 In diesem Sinne rechtfertigt sich die Entscheidung vieler Übersetzer Rortys »sympathy« mit dem Ausdruck Mitgefühl im Deutschen wiederzugeben, weil es eben um eine Einfühlung in den Anderen bzw. Sensibilisierung für das Leiden des Anderen geht. 207 208
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Richard Rorty: die Bedeutung des Mitgefühls
Die Idee des Mitgefühls ist also keine neuzeitliche, sondern sie reicht von Aristoteles, 210 der die Teilidentifikation mit dem Anderen als wesentlich erkennt, bis zu David Hume 211 und Adam Smith, welche sympathy als Grundlage moralischer Handlungen begreifen. In Deutschland beginnt eine »Renaissance des Mitgefühls« zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Max Scheler und Theodor Lipps unterscheiden dabei das Mitgefühl dezidiert von anderen Phänomenen wie der »Gefühlsansteckung« einerseits und dem »rein äußerlichen Nacherleben« andererseits. 212 Interessanterweise ist all diesen Theorien gemeinsam, dass sie sowohl die moralische als auch die ästhetische Bedeutung des Mitgefühls betonen. 213 Im Laufe des letzten Jahrhunderts breitete sich das Forschungsinteresse immer weiter aus. Nun interessierten sich nicht mehr nur Philosophen, sondern auch Psychologen, Soziologen, Pädagogen u. v. m. für dieses Phänomen. Der Begriff Mitgefühl wurde durch das Kunstwort empathy ins Englische übersetzt und ging als solcher in eine Reihe an Forschungsarbeiten ein. Bei der Rückübersetzung des Begriffs ins Deutsche wurde dieser jedoch nicht mehr mit »Mitgefühl«, sondern durch »Empathie« übersetzt. Interessanterweise vollzieht jedoch der Begriff auf seiner langen etymologischen Reise einen Bedeutungswandel: Er verliert weitestgehend seine ästhetische Konnotation und erhält mehr und mehr eine soziale bzw. psychologische Funktion. Es ist zu vermuten, dass Rorty, als Kenner der Altphilologie, den Begriff empathy vermeidet, weil er die griechische Ur-Bedeutung und die damit einhergehende ästhetische Konnotation von sympathy bzw. Mitgefühl beibehalten möchte. Immerhin spielt für Rorty die Ästhetik eine zentrale Rolle, wenn es um die Kultivierung der Empfindungs210 Vgl. Aristoteles, Rhetorik, 1385b: »Mitleid sei definiert als eine Art Schmerz über ein anscheinend leidbringendes Übel, das jemanden trifft, der es nicht verdient, ein Übel, das erwartungsgemäß auch uns selbst oder einen der Unsrigen treffen könnte […] Denn es ist klar, dass derjenige, der Mitleid empfinden soll, gerade in einer solchen Verfassung sein muss, dass er glaube, er selbst oder einer der Seinen würde ein Übel erleiden […]. Ferner haben wir Mitleid mit denen, die uns bezüglich Alter, Charakter, Gewohnheiten, sozialer Stellung und Herkunft ähnlich sind […].« 211 Vgl. D. Hume, Treatise of Human Nature (1739/1740) und An Enquiry Concerning the Principles of Morals (1751). 212 Th. Lipps, Vom Fühlen, Wollen und Denken (1902) und M. Scheler, Wesen und Formen der Sympathie (1913). 213 Das heißt, sie sehen Mitgefühl als essentiell, wenn es um das Begreifen von allerlei Kunstformen geht.
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fähigkeit geht. Trotz dieser Sorgfalt bei der Begriffswahl bleibt die genaue Bedeutung durchgehend vage. Eine ungefähre Vorstellung erschließt sich allenfalls in der Beziehung zu verwandten Konzeptionen. Im Folgenden wird daher das »Begriffsfeld« des Mitgefühls genauer untersucht:214 Wenn Rorty von der Erweiterung des »Wir« spricht, dann meint er damit, dass ich mich mit dieser fremden Gruppe identifiziere. Dabei unterstützt das Erkennen von Ähnlichkeit mit dem Fremden diesen Identifikationsprozess und der Andere wird in die eigene Lebensgeschichte integriert. Identifikation, Ähnlichkeit und Mitgefühl hängen deshalb direkt voneinander ab, weil die Identifikation mit einer immer größeren Gruppe auf die ursprüngliche Identifikation mit der Familie und Freunden zurückgeht. Das heißt, diese Personen sind mir ähnlich genug, dass ich für ihren Schmerz empfänglich bin. Und noch mehr: Ihr Schmerz gleitet in mein Empfinden über, weil mein Selbstkonzept von ihnen abhängt. Diese Überlegung geht auf Rortys Begriff des Selbst zurück, dessen Grenzen flexibel sind und sich in Relation zu Anderen konstituieren. Flexibilität und Beziehungsfähigkeit des Selbst sind deshalb weitere Voraussetzungen für Mitgefühl. Eine weitere Voraussetzung geht auf die Empfindungsfähigkeit und Verletzlichkeit des Körpers zurück, welche wir mit allen fühlenden Lebewesen teilen. Es wird jedoch vorausgesetzt, dass wir die Schmerzen des Anderen auf irgendeine Weise mit eigenen Erfahrungen assoziieren können, d. h., sie müssen auf eine körperliche Resonanz stoßen. 215 Um die Vorstellungskraft auch für unbekannte Schmerzen zu schärfen, wird das Lesen von Poesie und Literatur empfohlen. Denn durch die genaue Beschreibung von Leid ist es uns möglich, auch für unbekannte Schmerzen Mitgefühl zu empfinden. Darüber hinaus trainiert der häufige Perspektivenwechsel unsere Vorstellungskraft und lehrt uns, eine 214 Ich möchte betonen, dass folgende Beschreibung sich einzig auf Rortys vielfältigen Gebrauch des Begriffs des Mitgefühls bezieht. Bei der Darstellung werden keinerlei aktuelle Theorien miteinbezogen. Dies würde Rortys Auflösung der Unterscheidung zwischen soft und hard facts ad absurdum führen. Die Einbeziehung psychologischer Theorien werden an anderer Stelle erfolgen (vgl. Weber, Vernunft, Mitgefühl und Körperlichkeit, München 2013). Es ist klar, dass dadurch die Darstellung des Begriffs des Mitgefühls vage bis ignorant bleibt gegenüber den vielfachen Erkenntnissen aus der Emotions- und Kognitionspsychologie. 215 Ein Kleinkind, das sich noch nie geschnitten hat, wird bei dem Anblick von Blut keinerlei Empfindung haben, weil es das Gesehene zu keiner eigenen Erfahrung in Beziehung setzt.
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Situation aus verschiedenen Blickwinkeln zu erfassen – bis hin zu der Stufe, dass wir für jemand anderen Partei ergreifen können. 216 Fernerhin offeriert uns die Literatur ein Vokabular, durch welches wir uns über die Nuancierungen und Komplexität der eigenen Empfindungen bewusster werden. Wort und Empfindung sind deshalb eng miteinander verknüpft. Nur so ist die Erweiterung der Empfindungsfähigkeit auch ohne eigene traumatische Erfahrungen erlernbar. 217
Die Kultivierung von Phantasie und Vorstellungskraft durch Literatur und Poesie helfen uns schließlich dabei, die Ähnlichkeiten zwischen uns und anderen ausfindig zu machen und sie am eigenen Leib nachzuvollziehen. Es gibt bestimmte Gegebenheiten, welche Mitgefühl begünstigen (wie z. B. die Ähnlichkeit mit Anderen, Flexibilität des Selbst). Doch macht es die Kultivierung von und Erziehung zu Phanta216 An dieser Stelle vollzieht Rorty einen Bedeutungswechsel vom empfindungsfundierten Mitgefühl zur abstrakteren Form des Perspektivenwechsels. 217 Im Gegensatz zur Literatur hat die Philosophie hier nur eine mittelbare Rolle, nämlich wenn es um die private Entscheidung in einer Dilemmasituation geht: »The advantage that well-read, reflective, leisured people have when it comes to deciding about the right thing to do is that they are more imaginative, not that they are more rational. Their advantage lies in being aware of many possible practical identities, and not just one or two. Such people are able to put themselves in the shoes of many different sorts of people« (PCP 202). Im öffentlichen Raum bleibt die Philosophie dagegen außen vor.
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sie und Mitgefühl erst möglich, selbst große Unterschiede zu überwinden. Alles, was wir hierfür brauchen, ist der Wille und die Muse sich in andere hineinzuversetzen und zuzuhören (WuF 260). Mitgefühl und Ästhetik: die Konstitution des politischen Raums Der traditionelle Rationalitätsbegriff möchte die Kluft zwischen Rechtfertigung und Wahrheit überbrücken. Dem Mitgefühl kommt in einem solchen Denksystem, und als idiosynkratisches und subjektivistisches Vermögen, nur eine geringe Bedeutung zu, welche sich zudem auf den Bereich des Privaten beschränkt. Rorty möchte nun die Funktionen und die Herrschaftsbereiche von Vernunft und Mitgefühl umkehren. Auch der folgenden Darstellung muss jedoch eine methodische Bemerkung vorausgehen, die sich ebenfalls aus einer ambiguosen Verwendung von Begriffen ergibt: Immer wenn Rorty den Begriff der Vernunft abwertend gebraucht, steht er für die metaphysische Tradition. Wird er hingegen weniger negativ gebraucht, dann bedeutet Vernunft das Bemühen um eine kohärente und intersubjektiv nachvollziehbare Darstellung der eigenen Wünsche und Überzeugungen. Schließlich wird Vernunft an anderen Stellen als die Fähigkeit hervorgehoben, maximale Toleranz zu üben. Eine solche weitläufige Begriffsverwendung macht eine klare Unterscheidung zwischen Mitgefühl und Vernunft schwierig. 218 Deshalb soll die Frage geklärt werden, welche Aspekte der Vernunft auf politischer Ebene durch Rortys Mitgefühlsbegriff ersetzt werden sollen und können. Der private Raum wurde als Erweiterung des Selbst beschrieben, in welchem mein Glaube und meine Hoffnungen nur für mich selbst Geltung besitzen. Für den öffentlichen Raum bleiben meine Hoffnungen hingegen irrelevant. Hier zählen einzig die Maximierung meiner Empfindungsfähigkeit sowie die Bereitschaft zur Solidarität mit anderen. Durch das Lesen von Romanen und Geschichten soll die Vorstellungskraft und Phantasie geschult werden, um Ähnlichkeiten zu finden und eine Teilidentifikation mit anderen zu ermöglichen. Im Resultat werden privater und öffentlicher Raum absolut getrennt. Der öffent-
218 Dies ist von Rorty durchwegs beabsichtigt. Die Verwendung der Begriffe soll sich so überschneiden, dass das Verständnis von Rationalität (als Gegensatz zum Mitgefühl) abstirbt und damit der Gebrauch des Wortes überflüssig wird, weil es andere und bessere Begriffe gibt.
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liche Raum soll lediglich Frieden sichern und dadurch die größtmögliche Freiheit für private Selbstentfaltung gewährleisten. 219 Aus einer solchen Trennung ergeben sich einige argumentative »Unschärfen«: Die Graphik des vorhergehenden Kapitels verdeutlichte 1., dass die private Erweiterung des Selbst durch das Kennenlernen neuer Vokabulare zu einer Teilidentifikation mit dem Fremden führt. Durch diese Erweiterung wird schließlich die Vorstellungskraft und Fähigkeit zum Perspektivenwechsel geschult. Dadurch wird es wahrscheinlicher, Ähnlichkeiten mit anderen Kulturen und Denkweisen zu erkennen, 2., dass Mitgefühl in der Empfindungsfähigkeit (Resonanzfähigkeit) des Einzelnen gründet. Die private Aneignung von verschiedenen Vokabularen ermöglicht eine präzisere Beschreibung und damit Bewusstwerdung der eigenen Gefühle und kann damit in die eigene Persönlichkeit als Erfahrung integriert werden. 220 Diese Erfahrungstiefe dient wiederum als Resonanzboden und damit als Vorbedingung für Mitgefühl mit den leidvollen Erfahrungen anderer (natürlich auch für die angenehmen Erfahrungen) und 3. muss die Sprache zur Erschaffung des Selbst in der Gemeinschaft auf ein Echo stoßen. 221 Das heißt, der Einzelne braucht die Gemeinschaft, um in der Selbstbeschreibung an Boden zu gewinnen. »Wir müssen die Vorstellung ernst nehmen, dass das, als was man sich selbst erfährt, in hohem Maße daran gebunden ist, welche Selbstbeschreibungen in den zu Gebote stehenden Sprachen sinnvoll sind.« (WuF 318) Und weiter: »Nach meinem Eindruck will 219 Es ist interessant, dass Rorty damit eine ganz andere Lösung für den Konflikt zwischen Liberalismus und Kommunitarismus findet: Der Staat ist wie im Liberalismus nur ein Mittel zum Zweck für den Frieden und die Freiheit des Einzelnen. Nichtdestotrotz greift Rorty die Solidarität für den öffentlichen Raum bei den kommunitaristischen Theorien auf, um die Unterdrückung und das Leiden aller Mitbürger zu minimieren. Dieser Lösungsversuch steht der Konzeption von Habermas diametral entgegen, der auf der Idee des Kommunitarismus aufbaut, jedoch Solidarität durch die Institutionalisierung von Kommunikationsbedingungen (d. h. kommunikativer Rationalität) zu ersetzen sucht. Dieser Punkt wird im nächsten Kapitel genauer erläutert. 220 Im Spiegel der Natur ging Rorty sogar so weit, zu sagen, dass das Hungergefühl eines Babys dem »Auslaufen« der Nadel am Ende einer Schallplatte gleicht, weil das Baby noch nicht zu sprechen vermag und dadurch der Schmerz nicht integriert wird. In WuF hält Rorty zwar an dem Personenbegriff fest, d. h., Personsein hat mit Sprachfähigkeit zu tun, weil wir uns erst dadurch die eigene Lebensgeschichte aneignen können, aber trotzdem wird Empfindungsfähigkeit auf alle fühlenden Wesen ausgeweitet. 221 Vgl. weiter oben das Argument, dass eine Metapher, die auf keine Resonanz stößt, als schlechte Art der Verrücktheit oder gar als Perversion gilt.
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Frye unter anderem darauf hinaus, dass Einzelpersonen – sogar mutige und phantasiebegabte Einzelpersonen – auf sich selbst gestellt nicht dazu imstande sind, semantische Autorität zu erlangen, ja nicht einmal semantische Autorität über sich selbst. Um diese Autorität zu erringen, muss man die eigenen Aussagen als Elemente einer gemeinsamen Praxis hören. Andernfalls wird man selbst nie erfahren, ob sie mehr sind als irres Gerede, und man wird nie erfahren, ob man eine Heldin oder eine Verrückte ist« (WuF 322). 222 Rorty argumentiert gegen einen solchen Einwand, dass, selbst wenn sich privater und öffentlicher Raum nicht vollkommen trennen lassen, uns die Praktikabilität des Zusammenlebens zu einer inneren Abstraktion zwingt. Wenn ich auch nicht unbedingt jeden in seinem privaten Hoffen und Glauben verstehe, so kann ich dennoch – auf Grund unserer kreatürlichen Ähnlichkeit – für ihn Solidarität empfinden. Meine Empfindungsfähigkeit für seine Verletzlichkeit wird mich dazu drängen, mich für die Abwesenheit von Leid einzusetzen. Meine öffentliche Frage an den anderen ist daher nicht, ob ich ihn oder er mich versteht, sondern lediglich die Frage, ob er leidet. Und um es hier nochmals zu wiederholen: Der Grund für diesen Minimalkonsens auf der Ebene des Gefühls ist in Rortys Erkenntniskritik zu suchen: Absolute Begriffe wie Gerechtigkeit, Wahrheit oder das Gute bieten keine Orientierung, weil es keine Möglichkeit gibt festzustellen, ob wir uns auf die Wahrheit zu- oder von ihr wegbewegen. Die einzig pragmatische und aufrichtige Alternative ist deshalb der Versuch, die Sensibilität für das Leiden anderer zu maximieren. Anstatt sich in die distanzierte scheinobjektive Übung eines nicht-menschlichen Werterankings zu fliehen, sucht Rorty die Nähe zum konkreten Leiden auf der Straße. »So it is best to think of moral progress as a matter of increasing sensitivity, increasing responsiveness to the needs of a larger and larger variety of people and things. Just as the pragmatists see scientific progress not as the gradual attenuation of a veil of appearance which hides the intrinsic nature of reality from us, but as the increasing ability to respond to the concerns of ever larger groups of people – in particular, the people who carry out ever more acute observations and perform 222 Ein Auseinandertreten von Selbstbild und Fremdbild kann, auch interkulturell, zu Persönlichkeitsstörungen im Identifikationsprozess führen (vgl. Ch. Taylor, Multiculturalism and ›The Politics of Recognition‹, a. a. O.), vgl. auch Rortys eigene Bezugnahme auf Taylor in WuR 318 ff.
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ever more refined experiments – so they see moral progress as a matter of being able to respond to the needs of ever more inclusive groups of people.« (PSH 81) Mit Hilfe der Substitution der Vernunft durch Mitgefühl soll deshalb die kantianische Idee des guten Willens durch die Idee eines möglichst warmen, sensiblen und empathischen Menschen ersetzt werden (vgl. PSH 83). Dabei geht es um einen pragmatischen Akt; d. h., das Argument ist nicht, dass es uns das Mitgefühl leichter macht, sondern es geht einzig darum, dass »Mitgefühl« das einzige ist, das uns bleibt, wenn Vernunft – in einem traditionell-metaphysischen Sinn – ihre Geltung eingebüßt hat. Argumentativ gibt sich ein solches Konzept minimalistisch bis bescheiden, weil es gar nicht erst erwartet, dass wir einander wirklich »verstehen«. Natürlich ist es auf privater Ebene wünschenswert, Verstehen im Sinne einer beidseitigen Horizonterweiterung zu erreichen. 223 Dabei ist eine möglichst »rationale«, d. h. das Bemühen um eine kohärente und intersubjektiv nachvollziehbare Darstellung hilfreich. Aber selbst wenn solche Verstehensprozesse die Möglichkeit für Mitgefühl und Solidarität erhöhen, so sind sie nicht essentiell notwendig. Denn Mitgefühl wurzelt im kreatürlichen Empfinden, d. i. die körperliche Verletzlichkeit, die Liebe für die Familie und Kinder etc. Aus diesem Grund ist das Verstehen des anderen nicht notwendig, um für ihn zu empfinden. Es folgt daraus, dass der empfindungsfähige Körper, als Resonanzboden für das Leiden anderer, zum öffentlichkeitskonstituierenden Medium, Vernunft dagegen zur privaten Kommunikation der Überzeugungen wird. Dies erklärt schließlich, dass für Rorty Menschenrechte keine rechtliche Festsetzung benötigen und es vor allem sinnlos ist, sie einer Kulturen aufzudrängen. Vielmehr sollte – im Sinne des Slogans »Überreden anstatt Gewalt« – die westliche Lebensweise als Empfehlung gesehen werden. 224 223 »Ich sehe diese Ausweitung des moralischen Mitgefühls in Analogie zu der Art von Horizonterweiterung, wie sie für geistigen Fortschritt selbst in den sogenannten harten Wissenschaften kennzeichnend ist.« (R. Rorty, Philosophie und die Zukunft. Essays, Frankfurt am Main 1994, 12) 224 Dazu gehört nicht nur das mitleidige Bedauern, sondern das Verhelfen zum Personsein, das eine graduelle Angelegenheit ist; z. B. argumentiert Rorty, dass unterdrückten Frauen zu ihrem Personsein verholfen werden muss, indem sie ein Vokabular bekommen, das ihnen eine adäquate Selbstbeschreibung ermöglicht. Menschen sind nicht Per-
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Die folgende Kontrastierung soll nochmals das alte Vokabular dem neuen gegenüberstellen: Es geht um … a. Aufrichtigkeit
anstatt um Macht
b. Eine horizontale Kommunikationsweise mit anstatt Flucht in vertikale Fremden Begründungen225 c. Solidarität durch die körperliche Verletzlichkeit und Empfindungsfähigkeit
anstatt durch Vernunft
d. Das Finden einer gemeinsamen Zukunft
anstatt ewiger Werte
e. Hoffnung
anstatt Erkenntnis
f. Bildung
anstatt Begründung
g. Verringerung von Leiden
anstatt der Durchsetzung von ›edlen Wahrheiten‹
Die Frage schließlich, ob Mitgefühl die Vernunft auf öffentlicher Ebene adäquat zu ersetzen vermag, kann so nicht direkt beantwortet werden. Vernunft im Sinne einer Bezugnahme auf eine nicht-menschliche, absolute Größe und mit dem Ziel, das eigene Werteranking durchzusetzen, ist für Rorty schlichtweg eine unaufrichtige und (gerade auf der interkulturellen Ebene) destruktive Kommunikationsmodalität. Die Schule des Mitgefühls ist deshalb nicht so sehr »die bessere Methode«, sondern vielmehr die einzig mögliche. Das bedeutet nicht, dass der Dialog mit anderen Kulturen sinnlos oder unmöglich sei. Sein Erfolg ist nur nicht mehr Voraussetzung für die Konstitution einer Weltgemeinschaft. Wenn wir uns darüber hinaus über Gemeinsamkeiten in unserem privaten Vokabular verständigen können, dann ist das natürlich umso besser. Die Schule der Empfindsamkeit ist das minimalste Fundament einer solidarischen Öffent-
sonen von Anfang an, sondern haben nur das Potential, ein Personsein zu entwickeln (WuF 318). 225 Vgl. hier Rortys Bezugnahme auf Burke und dessen Unterscheidung von Komödie und Tragödie: »Die Komödie verlangt das Maximum an forensischer Komplexität. In der tragischen Handlung lauert stets der Deum ex machina. […] Die Komödie hat es mit dem Menschen in der Gesellschaft zu tun, die Tragödie mit dem kosmischen Menschen. […] Die Komödie ist wesentlich human« (Burke, Attitudes Toward History, Nachdruck Los Altors, Calif.: Hermes 1959, 42, zit. nach Rorty, WuF, 348).
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lichkeit in einer pluralen Weltgemeinschaft. Und es ist das einzige Fundament, das wir – in Rortys Augen – haben.
2.4 Zweite Zwischenbetrachtung Der lange Weg von der Kultur der Menschenrechte über die Erkenntniskritik und die politische Philosophie führte schließlich zu einer auf den ersten Blick verwirrenden Trennung von Öffentlichkeit und Privatheit: Das heißt, auf der Ebene der Öffentlichkeit gleichen wir einer »planetarischen Familienbande«, welche allein durch die Empfindungsfähigkeit für andere zusammengehalten wird, auf privater Ebene bleiben wir uns jedoch so fremd wie die Marsianer dem New Yorker Broker. Eine solche These mag zunächst naiv bis verantwortungslos wirken und hat in der Tat vielfach zu Empörung geführt. 226 Oft wird jedoch 226 Z. B. hat sich der bekannte analytische Philosoph Hempel, Freund und Lehrer Rortys, nach der Veröffentlichung von Kontingenz, Ironie und Solidarität sowohl intellektuell als auch emotional von Rorty abgegrenzt. Er hat ihm die Absage an die analytische
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übersehen, dass Rorty – und dies nach ausführlicher Auseinandersetzung mit der Erkenntnistheorie – zwar den Anspruch auf Wahrheit verabschiedet, nicht jedoch das Bemühen, die eigenen Wünsche und Vorstellungen so kohärent wie möglich darzustellen. Sein Anliegen ist es, daraus die einzig mögliche Konsequenz zu ziehen: nämlich Bescheidenheit im Anspruch, Offenheit für angrenzende Disziplinen und Aufrichtigkeit gegenüber anderen Kulturen. In diesem neuen Gewande verändert sich auch die gesellschaftliche Rolle, welche die Philosophie im öffentlichen Diskurs einzunehmen vermag. Sie wandelt sich vom universalistischen Richter in Begleitung des Gehilfen »Vernunft«, welcher über Wahr und Falsch, Gut und Böse zu entscheiden vermag, zum erfahrenen Ratgeber in konkreten Dilemmasituationen sowie zur privaten Muse zum Zwecke der Selbstverwirklichung. Ihre öffentliche Aufgabe wird durch Poesie und Literatur ersetzt, welche das Potential haben, durch die Erziehung zu Mitgefühl, Solidarität zwischen allen Erdenbürgern zu kultivieren. Die Substitution der Vernunft durch Mitgefühl ist ein Gestus der Aufrichtigkeit einer Disziplin, die sich sowohl ihrer Grenzen als auch der eigenen Möglichkeiten bewusst geworden ist. Es ist ein selbstloser Akt, der das Eingestehen des eigenen Unvermögens über die Denunziation und Macht stellt und dadurch neuen und »hoffentlich« angepassteren Möglichkeiten Raum gibt.
2.4.1 Nischen für Mitgefühl Über die Absicht und den Nutzen der Konstitution des öffentlichen Raumes auf der Grundlage des Mitgefühls wurde in den letzten Kapiteln ausführlich gesprochen. Im Folgenden soll daher nur auf solche Aspekte eingegangen werden, welche das Mitgefühl gegenüber der kommunikativen Vernunft auszeichnen. Daraus ergibt sich schließlich meine These der Notwendigkeit einer Harmonisierung der beiden Konzepte. Solidarität auf der Grundlage eines rationalen Konsenses gibt Bedingungen vor, die von verschiedener Seite angezweifelt wurden. Insbesondere die Einwände der Postmoderne haben die Vorstellung einer
Philosophie nie verziehen. Vgl. auch die heftige Kritik von Henry Shue (Cornell University). M. Kettners Kritik habe ich in 2.1.3 genau dargelegt.
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ahistorischen und transkulturellen Vernunft ins Wanken gebracht. 227 Im Gegensatz dazu bietet das Konzept einer kommunikativen Vernunft, insbesondere durch ihre Sensibilität gegenüber kulturellen Unterschieden sowie ihre phänomenologische Fundierung in den Ideen von ›Lebenswelt‹ und ›Intersubjektivität‹, einen geeigneten und argumentativ durchdachten Versuch, den postmodernen Einwänden zu entkommen. Sollten die Überzeugungsversuche scheitern, bleibt ihr nichtsdestotrotz am Ende keine Alternative: Entweder weil die Argumente (durch unsere westliche Ausdrucksweise und Erklärung) den Menschen in anderen Kulturen nicht einleuchten (Ethnozentrismus des westlichen Arguments) oder weil schlicht kein Konsens gefunden werden kann (Inkommensurabilität der Lebenswelten). Solidarität muss sich aber gerade solchen ethnozentrischen Verstrickungen stellen und versuchen, diese aufzubrechen. Dabei trägt Rortys »dialogisch orientierter, linguistischer Pathozentrismus« eine solche Überschreitung des Ethnozentrismus durch seine Konzentration auf das Leiden des Anderen bereits in sich. 228 Nicht zuletzt weil es für Rorty bedeutet, dass kulturelle Unterschiede im Hinblick auf kreatürliche Ähnlichkeiten überbrückt werden. 229 Die Schule der Empfindsamkeit vermag dieses Dilemma geschickt zu umgehen, indem sie rationale Übereinstimmung und Solidarität voneinander abkoppelt. Damit ist Solidarität nicht mehr an die Übereinstimmung der Vokabulare gebunden, sondern basiert auf dem prä-reflexiven Vermögen des Mitgefühls, das die körperlich-kreatürlichen Gemeinsamkeiten in den Vordergrund stellt. Der Körper rückt damit als das öffentlichkeitskonstituierende Medium in den Mittelpunkt des Geschehens. Das heißt, die sichtbare und fühlbare Seite des Menschen konstituiert den öffentlichen Raum und liefert so die Basis für Solidarität. Unter diesen Umständen bleibt zwar die Möglichkeit für rationale Übereinstimmung bestehen, ist aber nicht mehr zwingend. Fernerhin muss die Pluralität von Wünschen und Überzeugungen nur insofern eingeschränkt werden, als sie andere Menschen in ihrer 227 Es können an dieser Stelle nicht alle Arten der Einwände – von Nietzsche über Derridas »Phallozentrismus« bis Foucaults Slogan des »Wissens als Macht« – dargestellt werden. Für eingehendere Auseinandersetzungen siehe: W. Welsch, Unsere postmoderne Moderne, a. a. O. 228 Vgl. J. Sieverding, Sensibilität und Solidarität, a. a. O., 184 f. In Anschluss an die Überlegungen zur Solidarität bei G. Amengual (ebd.). 229 Vgl. KIS 309 ff.
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privaten Selbstentfaltung beeinträchtigt. Aus dieser Pluralität von privaten Sicht- und Lebensweisen – so die Hoffnung Rortys – können völlig neue Möglichkeiten des gesellschaftlichen Zusammenlebens entstehen. Anstatt also auf Konsens und damit auf Reduktion zu setzen, vertraut Rorty auf maximale Freiheit und Offenheit. Schließlich – und das war ein zentraler Kritikpunkt in Habermas’ Konzeption einer kommunikativen Vernunft – werden unter der Prämisse des rationalen öffentlichen Diskurses manche Gruppen von vorneherein ausgeschlossen. Denn Einmischung gelingt nur durch das Geltendmachen der eigenen Ansprüche mittels rationaler Argumentation. Deshalb bleiben Menschen, die entweder ihre Sprache (noch) nicht erworben oder aber verloren haben, wie z. B. traumatisierte Menschen, geistig Behinderte, Kinder, senile Menschen, von der Öffentlichkeit ausgeschlossen. Ebenso lassen extreme Schmerzen oder Demütigungen die Sprache verstummen. Aus diesem Grund stellt Rorty Poeten und Künstler in den Mittelpunkt des öffentlichen Raumes. Das heißt solche Menschen, welche eine außergewöhnliche Empfindungsfähigkeit haben und es vermögen, uns dieses stumme Leid und damit auch die Bedürfnisse dieser Personen in Geschichten oder durch Kunstwerke näherzubringen. Die Ironie Rortys wird oft als brutal und unbarmherzig empfunden, weil sie auf Fragen wie »Warum soll man nicht grausam sein?« keine Antwort zu geben vermag. Jedoch verweigert sie die Antwort nicht aus Grausamkeit, sondern nur deshalb, weil es eben keine ernstzunehmende Antwort darauf gibt. Aufrichtigkeit ist Rortys Ironikerin lieber. Weil sie aber zugleich liberal ist, geht es ihr darüber hinaus um die Sensibilisierung für das Leiden und die Bedürfnisse anderer: ein Bestreben, das sie lieber mit Taten und Worten umsetzt, und nicht vermittels philosophischer Wahrheiten. Schließlich liegt ein entscheidender Vorteil darin – und das soll an anderer Stelle ausführlich gezeigt werden –, 230 dass die körperliche Sensitivität dem Menschen primordinal als Potentialität zukommt. Sie entfaltet sich, sobald er in einer Gemeinschaft oder einer Familie aufwächst. Im Gegensatz zur kommunikativen Vernunft, die eine illokutionäre Absicht, Übung und geistige Gesundheit voraussetzt, vermag Mitgefühl die Solidarität zwischen allen Menschen zu kultivieren. 230 Vgl. Barbara Weber, Vernunft, Mitgefühl und Körperlichkeit: Eine phänomenologische Rekonstruktion des politischen Raumes, München 2013.
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Natürlich kann sich auch das Mitgefühl auf einen engen Kreis von Personen konzentrieren oder ganz »verlernt« werden, dennoch kommt sie potentiell allen Menschen primordinal zu.
2.4.2 Grenzen des Mitgefühls Rorty ist mit Sicherheit einer der belesensten und cleversten zeitgenössischen Denker, der darüber hinaus über einen beeindruckenden und überzeugenden Schreibstil verfügt. Doch gerade seine Ablehnung einer philosophisch-argumentativen Gedankenführung macht den Einstieg für eine angemessene Kritik schwierig: Seine Argumente winden sich häufig durch mehrere Themen zugleich und bedienen sich dabei ambiguoser Begriffe, so dass es fast unmöglich ist, die Inkonsistenz der Argumentation stichhaltig nachzuweisen. Sollte man Rorty dennoch zu fassen bekommen, dann zieht er sich gerne auf ethnozentrische Phrasen zurück wie z. B.: »Das ist nur eine Empfehlung aus meiner Sicht« oder »It is common sense, I’m just an American«. 231 Hinzu kommt Rortys – um es euphemistisch auszudrücken – originelle Aneignung von Theorien und Denkern. Und nicht selten »beklagen« sich Philosophen selbst über die »absichtlichen Missverständnisse« seiner Lesart, mit Hilfe derer er zu neuen Ansätzen abhebt. 232 Da Rorty selbst jedoch weder an »rationale Argumentationsketten« noch an »die richtige Interpretation eines Denkers« glaubt, folgt er lieber der inspirierenden Offenheit des Poetischen als der einengenden Nachweisbarkeit. Wenn er also z. B. Freud als Bezugspunkt wählt, dann nimmt er ihn als inspirierende Quelle, als Sprungbrett in ein neues Vokabular, nicht aber als Fundament, Beweis oder konsistente Weiterführung der Theorie. Oder wie Jean B. Elshtain es ausdrückt: »Rorty wants to embrace, not to debate.« 233 Wenn im Folgenden einige Anmerkungen über Rortys Idee des Vgl. W. Reese-Schäfer, Richard Rorty, a. a. O., 123. Davidson selbst lehnt z. B. Rortys Interpretation seiner Analysen vehement ab. Bei anderen Denkern, denen es nicht mehr möglich ist selbst Stellung zu nehmen, sind es vor allem Fachleute, welche Rortys Auslegungen als »vollkommen fehlgeleitet« oder bloße »Phantasie« zurückweisen; so z. B. J. B. Elshtain in Bezug auf Rortys Freud-Interpretation (vgl. J. B. Elshtain, Don’t be cruel, Reflections on Rortyian Liberalism, in: Guignon u. Hiley (Hg.), a. a. O.). 233 J. B. Elshtain, Don’t be cruel, in: Guignon u. Hiley (Hg.), a. a. O., 139. 231 232
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Mitgefühls hervorgebracht werden, dann sind diese weder als Kritik noch als Destruktion zu verstehen. Vielmehr geht es darum, seine eigenen »blinden Flecken« aufzudecken und von dort her seine Grundhaltung zu unterstützen. Damit schließe ich an die Idee des embracing an. Denn gerade die Pragmatik und Offenheit seiner Gedanken lädt dazu ein, sie durch fundierende Ansätze aus anderen Disziplinen zu stärken, um damit – und dies ganz in seinem Sinne – ihre Chance für eine pragmatische Durchsetzung zu erhöhen. 234 Und obgleich Rorty die Notwendigkeit rationaler Begründungen ablehnt, begrüßt er es zugleich, wenn sich ein Denker so kohärent wie möglich ausdrückt. Sprachphilosophische Engführung des Empfindungsbegriffs Rorty hat das Terrain der analytischen Philosophie nie wirklich verlassen. Und nicht nur für den europäischen Leser gleicht seine Argumentation an vielen Stellen einer »no win situation«. Denn entweder wir vermögen etwas im Sinne der analytischen Philosophie zu »beweisen« oder aber wir sind dazu verdammt, ihm in die »kontingente Welt der unbegrenzten Möglichkeiten« zu folgen. Aber das Spektrum der Argumentation ist – zumindest für einen Europäer, und wahrscheinlich auch für einen Inder oder Taoisten – weitaus größer. Denn sehr wohl vermag man sich von einer Korrespondenztheorie der Wahrheit zu distanzieren, ohne sie zugleich zu einer bloßen Collage an linguistischen Einheiten und Metaphern zu degradieren. 235 An dieser Stelle möchte ich kurz ein Erlebnis der Denkerin Jean B. Elshtain anführen, weil es auf humorvolle und treffende Weise mein eigenes Unbehagen wiedergibt, welches sich aus Rortys Verwurzelung in der Sprachphilosophie herleitet: »I thought of Rortys ›all is metaphor‹ during a van ride a few years back in a driving rain down Route 91 headed from Amherst, Massachusetts, to Bradley Airport in Windsor Locks, Connecticut. My pony-tailed, perpetually grinning van driver decided to strike up a postmetaphysical conversation. ›For me, life is one big metaphor‹, he said. And then he spelled out his general 234 Denn selbst wenn alles nur eine Metapher ist, die aus Kontingenzen besteht, dann sollte zumindest die Metapher in sich konsistent sein. Und wenn Rorty den absoluten Wahrheitsanspruch der sog. hard facts und anderer wissenschaftlicher Disziplinen ablehnt, so erkennt er (und muss dies als Pragmatiker) ihre Nützlichkeit für die Ermöglichung von Frieden und Erleichterung des Lebens durchaus an. Vgl. hierzu den Begriff der Rationalität 1, an welchem Rorty durchaus festhalten möchte (WuF 269 ff.). 235 Vgl. J. B. Elshtain, Don’t be cruel, in: Guignon u. Hiley (Hg.), a. a. O.
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Richard Rorty: die Bedeutung des Mitgefühls
philosophy of life. It was a brief story. My only concern was whether or not the rain-slicked pavement, the low visibility, and the presence of other vehicles were to be construed metaphorically as well. I thought this might be the case because he insisted on turning to me – seated opposite him in the passenger seat up front – as he celebrated the basic unreality of existence.« 236 Also entweder alles ist kontingent – das Taxi, die Straße, die Freunde – oder aber es gibt etwas mehr über die phänomenale Welt zu sagen als die Bemerkung, es gäbe bestimmte »pressure points«. Die Blindheit Rortys gegenüber der phänomenalen Welt, welche außerhalb der sprachlich zu-konstruierenden Welt liegt, spiegelt sich insbesondere in seiner politischen Hoffnung und Idee eines expandierenden Mitgefühls wider. Ich möchte hier ein wenig weiter ausholen und dabei in einigen Punkten der Kritik Elshtains folgen, diese aber andererseits erweitern. Bereits für einen belesenen und gutwilligen Intellektuellen ist die Gespaltenheit der liberalen Ironikerin mit einigen Spannungen verbunden. Aber woraus speist sich die ironisch nominalistische Haltung und das expandierende Mitgefühl z. B. der arbeitenden Klasse, die eben nicht Zeit hat, um sich hinzusetzen und zuzuhören? Oder wie Elshtain treffend formuliert: »Somehow I don’t think historicist nominalism is going to fly with Joe Six-Pack.« 237 Selbst in einer Welt durchdringender Kontingenzen werden Menschen immer mit konkreten Ängsten, Hoffnungen und Schmerzen von tatsächlichen Personen konfrontiert werden. Dies ist die Quelle von Empfindungen und Handlungen. Und je kontingenter diese Welt erlebt wird, desto schwieriger wird es, Menschen durch die Vorstellung von »potentiellen Enkelkindern einer abstrakten Zukunft« zu motivieren. 238 Sprachliche Konstruktionen von Wirklichkeit werden nie die Wirkung konkreter Geschehnisse erreichen. Zumindest nicht auf der Ebene von Taxis, Folterungen und Kriegen. Aus diesem Grund bleibt der sonst sehr originelle Vorschlag der Erweiterung der Empfindungsfähigkeit durch Literatur und traurige Geschichten unvollständig. Sicher: Uncle Tom’s Cabin hatte eine große Wirkung auf die Sklavenbefreiung in Amerika. Aber der Roman hätte wohl nicht die gleiche Wirkung gehabt, wäre es dem Leser nicht mög236 237 238
Ebd., 142. Ebd., 142. Vgl. ebd., 143.
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Zweite Zwischenbetrachtung
lich gewesen, das Gelesene mit eigenen konkreten Erfahrungen zu verbinden. Darüber hinaus haftet dem Begriff der »sensitivity«, wie er von Rorty bevorzugt verwendet wird, eine »aisthetisch-ästhetische« Konnotation an, welche von einem linguistischen Begriffsinventar nicht wirklich erfasst wird. Josef Früchtl kritisiert in diesem Zusammenhang, dass Rorty einem »linguistischen Essentialismus« verfällt, weil er vorsprachliche Erlebnisweisen nicht einbezieht. 239 Die Wirkung von Wörtern auf das Empfinden (bes. das körperliche Empfinden) ist eine gelernte Relation. Ihr muss die fleischgewordene Erfahrung vorausgehen. Der Eindruck, den man von der Ironikerin gewinnt, ist jedoch der eines »Bücherwurms«, der sich vor der Begegnung scheut und lieber hinter den hohen Regalen der Bibliothek versteckt. Soll sie jedoch zugleich eine Liberale sein, dann gehört die Vis-a-vis-Begegnung mit Anderen zum Pflichtprogramm, damit überhaupt all die Wörter im eigenen Körper einen Resonanzraum finden. 240 Wenn wir diesen Umstand ignorieren, dann nehmen wir die Gefahr in Kauf, genau den psychopathischen Egoisten zu erziehen, einen modernen Thrasymachos, vor dem uns Rorty zu warnen sucht. 241 Der Grund, warum Rorty gar nicht auf diesen Gedanken kommt, ist, weil er uns nicht einmal im Ansatz eine Entwicklungstheorie (oder sei es auch nur eine funktionierende Metapher) darüber liefert, wie Mitgefühl generiert wird oder auf welche Weise traurige Geschichten auf das Empfinden einwirken. Vielmehr springt Rorty von der Empfindungsfähigkeit und der körperlichen Verletzlichkeit zu den traurigen Geschichten und der Poesie und umgekehrt, ohne je eine wirkliche
239 Vgl. J. Früchtl, Ästhetische Erfahrung und moralisches Urteil. Eine Rehabilitierung, Frankfurt am Main 1996, 220 f.; auch zit. in: J. Sieverding, Sensibilität und Solidarität. Skizze einer dialogischen Ethik im Anschluss an Ludwig Feuerbach und Richard Rorty, Münster 2007, 182. 240 Vielleicht ist auf diese Weise Rortys Verwendung von sympathy zu verstehen, denn dieser Ausdruck meint tatsächlich nur das abstrakte, wörtlich intellektuelle Verstehen des Leidens. Ich bin mir jedoch nicht sicher, ob diese Nuancierung der Wortverwendung Rorty selbst bewusst war. 241 Natürlich gilt dieser Umstand insbesondere im Umkreis der vermehrten Nutzung von Medien wie Fernsehen oder Internet. Die Vereinzelung und der Rückzug vor der tatsächlichen Begegnung und körperlich-empfindungsbasierten Erfahrung ist dadurch umso mehr gegeben. Vgl. zur leibphänomenologischen Forschung u. a. M.-A. BäumlRoßnagl, Bildungsparameter aus soziologischer Perspektive, Hamburg 2005.
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Richard Rorty: die Bedeutung des Mitgefühls
Verbindung aufzuzeigen. 242 Den Grund hierfür vermute ich darin, dass er die Sprachphilosophie nie wirklich zu verlassen vermochte, sich aber gedrängt fühlte, den öffentlichen Raum von der Idee der Vernunft zu befreien. Damit musste er auf etwas Vorsprachliches wie die Empfindungsfähigkeit zurückgreifen. Um diese Idee weiter auszubauen, schleicht sich letztlich aber doch die Sprache über die Literatur wieder ein. Sie bleibt jedoch von der Körperlichkeit distanziert. Das heißt, der Körper spielt zwar im Kontext seines Physikalismus eine entscheidende Rolle, wird aber auch hier auf die Sprache reduziert. Elshtain bezieht sich mit ihrer Kritik auf Freud und betont, dass die Konstanz von Bezugspersonen (in der Regel die Eltern), welche Objekte von Liebe und Hass sind, die Voraussetzung für Moralität darstellen (d. h. Perspektivenwechsel, Mitgefühl oder die Identifikation mit anderen Personen). Es genügt nicht, dass diese Personen fiktiv sind oder nur als Vokabular existieren. »They must be real human beings to whom the child is erotically attached. This and this alone lays the groundwork for the child to become a social being.« Und weiter: »In order not to be cruel we must learn that cruelty hurts and harms, and we learn this because the ethico-politcs of eroticized moral learning have been worked out: we can identify with the other.« 243 Rorty würde diesen Einwand sicher nicht ablehnen, doch für ihn selbst ist es schwer, die Bedeutung der körperlichen Beziehung für die Entwicklung von Mitgefühl nachzuvollziehen, weil der Begriff des Körpers, in seiner originellen Kombination aus Poesie und Physikalismus, ein bloßes Wort, eben eine Idee bleibt – selbst in der vagen Beziehung zum Leiden anderer. Der öffentliche Raum erscheint, trotz allen Mitgefühls und aller körperlichen Ähnlichkeiten, merkwürdig transparent, steril und fast unkörperlich –, und es ist fraglich, ob sich die »Metapher des Mitgefühls« auch tatsächlich, d. i. phänomenal, zu realisieren vermag. Um der Idee des Mitgefühls als Fundament für Solidarität mehr Kraft zu verleihen, soll an einer anderen Stelle der Zusammenhang zwischen körperlicher Erfahrung und Empfindungsfähigkeit genauer untersucht werden. 244 242 Zu diesem Schluss kommt auch J. B. Elshtain in ihrer Kritik an Rortys Freud-Interpretation (vgl. J. B. Elshtain, Don’t be cruel, in: Guignon u. Hiley (Hg.), a. a. O., 149). 243 J. B. Elshtain, ebd., 150 f. 244 Vgl. Barbara Weber, Vernunft, Mitgefühl und Körperlichkeit: Eine phänomenologische Rekonstruktion des politischen Raumes, München 2013.
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Zweite Zwischenbetrachtung
Die dialogfreie Öffentlichkeit: Folgen der Inkommensurabilität von Selbstverwirklichung und Solidarität Elshtain beschreibt die Ironikerin treffend, indem sie sagt: »Rortys ironist is insular and self-enclosed, fighting a fight of words, words, words. Far easier to stabilize this world in the name of destabilization than to confront the thicker reality for lived life, the densities and intractibilities of a world I did not create and do not control. Rorty also encases his ironic self in a cocoon of private self-creation; yet he clearly means to endorse and to serve liberal democratic society as ›we liberal ironists‹ construct the ironic identity as a form of loose community. There is a lot of seepage of private to public and public to private within Rortys argument.« 245 Rorty selbst beschreibt die Ironikerin als einen Bücherwurm, der sich ganz in seine Welt der Selbstbeschreibungen verkriecht. Die Öffentlichkeit ragt nur insofern in die Welt der Ironikerin hinein, als sie Grausamkeiten verabscheut. Auf ihre Selbstbeschreibung hat jedoch die Öffentlichkeit keinerlei Einfluss. Die Frage ist – und ich stimme bei diesem Unbehagen mit Taylor überein –, ob es tatsächlich möglich ist, die Selbstbeschreibung in den hermetisch verschlossenen privaten Raum zu verdammen oder ob nicht die Anerkennung der Selbstbeschreibung durch die Gesellschaft unerlässlich ist. 246 Ein Gedanke, den Rorty selbst an verschiedenen Stellen erwähnt. Der Rückzug in die Selbsterschaffung gleicht einer Flucht in die Welt der unbegrenzten Möglichkeiten. Sie ist unbegrenzt, weil niemand ihre Gültigkeit in Zweifel ziehen darf. Aber auch die private Ironikerin braucht die Gemeinschaft, um sich bei ihr über die Selbstbeschreibung rückzuversichern (im Sinne der Anerkennung und Identifikation). 247 Will nun die Ironikerin auch noch Liberale sein, dann bedarf sie der Gesellschaft umso mehr. Ansonsten droht ihr der Weg des Thrasymachos. Denn das Lesen reicht nicht aus, um Solidarität zu kultivieren, sondern braucht den unmittelbaren Vis-a-vis-Dialog mit anderen Menschen. Umgekehrt benötigt aber auch die liberale Gemeinschaft, soll sie im wahren Sinne liberal und offen sein, den ironischen Dialog, damit sich daraus neue Hoffnungen und Ideen für die Gesellschaft ergeben. Zu der Aufgabe der liberalen Ironikerin gehört nämlich ebenfalls die 245 246 247
Ebd., 145. Vgl. Ch. Taylor, Multiculturalism and ›The Politics of Recognition‹, a. a. O. Rorty gibt dies selbst zu in WuF 326 ff.
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Richard Rorty: die Bedeutung des Mitgefühls
Schaffung sozialer Konstrukte, die besser sind als die bisher verfügbaren und somit die Entwicklung einer besseren bzw. neuen Art von Menschen unterstützen (vgl. WuF 328). 248 In Rortys Konzeption einer absoluten Trennung von öffentlichem und privatem Raum ist jedoch unklar, wo sich ein solcher Ort der Begegnung, der Ideen und gesellschaftlichen Hoffnungen befindet und wie dieser auszusehen hat. Es scheint, als wäre diese Aufgabe einzig den Literaten und Poeten vorenthalten. Da solche Geschichten jedoch im Privaten gelesen werden, ist nicht ganz klar, wie daraus die Triebkraft für gesellschaftliche Umbrüche entsteht. Vielleicht gilt auch hier Rortys Devise »embrace and don’t debate«. Andererseits gibt er selbst zu bedenken, es sei schwierig, sich von einer Weltversion verzaubern zu lassen und sich dennoch gegenüber allen anderen tolerant zu verhalten (SO 110). Wie soll dann aber eine pragmatische Umsetzung möglich werden, d. h. eine Vision für eine freiere, friedlichere Zukunft für unsere Enkel, wenn wir nicht über die einzelnen Vorschläge vis-a-vis zu debattieren vermögen, um deren Vor- und Nachteile abzuwägen und darüber zu beschließen. 249 Als Pragmatiker besteht er darauf, dass auf Ideen Taten folgen. Rorty scheint auch hier in seinem sprachphilosophischen Vokabular stecken zu bleiben, denn Metaphern allein reichen eben nicht aus, wenn es darum geht, einigen »pressure points« in der phänomenalen Welt zu begegnen. Der alleinige Verlass auf die vorsprachliche Form des Mitgefühls, welche zu einem weitgehenden Ausschluss des Dialogs aus dem öffentlichen Raum führt, birgt fernerhin die Gefahr der Reduktion des Anderen auf das eigene Gefühl. Wie gesagt, die Nische des Mitgefühls besteht in der Sichtbarmachung und Fühlbarmachung der Bedürfnisse solcher Gruppen, welche sonst überhaupt über keine Stimme im habermasschen Dialog verfügen, d. h. dort, wo uns die Sprache in keiner Weise weiterhilft. Allen anderen Minderheiten wird jedoch durch die Reduktion des öffentlichen Dialogs auf das Mitgefühl das Mitspracherecht und damit die Möglichkeit zur Findung eines identitätskonstituierenden Vokabulars in der öffentlichen Auseinandersetzung genom248 Hier wirkt also das Entstehen neuer Ideen doch auch wieder auf die private Selbsterschaffung zurück. 249 Oder wie Elshtain etwas ironisch bemerkt: »[…] it might be an interesting exercise for Rorty to rewrite the Declaration of Human rights.« (J. B. Elshtain, Don’t be cruel, in: Guignon u. Hiley (Hg.), a. a. O., 152).
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Zweite Zwischenbetrachtung
men. M. E. kann eine Reduktion des Anliegens oder Leidens des Anderen auf ein mitleidiges »Ja« eher schaden als nützen. 250 Insbesondere wenn es darum geht, den Anderen in seiner Andersheit zu verstehen und anzuerkennen. Auch Toleranz – welche durch Rortys dritte Interpretation des Rationalitätsbegriffs hervorgebraucht wurde – kann nämlich erst dort entstehen, wo man Konflikte und Dialoge zulässt – durchaus auch auf einer argumentativen Ebene. 251 Die Herausforderung des Anderen ist wiederum notwendig, um selbst zu einer Person zu werden, d. h. zu einer kohärenten Entität aus Überzeugungen und Wünschen.252 Den Literaten ist es vorbehalten, der Gesellschaft durch neue Ideen zu einer hoffnungsvollen Zukunft zu verhelfen. Dies ist wiederum nur möglich, wenn die Bücher von einem breiten Publikum gelesen werden. »Wenn wir Überredung statt Gewalt wollen, brauchen wir eine gemeinsame Sprache. Welche einzelnen Ideen sich aber für die erweiterte Gemeinschaft eignen und welche nicht, das ist nicht inhaltlich, nicht an Werten festzumachen. Sie müssen lediglich eine formale Bedingung erfüllen, sie müssen sich zur Gemeinsamkeit eignen, also verallgemeinerbar sein. Am Verallgemeinerungsprinzip in der Ethik kommt aus pragmatischen Gründen der weltweiten Kommunikation weder Rorty noch irgend jemand sonst vorbei.« 253 Deshalb eignet sich in solchen Fällen 254 – ebenfalls aus pragmatischen Gründen – eine kommunikative Vernunft besser als das »embracement« sämtlicher Ideen. Selbst Rorty würde dem – bei günstiger Gestimmtheit – wahrscheinlich beipflichten. Denn er betont selbst, er würde mit Habermas
250 Vgl. hierzu die kritischen Analysen zum Recht und der Anerkennung bei Honneth, Kampf um Anerkennung, a. a. O. 251 Ich möchte an dieser Stelle meine Kritik bescheiden halten, weil ich durchaus glaube, dass Rorty den Dialog, auch den öffentlichen, wünscht (vgl. hierzu insbesondere die Ausführungen zur bildenden Philosophie am Ende von Spiegel der Natur). Es bleibt nur unklar, wie und wo dieser Dialog stattfindet und in welcher Beziehung er zur Konstitution und Erweiterung des privaten Vokabulars steht und zur Selbsterschaffung beiträgt. 252 Ich schließe mich mit dieser Aussage an Rortys Interpretation des Personenbegriffs von Davidson an. 253 W. Reese-Schäfer, Richard Rorty, a. a. O., 148. 254 Sowohl Habermas’/Apels Diskurssituation als auch Rortys Embracement der Standpunkte setzen die Bereitschaft zur Kommunikation mit dem Anderen voraus (vgl. dazu Reese-Schäfer, Richard Rorty, a. a. O., 124 f.).
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Richard Rorty: die Bedeutung des Mitgefühls
politisch durchaus auf einer Linie liegen. 255 Das Mitgefühl könnte gerade an dieser Stelle jene Voraussetzung liefern, welche Habermas’ Idee einer kommunikativen Vernunft abgeht: nämlich die grundlegende Offenheit und die illokutionäre Absicht in der Auseinandersetzung mit Anderen. Oder konkreter formuliert: Habermas setzt die Anteilnahme am Schicksal des Anderen bereits voraus, Rorty möchte hingegen diese Anteilnahme zunächst kultivieren. Mitgefühl als »universal bonding«? Die (allzu) menschlichen Grenzen der Kontingenz und Selbsterschaffung Schließlich möchte ich zu bedenken geben, dass die Abwesenheit einer Entwicklungstheorie, wenn auch in Form einer Metapher, zu einer emotionalen Überforderung führen kann. Oder um es noch deutlicher zu sagen: Ist es wirklich möglich, unser Mitgefühl, in der Weise wie wir es für enge Familienangehörige empfinden, auf alle Menschen auszudehnen? In seinem Buch Bowling Alone 256 beschreibt der Soziologe Robert Putnam familiäre Solidarität als bonding. Bonding ist für ihn ein soziales Moment von (zumeist) kleineren Gruppen, in welchen das Zusammengehörigkeitsgefühl durch die verstärkte Abgrenzung von anderen erfolgt. Identifikations- und Anerkennungsprozesse verlaufen in der Regel über negative Formulierungen oder Komparative (z. B. nicht so wie …, oder: besser als …, wünschenswerter als … etc.). Bonding groups gehorchen damit in ihrer Funktion einer Art »favor bank« – »I’ll do this for you now in expectation that you will return the favor«. 257 Rorty beschreibt die Solidarität auf ähnliche Weise: Zunächst empfinden wir für unsere Familie Mitgefühl, dann für unsere Freunde usw. Dabei bleibt die Qualität des Gefühls der Solidarität auch in der erweiterten Variante gleich. Er spricht auch von einer Erweiterung des Wir-Begriffs. Aber ein solches »Wir« definiert sich genuin durch die Abgrenzung zu einem »Ihr«, ansonsten verliert die Vokabel an Sinn und Inhalt. Putnam hält das Gefühl des bonding gesamtgesellschaftlich, und 255 Vorausgesetzt solche Verhandlungen betreffen allein die Reduktion von Grausamkeit und verschonen die private bzw. philosophische Wahl der Selbstverwirklichung. 256 R. D. Putnam, Bowling Alone, New York 2000. 257 Ebd., 15 ff.
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eben wegen der Gefahr der erhöhten Abgrenzung von Personen außerhalb der Gruppe, für problematisch. Aus diesem Grund stellt er der Idee des bonding den Begriff des bridging gegenüber. Dabei geht es darum, das soziale Kapital von Gesellschaften im Sinne einer erweiterten Solidarität zu kultivieren. Die Idee des bridging entspricht einer Art generalized reciprocity: »I’ll do this for you without expecting anything specific from you, in the confident expectation that someone else will do something for me down the road.« 258 Putnam hält diese Art der Solidarität für effektiver: »a society characterized by generalized reciprocity is more efficient than a distrustful society, for the same reason that money is more efficient than barter.« 259 Das heißt, bonding gleicht einer Art »Sekundenkleber«, welcher Menschen auf ewig aneinander bindet oder zumindest bis das Ungleichgewicht an Geben und Nehmen wieder ausgeglichen ist. Bridging ermöglicht dagegen Solidarität ohne Haftung oder Verstrickungen, d. h., Individuen ist es ohne allzu große Probleme möglich, sich mit einer großen Vielfalt von Menschen auseinanderzusetzen. 260 Putnam selbst lässt den Leser jedoch bei der genauen Definition oder den Möglichkeiten einer Kultivierung des bridging weitgehend im Dunkeln. Die Philosophin Susan Gardner diskutiert in ihrem Artikel »Communicating toward Personhood« Putnams These des bonding und bridging ausführlich. 261 Sie schlägt vor, brigding mit dem kantischen Personenbegriff (d. i. selbstbewusst, rational) in Verbindung zu setzen und nimmt bei der praktischen Ausführung u. a. auf Habermas Bezug. An dieser Argumentation ist interessant, dass sie öffentliche Diskussionen (im Sinne Habermas’) über moralisch-ethische Fragen für zentral hält. Anders jedoch als Habermas legt sie dabei nicht unbedingt Wert auf die Erreichung eines Konsenses. Vielmehr soll durch die rationale Auseinandersetzung mit anderen das Personsein der Kommunikationsteilnehmer »sichtbarer« werden. Das heißt, durch die kommunikative Situation wird mir der Andere als Person in meinem Bewusstsein Ebd., 20 f. Ebd., 21. 260 Ebd., 23. 261 S. Gardner, Communicating toward Personhood, in: Analytic Teaching, Vol. 29, No. 1, 2009. Zuallererst gibt sie jedoch zu bedenken, dass der Begriff des bridging bei Putnam sehr vage bleibt. Deshalb versucht sie bridging über den kategorischen Imperativ sowie über Habermas’ Konzept des »kommunikativen Handelns« begrifflich zu klären. 258 259
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Richard Rorty: die Bedeutung des Mitgefühls
aktualisiert. Die hier immer wieder aufkommende Frage ist, ob wir zuerst Solidarität empfinden müssen, um in einen idealen Diskurs einzutreten oder ob wir durch einen solchen Diskurs erst Solidarität entwickeln. Oder anders gesagt: Basiert Solidarität auf Mitgefühl oder auf rationalem Verstehen? Ein so verstandenes bridging hat gegenüber dem bonding natürlich einen entscheidenden Vorteil: Ich muss mich nicht mit dem Anderen verbrüdern, um für ihn Solidarität zu empfinden, sondern es genügt, ihn als rationales, selbstbewusstes Wesen zu sehen. Dadurch kommt bridging ohne die Idee eines »Wir« und damit ohne Ausgrenzungen aus. Rorty selbst bezieht seine argumentative Schlagkraft immer wieder aus einem imaginären »Wir« (wir Liberale, wir Linke, wir Westler etc.) und scheint dadurch die mögliche Abgrenzung in Kauf zu nehmen. Denn auch er weiß, dass eine solche Abgrenzung für den kulturellen Identifikations- und Anerkennungsprozess notwendig ist. Die Gefahr liegt in der Emotionalität solcher Abgrenzungsprozesse. Das ist, was Putnam befürchtet: dass der Ausschluss, den das bonding mit sich führt, Grausamkeit und Unterdrückung ermöglicht – also gerade diese Seite des Menschen, die Rorty durch das weltweite »Wir« eigentlich zu vermeiden sucht. Grausamkeit wird so zur Schattenseite des Mitgefühls. Eine weitere Gefahr des bonding ist die einer emotionalen Überbelastung, welche in einer vollkommenen Abgrenzung enden kann. Denn, und dies ist mein dritter Vorbehalt gegenüber Rortys alleinigem Verlass auf weltweites Mitgefühl, es ist fraglich, ob die geforderte globale »Familienbande« emotional für den Einzelnen überhaupt tragbar ist. Die perspektivische Weite, welche Rortys Idee der Kontingenz und Selbsterschaffung mit sich bringt, wirkt befreiend und ermöglichend. Sie wird aber dort gefährlich, wo sie Menschen über ihre Grenzen hinaus drängt. Ich halte es deshalb für notwendig, in einem anderen Buch die Tragweite des Mitgefühls für die Konstitution transkultureller Solidarität genauer zu untersuchen.262
262 Vgl. Barbara Weber, Vernunft, Mitgefühl und Körperlichkeit: Eine phänomenologische Rekonstruktion des politischen Raumes, München 2013.
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3. Habermas und Rorty sprechen über Wahrheit, Vernunft und Mitgefühl
Vorgehensweise Rorty bezeichnet seine Divergenzen mit Habermas als »nicht wirklich ernsthaft«, weil sie »nur« philosophischer Natur seien – eben nicht politisch (vgl. KIS 29). Habermas empfindet auf ähnliche Weise, wenn er sagt: »While I’m in political sympathy with the anti-Platonist iconoclasts, my philosophical sympathy is on the side of the custodians of reason in those periods when a justified critique of reason loses the awareness of the implications of its inevitable self-referentiality, as with Aristotle, Thomas, Kant, and (even) early Heidegger (once understood in this way.)« 1 Aber wann immer Rorty sich scheinbar »leichtfertig« äußert, verbirgt sich dahinter zumeist eine große Portion Ironie. So verhält es sich auch in diesem Fall, denn der Neopragmatiker sieht den Stellenwert von Literatur und Philosophie mit vertauschten Vorzeichen: Die Literatur soll für Solidarität in der Öffentlichkeit sorgen, wohingegen der Philosophie einzig die Aufgabe privater Selbstvervollkommnung zukommt. In der Philosophie bewertet Rorty deshalb Denker wie Derrida, Nietzsche oder Heidegger als weitaus hilfreicher als Habermas oder Rawls; denn letztere haben zur privaten Vervollkommnung nicht viel beizutragen, auch wenn sie auf politischer Ebene »gute Mitbürger« sind. Was meint Rorty also, wenn er sagt, seine Auseinandersetzung mit Habermas sei »rein philosophisch«? Für Rorty haben philosophische Auseinandersetzungen nämlich keinerlei Bedeutung für den öffentlichen Diskurs. Sie gleichen einem Sprachspiel, das zur Erweiterung des privaten Vokabulars führt und bleiben in Beziehung zueinanJ. Habermas, Coping with Contingencies – The Return of Historicism, in: Jozef Niznik u. John T. Sanders (Hg.), Debating the State of Philosophy. Habermas, Rorty, and Kolakowski, Westport 1996, 6.
1
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Habermas und Rorty sprechen über Wahrheit, Vernunft und Mitgefühl
der idiosynkratisch. Dahinter steckt die Furcht, dass eine Theorie, die mehr erwartet als nur private Vervollkommnung, einen universalen Anspruch auf etwas stellt, was jede Person in Wirklichkeit nur individuell für sich leisten kann. Eine solche Theorie trüge automatisch totalitäre Züge im Sinne Orwells (vgl. WuF 466). Aus diesem Grund ist die ironische und rationalitätskritische Auffassung von Philosophen wie Foucault, Derrida oder Nietzsche schlichtweg irrelevant für das öffentliche Leben (vgl. KIS 142). Daraus folgt aber, dass, wenn eine Auseinandersetzung rein philosophisch ist, sie gar keine »Auflösung« benötigt. Sie bleibt »harmlos«, weil dem Ergebnis eines solchen Diskurses keine öffentliche Bedeutung zukommt. Wenn Rorty daher konstatiert, die Unstimmigkeiten zwischen ihm und Habermas seien einzig philosophischer Natur, dann bedeutet das zugleich, dass er Habermas’ gesamten Ansatz nicht anerkennt. Dies wird deutlich wenn man den Stellenwert betrachtet, den die Philosophie bei Habermas einnimmt: Für ihn ist die Philosophie nämlich nur insofern von Wert, als sie etwas zum öffentlichen Diskurs beizutragen hat bzw. auf solche Umstände hinweist, welche eine unverzerrte Kommunikation verhindern. 2 Das heißt aber, dass für Habermas die Philosophie nur einen öffentlichen, jedoch keinen privaten Nutzen 3 hat. Aus diesem Grund steht für ihn viel mehr auf dem Spiel, wenn Rorty sagt, die Uneinigkeiten seien philosophischer Natur, denn Philosophie und Politik hängen für ihn untrennbar voneinander ab. Daraus ergibt sich für diese Arbeit die Frage, ob die philosophischen Unstimmigkeiten die politische Überzeugung wirklich unbehelligt lassen können bzw. wie sich diese auf die Gewichtung der Bedeutung von Vernunft und Mitgefühl für den öffentlichen Raum auswirken. Aus diesem Grund werde ich den Dialog über Wahrheit zwischen Habermas und Rorty ausführlicher behandeln, als es auf den ersten Blick thematisch geboten erscheint. Aus dieser Problematisierung ergibt sich schließlich die Vorgehensweise für dieses Kapitel: Zu Beginn steht ein kurzer geschichtVgl.: »Der Grund (für seine Auseinandersetzung mit Habermas) liegt darin, dass ich Autoren wie Heidegger und Nietzsche als gute private Philosophen interpretiere, während sie von Habermas als schlechte öffentliche Philosophen gedeutet werden« (WuF 448). 3 Hingegen hat die Frage nach dem Sinn des Lebens für die Philosophie keinen Nutzen, weil sie über moralische Fragen nicht entscheidet (vgl. J. Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, a. a. O., 246 ff.). 2
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Philosophischer Melancholiker versus enttäuschter Anti-Platoniker?
licher Abriss zur Rolle des Mitgefühls und der Vernunft in der Moralphilosophie. Im Hauptteil werden die Ansätze von Habermas und Rorty zunächst auf philosophischer Ebene, d. h. mit Fokus auf die Epistemologie, verglichen. In einem zweiten Schritt werden die Auswirkungen auf politischer Ebene analysiert und das Verhältnis von Vernunft und Mitgefühl im Hinblick auf die Menschenrechte diskutiert. 4 Methodisch wird dabei folgendermaßen vorgegangen: In 3.2.1 wird vor allem auf solche Textpassagen zurückgegriffen, in welchen zunächst Habermas auf Rorty und schließlich Rorty auf Habermas antwortet. Die Argumentation verläuft monologisch. In 3.2.2 und 3.2.3 werden fast ausschließlich direkte Interviews bzw. Dialoge zwischen Rorty und Habermas herangezogen. Dahinter steht der Versuch, Habermas auf »Rortyisch« zu lesen sowie Rorty auf »Habermasisch«. Diese Beschreibungen werden den jeweiligen Originalpassagen gegenübergestellt, um auf solche Weise gegenseitige Zuschreibungen und Missverständnisse aufzudecken.
3.1 Philosophischer Melancholiker versus enttäuschter Anti-Platoniker? Habermas und Rorty im Dialog über Wahrheit »Es ist immer noch unklar, was uns dazu autorisiert, eine – in den Grenzen eines endlichen Geistes – als ideal gerechtfertigt unterstellte Aussage für wahr zu halten.« (Habermas, WuR 261)
Was führt uns dazu, eine ideal gerechtfertigte Aussage für wahr zu halten? Habermas und Rorty schlagen für die Beantwortung dieser Frage entgegengesetzte Richtungen ein. Diese philosophische Auseinandersetzung wird auf politischer Ebene fortgesetzt und führt schließlich zu der konträren Beurteilung des Stellenwerts von Vernunft bzw. Gefühl im öffentlichen Raum. Zunächst erscheint es jedoch kontraintuitiv Habermas als unerschütterlichen Melancholiker 5 zu bezeichnen, gilt er doch auf politiDer Hauptfokus liegt natürlich auf der letzteren Thematik. Wie aber bereits in den letzten beiden Kapiteln deutlich geworden ist, lässt sich weder die kommunikative Vernunft von der Diskurstheorie noch Rortys Mitgefühlsbegriff von seiner Erkenntniskritik abkoppeln. 5 Habermas sagt in FuG: »Dem revolutionären Bewusstsein ist die Melancholie einge4
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Habermas und Rorty sprechen über Wahrheit, Vernunft und Mitgefühl
scher Ebene eher als realpolitischer Denker. Umgekehrt kennt man Rorty eher als »politischen Träumer« denn als Realisten. Auf erkenntnistheoretischer Ebene sind die Vorzeichen jedoch vertauscht: Habermas erscheint aus neopragmatischer Perspektive melancholisch, weil er trotz aller Bewusstheit, dass eine absolute Wahrheit durch die diskursive Rechtfertigung nicht zu erreichen ist, dennoch an der Verbindung von Wahrheit und Rechtfertigung festhält. Wahrheit bleibt für ihn die ahnbare Ausrichtung in rationalen Diskursen, obwohl sie sich einer unmittelbaren Berührung stets entzieht. Rortys philosophische Grundhaltung erschließt sich hingegen am besten aus seiner Autobiographie. Dort beschreibt er seine philosophische Anfangsmotivation als das yeatssche Bedürfnis, »to hold reality and justice in a single vision« (Yeats). 6 Aber selbst die intensive Lektüre Platons konnte ihm keine definitiven Antworten auf solch dringende Fragen der sozialen Gerechtigkeit bzw. dem eigentlichen Sein der Dinge liefern. Rorty fühlte sich deshalb von der Philosophie »alleine gelassen« 7 und rechnet seither mit dem Platonismus und der Metaphysik ab. Er hat erkannt, dass Wahrheit aus der Perspektive des Menschen unerreichbar bleibt, weil sich rationale Begründungen nicht aus der Kontextualität bzw. den Bedingtheiten des Sprachlichen zu lösen vermögen. Daraus schließt er, dass wir nicht einmal beurteilen können, ob wir uns im Diskurs der Wahrheit angenähert oder von ihr entfernt haben. Aus holistischer Perspektive bleiben wir in der Sphäre der Intersubjektivität gefangen.
3.1.1 Zwei Thesen zur gegenseitigen Abgrenzung a.
Jürgen Habermas und das Janusgesicht der Wahrheit
Die Wahrheitstheorie von Habermas wurde bereits in Kapitel 1 ausführlich dargestellt. 8 Aus diesem Grund gehe ich im Folgenden nur schrieben – die Trauer über das Scheitern eines gleichwohl unaufgebbaren Projektes« (FuG 609). Es scheint, dass Habermas auch auf der philosophischen Ebene im Hinblick auf die potentielle Annäherung an die Wahrheit durch Rechtfertigung eine ähnliche Haltung annimmt. 6 Vgl. R. Rorty, Trotsky and the Wild Orchids in: Wild Orchids and Trotsky: Messages from American Universities, hg. v. Mark Edmundson, New York 1993. 7 Vgl. ebd. 8 Vgl. zur Diskurstheorie weiter oben.
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Philosophischer Melancholiker versus enttäuschter Anti-Platoniker?
auf die aktuellsten Veränderungen ein, welche Habermas in Wahrheit und Rechtfertigung und im direkten Anschluss an Rortys wiederholte Kritik dargelegt hat. Durch die gezielte Akzentuierung und Unterscheidung der Begriffe »Wahrheit« und »Rechtfertigung« nähert sich Habermas einerseits Rorty an; grenzt sich aber andererseits im Resultat wieder von ihm ab. Ich werde im Folgenden zeigen, wie dies zu verstehen ist. Noch vor wenigen Jahren folgte Habermas (gemeinsam mit Apel) einem prozeduralen Wahrheitsbegriff, d. h. die Bewährung von Aussagen innerhalb einer idealen und normativ anspruchsvoll gestalteten Argumentationspraxis. Nun aber bekennt Habermas, dass eine solche prozedurale Auffassung kontraintuitiv ist, denn »Wahrheit [ist] offensichtlich kein Erfolgsbegriff« (vgl. WuR 50). Der konzeptionelle Zusammenhang von Wahrheit und Rechtfertigung (selbst unter idealen Bedingungen) schließt immer und grundsätzlich die Möglichkeit des Fallibilismus ein und kann damit nicht mehr den Begriff der Wahrheit als unverlierbare Eigenschaft beanspruchen (vgl. ebd.). Zwar behält der rationale Diskurs seinen ausgezeichneten Stellenwert im Hinblick auf die Dezentrierung der Erkenntnisperspektiven und unparteilichen Urteilsbildung. Ebenso bleibt die Argumentation das einzige Mittel der Wahrheitsvergewisserung, da es einen unvermittelten, direkten Zugriff auf die Welt, jenseits der Sprache, eben nicht gibt. Aber dennoch muss Wahrheit von der diskursiven Einigung vermittels gerechtfertigter Aussagen unterschieden werden. »Obgleich wir durch den Zusammenhang von Wahrheit und Rechtfertigung nicht hindurchgreifen können, darf freilich dieser epistemisch unhintergehbare Zusammenhang nicht – im Sinne eines epistemischen Wahrheitsbegriffs – zu einem konzeptuell unauflöslichen Zusammenhang stilisiert werden.« (WuR 52) Als Antwort auf diesen Konflikt arbeitet Habermas das »Janusgesicht der Wahrheit« heraus: Welchen Stellenwert hat der Begriff der Wahrheit, wenn sie sich einerseits der konkreten Handlung und andererseits den Diskursen zuwendet? Erfolgsorientiertes wie kommunikatives Handeln unterstellt die Existenz einer objektiven Welt. Eine solche Zuschreibung bezieht sich auf die Dinge selbst und geht von einem »rechtfertigungstranszendenten Bezugspunkt« aus: »[D]ie in ihre Praktiken verwickelten Subjekte beziehen sich aus dem Horizont einer Lebenswelt auf etwas in der objektiven Welt, die sie, ob in Kommunikation oder Intervention, als eine unabhängig existierende und 275 https://doi.org/10.5771/9783495860601 .
Habermas und Rorty sprechen über Wahrheit, Vernunft und Mitgefühl
für alle identische Welt unterstellen« (WuR 25). Aufgrund dieser Unterstellungen und der Verankerung im konkreten Handlungsgeschehen, ist es das »Ziel von Rechtfertigungen, eine Wahrheit herauszufinden, die über alle Rechtfertigungen hinausragt« (WuR 53). Dies führt die Kommunikationsteilnehmer natürlich in eine paradoxe Situation: »Einerseits können sie kontroverse Wahrheitsansprüche ohne direkten Zugriff auf Wahrheitsbedingungen nur dank der Überzeugungskraft guter Gründe einlösen; andererseits stehen auch die besten Gründe unter Fallibilitätsvorbehalt, so dass gerade dort, wo ja die Wahrheit und Falschheit von Aussagen allein zum Thema gemacht wird, die Kluft zwischen rationaler Akzeptabilität und Wahrheit nicht überbrückt werden kann« (WuR 53). Solange wir in die lebensweltlichen Praktiken involviert sind, gibt es keinen Raum für Wahrheitsvorbehalte. Oder wie Habermas treffend bemerkt: »Wir betreten keine Brücke, an deren Statik wir zweifeln« (WuR 52). Diese Wahrheitsansprüche der Lebenspraxis sind unbedingt, obgleich sie jedes epistemischen Index entbehren. Solche lebensweltlichen Wahrheitsansprüche werden nur dann problematisch, insofern sie scheitern und sprachlich-reflexiv thematisiert werden. »Erst mit dem Übergang vom Handeln zum Diskurs nehmen die Beteiligten eine reflexive Einstellung ein und streiten sich über die zum Thema gemachte Wahrheit kontroverser Aussagen im Lichte der pro und contra vorgebrachten Gründe.« (WuR 52) Natürlich bleibt das Paradox bestehen: Auf der einen Seite verlangt die Gegenständlichkeit der Welt nach der Tatsächlichkeit von Wahrheitsanprüchen, auf der anderen Seite vermögen wir in Rechtfertigungspraktiken über die gerechtfertigte Begründbarkeit nicht hinauszugelangen. Weil aber Diskurse eine Art »Entsorgungsfunktion« haben, d. h., weil sie ein gestörtes Hintergrundverständnis wiederherstellen sollen, bleiben sie an die lebensweltlichen Praktiken und Handlungen rückgebunden. Wenn nun schließlich alle Argumente, unter möglichst idealen Bedingungen, hervorgebracht wurden, so haben, laut Habermas, die Teilnehmer keinen vernünftigen Grund mehr, noch länger in ihrer reflexiven Diskurshaltung zu verweilen, sondern können zum Handeln zurückkehren. Der Perspektivenwechsel von der Handlung zum Diskurs erfolgt durch eine Problematisierung. Die Rückkehr zur Handlung ist wiederum das Resultat einer geglückten diskursiven Lösung, welche sich nun in der erfolgreichen Handlungspraxis erproben muss. Aus diesem Grund führt die Relativierung der Diskurstheorie nicht gleichzeitig zum Zusammenbruch des Begriffs der »kommuni276 https://doi.org/10.5771/9783495860601 .
Philosophischer Melancholiker versus enttäuschter Anti-Platoniker?
kativen Vernunft«, sondern hilft, das Verhältnis zwischen »Sprechhandeln« und »Lebenswelt« aus vertikaler wie horizontaler Perspektive zu präzisieren: »Die vertikale Blickrichtung auf die objektive Welt verschränkt sich mit der horizontalen Beziehung zu den Angehörigen einer intersubjektiv geteilten Lebenswelt. Objektivität der Welt und Intersubjektivität der Verständigung verweisen reziprok aufeinander« (WuR 25). Durch die Unterscheidung zwischen einem diskursiv-pragmatischen und einem absoluten Wahrheitsbegriff nähert sich Habermas Rorty an, weil er a. zugibt, dass absolute Wahrheit nicht ohne Fallibilismuszweifel durch rationale Rechtfertigung zu erreichen ist. Habermas grenzt sich im Endresultat aber von Rorty ab, weil er b. eine Annäherung an eine diskursive Wahrheit durch die Kombination von rationaler Rechtfertigung und lebensweltlichem Handlungserfolg für möglich hält. 9 Natürlich gibt Habermas selbst zu bedenken, dass es sich hierbei zunächst um einen Zirkelschluss handelt: Die Frage ist, was die Argumentationsteilnehmer zu überzeugen vermag bzw. ihnen Grund zur Hoffnung gibt, dass sie sich überhaupt der »Wahrheit« angenähert und nicht von ihr entfernt haben, 10 bzw. warum kann hier überhaupt von »Wahrheit« gesprochen werden? Zunächst kann eine Einigung nicht dem Handlungsdruck der Beteiligten alleine entspringen, sondern muss den Teilnehmern rational einleuchten. Im Rückgriff auf Wingert geht es dabei um den rationalen Erwerb von Wissen in Lernprozessen, d. h. einen einsehbar genetischen Zusammenhang zwischen Wissen bzw. um den Wissensanspruch als Resultat eines rationalen Lernprozesses. Natürlich vermag eine solche Argumentation den Graben zwischen Rechtfertigung und Wahrheit nicht zu schließen, erscheint aber als die bestmögliche Lösung aus pragmatischer Sicht: »Soweit sich Wissen aus einem Lernprozess
Eine solche Verknüpfung von Wahrheit und Rechtfertigung hält Rorty für absolut willkürlich: »I protest that the explicandum is just not there. We do not see beyond what is justified« (vgl. Richard Rorty, Response to Habermas, in: R. B. Brandom (Hg.), Rorty and his Critics, a. a. O., 56). 10 Darin besteht auch einer der Haupteinwände Rortys: Sobald wir erkennen, dass unsere Wahrheitsdiskurse immer auf die Relativität von Rechtfertigungen beschränkt bleiben, können wir nicht wissen, wann wir uns der Wahrheit angenähert haben. Aus demselben Grund macht der Peirce’sche Wahrheitsbegriff für Rorty epistemologisch wenig Sinn, wenn er ihn auch politisch für durchaus angemessen hält. 9
277 https://doi.org/10.5771/9783495860601 .
Habermas und Rorty sprechen über Wahrheit, Vernunft und Mitgefühl
rechtfertigt, der alte Irrtümer überwindet, aber vor neuen nicht schützt, bleibt jeder aktuelle Wissenstand relativ zur jeweils bestmöglichen epistemischen Situation. […] Akteure, die mit der Welt zurechtkommen, konsumieren ihre Handlungsgewissheiten, aber für Subjekte, die sich im Rahmen von Diskursen ihres Wissens reflexiv vergewissern, sind das Wahrsein und die Fallibilität einer Aussage zwei Seiten derselben Medaille« (WuR 55). Aus diesem Grund (physisch-intersubjektive Verwiesenheit und Tatsächlichkeit von Gegenständen) können wir der Orientierung am Wahrheitsbegriff (sowohl im Diskurs als auch im Handeln) gar nicht entgehen bzw. aus dem horizontalen Lebensweltzusammenhang durch den Dialog ausbrechen. Das heißt, auf der vertikalen Ebene bleiben wir auf die Idee einer absoluten Wahrheit ausgerichtet und erleben diese im tagtäglichen Umgang mit der Physikalität der Welt. Sie wurzelt in der unreflektierten Annahme eines So-Seins des Handlungskontexts. »Dabei hängt das fallibilistische Bewusstsein, dass wir uns auch im Falle gutbegründeter Meinungen irren können, allerdings von einer Wahrheitsorientierung ab, deren Wurzeln in jenen – innerhalb des Diskurses außer Kraft gesetzten – Realismus der Alltagspraxis hinabreichen.« (WuR 262) Eine Verbindung zwischen Wahrheit und Rechtfertigung ist durch die Verankerung im Handlungsprozess immer schon gegeben, weil auch die Inhalte des Diskurses an die Physikalität rückgebunden bleiben. Oder einfacher gesagt: Wir mögen gute Gründe haben und uns einig sein, dass eine Brückenkonstruktion tragfähig ist, aber dennoch bei der Realisation feststellen, dass wir uns tatsächlich-faktisch geirrt haben. In Problemsituationen, wenn Teilbereiche der Lebenswelt angezweifelt werden, begehrt die innere Vertikale nach einer neuen Ausrichtung an der Wahrheit. Dies vollzieht sich auf der vertikalen Ebene eines erfolgsorientierten und subjektzentrieren Handelns. Jedoch erst auf der horizontalen Ebene erhält diese Vertikale ihre Stabilität und wird sozial-gesellschaftlich aktualisiert. Im kommunikativ-horizontalen Handeln bleiben wir hingegen auf rationale Rechtfertigungsprozesse beschränkt, welche sich immer auch als falsch herausstellen können. Die ideale Sprechsituation bei Habermas versucht, im Falle einer solchen Problematisierung, eine maximale Annäherung an die absolute Wahrheit durch intersubjektive Lernprozesse zu erreichen: d. i. in der Kombination von Wahrheit und Rechtfertigung sowie Sprechhandeln und Lebenswelt. Die Deckungsgleichheit beider Größen – der dis278 https://doi.org/10.5771/9783495860601 .
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kursiven und der absoluten Wahrheit – 11 bleibt jedoch außerhalb der menschlichen Beurteilungsmöglichkeiten. Diese epistemologische Einschränkung der Diskurstheorie durch das Janusgesicht des Wahrheitsbegriffs wirft nun aber das Problem auf, dass die kommunikative Vernunft für die Erreichung einer absoluten Wahrheit nicht mehr als zwingend angesehen werden kann – denn der fallible diskursive Wahrheitsbegriff unterscheidet sich vom absoluten Wahrheitsbegriff. Dies führt auf philosophisch-epistemologischer Ebene zu einer Teilentwertung des »Blicks des Anderen«. Auf politischer Ebene hingegen hält Habermas weiter am prozeduralen Wahrheitsbegriff fest. Erstens, weil sich eine solche diskursive Praxis durchaus bewährt hat, und zweitens, weil soziale Konflikte eine engere Verbindung zwischen Rechtfertigung und Wahrheit vermuten lassen. Vertikale Absolute Wahrheit
These: Annäherung an abs. Wahrheit durch rationalen Diskurs ist möglich, wenn an Lernprozess geknüpft
Kommunikatives Handeln und intersubjektive Diskurssituation
Krise: abs. Wahrheit Lösung: reflektive wird angezweifelt Haltung im rat. Diskurs Begehren: Ergebnis: Lernprozess, Wiedererlangung der aber auf komm. der abs. Wahrheit Ebene bleibt
Horizontale Kommunikative Wahrheit
solange Lebensweltverankerung und teleologisches Handeln erfolgreich sind, bleibt abs. Wahrheit unthematisiert
Die terminologische Unterscheidung zwischen absoluter und diskursiver Wahrheit wird hier zur Verdeutlichung eingeführt und beschränkt sich einzig auf diese Auseinandersetzung zwischen Habermas und Rorty.
11
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Habermas und Rorty sprechen über Wahrheit, Vernunft und Mitgefühl
b.
Richard Rorty und der Abschied von der Philosophie »Epistemologically, he [Rorty] is an anti-representationalist; metaphysically, he is an anti-essentialist; ethically, he is an anti-foundationalist, or anti-cognitivistic. Metaphilosophically, he is an antiphilosophical, that is, he seems to advocate the end of professionalized philosophy. Politically, he is antinormative.« 12
Inwiefern wendet sich Rorty argumentativ von Habermas ab und warum muss dies notwendig zu einem Abschied der Philosophie (im Sinne einer Wissenschaft) führen? 13 Rorty lehnt alle Formen einer Korrespondenztheorie ab, weil er nicht glaubt, dass sich ein Vokabular besser an die Welt »anschmiegt« als ein anderes (vgl. WuF 125). Für ihn sind sowohl die Naturwissenschaften (vgl. WuF 124 ff.) als auch die Philosophie nichts anderes als moderne Märchen oder phantasievolle und beizeiten auch nützliche Metaphern, welche jedoch allesamt das verfehlte Ziel haben, die tatsächliche Wahrheit für sich in Anspruch zu nehmen. 14 Dies führt ihn zu dem problematischen Verhältnis zwischen Wahrheit und Rechtfertigung: »Rechtfertigung oder Begründung ist unser einziges Kriterium für die Anwendung des Wortes ›wahr‹, und Begründungen sind immer relativ zu ihrer Hörerschaft« (WuF 11). Aus diesem Grund ist die Frage, ob oder wie Begründungsverfahren zur Wahrheit führen, unbeantwortbar. Und selbst das Stellen einer solchen Frage kann als unpragmatisch gesehen werden. Wie oben dargestellt, ergänzt Habermas in neueren Aufsätzen seinen a. prozedural, falliblen und lebensweltimmanenten Wahrheitsbegriff durch einen b. absoluten Wahrheitsbegriff, welcher den Fallibilismus des Diskurses notwendig transzendiert. Habermas sieht a. als notwendiges Kriterium, vermittels welchem wir uns b. annähern, wenngleich nicht immer 100 %ig erreichen. Im Unterschied dazu E. Mendieta, Introduction, in: Richard Rorty, Take Care of Freedom and Truth will Take Care of Itself, hg. v. E. Mendieta, Stanford 2006, xvii. Solche groben Einordnungsversuche sind gerade im Fall Rortys natürlich äußerst problematisch, wenn nicht gar fehlgeleitet. Denn er möchte nicht etwa die Möbelstücke im philosophischen Elfenbeinturm herumschieben, sondern es geht ihm darum, einen neuen Ort für ein offenes Gespräch zu finden – ohne Decken, ohne Wände, ohne begriffliche oder gedankliche Begrenzungen. Mendieta kommt an einer anderen Stelle auf einen ähnlichen Schluss (vgl. ebd., xvii). 13 Auch hier verweise ich auf das ausführliche Kapitel weiter oben und beschränke mich auf solche Äußerungen, welche direkt als Antwort auf Habermas zu verstehen sind. 14 Vgl. die ausführliche Philosophiekritik in SdN, dargestellt in Kapitel 2 weiter oben. 12
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spricht Rorty a. das Prädikat der Wahrheit ab; b. hingegen ist, weil grundsätzlich unerreichbar, für Menschen weder von Interesse noch von Belang. Deshalb möchte er die Unterscheidung zwischen Wahrheit und Rechtfertigung auflösen und durch den Begriff der Solidarität ersetzen. Dies folgt der pragmatischen Begründung, dass Solidarität das einzige ist, worauf wir hoffen können. Natürlich – und hier nähert sich Rorty inhaltlich an den prozedural-diskursiven Wahrheitsbegriff bei Habermas an – kann Solidarität das Resultat kommunikativer Überzeugungsprozesse sein. Aber es ist eben nicht die einzige Möglichkeit der Kultivierung von Solidarität, sondern beruht zu einem großen Teil auch auf emotionaler Zuwendung. Er unterscheidet also klar zwischen einer unerreichbaren absoluten Wahrheit (Vertikale) und einem problemlösungsorientierten Diskurs (Horizontale). Beide stehen jedoch in keinerlei Verbindung. Daraus folgt, dass weder die Vernunft solcher Diskurse noch der Unterschied zwischen strategischem und kommunikativem Handeln nützlich sind. Vielmehr geht es darum, dass wir uns im öffentlichen Bereich emotional einander »näher kommen« und dadurch für die Belange des Anderen offen bleiben. Im Anschluss an den Darwinismus ist Sprache für Rorty eine pragmatische Weise, die Welt zu beschreiben und ihr dadurch eine situationsadäquate Sinnstruktur zu geben. Solche Beschreibungen sagen jedoch rein gar nichts über die eigentliche Struktur der Welt aus. »Einer der Vorteile der Befreiung vom Begriff des inneren Wesens der Realität liegt darin, dass man sich von der Vorstellung löst, die Quarks besäßen einen anderen ›ontologischen Rang‹ als die Menschenrechte« (WuF 17). Weil es sich bei sämtlichen Konzepten nur um problemlösungsorientierte Ansätze handelt, geht es ihm eben nicht um ein Mehr an Vernunft, sondern vielmehr um ein Mehr an Phantasie im privaten und ein Mehr an Mitgefühl im öffentlichen Bereich (vgl. WuF 18). Letztes Ziel in diesem kontinuierlichen Prozess der Reifung ist also nicht die Annäherung an Wahrheit, sondern das pragmatisch-darwinistische Ziel der bestmöglichen Anpassung oder Problemlösung. Methodisch hatte hier einst die Philosophie die Religion ersetzt. Nun möchte Rorty die Philosophie durch die Literatur ersetzen (vgl. PCP 94 ff.), weil sie in ihrer Zielsetzung viel weniger festgelegt ist. Philosophie ist lediglich von privatem Interesse, also zur Selbsterschaffung und Erweiterung des eigenen Vokabulars. Von allen öffentlichen Belangen bleibt sie jedoch unberührt (vgl. KIS). Im Gegensatz zu Haber281 https://doi.org/10.5771/9783495860601 .
Habermas und Rorty sprechen über Wahrheit, Vernunft und Mitgefühl
mas, bei welchem die rationalen Diskurse der Horizontalen, vertikal durch Handlungserfolg (unten) und absolute Wahrheit (oben), verankert bleiben, schneidet er die Fäden zwischen Wahrheit und Rechtfertigung endgültig durch: Das heißt, es gibt weder eine Rückversicherung durch den Lebensweltkontext noch ein inneres Begehren nach Wahrheit, sondern einzig die Solidarität (durch Worte oder Mitgefühl) auf horizontaler Ebene. Sie bleibt entkoppelt von jeglicher physischphänomenalen Rückversicherung oder jeglichem metaphysischen Begehren. Rorty erscheint deshalb wie ein enttäuschter Platoniker, der auf seiner Suche nach Wahrheit und Gerechtigkeit mit leeren Händen und ohne Neuigkeiten zu den Gefangenen in der Höhle zurückgekehrt ist. Die Sonne ist für die Höhlenbewohner ohne Belang, denn dort gibt es eben nur das Feuer und die Schattenspiele. Dennoch befreit er die Gefangenen, indem er vorschlägt, unsere eigenen Schattenbilder auf 282 https://doi.org/10.5771/9783495860601 .
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die Wand zu projizieren. Aus diesem Grund begrüßt er einerseits die Idee einer kommunikativen Vernunft, weil sie sich auf den horizontaldiskursiven Bereich beschränkt. Andererseits bezweifelt er die Annahme Habermas’, dass sie eine allgemeine Geltung beanspruchen kann, d. h. eine »ewige Wahrheit«. Habermas hängt, nach Rortys Auffassung, an der »Universalität der Geltungsansprüche« wie an einem letzten Strohhalm, der ihn – wenngleich schwach – mit der Vertikalen verbindet. »Der einzige Unterschied zwischen Habermas und mir betrifft den Nutzen des Begriffs ›allgemeine Geltung‹, und dieser Unterschied ist im Vergleich mit den Überschneidungen zwischen unseren Ansichten unerheblich.« (WuF 24) Es ist für ihn unerheblich, weil dieser Unterschied eben bloß »philosophischer« Natur ist. Da aber für Rorty die Philosophie ohnehin in den privaten Bereich gehört, ist dies nicht störend, wichtig oder weltbewegend, sondern nur eine Geschmacksfrage; ähnlich dem Unterschied, ob jemand lieber Barolo oder Merlot mag.
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Habermas und Rorty sprechen über Wahrheit, Vernunft und Mitgefühl
3.1.2 Transatlantische Annäherungen zwischen Phänomenologie und Sprachphilosophie a.
Philosophische Denkbewegungen zwischen Wahrheit und Rechtfertigung
Habermas 15 und Rorty stimmen sowohl in ihrer Absage an die Korrespondenztheorie überein als auch in ihrem Verständnis von Wahrheit als »warranted assertability«. Ebenso beziehen sich beide auf den amerikanischen Pragmatismus. Hier aber beginnen bereits die ersten Unterschiede: Rorty bezieht sich auf Dewey und James, wohingegen Habermas sich eher an Peirce orientiert. Rorty sieht Wahrheit ganz im Sinne der Nützlichkeit, »was für uns zu glauben am besten ist«. Mit dieser Aussage läutet er zugleich den Neopragmatismus ein und verzichtet auf den Unterschied zwischen Machen und Finden, Konstruktion und Aufdeckung. Der begriffliche Unterschied zwischen »wahr als rational akzeptierbar in einem gegebenen Kontext der Rechtfertigung« und der dekontextualisierten Aussage »wahr als rational akzeptabel« ist damit weder argumentativ haltbar noch pragmatisch. Habermas – mit Seitenblick auf Peirce – warnt vor einer solcher Einebnung: 16 »If ›truth‹ is explained in terms of rational acceptability, and if the cautionary use of the truth-predicate reminds us of the fact that what is ›justified‹ by our best available standards might still not be ›true‹, we must not assimilate truth to rational acceptability. We have to build some reservation into the notion of rational acceptability if we want to bridge the gap, but we must not blur the line between ›-is true‹ and ›-is justifiably held to be true‹«. 17 Habermas hält daher weiterhin an der Aussage fest, dass »[w]ahr ist, was unter idealen Umständen als Für die folgende Argumentation beziehe ich mich auf solche Artikel oder Interviews, in welchen Habermas und Rorty in direktem Dialog miteinander stehen: Vgl. u. a. J. Habermas, Coping with Contingencies – The Return to Historicism, in: J. Niznik u. J. T. Sanders (Hg.), Debating the State of Philosphy, Habermas, Rorty, and Kolakowski, a. a. O.; sowie J. Habermas, Richard Rorty’s Pragmatic Turn, in: R. B. Brandom (Hg.), Rorty and his Critics, a. a. O. Hinzu kommt Habermas’ Artikel in WuR (230–271), in welchem er direkt auf Rortys Einwände Bezug nimmt. Ich werde diesen Aufsatz, aufgrund seiner zentralen und aktuellen Stellung für diese Debatte, hier nochmals heranziehen. 16 Ich beziehe mich hier auf ein Gespräch zwischen Habermas und Rorty, das auf Englisch geführt wurde. Deshalb wird Habermas hier in englischem Original zitiert. 17 J. Habermas, Coping with Contingencies, a. a. O., 21. 15
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rational akzeptiert werden darf« (WuR 256). Dagegen sind vielfache Einwände hervorgebracht worden: Die einen kritisieren, dass Wahrheit so in eine zu weite Ferne rücken würde, andere wiederum kritisieren, sie würde sich nicht klar gegenüber einer gerechtfertigten Behauptbarkeit abgrenzen. 18 Gegen die kontextualistisch motivierten Einwände Rortys gibt Habermas zu bedenken, dass wir in idealisierten Sprechsituationen nicht nur von unserer jeweiligen Kultur ausgehen, sondern an den prozessualen Rechtfertigungspraktiken ansetzen, welche in eigentlich allen Kulturen vorzufinden sind, d. h., welche als kulturübergreifend gesehen werden können. Hierzu gehört z. B. auch die illokutionäre Absicht, d. h., dass Personen, die an einer Diskussion teilnehmen, um etwas zu lernen oder etwas herauszufinden, sich nur durch den zwanglosen Zwang des besseren Arguments überzeugen lassen (vgl. WuR 258 f.). Faktisch gehen dabei die Kommunikationsteilnehmer immer schon davon aus, dass eine auf diese Weise gefundene Deutung nicht nur für unseren Kontext gilt, sondern in allen möglichen Kontexten richtig ist. Andernfalls würden sie gar nicht erst in einen solchen Diskurs eintreten. Natürlich bedeutet das nicht zugleich, dass »p« tatsächlich wahr ist, denn in der Tat ist es nicht möglich, einen unmittelbaren, sprachtranszendenten Zugriff auf die Dinge zu erlangen. Auch bleibt uns der Vorgriff auf zukünftige Einwände verwehrt, weil die Zeit für den Menschen eine faktische Beschränkung ontologischer Art darstellt. Diese notgedrungene Provinzialität des endlichen Geistes führt uns dazu, dass wir uns mit der rationalen Akzeptierbarkeit von Aussagen zufrieden geben müssen (vgl. WuR 260). Daraus ergibt sich nun die zentrale Frage: nämlich was uns eigentlich dazu »autorisiert« eine unter idealen Voraussetzungen gerechtfertigte Aussage auch für wahr zu halten. Rorty bringt diese Kritik auf den Punkt, wenn er konstatiert: »I cannot see what idealized rational acceptability can mean except acceptability to an ideal community.« 19
Oder wie Davidson es treffend auf den Punkt bringt: »it would be apparent either that those conditions allow the possibility of error or that they are so ideal as to make no use of the intended connections with human abilities.« (D. Davidson, The Structure and Content of Truth, 1990, 307, zit. nach Habermas, WuR 257). Vgl. auch Habermas selbst in Nachmetaphysisches Denken, 154. 19 R. Rorty, Sind Aussagen universelle Geltungsansprüche?, in: Dtsch. Z. Philos. (42), 1994, 982 f. 18
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b.
Möglichkeiten und Grenzen des epistemischen Zweifels: phänomenologische versus sprachphilosophische Restriktionen
In dieser Auseinandersetzung zwischen Wahrheit und Rechtfertigung wird deutlich, dass Habermas und Rorty ihre Argumentation vor einem grundsätzlich verschiedenen philosophiegeschichtlichen Hintergrund entwickeln. Habermas’ Argumentation wurzelt in einer phänomenologisch inspirierten präreflexiven Lebenswelt, 20 wohingegen Rortys Argumente auf einen sprachphilosophischen Holismus 21 zurückgeführt werden können. Habermas antwortet daher auf Rortys Kritik an der Verbindung zwischen Wahrheit und Rechtfertigung durch seine – oben bereits erwähnte – »janusköpfige« Wahrheitskonzeption, in welcher er die beiden Seiten – absolute Wahrheit und präreflexive Handlungsgewissheit – vermittels des rationalen Diskurses miteinander zu verbinden sucht: 22 Grundsätzlich finden wir uns immer schon in einem präreflexiven Engagiertsein in der Welt vor. In dieser Sphäre der vorreflexiven Handlung agieren wir vor dem Horizont einer intersubjektiv geteilten Lebenswelt, in welcher sich alle Akteure auf eine »objektive« Welt beziehen. Dabei geht es jedoch nicht um ein »korrektes Bild der Natur«, sondern um das Funktionieren bzw. das Zurechtkommen mit der Welt. Wir nehmen daher erst dann eine reflexive Einstellung zur Welt ein, wenn unsere Deutung – entweder durch andere oder durch Misserfolg – in Frage gestellt wird. Nur durch diese Problematisierung unserer Interpretation wird der rationale Diskurs notwendig. Ziel dieses Diskurses ist die Rückkehr und Wiederaufnahme des unproblematischen und vorreflexiven Handlungsprozesses. Das heißt, »unsere Welt« (Deutung) kann wieder mit »der Welt« (Deutung) verschmelzen (vgl. WuR 261). Hieraus leitet sich die janusköpfige Struktur des Wahrheitsbegriffes ab. Eine Seite der Vertikalen bleibt im lebensweltlichen Handlungskontext verankert. Die andere Seite dieser Vertikalen soll im Diskurs (also auf horizontaler Ebene) wieder auf die (absolute Wahrheit) ausgerichtet werden. Parallel dazu bewähren sich Überzeugungen a. auf der Handlungsebene anders als b. im Diskurs. Hier (a.) bleiben sie vorreflexiv und unproblematisch, aber bewähren sich im Erfolg einer Vgl. hierzu die detaillierten Ausführungen zur Verankerung des Begriffs der kommunikativen Vernunft in dem phänomenologischen Lebensweltbegriff in Kap. 1. 21 Vgl. hierzu Kap. 2 zum Holismus. 22 Vgl. Habermas, Wahrheit und Rechtfertigung, a. a. O., 230–271. 20
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Handlung, dort (b.) werden sie problematisiert und bewähren sich durch das überzeugendere Argument. »Zwar stellt sich die Frage nach der internen Verbindung von Rechtfertigung und Wahrheit nur auf dieser reflexiven Ebene; aber eine Antwort darauf erlaubt erst die Interaktion zwischen Handlungen und Diskursen.« (WuR 263) Erst die Kombination von Handlungserfolg (Vertikale) und rational-bewusster Rechtfertigung im Dialog (Horizontale) ermöglicht eine adäquate Orientierung an einer absoluten Wahrheit. Eine Anlehnung an diese Kombination aus Handlung und Diskurs (Welt und Sprache) findet sich bei Rorty einzig in der Berührung mit der Welt vermittels bestimmter »pressure points«. In dieser Berührung mit der Welt geht es lediglich um den »angepasstesten Umgang« mit der Welt. Äußerlich betrachtet findet sich also eine gewisse Nähe zwischen Habermas und Rorty, denn beiden geht es um die Ergänzung der Subjekt-Objekt-Beziehung durch das Gespräch und damit um die solidarische Konstitution eines gemeinsamen Lebensraumes. Die Ergebnisse eines solchen Gesprächs bewähren sich im Handlungserfolg. Jedoch unterscheidet sich die Rolle des Diskurses: Bei Habermas dient der Diskurs als Reparaturleistung in Bezug auf einen problematisch gewordenen Handlungskontext. Ziel ist die soziale Re-Integration. Bei Rorty hingegen scheint der Diskurs am Anfang zu stehen, weil hier Träume, Hoffnungen und Phantasien für die Zukunft zum Ausdruck gebracht werden. Sie bewähren sich schließlich im adäquaten Umgang mit der Welt. Das ist interessant, weil es die jeweiligen Präferenzen von Habermas bzw. Rorty hervorbringt: Bei Habermas ist es die physischmenschliche Verankerung im sozialen Handlungskontext, bei Rorty die sprachliche (Re-)Konstruktion der Wirklichkeit. Bei Habermas wird der Wahrheitsbegriff aus menschlich bedingter Perspektive anvisiert. Bei Rorty hingegen entfernt sich der absolute Wahrheitsbegriff so weit vom menschlichen Lebensraum, dass er zu ihm in keinerlei Beziehung mehr steht; also eine Art perspektivenloser Wahrheitsbegriff, der für Quarks genauso zu gelten habe wie für Außerirdische, Götter, Giganten usw. Damit zieht Rorty die Epistemisierung des Wahrheitsbegriffs konsequent durch und rückt ihn in eine Ferne, die ihn in der Tat als »unnütz« oder »irrelevant« für unsere Gesellschaft erscheinen lässt. 23 Schließlich macht der Begriff der Wahrheit nur 23
Es zeigt sich hier erneut Rortys Skepsis gegenüber allem, was eine Universalität und
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Sinn, wenn es eine Perspektive gibt, genauso wie eine Antwort nur durch die Frage epistemisch wertvoll ist. 24 Habermas’ Wahrheitsbegriff versucht hingegen beide Extreme zu umgreifen – einen absoluten abstrakten Wahrheitsbegriff einerseits, welcher immer rechtfertigungstranszendent bleibt und einen im Handeln immer schon operativ wirksamen Wahrheitsbegriff andererseits, der sich am Erfolg einer Handlung bewährt (vgl. WuR 264). Damit gibt es eine Art symmetrisches Verhältnis auf der Vertikalen zwischen präreflexivem Handlungskontext und absoluter Wahrheit. Die absolute Wahrheit beeinflusst die physisch-faktische Gegebenheit des Kontexts, umgekehrt erfahren wir im handelnden Umgang mit der Welt etwas über das So-Sein der Dinge. Die reflexive Problematisierung der verschiedenen Deutungen des Handlungskontextes wird auf der horizontalen Ebene und im rationalen Diskurs zu reparieren versucht und wirkt konkret auf unsere Handlungsstrategien zurück. Eine Ahnung der absoluten Wahrheit ist nur indirekt über die rationale Rechtfertigung im Diskurs möglich, welche jedoch im konkreten Handeln verankert bleibt. »Die für Propositionen und Normen beanspruchte Geltung transzendiert Räume und Zeiten, aber der Anspruch wird jeweils hier und jetzt, in bestimmten Kontexten erhoben und mit faktischen Handlungsfolgen akzeptiert oder zurückgewiesen.« (ND 179) Diese drei Fixpunkte – Handlung (vorsprachlich), Rechtfertigung (sprachlich), absolute 25 Wahrheit (jenseits der Sprache) – ermöglichen die Beurteilung, wann sich die Kommunikationsgemeinschaft der Wahrheit angenähert bzw. von ihr entfernt hat. Sie legitimieren auf diese Weise das Festhalten an der Verbindung von Wahrheit und Rechtfertigung. Rorty hingegen bleibt bei seinem sprachtranszendenten Wahrheitsbegriff. Für ihn sind – dieses Mal in Anlehnung an Peirce – Überdadurch Autorität beansprucht. Er beschuldigt solche Universalbegriffe, dass sie die Fort- und Weiterentwicklung aufhalten. »Since the reality-appearance distinction seems to me a relic of our authoritarian past. [… therefore we ought to] replace resentment with good will and authority with democracy.« (R. Rorty, in: R. Brandom (Hg.), Rorty and his Critics, a. a. O., 63) 24 Ich denke hier an folgende Episode in Hitchhikers Guide to the Galaxy (dt. Per Anhalter durch die Galaxis): Ein Computer errechnet über viele Jahrtausende die Antwort auf alle Fragen und kommt auf die Zahl »42«. Sie bleibt natürlich ohne Bedeutung, d. i. hat keine Aussage, weil eine Konkretisierung der Frage fehlt. 25 Ich spreche hier wiederum von »absoluter Wahrheit« (lat. abgelöst), um den Anspruch bei Rorty zu verdeutlichen, dass dieser Wahrheitsbegriff jenseits aller Beziehungen gültig zu sein hat.
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zeugungen »habits of action«. »A rational discourse is just one more action-context in which a behavioral certainty evinces itself.« 26 Das heißt, nicht einmal die – bei Habermas eben vorsprachliche – Handlungsgewissheit vermag sich dem sprachtranszendenten Wahrheitsbegriff anzunähern. Vernunft wie Handlung – alles bleibt sprachlich verflüssigt. Aus diesem Grund kann ihn die Verankerung der Diskurssituation in einem präreflexiven Handlungshintergrund nicht überzeugen. Man kann seine Meinung in einem rationalen Diskurs ebenso ändern wie im erfolglosen Versuch, etwas durch Handlung zu erreichen. Es gibt keine Notwendigkeit für eine Unterscheidung. Daher braucht und gibt es auch keine Übersetzungsleistung, die ein janusgesichtiger Wahrheitsbegriff zu leisten hätte. 27 c.
Objektivität, Solidarität oder Intersubjektivität?
Für Habermas und Rorty ist die objektive Welt nichts Abzubildendes, sondern es gibt einzig den geteilten Bezugspunkt der Teilnehmer in einer Kommunikationsgemeinschaft. Rorty geht deshalb davon aus, 26 27
Rorty, in: R. Brandom (Hg.), Rorty and his Critics, a. a. O., 57. Ebd.
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Habermas und Rorty sprechen über Wahrheit, Vernunft und Mitgefühl
dass wir uns des »Spiegels der Natur« entledigen können, insofern das Gespräch die Konfrontation mit den Gegenständen ersetzt. Die pragmatische Wende – und auch hier stimmen Habermas und Rorty noch überein – hat die erste Person Singular, welche einen privilegierten Zugang zu ihrem Inneren aufweist, durch die erste Person Plural, d. h. das »Wir« einer Kommunikationsgemeinschaft, ersetzt. Rorty zweifelt dabei gerade die Autorität an, welche mit einer solchen erweiterten Perspektive verbunden ist. Denn für ihn sind Rechtfertigungspraktiken nichts weiter als eben Praktiken. Es gibt keinen Grund zu glauben, diese würden aus ihrer Kontextualität ausbrechen können. Habermas gibt Rorty Recht, insofern er die horizontal-diskursive Ebene alleine meint. Er gibt ihm ebenfalls Recht, wenn er sagt, der Kontextualismus sei die notwendige Konsequenz der linguistischen Wende. Darüber hinaus gibt er jedoch zu bedenken, ob der Kontextualismus – auch aus pragmatischer Sicht – gleichzeitig als Lösung dieses Problems gesehen werden kann (vgl. WuR 240). Aus diesem Grund interessiert er sich für folgende Thematik: »Wenn wir erkenntnistheoretische Fragestellungen nicht mehr nur auf Sprache als die grammatische Form der Darstellung [Korrespondenztheorie], sondern auf den kommunikativen Gebrauch der Sprache beziehen [Diskurstheorie], erschließt sich die weitere Dimension vernetzter Interaktionen und gemeinsamer Traditionen – der öffentliche Raum einer von den Sprachbenutzern intersubjektiv geteilten Lebenswelt.« (WuR 238) Auf diese Gegenüberstellung reagiert Rorty – und im Anschluss an die linguistische Wende – mit einer neuen Interpretation des Begriffs der »Subjektivität«. Es geht nämlich nicht mehr um die Konfrontation der inneren (subjektiven) mit einer äußeren (objektiven) Welt, sondern vielmehr ist »eine subjektive Erwägung eine solche, die von vernünftigen Gesprächspartnern übergangen worden ist« (SdN 368). Aus dieser neuen Grenzziehung zwischen Subjektivität und Objektivität ergibt sich jedoch folgende Problematik: Die Wahrheit einer Aussage kann nicht mehr aus dem Kontext der Rechtfertigung extrapoliert werden. »Sobald der Maßstab für die Objektivität der Erkenntnis von der privaten Gewißheit auf die öffentliche Praxis der Rechtfertigung übergeht, wird Wahrheit zu einem dreistelligen Geltungsbegriff.« (WuR 245) Dabei sind sich Rorty wie auch Habermas bewusst, dass der Horizont solcher Meinungen nicht transzendiert werden kann. Rorty führt dies auf den sprachphilosophischen Begriff des Holismus (vgl. PCP 176 ff.), Habermas hingegen auf den phänomenologisch ge290 https://doi.org/10.5771/9783495860601 .
Philosophischer Melancholiker versus enttäuschter Anti-Platoniker?
prägten Lebensweltbegriff (WuR 248 ff.) zurück. Hinter dieser Unterscheidung verbirgt sich jedoch mehr als eine begriffliche Vorliebe: Der Holismus steht für die Einsicht, dass wir Sätze mit nichts anderem als mit Sätzen konfrontieren können, d. h., jede Aussage bleibt auf der sprachlichen Ebene gefangen. Dabei können sich selbst gut gerechtfertigte Aussagen als falsch herausstellen. Wahrheit hingegen soll eine unverlierbare Eigenschaft von Aussagen darstellen (vgl. WuR 247). Aus diesem Grund lehnt Rorty eine Verknüpfung von rationaler Begründung und Wahrheit ab. Genau hier setzt Habermas mit seinem Lebensweltbegriff an. Für ihn erhalten rationale Begründungen erst durch ihre Verwurzelung und Bewährung im Handlungskontext der Lebenswelt einen weiteren Bezugspunkt jenseits des jeweiligen Sprachspiels. Individuen finden sich immer schon in einem sprachlich erschlossenen Horizont vor, der von intersubjektiv geteilten und praktischen bewährten Überzeugungen besiedelt ist. Dies macht einen totalen Zweifel an der Welt sinnlos (vgl. WuR 248). »Die Sprache, aus der wir nicht heraustreten können, darf nicht in Analogie zur Innerlichkeit eines vorstellenden Subjekts verstanden werden, das von der Außenwelt vorstellbarer Objekte wie abgeschnitten ist.« (WuR 248) Hier argumentiert Habermas ganz im Sinne von Husserls leibphänomenologischem Ansatz, indem er sagt, dass wir immer schon bei den Sachen sind. Es gibt keine unüberbrückbare Kluft zwischen innen und außen oder einen Skeptizismus, der alles in Frage stellen könnte. »Die pragmatische Wende entzieht dieser Skepsis den Boden. Dafür gibt es einen simplen Grund. In der Alltagspraxis können wir die Sprache nicht gebrauchen, ohne zu handeln.« (WuR 248) Als Handelnde sind wir immer schon in Kontakt mit den Dingen. Selbst unsere Hoffnungen, Phantasien und Träume konstituieren sich innerhalb bzw. vor diesem präreflexiven und vorsprachlichen Hintergrund. Deshalb kann Habermas auch nicht nachvollziehen, wie bei Rorty die Bedeutung die Geltung von etwas garantieren könne. Denn für Habermas bestimmt die Geltung die Bedeutung. »I would propose, instead, that the interaction between world disclosure and innerworldly learning processes works in a symmetrical way. Linguistic knowledge and world-knowledge interpenetrate.« 28 Das heißt, dieser stete und bereits immer schon existie-
Habermas, in: Niznik u. Sanders (Hg.), Debating the State of Philosophy, Westport 1996, 24.
28
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Habermas und Rorty sprechen über Wahrheit, Vernunft und Mitgefühl
rende Dialog mit der Welt mittels erfolgsorientiertem Handeln wird durch den kommunikationsorientierten Dialog der Kommunikationsteilnehmer ergänzt. »Beim Übergang vom Handeln zum Diskurs löst sich das zunächst naiv Für-wahr-Gehaltene aus dem Modus der Handlungsgewissheit und nimmt die Gestalt einer hypothetischen Aussage an, deren Geltung während des Diskurses dahingestellt wird. Die Argumentation hat die Gestalt eines Wettbewerbs um die besseren Argumente für bzw. gegen kontroverse Geltungsansprüche und dient der kooperativen Wahrheitssuche.« (WuR 252) Beide durchdringen einander und festigen bzw. erneuern das Verhältnis zwischen Faktizität/Bedeutung und Geltung. Dieser Dialog findet notwendigerweise in einem immer schon bestehenden Lebensweltkontext statt, der natürlich immer wieder neue Verknüpfungen zulässt. Wenn Habermas also dem Skeptizismus einen epistemologischen Fehler vorwirft, so kritisiert er am Kontextualismus eine »Fehlkonstruktion in unsrer Art zu leben« (vgl. WuR 249). Wir sind nämlich nicht nur vagen »pressure points« ausgesetzt, sondern es gibt einen Dialog mit der Welt, der in einer relativen Vorhersehbarkeit im Umgang mit den Dingen mündet. 29 Wenn also Habermas an der Verbindung von Wahrheit und Rechtfertigung festhält, dann geht es ihm in erster Linie nicht um die epistemologische Frage nach Sein und Schein, sondern vor allem um die Aufrechterhaltung einer sozialen Praxis, welche unser Zusammenleben stabilisiert. 30 Das ist in zweifacher Hinsicht interessant: 1. Es führt die sprachphilosophische Engführung des Kontextualismus bei Rorty vor Augen und zeigt, warum bei ihm die Philosophie
Innerhalb dieser Sichtweise kann sich sogar die Rekonstruktion, welche Habermas für das intuitive Verständnis von Wahrheit vermittels einer Diskurstheorie vorschlägt, als ungenügend herausstellen. Die praktische Anwendung im Alltag und der Wissenschaft hängt hingegen vom richtigen Gebrauch eines solchen intuitiven Wissens ab. Ein solches Wissen bleibt deshalb von Rekonstruktionsversuchen und Revisionen unabhängig. »Nicht das Gebrauchswissen selber kann widerlegt werden, sondern nur dessen falsche Beschreibungen.« (Habermas, Die nachholende Revolution, a. a. O., 130) 30 Im Zusammentreffen von Habermas und Rorty und der anschließenden Diskussion in Warschau gibt Sanders als einer der Herausgeber des Bandes im Anschluss der Debatte ebenfalls zu bedenken: »Such ideals as the ideal of truth […] seem plainly to have an enormous pragmatic value. They lure us out of our too-constrained, too-limited ethnocentric or idiosyncratic frames of reference« (J. T. Sanders, in: Niznik, Sanders (Hg.), Debating the State of Philosophy, a. a. O., 93). 29
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Philosophischer Melancholiker versus enttäuschter Anti-Platoniker?
im öffentlichen Raum keine Rolle spielt. Denn wenn Aussagen keinen epistemischen Wert besitzen, dann ist es möglich, dass sich Ideen und Deutungen rein durch die sprachliche Konstruktionsleistung einer Gemeinschaft konstituieren. Der sprachliche Reduktionismus erlaubt eine vom Handlungskontext losgelöste Neuinterpretation der sozialen Welt. Das heißt, der Diskurs geht der Handlung voraus. 2. Es macht klar, warum hingegen für Habermas die Philosophie einen zentralen Stellenwert besitzt. Denn für ihn geht es gar nicht so sehr um den epistemischen Wert, sondern um die Aufrechterhaltung und Stabilisierung einer gesellschaftlichen Praxis. »Verständigung kann nicht funktionieren, ohne dass sich die Beteiligten auf eine einzige objektive Welt beziehen und damit den intersubjektiv geteilten öffentlichen Raum stabilisieren, von dem sich alles bloß Subjektive abheben kann.« (WuR 249) Rorty scheint so an einer radikalen Epistemisierung des Wahrheitsbegriffs festhalten zu wollen und lehnt jede Beziehung zwischen Vernunft und Wahrheit ab. Habermas hingegen interpretiert Wahrheit im Hinblick auf konkrete Handlungspraktikabilität. d.
Funktion und Stellenwert der Vernunft
Für Rorty gibt es keine Handlungsgewissheiten, sondern einzig ethnozentrische Perspektiven. Wir sind Gefangene der Dialoge, in denen wir aber zugleich die Deutung der Welt konstruieren. Aus diesem Grund kommt der Phantasie eine solch zentrale Stellung zu, weil sie das Gefängnis der kulturellen Konstruktionen übersteigt und zu neuen Deutungen der Welt führt, um dadurch die konkrete Handlungsrealität zu verändern. Hier trifft die peircesche Auffassung einer imaginären Expansion der Kommunikationsgemeinschaft auf die jamessche Überzeugung, dass Wahrheit das ist, was für uns zu glauben gut ist. Habermas hält an der schwach transzendentalen Annahme fest, dass die rationale Rechtfertigung eines Arguments vor einem möglichst breiten Publikum eine gerechtfertigte Annäherung an die Wahrheit erlaubt. Rorty hingegen kann nicht sehen, wie Habermas dies behaupten bzw. beweisen kann. Ein solches Anliegen gleicht für ihn dem Versuch Münchhausens, sich an den eigenen Haaren aus dem Sumpf zu ziehen. Deshalb verhält er sich »bescheiden« und beschränkt sich auf die intersubjektive Sphäre, in welcher wir nur auf Solidarität, jedoch nicht auf Objektivität hoffen können. Oder wie er – mit Blick auf 293 https://doi.org/10.5771/9783495860601 .
Habermas und Rorty sprechen über Wahrheit, Vernunft und Mitgefühl
den Dichter Shelley bzw. Protagoras – sagt: »Human beings are on their own.« 31 Aus dieser Sichtweise resultiert nun seine Umdeutung des Begriffs der Vernunft: »I want to define rationality as the habit of attaining our ends by persuasion rather than force.« 32 Der einzige Unterschied zwischen Rationalität und Irrationalität sei für ihn der Unterschied zwischen Wörtern und Schlägen. 33 Auf politischer Ebene räumt Rorty deshalb Habermas’ Theorie eine gewisse Funktion ein, weil sie uns ermöglicht, verschiedene Techniken der Überzeugung, Rechtfertigungsmuster und Arten der Kommunikation zu unterscheiden. Und er geht sogar so weit, zu sagen: »There is, it seems to me, considerable convergence between Habermas’s substitution of communicative reason for subject-centered reason and what I am calling the Protagorean/ Emersonian tradition.« 34 Die epistemologische Unstimmigkeit in Bezug auf die »universal validities« bleibt jedoch bestehen und Rorty kommt schließlich zu dem Schluss: »I think that we can get along without that notion and still have a sufficiently rich notion of rationality.« 35 Weil nun Wahrheit im Sinne einer Universalität keinen Nutzen mehr hat, möchte er diesen Begriff durch das Streben nach einem glücklichen oder guten Leben ersetzen. Dies kritisiert Habermas, weil er hinter einer solchen Vorgehensweise eine Reduktion des Vernunftgebrauchs auf einen bloß ethischen vermutet (also im Sinne von Aristoteles’ Überlegungen zum guten Leben). Dadurch würde der ethische Vernunftgebrauch den empirischen und urteilenden Vernunftgebrauch ignorieren bzw. ersetzen. 36 Habermas kritisiert des Weiteren an Rorty, er würde den Korrespondenzbegriff nicht loswerden, sondern lediglich durch die Idee der R. Rorty, Emancipating our Culture, in: J. Niznik u. J. T. Sanders (Hg.), Debating the State of Philosophy, a. a. O., 25. 32 Ebd., 28 33 Vgl. ebd. 34 Ebd. 35 Ebd. 36 Ich vermute, dass dies eine erste Folge von Rortys »blindem Fleck« ist, nämlich seiner sprachphilosophischen Engführung des Mitgefühls bzw. dem Ziel eines guten Lebens. Denn eine solche Substitution ignoriert die faktisch-leibliche Verwiesenheit des Menschseins in einer stofflichen Welt. »What speaks against the assimilation of truth to happiness is simply the fact that there is no choice.« (Vgl. J. Habermas, Coping with Contingencies, in: Niznik u. Sanders (Hg.), Debating the State of Philosophy, a. a. O., 22 f.) 31
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Philosophischer Melancholiker versus enttäuschter Anti-Platoniker?
optimalen Anpassung ersetzen, d. h. die vorgestellte durch die instrumentell bewältigte Wirklichkeit (vgl. WuR 269). Das Problem der Objektivität ist damit aber nicht bewältigt. Weiter hat eine solche Vorgehensweise zur Folge, dass wir auf der diskursiven Ebene (d. i. der »Praxis«) nicht mehr zwischen strategischer und illokutionärer Absicht zu unterscheiden vermögen: Weil nämlich ein »äußerer« Bezugspunkt auf die Vertikale fehlt, können wir nicht mehr zwischen Überzeugen und Überreden, zwischen Indoktrination und gegenseitigem Lernen unterscheiden. Das heißt, wir werden für kritische Maßstäbe unsensibel, welche im Alltag eine konkrete Funktion haben (vgl. WuR 270). Rorty hingegen sieht gar keine Notwendigkeit, zwischen strategischen und kommunikativen Intentionen zu unterscheiden. Sein berühmtes Beispiel ist der Nazi, der keineswegs strategisch vorgeht, sondern allen Ernstes seine Argumente hervorbringt und an deren Vernunft festhält. Ihm zu entgegnen, dass seine Gründe nicht rational seien, heißt aber nichts anderes als zu sagen, dass seine Gründe uns nicht überzeugen. 37 Auf einer anderen Ebene hält es Rorty – mit Seitenblick auf Gadamer – durchaus für gerechtfertigt, zum Ziel der Überzeugung auf solche Begründungen zurückzugreifen, welche wir selbst nicht für die entscheidenden oder überzeugendsten Gründe halten. Es bedeutet nämlich nichts anderes, als dass wir unsere Rede an den Anderen wenden und entsprechend unsere Gründe so darlegen, dass sie den Anderen überzeugen. Es kann niemals eine »ideale« Abfolge von Argumenten geben, weil es auch kein »ideales Publikum« gibt, sondern es gibt immer nur ein historisch und kulturell bedingtes Publikum. 38
3.1.3 Bleibende Differenzen zwischen Überzeugen und Überreden Das unterschiedliche Verständnis von Wahrheit resultiert in einer verschiedenen Beurteilung des Einflusses auf sowie der Praktikabilität für den öffentlichen Raum. Für Habermas bleibt absolute Wahrheit ein Orientierungspunkt für die Einigung in rationalen Diskursen. Daraus resultieren universale Geltungsansprüche und illokutionäre Absicht als Vorbedingungen. Die Ergebnisse solcher Einigungen bewähren sich Vgl. R. Rorty, Response to Jürgen Habermas, in: Brandom (Hg.), Rorty and his Critics, a. a. O., 59. 38 Vgl. ebd., 60. 37
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Habermas und Rorty sprechen über Wahrheit, Vernunft und Mitgefühl
schließlich in der Handlungspraxis, weil in ihr die absolute Wahrheit bereits präreflexiv verankert ist. Die Einbeziehung möglichst vieler Perspektiven führt zu gegenseitigen Lernprozessen, in welchen nur der zwanglose Zwang des besseren Arguments zu überzeugen vermag. Für Rorty hingegen bewegt sich Wahrheit jenseits allen menschlich Fass- oder Wahrnehmbaren und hat deshalb mit der menschlichen Wirklichkeit nicht viel zu tun (abgesehen von vagen »pressure points«). Weil aber Wahrheit nichts mit menschlicher Perspektivität zu tun hat, sind für Rorty viele Sichtweisen nicht wertvoller als lediglich eine. Es geht nicht um ein argumentatives Überzeugen, sondern um ein manipulatives Überreden. Fernerhin ist es der sprachliche Horizont, d. h. sprachliche Konstruktion und Deutung von Wirklichkeit, welcher dem Handeln vorangeht. Bei Habermas hingegen ist die Handlung bzw. das präreflexive Engagiertsein in der Welt Ausgangs- und Endpunkt des Diskurses. Dabei handelt es sich um einen kreisförmigen Prozess: Gewissheiten auf der Handlungsebene werden im Diskurs zu sich widersprechenden Geltungsansprüchen; im Diskurs werden die verschiedenen Geltungsansprüche überprüft und eingelöst; ein so entstandener Konsens wirkt schließlich wieder auf die Handlungsebene zurück, wo sich die gemeinsam gefällten Entscheidungen in der erfolgreichen Bewältigung bewähren müssen. Der Diskurs hat also die Funktion einer »Reparaturleistung« und er kann diese Funktion nur erfüllen, wenn er an einen unbedingten und kontextunabhängigen Wahrheitsbegriff rückgekoppelt ist (vgl. WuR 254 f.). »[W]ir [können] im Alltag nicht allein mit Hypothesen […] leben. Der organisierte Fallibilismus der Forschung kann den hypothetischen Umgang mit kontroversen Wahrheitsansprüchen auf Dauer stellen, weil er einer vom Handeln entkoppelten Konsensbeschaffung dient. Das ist kein Modell für die Lebenswelt.« (WuR 255) Auch in diesem Konzept zeigt sich, dass es Habermas nicht um die Problemanalyse geht (worin er grundlegend mit Rorty übereinstimmt), sondern darum, wie wir politisch handlungsfähig bleiben. Weil Habermas die Rahmenbedingungen der Handlungsnotwendigkeit immer mitdenkt, entgeht er der Gefahr einer holistisch-sprachanalytischen Engführung gesellschaftlicher Konstruktionen. Daraus ergibt sich bei Habermas ein janusgesichtiger Wahrheitsbegriff, d. h., Wahrheit unterstützt in der Praxis Handlungsgewissheiten, wohingegen sie im Diskurs den Bezugspunkt für Wahrheitsansprüche garantieren (vgl. WuR 253 f. u. 255). Auf der politischen Ebene verwandelt sich der philosophische 296 https://doi.org/10.5771/9783495860601 .
Politischer Realist versus idealistischer Träumer?
Streit zwischen Wahrheit und Rechtfertigung in einen Konflikt zwischen Vernunft und Mitgefühl. Denn derjenige, der die Verbindung von Wahrheit und Rechtfertigung bestreitet, dem bleibt nur die Substitution des rationalen Arguments durch Solidarität bzw. den Verlass auf das Mitgefühl im politischen Raum. Wenn hingegen eine Verbindung zwischen Wahrheit und Rechtfertigung angenommen wird, dann kann weiterhin an der Idee und Praktikabilität rationaler Diskurse festgehalten werden, um auf diese Weise gesellschaftliche Zurechnungsfähigkeit zu garantieren.
3.2 Politischer Realist versus idealistischer Träumer? Habermas und Rorty im Dialog über Vernunft und Mitgefühl Die Weiterführung des Dialogs zwischen Habermas und Rorty auf politischer Ebene lässt nun beide Denker in einem ganz anderen Licht erscheinen: Habermas hält trotz der Einsicht, dass sich eine absolute Wahrheit im Diskurs letztlich nicht erreichen lässt, an einem Zusammenhang zwischen Wahrheit und Rechtfertigung fest. Seine Begründung hierfür ist die pragmatische Annahme, dass das Konzept einer absoluten Wahrheit für das Funktionieren von rationalen Diskursen – die eine stabilisierende Funktion in heutigen Gesellschaften tatsächlich leisten – unerlässlich ist. Rortys sprachphilosophisch-holistische Interpretation des öffentlichen Raumes trennt die Horizontale der diskursiven Realitätskonstruktionen von den vertikalen Polen eines transzendental-normativen Bezugspunkts einerseits sowie eines unproblematisch vorausgesetzten Lebensweltfundaments andererseits. Daraus folgt eine – von der Vertikalen unabhängige – Offenheit sprachlicher Realitätskonstruktionen: Alles (sprachlich) Denkbare ist grundsätzlich möglich. Die politischen und sozialen Möglichkeiten und Konsequenzen eines solchen Kon297 https://doi.org/10.5771/9783495860601 .
Habermas und Rorty sprechen über Wahrheit, Vernunft und Mitgefühl
textualismus werden mit Hilfe der Begriffe »Phantasie«, »Hoffnung« und »Mitgefühl« ausgelotet. Auf politischer Ebene kann daher Habermas eher als politischer Realist, Rorty hingegen als idealistischer Träumer bezeichnet werden.
3.2.1 Methodische Unterschiede Rortys Erkenntniskritik ist als Absage an die Philosophie zu lesen, weil rationale Aussagen keinerlei privilegierten Anspruch auf Wahrheit haben. Damit verliert die Philosophie jedwede Relevanz für öffentliche Fragen und bleibt ein idiosynkratisches und privat zu betreibendes Sprachspiel. Für Habermas steht hingegen gerade die praktische Relevanz philosophischer Aussagen im Vordergrund. Die Frage ist nun Folgende: Wenn für Rorty die Philosophie und damit rationale Argumente nichts zum öffentlichen Diskurs beizutragen haben, für Habermas hingegen insbesondere solche Argumente zählen, welche politisch relevant sind, ist dann ein philosophischer Dialog zwischen Rorty und Habermas methodisch überhaupt sinnvoll? Habermas bezeichnet Rortys Ansatz als methodologischen Ethnozentrismus. 39 Wohingegen Rorty eher paradox vorgeht: Solchen Kollegen, die, wie Habermas selbst, noch unter der Krankheit der Metaphysik leiden, begegnet er – in alter Manier – mit guten Argumenten, die den Anderen überzeugen sollen. Die »Geheilten« hingegen missverstehen Rortys Argumentation nicht als »wahre Aussagen«, sondern erkennen, dass es sich dabei lediglich um ein rhetorisches Werkzeug handelt, um Menschen zu beeinflussen. Der Unterschied zwischen Rechtfertigung und Wahrheit ist belanglos, weil es schlicht darum geht, Menschen in dem neuen Vokabular zu »sozialisieren«. Diese neue Sprechweise resultiert jedoch nicht aus einer Dekonstruktion des alten Vokabulars, sondern ist lediglich besser an die neue Situation »angepasst«. 40 Aus diesem Grund geht es im Folgenden darum, inwiefern sich die (meta-)philosophische Debatte zwischen Habermas und Rorty auf die
Vgl. J. Habermas, Coping with Contingencies, in: Niznik u. Sanders (Hg.), Debating the State of Philosophy, a. a. O., 2 f. 40 Vgl. ebd. 39
298 https://doi.org/10.5771/9783495860601 .
Politischer Realist versus idealistischer Träumer?
Gestaltung des öffentlichen Raumes auswirkt. Eine letzte Entscheidung lässt sich nämlich nur in der bzw. durch die Praxis fällen.
3.2.2 Philosophischer versus literarischer Perspektivenwechsel a.
Die Gewichtung von Vernunft und Mitgefühl im öffentlichen Raum
Habermas argumentiert sowohl auf philosophischer als auch auf politischer Ebene für den pragmatischen Nutzen der Vernunft. Rorty dagegen, der sein Vokabular einzig nach seinem Nutzen beurteilt, drängt die Bedeutung der Vernunft insgesamt in die Peripherie. Auch hier hilft es, sich Rortys Argumentation genau anzusehen. Denn er sieht den Nutzen der kommunikativen Vernunft auf politischer Ebene durchaus ein: »It helps us limit ourselves to hopes for small, finite, fleeting successes, and to give up the hope of participation in enduring grandeur« (PCP 77). Ebenfalls stimmt er mit Habermas und Peirce überein, dass wir uns beim Ablegen von Rechenschaft über »Wahrheitskriterien« einzig auf eine »unverzerrte Kommunikation« berufen können. Rorty wird jedoch immer dann stutzig, wenn Habermas über die Universalität bestimmter Geltungsansprüche zu sprechen beginnt und damit kommunikative Vernunft auf philosophisch-epistemologischer Ebene mit Wahrheit in Verbindung setzt. Denn aus dem oben Gesagten folgt, dass uns ein unvermittelter Zugriff auf Wahrheit verwehrt bleibt. Deshalb kann es auch keine »universal validity claims« geben, sondern einzig eine freie Diskussion, d. h. »das, was dabei herauskommt, wenn man demokratische politische Institutionen hat und die Bedingungen für das Funktionieren dieser Institutionen gesichert sind« (KIS 145). Denn erstens birgt der absolute Wahrheitsbegriff auf politischer Ebene die Gefahr der Autorität oder Überlegenheit einer Gruppe, zweitens hält er es argumentativ für einen Trugschluss, eine solche Verbindung zwischen Wahrheit und Rechtfertigung zu beanspruchen. Ferner darf sich Rorty als Kontextualist nicht aus der Teilnehmerperspektive herauslocken lassen. Deshalb muss er die platonische Unterscheidung zwischen Wissen und Meinen aufgeben. Objektivität bedeutet nichts weiter als der Wunsch nach möglichst weitgehender, d. i. intersubjektiver Übereinstimmung. Dies nennt er Solidarität. Darüber 299 https://doi.org/10.5771/9783495860601 .
Habermas und Rorty sprechen über Wahrheit, Vernunft und Mitgefühl
hinaus versucht er den privaten Bereich der Selbstverwirklichung vom öffentlichen Bereich des Mitgefühls abzutrennen. Religion, Rasse oder Lebensentwurf des Anderen sind nur privat relevant. Auf der öffentlichen Ebene hingegen gilt die Minimierung von Grausamkeit. Bei solchen Einteilungen handelt es sich ebenfalls lediglich um Empfehlungen, welche keine normativen Ansprüche beinhalten. Auf der Handlungsebene bewähren sich Visionen in der optimalen Angepasstheit an neue Situationen. Habermas empfindet eine solche Argumentation weder originell noch funktional. In Fällen, in denen rivalisierende Interpretationen aufeinandertreffen, hält er nur dann eine gegenseitige Horizonterweiterung bzw. ein gegenseitiges Lernen für möglich, wenn sich beide Seiten auf symmetrischer Ebene begegnen, d. h. auf der Ebene widerstreitender Rationalitätsstandards. »Der von Rorty eingeräumte Ethnozentrismus des behutsamen Kontextualisten muss, weil er den Verstehensvorgang als eine assimilierende Einordnung des Fremden in unseren (erweiterten) Interpretationshorizont beschreibt, die Symmetrie der Ansprüche und der Perspektiven aller an einem Dialog Beteiligten verfehlen.« (ND 177 f.) Da Rorty den Unterschied zwischen überzeugen und überreden aufgibt, fehlt jedwede Motivation sich von der Sichtweise des Anderen auf symmetrisch-rationaler Ebene überzeugen zu lassen. Habermas weitet diese Kritik auch auf den Vorschlag Rortys aus, den Wahrheitsbegriff zugunsten einer kontextabhängigen Geltung »für uns« aufzugeben. Insbesondere entgegnet er, dass uns dann jeder Grund fehle, warum wir die Zustimmung für »p« vor einem »immer neuen und größeren Publikum« überhaupt suchen sollten. Oder anders gefragt: Warum sollte jemand Objektivität durch Solidarität ersetzen, wenn genau das wahr ist, was für uns gut zu glauben ist? Warum sollte wir uns die Mühe machen, die Gruppe von Angehörigen zu erweitern (vgl. WuR 268)? An dieser Stelle findet bereits der erste Übergang von epistemischen zu moralischen bzw. philosophischen zu politischen Unstimmigkeiten statt. Denn Rorty entgegnet auf Habermas’ obigen Einwand, dass er klar zwischen »wollen« und »sollen« unterscheide. »I do not think that we are under an obligation to go beyond these borders«. 41 Zwar bemüht sich Rorty um ein normatives »Sollen« über R. Rorty, Response to Habermas, in: R. Brandom (Hg.), Rorty and his Critics, a. a. O., 61. Damit wiederholt sich an dieser Stelle die klare Unterscheidung zwischen normati-
41
300 https://doi.org/10.5771/9783495860601 .
Politischer Realist versus idealistischer Träumer?
den Umweg der moralischen Identität (wer wir zu sein wünschen), gibt aber selbst zu, dass es sich hierbei um nichts anderes als eine »Empfehlung« handeln kann. »Perhaps I […] could not live with myself if I consumed a rich meal in the presence of a starving child, with whom I refused to share my food. But this too is a fact about the way I happened to be brought up, not a fact about what it is to be a human being.« 42 Diese Argumentation ist eine Konsequenz aus seiner Absage an die Erkenntnistheorie. Für ihn gibt es keine normativen Notwendigkeit, sondern einzig Ratschläge und Vorbilder. Auf moralphilosophischer Ebene wird die Frage nach der moralischen Motivation aufgegriffen: »It is possible to hear the other side and still do the wrong thing, for it is possible to listen to arguments which we know to be überzeugend, yet not be überzeugt.« 43 Der »rationale Nazi« weiß sehr wohl, dass die Juden leiden, aber dieses Argument bzw. Wissen löst in ihm nichts aus. 44 Sich in solch problematischen Fällen auf die Vernunft zu verlassen, birgt für Rorty die Gefahr der Zuhilfenahme eines »transmenschlichen« (totalitären) Prinzips, welches vom Gefühl entkoppelt ist. Aus diesem pragmatischen Grund kann Vernunft Gefühlskälte nicht nur nicht vermeiden, sondern in manchen Fällen sogar begründen. Fernerhin antwortet sie nur mit Prinzipien, nicht aber auf gegebene Situationen. »Der entscheidende Unterschied zwischen dem Metaphysiker und der Ironikerin besteht für Rorty darin, dass die Ironikerin statt abstrakter MenschenrechtsPrinzipien den in der Wirklichkeit existierenden, leidensfähigen Menschen im Blick hat.« 45 Diese Wirkungslosigkeit auf der Ebene der moralischen Motivation ist schließlich der Grund für Rorty, die Gefühlserziehung und private Selbstverwirklichung in den Vordergrund zu stellen. Denn letztlich geht es darum, dass Menschen »gut« handeln wollen. 46 Natürlich bedeutet die argumentative Eingrenzung ver und empirischer Argumentation, welche weiter oben zwischen Kant und Hume zum Tragen kam. 42 Ebd., 61. 43 Ebd., 62. 44 An dieser Stelle wiederholt Rorty Humes Argument, dass Vernunft zwar verschiedene Informationen organisieren kann, jedoch mit der Handlungsmotivation im eigentlichen Sinne nichts zu tun hat. Wie jemand entscheidet, hängt allein von der emotionalen Beurteilung von Informationen ab. 45 D. Horster, Rorty, a. a. O., 100. 46 Vgl. auch Rorty, WuF 241–268.
301 https://doi.org/10.5771/9783495860601 .
Habermas und Rorty sprechen über Wahrheit, Vernunft und Mitgefühl
auf empirische Aussagen, dass wir dem »Gutwill« des Anderen ausgeliefert sind, aber für Rorty gilt dies als Vorteil: »I am not worried about relativism. Fear of relativism seems to me fear that there is nothing in the universe to hang on to except each other. As I see it, we do not treat each with respect because we are rational. Rather, ›rationality‹ is, in our culture, one of our names of our habit of listening to the other side.« 47 Der Relativismus ist die einzige Alternative, wenn man sich damit abgefunden hat, dass Rechtfertigung und Wahrheit zwei getrennte und unabhängige Ideen sind. Damit einher geht das Bewusstsein, dass ein »guter« Grund noch keine Legitimation für eine Handlung bedeutet, denn darüber hinaus sind auch emotionale Äußerungen relevant für Entscheidungsprozesse. In der Übernahme dieser Verantwortung liegt für Rorty die große Chance zukünftiger Gesellschaften. 48 Warum misstraut dann Habermas der »scheinbar selbstlosen, normativ erblindeten Einfühlung in den Anderen« (vgl. sEsA 42 f.)? Und welche Bedeutung darf ihr innerhalb der Moralphilosophie überhaupt nur zukommen? Habermas sieht drei wesentliche Verknüpfungen zwischen kommunikativer Vernunft und Mitgefühl. 49 1. Moralische Gefühle konstituieren genuin moralische Phänomene, d. h., wenn wir bestimmte Situationen nicht als moralisch relevant wahrnehmen bzw. empfinden, dann sind wir »gefühlsblind« gegenüber solchen Phänomenen. Sympathie und Mitgefühl gehören wesentlich zu einem solchen moralischen Sensorium. 2. Gefühle übernehmen eine zentrale Funktion bei der Beurteilung moralischer Einzelfälle. »Moralische Gefühle reagieren auf Störungen intersubjektiver Anerkennungsverhältnisse oder interpersonaler Beziehungen, an denen die Akteure in der Einstellung einer ersten, zweiten oder dritten Person beteiligt sind.« 50 3. Gefühle spielen ferner nicht nur bei der Anwendung, sondern auch für die Begründung eine zentrale Rolle – insbesondere das Mitgefühl als die Fähigkeit, sich trotz aller kultureller Unterschiede in andere Lebensumstände und Interpretationen einzufühlen. Habermas sieht also das Mitgefühl als eine Voraussetzung für eine ideale Rollenübernahme R. Rorty, Response to Habermas, in: R. Brandom (Hg.), Rorty and his Critics, a. a. O., 62. 48 Die Abwesenheit von rationalen Gründen öffnet grundsätzlich Diskurse auch für rational nicht zu begründende Vorschläge. 49 Vgl. für die folgende Einteilung: J. Habermas, Die nachholende Revolution, a. a. O., 140 ff. 50 J. Habermas, ebd., 143. 47
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bzw. für die Fähigkeit, die Perspektive des Anderen einzunehmen. 51 Der moral point of view verlangt, nicht nur den eigenen Maßstab anzulegen, sondern vor der Verallgemeinerung von etwas immer auch die Perspektive des Anderen genau zu ergründen. »Diese anspruchsvolle kognitive Leistung wird kaum ohne jenes generalisierte Mitgefühl möglich sein, das sich zur Einfühlungsfähigkeit sublimiert und über die Gefühlsbindungen an die nächsten Bezugspersonen hinausweist, uns die Augen öffnet für die Differenz, d. h. für die Eigenart und das Eigengewicht des in seiner Andersheit verharrenden Anderen.« 52 Das Mitgefühl ist dadurch grundlegende Voraussetzung nicht nur für die Sensibilisierung gegenüber moralisch relevanten Situationen, sondern insbesondere auch – im Sinne einer Fähigkeit – für die kognitive Leistung des Perspektivenwechsels. Habermas unterscheidet sich jedoch grundlegend von Rorty, wenn es darum geht, sich einzig auf das Mitgefühl zu verlassen. »Am Ende sind es die moralischen Urteile, die eine emotional nicht mehr auszufüllende Kluft überbrücken. […] für die Beurteilung der Phänomene, die sie erschließen, können sie nicht letzte Instanz sein.« 53 Die Frage ist natürlich, ob nicht deontologische Ethiken, die sich auf Prinzipien anstatt auf Gefühle berufen, den konkreten Anderen dadurch vernachlässigen. Habermas kontert, dass solche Vorbehalte nur dann auftreten, wenn sie sich einzig auf die Begründungsfragen konzentrieren. Die praktische Vernunft macht vor den Anwendungsdiskursen nicht halt und entwickelt erst ihre volle Kraft, wenn sie nicht einseitig reduziert wird. »Die einmalige Konstellation eines entscheidungsbedürftigen Falls, die konkreten Züge der beteiligten Personen kommen erst ins Spiel, nachdem die Begründungsprobleme gelöst sind. Allein, sobald geklärt werden muss, welche der prima facie gültigen Normen der gegebenen Situation und dem anhängigen Konflikt am angemessensten ist, muß eine möglichst vollständige Beschreibung aller relevanten Merkmale des jeweiligen Kontextes gegeben werden.« 54 Der eigentliche Grund Habermas’ für das Zurückschrecken vor dem Mitgefühl als letzte Instanz geht vielmehr auf die Frage der ZuEbd., 143. Ebd., 143. 53 Ebd., 143. Vgl. hierzu die Rolle, welche die Gerechtigkeit bei Hume einnimmt, nämlich in solchen Fällen, in denen die Größe einer Gesellschaft zu einer emotionalen Überforderung führen würde. Gerechtigkeit wird bei Hume ebenfalls diskursiv entwickelt. 54 J. Habermas, Die nachholende Revolution, a. a. O., 121. 51 52
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Habermas und Rorty sprechen über Wahrheit, Vernunft und Mitgefühl
rechnungsfähigkeit zurück. 55 Er misstraut dem Mitgefühl, weil es (wie bereits Kant bemerkte) unzuverlässig ist und nicht dem Willen unterliegt. Deshalb ist es für Habermas schwer zu erkennen, wie uns eine Philosophie der Hoffnung und der Maximierung des Glücks vor einer rein egoistischen Handlungsweise bewahren soll. »[T]he moral point of view requires us to perform another idealization, namely to imagine you and me as members of the inclusive community of human beings and to strive for the role of a fallible, yet impartial, judge on what would be equally good for everybody.« 56 Rorty hingegen misstraut der Vernunft, weil er (genauso wie Hume) erkennt, dass der eigentliche Motivator für eine Handlung das Gefühl und nicht die Vernunft ist. Fragen der sozialen Gerechtigkeit werden bei Rorty deshalb durch Mitgefühl ersetzt (PCP 44 ff.), obgleich sie methodisch an den Diskurs rückgebunden bleiben: »This is because any unforced agreement between individuals and groups about what to do creates a form of community, and will, with luck, be the initial stage in the expanding the circles of those whom each party to the agreement had previously taken to be ›people like us‹. The opposition between rational argument and fellow-feeling thus begins to dissolve« (PCP 53). Es ergibt sich eine beinah spiegelverkehrte Beurteilung von Mitgefühl und Vernunft: Bei Habermas ist das Mitgefühl Vorbedingung des Erkennens von moralischen Situationen und Basisfähigkeit für die Entwicklung kommunikativer Vernunft. Für Rorty hingegen bedeutet Vernunft nichts weiter als »reaching agreement by persuasion« (PCP 53). Daher zielt der rationale Diskurs auf die Kultivierung von Loyalität und ist damit nur eine Vorbedingung oder ein »Helfer« für die Entwicklung von Mitgefühl. Aus genau diesem Grund ist der »Sozialleim« für Habermas die rationale Übereinstimmung, wohingegen er für Rorty das Mitgefühl ist. Umgekehrt stimmt Rorty zu, dass Mitgefühl auch ein Motivator ist, um dem Anderen überhaupt zuzuhören. Aber in interkulturellen Diskursen letztlich nur auf Vernunft zu pochen, hält Rorty für gefährlich und unpraktikabel: »One practical reason is that getting rid of rationalistic rhetoric would permit the West to approach the nonAuch hier wiederholt sich die Debatte zwischen Hume und Kant mit Bezug auf die Garantie gesellschaftlicher Stabilität und gegenseitiger Zurechnungsfähigkeit. Wobei Hume – und im Gegensatz zu Rorty – auf gesellschaftlicher Ebene auf gerechte Gesetze zurückgreift. 56 J. Habermas, Coping with Contingencies, in: Niznik u. Sanders (Hg.), Debating the State of Philosophy, a. a. O., 23. 55
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Politischer Realist versus idealistischer Träumer?
West in the role of someone with an instructive story to tell, rather than in the role of someone purporting to be making better use of a universal human capacity« (PCP 55). 57 b.
Perspektivenwechsel als Chiasma zwischen Vernunft und Mitgefühl
Der Perspektivenwechsel nimmt in beiden Konzepten eine zentrale Stellung ein und führt zu folgendem Chiasma zwischen den Polen von Vernunft und Mitgefühl. Bei Habermas ist eine umgreifende Perspektivenübernahme nur auf moralisch-gerechtigkeitstheoretischer Ebene notwendig, denn Moraltheorien, wenn sie einem kognitivistischen Ansatz folgen, müssen von allen möglicherweise Betroffenen Zustimmung finden, damit sie sowohl legal als auch legitim sind. Demgegenüber sind ethisch-existentielle Fragen – insbesondere in pluralistischen Gesellschaften – so strukturiert, dass darauf keine gleiche Antwort für alle gefunden werden kann. »[E]ine ethisch-existentielle Frage […], die das Selbstverständnis bestimmter Personen oder eines bestimmten Kulturkreises betrifft; […] wird eine noch so vernünftige Antwort nur relativ auf das Ziel je eines oder je unseres guten bzw. nicht-verfehlten Lebens gültig sein und keine Allgemeinverbindlichkeit beanspruchen können.« 58 Und weiter unten: »[E]thische Fragen, Fragen der Selbstverständigung orientieren sich am Ziel je meines oder unseren guten, sagen wir lieber: nicht-verfehlten Lebens. […] Die Antworten müssen sich deshalb auf den Kontext einer besonderen, für bestimmte Personen oder bestimmte Kollektive als verbindlich unterstellten Lebensperspektive beziehen. […] Aber in Relation zum gegebenen Kontext können ethische Fragen rational, d. h. so beantwortet werden, dass sie jedermann einleuchten – keineswegs nur den unmitAuf den Fundamentalismus antwortet Habermas daher mit einem rationalen Diskurs, in welchem die Fundamentalisten ihre Argumente verteidigen müssten und vielleicht nicht standhalten könnten. Rorty hingegen vertraut auf den amerikanischen Traum der Religion einer Nation (vgl. R. Rorty, Achieving Our Country: Leftist Thought in Twentieth Century America. Cambridge, MA, 1998), d. h. eine romantische Version des Amerikanismus, welcher an der Idee der Demokratie und des Liberalismus festhält, wenngleich Rorty selbst zu bedenken gibt, dass die Situation in Amerika nicht viel Grund für eine solche Hoffnung gibt (vgl. R. Rorty, in: Niznik u. Sanders (Hg.), Debating the State of Philosophy, a. a. O., 29). 58 J. Habermas, Die nachholende Revolution, Interview mit H. Nielsen, a. a. O., 126. 57
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Habermas und Rorty sprechen über Wahrheit, Vernunft und Mitgefühl
telbar Betroffenen, aus deren Perspektive die Frage gestellt wird.« 59 Das heißt aber umgekehrt, dass nur moralisch-gerechtigkeitstheoretische Fragen nach einer allgemeinverbindlichen und universal geltenden Antwort verlangen. Die Rolle der Philosophie besteht nun darin, zu unterscheiden, ob es sich bei einer Angelegenheit um eine ethische, eine moraltheoretische oder eine pragmatische Frage handelt. Letztere lässt keinen Konsens, sondern allenfalls einen Kompromiss zu. Entsprechend gilt es zu entscheiden, ob moralische Diskurse, Selbstverständigungsdiskurse oder Verhandlungen angebracht sind. 60 Die Bestimmung von Maximen hat die Funktion – im Sinne Kants – eine Hilfestellung zu bieten, welche den Entscheidungsaufwand in der alltäglichen Praxis minimieren soll. 61 Natürlich wurde von verschiedenen Seiten zu Bedenken gegeben, dass die Diskursethik sich allein um Rechte, nicht aber um Bedürfnisse kümmern würde. Hier entgegnet Habermas jedoch, dass seine Diskursethik intersubjektivistisch konstruiert ist, d. h., es geht um eine öffentliche und gemeinsame Perspektivenübernahme. Eine solche Perspektivenübernahme nötigt jeden, zu prüfen, ob eine Regelung auch anderen Welt- und Selbstverständnissen gerecht wird. »Gerechtigkeit und Solidarität sind zwei Seiten derselben Medaille […] Nur wenn der Bestand der Kommunikationsgemeinschaft, die allen mit der idealen Rollenübernahme eine selbstlose empathische Leistung abverlangt, gesichert ist, können sich jene Verhältnisse reziproker Anerkennung reproduzieren, ohne die auch die Identität eines jeden Einzelnen zerfallen müßte.« 62 Die Philosophie vermag für Habermas auf verschiedenen Ebenen eine Unterscheidungshilfe anzubieten. 63 Die schlussendliche Beantwortung solcher Fragen kann jedoch die Philosophie niemandem abnehmen, weil sie sich sonst von der Teilnehmerperspektive in die BeobachVgl. ebd., 141. Natürlich spielt für Habermas die Philosophie im übergeordneten Sinn eine größere Rolle. Sie spielt die Interpretenrolle, welche zwischen Lebenswelt und Expertenkultur vermittelt sowie eine spezifische Rolle innerhalb des Systems der Wissenschaft, wo sie zwischen verschiedenen Wissenschaften vermittelt und mit ihnen kooperiert (vgl. Habermas, Die nachholende Revolution, a. a. O., 130). 61 Vgl. J. Habermas, Die nachholende Revolution, a. a. O., 141. 62 J. Habermas, ebd., 121 f. 63 »Ich halte es für die Aufgabe der Philosophie, die Bedingungen zu klären, unter denen sowohl moralische wie ethische Fragen von den Beteiligten selbst rational beantwortet werden können.« (J. Habermas, Die nachholende Revolution, a. a. O., 144) 59 60
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Politischer Realist versus idealistischer Träumer?
terperspektive begibt. 64 Eine Entscheidung kann also nur im rationalen Diskurs zwischen Beteiligten fallen. »Deshalb plädiere ich für ein asketisches Verständnis der Moraltheorie und sogar der Ethik, über der Philosophie, um Platz zu gewinnen für eine kritische Gesellschaftstheorie.« 65 Parallel (wenn auch keinesfalls identisch) zu dieser Unterscheidung zwischen ethischen und moralischen Fragen kann Rortys Spaltung in einen privaten und öffentlichen Raum gesehen werden. Der private Raum beinhaltet Fragen der eigenen Identität und Lebensentwürfe. Ähnlich wie bei Habermas beanspruchen solche privaten Entscheidungen keine Allgemeingültigkeit. Dennoch ist für Rorty der private Raum auch Ort der intellektuellen »Expansion«, d. h. das Erlernen fremder Vokabulare und das Experimentieren mit verschiedenen Weltanschauungen. Ein Perspektivenwechsel findet im privaten Bereich auf relativ abstrakter Ebene statt. Die Philosophie hat hier die Rolle einer Helferin, weil sie uns verschiedene Weltanschauungen eröffnet. Die
64 65
Vgl. ebd., 144 f. Ebd., 144.
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Habermas und Rorty sprechen über Wahrheit, Vernunft und Mitgefühl
Ironikerin weiß jedoch, dass sich Weltanschauungen zueinander idiosynkratisch verhalten. Im öffentlichen Raum geht es um die Minimierung von Grausamkeiten durch Mitgefühl. Hier findet ein Perspektivenwechsel einzig auf einer emotionalen Ebene statt. Deshalb spielt hier nicht mehr die Philosophie, sondern vielmehr die Literatur die Rolle der Helferin, damit wir uns emotional in andere Lebensweisen hineinfühlen können. Eine liberale, empathische Einstellung hat jedoch kein normatives Soll in petto, sondern verlässt sich einzig auf die moralische Motivation bzw. Empfehlungen und Vorbilder. Natürlich verläuft die Grenzziehung zwischen privat und öffentlich, ethisch und moralisch nicht parallel. Es geht hier wesentlich um die methodische Frage, welche Rolle die Philosophie bzw. die Literatur einnimmt, um einen solchen Perspektivenwechsel zu kultivieren. Daraus ergeben sich die verschiedenen Nuancierungen des Perspektivenwechsels zwischen den Polen von Vernunft und Mitgefühl.
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4. Schlussbetrachtung
4.1 Die Kultivierung von Menschenrechten in Abhängigkeit von Vernunft und Mitgefühl Im Anschluss an seine differenzierte Erkenntniskritik nennt Rorty »wahr« und »gut«, was bei freien Diskussionen herauskommt. Als konsequenter Liberaler liegt für ihn die Schaffung politischer Freiheit an erster Stelle. Das »Wahre« und das »Gute« werden hingegen schon für sich selbst sorgen (vgl. KIS 144). 1 »Going all the way with Habermas’ project of replacing a subject-centered conception of reason with a communicative conception would, it seems to me, leave us without any need or any use for the notion of universal validity. For it would let one think of rational inquiry as having no higher goal than solving the transitory problems of the day.« (PCP 78) Rorty hat gegenüber dem Ansatz von Habermas Vorbehalte, weil er in diesem nur »fast die korrekte« philosophische Position erkennt, Habermas aber den letzten Schritt (die Loslösung von der Epistemologie) nicht vollzieht (vgl. PCP 78). Da aber wiederum Habermas’ Konzeption einer kommunikativen Vernunft unwiderruflich im präreflexiven Handlungskontext wurzelt, ist ihm dieser letzte Schritt konzeptionell verwehrt. Rorty hingegen folgt konsequent den politischen Folgen, welche sich aus seiner Erkenntniskritik ergeben, d. h., er entkoppelt die horizontal-intersubjektive Ebene vollständig von der vertikal-wahrheitsorientierten Ebene. Daraus folgt, dass es keine anderen Wahrheiten gibt als jene, auf welche wir uns intersubjektiv einigen. Diese öffentlich-diskursive Ebene wird durch zwei Ideen »reguliert«: Durch die Phantasie und das Mitgefühl. Für ihn ist die Phantasie und Offenheit für eine »bessere« Zukunft weitgehend unabhängig vom unmittelbaren HandlungskonVgl. u. a. R. Rorty, Take care of freedom and truth will take care of itself., hg. v. E. Mendieta, a. a. O.
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Schlussbetrachtung
text. Rorty sieht aus sprachphilosophischer Perspektive nicht (oder will nicht sehen), warum die Verwurzelung im Handlungskontext überhaupt notwendig ist. Dadurch haben neue Ideen im öffentlichen Bereich einen größeren Raum als bei Habermas: 2 Die Phantasie soll nämlich garantieren, dass wir – gemäß dem darwinistischen Prinzip der schnellsten Neuanpassung – Veränderungen begrüßen und ihren Nutzen erproben. Entsprechend beurteilt Rorty positiv, dass auch der rationale Diskurs bei Habermas gegenüber zukünftigen Einwänden offen ist, 3 kritisiert aber zugleich, dass er die Rolle der Phantasie unterschätzt. 4 Sowohl bei Habermas als auch bei Rorty findet sich eine Orientierung an der Zukunft, d. h., im Sinne Arendts sollen nationale, religiöse oder rassistische Identifikationsprozesse durch die Entwicklung einer Solidarität durch die Identifikation mit einer gemeinsamen Zukunft ersetzt werden. 5 Der Diskurs spielt hierfür in beiden Theorien eine zentrale Rolle. Er ist jedoch bei Rorty nachgeordnet, bei Habermas steht er hingegen an erster Stelle. Aus Rortys Philosophiekritik ergibt sich, dass die Suche nach Wahrheit bzw. das Streben nach Vernunft nicht nur erkenntnistheoretisch aussichtslos, sondern auf politischer Ebene sogar schädlich ist: denn sie reißt Menschen aus der direkten Beziehung zueinander, um sie auf etwas auszurichten, was außerhalb des menschlich-kreatürlichen Wirkbereichs liegt. 6 Sie öffnet »Tür und Tor« für »quasi-rationale« Begründungen totalitärer Denksysteme. Sollten sich Menschen dennoch vermittels rationaler Diskurse über bestimmte Menschenrechte einig werden, bleibt die Gefahr bestehen, dass sie nur dann AnRorty schreckt jedoch davor zurück, so weit wie Foucault zu gehen, welcher eine Art nietzscheanische Autonomie in den Bereich der Öffentlichkeit projiziert. 3 »Deine Argumente erfüllen alle unsere heutigen Normen und Maßstäbe, und mir fällt nichts ein, was ich gegen deine These einwenden könnte, aber dennoch könnte es sein, dass deine Aussage nicht wahr ist.« (Habermas in den Worten Rortys, WuF 89) 4 »Habermas unterschätzt, wie mir scheint, die Rolle des Diskurses, der Grenzen aufhebt und die Phantasie entzündet« (SoO 9). 5 Insbesondere Habermas bezieht sich mit der Idee der Substitution von Rasse oder Religion als Kriterium für die Zugehörigkeit zu einer Nation durch die Konstitution von gemeinsamen Projekten für die Zukunft auf Arendt. 6 Eine solche Verbindung von ethischem Handeln und Sinnlichkeit ist nicht neu und findet sich u. a. bei Emmanuel Lévinas. In einem Interview mit Ph. Nemo spricht er diesen Gedanken mit folgenden Worten aus: »Wenn man auf die Augenfarbe achtet, ist man nicht in einer sozialen Beziehung zum Anderen« (E. Lévinas, Ethik und Unendliches, hg. v. P. Engelmann, Wien 1996, 64). 2
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Die Kultivierung von Menschenrechten in Abhängigkeit von Vernunft und Mitge-
wendung finden, wenn andernfalls mit Sanktionen zu rechnen ist. Das viel grundlegendere Problem sieht Rorty nämlich darin, Menschen auch als Menschen (leidensfähige Personen) anzuerkennen: und zwar nicht auf rationaler, sondern auf emotionaler Ebene. Hier kommt deshalb seine Idee des Mitgefühls zum Tragen, welche für ihn die Vorbedingung solcher öffentlicher Diskurse über eine »bessere« Zukunft darstellt. Für den Bereich der Kultivierung der Menschenrechte sieht er sie sogar als »Ersatz« für eine juridische Einsetzung von solchen Rechten: Denn sobald ich den Anderen als Person, d. i. bei Rorty als fühlendes Wesen, anerkenne, werde ich ihm zuhören, an seinem Leiden innerlich teilhaben und versuchen, dieses Leid zu minimieren – und zwar unabhängig davon, um welche Art des Leidens es sich handelt. Dabei wird von der Annahme ausgegangen, dass grundsätzlich jeder Mensch fähig ist, Mitgefühl für jedes andere Wesen zu empfinden, dass aber ein solches Mitgefühl kultiviert werden muss. »Die Erziehung ganzer Generationen von derart netten, toleranten, wohlhabenden, geborgenen und andere Menschen respektierenden Studenten in allen Teilen der Welt ist genau das, was nötig ist« (WuF 259). Schließlich wird die Kultivierung der Menschenrechte als eine solche »liberale« Haltung gesehen, welche versucht, das spezifische Leiden des Einzelnen zu vermeiden und ihm gleichzeitig die größtmögliche Freiheit zuzugestehen, um seine persönliche Selbstverwirklichung voranzutreiben. Aus einer solchen grundsätzlichen Haltung folgt für Rorty erst die Absicht, sich mit anderen diskursiv auseinanderzusetzen und gemeinsame Zukunftsprojekte zu planen. Auch Rorty weiß, dass ein solcher inhaltlicher Diskurs die Solidarität weiter verstärken kann, aber sie ist nicht am Anfang, sondern Ergebnis einer solchen Kultivierung. Denn nur die vorhergehende Kultivierung von Mitgefühl sichert, dass Menschen überall und jederzeit Leiden erkennen und zu vermeiden suchen. Erziehung zu Mitgefühl steht aus diesem Grund bei Rorty an erster Stelle, der (auch rationale) Diskurs über eine bessere Zukunft jedoch an zweiter. Erst wenn dieser Grundstock gegenseitigen Mitgefühls gesichert ist, werden Menschenrechte auch in solchen Situationen befolgt, welche sich staatlichen Sanktionen entziehen. Daraus ergibt sich auf Rortys Seite ein beinah spiegelverkehrter Lösungsversuch des Konflikts zwischen Liberalismus und Kommunitarismus, welcher schließlich in der konträren Beurteilung der Menschenrechtsproblematik resultiert: Durch die Trennung von öffent311 https://doi.org/10.5771/9783495860601 .
Schlussbetrachtung
lichem und privatem Raum versucht Rorty den privaten, denkerischen Freiraum vom öffentlichen Bereich komplett abzugrenzen. Obgleich aber Rorty, im Gegensatz zu Habermas, eher dem Liberalismus zugewendet bleibt, gründet er seinen öffentlichen Bereich auf Solidarität (und nimmt damit eine Idee des Kommunitarismus in Anspruch). Diese soll in Gesprächen das Streben nach Objektivität ersetzen. Mitgefühl und die gemeinsame Hoffnung auf eine bessere Zukunft für unsere Enkel regulieren solche gemeinsamen Realitätskonstruktionen in Diskursen. Bei Habermas verläuft die Argumentation umgekehrt: Auf philosophischer Ebene hält er weiterhin an der Verbindung von Rechtfertigung und Wahrheit fest. Aus diesem Grund steht für ihn der Diskurs an erster Stelle, weil er die problematisierten Wahrheitsansprüche der handelnden Kommunikationsteilnehmer aktualisiert. Oder anders gesagt: Wir müssen uns zuerst darüber einigen, was ist, bevor wir darüber sprechen, wie wir uns verhalten. Die Herstellung einer intersubjektiv geteilten Lebensweltinterpretation ist für ihn deshalb Voraussetzung für die Kultivierung von Solidarität. Aus diesem Grund versucht er die »nur gewünschte« Solidarität in kommunitaristischen Theorien durch eine inhaltlich-rationale Identifikation zu ersetzen. Ein solches Diskursprinzip soll auf diese Weise zu einer internen Verbindung zwischen Menschenrechten und Volkssouveränität sowie Rechtsstaat und Demokratie führen (vgl. EdA 192 ff.). 7 Denn nur insofern wir zugleich Autoren und Adressaten des Rechts sind, ist die Einhaltung solcher Rechte garantiert. Deshalb geht der rationale Diskurs der Kultivierung von Menschenrechten bzw. der gesellschaftlichen Solidarität voraus. Auf empirischer Ebene gibt Habermas natürlich zu, dass Mitgefühl und Empathie notwendig sind, um überhaupt eine moralische Konfliktsituation zu erkennen, d. h. auch – in Bezug auf die Menschenrechte – den Anderen als Mensch anzuerkennen und ihm diese Rechte zuzugestehen. Mitgefühl allein ist Habermas auf internationaler Ebene nicht hinreichend, weil nur die rechtlich sanktionierte Einsetzung von Menschenrechten ihre weltweite Durchsetzung garantieren kann.
7
Siehe dazu die ausführliche Darstellung in Kapitel 1.2.2.
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Perspektivenwechsel ohne Körper? Eine phänomenologische Fußnote
4.2 Perspektivenwechsel ohne Körper? Eine phänomenologische Fußnote Nun bleibt zu fragen, ob eine Harmonisierung der beiden Kontrahenten überhaupt möglich ist, denn beide sehen je grundlegende Gefahren im Konzept des anderen. Habermas kritisiert am Mitgefühl, 1. dass es nicht genügend Sprengkraft besitzt, um eine weltweite Durchsetzung von Menschenrechten zu garantieren; insbesondere besteht die Gefahr darin, dass dieses Gefühl ausdünnt, wenn es auf alle Menschen ausgeweitet werden soll; 2. entbehrt es jede Möglichkeit der Sanktionierung und 3. besteht die Gefahr der Beliebigkeit. Rorty kritisiert an der Vernunft, 1. dass es nicht die rationale Einsicht ist, die uns zu moralischen Handlungen motiviert, sondern das Mitgefühl; insbesondere können rationale Einigungen keine weltweite Durchsetzung von Menschenrechten garantieren, weil es letztlich gar nicht so sehr um die Inhalte geht, sondern darum, wen man als Person (d. i. fühlendes Wesen) emotional anerkennt, 2. zerstört die Orientie313 https://doi.org/10.5771/9783495860601 .
Schlussbetrachtung
rung auf eine absolute Wahrheit die unmittelbar »ethische« Beziehung zwischen Menschen 8 und 3. wird dadurch ermöglicht, dass totalitäre Gedanken gerechtfertigt werden, weil »Vernunft« nichts anderes ist als ein »ranking«, welche Gründe als überzeugend anerkannt werden. Eine Annäherung kündigt sich jedoch an, wenn man kommunikative Vernunft und Mitgefühl als die beiden Extreme eines Kontinuums erkennt, in dessen Mitte der Perspektivenwechsel steht: das heißt insbesondere die intelligible Rollenübernahme für die kommunikative Vernunft und die Einfühlung in das Mitgefühl. Eine phänomenologische Lesart verrät eine weitere Gemeinsamkeit, nämlich dass der Körper weder bei Habermas noch bei Rorty eine große Rolle spielt. Das ist aus mehreren Gründen sowohl ungewöhnlich als auch interessant: Rorty sieht die Selbsterschaffung rein sprachphilosophisch, d. i. als expansiven Prozess, der durch die Aneignung verschiedener philosophischer Vokabulare vorangetrieben wird. Im öffentlichen Raum hingegen setzt er allein auf das Mitgefühl. Man würde nun erwarten, dass parallel zu dieser Argumentation der öffentliche Raum durch den Körper konstituiert würde bzw. dem Körper zumindest eine zentrale Rolle bei der Kultivierung von Mitgefühl zukäme. Das ist aber nicht der Fall. Vielmehr soll das Mitgefühl vornehmlich sprachlich kultiviert werden, d. i. vermittels des Lesens »trauriger Romane«. Es entspringt also nicht so sehr der unmittelbaren Konfrontation mit dem Leid des Anderen, sondern wird sprachlich vermittelt. Vermutlich befürchtet Rorty, dass nur die besondere Empfindungsfähigkeit des Dichters uns das spezifische Leiden des Anderen näherbringen kann. 9 Rorty bedenkt jedoch nicht, dass eine solche Kultivierung des Mitgefühls die ohnehin bestehende Gefahr des Voyeurismus durch mediale Vereinzelung noch vorantreibt: Überspitzt gesagt wären es dann die Monaden am Computer, welche durch das Fenster des Bildschirms Informationen aufnehmen und dadurch ihr Mitgefühl kultivieren sollen. Ich kann hier nur vermuten, dass sich Rorty über diese sprachphilosophische Engführung des Mitgefühlsbegriffs nicht wirklich bewusst ist. Bei Habermas habe ich bereits in der »Ersten ZwischenbetrachGemeint ist hier, dass durch die »selbstgerechte« Bezugnahme auf eine jenseitige Wahrheit eben nicht mehr der konkrete Andere, sondern eine abstrakte Idee im Zentrum steht. 9 Vgl. in KIS, zu »Grausamkeit und Solidarität«. 8
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Perspektivenwechsel ohne Körper? Eine phänomenologische Fußnote
tung« festgehalten, dass auch bei ihm der Körper nicht thematisiert bzw. nur lateral angesprochen wird. Insbesondere hat dies zu der Kritik geführt, dass eine »illokutionäre Absicht« von Habermas für eine ideale Sprechsituation zwar vorausgesetzt wird, jedoch realiter oft nicht besteht. Damit würde die ideale Sprechsituation tatsächlich in eine unerreichbare Ferne rücken. Habermas bedient sich insbesondere in neueren Publikationen und in Auseinandersetzung mit Rortys Kontextualismus zunehmend einer phänomenologischen Argumentation. Wichtige Themengebiete sind hier der Zusammenhang von Sprechen und Handeln, die Intersubjektivität des Rationalitätsbegriffs sowie die präreflexive Lebensweltverankerung. Darüber hinaus deutet er eine direkte Verbindung zwischen Mitgefühl, Perspektivenwechsel und kommunikativer Vernunft an. Dabei vernachlässigt er allerdings eine Verbindung dieser Aspekte vermittels einer phänomenologischen Argumentation; d. h. zu zeigen, dass die kommunikative Vernunft genetisch auf den Perspektivenwechsel, das Mitgefühl und damit die Empfindungsfähigkeit des Körpers zurückzuführen ist. Das würde bedeuten, dass das Vermögen und die Notwendigkeit die Perspektive des Anderen einzunehmen der kommunikativen Vernunft immer schon vorausgeht. Beide, Rorty wie Habermas, entwickeln ihre Theorie einer diskutierenden Öffentlichkeit (ob nun über Vernunft oder Mitgefühl) jenseits der phänomenologischen Idee eines leiblichen Zur-Welt-Seins. Dabei resultiert gerade der Perspektivenwechsel (als Chiasma zwischen kommunikativer Vernunft und Mitgefühl) in der körperlichen Grundvoraussetzung, dass wir eben immer nur eine Perspektive zu einem gegebenen Zeitpunkt einnehmen können und deshalb auf die Sichtweise Anderer angewiesen sind. Eine solche argumentative Verbindung würde es nahelegen, Vernunft und Mitgefühl nicht als Dichotomie, sondern vielmehr als graduelle Verschiebungen auf einem Kontinuum zu interpretieren. Dies werde ich anhand phänomenologischer Theoreme und aktueller empirischer Untersuchungen in einem anderen Buch darstellen. 10
Vgl. Barbara Weber, Vernunft, Mitgefühl und Körperlichkeit: Eine phänomenologische Rekonstruktion des politischen Raumes, München 2013.
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Barbara Weber
Vernunft, Mitgefühl und Körperlichkeit Eine phänomenologische Rekonstruktion des politischen Raumes 228 Seiten. Kartoniert ISBN 978-3-495-48595-8
In dem Maße, in dem wir nicht mehr bezeugen, sondern nur beobachten, keine sozialen Erfahrungen machen, sondern als Voyeur den Anderen objektivieren, verschwindet der Mensch in seinem lebendigen Dasein aus dem öffentlichen Raum. Der politische Teilnehmer wird zum bloßen Betrachter, der sich in die Anonymität der Privatsphäre zurückgezogen hat. Das Sichtbarwerden des konkreten Menschen in seiner Körperlichkeit und Verletzlichkeit ist jedoch das Fundament für ethisches Bewusstsein und politische Verantwortung. Dieses Buch ist ein emphatisches Plädoyer für die Bedeutung des Körpers und der Gefühle: Der öffentliche Raum ist auf das Sehen und das Gesehenwerden angewiesen, weil sich erst hieraus ein gemeinsamer Sinn sowie eine Sensitivität für das Dasein des Anderen entwickeln können. Ein Rückzug in die Monade des Selbst führt hingegen zur Destruktion des Politischen: Denn das auf den privaten Raum reduzierte Individuum ist seiner sozialen Funktionen beraubt. In diesem Sinne ist diese Studie eine »phänomenologische Rekonstruktion des politischen Raumes« auf der Grundlage des Körpers. Damit ist sie mehr als nur die Antwort auf ein Forschungsdesiderat: Sie ist vielmehr die Offenlegung eines geistesgeschichtlichen blinden Flecks und führt in der Konsequenz zu einer Bedeutungsumkehrung wesentlicher politischer Begriffe wie »Freiheit«, »Macht« oder »politischer Raum«.
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Barbara Weber
Philosophieren mit Kindern zum Thema Menschenrechte Vernunft und Mitgefühl als Grundvoraussetzungen einer demokratischen Dialogkultur 260 Seiten. Kartoniert ISBN 978-3-495-48596-5
Kinder entwickeln schon früh ein Bewusstsein für Ungerechtigkeiten – sowohl gegenüber sich selbst als auch gegenüber anderen. Um dieses Bewusstsein zu schulen und gemeinsame Rechte trotz bestehender Unterschiede auszuhandeln, braucht es beides: ein umfassendes Mitgefühl sowie die Fähigkeit, intersubjektive »Wahrheiten« im demokratischen Dialog zu generieren. Was aber bedeutet diese Einsicht für die Kultivierung eines Menschenrechtsbewusstseins bei Kindern? Ist es möglich, rationale Dialogfähigkeit und Mitgefühl parallel zu kultivieren, bzw. bedingen diese sich unter Umständen sogar gegenseitig? Ziel dieses Buches ist es, eine »dialogische Blickwinkelpädagogik« zu entwerfen, welche die Kultivierung von individueller bzw. kultureller Identität nicht gegen, sondern mit und durch Andere versteht. »Identitätsbildung« ist Teil der politischen Kultur und umfasst den generalisierten Perspektivenwechsel ebenso wie die Sensitivierung für Ähnlichkeit und Andersheit durch Mitgefühl und Sprache. Bildungstheoretisch wird hierfür John Dewey als Ausgangspunkt gewählt, um die gesellschaftspolitische Aufgabe der Philosophie als Demokratiebildung neu zu bestimmen. Aus diesem theoretischen Ansatz wird das »Philosophieren mit Kindern« als Mittel zur Förderung von Demokratie und Dialogkompetenz abgeleitet.
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