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German Pages 128 Year 2015
Detlef Horster Jürgen Habermas und der Papst
2006-09-07 16-09-03 --- Projekt: T411.x-texte.horster / Dokument: FAX ID 00f9125622246618|(S.
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Detlef Horster lehrte in verschiedenen Funktionen an den Universitäten Utrecht (Niederlande), Kassel, Berlin (Humboldt-Universität), Port Elizabeth (Südafrika) und Zürich. Er war Visiting Fellow am »Institut für die Wissenschaft vom Menschen« in Wien und ist derzeit Professor für Sozialphilosophie an der Universität Hannover. Jüngste Buchveröffentlichungen: Was soll ich tun? Moral im 21. Jahrhundert (2004); Sozialstaat und Gerechtigkeit (Hg. 2005); Sozialphilosophie (2005); Das Böse neu denken (2006).
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) T00_02 autor.p 125622246746
Detlef Horster
Jürgen Habermas und der Papst Glauben und Vernunft, Gerechtigkeit und Nächstenliebe im säkularen Staat
X T E X T E
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© 2006 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung und Innenlayout: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Korrektorat: Kai Reinhardt, Bielefeld Satz: digitron GmbH, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 3-89942-411-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
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) T00_04 impressum.p 125622246818
Inhalt Einleitung | 7 Leitfaden durch das Buch | 11 1. Werteverfall oder Werterelativismus – was sind die Gründe? | 13 a) Die Presseberichterstattung | 14 b) Gemeinschaftswerte und gesellschaftliche Moral | 16 Exkurs zur Funktion von Moral in der individualisierten Gesellschaft | 22 c) Neuartige moralische Probleme | 25 d) Allgemein anerkannte moralische Regeln | 27 2. Habermas und Putnam | 33 3. Habermas und Benedikt XVI. | 41 4. »Die jüdische Gerechtigkeits- und die christliche Liebesethik« (Habermas) | 55 5. Gerechtigkeit, globale und lokale | 59 6. Die Nächstenliebe | 77 7. Das Verhältnis der Nächstenliebe zur Gerechtigkeit | 85 8. Wo und wie lernt man, was man soll? | 91 a) Die Auffassung des Papstes | 91 b) Habermas’ Auffassung | 93 c) Neueste Forschungsergebnisse | 96 9. Resümee | 111 Anmerkungen | 115 Literatur | 117 Dank | 127
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) T00_05 inhalt.p 125622246874
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Einleitung | 7
Einleitung
Wer von den Befürwortern einer unbeschränkten genetischen Forschung wäre bereit, »den Preis zu zahlen, den südkoreanische Frauen entrichtet haben, damit menschliche Embryonen geklont werden konnten? Wer wäre bereit zu tun, was man Frauen in den armen Gesellschaften Asiens und Osteuropas zunehmend nahelegt? Welche Frau unterzöge sich selbst einer hormonellen Behandlung, damit sie vermehrt Eizellen ›produziert‹, die dann von den Forschern ›geerntet‹ werden, um sie zu Embryonen weiterzuentwickeln, die getötet werden müssen, um ihnen Stammzellen zu entnehmen? Wer riete seiner Frau, seiner Tochter, seiner Enkelin zu diesem Schritt? Rapide fällt die Erde entzwei in eine reiche, anspruchsvolle Oberflächenwelt westlicher Bauart und eine an den Rand des Bewusstseins gedrängte, nicht minder vitale Schattenwelt. […] Andererseits gibt es eine Schattenwelt innerhalb der Anspruchswelt – gibt es das Leid, das stört und das mit hohen Kosten weggeschlossen wird in die Altersheime und Kliniken, die Anstalten und Sterbestationen. […] Die wachsende Zustimmung für dubiose Heilsversprechen oder für die aktive Sterbehilfe zeigt, wie schnell die Mitglieder einer Gesellschaft deren Werteskala verinnerlichen: bloß nicht leiden, bloß nicht unproduktiv sein, bloß nicht der Familie, die man kaum kennt, den Freunden, die man zurückließ, zur Last fallen.« (Kissler 2005, 187 f.) Das scheint ziemlich genau die Lage zu sein, in der wir uns befinden. In diesem Zitat wird über gesellschaftliche Pathologien unterschiedlichster Art berichtet. In einer Diskussion mit Ha-
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8 | Jürgen Habermas und der Papst bermas konnte Benedikt XVI. den von Habermas vorgetragenen soziologischen Befunden, die die hier aufgeführten soziale Pathologien zum Inhalt hatten, nur zustimmen. (Vgl. ebd., 150) Mit der von den beiden Protagonisten konstatierten Entwicklung geht für den Papst ein Werterelativismus einher. Der Begriff der Entfremdung gehört zum Vokabular des Pontifex. Und seine Inaugurationspredigt war ein Zeugnis der Zustimmung zu soziologischen Forschungsergebnissen, die uns heutzutage zahlreich präsentiert werden. In seiner Predigt ging der heilige Vater sogar noch weiter: »Die äußeren Wüsten wachsen in der Welt, weil die inneren Wüsten so groß geworden sind.« Das ist seine unumstößliche Überzeugung. Die Menschen würden sich nicht mehr auf das, was wesentlich zum Menschsein gehöre, konzentrieren. Sie würden sich Moden unterwerfen, statt sich auf sich selbst und ihr Menschsein zu besinnen. Ist das der Grund dafür, dass das im Eingangsbeispiel Geschilderte überhaupt möglich geworden ist? Ist das der Grund für den vom Papst mit betontem Nachdruck hervorgehobenen Werterelativismus? Und nächste Frage: Gibt es überhaupt einen Werterelativismus? Und wenn ja, was meint das Kirchenoberhaupt damit? Das werden die leitenden Fragen in diesem Buch sein. Das spezifisch Menschliche, das nach Ansicht des Pontifex abhanden gekommen ist, ist die Liebe. Darum war seine erste Enzyklika der Liebe gewidmet. Ich werde darauf im sechsten und siebten Kapitel eingehen. Was der Kirchenmann mit Werterelativismus meint, ist vor allem der Verlust der Liebe als der zutiefst menschlichen Fähigkeit. Beklagt wird von ihm aber auch der Verlust anderer Werte. Die Religion, verstanden als Innehalten und Besinnung auf unantastbare und unveränderliche Werte – wozu ganz zentral die Nächstenliebe gehört –, kann nach Benedikt XVI. den Weg deuten, der aus der säkularen Wüste führt, die durch die innere Wüstenei angerichtet worden ist. Die grundsätzliche Frage ist nun, ob gleichzeitig mit den sozialen Veränderungen unsere Werte verloren gehen, denn der Papst ist nicht der einzige, der vom Werteverlust spricht. Die soziologische Analyse unter moralischen Gesichtspunkten auf den Begriff zu bringen, erfordert eine vielschichtige Betrachtung. Da ist zum einen die Frage nach dem moralischen Dürfen und Sollen zu beantworten, zum anderen die nach dem Verhältnis von Sozialstaat und Gerechtigkeit, des Weiteren die nach der
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Einleitung | 9 Möglichkeit einer weltweiten Gerechtigkeit. Alles das wird im Eingangszitat angesprochen. Nehmen wir die erste Frage nach dem moralischen Dürfen und Sollen in den Blick. Habermas analysiert die oben geschilderte Situation unter moralischen Gesichtspunkten so: »Der egalitäre Universalismus ist als große Errungenschaft der Moderne weithin anerkannt; in Frage gestellt wird er jedenfalls nicht durch andere Moralen oder andere gattungsethische Auffassungen. Es sind allein die lautlosen Konsequenzen stumm eingewöhnter Praktiken, die ihn erschüttern könnten. Nicht die naturalistischen Weltbilder, sondern die unaufhaltsam vorangetriebenen Biotechnologien untergraben naturale (und in deren Folge mentale) Voraussetzungen einer Moral, an die ja explizit kaum jemand rühren will. Gegen diese theorielose, aber praktisch folgenreiche Unterminierung hilft allenfalls die stabilisierende Einbettung unserer Moral in ein gattungsethisches Selbstverständnis, das uns den Wert dieser Moral und deren Voraussetzungen zu Bewusstsein bringt, bevor wir uns an die schleichende Revision der vorerst selbstverständlichen Unterstellungen von Autonomiebewusstsein und intergenerationeller Gleichstellung gewöhnen.« (Habermas 2002a, 155 f.) Die Rede ist vom unbemerkt und unbeobachtet vor sich gehenden Werteverlust. Das »gattungsethische Selbstverständnis«, das Habermas anspricht und in das unsere Moral eingebettet ist, ist die Tatsache, dass wir uns wechselseitig als gleichwertige und gleichberechtigte Personen anerkennen. Als solche sind wir Mitglieder der moralischen Gemeinschaft, in der wir ausgewogen sowohl moralische Rechte wie Pflichten haben. Dem liegt das merkantile Modell des Äquivalenten-Tauschs zugrunde. Man ist nur zu so viel verpflichtet, wie man umgekehrt erwarten oder als moralisches Recht einklagen kann. Man ist zu nichts darüber hinaus verpflichtet, nicht zu supererogatorischen1 Leistungen, nicht zu Leistungen, die über das Gesollte hinausgehen. Man kann andererseits nur das verlangen, wozu man umgekehrt verpflichtet ist. Dass sich unsere Moral zu einem solchen »gattungsethischen Selbstverständnis« entwickelt hat, geriet den Philosophen zeitweise gänzlich aus dem Blick. So hatte Heidegger bei seiner geschichtlichen Betrachtung – laut Habermas – zwar die Brüche gesehen, die in der Neuzeit zum rechnenden und auf Beherrschung abzielendes Denken führten, nicht aber die gleichzeitige
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10 | Jürgen Habermas und der Papst Entwicklung moralischen Bewusstseins, das als ein Korrektiv zum technisch-instrumentellen Denken angesehen werden müsse. (Vgl. Habermas 1981, 71) Wenn man allerdings konstatiert, dass sich auch die Moral weiterentwickelt hat, müssen wir, meint Habermas, gleichzeitig und bedauerlicherweise vermerken, dass sich diese Moral am Ende des 18. Jahrhunderts ausgebildet hat. Die Technik und die Wissenschaft entwickelten sich heute im Horizont eines alt gewordenen normativen Selbstverständnisses. (Vgl. Habermas 2001, 175) Das heißt, dass die wissenschaftlichtechnische Entwicklung die Moralentwicklung überholt hat. Aber aufgrund der dadurch aufgeworfenen Probleme ist es notwendig und überaus wichtig geworden, dass die Moralentwicklung die wissenschaftlich-technische einholt, weil die gegenwärtige Moral den Problemen dieser wissenschaftlich-technischen Entwicklung, die ich im ersten Kapitel unter Punkt c) aufführen werde, wohl kaum gewachsen ist. Nun, bevor wir ans Einholen denken, müssen wir zunächst bilanzieren, welche moralischen Werte wir haben und ob es den Tatsachen entspricht, dass sie im Schwinden begriffen sind. Seit seinem Amtsantritt und schon zuvor hat Benedikt XVI. die Relativierung der Werte beklagt und angeprangert. In seiner Predigt unmittelbar vor dem Konklave, in dem er zum Papst bestimmt wurde, sagte er: »Der Relativismus, also das ›hin und her getrieben Sein vom Widerstreit der Meinungen‹ erscheint als die einzige Einstellung, die auf der Höhe der heutigen Zeit ist. Es konstituiert sich eine Diktatur des Relativismus, die nichts als definitiv anerkennt und die als letztes Maß nur das Ich und seine Bedürfnisse lässt.« Es gibt Mutmaßungen darüber, dass Ratzinger deshalb gewählt wurde, weil er in dieser Predigt das Thema des Werterelativismus ansprach und es zu seinem eigenen machte. Ist es denn aber wirklich so, dass wir von Relativierung der moralischen Werte, von einer »Diktatur des Relativismus« und von Werteverfall sprechen müssen? Der Papst ist ja nicht der Einzige, der das tut, sondern die Auffassung scheint heute zum Allgemeingut geworden zu sein. Schauen wir uns darum zunächst einmal die Gründe an, die zu einer solchen Auffassung geführt haben könnten.
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Einleitung | 11
Leitfaden durch das Buch Zunächst wird es in diesem Buch also darum gehen, die Frage zu stellen, ob wir überhaupt einen Werteverfall zu beklagen haben. Dies werde ich im ersten Kapitel tun. Darin wird zu zeigen sein, dass es trotz des Jammerns über den Werteverlust und der damit einhergehenden Wehklage über das Schwinden der Moral immer noch anerkannte und nicht infrage gestellte moralische Pflichten gibt, die wir niemals bestreiten würden und die auch ihre essentielle Funktion für den gesellschaftlichen Zusammenhalt haben. Ich werde im ersten Kapitel ebenfalls zeigen, dass sich der vom Papst diagnostizierte Werterelativismus auf die christlichen Gemeinschaftswerte bezieht und nicht auf die gesellschaftliche Moral. Das geschieht in einem ersten Zugriff, um dann im zweiten Kapitel – mit Hilfe der Auseinandersetzung zwischen Jürgen Habermas und Hilary Putnam – philosophisch zu argumentieren, dass es unbestreitbare objektive und universelle Werte gibt. Im dritten Kapitel werde ich die Diskussion zwischen Habermas und dem Papst darstellen, in der es um die Frage geht, ob die Kirche noch eine moralische Instanz im säkularen Staat ist oder sein kann. Der zentrale Wert unserer heutigen globalen Gemeinschaft ist die weltweite Gerechtigkeit. Es muss allerdings geprüft werden, was unter Gerechtigkeit zu verstehen ist. Das wird im vierten und fünften Kapitel geschehen. Das zweite Kapitel wird zum Ergebnis haben, dass es zwar objektive und universelle Werte gibt, diese aber unterschiedlich konnotiert sein können, dass jeweils andere Wege beschritten werden, um sie zu realisieren, und dass es auch unterschiedliche Informationen in verschiedener Hinsicht über diese Werte gibt, so dass der Eindruck entstehen kann, es gäbe einen Werterelativismus. Ein Wert, und wie ich zeigen werde, der zentrale der christlichen Kirchen, ist die Nächstenliebe, dem das sechste Kapitel gewidmet ist. Der Forderung von Habermas folgend, die religiösen Bürger müssten sich in den Diskurs des säkularen Staates einbringen und sich Gehör verschaffen, wird im siebten Kapitel die Frage nach dem Verhältnis von säkularer Gerechtigkeit und christlicher Nächstenliebe gestellt. Das abschließende achte Kapitel hat die Beantwortung der Frage zum Inhalt, wie und wo im säkularen Staat Moral gelernt wird.
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1. Werteverfall oder Werterelativismus | 13
1. Werteverfall oder Werterelativismus – was sind die Gründe?
Schon Dostojewski mutmaßte, dass alles erlaubt sei, wenn Gott nicht existiere oder – wie Benedikt sagt – in Vergessenheit geraten ist. Beide meinen dasselbe: Wenn der Ursprung unserer moralischen Regeln nicht mehr präsent ist, dann haben die moralischen Regeln ihre Geltungsbasis verloren. Wir hätten es dann mit einem Werterelativismus oder gar einem Werteverlust zu tun. Dies erinnert mich an eine Begebenheit, die sich beim »Philosophieren mit Kindern« zutrug. Ein Mädchen in einer dritten Klasse erzählte, dass sie mit ihrer kleinen Schwester allein zu Hause war. Die Eltern hatten beim Weggehen gesagt, dass sie niemandem die Tür aufmachen sollten. Es klingelte, und die kleine Schwester eilte zur Tür und wollte öffnen. Die große Schwester erinnerte daran, dass die Eltern das verboten hatten. Die kleine Schwester meinte: »Wenn diejenigen, die die Regeln aufgestellt haben, nicht da sind, gelten sie nicht mehr.« Kann der Verlust Gottes die Ursache für die Klage über den Werteverlust sein? Dann hätten wir längst und nicht erst heute Grund zu klagen. Denn, dass es für viele Gott nicht mehr gibt, beobachten wir in Deutschland seit »dreißig, vierzig Jahren« (Ratzinger 2004, 17). Zwar haben die beiden großen Kirchen jeweils 26 Millionen Mitglieder; das sind bei 80 Millionen Einwohnern in Deutschland zwei Drittel der Bevölkerung, doch brauchen viele nur noch bei Festlichkeiten wie Taufe, Hochzeit und Beerdigung die kirchlichen Rituale als zeremonielle Staffage
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14 | Jürgen Habermas und der Papst ihrer Feier und nehmen sie als Sozialleistung gern in Anspruch. (Vgl. ebd., 167) Die Kirchen jedoch sind leer und nur an hohen Festtagen noch gut besucht. Im Jahre 1960 waren von 100 deutschen Katholiken 46 regelmäßig sonntags in der Kirche, im Jahre 2003 nur noch 15. (Vgl. Kissler 2005, 54) Die Menschen in Deutschland haben, wie der Papst formuliert, »Unlust am Glauben« (Ratzinger 2004, 164). Diese ist jedoch nicht neuerlich erst eingetreten und kann deshalb nicht der Grund für die gegenwärtige Klage über Werterelativismus oder Werteverfall sein. Was ist es dann? Vor der Beantwortung dieser Frage will ich zunächst eine andere stellen: ob es denn wirklich so ist, dass wir in unserer Gegenwartsgesellschaft von einem Werteverlust sprechen müssen? Haben nicht schon die Alten vom Wertewandel gesprochen? Wir hörten solche Klagen zu allen Zeiten. Angefangen hat das Lamento bei Sokrates und Platon, die bei der Jugend ihrer Zeit einen Werteverfall diagnostizierten. Ist es darum nicht lediglich eine zu allen Zeiten weitverbreitete Meinung, dass ein Werteverfall zu beklagen ist? Woran liegt es, dass wir heute über einen Werteverfall, Werteverlust oder Werterelativismus – ganz nach Belieben – trauern? Ich will in diesem ersten Kapitel drei mögliche Gründe erörtern: die Struktur unserer Presseberichterstattung (a); zum Zweiten das Verwechseln von Gemeinschaftswerten mit gesellschaftlicher Moral (b) und zum Dritten die völlige Neuartigkeit moralischer Probleme (c).
a) Die Presseberichterstattung Die Bevölkerung in Deutschland war 2002 laut Umfragen der Ansicht, dass die Kriminalität in den vergangenen zehn Jahren stark angestiegen sei. Indessen: Die Kriminalität hatte faktisch abgenommen: 1993 wurden in Deutschland 32 Sexualmorde registriert. Im Jahre 2002 waren es 11. Die Umfragen ergaben, dass die Menschen meinten, dass wir 208 zu verzeichnen hätten. Das sind knapp 2000 Prozent mehr, als wirklich geschehen sind. 1993 wurden in Deutschland 666 Morde begangen. Im Jahre 2002 waren es 421, das sind 1/3 weniger als 1993. Die Bevölkerung hingegen war der Auffassung, dass die Zahl auf 1000 gestiegen sei, dementsprechend 2002 um ein Drittel höher gewe-
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1. Werteverfall oder Werterelativismus | 15 sen sei als 1993. (Vgl. Pfeiffer 2005) Das alles ist doch höchst erstaunlich! Wie kommt es zu solchen Fehleinschätzungen? Das liegt an der Struktur der Presse und ihrer Nachrichtengestaltung. (Vgl. dazu Luhmann 1995) Wenn die Presse von außergewöhnlichen Normverstößen berichtet, erzeugt sie damit hohe Aufmerksamkeit. Sie muss dieses Interesse notwendigerweise wecken, damit die Auflagen verkauft werden. (Vgl. ebd., 27) Uninteressant ist es, darüber zu berichten, dass in Deutschland Millionen von Ehemännern anständig leben. Das würde kein Mensch lesen. Interessant hingegen ist der eine einzige Fall, als ein Ehemann nach 32-jähriger Ehe seine Frau umbrachte und sie im Kleiderschrank einzementierte, wie vor einigen Jahren in einer Kleinstadt in der Nähe von Hannover geschehen. Man setze solche singulären Fälle einmal in Relation zu den restlichen Millionen anständiger Menschen! Dass wir bei Jugendlichen ebenfalls nicht von Werteverlust oder Werteverfall sprechen können, hat der Schweizer Pädagoge Walter Herzog gezeigt. In den selbst gebauten Eigenwelten ist ein Jugendlicher zwar für sich gesondert und hat eigene musikalische Vorlieben und Regeln seiner persönlichen Lebensgestaltung. Anders dagegen im moralischen Bereich: Dort sind für alle befragten Jugendlichen die Fairnessregeln und die wechselseitige Anerkennung unbedingte Gebote. (Vgl. Herzog 2002, 489) Die wechselseitige Anerkennung ist – wie ich in der Einleitung bereits erläutert habe – der Kern jeder moralischen Pflicht, denn darum geht es: Moralische Regeln schützen die Menschen, die vom Handeln anderer betroffen sind, und sie verlangen die Achtung der jeweils anderen Lebensführung. (Vgl. Bayertz 2004, 37 und Pauer-Studer 1996, 264) Mit einer solchen Definition kann man erst einmal ganz gut leben. Wenn man sich die Ergebnisse, die Herzog uns präsentiert, ansieht, wie kann man dann noch guten Gewissens von Werterelativismus, Werteverlust oder Werteverfall sprechen? – Das führt uns zum zweiten Punkt:
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16 | Jürgen Habermas und der Papst
b) Gemeinschaftswerte und gesellschaftliche Moral Was sind die Gründe für die Fehleinschätzung, dass wir in einer Zeit des Werteverlusts leben? Einen Grund hatte ich bereits genannt – die Struktur unserer Presseberichterstattung. Ein anderer Grund ist, dass die Werte und Ideale einer Gemeinschaft oft mit gesellschaftlicher Moral verwechselt werden. Das ist ein wichtiger Punkt im Dialog mit dem Papst. Für die Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft beziehe ich mich auf Ferdinand Tönnies und lege seine Unterscheidungskriterien an. (Vgl. Tönnies 1991, 3) Tönnies spricht bei der Gemeinschaft von dem vertrauten Zusammenleben, in dem man sich mit den Seinen befinde und mit denen man Wohl und Wehe teile. Meist lebe man in dieser vertrauten Gemeinschaft von Geburt an. Ich erweitere dieses Kriterium dahingehend, dass mit Gemeinschaft nicht nur ein Zusammenleben von Geburt an gemeint sein kann, sondern dass man einer Gemeinschaft ebenso gut später beitreten kann. Eine für viele Menschen wichtige Gemeinschaft ist die Kirche. – Gesellschaft hingegen ist für Tönnies die Öffentlichkeit, die Welt, in die man gehe, wie in die Fremde. In der Gemeinschaft ist man zu Hause. Der heilige Vater sieht das aus innerkirchlicher Perspektive ebenso, wenn er sagt: »Die Kirche bleibt für den Staat ein ›Außen‹. Nur dann sind beide, was sie sein sollen. Sie muss ebenso an ihrem Ort und an ihrer Grenze bleiben wie der Staat.« (Ratzinger 2005a, 64) Nehmen wir den Wert einer Gemeinschaft. Die Älteren unter uns erinnern sich, dass es in den 1950er Jahren noch ein weitverbreitetes Ideal war, keinen vorehelichen Geschlechtsverkehr zu haben. Allein der Gedanke daran wäre als unkeusch qualifiziert worden und ein Thema für die nächste Beichte gewesen. Keuschheit war eine hoch angesiedelte Tugend. »Heute gilt das Sexualverhalten als ähnlich neutral wie andere Formen des Freizeitverhaltens: Ein vorehelicher Geschlechtsakt wird ebenso wenig als unmoralisch angesehen wie ein vorehelicher Kinobesuch.« (Bayertz 2004, 46) Darum gibt es in der Alltagssprache Keuschheit inzwischen ebenso selten wie Dienstmädchen, Dinosaurier oder Deutsche Mark. Hier liegt ein Wertewandel vor. Es handelt sich bei der Keuschheit allerdings um einen Gemeinschaftswert, der mit gesellschaftlicher Moral nichts zu tun hat. Ähnliches wie für den vorehelichen Geschlechtsverkehr ist
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1. Werteverfall oder Werterelativismus | 17 für die Homosexualität zu sagen, die moralisch geächtet und unabhängig von einer Altersschutzgrenze noch bis 1969 bei uns im § 175 StGB ein Straftatbestand war. Unser höchstes Gericht, das Bundesverfassungsgericht, urteilte seinerzeit, dass Homosexualität ein Straftatbestand sei, der mit dem Grundgesetz in Einklang stehe, weil »homosexuelle Betätigung gegen das Sittengesetz« verstoße. Es sei für die Richter bei der Entscheidung von Gewicht gewesen, dass »die beiden großen christlichen Konfessionen, aus deren Lehren große Teile des Volkes die Maßstäbe für ihr sittliches Verhalten entnehmen, die gleichgeschlechtliche Unzucht als unsittlich verurteilen«. (Urteil des 1. Senats vom 10. Mai 1957, Az 1 BvR 550/52 = BVerfGE 6, 389 ff.) Die Homosexualität ist auf ein tradiertes biblisches Verbot zurückzuführen. Wir lesen im Buch Levitikus 20,13: »Schläft einer mit einem Mann, wie man mit einer Frau schläft, dann haben sie eine Greueltat begangen; beide werden mit dem Tode bestraft; ihr Blut soll auf sie kommen.«2 Einverständlicher vorehelicher Geschlechtsverkehr und einvernehmliche Homosexualität verletzen den anderen nicht. Diese Handlungen sind darum nicht unmoralisch. Es handelt sich bei der Keuschheit und bei der Ächtung der Homosexualität um kirchliche Gemeinschaftswerte. Warum aber waren solche christlichen Werte seinerzeit so weit verbreitet, dass sie als gesellschaftlich verbindlich angesehen wurden und sogar ins Recht eingingen? Die Richter des Bundesverfassungsgerichts haben es in der zitierten Entscheidung von 1957 bereits angesprochen. Es lag daran, dass nach dem Zweiten Weltkrieg mehr als 90 Prozent der bundesdeutschen Bevölkerung Mitglied in einer der christlichen Kirchen war und in ihnen nach der Zeit des Nationalsozialismus neue moralische Orientierung suchte. Die christlichen Gemeinschaftsideale waren deshalb seinerzeit fast identisch mit dem, was man als gesellschaftliche Pflicht ansah. Das ist heute nicht mehr der Fall. Wir leben nicht mehr in einer religiös homogenen Gesellschaft, und sie wird sich bei uns voraussichtlich auch nicht mehr herstellen lassen. (Vgl. Ratzinger 2004, 130 und 175) Die Mitgliederzahlen der Kirchen sinken zwar, die Vertreter der Kirchen beklagen die hohen Zahlen der Austritte. Allein 2003 sind 130.000 Katholiken aus der Kirche ausgetreten. Doch mehr noch bedrückt die Kirchenoberen – wie ich eingangs sagte – die Unlust am Glauben. Im Osten Deutschlands bezeichnen sich nur
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18 | Jürgen Habermas und der Papst 21 Prozent der Menschen als gläubig. (Vgl. Kissler 2005, 16) Nicht nur der Glaubensverlust ist in diesem Zusammenhang zu beklagen, sondern ein Verlust an kulturellem Wissen, wie Peter Antes bemerkt: Vieles war »früher jedermann durch Kirchgang, Religions-, Konfirmanden- oder Kommunionunterricht bekannt […]. Das Schwinden des religiösen Basiswissens aber hat in den letzten Jahren eine weitere Stufe erreicht: die fehlende kulturelle Sozialisation, so daß selbst Grunddaten der Geschichte Jesu den meisten jüngeren Zeitgenossen […] völlig unbekannt sind, was einen Kulturabbruch bislang ungekannten Ausmaßes bedeutet.« (Antes 1998, 7 f.) Demzufolge lassen sich heute die kirchlichen Werte klarer und deutlicher von der gesellschaftlichen Moral abgrenzen als zu der Zeit, da noch mehr als 90 Prozent der Bevölkerung Kirchenmitglied waren. Doch solange man ein engagiertes Mitglied in einer Glaubensgemeinschaft oder einer anderen Gemeinschaft ist, kann man sich deren Regeln nicht entziehen, denn sie umgreifen meist den gesamten Lebensentwurf eines Menschen. (Vgl. Ratzinger 2004, 19 f.) Genauso wenig kann man sich den Spielregeln entziehen, wenn man ein Spiel spielt. Doch man kann es unterlassen, das Spiel zu spielen – oder man stellt die Teilnahme daran ein. (Vgl. Stemmer 2000, 358) Man kann aus einer Gemeinschaft austreten und nicht mehr nach ihren Idealen und Wertvorstellungen leben. Das geht bei der gesellschaftlichen Moral nicht. Die Teilnahme an der Moral ist uns nicht in demselben Sinne freigestellt wie die Teilnahme am Schachspiel oder der Beitritt in eine Glaubensgemeinschaft. (Vgl. Bayertz 2004, 122) Es kann bei uns keinen gesellschaftsweiten moralfreien Samstagnachmittag geben. Oft werden die Ideale einer Gemeinschaft mit gesellschaftlichen moralischen Rechten und Pflichten verwechselt. Doch hat jedes Mitglied einer religiösen Gemeinschaft neben den dort geltenden außerdem die moralischen Pflichten zu erfüllen, die für alle gelten, die in der Gesellschaft leben. Hannah Arendt bringt es auf den Punkt: »Diese Ordnungen von gegebenen Gemeinschaften müssen von der moralischen Ordnung, die für alle Menschen, ja alle vernünftigen Wesen verbindlich ist, unterschieden werden.« (Arendt 2006, 37) Dieser Unterschied ist selbstverständlich ebenso zwischen nichtreligiösen Gemeinschaften und der Gesellschaft zu machen. So hat der Philosoph Leonard Nelson für die Mitgliedschaft in
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1. Werteverfall oder Werterelativismus | 19 seiner Vereinigung zwar Nikotin- und Alkoholabstinenz, vegetarische Ernährung, Kirchenaustritt und politische Aktivität verlangt (vgl. Franke 1991, 152 und Krohn 1983, 14), doch konnten diese Forderungen nicht als allgemeinverbindliche moralische Pflichten gelten. Diesen Regeln musste man allerdings nachkommen, wollte man der Nelson’schen Vereinigung angehören. Doch auch deren Mitglieder mussten darüber hinaus die moralischen Pflichten befolgen, die alle Menschen unserer Gesellschaft befolgen müssen. Ich wiederhole: Egal, welcher Gemeinschaft man angehört, man muss trotzdem die moralischen Regeln der Gesellschaft beachten, die für alle gelten, denn die Mitglieder einer partikularen Gemeinschaft sind stets zugleich Mitglieder der Gesellschaft. Es ist so, wie man aus der Haustür auf die Straße tritt. In diesem Moment hat man die öffentlichen Regeln zu befolgen. In einem Haus gelten bestimmte Werte, die für die Bewohner verbindlich sind. In diesem Sinne verteidigt Benedikt XVI. die christlichen Werte gegen Relativierung. Es sei wichtig, dass die Christen das eigene Erbe kraftvoll und rein lebten (vgl. Ratzinger 2005a, 137), und Christsein zur »Ganzheit des Lebensentwurfes« machten. (Ratzinger 2004, 20) Die christlichen Werte dürften nicht relativiert werden, wenn die Menschen in ihrem Haus, der Kirche, eine Heimat finden wollten, sonst »fühlen [sie] sich nicht mehr zu Hause«. (Ebd., 165) Das Christsein drücke sich in »Formen der Frömmigkeit, in moralischen Grundentscheidungen, in prägenden Überzeugungen aus. […] Die katholische Identität ist da[nn] über alle Grenzen hin ein ganz reales Erlebnis.« (Ebd., 138 f.) Das halte ich für plausibel und richtig. Treten die Menschen allerdings aus dem christlichen Haus auf die Straße, dann gelten die für alle verbindlichen moralischen Regeln, egal, aus welchem Haus die Menschen gerade kommen. Ich weise auf die von mir oben gegebene Definition hin, mit der man erst einmal gut weiterkommt: dass moralische Regeln dazu da sind, diejenigen, die vom Handeln anderer betroffen sind, zu schützen. Die allgemein verbindlichen Pflichten können allerdings zum Teil identisch mit den Regeln eines Hauses sein, sie müssen es aber nicht. Ich erinnere daran, dass in den 1950er Jahren bei uns in Deutschland sehr viele christliche Gemeinschaftswerte mit denen der gesellschaftlichen Moral identisch waren. Der Papst meint allerdings, und das gehört zu seinem
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20 | Jürgen Habermas und der Papst Amt, dass draußen 80 Prozent Nichtchristen auf das Evangelium warteten und die Christen die Pflicht hätten, es ihnen zu bringen. (Vgl. Ratzinger 2004, 171 und 2005a, 116) Wenn der Pontifex in missionarischem Eifer allerdings der Auffassung sein sollte, dass die christlichen Wertvorstellungen zum gesellschaftlichen Moralkanon gehören müssten, dann ist das einfach falsch und berücksichtigt die eben dargestellte notwendige Differenzierung nicht. Ich will noch ein wenig ausführlicher darstellen, dass ein solcher Absolutheitsanspruch oft von politischen Ideologen oder von Religionsvertretern aufgestellt wird: »Wer für den Kommunismus kämpft«, sagte Bert Brecht beispielweise, »der muß kämpfen können und nicht kämpfen; die Wahrheit sagen und nicht die Wahrheit sagen; Dienste erweisen und Dienste verweigern; Versprechen halten und Versprechen nicht halten; sich in Gefahr begeben und die Gefahr vermeiden; kenntlich sein und unkenntlich sein. Wer für den Kommunismus kämpft, hat von allen Tugenden nur eine: daß er für den Kommunismus kämpft.« (Semprún 1981, 81) Hitler wollte diese Lösung noch radikaler als andere Ideologen. Er beabsichtigte, das jüdische Volk, das vor mehr zweieinhalb Tausend Jahren eine Moralordnung begründete, in der Morden und Quälen von Menschen moralisch und rechtlich geächtet wird, gänzlich auszulöschen. Das neue Menschentum, das Hitler und seinen Ideologen vorschwebte, erforderte einen anderen Gattungsbegriff, mit dem das Recht auf Tötung und Folterung wiederhergestellt werden sollte. (Vgl. Zimmermann 2005, 36) Hitler wollte, wie Hannah Arendt sagte, »die Negation der Moral als solcher«, die »Umkehrung der Zehn Gebote«. (Arendt 2006, 13 und 16) Kierkegaard argumentierte in einer ähnlich radikalen Weise, wenn er Abrahams Geschichte der Opferung seines Sohnes Isaak auf Anordnung Gottes dahingehend interpretierte, dass die moralischen Pflichten zugunsten religiöser Gebote außer Kraft gesetzt werden müssten. Aufgrund dessen, dass Abraham dem Befehl Gottes folgte, konnte er nach Kierkegaards Auffassung mit seinem Griff zum Messer gar kein Mörder werden. Dabei war die versuchte Kindstötung ein mehrfacher Verstoß gegen moralische Pflichten. Doch wir müssen Gottes »Anordnungen immer, bedingungslos, also nicht unter der Bedingung, dass sie moralisch akzeptabel sind, gehorchen«. (Schröder 2005, 106) Auch im »Neuen Testament wird Abrahams Tötungsbereitschaft mehrmals nachdrücklich als
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1. Werteverfall oder Werterelativismus | 21 Vorbild gottgefälligen Gehorsams ausgezeichnet«. (Ebd., 91) Wilfried Schröder fährt fort: »Aus jüngster Zeit stammt eines der spektakulärsten Beispiele einer Berufung auf das ›Vorbild Abraham‹: das Testament des Selbstmordattentäters Mohamad Atta, der seinen Gehorsam gegenüber dem göttlichen Befehl am 11. September 2001 in Manhattan unter Beweis stellte.« (Ebd., 74) Religiöse Fanatiker, die meinen, im göttlichen Auftrag zu handeln, sind in höchstem Maße gefährlich, weil sie kommunikativ nicht erreichbar sind. In diesem Zusammenhang ist noch interessant anzumerken, wie ein anderer Philosoph, der Vernunftphilosoph Kant, auf diese biblische Geschichte reagiert, der an Stelle von Abraham zurückgerufen hätte: »›Daß ich meinen guten Sohn nicht tödten solle, ist ganz gewiß; daß aber du, der du mir erscheinst, Gott sei, davon bin ich nicht gewiß und kann es auch nicht werden‹, wenn [die Stimme] auch vom (sichtbaren) Himmel herabschallte.« (Streit der Fakultäten, Anm. A 103) Im Gegensatz zu Kierkegaard ist Kant der Auffassung, dass selbst Gott nicht in der Lage sein kann, gegen die Moral zu verstoßen oder sie außer Kraft zu setzen. Ein Ergebnis, mit dem neben Kierkegaard schon Descartes Schwierigkeiten gehabt hätte. Letzterer war der Auffassung, dass Gott hätte entscheiden können, dass 2 x 2 = 5 ist. Dem hat Descartes’ Zeitgenosse Hugo Grotius widersprochen: Gott könne nicht bewirken, dass 2 x 2 nicht 4 ist. Eine vermittelnde Stellung nahm Spinoza ein, der etwa zur selben Zeit die Überzeugung äußerte, dass Gott zwar die Ursache von allem sei, doch selbst er könne nach der Hervorbringung keine Veränderungen mehr vornehmen. Die Interpretation der Abraham-Geschichte ist keinesfalls nur den Theologen vorbehalten, sondern hier geht es darum – und das ist der Grund, warum sich Philosophen zu Wort melden –, ob irgendeine Macht denkbar ist, die imstande sein kann, moralische Pflichten außer Kraft zu setzen und unserem gesamte Moralsystem und unseren objektiven, universalen Werten die Unbedingtheit zu nehmen. Denn in all den geschilderten Fällen des Kommunismus, des Nationalsozialismus und der Kierkegaard’schen Interpretation der biblischen Abraham-Stelle wird die vollständige Außerkraftsetzung der geltenden Moral gefordert, die an ihre Stelle eine gänzlich neue Sozialordnung setzen will, in der eine Ideologie oder Religion an ihre Stelle tritt: Den Gebo-
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22 | Jürgen Habermas und der Papst ten und Befehlen der Mullahs, eines Gottes, eines Führers oder Diktators bzw. Generalsekretärs einer kommunistischen Partei sei Folge zu leisten, selbst wenn das moralischen Geboten widerspricht. Wir finden dieses Muster in vielen Märchen bis hin zur neuesten Kinderliteratur, wenn beispielsweise in dem in diesem Jahr erschienenen Roman Prügelknabe der Abt und der Herzog die Moralordnung missachten und stattdessen ihre absolutistische Herrschaft mit eigenen unergründlichen Regeln durchsetzen. (Vgl. Frey 2006) Doch selbst in Märchen und Kinderromanen funktioniert das nicht auf Dauer.
Exkurs zur Funktion von Moral in der individualisierten Gesellschaft Warum können solche absolutistischen Sozialordnungen nicht funktionieren und warum brauchen wir eine allgemeingültige gesellschaftliche Moral? Ich will das zunächst von Seiten der Funktion her, die die Moral in der Gesellschaft hat, erklären. Da menschliches Handeln heute nicht mehr nach einer allgemeinverbindlichen und von allen akzeptierten christlichen Offenbarung ausgerichtet ist, hat jedes Individuum unendlich viele Handlungsalternativen, die weder notwendig noch unmöglich sind. (Vgl. Luhmann 1984, 152) Das war nicht immer so. Im griechischen Stadtstaat hing die Identität des einzelnen Individuums von seiner Zugehörigkeit zur Gemeinschaft ab. So wie in der griechischen, war in der römischen Zeit, aber auch noch im Mittelalter, die Vorstellung vom freien Individuum gänzlich unbekannt. – Morallernen war nichts Abgelöstes, kein separates Lernen. Es gab ein alle Stände umfassendes Richtigkeitserlebnis. Der einfache Bauer und Leibeigene konnte ebenso wie der Fürst und König für alltägliche moralische Entscheidungen in der Bibel Handlungsanweisungen finden. Desgleichen war der Beruf vorherbestimmt. Wenn der Vater Schuhmacher war, wurde man das später selbstverständlich ebenfalls. Klar war meist schon von Geburt an, wen man heiraten wird. Dante Alighieris Vater beispielsweise verlobte im Jahr 1277 den elfjährigen Sohn mit der fünfjährigen Gemma Donati, die der Dichter der Divina Commedia mit 26 Jahren heiratete. In dieser Weise ist heute niemand mehr Gemeinschaftswe-
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1. Werteverfall oder Werterelativismus | 23 sen. Dass der Mensch allerdings im heutigen Sinne Individuum wurde, mit dem Ziel der Selbstverwirklichung und der Eigenverantwortung für die Gestaltung seines gelingenden und geglückten Lebens, war ein lang dauernder Prozess, der bereits im 15. Jahrhundert, etwa mit der Erfindung des Buchdrucks 1440, begann. Erst mit diesem Datum war der Autor eines Buches unzweifelhaft identifizierbar. Bis dahin war ein Buch oft ein Gemeinschaftswerk und musste es sein, weil durch das handschriftliche Kopieren der Bücher in Klöstern mancher Kopist das hinzusetzte oder wegließ, was ihm sinnvoll erschien. Das machte es schwer, den ursprünglichen Autor eines Buches zu bestimmen. Ich bin in Kempen am Niederrhein aufgewachsen. Aus dieser Stadt stammt Thomas von Kempen, der die Nachfolge Christi geschrieben haben soll. Bis heute streitet man darüber, ob das Buch nicht doch von Geert Groote stammt. Mit Sicherheit war es keiner von beiden allein. – Die ersten Selbstporträts nördlich der Alpen entstehen in dieser Zeit, am Ende des 15. Jahrhunderts, namentlich das von Albrecht Dürer. Bis dahin war nicht immer klar, welcher Künstler ein Werk geschaffen hatte. So bekommt man bei einer Führung im Naumburger Dom zu den berühmten Stifterfiguren, wie der Uta, zu hören, dass sie aus der Werkstatt der Meister von Reims stammten, die den Höhepunkt ihres Schaffens im Mainzer Dom hatten und Schöpfer der Stifterfiguren seien. Auch die Religion reagierte: Die katholische Gemeinschaftsreligion konnte man bei dieser sozialen Entwicklung nicht mehr gebrauchen. Darum war die Reformation eine soziale Notwendigkeit; so dass man sagen kann: Wenn es Luther nicht gewesen wäre, hätte es ein anderer tun müssen. Man merkt den Unterschied zwischen beiden Religionen noch heutigentags, wenn man zu einer Beerdigung geht. Bei einer katholischen Beerdigungsfeier wird in den Mittelpunkt gestellt, dass der Verstorbene in die Gemeinschaft der Heiligen eingegangen sei, die die Todesgrenze beseitige. Das Gegenteil, die Einsamkeit, sei die Hölle. (Vgl. Ratzinger 2005b, 282) Der 1. November, Allerheiligen, ist der Tag der Bewusstmachung, dass wir Lebenden zusammen mit den Toten eine Gemeinschaft bilden, und das Verbindende sei die Nächstenliebe, von der noch die Rede sein wird. – Bei einer evangelischen Totenfeier steht der verstorbene Mensch und sein individueller Lebensweg im Mittelpunkt. Die Subjektivierung
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24 | Jürgen Habermas und der Papst durch den Protestantismus nennt Herbert Schnädelbach »Aufklärung im inneren Bereich der Religion« (Schnädelbach 2006, 336). Auf den Kontrast zur katholischen Gemeinschaftsreligion ging Ludwig Feuerbach 1830 in seinen Gedanken über Tod und Unsterblichkeit ein: Im Protestantismus trat die Person in den Mittelpunkt, wohingegen die katholische Kirche das gemeinschaftliche Sein war, in der der Mensch noch nicht auf sich gestellt wurde, sondern in der Gemeinschaft der Gläubigen stand und dort höchsten Genuss fand. (Vgl. Feuerbach 1960, 4 ff.) Diese kurz skizzierte Entwicklung der Individualisierung ist in der heutigen funktional differenzierten Gesellschaft abgeschlossen. Niemand weiß in einer individualisierten Gesellschaft vom anderen, was dieser aus der Vielzahl von Möglichkeiten wählen und in Handeln umsetzen wird. Man ist in dieser Situation nicht nur in Bezug auf das Handeln des Gegenübers unsicher, sondern ebenso hinsichtlich des eigenen Handelns. »Was soll ich tun?« ist jetzt die Frage. Von den unendlich vielen Handlungsmöglichkeiten, die ein Individuum in der komplexen Welt hat, wird eine gewählt; es könnte ebenso gut eine andere sein, denn es gibt eine Menge anderer Möglichkeiten. Ungeregelt gäbe es Komplikationen beim Anschlusshandeln: »Wenn jeder […] auch anders handeln kann und jeder dies von sich selbst und den anderen weiß und in Rechnung stellt, ist es zunächst unwahrscheinlich, dass eigenes Handeln überhaupt Anknüpfungspunkte […] im Handeln anderer findet.« (Luhmann 1984, 165) Dann wäre die Handlungskoordination höchst unwahrscheinlich, wenn nicht unmöglich. Welche Lösungen bieten sich in einer so vertrackten Situation an? Diese Frage hängt eng mit der Frage zusammen, wie Gesellschaft als geordneter Zusammenschluss von Einzel-Handelnden möglich ist und welche Rolle die Moral dabei spielt. Die einzige Möglichkeit, unter den Bedingungen von Individualisierung eine Ordnung herzustellen, ist die Bezugnahme aller auf ein einziges Normensystem. Moral hat demnach die Funktion, die Erwartungen und Erwartungserwartungen, die an das Verhalten des Gegenübers gestellt werden, nicht zu enttäuschen. Moralische Regeln führen dazu, dass man erwarten darf, was man erwartet. Die anderen haben wiederum die Erwartung, dass man sich danach richtet. Diese Erwartungen und Erwartungserwartungen sind in den kategorischen Regeln enthalten, deren Summe wir Moral
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1. Werteverfall oder Werterelativismus | 25 nennen. Moralische Regeln geben folglich die Erwartungen und Erwartungserwartungen vor. Dass sie ihre Funktion erfüllen, ist im Übrigen ein Argument dafür, dass moralische Regeln objektiv sind und nicht jeder frei darin ist, sich eine Präferenzskala moralischer Regeln zu bilden. Wäre Letzteres der Fall, würde gesellschaftliches Handeln kollabieren und die Gesellschaft zusammenbrechen. Das tut sie offenbar nicht. Ohne objektive moralische Regeln könnte das soziale Handeln nicht stattfinden. Unter diesem funktionalen Gesichtspunkt hatte bereits Immanuel Kant die Moral betrachtet. Bestünde die Moral darin, dass jeder Mensch seinen eigenen Präferenzen folgen würde, »so könnten die Menschen in der Moralität nicht übereinstimmen, denn ein jeder würde seinen Neigungen suchen Folge zu leisten«. (Menzer 1924, 47) Durch die moralischen Regeln werden die Freiheitsspielräume eingeschränkt und ein Individuum weiß, was es von seinem Gegenüber zu erwarten hat, und man hat zu wissen, wie es reagiert. »Denn ein moralisches Gesetz sagt kategorisch, was geschehen soll, es mag gefallen oder nicht.« (Ebd., 45) Das heißt, dass es durchaus sein kann, dass man manchmal zu Handlungen verpflichtet ist, die nicht im Eigeninteresse liegen, ja, die zuweilen unserem Eigeninteresse zuwiderlaufen und zu deren Einhaltung man sich bei freier Wahlmöglichkeit nicht ohne Weiteres verpflichten würde. (So auch Schaber 2003a, 20) – Nun mein dritter Punkt:
c) Neuartige moralische Probleme Es gibt einen weiteren Grund, warum man heute gern vom Werteverfall, Werteverlust oder Werterelativismus spricht. Dieser Grund ist, dass man mit neuen moralischen Problemen konfrontiert wird und nicht gleich Lösungen weiß, sondern ausgiebig darüber diskutiert und diskutieren muss. So kann man aufgrund der öffentlich und breit geführten Diskussion moralischer Probleme und aufgrund dessen, dass die Problemlösungen nicht gleich auf der Hand liegen, auf die Idee kommen, dass man von moralischem Relativismus sprechen müsse. Wir sind aufgrund des technischen Fortschritts und der Globalisierung gegenwärtig mit moralischen Problemen konfrontiert, von denen man in früheren Zeiten nicht geträumt hätte. Ich nenne nur einige: Em-
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26 | Jürgen Habermas und der Papst bryonenforschung, In-vitro-Fertilisation, Genpatentierung, Sterbehilfe, Pränataldiagnostik, Bestattungskultur, Umgang mit behinderten Menschen, Umgang mit Menschen aus anderen Kulturen, die bei uns leben. Um in solchen Fällen zu wissen, worüber man eigentlich spricht, und um moralisch entscheiden zu können, braucht man gesicherte Informationen. Nehmen wir die Embryonenforschung, die in aller Munde ist. Man kann nun nicht einfach fragen: »Bist du dafür oder dagegen?« Wofür oder wogegen sollte man sein? Es geht beispielsweise darum, für Forschungszwecke einer Blastomere, einem Achtzeller, eine Zelle zu entnehmen. Stellen wir uns vor, dass ein Genetiker für Forschungszwecke dem Zellhaufen drei Tage nach dem Zygotenstadium, das 24 Stunden nach der Befruchtung beginnt, eine Zelle entnimmt. Selbstverständlich hat diese Zelle, wie jede Zelle, eine unverwechselbare DNA, unverwechselbare Erbeigenschaften. Was passiert? Den übrig gebliebenen passiert nichts. Sie entwickeln sich durch Zellteilung weiter und immer weiter. Der Genetiker hat nun künstlich etwas gemacht, was wir ebenso natürlich erleben: Durch solche Abtrennungen entstehen eineiige Zwillinge. Auch die separierte Zelle könnte sich selbständig weiter entwickeln und zu einem Zwilling werden. Nun, nachdem man weiß, was genau passiert, kann man die moralische Frage beantworten, ob man das will, befürwortet, ablehnt oder wie auch immer. Dafür braucht man selbstverständlich moralische Argumente. Doch zuvor braucht man Informationen. Häufig ist es so, dass man moralische Probleme gar nicht als solche erkennt. Nehmen wir zum Beispiel die Genpatentierung, die ich eben erwähnte. Wer weiß denn schon, dass sich dahinter ein moralisches Problem verbirgt? Man könnte sagen: »Lass die doch ihre Gene patentieren, wenn es ihnen Spaß macht. Was geht mich das an?« Es verbirgt sich dahinter ein moralisches Problem, das alle Menschen etwas angeht. Ich will das erläutern. Die Firmen »Hoffmann-La Roche« und »Chiron« haben das Patent auf die Gene verschiedener Krankheitserreger, die als Grundlage von Bluttests dienen. Blutkonserven müssen heute auf HIV und Hepatitis-C-Viren überprüft werden. Früher kostete ein solcher Test 70 Cent – seit der Patentierung 22,50 Euro. (Vgl. Burow 2003) Die Pharmakonzerne lassen sich solche Patente reichlich vergüten, denn der Preis für den Test auf diese Viren ist
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1. Werteverfall oder Werterelativismus | 27 um mehr als 3000 Prozent gestiegen. Dies bedeutet, dass sich die gesetzlich Versicherten eine getestete Blutkonserve in Zukunft nicht werden leisten können, so dass sich die Schere von Arm und Reich im Gesundheitswesen weiter öffnet. Man sieht, dass ohne sachhaltige Informationen moralische Probleme als solche oft nicht zu erkennen sind. Ich habe nun drei Gründe genannt, warum man dem Irrtum aufsitzen kann, wir würden heutzutage einen Werteverfall, Werteverlust oder Werterelativismus beobachteten können: – Da ist zum Ersten die Struktur unserer Presseberichterstattung; – zum Zweiten das Verwechseln von Gemeinschaftswerten mit gesellschaftlicher Moral; – zum Dritten die völlige Neuartigkeit moralischer Probleme.
d) Allgemein anerkannte moralische Regeln Nach diesem analytischen Teil komme ich zur Beantwortung der Frage, ob es für alle verbindliche und nicht relative Regeln gibt, an denen wir unser Tun ausrichten sollen. Es ist zu fragen, welche moralischen Regeln bei uns trotz des Geredes vom Werterelativismus noch und immer noch kategorische Geltung beanspruchen können. Ich will nun nicht trocken einen Katalog solcher Werte vorlegen. Solche Kataloge kann man anderswo nachlesen. (Vgl. Ross 2002, 21 oder Stemmer 2000, 292) Sondern ich will diesen Katalog an Beispielen entwickeln. Da ist zunächst der Fall der 34-jährigen Alicja Tysiac: Vor dem Risiko der Erblindung bei einer erneuten Schwangerschaft hatten die Ärzte Alicja schon nach der Geburt ihres zweiten Kindes gewarnt. Ihre bislang sorgfältig durchgeführte Empfängnisverhütung scheiterte, als ein Kondom platzte. Alicja wurde schwanger. Sie stand vor der Entscheidung, ob sie das Risiko der Erblindung auf sich nehmen oder abtreiben sollte. Mit einem Sehvermögen von minus 20 Dioptrien erlernte Alicja vorsichtshalber schon einmal die Blindenschrift und geht des Öfteren übungshalber mit geschlossenen Augen durch ihre Wohnung. Was sollte Alicja, die sich innerhalb ihres ersten Schwangerschaftsmonats entscheiden wollte, nun tun? (Vgl. Roser 2005)
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28 | Jürgen Habermas und der Papst Sehen wir uns diesen Fall an, stellen wir fest, dass verschiedene moralische Pflichten im Spiel sind: Da ist zunächst die Pflicht, Leben zu schützen, dann die Fürsorgepflicht Alicjas gegenüber ihren beiden bereits geborenen Kindern, der sie als erblindete Mutter schlecht nachkommen kann. Wir haben in diesem Fall gleich zwei kategorische Pflichten. Kein Mensch würde dies bestreiten, auch nicht in einer Zeit des vermeintlichen Werterelativismus. Alicja muss die Entscheidung so treffen, dass sie mit ihr leben und ruhig schlafen kann. Wenn wir uns den Fall noch näher ansehen, fällt uns auf, dass Alicja dann, wenn sie einer Pflicht nachkommt, beispielsweise das Leben zu schützen, eine andere Pflicht verletzen muss, nämlich ihre Fürsorgepflicht. Und es ist oft so im Leben, dass die Bedingung dafür, dass man einer moralischen Pflicht nachkommt, die ist, eine andere zu verletzen. Weil das oft beobachtet werden kann, mag das ein weiterer Grund dafür sein, warum wir geneigt sind, vom Werterelativismus zu sprechen. Ein anderer Fall: Die Tochter Tine der 44-jährigen grünen niedersächsischen Landtagsabgeordneten Meta Janssen-Kucz erkrankte mit zwölf Jahren an Knochenkrebs. Meta berichtete: »Ich habe vier bis fünf Jahre meiner Tochter beigestanden zwischen Leben und Sterben – aber es gab keine Begleitung, nur den alltäglichen Kampf und die Frage, welches Schmerzmittel erlaubt ist, welches nicht.« Sechs Wochen vor Tines 18. Geburtstag hatte Meta den Kampf um das Leben ihrer Tochter verloren. Es war das Ende einer unglaublichen Berg- und Talfahrt. »Ich war froh, dass da jemand ein Einsehen gehabt hat und das Kind endgültig zu sich genommen hat«, sagte sie. Meta und ihr Mann haben nichts unterlassen, ihrem Kind zu helfen. Erst war es eine Stammzellentherapie in den Katakomben des Krankenhauses von Münster, wo sie neben dem weinenden Michail Gorbatschow saß, der um das Leben seiner Frau bangte. Dann war es die Entfernung des rechten Beckens von Tine. Ein Medikament zerfetzte Tines Lungenflügel. »Wir haben Monate neben Kompressoren gelebt.« Zuallerletzt wurde Tine ein Lungenflügel transplantiert. In all den Jahren ist Meta viel durch den Kopf geschossen, wie sie das schreckliche Leiden ihrer Tochter beenden, sie vor weiteren unerträglichen Schmerzen bewahren könnte. Sie dachte an aktive Sterbehilfe, und manchmal: »Ins Auto setzen und gegen eine Betonwand rasen?« (M. Berger 2005)
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1. Werteverfall oder Werterelativismus | 29 Nun haben wir zwar diese objektiven, kategorischen Pflichten, doch in der konkreten Situation müssen wir die Umstände genauer betrachten, um sagen zu können, wie wir uns entscheiden. Die Situation im ersten Fall ist ähnlich komplex wie die im zweiten. Wir müssen demnach stets sachhaltige Zusatzinformationen haben. In beiden Fällen sind genaue medizinische Informationen vonnöten, damit man weiß, ob berechtigte Hoffnungen bestehen, das Leben von Tine zu retten. Bei Alicja muss man wissen, ob die Erblindung nach der Geburt nicht doch vermieden werden kann. Nur vor dem Hintergrund genauer Informationen kann man zwischen zwei Pflichten entscheiden und sagen, welche in der Situation für die Betroffenen stärkeres Gewicht haben sollte. Ja, es ist durchaus möglich, dass zwei Personen in ein und derselben Situation anders entscheiden. Dazu will ich ein weiteres Beispiel anführen: Ein Jahr vor seinem Tod stellte der Arzt von Theodor Storm die Diagnose, dass er Krebs habe. Als der Dichter von seiner Krankheit erfuhr, verfiel er in einen untätigen depressiven Zustand. Die Verwandten, die ihn so leiden sahen, baten den Arzt, dass er Storm noch einmal zu sich rufen und ihm sagen solle, dass er sich bei seiner Diagnose geirrt habe. Das tat der Arzt. Dieser Lüge verdanken wir übrigens den Schimmelreiter, den Storm in seinem letzten Lebensjahr geschrieben hat. Ein anderer Arzt hätte es mit seinem Gewissen nicht vereinbaren können, zu lügen und hätte Storm nicht noch einmal zu sich gerufen. Auch ein Arzt muss in Zukunft ruhig schlafen und sich morgens noch im Spiegel angucken können, ohne rot zu werden. Weil man sich entsprechend der Zusatzinformationen so oder anders entscheiden kann oder weil die zusätzlichen Informationen in Fällen mit vergleichbarer Problemlage anders sein können, bedeutet das nicht, dass man darauf schließen kann, dass wir eine relativistische Moral haben und dass jeder frei darin ist, sich eine eigene Präferenzskala moralischer Werte zu basteln. Davon ist ja ebenfalls oft die Rede, dass heute jeder ›seine eigene Moral‹ habe. Das ist aber nicht der Fall, denn obwohl man sich in der Situation dafür entscheiden muss, einer Pflicht nachzukommen und eine andere zu verletzen, bedeutet das nicht, dass es die andere Pflicht nicht mehr gibt oder dass sie außer Kraft gesetzt wird. Sie besteht weiterhin als eine objektive Regel, die Kategorizität beansprucht. Darum ist es kurzschlüssig, von Werterelati-
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30 | Jürgen Habermas und der Papst vismus zu sprechen, wenn doch gar kein Wert relativiert oder verworfen wird. Der Papst, beklagt so oft – ja man kann schon fast sagen: ohn’ Unterlass – den Werterelativismus. Ich nehme an, dass er vornehmlich unter dem von ihm schon in den 60er Jahren beklagten Werterelativismus seiner eigenen Kirche leidet, von dem ich eingangs sprach. Er kann nur die kirchlichen Gemeinschaftswerte meinen, die vielen Kirchenmitgliedern nicht mehr im Bewusstsein sind, und nicht die gesellschaftliche Moral. Denn er lässt jedenfalls keinen Zweifel daran, dass es objektive Werte gibt, wenn er sagt: »Es gibt Werte, die keine Mehrheit außer Kraft zu setzen das Recht hat. Die Tötung Unschuldiger kann nie Recht werden und von keiner Macht zu Recht erhoben werden.« (Ratzinger 2005a, 25) Hier ist nur das Beispiel der Pflicht, Leben zu schützen, genannt. Das päpstliche Diktum gilt mit Sicherheit ebenso für andere moralische Pflichten, deren einige ich gleich nennen werde. Für den Storm-Fall muss man sagen, dass es die objektive Regel gibt, die Wahrheit zu sagen, und eine weitere, Menschen vor psychischem Schaden zu bewahren. Dadurch, dass man sich in der konkreten Situation für die Befolgung einer moralischen Regel entscheidet, wird die andere keineswegs außer Kraft gesetzt. Ja, einige Philosophen sind sogar der Auffassung, dass man gegenüber denen, die durch die Pflichtverletzung geschädigt sind, eine Wiedergutmachungspflicht hat. (Vgl. Ross 2002, 21) Dieser nachzukommen, ist oft nicht einfach. Wir haben nun bereits einen stattlichen Pflichtenkatalog zusammen, Pflichten, von denen man bestreiten würde, dass sie unter das Verdikt des Werteverlusts fallen. Diese Werte, die wir allein in diesen Beispielen gefunden haben, sind: – die Pflicht, Leben zu schützen; – die Pflicht der Fürsorge; – die Pflicht, andere vor Schmerzen zu bewahren und ihnen zu helfen; – die Pflicht, die Wahrheit zu sagen. Das sind eine Reihe von Pflichten. Den Katalog könnte man fortschreiben. Darauf kommt es mir jedoch überhaupt nicht an. Ich hatte lediglich die Absicht zu zeigen, dass es eine Reihe von
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1. Werteverfall oder Werterelativismus | 31 moralischen Pflichten gibt, die vor wie nach unbestritten sind und Beachtung finden. Noch etwas anderes möchte ich erwähnen, das uns auf die Idee bringen könnte, es handle sich heutzutage um eine Zeit des Werteverfalls. Es wird häufig und immer wieder gegen moralische Regeln verstoßen. Genau weil das der Fall ist, gibt es überhaupt moralische Regeln. Der Satz, dass es moralische Regeln nur gibt, weil gegen sie verstoßen werden kann, ist so banal wie wahr. Würden die Menschen moralisch leben, bräuchten sie keine moralischen Regeln. Gott und die Engel haben laut Kant keine Moral nötig, weil sie im Gegensatz zu den Menschen tugendhaft sind, die Menschen hingegen lasterhaft. Verstöße der Menschen gegen moralische Regeln hat es zu allen Zeiten gegeben, nicht nur heute, in der Zeit, in der wir vermeintlich einen Werteverfall zu beklagen haben. Welche Motive gibt es eigentlich, nicht moralisch zu handeln? Da haben wir zunächst einmal die Angst: Man ist verpflichtet, jemandem, der in Not ist, zu helfen. In der Zeit, als ich in Südafrika lebte, habe ich das oft unterlassen, weil ich Angst hatte, es sei eine Falle. Und ich wusste, dass es vielen passiert ist, dass sie bei einer ähnlichen Gelegenheit ausgeraubt oder gar umgebracht wurden. Wenn z.B. ein Kind nachts auf der Straße hilflos hin und her lief, habe ich, aus Angst überfallen zu werden, mit dem Auto nicht angehalten und Beistand geleistet. Manchmal ist es Bequemlichkeit, wenn man nicht behilflich ist: ›Ach, ich habe keine Lust, der alten Nachbarin die Tasche hochzutragen. Es ist jetzt so schön in der Sonne zu liegen. Ich tu einfach so, als wenn ich sie nicht gesehen hätte.‹ Ferner kann Rache ein Motiv sein, unmoralisch zu handeln: ›Der Gartennachbar hat mich so oft geärgert. Seine Blumen sollen vertrocknen. Ich gieße sie nicht, wenn er nicht selbst drauf achtet.‹ Solche Motive sind uns Menschen als unvollkommenen moralischen Wesen nicht fremd und unserer Schwäche geschuldet. Immanuel Kant, der große Königsberger Philosoph, sagte ja, dass es ein irdisches Geschöpf nie dazu bringen könne, vollkommen moralisch zu sein. (Kritik der praktischen Vernunft, A 149)
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Ich habe eben aus funktionaler Perspektive argumentiert, dass es objektive moralische Regeln geben muss, weil ansonsten die Gesellschaft kollabieren würde, was sie augenscheinlich nicht tut. Gibt es sie wirklich, die objektiven moralischen Regeln? Wenn man das nachweisen kann, wäre das ein weiterer Schritt auf dem Weg, die päpstliche Feststellung eines Werterelativismus, bezogen auf die Gesellschaft, in Frage zu stellen. Hilary Putnam und Jürgen Habermas haben sich über die Frage, ob es objektive, universale Werte gibt, gestritten. Die beiderseitigen Darlegungen führen uns auch in unserem Kontext hier weiter. Ich zeichne zunächst die Argumentationsschritte von Hilary Putnam in knappen Strichen nach und stelle dann kurz die Auseinandersetzung Putnams mit Habermas mit dem Ziel dar, die Frage beantworten zu können, ob es objektive moralische Regeln gibt. Zunächst die Argumentationsschritte von Hilary Putnam (vgl. dazu Putnam 1982, 179 ff.): – Die Wissenschaftler wollen ein Weltbild konstruieren, das die Kriterien rationaler Akzeptierbarkeit erfüllt. Die Wahrheit, die das Ziel einer jeden wissenschaftlichen Bemühung ist, empfängt ihr Leben erst durch die Kriterien rationaler Akzeptierbarkeit. Sie stehen darum im Mittelpunkt von Putnams Betrachtungen, und sie sind es, die wir in Augenschein nehmen müssen, wenn wir die Werte entdecken wollen, die in wissenschaftlicher Tätigkeit enthalten sind. – Zunächst: Woher wissen wir, dass eine Aussage wahr ist? Put-
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nams Antwort lautet: Sie ist dann wahr, wenn wir innerhalb einer wissenschaftlichen Theorie eine Erklärung darüber abgeben können, wie sich aus dem Wechselspiel von Sinnesorganen und Außenwelt Wahrnehmungen ergeben, denn in der Wissenschaft geht es um den Versuch, eine Repräsentation der Welt zu konstruieren. Oder anders formuliert: Es geht jedem Wissenschaftler darum, ein wahres Bild der Welt zu erzeugen. Eine solche Repräsentation gehört nach Putnam zu unserer Idee einer florierenden menschlichen Erkenntnis und ist Teil der Eudämonia, d.h., sie ist Teil unseres seelischen Wohlbefindens. Was laut Putnam im Mittelpunkt unserer Suche steht, sind die Kriterien der rationalen Akzeptierbarkeit. Diese sind: Kohärenz, Komplettheit, funktionale Einfachheit und instrumentelle Effizienz. Das sind nach Putnam die Werte der Wissenschaft. Die empirische Welt (Außenwelt) ist von diesen Kriterien der rationalen Akzeptierbarkeit abhängig. Es gilt aber ebenso das Umgekehrte: Die Kriterien der rationalen Akzeptierbarkeit sind abhängig von der empirischen Welt. Die »wirkliche Welt« hängt demnach von unseren Werten ab. Dass die Wissenschaft nicht »wertneutral« ist, zeigt uns noch nicht, dass ethische Werte objektiv sind oder Ethik eine Wissenschaft ist. Dass Erkenntnis-Tugenden wie »Kohärenz« und »funktionale Einfachheit« Kriterien der rationalen Akzeptierbarkeit sind, zeigt allerdings, dass es Werte sind, die für Eigenschaften von Dingen stehen und nicht bloße Gefühlsausdrücke. Sie sind Werteigenschaften. Zu den Erkenntnis-Tugenden gehören nach Putnam auch: »gerechtfertigt«, »bestätigt«, »beste der vorhandenen Erklärungen«. Man könne weiterhin nicht leugnen, dass es sich bei »kohärent«, »einfach«, »gerechtfertigt« um Wertausdrücke handelt, weil sie Wertimplikate haben. Ebenso wie »freundlich«, »schön«, »gut« würden sie als lobende Ausdrücke verwendet. Putnam kommt zu dem Ergebnis, dass es keine wertneutrale Rationalitätsauffassung gibt. Doch ohne unsere Rationalitätsauffassung hätten wir keine Welt und somit keine Tatsachen. Man muss die erkenntnisbezogenen Werte als Tatsachen und als Teil der menschlichen Eudämonia ansehen, sonst seien sie willkürlich. Unsere Suche nach der besten Rationalitätsauffassung müs-
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2. Habermas und Putnam | 35 sen wir als intentionale menschliche Tätigkeit auffassen, die von der Idee des Guten gelenkt wird. Die Maßstäbe rationaler Akzeptierbarkeit sind notwendig, um überhaupt eine Welt zu haben, sei es eine Welt »empirischer Tatsachen« oder eine Welt von »Werttatsachen«. Zunächst fasst Habermas die hier dargestellte Auffassung von Putnam sehr treffend – wie ich finde – zusammen, bevor er darauf in einigen Argumentationsschritten antwortet. Habermas: »Putnam behauptet […] ein Kontinuum zwischen Tatsachen- und Werturteilen. Unserer Sicht auf die Dinge sind Interessen und Wertorientierungen so tief eingeschrieben, daß es ein sinnloses Unterfangen wäre, den wertimprägnierten Tatsachen alles Normative abstreifen zu wollen. Wenn schon empirische Aussagen, an deren Wahrheit wir nicht zweifeln, mit Wertbindungen unauflöslich verflochten sind, ist es – so heißt das zentrale Argument – ebenso sinnlos, den evaluativen Aussagen, die solche Werte explizit zum Ausdruck bringen, zu bestreiten, wahr oder falsch sein zu können.« (Habermas 2002b, 280) Putnam neige nicht nur in der theoretischen, sondern ebenso in der praktischen Philosophie zum Realismus und verteidigt »die Objektivität von Wertorientierungen gegenüber nonkognitivistischen wie gegenüber relativistischen Ansätzen […]. Aber eine pragmatistische Wertethik ist nicht leicht mit der universalistischen Geltung einer egalitären Moral und den Grundlagen des demokratischen Rechtsstaates in Einklang zu bringen.« (Ebd., 281) Letzteres ist Habermas’ Ziel: – Putnam – so gibt Habermas ihn zutreffend wieder – argumentiere, dass dann, wenn die Forschung sich von Wertorientierungen leiten lasse, ohne den Anspruch auf Objektivität zu verlieren, nicht einsehbar sei, warum Werturteile ihre Objektivität verlieren sollten. Putnam scheine – so Habermas – anzunehmen, dass sich die Objektivität von Werturteilen nach dem Modell der Wahrheitsformulierung bestimmen lasse. (Vgl. ebd., 290 f.) – Habermas wendet dagegen ein, dass sich empirische von normativen Urteilen durch ihren Geltungssinn unterscheiden würden. Er sagt: »Assertorische Urteile, die sagen, was der Fall ist, haben einen anderen Geltungssinn als moralische Urteile, die sagen, was kategorische Verbindlichkeit hat.«
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36 | Jürgen Habermas und der Papst (Ebd., 292) Empirische und normative Urteile beziehen sich auf jeweils andere Gegenstandsgebiete, einerseits auf die Natur und andererseits auf Soziales. – Habermas unterscheidet dann weiter im Bereich des Sozialen – anders als Putnam – zwischen Werten und Normen. Werte sind für ihn kulturelle Werte, wie z.B. eine Heiratszeremonie. Normen hingegen gelten universell, so wie die Pflicht, Grausamkeit gegenüber anderen Menschen zu unterlassen. (Vgl. ebd., 296) Die objektive Geltung einer universalistischen Moral sei durch die umfassender werdende Weltgemeinschaft gegeben. Sie würde im Diskurs durch die Zustimmung aller irgendwie betroffenen Personen gefunden. – Hier verengt Habermas meines Erachtens die Objektivität von Normen auf deren Generierung im Diskurs und macht es Putnam leicht, darauf zu entgegnen. Wir werden das gleich sehen. – Nicht-moralische Werturteile wie Keuschheit verdienten – so Habermas – keine allgemeine Zustimmung, sondern nur Anerkennung derjenigen, die einer bestimmten Wertgemeinschaft angehörten – wie der Kirche. Diese Ansicht von Habermas entspricht meiner eben getroffenen Unterscheidung von Gemeinschaftswerten und gesellschaftlicher Moral. Die Nichtunterscheidung von Werten und Normen gefährde die universalistische Auffassung von Moral. (Vgl. ebd., 299) Darin muss man Habermas unbedingt zustimmen. Diese Unterscheidung, die ich in den Termini von gemeinschaftlichen Werten und gesellschaftlicher Moral getroffen habe, macht es erst möglich, universelle Werte zu ermitteln, die nicht von einer bestimmten Kultur abhängig sind, wohingegen gemeinschaftliche Wertvorstellungen (wie Keuschheit und voreheliche Enthaltsamkeit) oder Traditionen (wie die Heiratszeremonie) nicht als universelle Normen tauglich sind. Putnam richtet sich, wie ich schon ankündigte, allein gegen das Diskurs-Argument von Habermas. Er sagt, dass es keinen Grund gäbe, zu glauben, dass das Ergebnis einer lange genug und hinreichend geführten Diskussion in einem Diskurs in ethischen Fragen zu unvermeidlich richtigen Ergebnissen führen würde. (Vgl. Putnam 2002, 307) Nach der Diskurstheorie von Habermas wäre eine moralische Regel, die Grausamkeit verbiete, nicht allgemeingültig und universell. Das sei allein die Regel: »Diskutiere
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2. Habermas und Putnam | 37 die Frage, ob du grausam sein sollst oder nicht, und die weitere Frage, was als Grausamkeit zählt, in der Form, wie es die Diskursethik vorschreibt.« (Ebd., 309) Habermas lehnt wie Putnam den Nonkognitivismus ab (Habermas 1999, 273) und will mit seiner Diskursethik die Vorteile des Kognitivismus einholen. Er spricht in diesem Zusammenhang vom »transzendentalen Schein eines moralischen Realismus« (ebd., 317), der dem Alltagsverständnis nahe komme, denn »vergesellschaftete Individuen [seien] im täglichen Umgang miteinander […] auf ein naiv für gültig gehaltenes ›Wissen‹ von Werten angewiesen«. (Ebd.) Die Kategorizität der Regeln, dass man nicht verletzen, foltern, töten darf, weisen diese Regeln als moralische aus. Wir sagen im Alltag nicht, man dürfe nicht foltern, weil das unmoralisch ist oder weil wir ein moralisches Gefühl entwickeln, das uns das sagen lässt, sondern wir wissen im alltäglichen Handeln ohne weitere Prüfung, dass man das einfach nicht tut. Punkt! Und wenn wir darüber nachdenken und Gründe nennen wollen, dann sagen wir, man darf das nicht, weil es schlecht für einen Menschen ist, ihn schädigen und erniedrigen würde. Wir müssen uns darüber nicht erst diskursiv verständigen. Meines Erachtens nimmt Habermas eine ähnliche Position ein wie John Leslie Mackie, wenn er im Rahmen der Erläuterung seiner Diskursethik von »intersubjektiv geteilter normativer Überzeugung« (ebd., 295) spricht. Habermas ersetzt wie John Leslie Mackie Objektivität durch Intersubjektivität. Das ist aber etwas anderes und selbstverständlich nicht die Position des moralischen Realismus, wie ihn Hilary Putnam vertritt. Etwas, das objektiv ist, ist nicht von menschlicher Zustimmung abhängig, sonst wäre es ja nicht objektiv. Vertreter des moralischen Realismus zeigen, dass wir eben nicht darüber diskutieren und abstimmen, ob man einer moralischen Regel folgen soll oder nicht. Dass wir Versprechen halten sollen, fair sein und die Wahrheit sagen sollen, sind in unserem menschlichen Zusammenleben notwendige Tatsachen. Erst aus dem Grunde müssen sie selbstverständlich auch »intersubjektiv geteilte normative Überzeugungen« sein. Die einfachen Menschen (plain men) sind über die moralischen Regeln genauso gut informiert wie Moralphilosophen. (Vgl. Ross 2000, 311) Moralische Realisten sind der Auffassung, dass die Forderung, mit an-
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38 | Jürgen Habermas und der Papst deren Menschen nicht grausam umzugehen, darin begründet ist, dass es schlecht für sie ist. Deshalb sagt der common sense, es ist eine moralische Tatsache, dass man mit anderen Menschen nicht grausam umgehen solle. Daraus ergibt sich, was durch die moralische Pflichterfüllung konkret geschützt werden soll: Es ist der Sinn moralischer Regeln, die Interessen von Menschen, die vom Handeln anderer betroffen sind, zu schützen. Dasselbe gilt für Werte. Auch sie sind objektiv. Der Soziologe Niklas Luhmann sagt, dass Werte mit der beschriebenen unbezweifelbaren Evidenz bereits in unserer Kommunikation enthalten seien: »Werte ›gelten‹ in der Kommunikationsweise der Unterstellung.« (Luhmann 1993, 18) Werturteile laufen in der Kommunikation mit und werden nicht eigens thematisiert, »ihr Akzeptiertsein wird unterstellt. Wenn man explizit fragt: bist Du für Frieden?, erweckt das den Verdacht auf Hintergedanken. Wer sich rühmt, Werte zu bejahen oder Unwerte abzulehnen, redet trivial.« (Luhmann 2000, 359) Man stelle sich vor, was passiert, wenn man morgens ins Lehrerzimmer kommt und ruft: ›Hallo Leute, kommt mal alle zusammen und hört mir zu! Also, ich bin gegen Folter.‹ Die Kollegen werden wahrscheinlich vermuten, man sei von einer noch unbekannten Krankheit befallen. In welchem Sinne sind Werte, die uns zu moralischen Handlungen verpflichten, objektiv? Dass wir im Alltag davon ausgehen, dass es so ist, ist noch kein Beweis, sondern bestenfalls – wie Habermas richtig sagt – der »Schein eines moralischen Realismus«. Werte bestehen »unabhängig davon, ob sie von Menschen als wertvoll angesehen werden oder nicht«, denn sie sind wertvoll. (Schaber 2000, 341) Welche Werte können das sein? Es sind solche, die zum Wohlergehen der Menschen beitragen: etwa Gerechtigkeit, Frieden, Freiheit, Schutz des Lebens, Schutz der physischen und psychischen Integrität. Wenn etwas zum Wohle der Menschen beiträgt, dann ist es wertvoll. Dass in verschiedenen Kulturen jeweils andere Wege zur Realisierung dieser Werte beschritten werden oder die Menschen in jeweils anderer Weise verpflichten, würde ein moralischer Realist nicht bestreiten. Genauso wie zwei Menschen Unterschiedliches schätzen, gibt es Unterschiede zwischen Gesellschaften in der Bewertung dessen, was wertvoller ist. Was ist nun wertvoll? Für den einen Menschen ist es das Bergsteigen, für den anderen nicht, sondern ein Glas Whiskey am Abend. Was wir
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2. Habermas und Putnam | 39 vorziehen, hängt von unseren subjektiven Präferenzen ab. Doch der Wert ist nicht jede dieser Tätigkeiten selbst, sondern die Werteigenschaft ist das »Zum-Wohl-Beitragen« der jeweiligen Aktivität. (Vgl. ebd., 350) Es ist für einen jeden Menschen wertvoll, wenn etwas zu seinem Wohl beiträgt. Das »Zum-Wohl-Beitragen« des Bergsteigens oder des Whiskey-Genusses ist objektiv wertvoll – und nicht die jeweilige Tätigkeit. – Putnam hatte den Begriff der Werteigenschaft, der bei ihm für die Eigenschaft von Kognitionen steht, eingeführt. Hier nun steht der Begriff für die Eigenschaften von Tätigkeiten. Wenn es nicht um zwei Menschen geht, die Verschiedenes wertschätzen, wie Whiskey und Bergsteigen, sondern um zwei Regierungen, müssen sie sich folglich nicht darüber unterhalten, dass Frieden ein hoher Wert ist, denn er trägt zum Wohl der Menschen bei, sondern nur darüber, wie man ihn am besten realisiert. Zwei Staatsmächte streiten sich darüber, ob Abschreckung oder Abrüstung besser ist. Darüber hinaus können in Bezug auf das, was dieser Wert beinhaltet, andere Sachinformationen bestehen oder die Folgen entsprechend der jeweils anderen Sachinformationen anders eingeschätzt werden. (Vgl. ebd., 353) Jedenfalls ist die Werteigenschaft des Friedens das »ZumWohl-Beitragen«, und dieser Wert ist objektiv und universell. Daran ändert die Tatsache nichts, dass man unterschiedliche Wege geht, den Frieden zu erhalten, dass man unterschiedliche Sachinformationen über die Umstände hat, den Frieden zu erhalten, und dass demnach das, was man unter Frieden versteht, anders konnotiert sein kann. Unterschiedliche Wege der Realisierung, andere Sachinformationen und verschiedene Konnotationen könnten Gründe dafür sein, dass man der Auffassung ist, wir erlebten einen kulturell bedingten Werterelativismus. Von dieser Auffassung muss man schnell Abschied nehmen, wenn man weiß, dass die zugrunde liegende Werteigenschaft das »Zum-Wohl-Beitragen« ist. Und diese Werteigenschaft ist es, die objektive und universelle Gültigkeit beanspruchen kann. Die dargestellte Diskussion zeigt, dass es im Gegensatz zu Habermas’ Auffassung objektive Werte gibt, die für unser menschliches Zusammenleben notwendig sind und nicht erst im Diskurs generiert werden müssen. Sie sind objektiv und in der Lage, bei ihrer Anwendung zum Wohl der Menschen beizutragen. Solche Werte verpflichten uns zu Handlungen, weil es gut
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40 | Jürgen Habermas und der Papst ist, Wertvolles zu realisieren, denn der Sinn moralischen Handelns ist es, Gutes zu tun und Schlechtes zu unterlassen. Daraus ergibt sich wiederum, dass es der Sinn von verpflichtendem moralischem Handeln ist, zum Wohl der Menschen beizutragen, und weitergehend schützen moralische Regeln die Menschen, die vom Handeln anderer betroffen sind, in ihrer physischen und psychischen Integrität. Dass Habermas, der ansonsten stets der Kantischen Auffassung folgt, ihr in diesem Punkt widerspricht, ist schon bemerkenswert. Kant ist nicht der Auffassung, dass Menschen Werte generieren können, auch nicht im Diskurs, und er ist weiterhin nicht der Überzeugung, dass es sich bei moralischen Regeln um »intersubjektiv geteilte normative Überzeugungen« handelt. Sondern Kant sagt ganz ausdrücklich: »Von moralischen Gesetzen ist […] kein Wesen, auch das göttliche nicht ein Urheber. […] Ebenso, wie Gott kein Urheber [davon] ist, daß der Triangel drei Winkel hat.« (Menzer 1924, 62) Darum enthält nach Kant »die Moral […] objektive Gesetze«. (Ebd., 45)
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3. Habermas und Benedikt XVI.
Das Oberhaupt der katholischen Kirche spricht mal vom Werterelativismus als einer Geißel der heutigen Zeit, die die Kirche erfasst habe (vgl. Häring 2005, 174), ein andermal von Werten, die niemand außer Kraft setzen könne (vgl. Ratzinger 2005a, 25). Diese Äußerungen sind also nicht so eindeutig wie die von Habermas in Bezug auf die Frage, ob es objektive und universelle Werte gibt. Darum war der Abend des 19. Januar 2004, bei dem es auch um diese Frage ging, so überaus spannend. Es war ein Abend, »wie ihn das akademische Deutschland noch nicht gesehen hatte«. (Kissler 2005, 146) Leute wie die Theologen Johann Baptist Metz, Wolfhart Pannenberg und der Philosoph Robert Spaemann fanden sich als Zuhörer in der Katholischen Akademie in München ein. Wer waren denn bei solch einem ausgesucht hochkarätigen Publikum die Hauptakteure, muss man sich fragen. Es waren die beiden Protagonisten, die diesem Buch den Titel geben. Seit seiner Dankesrede zur Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels im Jahre 2001 ist man in der Wissenschaft und im Feuilleton aufmerksam bei Habermas’ Äußerungen zur Religion. In der Friedenspreisrede hatte er gesagt, dass in der Gegenwartsgesellschaft die Sprache des Marktes in alle Poren dringe. Das Soziale dürfe und solle in den Begriffen des Vertrags, der Nutzenmaximierung und der rationalen Wahl nicht aufgehen. Doch dies sei, ob man es nun wolle oder nicht, der Fall. Habermas hält das für einen Kategorienfehler. (Vgl. Habermas 2004, 3) Selbst die wechselseitige Anerkennung als Kern unserer moralischen Regeln ist dem merkantilen
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42 | Jürgen Habermas und der Papst Tauschprinzip nachgebildet. Habermas lässt keinen Zweifel daran, dass man der »schleichenden Entropie der knappen Ressource Sinn« mit aller politischen Kraft entgegenwirken müsse. Die säkularisierte Gesellschaft dürfe sich – so das Credo seiner Dankesrede – trotz der »Trennung von Religion und Staat«, trotz der »Spannung zwischen säkularer Gesellschaft und Religion« nicht der »normativen Gehalte religiöser Überlieferung« verschließen. Er forderte darum die gläubigen Bürger auf, »ihre religiösen Überzeugungen in eine säkulare Sprache« zu übersetzen, um sich so Gehör zu verschaffen und »die Zustimmung von Mehrheiten zu finden«. (Vgl. Börsenverein des deutschen Buchhandels 2001) Das gehört mit zu seinem Programm, der Erosion sozialer Sinngehalte entgegenzuwirken. »Diese Rede wurde als ›Steilvorlage‹ für die Kirchen bezeichnet.« (Habermas/Ratzinger 2005, 10) Dennoch fand dieser Pass keine Abnehmer – bis zum Jahre 2004. An jenem Winterabend im Januar 2004 nun kamen sie zusammen, der »Chefdenker der Bundesrepublik Deutschland«, wie Habermas tituliert wurde, und der »katholische Habermas aus Rom« (Kissler 2005, 147), der Präfekt der Glaubenskongregation, Joseph Kardinal Ratzinger. Als Gast der Katholiken wurde Habermas mit seinem Referat der Vortritt gelassen. Die Frage, die zur Debatte stand, deutete sich bereits in der Friedenspreisrede an: Kann der säkulare Verfassungsstaat seine normativen Bestandsvoraussetzungen aus eigenen Ressourcen erneuern und so die von Habermas dargestellte Sinn-Erosion aufhalten? Dies, so sagte Habermas eingangs seiner Stellungnahme, habe ErnstWolfgang Böckenförde in die prägnante Frage gekleidet, »ob der freiheitlich, säkularisierte Staat von normativen Voraussetzungen zehrt, die er selbst nicht garantieren kann«. (Habermas 2005, 106) Das war also die am Beginn des Abends noch unbeantwortete Frage. Es gibt wohl kaum einen neueren deutschsprachigen Beitrag »zum Verhältnis von demokratischem Rechtsstaat, Bürgertugend und Religion, in dem nicht Ernst-Wolfgang Böckenfördes Diktum« zitiert würde. (Graf 2006, 89) Es ging bei diesem Treffen also um eine hochaktuelle, bis heute konsensuell nicht beantwortete Frage. Schon früher hatte der Kardinal die Auffassung vertreten, dass der Staat erkennen müsse, »daß ein Grundgefüge von christlich fundierten Werten die Voraussetzung seines Bestehens
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3. Habermas und Benedikt XVI. | 43 ist. Er muß in diesem Sinne sozusagen einfach seinen historischen Ort erkennen, den Erdboden, von dem er sich nicht gänzlich lösen kann, ohne zu zerfallen. Er muß lernen, dass es einen Bestand von Wahrheit gibt, der nicht dem Konsens unterworfen ist, sondern ihm vorausgeht und ihn ermöglicht.« (Ratzinger 1987, 196) Dass diese normative Erbschaft vom Christentum stammt, daran hatte Habermas ebenfalls keinen Zweifel gelassen. Im Sommer 1999 drückt er das in einem Interview in aller wünschenswerten Klarheit aus: »Das Christentum ist für das normative Selbstverständnis der Moderne nicht nur eine Vorläufergestalt oder ein Katalysator gewesen. Der egalitäre Universalismus, aus dem die Ideen von Freiheit und solidarischem Zusammenleben, von autonomer Lebensführung und Emanzipation, von individueller Gewissensmoral, Menschenrechten und Demokratie entsprungen sind, ist unmittelbar ein Erbe der jüdischen Gerechtigkeits- und der christlichen Liebesethik. In der Substanz unverändert, ist dieses Erbe immer wieder kritisch angeeignet und neu interpretiert worden.« (Habermas 2001, 174 f.) Dennoch ist Habermas der Auffassung, dass sich der säkulare demokratische Verfassungsstaat inzwischen von diesen seinen unbestrittenen Bestandsvoraussetzungen abgenabelt habe: »Denken Sie an die politisch-ethischen Diskurse über Holocaust und Massenkriminalität: sie haben den Bürgern der Bundesrepublik die Verfassung als Errungenschaft zu Bewusstsein gebracht. Das Beispiel einer selbstkritischen (inzwischen keineswegs mehr exzeptionellen, sondern auch in anderen Ländern verbreiteten) ›Gedächtnispolitik‹ zeigt, wie sich verfassungspatriotische Bindungen im Medium der Politik selbst bilden und erneuern.« (Habermas 2005, 111) Darauf hätte der Papst sagen können, dass dies zu kurz gegriffen sei, und er hätte rhetorisch geschickt zurückfragen können, was denn die Basis für eine solche Haltung sei, die zu »politisch-ethischen Diskursen über Holocaust und Massenkriminalität« geführt habe. Eine solche Haltung sei doch ohne die Halt gebenden moralischen Wurzeln des Christentums, die der demokratische Verfassungsstaat nicht einfach kappen könne, gar nicht denkbar. Damit sind die beiden gegensätzlichen Positionen gekennzeichnet. Aber gehen wir chronologisch vor! Habermas begann an jenem Abend mit der soziologischen
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44 | Jürgen Habermas und der Papst Analyse der »entgleisenden Modernisierung der Gesellschaft« (ebd.), einem Schlagwort, das in der Debatte noch eine Rolle spielen sollte. Habermas wiederholte zunächst mit anderen Worten die Diagnose, die er bereits in der Friedenspreisrede gestellt hatte: »Märkte, die ja nicht wie staatliche Verwaltungen demokratisiert werden können, übernehmen zunehmend Steuerungsfunktionen in Lebensbereichen, die bisher normativ, also entweder politisch oder über vorpolitische Formen der Kommunikation zusammengehalten worden sind. Dadurch werden nicht nur private Sphären in wachsendem Maße auf Mechanismen des erfolgsorientierten, an je eigenen Präferenzen orientierten Handelns umgepolt; auch der Bereich, der öffentlichen Legitimationszwängen unterliegt, schrumpft.« (Ebd., 112) Der Redner ist besorgt über den »entmutigenden Funktionsverlust einer demokratischen Meinungs- und Willensbildung«, über die »schwindende Hoffnung auf die politische Gestaltungskraft« (Habermas 2005, 112) und darüber, dass »Märkte und administrative Macht die gesellschaftliche Solidarität, also eine Handlungskoordinierung über Werte, Normen und verständigungsorientierten Sprachgebrauch aus immer mehr Lebensbereichen verdrängen«. (Ebd., 116) Ein Beobachter der Szene konnte in dieser Phase des Habermas’schen Vortrags zustimmendes Nicken von Ratzinger notieren. Das ist nicht verwunderlich, denn solche Analysen finden sich in den Schriften Ratzingers ebenfalls. Bei der Frage nach Abhilfe wurden die Unterschiede zwischen den beiden Protagonisten kenntlich. Habermas trug seine Auffassung vor, dass der demokratische Verfassungsstaat zwar vom christlichen Erbe lebe, doch inzwischen seine eigene Dynamik entfaltet habe. »Die republikanischen Gesinnungen haben sich inzwischen von diesen vorpolitischen Verankerungen weitgehend gelöst.« (Habermas 2005, 111) Darum könne der säkulare Staat aus eigener Kraft das Schwinden seiner knappen normativen Ressourcen aufhalten. Dass die Staatsbürger das in gemeinsamer Anstrengung könnten, hätte mit der Eingewöhnung in demokratische Praktiken zu tun. »Deshalb sind politische Tugenden […] für den Bestand einer Demokratie wesentlich. Sie sind Sache der Sozialisation und der Eingewöhnung in die Praktiken und Denkweisen einer freiheitlichen politischen Kultur. Der Staatsbürgerstatus ist gewissermaßen in eine Zivilgesellschaft eingebettet, die aus spontanen, wenn Sie wollen ›vorpoliti-
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3. Habermas und Benedikt XVI. | 45 schen‹ Quellen lebt. Daraus folgt noch nicht, dass der liberale Staat unfähig ist, seine motivationalen Voraussetzungen aus eigenen säkularen Beständen zu reproduzieren.« (Ebd., 110) Dies sei eine offene empirische Frage. (Vgl. ebd., 113) Hier gilt das alte Wort von Friedrich Engels: The proof of the pudding is the eating. Den Widerspruch von Ratzinger muss man gar nicht erst abwarten, sondern ich will gegen Habermas Folgendes ins Feld führen: Natürlich ist es eine Frage von Sozialisation und Erziehung, in demokratische Praktiken einzuüben und Moral zu lernen. Davon wird im achten Kapitel noch ausführlich die Rede sein. Doch, wer sind die Erzieher, und wie sind sie sozialisiert? Leben sie nicht mit der religiösen Erbschaft ihrer frühen Jahre? Habermas selbst hatte in der Vergangenheit einmal Nachstehendes geäußert: »Unsere Lebensform ist mit der Lebensform unserer Eltern und Großeltern verbunden durch ein schwer entwirrbares Geflecht von familialen, örtlichen, politischen, auch intellektuellen Überlieferungen – durch ein geschichtliches Milieu also, das uns erst zu dem gemacht hat, was und wer wir heute sind. Niemand von uns kann sich aus diesem Milieu herausstehlen.« (Habermas 1987, 140) Das bestätigt meine These, dass die Binsenweisheit vor wie nach nichts an Plausibilität eingebüßt hat, dass der Apfel nicht weit vom Stamm fällt. Kinder lernen von ihren Eltern. Und vieles, was Eltern nachdrücklich vermeiden wollen, lässt sich nicht vermeiden. Meine Kinder haben die Glocksee-Schule in Hannover besucht, sind in einem von uns gewollten, von den Vorstellungen der ’68er geprägten Milieu groß geworden. Doch beide Elternteile sind selbst streng religiös erzogen worden. Wir wollten uns von dieser Erbschaft befreien und haben trotzdem absichtslos die christlichen Wertvorstellungen weitergegeben. Niemand, so Habermas, kann sich bekanntlich aus seinem Milieu herausstehlen. Selbst Habermas’ Diskursidee ließe sich mühelos auf eine lange religiöse Tradition zurückführen, auf die ich kurz eingehen will. Die formalen Voraussetzungen von Habermas’ Diskurs sind, dass alle Beteiligten gleiche Chancen in verschiedenen Hinsichten haben müssen. Es gibt dabei keine Hierarchie, keinen Vorrang irgendeiner Autorität, wenn es darum geht, über moralische Regeln zu streiten. Die erste Voraussetzung eines Diskurses ist für Habermas folgende: »Alle potentiellen Teilnehmer eines Diskurses müssen die gleiche Chance haben, kommunikative
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46 | Jürgen Habermas und der Papst Sprechakte zu verwenden, so daß sie jederzeit Diskurse eröffnen, sowie durch Rede und Gegenrede, Frage und Antwort perpetuieren können. Alle Diskursteilnehmer müssen die gleiche Chance haben, Deutungen, Behauptungen, Empfehlungen, Erklärungen und Rechtfertigungen aufzustellen und deren Geltungsanspruch zu problematisieren, zu begründen oder zu widerlegen, so daß keine Vormeinung auf Dauer der Thematisierung, und der Kritik entzogen bleibt.« (Habermas 1984, 177) Die Vorlage dafür finden wir in der hebräischen Bibel. In 1 Moses 18 eröffnet Abraham den Diskurs mit Gott über dessen Ungerechtigkeit angesichts der bevorstehenden Vernichtung von Sodom und Gomorra. Und Gott lässt sich von dem hartnäckigen Abraham belehren. Abraham hat das bessere Argument, dass es ungerecht sei, die Gerechten mit den Ungerechten zu vernichten. Dieser Gesichtspunkt überzeugt Gott, obwohl Abraham in der Sache selbst letztlich verliert. Diese Diskurstradition setzt sich im Judentum fort. Es heißt, dass die Juden ein Volk von Kritikern seien. »Chajim Weizmann, der erste Staatspräsident Israels hat einmal gesagt, die Schwierigkeit seines Amtes bestehe nicht darin, daß er der Präsident von Millionen Bürgern, sondern von Millionen Präsidenten sei.« (Herzberg 2000, 66) Die Juden anerkennen keine Autorität. (Vgl. ebd., 60) »Juden beurteilen einander sehr streng, und manchmal kann nicht einmal Gott vor ihrem Urteil bestehen.« (Ebd., 61) So kam es dazu, dass ein einfacher Schneider bei einem Jom-Kippur-Fest zum großen Rabbi Levi Jizchak von Berditschew kam und um Vergebung bat, »weil er respektlos mit Gott geredet hatte. Der Rabbiner fragte ihn, was er denn gesagt habe, und der Schneider antwortete: ›Ich erklärte Gott: Du willst, daß ich meine Sünden bereue, aber ich habe nur kleine Sünden begangen: Ich habe Tuchreste behalten oder in einem nichtjüdischen Haus, in dem ich gearbeitet habe, gegessen, ohne mir die Hände zu waschen. Aber Du, o Herr, hast schwere Sünden begangen: Du hast Müttern ihre kleinen Kinder und kleinen Kindern ihre Mütter genommen. Laß uns quitt sein: Du vergibst mir, und ich vergebe Dir.‹ Der Rabbi antwortete: ›Warum hast du Gott so leicht davonkommen lassen?‹ Diese Disput-Tradition begründete Abraham.« (Dershowitz 2002, 69) Aber auch andere Werte verdankt der säkulare Verfassungsstaat der religiösen Überlieferung. Das Erbe der »hellenisierten« jüdisch-christlichen Tradition (Habermas 2001, 173),3 das sich a
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3. Habermas und Benedikt XVI. | 47 tergo durchsetzt und so zum Bestandteil der säkularisierten Moderne wird, ist Folgendes. Ich habe das einmal ausführlich mit Quellenangaben dargestellt (vgl. Horster 2004, 50 ff.), was ich darum hier nicht wiederholen will. An den folgenden wenigen Beispielen sollte aber schon deutlich werden, dass die zentralen Werte der Aufklärung, der wir den demokratischen Verfassungsstaat zu verdanken haben, ihren Ursprung im Juden- und Christentum haben. Auf die von Habermas angemerkten hellenistischen Einflüsse werde ich später eingehen. Die Gleichheit bildet den Kern der europäischen Aufklärungs-Moral. Die frühen Quellen finden sich u.a. in der Hebräischen Bibel, im Buch der Weisheit, wo es heißt, dass alle Menschen den »gleichen Eingang zum Leben« haben, und »gleich […] der Ausgang« sei. Aber auch Paulus überbringt mit seinen Briefen die Botschaft von der Gleichheit. Er sieht z.B. im Brief an die Galater keinen Unterschied zwischen den verschiedenen Völkern. Vor Gott sind alle Menschen gleich: »Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht Mann und Frau; denn ihr alle seid ›einer‹ in Christus Jesus.« Für diesen zentralen Wert der europäischen Aufklärung kann man also den Ursprung im jüdischchristlichen Denken nachweisen. Ich kann diesen phylogenetischen Weg vom Christentum zur Aufklärung ontogenetisch nachvollziehen. Meine Eltern, aus der Mittelschicht stammend, haben mich mit dem Gleichheitsgrundsatz fasziniert. Der Satz »Vor Gott sind alle Menschen gleich« hat mich in meiner Jugend tief beeindruckt, so dass ich engagiert in kirchlichen Zusammenhängen arbeitete, doch später ebenso in der von den Aufklärungsgedanken motivierten Studentenbewegung aktiv war. Freiheit oder Autonomie ist der grund- und bestandgebende Wert für alle neuzeitlichen Moralauffassungen. Menschen streben danach, als freie, autonome Individuen anerkannt zu werden. Gleichzeitig müssen alle anderen in derselben Weise als freie, autonome Individuen anerkannt werden. Diese wechselseitige Anerkennung ist – wie ich bereits mehrfach betonte – Kern all unserer moralischen Regeln. (Vgl. ebd., 13) Freiheit und Autonomie stammen ebenfalls aus jüdisch-christlicher Tradition. Die Freiheit des Menschen wird bereits im 1. Buch Mose postuliert, in dem zu lesen ist, dass Gott den Menschen nach seinem Ebenbilde schuf. Für die Freiheit bedeute das, dass der Mensch einen annähernd freien Willen habe wie Gott, der – folgt man dem
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48 | Jürgen Habermas und der Papst Epheserbrief des Paulus – »alles so verwirklicht, wie er es in seinem Willen beschließt«. Über einen weitverzweigten Weg ist das Menschenrecht der Freiheit in die Verfassung der französischen Nationalversammlung eingegangen und von dort in alle modernen Verfassungen, die sich ohne Umschweife mit ihrem explizit ausgesprochenen Gottesbezug auf ihre christliche Tradition beziehen, wie Friedrich Wilhelm Graf an vielen Beispielen eindrucksvoll gezeigt hat. (Vgl. Graf 2006, 65 ff.) Und in folgender Formulierung Theodor Mommsens bemerkt man die enge Verbindung von Christentum und säkularem Staatsdenken: »Ihr kennt es alle, das demokratische Evangelium, Gleichheit vor dem Gesetze! Hört es und bewahrt es wohl, ihr habt darin den Kern der Freiheit.« (Mommsen 1849, 16) Die von Habermas angesprochene Hellenisierung des Christentums muss an dieser Stelle thematisiert werden.4 Zum einen kann man feststellen, dass die Beeinflussung der Patristik durch die Platonische Philosophie ungemein stark war. Ebenso finden wir bei Thomas von Aquin einen für ihn wegweisenden Einfluss durch Aristoteles, der so weit geht, dass Thomas in seinen Schriften meist die Formulierung »Unser Philosoph« gebraucht, wenn er von Aristoteles spricht. Aber bereits viel früher, zu Zeiten des Justinus, im zweiten Jahrhundert nach Christi Geburt nahm die griechische Philosophie maßgebenden Einfluss auf das Christentum: »Vor allem die Philosophie des vorchristlichen Plato wurde gerne aufgegriffen und mit christlichen Überlieferungen verknüpft. Philosophen traten zum Christentum über, und das antike Bildungsgut wurde christlich aufgearbeitet und weitergeführt. Es nimmt daher nicht wunder, daß die griechische Philosophie als Hilfsmittel zur Erläuterung der Glaubensaussagen eingesetzt wurde.« (Antes 1998, 111) Über den hellenistischen Weg haben die Werte Freiheit und Gleichheit eine zentrale Bedeutung im Juden- und Christentum erlangt. Diese Werte sind nicht zu trennen von der Staatsidee der Aufklärung, bei der der Einfluss der Hellenen noch gravierender zum Tragen kommt. Die Griechen haben einst ihre Autonomie, Selbstbestimmung und die zentrale Stellung des einzelnen Bürgers, kurz: ihre Polis-Kultur, in den Perserkriegen gegen eine monarchische Großmacht verteidigt. Unbestreitbar ist weiterhin der Einfluss des antiken römischen Rechts auf unsere demokratische Rechtsauffassung. (Vgl. Horster 2002, 16-19) Fraglich ist
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3. Habermas und Benedikt XVI. | 49 nun, welche Einflüsse für unseren säkularen Staat mehr Gewicht haben, die jüdisch-christlichen oder die hellenistischen. Wahrscheinlich ist der demokratische Staat durch ein Amalgam von beidem beeinflusst. Insofern hat Herbert Schnädelbach völlig Recht, wenn er sagt, dass »das vorpolitische Moralische, das einen freiheitlichen Staat möglich macht, […] niemals nur das Religiöse« ist. (Schnädelbach 2004, 130) Es geht in der Auseinandersetzung zwischen Habermas und dem Papst aber nun einmal um das Verhältnis zwischen säkularem Verfassungsstaat und christlicher Religion. Wenn Habermas der Auffassung ist, dass auf der Basis seines Wertebestands der säkulare Staat in der Lage sei, sich selbst zu reproduzieren, muss er sich von dem scharfsinnigen Ratzinger fragen lassen, »wieso die vernünftige Moderne habe entgleisen können, wenn doch laut Habermas ein Staat, der seine Legitimation aus dem demokratischen Verfahren bezieht, mit denen er zu Entscheidungen gelangt, kein sittliches Defizit habe«. (Kissler 2005, 152) In dieser Frage ist natürlich die Auffassung Ratzingers enthalten, dass man ohne vorstaatliche christliche Wertauffassungen nicht auskommen könne. Darum überschrieb Ratzinger seine Stellungnahme jenes Abends in der später publizierten Form mit Vorpolitische Grundlagen eines freiheitlichen Staates und Habermas’ veröffentlichte Fassung trug diesen Titel ebenfalls, allerdings mit einem Fragezeichen versehen! Für Ratzinger ergibt sich gar keine Frage, denn bei einer anderen Gelegenheit spricht er deutlicher als sonst aus, dass man den Staat nicht auf einer reinen Vernunft bauen könne. Dann entstünde ein Staat, »der von allen geschichtlichen Wurzeln gelöst ist und dann auch keine moralischen Grundlagen mehr kennen kann, die nicht jeder Vernunft einsichtig sind. So bleibt ihm am Ende nur der Positivismus des Mehrheitsprinzips und damit der Verfall des Rechts, das schließlich von der Statistik gelenkt wird. Wenn die Staaten des Westens sich vollends auf diese Straße begeben würden, könnten sie auf Dauer dem Druck der Ideologien und der politischen Theokratien nicht standhalten. Auch ein laikaler Staat darf, ja, muss sich auf die prägenden moralischen Wurzeln stützen, die ihn gebaut haben; er darf und muss die grundlegenden Werte anerkennen, ohne die er nicht geworden wäre und ohne die er nicht überleben kann. Ein Staat der abstrakten, geschichtslosen Vernunft kann nicht bestehen.« (Ratzinger 2005a, 136 f.)
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50 | Jürgen Habermas und der Papst Ein solches Staatsgebilde schwebt Habermas gar nicht vor, und die Ansicht, dass der Staat gar kein sittliches Defizit habe, ist ebenfalls nicht seine Position. Hier bestand die Gefahr, dass man aneinander vorbeiredete. In seiner Dankesrede zur Verleihung des Friedenspreises hatte Habermas gesagt, dass das Soziale nicht in den Begriffen des Vertrags aufgehen dürfe. Die wechselseitige Anerkennung ist allerdings auch schon – wie gezeigt – dem merkantilen Tauschprinzip nachgebildet. Um dem gänzlichen Aufgehen der Moral in ökonomischen Kategorien vorzubeugen, empfiehlt Habermas, die Stimme der Religion zu hören, die uns mit Ratzingers Worten sagt, dass der »rechnend Berechnende, der glaubt, selbst die weiße Weste erschaffen und darin ganz sich selbst aufbauen zu können, […] der Ungerechte«, der Unmoralische ist. (Ratzinger 2005b, 245) Am Ende seines Beitrags an diesem Abend des 19. Januar 2004 in der Katholischen Akademie in Bayern sagte der Gastreferent Habermas, der die Defizite ebenso sieht wie Benedikt XVI.: »Säkularisierte Bürger dürfen, soweit sie in ihrer Rolle als Staatsbürger auftreten, weder religiösen Weltbildern grundsätzlich ein Wahrheitspotential absprechen, noch den gläubigen Mitbürgern das Recht bestreiten, in religiöser Sprache Beiträge zu öffentlichen Diskussionen zu machen. Eine liberale politische Kultur kann sogar von den säkularisierten Bürgern erwarten, dass sie sich an Anstrengungen beteiligen, relevante Beiträge aus der religiösen in eine öffentlich zugängliche Sprache zu übersetzen.« (Habermas 2005, 118) Die Kirchen sollen nicht ausgeschlossen werden vom demokratischen Willensbildungsprozess, sondern die säkularen Bürger sollten Interesse entwickeln für die Artikulation religiöser Stimmen in der politischen Öffentlichkeit, denn andernfalls könne man nicht wissen, ob sich die säkulare Gesellschaft von wichtigen Ressourcen der Sinnstiftung abschneidet. Einen Aspekt vergisst Habermas dabei: Religiöse Gemeinschaften sind meist Minderheitsgemeinschaften. Im demokratischen Verfahren haben wir es in der Regel mit Mehrheitsentscheidungen zu tun. Folglich ist es für Mitglieder von Minderheitsgruppen schwer, sich Gehör zu verschaffen. Darum muss die Quote angemessen berücksichtigt werden. Der liberale Staat hat an dieser Stelle sicher Nachbesserungsbedarf. Davon einmal abgesehen kann Ratzinger nur zustimmen, wenn Habermas der Religion eine gewichtige Stimme in der
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3. Habermas und Benedikt XVI. | 51 säkularen Gesellschaft verleihen will – was nach seiner Ansicht Not tut, denn die säkulare Vernunft habe sich Dinge wie die Atombombe und die Produktion des Menschen aus dem Reagenzglas einfallen lassen. Diese Vernunft, so Ratzinger an jenem Abend, müsse unter Aufsicht gestellt werden. »Aber durch wen oder was?«, fragte der Kirchenmann (Ratzinger 2005a, 33), und beantwortet die Frage gleich selbst: »Ich würde […] von einer notwendigen Korrelationalität von Vernunft und Glaube, Vernunft und Religion sprechen, die zu gegenseitiger Reinigung und Heilung berufen sind und die sich gegenseitig brauchen und das gegenseitig anerkennen müssen.« (Ebd., 39) Die Hauptpartner in einem solchen Gespräch seien zwar die westlich säkulare Rationalität und der christliche Glaube, doch gäbe es noch mehr und andere Kulturen auf der Welt, die man dabei nicht als eine Art »quantité négligeable« beiseite schieben dürfe. Habermas und Ratzinger könnten sich sicher mit ihren beiderseitigen Ergebnissen anfreunden: Der erstere will der religiösen Minderheit im säkularen Staat eine Stimme verleihen, damit die »normativen Gehalte religiöser Überlieferung« nicht verloren gehen. Doch andererseits meint der Philosoph, der säkulare Staat könne seine Bestandsvoraussetzungen aus sich selbst reproduzieren. Eine gewisse Widersprüchlichkeit scheint unverkennbar, doch zeigt sich hier, dass Habermas auf Konsistenz bedacht ist; das Herzstück seiner Diskurstheorie ist ja, dass sich alle – auch nur potentiell – Betroffenen in den Diskurs einbringen können sollen. Dazu gehören eben auch die Gläubigen, die nicht nur Kirchen-, sondern auch Gesellschaftsmitglieder sind. Der Kirchenmann präferiert eine Komplementarität von Religion und Vernunft und erhebt beide zur wechselseitigen Kontrollinstanz – eine Auffassung, die Joseph Ratzinger bereits in seiner Bonner Antrittsvorlesung im Jahre 1959 in ähnlicher Weise vertreten hat. Die pathologischen Erscheinungsformen der Vernunft offenbarten heute immer noch und immer mehr ihre Fehlgeleitetheit. Die mögliche, Abhilfe schaffende Verbindung von Glauben und Vernunft sieht Ratzinger in dem Johanneswort: »Wir haben die Liebe, die Gott zu uns hat, erkannt und gläubig aufgenommen.« (1Joh 4,16) »Es ist die schöpferische Liebe Gottes, welche die Welt mit Sinnstrukturen begabt.« (Hoping/Tück 2005, 105) Gemeint ist damit eine Vernunft, die sich nicht von Sinnstrukturen abgekoppelt hat, die noch nicht von der Moral entzweit ist,
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52 | Jürgen Habermas und der Papst die noch keine von Max Horkheimer so gegeißelte rein instrumentelle Vernunft geworden ist. Ratzinger meint eine Vernunft, die von der Moral durchdrungen ist; eine Vernunft, wie sie Augustinus verstand. Dieser Kirchenvater erkannte eine wahre Aussage daran, dass der Mensch, der sie machte, ein moralisch anständiger Mensch war. (Vgl. z.B. De Trinitate IX, 6, 1) Kein Wunder, dass der Augustinus-Verehrer Benedikt XVI. eine so geartete Vernunft im Blick hat. Aber die Frage, woran man einen moralisch anständigen Menschen erkennt, ist noch nicht beantwortet. Bei den Kirchenvätern bildet die Natur das sittliche Vorbild. In der Natur offenbart sich das Wirken des Schöpfergottes. Gott geht der Natur voraus, »und sie ist sein Geschöpf«; er ist ihr Ursprung gebendes Sein. Gott gibt der Natur nicht nur Grund, sondern auch Bestand. (Vgl. Ratzinger 2000, I) Im Buch der Natur kann man demnach lesen, was Gott allen Menschen zu tun vorschreibt. (Vgl. Ratzinger 1963, 492) Also lebt derjenige Mensch moralisch, der die natürlichen Gesetze beherzigt. Daran sind die Verlautbarungen des Vatikan orientiert, z.B. zu Sexualität und Familie. Die Ehe zwischen Mann und Frau und die Familie seien die natürliche Gemeinschaft, wie Benedikt XVI. auf dem 5. katholischen Weltfamilientreffen am 8. Juli 2006 im spanischen Valencia herausstellte. Die Orientierung an der Natur ist also – betont der Papst in seinem Gespräch mit Habermas – die Argumentationsfigur der katholischen Kirche bis heute geblieben, »mit der sie in den Gesprächen mit der säkularen Gesellschaft und mit anderen Glaubensgemeinschaften an die gemeinsame Vernunft appelliert und die Grundlage für eine Verständigung über die ethischen Prinzipien des Rechts in einer säkularen pluralistischen Gesellschaft sucht. […] Die Idee des Naturrechts setzte einen Begriff von Natur voraus, in dem Natur und Vernunft ineinander greifen, die Natur selbst vernünftig ist.« (Ratzinger 2005a, 35) In diesem Sinne sind die natürlichen Werte für den Papst objektiv und universell. Dass dies bei den Christenmenschen in Vergessenheit geraten sei, bedeutet für ihn einen Werterelativismus in seiner eigenen Kirche (vgl. Häring 2005, 174), dem man entgegenwirken müsse. So weit die Vorschläge der beiden Disputanten, das gänzliche Entgleisen der säkularen Gesellschaft (vgl. Habermas 2005, 111) zu verhindern. Es gibt neben anderen einen – wie ich finde – gravierenden Unterschied zwischen Habermas und Ratzinger,
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3. Habermas und Benedikt XVI. | 53 den ich zum Schluss herausstellen will. Wenn Habermas der religiösen Minderheit im säkularen Staat eine Stimme verleihen will, dann ist die Religion für ihn nur als ein Teilsystem der Gesellschaft zu betrachten, denn den Anspruch auf das Interpretationsmonopol und eine umfassende Lebensgestaltung »musste die Religion unter Bedingungen der Säkularisierung des Wissens, der Neutralisierung der Staatsgewalt und der verallgemeinerten Religionsfreiheit aufgeben. Mit der funktionalen Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Teilsysteme trennt sich auch das Leben der religiösen Gemeinde von ihren sozialen Umgebungen.« (Ebd., 117) Demgegenüber ist Ratzinger von der Funktion der Religion als umfassende Lebensgestalterin überzeugt. Im Vorwort der im Jahre 2000 aktualisierten Neuauflage seiner vor mehr als 35 Jahren gehaltene Vorlesung Einführung in das Christentum (1968) schreibt Ratzinger: »Der Gott, der Schöpfer ist und sich in seiner Schöpfung aussagt, gibt dem menschlichen Tun Richtung und Maß.« (Ratzinger 2005b, 24) Und: »›Ich glaube an Gott‹ – Wer so spricht, vollzieht zu allererst eine Entscheidung über die Werte und Gewichte in der Welt.« (Ebd., 139) Ratzinger befürwortet eine umfassende Prägung des Menschen und seines Lebensentwurfs (vgl. Ratzinger 2004, 22) durch die Religion und eine Orientierung des Menschen an der Religion. Wenn das Wort heute in der Alltagssprache nicht so unbedacht abgegriffen gebraucht würde und damit nichtssagend ist, könnte man hier von der Erfassung der menschlichen Ganzheit – von der der Pontifex selbst redet (vgl. ebd., 20) – durch die Religion sprechen, obwohl Ratzinger dagegen an anderer Stelle sagt: »Kirche wird […] in absehbarer Zeit nicht mehr einfach die Lebensform einer ganzen Gesellschaft sein, es wird kein Mittelalter mehr geben, jedenfalls in absehbarer Zeit nicht.« (Ebd., 175) In dieser letztgenannten Einschätzung und Aussage trifft sich Ratzinger wieder mit Habermas, der die Religion in der funktional differenzierten Gesellschaft lediglich als ein Teilsystem der Gesellschaft ansieht, das aber am gesamtgesellschaftlichen Diskurs nicht unbeteiligt bleiben darf.
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4. Jüdische Gerechtigkeits- und christliche Liebesethik | 55
4. »Die jüdische Gerechtigkeits- und die christliche Liebesethik« (Habermas)
Im vorhergehenden Kapitel habe ich ein Zitat von Habermas wiedergegeben, in welchem er von der jüdischen Gerechtigkeitsund der christlichen Liebesethik sprach. Kann man die Trennung wirklich so klar und deutlich vornehmen? Gibt es auf der einen Seite eine jüdische Gerechtigkeits- und auf der anderen eine christlichen Liebesethik? Habermas ist nicht der Einzige, der diese Gegenüberstellung vornimmt. In der Studie des Rates der evangelischen Kirche Deutschlands aus dem Jahre 1976, mit dem Titel Christen und Juden, lesen wir: »So gibt es bei Christen und Juden tiefgehende Unterschiede in der Begründung von Gerechtigkeit und Liebe.« (Kremers 1990, 49) Man kann sagen, dass diese Entgegensetzung bei uns zum Allgemeingut geworden ist. »Aus diesem Konfrontationsdenken ging auch die Gegenüberstellung des Christentums als einer Religion der Liebe und des Judentums als einer Religion der Gerechtigkeit hervor. In einer erweiterten Form: Das Christentum ist eine Religion des Glaubens und der Liebe im Gegensatz zum Judentum, das eine Religion des Gesetzes und der Gerechtigkeit ist.« (Ebd., 47) Wenn wir uns in unserer christlich geprägten Kultur nach der Erinnerungsarbeit am Holocaust das Judentum und seine Lebensweise aneignen, müssen wir feststellen, dass wir als Christen in einer ähnlichen Situation der Blindheit sind, wie Paulus sie seinerzeit für die Juden auszumachen glaubte. Paulus schrieb im zweiten Korintherbrief: »Doch [der Juden] Denken wurde verhärtet. Bis
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56 | Jürgen Habermas und der Papst zum heutigen Tag liegt die gleiche Hülle auf dem alten Bund, wenn daraus vorgelesen wird, und es bleibt verhüllt, daß er in Christus ein Ende nimmt. Bis heute liegt die Hülle auf ihrem Herzen, wenn Mose vorgelesen wird. Sobald sich aber einer dem Herrn zuwendet, wird die Hülle entfernt.« (2Kor 3, 14 ff.) Heinz Kremers meint, dass man diese Paulus-Stelle umkehren und auf unsere heutige Situation beziehen könne: »Das wahrlich nicht vom Heiligen Geist inspirierte Konfrontationsdenken der Christenheit hat sich wie eine Decke5 über unsere Herzen gelegt, so daß wir fast blind sind und das jüdische Volk nicht erkennen können.« (Kremers 1990, 47) So wie Paulus meinte, dass die Juden das Christliche nicht erkennen könnten, erkennen wir Christen heute das Jüdische nicht. Kremers nun kann zeigen, dass diese Konfrontation einer Religion der Nächstenliebe auf der einen und einer Religion der Gerechtigkeit auf der anderen Seite jeder Grundlage entbehrt. Es finden sich sowohl in der Hebräischen Bibel wie im Neuen Testament Belegstellen dafür, dass von den Menschen sowohl Gerechtigkeit wie Nächstenliebe gefordert wird. In den Paulusbriefen ist vom gerechten und liebenden Gott die Rede. Im Römerbrief sagt Paulus, dass derjenige, der liebt, der Gerechtigkeit dient und damit Gottes Gebote erfüllt. (Vgl. Röm 13, 8 ff.) Das Christusgeschehen wird im Neuen Testament sogar primär als Erfüllung der Gerechtigkeit Gottes beschrieben. (Vgl. Mt 3, 15) Bei Johannes wird das Schwergewicht auf die Erfüllung der Liebe gelegt. Im ersten Johannesbrief heißt es, dass Gott die Liebe ist (Vgl. 1Joh 4, 8), doch auch, dass er gerecht richten werde. (Vgl. Joh 5, 30) Die Enzykliken neueren Datums, die mit den Themen Gerechtigkeit und Liebe befasst sind, und auf die ich später noch eingehen werde, fassen beide Begriffe stets als in Komplementarität befindlich. Durch die Hellenisierung des Judentums haben in unserer Moralvorstellung die Begriffe der Gerechtigkeit und der Liebe Schlüsselfunktionen erlangt. Das hatten sie im biblischen und nachbiblischen Judentum nicht. Dennoch findet man in der Hebräischen Bibel Belegstellen für beides – und vor allem Belegstellen für den Zusammenhang von beidem. »Das Wort Gerechtigkeit (zedaqa) gehört schon in der hebräischen Bibel und dann auch im nachbiblischen Judentum vor allem zum ersten Wortfeld, weil es ›Gemeinschaftstreue‹ bedeutet und ein Verhalten
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4. Jüdische Gerechtigkeits- und christliche Liebesethik | 57 eines Ich zu einem Du ausdrückt, die miteinander verbunden sind. Ihm ist das Wort mispat verwandt, das auch Gemeinschaftstreue bedeutet, dabei aber mehr die Norm der Gemeinschaft als den Partner in der Gemeinschaft im Blick hat; seine Wurzel bedeutet ›richten‹. Über 50-mal treten beide Worte als Wortpaar miteinander verbunden im Alten Testament auf. Das geschieht, um ein umfassendes gemeinschaftsgemäßes Verhalten auszudrücken, das sowohl dem Du, mit dem man verbunden ist (zedaqa), wie auch der Form der Gemeinschaft, in der man verbunden ist (mispat), entspricht. Es ist darum nicht verwunderlich, daß Gerechtigkeit wie im Alten Testament so auch im nachbiblischen Judentum meistens zum ersten Wortfeld gehört und so mit der Liebe, der Güte und dem Erbarmen verwandt oder gar identisch ist. Das gilt sowohl für die Gerechtigkeit Gottes wie für die Gerechtigkeit des Menschen. […] Im Bereich des menschlichen Zusammenlebens wird das Wort Gerechtigkeit im Ausdruck ›Gerechtigkeit üben‹ im Judentum zur Bezeichnung der Taten helfender Liebe.« (Ebd., 50) Kremers kann weiterhin zeigen, dass sich die Liebe schon in der Hebräischen Bibel nicht allein auf den Nächsten beschränkt, sondern sich gleichfalls auf den Fremden beziehen soll – und darüber hinaus auf die Feinde. Dem Feind, der hungert oder dürstet, soll man zu essen und zu trinken geben. (Spr 25, 21; 2Kön 6, 22 f.) Die Nächstenliebe schließt den Feind mit ein. Auch das wird in der offiziellen Auslegung so nicht gesehen, sondern wird in der Regel erst der christlichen Auffassung zugeschrieben. Wenn diese beiden zentralen Moralbegriffe in der von Kremers dargestellten Weise eine Koalition bilden, sollten wir diese einmal genau betrachten: zunächst die beiden Koalitionspartner in den beiden folgenden Kapiteln im Einzelnen, dann werde ich im 7. Kapitel auf den in der Bibel gedachten Zusammenhang von Gerechtigkeit und Nächstenliebe unter Bezugnahme auf die erste Enzyklika von Benedikt XVI. zurückkommen.
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5. Gerechtigkeit, globale und lokale | 59
5. Gerechtigkeit, globale und lokale
Das von mir angeführte Eröffnungsbeispiel in der Einleitung drängt schon lange nach einer Kommentierung, die jetzt ansteht. Welche Auffassung haben Habermas und der Heilige Vater zur Frage der Gerechtigkeit? Habermas präferiert eindeutig eine auf Gleichheit basierende Gerechtigkeit. Gerechtigkeit ist für Habermas die Gleichbehandlung aller, und als Mitglieder einer gerechten Gemeinschaft »erwarten die Individuen voneinander eine Gleichbehandlung«. (Vgl. Habermas 1996, 44 u. 57) Gleichheit ist für Habermas nicht nur der Ausgangspunkt für Gerechtigkeit, sondern ihr Kern. Sie gebe einer gerechten Gesellschaft nicht nur Grund, sondern auch Bestand. Habermas’ Diskursethik basiert auf dem Gleichheitsprinzip. Sehen wir uns die ideale Sprechsituation an, die die Spielregeln für den Habermas’schen Diskurs angibt. Wir sahen weiter oben schon, dass im Diskurs alle Beteiligten gleiche Chancen in verschiedenen Hinsichten haben müssen. Habermas hatte die Spielregeln des Diskurses früher sogar als Vorschein auf eine zukünftige gerechte Gesellschaft gekennzeichnet. Diese Auszeichnung hat er später (aus Gründen, die hier keine Rolle spielen) auf den Status reiner Verfahrensregeln ermäßigt. (Vgl. Horster 1991, 72) Doch verkennt Habermas, dass die ideale Sprechsituation ihrer Natur nach nicht aus nur reinen Verfahrensregeln bestehen kann. Darum interpretiert Axel Honneth sie nach meiner Ansicht sehr richtig, wenn er schreibt: »Nur die Gesellschaft darf im Sinne einer Diskursethik letztlich als gerecht gelten, die in ihrer normativen Infrastruktur die Voraussetzungen für herrschafts-
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60 | Jürgen Habermas und der Papst freie Dialoge bereithält und also all ihren Mitgliedern die Chance einer zwanglosen und gleichberechtigten Aushandlung von strittigen Normen erst gewährt.« (Honneth 1986, 188) In Gesellschaften, in denen diese Infrastruktur fehlt, kann es keine Diskurskultur geben. Und Honneth fährt fort: »Eine chancengleiche Teilnahme an praktischen Diskursen verlangt nämlich einerseits eine egalitäre Zugangsmöglichkeit zu jenen sozialen Informationen und kulturellen Bildungstraditionen, die nötig sind, um die eigenen moralischen Überzeugungen im Kreise von Diskussionsteilnehmern argumentativ behaupten zu können.« (Ebd., 191) Darum kann nach Honneths zuzustimmender Auffassung die ideale Sprechsituation nicht rein formal sein, sondern sie ist normativ konnotiert. Sie muss eingebettet sein in ein demokratisches und herrschaftsfreies Umfeld, das gleiche Bildungs- und Informationschancen unterschiedslos für alle bereitstellt. Nur unter solchen Bedingungen kann sich eine Diskurskultur überhaupt erst entfalten. Während wir nun bei Habermas eine egalitäre Gerechtigkeitskonzeption diagnostizieren können, ist das bei Benedikt XVI. nicht so klar, weil er sich nicht explizit dazu geäußert hat. Es ist ja nicht seine Sache, sich als Kirchenmann dazu zu äußern, denn er weist diese Aufgabe ausdrücklich dem Staat zu. Im § 28a der Enzyklika Deus Caritas Est heißt es im fünften Abschnitt: »Die gerechte Gesellschaft kann nicht das Werk der Kirche sein, sondern muß von der Politik geschaffen werden.« Das ist traditionell die Auffassung der katholischen Kirche. Bereits 1891 lesen wir in der Enzyklika Rerum Novarum von Papst Leo XIII., dass der Staat für die Herstellung der Gerechtigkeit zu sorgen und diejenigen abzuwehren und zu bestrafen habe, die die Gerechtigkeit verletzen würden. (Vgl. § 29) Und 40 Jahre später heißt es in Quadragesimo Anno von Pius XI., dass die staatlichen und gesellschaftlichen Einrichtungen »ganz und gar« von der Gerechtigkeit durchwaltet (vgl. § 88) und die öffentlichen Einrichtungen den Anforderungen der Gerechtigkeit entsprechend ausgestaltet sein müssten. (Vgl. § 110) Benedikt XVI. steht mit seiner Gerechtigkeitsauffassung, die er in Deus Caritas Est darlegt, völlig in der Tradition der beiden großen, inzwischen zu Klassikern gewordenen Enzykliken der Vorgängerpäpste. Ich werde auf das Verhältnis von Staat und Kirche, von Gerechtigkeit und Nächstenliebe im 7. Kapitel zurückkommen.
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5. Gerechtigkeit, globale und lokale | 61 Sicher ist, dass der Pontifex das christliche Gleichheitsgebot nicht verleugnen wird, doch leise Zweifel daran könnten durch die Bemerkung aufkommen, dass der »rechnend Berechnende […] der Ungerechte« ist. (Ratzinger 2005b, 245) Der rechnend Berechnende ist wohl der, der in gleicher Weise alles gegeneinander aufrechnet, der nur so viel gibt, wie er selbst verlangen kann. Hier scheint das auf Gleichheit basierende Wechselverhältnis angesprochen zu sein und der Zweifel daran, dass die Gerechtigkeit allein durch die Gleichheit zu definieren sei. In dieser Hinsicht gibt es neuerdings auch in der Philosophie eine Position, die in Zweifel zieht, dass Gerechtigkeit auf Gleichheit fußt. Wir konstatieren derzeit zwei kontroverse Positionen in der Philosophie: den Egalitarismus, wie man das auf dem Gleichheitsprinzip basierende Gerechtigkeitskonzept nennt, und den Nonegalitarismus – also auf der einen Seite die Position, für die die Gerechtigkeit die Herstellung von Gleichheit bedeutet und auf der anderen Seite die Position, die dies bestreitet. Diese beiden Positionen will ich im Folgenden erörtern. Neben dem globalen Gesichtspunkt, der in meinem Eingangsbeispiel eine Rolle spielt, beziehe ich den lokalen mit ein und veranschauliche und kommentiere diesen ebenfalls anhand eines Beispiels. Bleiben wir im Milieu, und sehen uns eine Gerechtigkeitsproblematik an, die bei einem Pfarrfest aufgetreten ist. Im Magazin der Süddeutschen Zeitung erschien unter der Rubrik Gewissensfragen folgende Darstellung: »Beim Pfarrfest in unserer Kirchengemeinde zahlen die Kinder für Attraktionen, indem sie sich Kappen für zwei Euro kaufen. Wer eine trägt, darf überall mitmachen. In unserem Viertel ist der Reichtum ungleich verteilt. Die Kinder aus den ›guten‹ Straßenzügen kaufen die Kappen, jene aus den sozialen Brennpunkten oft nicht. Am Karussell ließ ich zunächst die ›Problem‹-Kinder ohne Kappe fahren, weil sie ja definitiv ärmer sind. Das ging nicht lang gut: Die Kinder mit Kappe kamen sich ungerecht behandelt vor. Nun frage ich mich: Welcher Wert wiegt höher? Die Gerechtigkeit oder die Nachsicht gegenüber den wirtschaftlich Schwächeren? CHRISTA R., BERLIN« (Süddeutsche Zeitung Magazin, Nummer 30 vom 29. Juli 2005, 5) In der Antwort wird der Philosoph Robert Spaemann zitiert, der betont, dass zur Gerechtigkeit neben der arithmetischen, also der zahlenmäßigen Gleichheit (zwei Euro pro Kopf) und der
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62 | Jürgen Habermas und der Papst Honorierung nach Leistung noch etwas anderes gehöre, nämlich die Verteilung gemäß dem Bedürfnis aller Menschen, dem zu helfen, der sich nicht selbst helfen kann. Hier haben wir alle drei Gerechtigkeitskonzeptionen zusammen, die auf dem Gleichheitsprinzip basieren. Darum schreibt Rainer Erlinger, der für die Süddeutsche die Gewissensfragen jede Woche beantwortet, dass die Alternative der Fragestellerin gar keine Alternative sei, denn die Nachsicht gegenüber den wirtschaftlich Schwächeren sei ebenfalls eine Form der Gerechtigkeit. Wir kennen demnach drei Formen von Gerechtigkeit, die auf dem Gleichheitsprinzip basieren: – die distributive Gerechtigkeit, die besagt, dass alle knappen Güter gleich verteilt werden müssten; – die ausgleichende Gerechtigkeit, die den Benachteiligten einen Ausgleich zubilligt, so dass sie möglichst gleichgestellt werden; – die Leistungsgerechtigkeit, die entsprechend der Leistung honoriert. Die Basis aller drei Konzeptionen ist die Idee, dass alle Menschen gleich behandelt werden müssten. Ich diskutierte darüber mit angehenden Lehrerinnen und sagte ihnen, dass sie sich bei der Zensurgebung später an einer dieser Gerechtigkeitskonzeptionen orientieren müssten; die sei nun durchzuhalten, denn andernfalls fühlten sich die Kinder ungerecht behandelt. Davon, dass das richtig ist, war ich bis zu diesem Zeitpunkt zutiefst überzeugt. Doch eine Studentin brachte eine andere Überlegung vor. Sie sagte, dass sie bei Tests schon nach Leistung bewerten müsse, denn sonst fühlten sich die Kinder in der Tat ungerecht behandelt. Man könne bei 15 Punkten, die zu vergeben seien, nicht dem einen »gut« und dem anderen »sehr gut« geben. Für die gleiche Leistung müsse es die gleiche Bewertung geben bzw. für die gleiche Leistung den gleichen Lohn. Dem ungeachtet könne man bei der Zensur, die am Schuljahresende aufs Zeugnis kommt, dennoch das Prinzip der ausgleichenden Gerechtigkeit anwenden. Die Kinder hätten größtes Verständnis dafür, dass für jemanden, der aus sozial schwachen Verhältnissen kommt, sich jedoch angestrengt habe, ein Ausgleich geschaffen werden müsse, wenn er nicht so gute Leistun-
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5. Gerechtigkeit, globale und lokale | 63 gen brächte wie jemand, der von zu Hause aus schon intellektuell gut ausgestattet und gefördert worden sei. Die Erfahrungen der angehenden Lehrerin bestätigen das, was Rainer Erlinger als Antwort auf die Problematik beim Pfarrfest schrieb: dass man bei machen Menschen ein Bedürfnis feststellen könne, den Benachteiligten einen Ausgleich zu verschaffen. »Die Kinder haben noch ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsgefühl«, sagte mir die zukünftige Lehrerin.6 Haben Erwachsene das nicht mehr? Zweifel sind zumindest angebracht. Nehmen wir das Prinzip der Leistungsgerechtigkeit und erinnern uns an den Fall der »Mannesmann«-Übernahme durch »Vodafone«. Klaus Esser hat seinerzeit für diese neunmonatige Tätigkeit eine Abfindung von 30 Millionen Euro bekommen, was einem Monatsgehalt von 3,3 Millionen Euro entspricht. Oskar Negt war völlig fassungslos: »Womit hat Esser das verdient? Als in der Gemeinde neben dem Ort, an dem das passiert ist, Vodafone einzog, sind sofort nach der Fusion Betriebe geschlossen worden, so dass der Bürgermeister dieses Ortes an Esser einen Brief geschrieben und darin gesagt hat, Herr Esser, wir haben 30 Millionen Defizit im Haushalt, wollen Sie nicht wenigstens 20 Millionen spenden, damit sich das reduziert? Ein Anstandsvorschlag, der aber gar nicht aufgenommen wird. Wo ist da eine Leistungsbeziehung? […] Angemessen! Leistungsgerecht!« (Negt 2005, 120 f.) Ganz klar »Nein!«, denn er hatte für diese Leistung selbst nichts geleistet, wie Walter Grasnick, ehemaliger Oberstaatsanwalt und Professor für Strafrecht, konstatiert. (Vgl. Grasnick 2006, 33) Die Frage bei der Leistungsgerechtigkeit ist nun die nach dem tertium comparationis, denn Esser fand die Entlohnung gerecht, wie er vor Gericht und anderswo kundtat – der Großteil der Bevölkerung nicht. Es gab in der Öffentlichkeit hörbare Entrüstung. Es muss demnach – außer bei Klaus Esser – einen inneren Maßstab geben, oder Essers Maßstab ist ein anderer. Walter Grasnick befürchtet in dieser Hinsicht gar das Heraufkommen von zwei Kulturen der Gerechtigkeit. (Vgl. ebd.) Wir sehen auf jeden Fall beruhigt, dass Erwachsene ebenfalls noch ein Gespür für Gerechtigkeit haben, denn Oskar Negt war nicht der Einzige, der entrüstet war. Es ging ein Aufschrei der Empörung durch die Republik, der uns zeigt, dass unser Moralsystem noch in Ordnung ist und funktioniert, denn Unmoral wird nicht stillschweigend hingenommen.
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64 | Jürgen Habermas und der Papst Wir müssen aber festhalten, dass wir ein Problem mit der Bestimmung dessen haben, was gleich ist. Uns fehlt das tertium comparationis, obwohl Gleichheit auf den ersten Blick so unbestechlich objektiv erscheint. Das macht es so schwer zu bestimmen, was wir unter Gleichheit verstehen. Gleichverteilung ist uns allen – könnte man mir entgegenhalten – als Gerechtigkeitsprinzip völlig evident. Um diese Evidenz zu belegen, führt der Philosoph Ernst Tugendhat sein sogenanntes Tortenbeispiel an. (Vgl. Tugendhat 1993, 373) Man könne beobachten, dass es bei einem Kindergeburtstag für alle selbstverständlich sei, dass die Torte in gleiche Stücke geteilt wird. Die Gleichheit ist uns heute so zur Selbstverständlichkeit geworden, dass man es begründen muss, wenn man davon abweicht. Kein Wunder: Abgesehen davon, dass sie traditionell zum Grundbestand von Juden- und Christentum gehört, erfahren wir in Platons Phaidon (75a) bereits, dass wir die Gleichheit schon kennen würden, bevor wir Gleiches wahrnähmen. Und Aristoteles war der Auffassung, dass derjenige gerecht sei, der ein Freund der Gleichheit ist. Und dies ist seit über 2000 Jahren für die Philosophen evident. Doch neuerdings gibt es – außer der von mir schon vorgetragenen – weitere Kritik am Egalitarismus. Man hält die Gleichheit inzwischen nicht mehr für so evident, sondern für problematisch. Was sind die Gründe dafür, dass die Gleichheit nicht umstandslos als Grundlage für Gerechtigkeit angesehen werden kann? Die Basler Philosophin Angelika Krebs stellt vier Typen gegenwärtiger Egalitarismuskritik vor (Krebs 2000, 8 f.): Zunächst wird dargetan, dass Gleichheitsherstellung nicht das ultimative Ziel der Gerechtigkeit sein könne. Die Wiener Philosophin Herlinde Pauer-Studer ist eine Vertreterin dieses ersten Kritiktyps, indem sie zeigt, dass Gleichheit ein abgeleiteter Wert ist oder Gleichheit nur ein »Nebenprodukt« der Gerechtigkeit. (Vgl. Pauer-Studer 2000, vgl. auch Schramme 1999, 172) PauerStuder ist unter Berufung auf Kant der Auffassung, dass Gleichheit einen instrumentellen Bezug zur Freiheit hat. Gleichheit werde nicht an sich angestrebt, sondern die verschiedenen Formen der Gleichheit garantierten, dass Menschen in Freiheit leben könnten. Alle Gleichstellungsmaßnahmen hätten letztlich das Ziel der Freiheitssicherung. Daneben weiß die amerikanische Philosophin Elizabeth Anderson von der Universität Michigan höchst plausibel zu argumentieren, dass Gleichheit ein abgeleite-
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5. Gerechtigkeit, globale und lokale | 65 ter Wert ist und Gleichstellung der Erzeugung von Freiheit für alle diene. »Gleiche sind nicht der willkürlichen Gewalt oder dem physischen Zwang anderer ausgesetzt. Unabhängig von willkürlichem physischem Zwang entscheiden zu können, ist eine der wesentlichen Bedingungen für Freiheit. Gleiche werden nicht von anderen marginalisiert. Sie haben deshalb die Freiheit, sich politisch zu engagieren; die wichtigsten zivilgesellschaftlichen Institutionen stehen ihnen offen. Gleiche sind nicht der Herrschaft anderer unterworfen: Sie sind nicht von deren Wohlwollen abhängig. Ihr eigener Wille bestimmt ihr Leben – und genau das ist Freiheit. Gleiche werden nicht von anderen ausgebeutet. Sie haben also die Freiheit, einen gerechten Preis für ihre Arbeit zu verlangen. Gleiche sind nicht Opfer des Kulturimperialismus: Sofern sie alle anderen respektieren, können sie nach ihren kulturellen Gewohnheiten leben. In einer Gemeinschaft Gleicher zu leben heißt deshalb, frei von Unterdrückung am Reichtum einer Gesellschaft teilhaben und an demokratischer Selbstbestimmung mitwirken zu können.« (Anderson 2000, 153 f.) Politische Gleichheitsbewegungen lehnen aus diesem Grunde Hierarchien zwischen den Menschen ab. Darum kann leicht der Eindruck entstehen, dass die Gleichheitsforderung das eigentliche Ziel sei. Doch das ist nicht der Fall, sondern sie zielen darauf ab, Freiheit herstellen zu können. – Nehmen wir das reale Beispiel der südafrikanischen Befreiungsbewegung. Nelson Mandela forderte die Gleichstellung von Weißen und Schwarzen einzig zu dem Zweck, die Freiheit für alle herzustellen. (Vgl. Mandela 1995, 204) Und erinnern wir uns an den vorhin zitierten Theodor Mommsen: »Ihr kennt es alle, das demokratische Evangelium, Gleichheit vor dem Gesetze! Hört es und bewahrt es wohl, ihr habt darin den Kern der Freiheit.« (Mommsen 1849, 16) – Gleichheit ist diesem Kritikpunkt zufolge also gar nicht das Telos, wie es uns auf den ersten Blick erscheinen mag, wenn wir an das von Tugendhat angeführte Tortenbeispiel denken. Gleichheit ist in der Debatte um soziale und politische Gerechtigkeit lediglich zielführend und dient dazu, den hohen Wert der Freiheit herzustellen und zu garantieren. Ein zweiter Kritikpunkt an dem Gedanken, dass der Inhalt der Gerechtigkeit Gleichheit sei, wird ebenfalls von Elizabeth Anderson angeführt. Er besagt, dass strikte Gleichheit aus drei Gründen inhuman sei:
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66 | Jürgen Habermas und der Papst – Menschen, die ihr Elend selbst verschulden, würden im Stich gelassen. Sie würden als verantwortungslose Menschen abgestempelt, und darum keine Hilfe des Staates verlangen können. (Vgl. Anderson 2000, 144) – Zweitens: Der Sozialstaat begegne denen, die als von Natur aus minderwertig gebrandmarkt sind, mit herablassender, patriarchaler Geste. (Vgl. ebd.) – Drittens: Wieder andere würden durch die Regularien des Staates entmündigt. Letzteres ist nun einer der Hauptkritikpunkte von Elizabeth Anderson und auch des Kieler Philosophen Wolfgang Kersting, einem deutschen Egalitarismuskritiker. Damit das egalitäre Programm überhaupt durchgeführt werden könne, müsse der gläserne Bürger geschaffen und eine totalitäre Informationsbeschaffungsbürokratie etabliert werden. (Vgl. Kersting 2000, 5) Nehmen wir zur Erläuterung dieser Kritik ein von Anderson angeführtes Beispiel: »Um festzustellen, ob ein Raucher, der diese Gewohnheit als Soldat angenommen hat, auf Staatskosten eine Lungenkrebsbehandlung bekommen soll, müssen andere Menschen beurteilen, ob er in Anbetracht des sozialen Drucks, dem er von Seiten seiner Kameraden und Vorgesetzten in der Armee ausgesetzt war, in Anbetracht der angstmindernden Wirkung des Rauchens in extrem belastenden Kampfsituationen und unter Berücksichtigung der Möglichkeiten, die ihm angeboten wurden, seine Gewohnheit nach dem Krieg aufzugeben usw., eine größere Entschiedenheit gegen das Rauchen hätte an den Tag legen müssen. Friedrich von Hayek hat die wesentliche Schwierigkeit solcher verdienstbestimmter Gratifikationssysteme identifiziert: Um Anspruch auf eine bestimmte wichtige Leistung zu erheben, müssen sich Menschen der Beurteilung anderer unterwerfen, wie sie ihre Chancen hätten nutzen sollen, statt ihrem eigenen Urteil zu vertrauen.« (Anderson 2000, 146 f.; Hervorhebung nicht im Original) Diese auf die amerikanischen Verhältnisse zugeschnittenen Beispiele, die durch das kriegerische Engagement der Amerikaner in Vietnam und neuerdings im Irak verursacht worden sind, kann man in anderer Weise auf unsere Verhältnisse beziehen. Wer sich einmal mit einem Hartz IV-Empfänger unterhalten hat, weiß, was ich meine. Dieser muss sich, will er seinem Antrag auch nur die geringste Chance auf Bewilligung
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5. Gerechtigkeit, globale und lokale | 67 geben, vollkommen durchleuchten lassen. Selbst die persönlichen Neigungen, Bedürfnisse und Gewohnheiten bleiben nicht im Verborgenen. Das ist es, was von Wolfgang Kersting mit dem Attribut des »gläsernen Bürgers« belegt wird. Der Kritikpunkt zielt auf ein möglicherweise zu etablierendes Kontrollsystem, das eingeführt werden müsse, um wirklich alle gleich behandeln zu können. Ein solches System erinnert an Orwell’sche Visionen. Und das ist es, was wir wirklich nicht wollen können. Die dritte Art von Kritik am Egalitarismus hat die Unterschätzung der Komplexität des Lebens durch egalitäre Philosophen zum Gegenstand: »Der Glaube, man könne diese Kultur im Wesentlichen über ein oder zwei Prinzipien, das Gleichheitsprinzip in Kombination mit dem Prinzip der Wohlfahrtssteigerung, einfangen, zeugt von der Philosophenkrankheit der theorieverliebten Überheblichkeit gegenüber der Wirklichkeit.« (Krebs 2000, 27) Das ist ein alter Vorwurf gegen die Philosophie, der den Großteil der Philosophen in den Mauern der Universität durch die Jahrhunderte gänzlich unbeeindruckt ließ. Darum ist das von dieser Philosophie entwickelte Gerechtigkeitsparadigma von keiner Kontextrelativierung angekränkelt. Im Gegensatz dazu betont Wolfgang Kersting, dass wir »die Handlungssituation betrachten und den Gegebenheiten Rechnung tragen« müssten (Kersting 2000, 395), um bestimmen zu können, was mitmenschliche Solidarität verlangt. »Wir müssen sowohl die je besondere Bedürfnislage der anderen wie auch unsere kontingenten Mittel und Fähigkeiten in Betracht ziehen.« (Ebd.) Das fordere nach Kersting die mitmenschliche Solidarität, wohingegen der abstrakte Gerechtigkeitsgesichtspunkt mit seiner prinzipiellen Allgemeinheit der Willkür entgehen will. Damit handle man sich das Verbleiben im »virtuellen Argumentationsraum« ein, »in dem der Theoretiker bis zur Erschöpfung« arbeite – wie Kersting formuliert –, ohne zur praktizierten Solidarität kommen zu können. (Vgl. ebd.) Der vierte Einwand ist der der Nichtrealisierbarkeit von Gleichheit, weil das menschliche Leben zu kontingent sei, z.B. in Gestalt eines frühen Todes, eines vorzeitigen Alterns, einer schleichenden Krankheit, eines schwierigen Kindes. »Angesichts dessen erscheint schon der Versuch einer flächendeckenden Egalisierung wie ein Sandkastenspiel oder eine realitätsfremde
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68 | Jürgen Habermas und der Papst Anmaßung.« (Krebs 2000, 30) Dieser Einwand hängt eng mit dem zusammen, was zum dritten Kritikpunkt gesagt worden ist. Die Frage ist nun, was die Kritiker an die Stelle von Gleichheit zur Basierung der Gerechtigkeit setzen wollen, denn auf Gerechtigkeit, darin sind sich alle einig, will niemand verzichten. »Gerechtigkeit ist ein ebenso hohes wie unbestrittenes politisches und moralisches Ideal. Wenn es um die Verwirklichung von Gerechtigkeit und die Beseitigung von Ungerechtigkeit geht, wird man schlichtweg niemanden finden, der dagegen ist – jedenfalls niemanden, der das öffentlich zugibt. Wir wollen alle in einer Gesellschaft leben, in der es mit gerechten Dingen zugeht.« (Boshammer 2002, 9) Wolfgang Kersting nennt seine Alternativposition zur gleichheitsbasierten Gerechtigkeit »politische Solidarität«. Nach meinem Verständnis meint Kersting, dass ein einzelner Mensch in seiner Situation unsere Solidarität in der Weise erfahren sollte, dass wir seine spezifische Lage zu verstehen suchen. Als Beispiel noch einmal: Beantragt jemand Hartz IV, muss er den Regularien zufolge nicht nur seine eigenen Vermögensverhältnisse offenlegen und belegen, sondern auch die Vermögensverhältnisse derjenigen, die mit ihm zusammen eine sogenannte »Bedarfsgemeinschaft« bilden. Das sind alle, die mit ihm zusammen in einem Haushalt leben. Das könnten die Eltern und die minderjährigen Kinder sein. Hat nun dieser Antragsteller ein besonders unentspanntes Verhältnis zu seinen Eltern, sollte das berücksichtigt werden. Andere Antragssteller könnten beispielsweise keine Probleme damit haben, Kopien der Sparbücher ihrer Eltern einzufordern. Kurz: Eine besondere Situation erfordert unsere individuelle Solidarität. Die abstrakte Gleichmachung soll auf diese Weise vermieden werden. Elizabeth Anderson nennt ihre Alternative die der »demokratischen Gleichheit«. Der Kern des Konzepts ist die Basierung der Gerechtigkeit auf menschlicher Würde. Die Güter seien nach Prinzipien und Verfahren zu verteilen, die der Würde des Menschen entsprechen sollten. Gerecht sei eine Verteilung, die es jedem ermögliche, in Würde zu leben. (Vgl. Anderson 2000, 152) Mit dieser Forderung unterscheidet sie sich nicht von Angelika Krebs. Diese nennt ihr Gerechtigkeitskonzept ein humanistisches. Angelika Krebs stellt – wie Elizabeth Anderson – die Menschenwürde ins Zentrum der Gerechtigkeit und schreibt: »Eine gerechte
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5. Gerechtigkeit, globale und lokale | 69 Gesellschaft ist danach eine Gesellschaft, die allen ihren Mitgliedern ein menschenwürdiges Leben ermöglicht. Niemand soll unter die Schwelle eines anständigen Lebens gedrückt werden. Jeder soll genug haben. Ungleichheit oberhalb der Schwelle des Genug erachtet der Humanismus nicht per se als ungerecht.« (Krebs 2005, 37) Eine in diesem Sinne gerechte Gesellschaft habe »dafür zu sorgen, dass niemand unter elenden Umständen existieren muss. Jeder muss Zugang haben zu: – – – – – – – –
Nahrung Obdach Sicherheit medizinischer Grundversorgung persönlichen Nahbeziehungen sozialer Zugehörigkeit Individualität privater wie politischer Autonomie.
Allen muss ein menschenwürdiges Leben effektiv ermöglicht werden, was nicht heißt, dass nicht alle, etwa durch Arbeit, auch ihren Teil dazu zu leisten haben, dass sie ein menschenwürdiges Niveau erreichen. Im nonegalitaristischen Humanismus weitet sich damit der Fokus von negativer Freiheit auf Menschenwürde.« (Ebd., 40) Die Egalitarismuskritiker sehen Gerechtigkeit hergestellt, wenn allen Menschen ein würdiges Leben ermöglicht wird. Dabei kann es ruhig zu Ungleichheiten kommen. Die Balkenwaage, die die allseitige Gleichheit misst, wird durch die Küchenwaage ersetzt, auf der es einen grünen Bereich gibt. Nach Auffassung der Nonegalitaristen sollten alle Menschen den grünen Bereich des Genug erreichen. Ungleichheiten außerhalb des grünen Bereichs gelten den Nonegalitaristen nicht als ungerecht. Wenn alle genug haben, ist es nicht verwerflich, wenn mancher mehr als genug hat. Menschen dürfen jedenfalls nicht in absoluter Armut, d.h. unwürdig leben. Menschenwürde ist hier der Maßstab für Gerechtigkeit. Damit eröffnet sich für einen Philosophen ein neues Problemfeld, denn der Begriff der Menschenwürde ist nicht weniger umstritten als der Begriff der Gerechtigkeit. Der Begriff der Menschenwürde steht seit Jahrzehnten ebenfalls im Zentrum der
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70 | Jürgen Habermas und der Papst Diskussion, der ernsthaften philosophischen wie der populistischen, denn er wird gegen andere politische Auffassungen gern als Totschlagsargument verwendet, bis hin zur Debatte, ob die befruchtete Eizelle Menschenwürde besitze. »Und es ist ebenso wenig verwunderlich, wenn im Streit um die Zulässigkeit […] der Sterbehilfe gelegentlich sogar beide Seiten gleichzeitig versuchen, durch Berufung auf die Menschenwürde den Sieg davonzutragen. Die Menschenwürde eignet sich vorzüglich als ideologische Waffe!« (Hoerster 2002, 24) Einen plausiblen Zugang zu dem, was Menschenwürde ist, bietet mir der Argumentationsweg des Züricher Philosophen Peter Schaber. (Vgl. Schaber 2003b) Wie nähert man sich dem Begriff der Menschenwürde am besten an, um dann weiter klären zu können, was Menschenwürde ist? Peter Schaber geht naheliegenderweise von den paradigmatischen Fällen der Verletzung von Menschenwürde aus. (Vgl. ebd., 124) »Dazu zählen in der Regel Folter oder ein Leben in absoluter Armut.« (Ebd., 124; Balzer u.a. 1998, 28) Was passiert in diesen Situationen? Menschen werden derartig erniedrigt und verletzt, dass sie die Selbstachtung verlieren. Gehen wir in meinem Kontext der sozialen Gerechtigkeit von der Situation der absoluten Armut aus und betrachten die Menschen, die davon betroffen sind: »Wenn man im Winter durch die Straßen einer beliebigen größeren deutschen Stadt schlendert und die Obdachlosen vor den nur bis Ladenschluss geheizten Eingangsbereichen der Kaufhäuser sitzen sieht, […] oder montags morgens die Gänge des Sozialamtes« betritt (Boshammer 2002, 22), und in die Gesichter der dort wartenden Menschen blickt, dann weiß man, was es heißt, die Selbstachtung zu verlieren. Um Selbstachtung haben zu können, nennen Peter Schaber und andere einige Voraussetzungen, die man haben muss. Es bedarf dazu einer gewissen kognitiven Kompetenz: Man muss ein Bewusstsein seiner selbst haben. Außerdem ein praktisches Selbstverständnis (vgl. Balzer u.a. 1998, 29): – Man muss ein Selbstverständnis dessen haben, was man sein will. – Man muss wissen, wie man behandelt werden will. Dies alles kann man bei den Menschen, die ich in meinen Be-
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5. Gerechtigkeit, globale und lokale | 71 spielen erwähnt habe, voraussetzen. Sie sind in ihrer Menschenwürde verletzt und werden damit ungerecht behandelt, weil sie erniedrigt werden. Wir haben gesehen, dass wir mit dem Begriff der Gleichheit allein nicht weiterkommen. Menschen sind nun einmal verschieden, hieß der vierte Einwand gegen die gleichheitsbasierte Gerechtigkeit. Sie kommen aus unterschiedlichen sozialen Verhältnissen, sind in verschiedenen Ländern geboren, haben unterschiedliche Hautfarben, haben Kinder und andere nicht, sind anfällig für Allergien und andere nicht. Doch in einem sind sie alle gleich: dass sie Menschenwürde besitzen, die sie nicht verlieren können, solange sie Menschen sind. Diese Würde kann verletzt werden. »Dass die Natur oder das, was wir gemeinhin Schicksal nennen, den einen reich beschenkt und die anderen leer ausgehen lässt, ist bedauerlich, aber nicht ungerecht.« (Boshammer 2002, 15) Wohl aber sind die sozialen Folgen ungerecht, wenn sie die Würde der Menschen verletzen. In dieser Hinsicht, dass alle Menschen Würde besitzen, sind sie gleich. Das ist uns zwar allen klar, und es ist evident, doch es »ist alles andere als banal«. (Ebd., 22) Die sozialen Folgen des Schicksals der einzelnen Menschen sind ungerecht – und das kann man ändern. Die Verletzung der Menschenwürde ist hier der Maßstab. Insofern stimme ich der Konzeption der Egalitarismus-Kritikerin Angelika Krebs zu. Welche Stellungnahmen zur Menschenwürde gibt es nun von unseren beiden Protagonisten, Jürgen Habermas und Benedikt XVI.? Von Letzterem gibt es keine zusammenhänge Abhandlung, die sich explizit mit der Menschenwürde beschäftigt. In seiner Ansprache am 19. August 2005 beim Besuch der Synagoge in Köln heißt es dazu: »Vor Gott besitzen alle Menschen die gleiche Würde, unabhängig davon, welchem Volk, welcher Kultur oder Religion sie angehören. Aus diesem Grund spricht die Erklärung Nostra aetate auch mit großer Hochachtung von den Muslimen […] und den Angehörigen anderer Religionen […]. Aufgrund der allen gemeinsamen Menschenwürde ›verwirft die Kirche jede Diskriminierung eines Menschen oder jeden Gewaltakt gegen ihn um seiner Rasse oder Farbe, seines Standes oder seiner Religion willen‹ als einen Akt, der im Widerspruch zu dem Willen Christi steht.« Diese Einlassung unterscheidet den Papst diametral von religiösen Fanatikern, die denen, die sich nicht in dogma-
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72 | Jürgen Habermas und der Papst tischer Weise zu ihrer Religion bekennen, das Menschsein einfach absprechen und sich selbst das Recht zusprechen, andere umbringen zu dürfen, weil sie einem Auftrag Gottes folgten. Menschen, die nicht ihrem Glauben oder ihrer Rasse angehören, sind in ihren Augen keine Menschen. Ich hatte ja schon gemutmaßt, dass der Pontifex eine leise Kritik daran äußerte, die Gerechtigkeit allein auf Gleichheit zu basieren. Darum ist es nicht verwunderlich, dass das Kirchenoberhaupt die Verteidigung der Menschenwürde ins Zentrum stellt. In seiner ersten Enzyklika nimmt er ebenfalls ganz im Sinne der Auffassung, die wir von Angelika Krebs kennengelernt haben, Stellung, wenn er im § 20 sagt: »Innerhalb der Gemeinschaft der Gläubigen darf es keine Armut derart geben, daß jemandem die für ein menschenwürdiges Leben nötigen Güter versagt bleiben.« Damit steht er in der Tradition der Enzykliken seiner Vorgänger. Im § 32 der Enzyklika Rerum Novarum (1891) von Leo XIII. lesen wir ebenfalls, dass keine öffentliche Gewalt sich ungestraft an der Würde eines Menschen vergreifen dürfe. Wie nun sieht es mit dem anderen Protagonisten, mit Jürgen Habermas aus? Er führt das, was er unter Menschenwürde versteht, näher aus: »Wie ich zeigen möchte, ist ›Menschenwürde‹ im streng moralischen und rechtlichen Verstande an diese Symmetrie der Beziehungen gebunden. Sie ist nicht eine Eigenschaft, die man von Natur aus ›besitzen‹ kann wie Intelligenz oder blaue Augen; sie markiert vielmehr diejenige ›Unantastbarkeit‹, die allein in den interpersonalen Beziehungen reziproker Anerkennung, im egalitären Umgang, von Personen miteinander eine Bedeutung haben kann.« (Habermas 2002a, 62) Habermas setzt die Menschenwürde zur Gleichheit in Beziehung. Das auf reziproke Anerkennung gestellte Sozialverhältnis ist für ihn die Basis für die Realisierung von Menschenwürde. Erst in dem so gestalteten Sozialverhältnis komme den Menschen die Menschenwürde zu. An dieser Auffassung ist Kritik zu üben. Wenn den Menschen die Menschenwürde nicht qua Menschsein zukommt, sondern erst in einem auf Gleichheit abgestellten Sozialverhältnis, dann würde den südkoreanischen Frauen, die ich in meinem Ausgangsbeispiel in der Einleitung angeführt habe, gar keine Menschenwürde zukommen können. Sie könnte ihnen erst zugesprochen werden, wenn sie in einem von Habermas beschriebenen Sozialverhältnis leben würden. Doch ist die Ungleichbe-
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5. Gerechtigkeit, globale und lokale | 73 handlung gerade das, was ihr unverschuldetes Lebensverhältnis ausmacht. Und deshalb sollte ihnen keine Menschenwürde zukommen? Es gibt gute Gründe, den Menschen von ihrer Geburt an Menschenwürde zuzusprechen. Kleinstkinder haben ein Bewusstsein ihrer Selbst, wie der Säuglingsforscher Daniel Stern gezeigt hat. (Vgl. Stern 1996, 47 ff.) Das haben ferner geistig behinderte Menschen. Es mag in beiden Fällen am praktischen Selbstverständnis mangeln, was sowieso ein graduelles Phänomen ist. Doch es gibt keinen Grund, anzunehmen, sie könnten nicht erniedrigt werden. Ihre Menschenwürde kann gleichermaßen verletzt werden. »Menschenwürde ist etwas, das verletzt wird, wenn eine Person erniedrigt wird.« (Balzer u.a. 1998, 31) Ich will nun noch einmal die Ausgangsfälle ansehen. Erinnern wir uns, dass sich die Kinder aus den reichen Elternhäusern Kappen leisten können, die sie dazu berechtigen, alle Vergnügungen bei dem Pfarrfest kostenlos in Anspruch zu nehmen. Ich hatte gesagt, dass alle Menschen unterschiedlich sind, dass man an dem Schicksal nichts ändern kann, wohl an den sozialen Folgen. Dass bei der Gelegenheit, die in dem Ausgangsfall geschildert wird, die Kinder aus den armen Elternhäusern beschämt und dadurch in ihrer Würde verletzt werden, ist nicht von der Hand zu weisen, wenn man die von Peter Schaber zugrunde gelegten Kriterien für die Möglichkeit der Verletzung der Menschenwürde zu Rate zieht. Die benachteiligten Kinder haben ein Bewusstsein ihrer selbst. Sie wissen, wer sie sein wollen, und sie wissen, wie sie behandelt werden wollen. Die Kinder verfügen demnach über Selbstachtung, die durch die Regularien beim Pfarrfest zweifelsfrei verletzt wird. Darum schlägt Rainer Erlinger, der diese Fälle freitags in dem Magazin der Süddeutschen Zeitung bearbeitet, meines Erachtens hier etwas Richtiges vor, um an den Folgen in dem konkreten Fall etwas ändern zu können. Er schreibt: »Wie viele Kinder kommen dort hin? Fünfzig? Gar hundert? Der Mützenverkauf erbringt also vielleicht 200 Euro. Sind die unverzichtbar? Und wenn ja: Sie schreiben, dass in Ihrer Pfarrei ein Wohlstandsgefälle bekannt ist, also auch ein wichtiges Thema darstellen sollte. Findet sich da niemand, seien es die Gemeinde, Sponsoren oder Privatpersonen, die bereit wären, diesen Betrag wenigstens teilweise zu übernehmen und so das Problem zu entschärfen?« Diese rhetorisch gemeinten Fragen geben an, wie man in der Realität Gerechtigkeit herstellen
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74 | Jürgen Habermas und der Papst kann. Mir gefällt diese Intervention von Rainer Erlinger deshalb besonders gut, weil daran deutlich wird, wie man im Kleinen und ganz praktisch an den Ungerechtigkeiten etwas ändern kann. Ja, diese bestechend einfache Lösung beschämt diejenigen, von denen Wolfgang Kersting sagte, dass sie bis zur Erschöpfung an einer Gerechtigkeitstheorie arbeiteten, ohne je zur praktizierten Solidarität zu kommen. Manche Zeitgenossen kommen vor lauter Lamentieren über ungerechte Verhältnisse selbst nie zu einfachen praktischen Interventionen. Nun zur globalen Dimension: Die in meiner Einleitung erwähnten südkoreanischen Frauen leben in absoluter Armut, wie Peter Schaber das nennt. Sie sind in ihrer Menschenwürde verletzt. Sie sind schon ungerecht behandelt worden, d.h., sie leben in Ungerechtigkeit. Diese Verletzung wird größer, indem sie, um aus der absoluten Armut herauszukommen, die ihnen zugemuteten Angebote annehmen. Auf diese Weise werden sie in ihrer Menschenwürde mehr und weiter verletzt. Sie verletzen sich nicht selbst, sondern sie werden verletzt, denn man verschärft die sozialen Folgen. Die Frauen leben nicht nur in Armut, sondern müssen sich außerdem weiter und weiter dem Diktat der Reichen und der reichen Länder unterwerfen. Die benachteiligten Frauen haben wie die Kinder ein Bewusstsein ihrer selbst. Sie wissen, wer sie sein wollen, und sie wissen, wie sie behandelt werden wollen. Ich unterstelle das. Was wäre, wenn diese Frauen nur ein Bewusstein ihrer selbst haben? Nehmen wir an, die Frauen würden ihre Interessen nicht kennen und wüssten demnach nicht, wer sie sein wollen könnten, und sie wüssten ebenso wenig, wie sie behandelt werden könnten. Ihre Menschenwürde könnte dann nicht verletzt werden, wenn wir die drei eben genannten Kriterien zur Voraussetzung der möglichen Verletzung von Menschenwürde nehmen. Dieses Ergebnis würde uns unzufrieden zurücklassen. Juristen bieten darum in solchen Fällen gern eine Ersatzargumentation an. Dieser Übung will ich folgen. Peter Schaber gibt ein länger ausgeführtes Beispiel, mit dem ich meine Ersatzargumentation beginnen will: »Betrachten wir die Stellung der Frauen im ländlichen Indien. Das Verhältnis von Mann und Frau ist durch große Ungleichheiten charakterisiert. Nun weist Amartya Sen darauf hin, daß trotz der großen Ungleichheiten die Frauen sich gegen ihre Situation in keiner Weise auflehnen. Kann man daraus den
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5. Gerechtigkeit, globale und lokale | 75 Schluß ziehen, daß es ihnen gut geht? Die Fakten sprechen eine klare Sprache: Die Frauen sind im Vergleich zu den Männern schlechter gestellt in bezug auf medizinische Versorgung, in bezug auf die Ernährung und natürlich auch in bezug auf Erziehung. Die Folgen davon sind: Die Frauen haben eine geringere Lebenserwartung, ihr Gesundheitszustand ist schlechter. Viele von uns sind hier der Ansicht, daß man durch eine rechtliche Gleichstellung das Leben dieser Frauen verbessern würde, und dies unabhängig davon, ob die Frauen nun entsprechende Wünsche haben oder nicht. Dieser Intuition, die viele von uns teilen, scheint die Theorie objektiver Interessen zu entsprechen: Bestimmte Dinge wären im objektiven Interesse dieser Frauen und würden dementsprechend ihr Leben verbessern, ob sie nun die entsprechenden Wünsche haben oder nicht.« (Schaber 1997, 134) Wären sie in diesem Falle – so die Schlussfolgerung von Schaber – über ihre objektiven Interessen informiert, dann würden sie wünschen, besser gestellt zu sein. Man kann hier einen mutmaßlichen Willen unterstellen, den die Frauen haben. Wären sie dann in ihrer Menschenwürde verletzt, wenn sie kein Bewusstsein von dem haben, wer sie sein wollen und wie sie behandelt werden wollen? In ihrer Menschenwürde könnten sie nach der Einlassung von Schaber nur verletzt sein, wenn sie ein entsprechendes Bewusstsein haben. Das gäbe denjenigen, die Menschenwürde aktiv verletzen, eine bequeme Argumentation und Ausrede an die Hand. In diesem Fall zieht die von mir im Sinne juristischer Denkweise herangezogene Ersatzargumentation: Selbst wenn sie kein subjektives Bewusstein davon haben, wer sie sein und wie sie behandelt werden wollen, gibt es objektive Interessen in diesen beiden Hinsichten. Diese Ersatzargumentation ist unbedingt erforderlich, um der scheinbaren Legitimation von Menschenrechtsverletzern vorzubeugen, die ins Feld führen, dass die Unterdrückten es ja gar nicht anders wollten, dass sie nichts anderes kennen würden, und sie sich deshalb in ihrer Abhängigkeit wohl fühlen würden. Ein Argument aus dem amerikanischen Sezessionskrieg lautete bekanntlich: »Die Sklaven wollen so leben und sind zufrieden dabei, denn die kennen es gar nicht anders.«
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6. Die Nächstenliebe
Nun, nach der Erörterung der Gerechtigkeit, komme ich zur Nächstenliebe, von der der Papst meint, dass diese zutiefst menschliche Fähigkeit in der heutigen rechnenden und berechnenden, an ökonomisch-merkantilem Kalkül orientierten Welt verloren gegangen ist. Dieser Verlust ist es in erster Linie, der ihn vom Werterelativismus reden lässt. Ich beginne mit einem Zitat von Jürgen Habermas: »Die christliche Liebesethik wird einem Element der Hingabe an den leidenden Anderen gerecht, das […] in einer intersubjektivistisch begriffenen Gerechtigkeitsmoral zu kurz kommt. Diese beschränkt sich nämlich auf die Begründung von Geboten, denen jeder unter der Bedingung folgen soll, daß sie auch von allen anderen befolgt werden. […] Ein supererogatorisches7 Handeln, das über das hinausgeht, was auf der Basis der Gegenseitigkeit jedermann zugemutet werden kann, bedeutet die aktive Aufopferung legitimer eigener Interessen für das Wohl oder die Minderung des Leidens des hilfsbedürftigen Anderen.« (Habermas 2001, 192 f.) Eine solche supererogatorische Moral haben wir in der Gegenwartsgesellschaft nicht. Sie ginge über das hinaus, was Habermas als Gerechtigkeit ansieht, wie ich oben bei der Darstellung seiner Gerechtigkeitsauffassung gezeigt habe, denn die Supererogation ist mehr als das reziproke Verhältnis von moralischen Rechten und Pflichten. Wir haben derzeit eine der Habermas’schen Gerechtigkeitsvorstellung entsprechende Moral der wechselseitigen Anerkennung, die dem Tauschprinzip nachgebildet ist: Wir sind nur zu dem verpflichtet,
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78 | Jürgen Habermas und der Papst was wir im umgekehrten Fall an Moralleistung von unserem Gegenüber erwarten können. So viel zum gegenwärtigen Stand. Doch was ist mit Supererogation gemeint? Die Fundstelle dazu ist in der Bibel das Gleichnis vom barmherzigen Samariter.8 Es ist vielleicht nicht unwichtig, sich dieses Beispiel – obwohl überaus bekannt, bekannter als manch anderes Gleichnis aus der Bibel – noch einmal im genauen Wortlaut zu vergegenwärtigen, zumal der Papst in seiner ersten Enzyklika, auf die ich im nächsten Kapitel eingehen werde, mehrfach darauf Bezug nimmt und betont, dass es der Maßstab für die kirchliche Liebestätigkeit bleiben muss (vgl. Deus Caritas Est, § 25b): »Ein Mann ging von Jerusalem nach Jericho hinab und wurde von Räubern überfallen. Sie plünderten ihn aus und schlugen ihn nieder; dann gingen sie weg und ließen ihn halbtot liegen. Zufällig kam ein Priester denselben Weg herab; er sah ihn und ging weiter. Auch ein Levit kam zu der Stelle; er sah ihn und ging weiter. Dann kam ein Mann aus Samarien, der auf der Reise war. Als er ihn sah, hatte er Mitleid, ging zu ihm hin, goß Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie. Dann hob er ihn auf sein Reittier, brachte ihn zu einer Herberge und sorgte für ihn. Am andern Morgen holte er zwei Denare hervor, gab sie dem Wirt und sagte: Sorge für ihn, und wenn du mehr für ihn brauchst, werde ich es dir bezahlen, wenn ich wiederkomme.« (Luk 10, 30-35) Wenn man sich die einzelnen Schritte ansieht, kann man zu dem Urteil kommen, dass die Hilfe, die dem Verletzten zuteil wird, das Verbinden der Wunden und die Unterbringung in der Herberge, eine Pflicht ist, die wir in unserem auf Wechselseitigkeit gestellten moralischen Pflichtenkatalog ebenfalls haben. Doch der Samariter geht noch über diese seine Pflicht hinaus. Er gibt dem Wirt Geld und sorgt sich um die Zukunft des Verletzten, weil er sich verbürgt, für ihn zu bezahlen, falls es mehr kosten würde. Warum? Er ist dazu nicht verpflichtet, hat mit dem Mann so wenig zu tun wie der Wirt. Der Samariter könnte genauso gut sagen: »So, jetzt habe ich meine Pflicht erfüllt und gehe weiter meiner Wege«, und dem Wirt die weitere Sorge überlassen. Nein, der Samariter fühlt sich dem Verletzten gegenüber als der Nächste. Das ist doch das Bemerkenswerte an diesem Gleichnis und zeichnet es als das anschaulich machende Beispiel für selbstlose Nächstenliebe aus, bei der für die Leistung keine Gegenleistung erwartet wird. Das haben
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6. Die Nächstenliebe | 79 Kirchenväter wie Thomas von Aquin als das zutiefst Menschliche angesehen, das, wonach ein Mensch strebt und streben sollte, nämlich »ein immer besserer, tugendhafterer, immer mehr ein Mensch der ›amicitia caritatis‹ zu werden«. (Ilien 1975, 224) Letzteres entspricht dem Gedanken des Aufklärungsphilosophen Immanuel Kant in seiner Metaphysik der Sitten9, der von einer Pflicht des Menschen gegen sich selbst spricht, die in der Weise realisiert wird, dass man sich in moralischer Hinsicht vervollkommnen, also tugendhaft, »rechtschaffen und gewissenhaft« werden sollte, so dass andere ihn für »achtungswert« halten. (Menzer 1924, 170; vgl. auch Ross 2002, 21) Es gibt ein breites Spektrum der Interpretation dessen, was unter Nächstenliebe zu verstehen ist. Die eine Version ist, dass man keine Gegenleistung erwarten darf für seine Hilfe, und diese Hilfe »ohne Rücksicht auf jegliche Kalkulation von Gewinn und Verlust, Belohnung und Strafe« leistet. (Michalski 2005, 7) Diese so verstandene Nächstenliebe durchbricht – wie Adorno sagt – im Verhältnis zum anderen Menschen den Gedanken des Äquivalententauschs. (Vgl. Adorno 1979, 221) Die andere Seite des Spektrums der Interpretation des Gebots der Nächstenliebe fordert die Selbstaufopferung nach dem Beispiel von Mutter Teresa. Sie hatte die Fähigkeit, sich selbst für den anderen zu opfern und sich selbst dabei ganz und gar aufzugeben. Michalski zitiert Papst Johannes Paul II., der im Liebesgebot ein Gebot sieht, »das danach verlangt, auf sich zu verzichten … ein Gebot, das alles menschliche Maß übersteigt« (Michalski 2005, 7) und – so könnte man anmerken – den einzelnen Menschen, in seiner Fähigkeit zu lieben, überfordert. Wir stellen also eine weite Skala von Auslegungen des Nächstenliebegebotes fest, auf der es noch eine Reihe von Zwischenstationen gibt. Zur christlichen Auffassung von Nächstenliebe hat Adorno ernst zu nehmende Anmerkungen gemacht. Diese Art von Nächstenliebe bestehe darin, dass man jeden Menschen »um Gottes Willen und in einem Gottesverhältnis liebt«. (Adorno 1979, 219) Nachdruck werde dabei auf die abstrakte Allgemeinheit gelegt, wobei das Objekt der Liebe, der konkrete Einzelne, gleichgültig sei. Kierkegaards Exegese des Liebesgebots, der Adorno sich widmet, zielt auf den Menschen schlechthin, »ohne Ansehung seiner Beschaffenheit, auch ohne Ansehung irgendwelcher natürlicher Neigungen zu einem bestimmten Men-
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80 | Jürgen Habermas und der Papst schen«. (Ebd.) Man kann Adornos Kritik durch einen Hinweis auf den platonischen Dialog Menon erläutern. In diesem Dialog fordert Sokrates den Menon auf, »irgendeinen« von seinen Dienern herbeizurufen, wen immer Menon wolle. Sokrates könne an jedem beliebigen Sklaven den Akt der Anamnesis demonstrieren. (Vgl. Menon 82a f.) Menon wählt dann einen Jungen aus, der von Sokrates für sein Experiment instrumentalisiert wird. Ebenso beliebig ist der Nächste in dem so verstandenen und von Adorno kritisierten Sinne, auf den sich der Christenmensch liebend beziehen soll. Der Begriff des Nächsten wird auf die Feinde und damit letztlich auf alle Menschen ausgeweitet. »Daher bezieht [die Nächstenliebe] sich auf den Fernsten ebenso wie auf den Nächsten.« (Ebd., 220) Wohingegen wir in Lev 19, 18 lesen, dass mit den Nächsten nur diejenigen gemeint sind, die dem eigenen Volke angehören. Der Herr sagt aber weiter: »Der Fremde, der sich bei euch aufhält, soll euch wie ein Einheimischer gelten, und du sollst ihn lieben wie dich selbst.« (Lev 19, 34) Wie ich weiter oben ausführte, gibt es andere Stellen in der Hebräischen Bibel, die den Feind als einen zu Liebenden mit einbeziehen. Die Ausweitung des Nächstenliebegebotes auf die Feinde und damit auf alle Menschen steht bei Adorno zur Debatte. Wenn nun das Objekt der Liebe der abstrakte Andere ist, der nicht als konkretes Gegenüber mit bestimmten Eigenschaften gekennzeichnet ist, sondern profillos und damit eigentlich nichts sagend – wenn es also gleichgültig ist, wer es ist –, dann kann es nur noch auf das Subjekt der Liebe ankommen. Entscheidend sind in dem Fall »einzig subjektive Qualitäten des Liebenden wie Uneigennützigkeit, grenzenloses Vertrauen, Unscheinbarkeit, Barmherzigkeit auch in realer Ohnmacht, Selbstverleugnung und Treue«. (Adorno 1979, 219) Abgesehen davon, dass dies eine Überforderung für den Liebenden ist (vgl. ebd., 226), wird bei der so verstandenen Art der Nächstenliebe »der Geliebte nicht nur als Objekt, sondern als Subjekt entwertet«. Er hat im Grunde gar nichts mehr von dem, was das Gegenüber menschlich macht. Und darum kommt bei Adorno die entscheidende Wende, wenn er sagt, dass die Allmenschlichkeit die Schwelle zur Menschenverachtung, ja zur Lieblosigkeit überschreite. Hier könne man den Goethe’schen Satz anführen: »Wenn ich dich liebe, was geht’s dich an?« (Ebd., 221) Die Konsequenz für Adorno ist, dass
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6. Die Nächstenliebe | 81 es bei dieser weitgefassten Sichtweise den Nächsten gar nicht mehr gibt. (Vgl. ebd., 225) Diese Auffassung von Nächstenliebe, für die Kierkegaards Auslegung stellvertretend steht, will das Menschliche retten und beseitigt es auf diese Weise nur umso konsequenter, weil man den Menschen, den man lieben soll, gar nicht kennt. Er ist ein abstrakter Jemand. Adorno hat damit einen neuralgischen Punkt dieser Deutung des Nächstenliebegebots getroffen, die fordert, den Fremden oder Unbekannten zu lieben. Hannah Arendts Kritik an der Nächstenliebe, so wie sie in ihrer Interpretation von Augustinus gedacht worden ist, geht in eine ähnliche Richtung wie die Kritik von Adorno. Sie ist der Auffassung, dass der Andere, der einem real begegnet, verschwindet, wenn man das christliche Gebot der Nächstenliebe befolgt. Der Nächste sei »nicht mehr erfahren in den konkreten weltlichen Begegnungen«. (Arendt 2005, 52) Sondern er ist nur dadurch Mensch, dass er in eine göttliche Ordnung gestellt ist. Dadurch, dass er in dieser Ordnung steht, kommt ihm die Nächstenliebe zu. »Nicht in der Liebe wird über das Sein des anderen entschieden, sondern vor ihr.« (Ebd., 53) Dadurch, dass der Mensch Gott liebt, liebt er den anderen, denn »die innerweltliche Caritas des Christentums […] ist an die Liebe zu Gott« gebunden. (Ebd., 107) Der Mensch wird demnach lediglich indirekt geliebt, dadurch, dass ein anderer die Gebote Gottes erfüllt. Die Liebe des anderen empfängt der Mensch nicht aufgrund seiner unverwechselbaren Einzigartigkeit, sondern dadurch, dass er als Mensch in der göttlichen Ordnung steht. »Der Nächste wird nie um seiner selbst willen geliebt.« (Ebd., 123) Auf diese Weise ist der Mensch nicht in einer sozialen Gemeinschaft, sondern bleibt als einzelner Mensch »und die Welt bleibt […] isolierte Existenz«. (Ebd., 100) Arendt folgert: »Es ist aber nicht mehr verständlich, wie in dieser sich selbst und damit zugleich die Welt verleugnenden Liebe der Andere noch als Nächster, und d.h. immer in einer spezifischen Zugehörigkeit verstanden werden kann.« (Ebd., 101) So wird nicht mehr der Nächste als Person, die er ist, und nur er ist, geliebt, sondern »die Liebe selbst. Und damit ist die Relevanz des Nächsten als Nächsten […] wieder aufgehoben.« (Ebd., 103) Der Einzelne ist »völlig vergessen, er ist nur noch Glied und hat sein Sein nur in dem Zusammenhang aller Glieder in Christus«. (Ebd., 120) Die christliche Nächstenliebe richtet sich nach Arendt »nicht mehr auf diesen oder jenen, der als solcher in seiner welt-
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82 | Jürgen Habermas und der Papst lichen Bedeutsamkeit für den Liebenden gut oder schlecht sein kann, sondern aus der Ausdrücklichkeit des eigenen Seins richtet sie sich auf menschlich kreatürliches Sein schlechthin, auf alle Menschen«. (Ebd., 121) Um der Sache gerecht zu werden, muss man sagen, dass die von Adorno und Arendt inkriminierte Abstraktheit der Nächstenliebe im Christentum genau in dieser abstrakten Weise gedacht und gewollt ist. Sie bildet den Kern der christlichen Gemeinschaftsauffassung. Nur durch die Nächstenliebe wird die umfassende Gemeinschaft der Lebenden und der Toten, die »Gemeinschaft der Heiligen« möglich, denn in ihr ist die Liebe das alle zu einer Gemeinschaft Verbindende. (Vgl. Ratzinger 2005b, 286 ff.) »Die Gemeinschaft der Heiligen, von der hier die Rede ist, überschreitet die Todesgrenze.« (Ebd., 316 f.) Die Nächstenliebe muss sich auf die Fremden, die Unbekannten beziehen, denn die umfassende Gemeinschaft der Lebenden und der Toten kann niemanden ausschließen, auch nicht die Fremden, auch nicht die gläubigen Feinde. Diese Gemeinschaft ist das, was mit dem Reich Gottes gemeint ist. Benedikt XVI. steht selbstverständlich in der Tradition der christlichen Interpretation von Nächstenliebe, wenn er in seiner Enzyklika Deus Caritas Est vorträgt, dass Gottes- und Nächstenliebe unlöslich miteinander verschränkt sind. (Vgl. § 16) »Beide gehören so zusammen, daß die Behauptung der Gottesliebe zur Lüge wird, wenn der Mensch sich dem Nächsten verschließt.« (§ 16) Nächstenliebe bedeutet für das Kirchenoberhaupt, dass ich den Nächsten »von Gott her liebe« (§ 18), demnach »auf den anderen hin vom Gott-Vater her«. (Ratzinger 2006, 13) Diese Art der Nächstenliebe »ist nur möglich aus der inneren Begegnung mit Gott heraus. […] Dann lerne ich diesen anderen nicht mehr bloß mit eigenen Augen und Gefühlen anzusehen, sondern aus der Perspektive Jesu Christi heraus. Sein Freund ist mein Freund. Ich sehe durch das Äußere hindurch sein inneres Warten auf einen Gestus der Liebe.« (§ 18) Der Papst spricht von einer Wechselwirkung: Nur dadurch, dass der Mensch Gott liebt, liebt er den Nächsten (§ 16), und nur dadurch, dass er den Nächsten liebt, liebt er Gott. (§ 18) Dennoch betont der Pontifex, dass die Nächstenliebe keine unverbindliche Fernstenliebe ist, sondern den konkreten Einsatz hier und jetzt verlangt. (§ 15) Im § 31 a heißt es: »Nach dem Vor-
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6. Die Nächstenliebe | 83 bild, das das Gleichnis vom barmherzigen Samariter uns vor Augen stellt, ist christliche Liebestätigkeit zunächst einfach die Antwort auf das, was in einer konkreten Situation unmittelbar not tut: Die Hungrigen müssen gespeist, die Nackten gekleidet, die Kranken auf Heilung hin behandelt, die Gefangenen besucht werden usw.« Bemerkenswert ist, dass diese neue Enzyklika einen anderen Ton anschlägt, so als habe der Papst sich die Kritik von Adorno und Arendt zu eigen gemacht. Man könnte von einer realistischen Wende sprechen. Die Nächstenliebe ist in den Augen Benedikts nichts Abstraktes mehr. Sie nimmt das auf, was Hannah Arendt einfordert: Nächstenliebe als die konkrete weltlich-soziale Beziehung. Nun, Papst Benedikt XVI. setzt in seinen praktischen Empfehlungen darüber hinaus gemäßigter an als die vorgetragene Auslegung des Nächstenliebegebots von Johannes Paul II. Ja, man kann sagen, dass auf der Schiene der möglichen Auslegungen dieses Gebotes, von der ich weiter oben sprach, die beiden Päpste das jeweils andere Ende der Interpretationsmöglichkeiten einnehmen. In seiner Predigt beim Abschlussgottesdienst des Weltjugendtags sagte das derzeitige Kirchenoberhaupt, dass er wisse, dass die Jugend das Große wolle. Mutter Teresa kann ein Vorbild sein. Doch wir können nicht alle Mutter Teresa werden und Nächstenliebe als Selbstaufgabe verstehen. Darum empfiehlt Benedikt, kleiner anzusetzen. »Wir dürfen zum Beispiel die alten Menschen nicht ihrer Einsamkeit überlassen, an den Leidenden nicht vorbeigehen. Wenn wir von Christus her denken und leben, dann gehen uns die Augen auf, und dann leben wir nicht mehr für uns selber dahin, sondern dann sehen wir, wo und wie wir gebraucht werden. Wenn wir so leben und handeln, merken wir alsbald, dass es viel schöner ist, gebraucht zu werden und für die anderen da zu sein, als nur nach den Bequemlichkeiten zu fragen, die uns angeboten werden.« Diese vom Pontifex aufgezeigte Form der Nächstenliebe kann durchaus die merkantile Tauschbeziehung der Gegenwartsmoral überwinden. Vor allem ist sie nicht so hoch angesetzt, als dass sie nicht realisiert werden könnte. Es handelt sich um zwei unterschiedliche Moralsysteme: auf der einen Seite ein auf Wechselseitigkeit beruhendes und auf der anderen ein auf Supererogation beruhendes. Das eine schließt das andere aus. Der Papst spricht gar in Anlehnung an Nietz-
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84 | Jürgen Habermas und der Papst sches Formulierung von der »christlichen Umwertung der Werte«. (Ratzinger 2005b, 213) Es kommt zu kuriosen Beispielen, wie bei Angelika Krebs, die argumentieren will, dass man in einem partnerschaftlichen Liebesverhältnis beides zusammenbringen könne: »Aber muss mein Geliebter den Mülleimer wirklich aus Liebe zu mir ausleeren? Darf er ihn nicht einfach deswegen ausleeren, weil ich dafür schließlich das Bad putze?« (Krebs 2002, 293) Es fallen einem absonderliche Antworten ein, wenn man auf dieser Ebene bleiben wollte, z.B. dass es kein echter Tausch sei, weil das Leeren des Mülleimers ungleich leichter ist als das Putzen des Bades. Doch darauf kommt es nicht an, sondern darauf, dass man in einem Liebesverhältnis gar keine Gegenleistung fordert. Dass jemand aus Liebe etwas tun muss, z.B. den Mülleimer leeren, ist einfach absurd. Man tut dies freiwillig und ohne Gegenleistung zu verlangen. Supererogation ist etwas anderes als Tausch. Setzt man beides gleich, begeht man einen Kategorienfehler.
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7. Verhältnis der Nächstenliebe zur Gerechtigkeit | 85
7. Das Verhältnis der Nächstenliebe zur Gerechtigkeit
Nun kann man zum einen sagen, dass die Moral der Nächstenliebe, die nicht auf Reziprozität beruht und keine Gegenleistung fordert, eine Alternative zur Moral der Wechselseitigkeit bedeutet, so wie ich es gerade vorgetragen habe. Doch eine solche Moral kann man nicht per Dekret verordnen. Darum will ich zunächst einmal das Verhältnis von Gerechtigkeit und Nächstenliebe betrachten, das ein komplementäres sein könnte. Dafür spricht viel. Der Papst gibt im § 26 seiner ersten Enzyklika Deus Caritas Est eine reflektierte Stellungnahme ab. Zunächst setzt er sich mit einer falsch verstandenen Gegenüberstellung von Gerechtigkeit und Nächstenliebe auseinander, die besagt, dass die Armen nicht Liebeswerke bräuchten, »sondern Gerechtigkeit. Die Liebeswerke – die Almosen – seien in Wirklichkeit die Art und Weise, wie die Besitzenden sich an der Herstellung der Gerechtigkeit vorbeidrückten, ihr Gewissen beruhigten, ihre eigene Stellung festhielten und die Armen um ihr Recht betrügen würden.« Diese Interpretation der Nächstenliebe lehnt Benedikt XVI. selbstredend ab. Nach seiner Auffassung müsse das Verhältnis von Gerechtigkeit und Nächstenliebe folgendermaßen gestaltet werden: »Richtig ist, daß das Grundprinzip des Staates die Verfolgung der Gerechtigkeit sein muß und daß es das Ziel einer gerechten Gesellschaftsordnung bildet, unter Berücksichtigung des Subsidiari-
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86 | Jürgen Habermas und der Papst tätsprinzips10 jedem seinen Anteil an den Gütern der Gemeinschaft zu gewährleisten.« Im § 28 heißt es dann weiter: »Die gerechte Ordnung der Gesellschaft und des Staates ist zentraler Auftrag der Politik. Ein Staat, der nicht durch Gerechtigkeit definiert wäre, wäre nur eine große Räuberbande, wie Augustinus einmal sagte.« In dieser Hinsicht steht diese Enzyklika in der Tradition der beiden bedeutenden Enzykliken Rerum Novarum (1891) und Quadragesimo Anno (1931) seiner Vorgänger Leo XIII. und Pius XI. Beide geben bezüglich der Herstellung von Gerechtigkeit Weisungen an den Staat und die Tarifparteien. Im § 88 von Quadragesimo Anno heißt es, dass die »staatlichen und gesellschaftlichen Einrichtungen ganz und gar von dieser Gerechtigkeit durchwaltet sein« müssten. Die öffentlichen Einrichtungen müssten entsprechend gestaltet werden. (§ 110) Auch in Rerum Novarum heißt es in den §§ 27 und 29, dass der Staat für die Wahrung der Gerechtigkeit zu sorgen habe und die öffentliche Gewalt alle Verletzungen der Gerechtigkeit abzuwehren und unter Strafe zu stellen habe. Und dann kommt die meines Erachtens zentrale Passage der ganzen Enzyklika Deus Caritas Est, die auf das gerichtet ist, was heutzutage Not tut und aufgrund der soziologischen Analyse, die Jürgen Habermas am Abend des 19. Januar 2004 in der Katholischen Akademie in München gegeben hat, dem damaligen Kardinal Ratzinger unmittelbar einleuchtete. Hat er von Habermas gelernt? Jedenfalls sagt er gleich zu Beginn des Abschnitts b) des § 28 der Enzyklika: »Liebe – Caritas – wird immer nötig sein, auch in der gerechtesten Gesellschaft. Es gibt keine gerechte Staatsordnung, die den Dienst der Liebe überflüssig machen könnte. Wer die Liebe abschaffen will, ist dabei, den Menschen als Menschen abzuschaffen. Immer wird es Leid geben, das Tröstung und Hilfe braucht. Immer wird es Einsamkeit geben. Immer wird es auch die Situationen materieller Not geben, in denen Hilfe im Sinn gelebter Nächstenliebe nötig ist. Der totale Versorgungsstaat, der alles an sich zieht, wird letztlich zu einer bürokratischen Instanz, die das Wesentliche nicht geben kann, das der leidende Mensch – jeder Mensch – braucht: die liebevolle persönliche Zuwendung.« Man kann ergänzend darauf hinweisen, dass Wilhelm von Humboldt – weitsichtig wie kein anderer – am Ende des 18. Jahrhunderts sah, dass der paternalistische Staat die
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7. Verhältnis der Nächstenliebe zur Gerechtigkeit | 87 Menschen unsolidarisch gegenüber dem Nächsten werden lasse und »zu gegenseitiger Hilfeleistung träger«. (Humboldt 1967, 34)11 Der Staat kann und soll den Menschen nach Ansicht von Wilhelm von Humboldt die Fürsorge nicht gänzlich abnehmen. Das würde im Menschen das, was den Menschen als Menschen auszeichnet, seine Liebesfähigkeit, verkümmern lassen. Der Staat kann den Beistand auch nicht gänzlich übernehmen: »Menschen brauchen immer mehr als eine bloß technisch richtige Behandlung«, sagt Benedikt im § 31 seiner Enzyklika. Die Auffassung, gute Versorgung wäre das Optimum und reiche aus, käme der völlig falschen Behauptung nahe, »gerechte Strukturen würden die Liebestätigkeit überflüssig machen. [Das ist] eine Überzeugung, die den Menschen erniedrigt und gerade das spezifisch Menschliche verkennt.« (§ 28 b) Wir erfahren aus der Feder des Papstes, dass Gerechtigkeit und Nächstenliebe miteinander ein Ergänzungsverhältnis bilden. Der Staat, so die kirchliche Auffassung spätestens seit Rerum Novarum – worauf ich bereits mehrfach hinwies –, ist für die Herstellung gerechter Strukturen verantwortlich. Das ist ganz im Sinne der von mir präferierten Gerechtigkeitsauffassung von Angelika Krebs. Die Gerechtigkeit allein ist allerdings nicht ausreichend, um menschliche Verhältnisse zu generieren. Hinzutreten muss eine von der Liebesethik geprägte Zwischenmenschlichkeit, zu deren Herstellung wir, alle Menschen, gleichermaßen aufgerufen sind. Hierin, was das Komplementaritätsverhältnis von Gerechtigkeit und Nächstenliebe betrifft, verfolgt Benedikt ebenfalls die Linie seiner Vorgänger. Im § 137 von Quadragesimo Anno lesen wir: »Den Hauptanteil an allem […] muß die Liebe haben, die das Band der Vollkommenheit ist. Einer großen Täuschung erliegen daher alle unbesonnenen Reformer, die einzig bedacht auf Herstellung der Gerechtigkeit […] die Mitwirkung der Liebe hochmütig ablehnen.« Nun ist es angezeigt, noch einmal auf Habermas und seine Forderung in seiner Dankesrede bei der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels zurückzukommen. Wir erinnern uns: Habermas forderte die gläubigen Bürger dazu auf, religiöse Überzeugungen in säkulare Sprache zu übersetzen und sich so Gehör zu verschaffen und »die Zustimmung von Mehrheiten zu finden«. (Vgl. Börsenverein des deutschen Buchhan-
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88 | Jürgen Habermas und der Papst dels 2001) Dies hat – meine ich – der Papst mit seiner Enzyklika getan. Auch die »Arbeitsteilung«, die notwendig ist, hat er realistisch eingeschätzt. Wenn es so ist, dass die Menschen zwar gut versorgt sind, d.h. in medizinischer und pflegerischer Sicht optimal betreut werden, fehlt es doch oft und meist an Zuwendung und Ansprache, wenn wir uns unsere Krankenhäuser, Alten- und Pflegeheime ansehen. Die vom Arbeitgeber verordnete Zeitbemessung zur Betreuung der Menschen reicht nicht für eine über die Pflegeaufgaben hinausgehende Zuwendung. Was mit dem am Kommerz orientierten Etikett der Qualitätssicherung versehen wird, ist de facto nichts anderes als eine Qualitätsverschlechterung in Hinsicht auf die menschliche Zuwendung. Jürgen Habermas sieht hierin einen Kategorienfehler, wenn er sagt, dass das »an falscher Stelle angewendete wirtschaftliche Denken, das die nicht in Geld zu messenden Leistungen – ob nun in Psychiatrien und Kindergärten oder in Universitäten und Verlagen – den schlichten Maßstäben McKinseys unterwirft, […] zum gesellschaftlich wirksamen Kategorienfehler geworden« ist. (Habermas 2004, 3) Wer aber soll nun die nächstenliebende Zuwendung anmahnen? Soweit ich sehe und suche, haben wir in unserer Gesellschaft dafür keine andere Instanz als die Kirche. Und seit dem Amtsantritt von Benedikt XVI. erfüllt sie diese ihre Aufgabe gut, indem sie sich im säkularen Staat mehr als früher Gehör verschafft und sich in den gesellschaftlichen Diskurs einbringt. Das entspricht ganz und gar der Habermas’schen Forderung. Die Mahnung allein reicht sicher nicht. Wichtig ist das Vorbild, das ein Mensch gibt. Franz Meurer ist so ein Mensch. Er ist Pfarrer in dem sozialen Brennpunkt Köln-Vingst. Dort herrscht eine Arbeitslosenquote von 70 Prozent. Meurer hat seine Kirche unterkellert und dort ein Möbellager, Kleiderlager und Kühlhaus eingerichtet. Er hat ein Netzwerk aufgebaut. Firmen liefern ihm Möbel und Kleider, die aus der Mode sind, und Lebensmittel, die kurz vor dem Ablauf des Haltbarkeitsdatums stehen. Die Sachen verteilt er uneigennützig an die Arbeits- und Obdachlosen. Seine Idee ist, dass man unmoralisch werden kann, wenn die sozialen Verhältnisse aus dem Lot sind. Die Statistiken gäben ihm Recht, sagt er. Dort, wo die höchste Arbeitslosigkeit herrscht, steigt auch die Diebstahlshäufigkeit. Er belässt es aber nicht bei seiner ge-
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7. Verhältnis der Nächstenliebe zur Gerechtigkeit | 89 schilderten Arbeit. Das Wohlfühlen im sozialen Umfeld sei ebenfalls wichtig. Er hat seiner Gemeinde mehr als 1000 Blumenbeete in die Trostlosigkeit dieses Kölner Viertels gepflanzt. Er ist – kurz gesagt – ein Vorbild tätiger Nächstenliebe. (Vgl. Parth 2004, 90)
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8. Wo und wie lernt man, was man soll?
Ich will die Kontroverse zwischen Habermas und dem Oberhaupt der katholischen Kirche noch einmal in anderer Form aufgreifen und die Frage stellen, ob die Menschen die Moral in der Kirche lernen oder in der säkularen Gesellschaft oder in beiden oder ganz woanders.
a) Die Auffassung des Papstes Der Pontifex vertritt eine direktive Form des Morallernens: »Es gibt im Glauben einen Vorrang des Wortes vor dem Gedanken, der ihn strukturell von der Bauart der Philosophie abhebt. […] Der Glaube tritt […] von außen an den Menschen heran, und eben dies ist ihm wesentlich, dass er von außen zukommt. Er ist […] nicht das selbst Erdachte, sondern das mir Gesagte. […] Ich bin nicht durch private Wahrheitssuche zum Glauben gekommen, sondern durch ein Empfangen, das mir gleichsam schon zuvorgekommen war. […] Weil es so steht, weil der Glaube das nicht von mir Erdachte, sondern das von außen auf mich Zutretende ist, darum ist sein Wort mir nicht beliebig verfügbar und austauschbar, sondern mir immer vorgeordnet, meinem Denken allzeit voraus. […] Mit diesem Primat des Wortes und der darin sich anzeigenden ›Positivität‹ des Glaubens hängt sodann der soziale Charakter des Glaubens zusammen, der einen zweiten Unterschied zur wesentlich individualistischen Struktur philosophischen Denkens bedeutet.« (Ratzinger 2005b, 83 f.) In diesem
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92 | Jürgen Habermas und der Papst Kontext steht die Aufgabe des heiligen Vaters, die er folgendermaßen definiert: »Nur in diesem Zusammenhang kann man den Primat des Papstes und seinen Zusammenhang mit dem christlichen Gewissen richtig verstehen. Der wahre Sinn der Lehrgewalt des Papstes besteht darin, dass er Anwalt des christlichen Gedächtnisses ist. Der Papst legt nicht von außen auf, sondern er entfaltet das christliche Gedächtnis und verteidigt es.« (Ratzinger 2005a, 118) Und wer sind die Adressaten? Es sind nicht nur die Christen, denen der Glaube verkündet werden soll, sondern es sind die »Heiden, […], die im Verborgenen darauf warten«. (Ebd., 116) Und weiter: Es sind 80 Prozent Nichtchristen, die auf die Verkündigung des Evangeliums warten und für die das Evangelium bestimmt ist. Wir sollten uns darum nicht ständig mit unseren eigenen Fragen quälen, sondern überlegen: »Wie können wir als Christen heute dieser Welt ausdrücken, was wir glauben und damit denen etwas sagen?« (Ratzinger 2004, 171) Wir sehen, dass Benedikt eine in jeder Beziehung direktive Vermittlung christlicher Werte im Blick hat, die sich über die christliche Gemeinde hinaus an die Gläubigen wie an die Nichtgläubigen – vielleicht sollte man sagen: besonders an die Nichtgläubigen – richtet. Nun muss man in Erinnerung rufen, dass von der Profession her ein wesentlicher Unterschied zwischen Habermas und Benedikt XVI. besteht. Letzterer ist in seiner Funktion ein Mahner und Warner und mit einem Sozialphilosophen wie Habermas nur schwer zu vergleichen. Zwar impliziert Habermas’ Theorie ebenfalls normative Elemente, doch geht er analytisch vor in seiner Einschätzung des Lernens von Moral. Darum sind beide Auffassungen bestenfalls mittelbar zu vergleichen. Auch haben beide über diesen Gegenstand kein Streitgespräch geführt, so dass man sagen könnte, welche der beiden Auffassungen plausibler ist. Man muss den gänzlich anderen Charakter von Habermas’ Äußerungen zum Morallernen berücksichtigen, wenn man das Folgende liest.
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b) Habermas’ Auffassung Die Identitäts- und Moralentwicklung soll laut Habermas in Richtung Diskursfähigkeit gehen. Deren Basis bildet ein stabiles Ich. Nur Menschen mit stabilem Ich können im Diskurs ihre Meinung vertreten, verteidigen, und sie korrigieren lassen. Wie die Entwicklung zu einem solchen stabilen Ich verläuft, lasse sich am ehesten an der Entwicklung der Moralvorstellungen der Kinder ablesen. (Vgl. Habermas 1976, 74) Diese Hypothese bildete Habermas aus den für ihn überzeugenden Ergebnissen der Theorien von Piaget, Kohlberg, Sulivan, Erikson, Mead und Goffman. Habermas hat aus diesen Theorien die Bedingungen, unter denen sich das Ich entwickelt, zusammengefasst. Sie lassen sich zusammenfassen, weil die Modelle dieser Theoretiker in wesentlichen Punkten Übereinstimmungen aufweisen. Was versteht Habermas unter Ich-Identität? Antwort: »In der Identität des Ich drückt sich das paradoxe Verhältnis aus, daß das Ich als Person überhaupt mit allen anderen Personen gleich, aber als Individuum von allen anderen Individuen schlechthin verschieden ist.« (Ebd., 85) Auf diese Weise prägt ein Individuum seine einzigartige und unverwechselbare Lebensgeschichte aus. »Der Bildungsprozeß sprach- und handlungsfähiger Subjekte durchläuft eine irreversible Folge diskreter und zunehmend komplexer Entwicklungsstufen, wobei keine Stufe übersprungen werden kann.« (Ebd., 67) Ein Entwicklungsmodell bildeten sowohl Piaget wie auch Kohlberg aus. Daran orientiert Habermas sich bei seiner eigenen Theorieproduktion. Die Entwicklungsrichtung sei durch die Zunahme von Autonomie gekennzeichnet: »Die Identität wird durch Vergesellschaftung erzeugt, d.h. dadurch, daß sich der Heranwachsende über die Aneignung symbolischer Allgemeinheiten in ein bestimmtes soziales System erst einmal integriert, während sie später durch Individuierung, d.h. gerade durch eine wachsende Unabhängigkeit gegenüber sozialen Systemen gesichert und entfaltet wird. Ein wichtiger Mechanismus des Lernens ist die Umsetzung äußerer Strukturen in innere.« (Ebd., 68) In seinem sozialisierten Entwicklungsprozess nimmt der Heranwachsende die äußeren Strukturen in sich auf, lernt sie und wird dennoch ein unverwechselbares Individuum, das seine Stellung und seine Aufgaben in der Gesellschaft findet. George Herbert
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94 | Jürgen Habermas und der Papst Mead, auf den sich Habermas bezieht, formuliert das so: »Wir müssen andere sein, um wir selbst sein zu können.« (Mead 1987, Band 1, 327) Oder noch einmal mit anderen Worten und mit demselbem Sinn: »Wir sind, was wir sind, durch unser Verhältnis zu anderen.« (Ebd., 430) Das Individuum ist zunächst ein anderes, bevor es es selbst wird. Ein Teil dieser Identitätsentwicklung ist die Moralentwicklung. Ich-Identität bedeutet – so hatten wir von Habermas erfahren –, dass man einerseits mit allen anderen in der Gesellschaft gleich ist und mit ihnen kommunizieren und interagieren kann, d.h. die gesellschaftlichen Moralvorstellungen kennt und teilt und darüber hinaus die Fähigkeit besitzt, sich im Netz moralischer Normen als unverwechselbares Individuum zur Geltung bringen zu können. Ich-Identität ist nicht erreicht, wenn nur die Normen der Gesellschaft gekannt werden. Dann bleibt einem das bestehende Normensystem fremd. Ich-Identität ist nach Habermas erst dann erlangt, wenn das Ich seine innere Natur nicht von dem Normensystem fernhält, sondern seine Bedürfnisse im Normengeflecht der Gesellschaft zur Geltung bringt. Wir merken, dass bei Habermas alles auf Diskursfähigkeit hinausläuft. Der Einzelne soll sich in den gesellschaftlich-politischen Diskurs in derselben Weise einbringen, wie Habermas es von den Religionsgemeinschaften forderte. Sie sollten nach seiner Ansicht ihre religiösen Beiträge in eine säkulare Sprache übersetzen und sich damit in den öffentlichen Diskurs einbringen. Hatte Kohlberg noch sechs Stufen der Moralentwicklung ausgemacht, so fügt Habermas konsequenterweise eine siebte hinzu. Diese siebte Entwicklungsstufe ist dann erreicht, wenn man seinen Blick auf die Weltgesellschaft richtet und im Diskurs Normen generiert, die für all diese Gesellschaftsmitglieder gelten. »Das Verfahren diskursiver Willensbildung trägt dem inneren Zusammenhang beider Aspekte Rechnung – der Autonomie unvertretbarer Individuen und ihrer Einbettung in intersubjektiv geteilte Lebensformen. Die gleichen Rechte der Individuen und die gleichmäßige Achtung ihrer persönlichen Würde werden von einem Netz interpersonaler Beziehungen und reziproker Anerkennungsverhältnisse getragen. Andererseits bemißt sich die Qualität des Zusammenlebens nicht nur am Grad der Solidarität und dem Stand der Wohlfahrt, sondern auch daran, wieweit die Interessen eines jeden Einzelnen im allgemeinen Interesse
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8. Wo und wie lernt man, was man soll? | 95 gleichmäßig berücksichtigt werden.« (Habermas 1985, 1046) Und das gilt – wie gesagt – nicht nur für die Mitglieder einer lokalen Gemeinschaft, sondern für die Mitglieder der Weltgesellschaft. Schon in seiner Diskussion mit Putnam sagte Habermas, dass eine universalistische Moral durch den Bezug zu einer immer umfassender werdenden Gemeinschaft markiert ist. (Vgl. Habermas 2002b, 297) Wir erinnern uns, dass Habermas – ähnlich wie John Leslie Mackie – eine intersubjektive Moralauffassung vertritt. Das muss er, damit seine Moralauffassung mit seiner Diskurstheorie kompatibel ist; wie man auch sonst Habermas keine Inkonsistenz seiner Theorie vorwerfen kann. Die intersubjektive Moralauffassung kann im Weltmaßstab nur hergestellt werden, wenn wir die Welt als eine globale Gemeinschaft verstehen. Habermas beschreibt das genauer: »Daß man die eigene Existenzform an den legitimen Ansprüchen anderer Lebensformen relativiert, daß man den Fremden und den Anderen mit allen ihren Idiosynkrasien und Unverständlichkeiten die gleichen Rechte zugesteht, daß man sich nicht auf die Verallgemeinerung, der eigenen Identität versteift, daß man gerade nicht das davon Abweichende ausgrenzt, daß die Toleranzbereiche unendlich viel größer werden müssen, als sie es heute sind – alles das heißt moralischer Universalismus.« (Habermas 1990, 153) Habermas hat seine Theorie der Moralentwicklung 1976 publiziert. Inzwischen sind neuere Forschungsergebnisse erzeugt worden. Vor allem Daniel Stern hat in der Säuglingsforschung genauere Angaben über die Identitätsentwicklung oder Selbstentwicklung – wie er es nennt – bei Säuglingen vorlegen können. Die Kohlberg-Forschungen nun sind durch die Untersuchungen von Gertrud Nunner-Winkler, einer früheren Mitarbeiterin von Habermas, und von Monika Keller sehr viel differenzierter ausgeführt worden. Diesen neueren Forschungsergebnissen will ich mich nun zuwenden. Das heißt nicht, dass ich damit die verdienstvollen Anfangsschritte von Habermas diskriminieren will. Doch muss man sehen, dass die Forschungsmethoden verbessert wurden und damit die Forschungsergebnisse genauer und differenzierter generiert werden können. Habermas betonte, dass die Forschungen zu der Zeit, als er 1976 seine Theorie darstellte, noch in den Anfangsschuhen steckten, denn er spricht beispielsweise von Eriksons vorläufigen Formulierungen. (Vgl. Habermas 1976, 68)
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c) Neueste Forschungsergebnisse 12 Frühestes Morallernen im Säuglingsalter Entwicklungspsychologen vermuteten stets, dass das Morallernen schon vor dem Spracherwerb einsetzt. Da unser Gedächtnis sich erst später entwickelt, fehlt uns die Erinnerung an unser Erleben in den ersten beiden Lebensjahren. Und bislang fehlten darüber hinaus die Forschungsmethoden, mit denen die Vermutung, dass Morallernen bereits in den ersten beiden Lebensjahren erfolgt, hätte erhärtet werden können. Über solche Methoden verfügen die Entwicklungspsychologen inzwischen aufgrund technischer Hilfsmittel, so dass wir Aussagen darüber treffen können, ob Morallernen bereits in der präverbalen Entwicklung möglich ist: »Die wissenschaftliche Entwicklung erreichte einen Wendepunkt, als wir den Babys Fragen zu stellen begannen, die sie tatsächlich beantworten konnten. Hatte man erst die Antwortmöglichkeiten erkannt, konnte man die passenden Fragestellungen entwickeln.« (Stern 1991, 13) Bei den Fragen an die Säuglinge handelt es sich um Experimente; ihre Verhaltensweisen im Experiment sind die Antworten. Ich gebe zwei eindrucksvolle Beispiele, die nicht direkt etwas mit Morallernen zu tun haben, hier dennoch wieder, damit man sich ein Bild von dieser neueren Forschungsarbeit machen kann: Lange Zeit wurde die Auffassung vertreten, dass Säuglinge nicht gut hören können. Heute weiß man, dass sie ausgezeichnet hören. Ein Experiment zur Überprüfung dieses Befundes ist das folgende: Man gibt dem Baby einen Schnuller, der mit einem elektronischen Druckumwandler ausgestattet und mit einem Tonband gekoppelt ist. Wenn nun der Säugling in einem bestimmten Rhythmus saugt, schaltet sich das Tonband ein, und er hört vom Tonband die Stimme seiner Mutter. Nun kann man ein anderes Tonband mit einer fremden Stimme bespielen, und diese fremde Stimme wird ausgelöst, wenn das Kind mit einem anderen Rhythmus saugt. Man hat festgestellt, dass der Säugling den Saugrhythmus bevorzugt, der dazu führt, dass er die Stimme seiner Mutter vom Tonband hört. (Vgl. Stern 1996, 64 und Dornes 1997) Noch ein weiteres Beispiel: die intersensorische Koordination oder die amodale Wahrnehmung. Es geht dabei um folgendes
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8. Wo und wie lernt man, was man soll? | 97 Problem: Wenn wir als Erwachsene einen Tisch sehen und dann diesen Tisch berühren, sind das für uns nicht zwei verschiedene Tische, sondern es ist ein Tisch. Die Sinneswahrnehmung des Berührens und die Sinneswahrnehmung des Sehens vermitteln uns verschiedene Aspekte ein und desselben Objekts. Wie erlebt das kleine Kind die Objekte, wenn es das Gesicht seiner Mutter sieht und die Mutter mit ihm spricht? Sind das zwei Mütter; eine, die es hört, und eine, die es sieht? Oder existiert von Anfang an so etwas wie ein einheitliches Objektkonzept? Um das zu überprüfen, gibt es faszinierende Untersuchungen. Man steckte z.B. einem 14 Tage alten Säugling einen Schnuller mit Noppen in den Mund – den Schnuller darf er vorher nicht gesehen haben –, und im Anschluss daran zeigt man ihm zwei Schnuller, einen mit Noppen und einen ohne Noppen; er sieht dann lieber den Schnuller mit den Noppen an, d.i. der Schnuller, den er im Mund hat. Man kann es nun umgekehrt versuchen. Das Baby schaut dann den glatten Schnuller an. D.h., es stellt eine Verbindung her zwischen dem, was es im Mund fühlt, und dem, was es sieht. (Vgl. Stern 1996, 75 und Dornes 1997) Zu welchem Ergebnis kommen nun die Untersuchungen der Säuglingsforscher im Hinblick auf die moralische Entwicklung? Martin Dornes erklärt das in einem Radio-Interview: Säuglinge explorieren gern ihre Genitalien, wobei man ihnen heute nicht mehr wie früher droht oder ihnen die Hände festbindet, wie man in dem Buch Schwarze Pädagogik von Katharina Rutschky nachlesen kann. Das erweist sich als unnötig, denn wenn die Eltern Unbehagen empfinden, kommunizieren sie es über ihren Gesichtsausdruck. Die jungen Erdenbürger können solche Gesichtsausdrücke sehr gut lesen, d.h., dass die Einstellung der Eltern zu diesem Genitalspiel vermittelt und vom Baby verstanden wird. Somit ist evident, dass die Inhalte moralischer Regeln dem Säugling bereits früh bekannt sind. Man kann demnach ganz generell sagen, dass das Baby und das Kleinkind sich an der Moralauffassung der Bezugspersonen orientieren. Das werde ich nun genauer explizieren. Dornes sieht folgende Entwicklungsschritte: Im ersten Lebensmonat können Säuglinge ein unnatürliches Gesicht noch nicht von einem natürlichen unterscheiden. Hält man ihnen ein Bild vor, bei dem etwa Kinn und Mund oben sind, sieht das kleine Kind dieses Bild genauso gern an wie ein natürliches Bild von
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98 | Jürgen Habermas und der Papst einem Gesicht. Ab dem zweiten Monat konzentriert es sich auf Teilkomponenten des Gesichts. Zwischen dem zweiten und fünften Monat lernt der Säugling, das Gesichtsinnere zu lesen, doch er reagiert noch nicht emotional auf unterschiedliche Stimmungen. Ab dem fünften bis siebten Monat beginnt das Kind, auf Stimmungen anderer zu reagieren. Nimmt man dem Säugling in diesem Alter beispielsweise einen Keks weg, ist er traurig. Hält man ihm dann die Bilder eines traurigen und eines fröhlichen Gesichts vor, sieht er das traurige Gesicht an. Ab dem neunten Monat wird mit Hilfe der Bezugsperson die Welt erforscht. Dann hat das Kleinkind ein wirkliches Affektverständnis. (Vgl. Dornes 1993, 153 f.) Diese von Dornes zusammengefasste Entwicklung lässt sich auf der Basis des Selbstkonzepts erklären, das der Entwicklungspsychologe und Psychoanalytiker Daniel N. Stern entworfen hat. (Vgl. Stern 1996, 47 ff.) Für die Zeit bis zum zweiten Lebensmonat spricht er von einem im Auftauchen begriffenen Selbst oder vom körperlichen Selbst, das ein »erlebnishaftes Selbstempfinden« ist: »Der Säugling macht sich eifrig daran, verschiedenartige Erfahrungen zueinander in Beziehung zu setzen. Seine sozialen Fähigkeiten arbeiten mit kraftvoller Zielstrebigkeit auf die Sicherung sozialer Interaktionen hin. Diese Interaktionen erzeugen Affekte, Wahrnehmungen, sensomotorische Vorgänge, Erinnerungen und andere kognitive Prozesse.« (Ebd., 49) Das Baby nimmt die Welt durch insgesamt sieben Sinne wahr, und es ist reizhungrig: Gleichgewichtssinn, Tastsinn, Tiefenwahrnehmung, Sehen, Hören, Riechen, Schmecken. Jeder Sinn hat andere Rezeptoren, die jeweils andere Sinnesreize aufnehmen können, so dass es denkbar ist, dass der Säugling die Umwelt als Chaos erlebt, dass er z.B. nicht weiß, dass die Brust, die er fühlt, die gleiche ist, die er sieht und riecht und schmeckt. Man hat – wie ich oben bereits erwähnte – herausgefunden, dass so kleine Wesen über eine erstaunliche Fähigkeit verfügen, die Stern amodale Wahrnehmung nennt: Sie ›wissen‹ bereits in den ersten Lebenswochen, dass das, was sie sehen, das gleiche ist wie das, was sie z.B. fühlen. Sie verfügen – wie ich am Beispiel des genoppten Schnullers gezeigt habe – über die Fähigkeit der intersensorischen Koordination. Egal, über welchem Sinneskanal sie wahrnehmen, sie können es in die Wahrnehmung aller anderen Kanäle ›übersetzen‹. Das ist die Voraussetzung dafür, dass sie sich
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8. Wo und wie lernt man, was man soll? | 99 später als eine Person, als ein Selbst erleben können, denn bereits der Säugling erfährt sich nicht als jemand, der nur sieht, und dann als einen anderen, der nur fühlt. Stern geht weiter davon aus, dass sich nach dem zweiten bis dritten Lebensmonat das Kern-Selbst herausbildet, wenn das Baby anfängt wahrzunehmen, dass die Bezugsperson und es selbst körperlich zwei verschiedene Personen sind. Es ›entdeckt‹ den Anderen. Diese Entdeckungen beziehen sich auf das, was ›hinter‹ den körperlichen Geschehnissen steht. »Selbst und Anderer sind unter dieser subjektiven Perspektive nun qualitativ neu definiert und können unsichtbare, aber erschließbare innere Zustände wie z.B. Absichten oder Affekte, die das beobachtbare Verhalten steuern, ›in Erinnerung behalten‹.« (Ebd., 48) Dies bedeutet, dass die Intersubjektivität eine neue Qualität bekommt. Stern bezeichnet die nächste Entwicklungsstufe als subjektives Selbst, das sich nach dem siebten und neunten Lebensmonat herausbildet. Hier geht es nun um die Koordination der eigenen Gefühle mit den Gefühlen der anderen, um die sogenannte Affektabstimmung. Es wird ein gemeinsamer Fokus der Aufmerksamkeit gefunden, die Gefühlszustände der anderen werden erkannt, und dann spürt das Kind, ob sie mit den eigenen übereinstimmen. Säuglinge erfahren, dass es getrennte und doch berührungsfähige Innerlichkeiten gibt. Sie entwickeln in diesem Alter das Verlangen, ihre inneren Erfahrungen mit anderen Menschen zu teilen. Oder: Sie wollen den anderen erkennen und selbst erkannt werden. Dieses Gemeinsamkeitserleben ist qualitativ ein anderes als das zum Zeitpunkt der Kernbezogenheit. Zwischen dem fünfzehnten und achtzehnten Lebensmonat beginnt das Kleinkind das verbale Selbst zu entwickeln. Spätestens nach dem siebten bis neunten Monat, der Entwicklungsstufe des subjektiven Selbst, beginnt die Aufnahme moralischer Regeln durch den Säugling, so wie es am Beispiel der Exploration der Genitalien gezeigt wurde. Das Baby entdeckt zwar schon sehr früh, was hinter den körperlichen Regungen der Bezugspersonen steckt, was es bedeutet, wenn die Eltern wegsehen oder das Gesicht verziehen. Das Kind erfährt so, welche subjektiven Erlebnisse innerhalb oder außerhalb der Grenzen der Akzeptanz liegen, was demnach erlaubt ist und was nicht. Das ist die Phase des Kern-Selbst nach dem zweiten bis dritten Monat. Nun aber, in der Phase des subjektiven Selbst nach dem siebten bis
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100 | Jürgen Habermas und der Papst neunten Monat, nimmt es die Regeln auf, internalisiert sie. Stern spricht in diesem Zusammenhang von Affektabstimmung: »Auf diese Weise vermögen Wünsche, Befürchtungen, Verbote und Phantasien der Eltern das seelische Erleben des Kindes zu konturieren.« (Stern 1996, 291) Dabei haben kleine Kinder ein differenziert ausgebildetes Sensorium. Stern erzählt von einem begeisterungsfähigen Säugling. Die Mutter ließ sich von der Begeisterung mühelos anstecken, allerdings nur in bestimmten Situationen. Das Baby nahm haargenau wahr, dass bestimmte Zustände für die Mutter von Bedeutung waren, andere nicht oder weniger. (Vgl. ebd., 293) Diese differenzierte Wahrnehmungsfähigkeit der kleinen Kinder erlaubt es ihnen, Botschaften, die meist sehr komplex sind, zu entschlüsseln. Eltern haben die Fähigkeit, ihren Botschaften in unterschiedlicher Weise Ausdruck zu verleihen: Sprache und Körperlichkeit mit vielen Differenzierungsmöglichkeiten. Wenn die Mutter beispielsweise mit einem Lächeln sagt »Tu das nicht!«, was soll das Baby davon halten? Dennoch, Säuglinge können – wie gesagt – aufgrund ihrer differenzierten Wahrnehmungsfähigkeit die ›wahre‹ Botschaft entschlüsseln. Nehmen wir einmal an, die Botschaft sei eindeutig: Das Kind näherte sich einer Steckdose. Die Mutter »schrie ›Nein!‹ mit starker stimmlicher Anspannung, niedriger Tonhöhe, starkem Nachdruck, voller Gesichtszuwendung und stürzte zu dem Kind hin. Solche Verhaltensweisen ließen den Säugling auf der Stelle in seinem Tun innehalten. Es war also klar, daß der Säugling zuweilen mit einem ganzen Aufgebot unzweideutiger Verbotssignale konfrontiert wurde.« (Ebd., 303) Nehmen wir an, dass die Botschaften in der geschilderten Eindeutigkeit gegeben werden, dann ist diese Regel – so zeigen die Erfahrungen – doch noch nicht generalisiert. Sie bezieht sich nicht gleich auf alle Steckdosen, denen der Säugling begegnet. Was muss geschehen, damit das Baby diese Regel, nicht an Steckdosen zu gehen, als eine generelle Regel lernt? Berger und Luckmann zeigen uns den weiteren Prozess, hin zum Lernen einer Regel als einer generalisierten. In der Primärsozialisation beispielsweise lernt das Kind, »artig, sauber und ehrlich« zu sein. (P. Berger 1977, 111) Als Beispiel dafür kann folgendes stehen: Wenn ein Kind Suppe verschüttet, lernt es sehr schnell, dass ›Mami böse wird‹. Der nächste Lernschritt ist, dass die Mutter immer böse ist, wenn
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8. Wo und wie lernt man, was man soll? | 101 Suppe verschüttet wird. »Wenn weitere signifikante Andere – Vater, Oma, große Schwester und so weiter – Mamis Abneigung gegen verschüttete Suppe teilen, wird die Gültigkeit der Norm subjektiv ausgeweitet. Der entscheidende Schritt wird getan, wenn das Kind erkennt, daß jedermann etwas gegen Suppeverschütten hat. Dann wird die Norm zum ›Man verschüttet Suppe nicht‹ verallgemeinert.« (Berger/Luckmann 1980, 143) Hier sei noch angemerkt, dass sich das Lernen des Säuglings in dieser Phase nicht ausschließlich auf moralische Regeln bezieht. Kognitive und moralische Erkenntnis sind für ihn sowieso keine getrennten Bereiche. Ich stimme George Herbert Mead zu, der sagt: »Die frühesten Objekte sind soziale Objekte, und alle Objekte sind anfangs soziale Objekte. Die spätere Erfahrung differenziert zwischen den sozialen und den physischen Objekten.« (Mead 1987, Band 2, 164) Darum orientiert sich der junge Erdenbürger bei seiner Weltaneignung an der Bezugsperson. Lässt man beispielsweise einen blinkenden Roboter ins Zimmer fahren, sieht das Kind zunächst in das Gesicht der Bezugsperson. Hat sie selbst ein ambivalentes Verhältnis zu technischen Dingen, wird sich das Baby an die Bezugsperson anschmiegen. Hat die Bezugsperson allerdings ein offenes Verhältnis zu technischen Dingen, wird der Säugling vom Schoß krabbeln und sich dem Roboter interessiert nähern. (Vgl. Stern 1996, 189 f.) »Zwischen dem neunten und zwölften Lebensmonat fängt er an, in solchen Situationen seine Mutter anzuschauen, um zu sehen, wie sie die Sache aufnimmt. Muß man Angst davor haben? Oder kann man mit fröhlicher Neugier darauf zugehen? […] Er ist nun in der Lage, den psychischen Gefühlsstatus seiner Mutter zu erforschen und seine eigenen Gefühle daran auszurichten. […] Er hat erkannt, daß er und seine Eltern verschiedene Gedankenwelten besitzen, daß sie diese aber auch miteinander teilen können. Diese Entdeckung der Intersubjektivität stellt einen enormen Entwicklungsschritt dar.« (Stern 1991, 92) Entstehen der moralischen Motivation Kleine Kinder erkennen – wie wir eben gesehen haben – moralische Regeln schon zwischen dem zweiten und dritten Monat über die Interpretation der Gesichtsausdrücke ihrer Bezugspersonen und beginnen sie ab dem siebten bis neunten Monat zu
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102 | Jürgen Habermas und der Papst internalisieren. Nehmen wir einmal an, dass sie eine Regel als eine gelernt haben, die generalisiert ist, wobei außer Betracht bleiben soll, in welchem Alter das geschehen ist. Bedeutet das, dass sie diese befolgen werden? Nein, das Wissen von moralischen Regeln und die Befolgung dieser Regeln sind zwei verschiedene Dinge. In Übereinstimmung mit Larry P. Nucci und Elliot Turiel zeigen Monika Keller und Gertrud Nunner-Winkler, dass bereits die jüngeren Kinder die Regeln kennen. Sie wissen sogar um die Objektivität von moralischen Regeln und vermögen diese von Klugheits- und anderen Regeln zu unterscheiden; sie sind – wie Nunner-Winkler in vielen ihrer Publikationen im Anschluss an Untersuchungen von Turiel zeigt – kleine moralische Realisten: »Den Kindern wurden verschiedene Regeln vorgelegt: Spielregeln (z.B.: Murmelspiel), soziale Konventionen (Darf man Spaghetti mit den Fingern essen?), Klugheitsregeln (Muß man jeden Abend die Zähne putzen?), moralische Regeln (Darf man ein anderes Kind schlagen?). Dann wurden die Kinder befragt: ›Stell Dir vor, es gibt eine Familie/eine Schule/ein Land, da darf man Murmeln anders spielen/Spaghetti mit den Fingern essen/ ein anderes Kind schlagen/da braucht man die Zähne abends nicht zu putzen.‹ Es zeigte sich, daß Kinder sehr klar unterscheiden zwischen Normen, die zu allen Zeiten und in allen Kulturen eine unbedingte, von Sanktionen und Autoritäten unabhängige, Gültigkeit besitzen: Man darf ein anderes Kind nicht schlagen, auch wenn der Vater/der Direktor/der König es erlauben – ›nicht einmal Gott darf das tun‹ […]. Hingegen darf man Spaghetti mit den Fingern essen, wenn dies in einem Lande Brauch ist; man darf dies allerdings nicht tun, wenn es Sitte ist, Besteck zu verwenden. Wer Spielregeln mißachtet, spielt einfach ein anderes Spiel und wer Klugheitsregeln nicht befolgt, der schadet sich selbst.« (Nunner-Winkler 1992, 254; vgl. auch Nunner-Winkler 2003, 670) Kinder wissen folglich sehr früh, dass es kategorische Moralregeln gibt, und sie können unterscheiden, was Habermas auf der einen Seite Werte oder kulturell begrenzte Konventionen nennt und auf der anderen Seite universelle Normen. Erst viel später entwickeln sie eine moralische Haltung; diese kommt – wie Aristoteles sagt – durch Gewöhnung zustande. Dass die Kenntnis von moralischen Regel und die Prüfung von deren Richtigkeit auf der einen Seite und das Motiv, sie zu befolgen, auf
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8. Wo und wie lernt man, was man soll? | 103 der anderen Seite, auf zwei verschiedene Prinzipien zurückzuführen ist, hat Kant entdeckt. In seiner Vorlesung über Ethik sagte er seinen Studenten: »Wir haben hier zuerst auf zwei Stück zu sehen: auf das Principium der Dijudikation der Verbindlichkeit und auf das Principium der Exekution oder Leistung der Verbindlichkeit. Richtschnur und Triebfeder ist hier zu unterscheiden. Richtschnur ist das Principium der Dijudikation und Triebfeder der Ausübung der Verbindlichkeit, indem man nun dieses verwechselte, so war alles in der Moral falsch. Wenn die Frage ist: was ist sittlich gut oder nicht?, so ist das das Principium der Dijudikation, nach welchem ich die Bonität der Handlung beurteile. Wenn aber die Frage ist: was bewegt mich, diesen Gesetzen gemäß zu leben, so ist das das Principium der Triebfeder. Die Billigkeit der Handlung ist der objektive Grund, aber noch nicht der subjektive Grund. Dasjenige was mich antreibt, das zu tun, worin der Verstand sagt: ich soll es tun, das sind die motiva subjective moventia. Das oberste principium aller moralischen Beurteilung liegt im Verstande und das oberste Principium des moralischen Antriebes, diese Handlung zu tun, liegt im Herzen; diese Triebfeder ist das moralische Gefühl. Dieses Principium der Triebfeder kann nicht mit dem Principio der Beurteilung verwechselt werden. Das Principium der Beurteilung ist die Norm, und das Principium des Antriebes die Triebfeder. Die Triebfeder vertritt nicht die Stelle der Norm. Das hat einen praktischen Fehler, wo die Triebfeder wegfällt, und das hat einen theoretischen Fehler, wo die Beurteilung wegfällt.« (Menzer 1924, 44 f.) Ein moralischer Mensch zu werden, vollzieht sich demnach in drei Schritten. Zunächst lernt man moralische Regeln. Man weiß dann, dass es sie gibt und was sie beinhalten. Dann beurteilt oder prüft man die Situation und die in der Situation anzuwendende Regel. Im dritten Schritt entwickeln Kinder die moralische Motivation, die Triebfeder, der moralischen Regel entsprechend tatsächlich zu handeln. Wie nun entwickelt sich diese Motivation, also das, was Kant die Triebfeder moralisch zu handeln nennt? Wir wollen uns das etwas genauer ansehen. Monika Keller hat das erforscht und schreibt: »Meine Untersuchung hat belegt, dass hedonistische Interessen insbesondere bei jüngeren Kindern für die praktische Entscheidung von Bedeutung sind.« (Keller 2005, 160) Die hedonistischen Interessen beim moralischen Handeln nehmen im
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104 | Jürgen Habermas und der Papst Laufe des Älterwerdens ab, so dass man sagen kann, dass die Kenntnis von moralischen Regeln und die moralische Haltung oder die Motivation, den Regeln zu folgen, kontinuierlich konsistenter werden, dass Kinder also Handlungen vollziehen, die nicht in ihrem Eigeninteresse liegen und diesem unter Umständen zuwiderlaufen, die aber darum moralische Pflichterfüllungen sind. Diese Ergebnisse werden durch Nunner-Winklers Forschungen erhärtet. (Vgl. Nunner-Winkler 2005) Danach wissen jüngere, vierjährige Kinder, dass man dem anderen Kind seine gebrannten Mandeln nicht klauen darf. Sie tun’s trotzdem, weil gebrannte Mandeln »so gut schmecken«. Oder: Sie wissen zwar, dass man teilen sollte, nehmen die Cola dennoch für sich allein. Elfriede Billmann-Mahecha und ich modifizieren in kritischer Abgrenzung zu Nunner-Winkler den empirischen Zugang, kommen dennoch zu einem ähnlichen Ergebnis wie die beiden vorher genannten Autorinnen. (Vgl. Billmann-Mahecha/Horster 2005) Wir sind – wie Nunner-Winkler – zwar ebenfalls der Auffassung, dass Gefühle evoziert werden, wenn zu moralischen Regeln Stellung bezogen wird. Doch lässt sich wohl kein genauer Rückschluss auf die Motive für moralisches Handeln ziehen, wenn man sie ausschließlich über projektive Emotionszuschreibungen ermitteln will, wie Gertrud Nunner-Winkler es tut. Über Emotionszuschreibungen erhält man nur einen unzuverlässigen Zugang zu und Aufschluss darüber, wie Handlungsmotive basiert sind, ob auf Gründen oder auf Wünschen. Man kann – kurz gesagt – nicht aufgrund der Aussage, dass gebrannte Mandeln gut schmecken oder man Lust hat, die ganze Cola alleine zu trinken, auf die fehlende Motivation schließen, moralische Regeln zu befolgen. Die Motivation ist viel komplexer, und es gibt – wie ich im letzten Teil des ersten Kapitels bereits zeigte – höchst unterschiedliche Motive, nicht moralisch zu handeln. Die Ergebnisse zeigen, dass das Lernen von moralischen Regeln ein Prozess ist, ein Prozess, der sich in der Sozialisation unmerklich vollzieht. Es dauert nicht lange, bis man anfängt, moralische Regeln kennen zu lernen. Das beginnt bereits zwischen dem zweiten und dritten Monat. Mit dem siebten bis neunten Monat spätestens beginnt das Internalisieren moralischer Regeln. Man kann sicher sein, dass Kinder die wichtigsten moralischen Regeln mit drei oder vier Jahren bereits kennen. So zeigen es jedenfalls die genannten Untersuchungen von Nunner-
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8. Wo und wie lernt man, was man soll? | 105 Winkler. Von da an ist es noch ein langer Weg, bis die Kinder die Haltung entwickeln, moralische Regeln als kategorische zu akzeptieren und zu befolgen. Letzteres ist nach unseren Untersuchungen etwa um das 10. Lebensjahr herum der Fall. Das Lernen von Verhaltensregeln in Organisationen Verhaltensregeln werden an noch anderen Orten gelernt. Organisationen bilden einen Rahmen für die Handlungsorientierung eines Menschen. (Vgl. Luhmann 2002, 143) Ich will das an einem Beispiel aus der Universität verdeutlichen. Wenn heute jemand aus einer fremden Kultur Seminare beobachten würde, würde er sagen: ›Seminar ist immer dann, wenn eine Wasserflasche vor den Menschen steht.‹ Manchmal wird auch während des Seminars ein Riegel gegessen oder in ein mitgebrachtes Brot gebissen. Doch niemals würde man erleben, dass jemand ein halbes Hähnchen auspackt. Das erlaubt der Rahmen nicht. Was aber ist, wenn das doch geschieht. Meine Frau ist Lehrerin, und in ihrer Klasse wurde es schon ziemlich weit getrieben. In der Pause machten die Schülerinnen sich die Fünf-Minuten-Terrine von »Maggi« heiß und schlürften sie während des Unterrichts. Eines Tages brachten sie einen Sandwich-Toaster mit. Da sagte meine Frau: »Das geht zu weit.« Wenn der Rahmen überschritten wird oder wenn etwas aus dem Rahmen fällt, dann wird eingeschritten. Dann wurden in einem Zuge auch die Fünf-Minuten-Terrinen abgeschafft. Die Grenze wurde damit zurückgesetzt. Die organisationellen Regeln geben Handlungsorientierungen und erlegen Freiheitsbeschränkungen auf, so wie ich es oben für moralische, rechtliche und konventionelle Regeln bereits gezeigt hatte. Eine andere, viel ernstere Handlungsorientierung einer Organisation für die in ihr arbeitenden Menschen will ich noch schildern. Nach dem Bundesverfassungsgerichtsurteil vom 28. Mai 1993 zum § 218 StGB, das Schwangerschaftsabbrüche für straffrei, aber rechtswidrig erklärte, verbreitete sich Unsicherheit bei Ärztinnen und Ärzten und beim Pflegepersonal. Welche Bedeutung hatte dieses Urteil für die Praxis? Verschiedene Krankenhausvorstände entschieden in dieser unsicheren Lage, dass in ihren Häusern keine Abbrüche vorgenommen würden. Andere entschieden, dass bei ihnen unter ganz genau definierten Bedingungen Abbrüche vorgenommen werden könnten. Das war für
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106 | Jürgen Habermas und der Papst die in der Organisation Arbeitenden eine Handlungsorientierung. Wie nun Vorstand oder Chefärzte in einem Krankenhaus entschieden, war kein Zufall, sondern man sagte nachher, dass man es von dem Krankenhaus gar nicht anders erwartet hätte; es sei klar, dass dieses Krankenhaus eine liberalere Haltung präferiert habe, das andere Krankenhaus Abtreibungen jeder Art ablehnte. Dass in einem katholischen Krankenhaus keine Abtreibung vorgenommen wurde, ist redundant. (Vgl. Luhmann 1992, 174 f.) Eine bestimmte Entscheidung – hier die, wie der Schwangerschaftsabbruch gehandhabt wurde – ordnete sich nämlich ein in die Gesamtentscheidung der Organisation. In Organisationen wird entschieden, weil schon entschieden worden ist. (Vgl. Luhmann 1991, 343) Wie wir wissen, hat ein Individuum unendlich viele Handlungsmöglichkeiten, so dass es immer auch anders handeln kann, »aber nicht als Mitglied einer Organisation«. (Luhmann 1997, 829) Das Lernen von Verhaltensregeln in Institutionen Bei institutionellen Regeln ist das genauso. Institutionen sind Elemente gelebter Kultur, die den Stellenwert des Selbstverständlichen erreicht haben und eine gewisse Stabilität sozialer Interaktionen garantieren. Der Polterabend ist bei uns eine Institution. Man bringt Porzellan mit, das man vor der Tür der Braut zerschmeißt, um so das Gelingen und lange Bestehen der Ehe zu wünschen, gemäß dem Sprichwort »Scherben bringen Glück«. Es gehört dabei zu den ungeschriebenen Regeln, kein Glas zu werfen, denn »Glas steht für Unglück«. Und Spiegel dürfen ebenfalls nicht mitgebracht werden, denn ein zerbrochener Spiegel steht für »sieben Jahre Pech«. Es gehört weiterhin zu den Regeln, dass das Brautpaar die Scherben gemeinsam beseitigt. Durch diesen Akt soll das künftige Ehepaar darauf aufmerksam gemacht werden, dass es spätere schwierige Lebenslagen gemeinsam durchzustehen hat. Institutionelle Handlungen symbolisieren wie in dem Polterabendbrauch immer etwas: Die Hochzeitszeremonie das Schließen des Bundes für’s Leben, das dreimalige Übergießen des Täuflings mit Wasser symbolisiert seinerseits das früher gebräuchliche dreimalige Unter- und Wiederauftauchen, das Tod und Auferstehung und damit ewiges Leben symbolisieren sollte.
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8. Wo und wie lernt man, was man soll? | 107 Auch bei den letztgenannten Institutionen gibt es Verhaltensregeln, die eindeutige Anweisungen dafür sind, wie man sich in der Situation zu verhalten hat. Wir sind im Sozialleben umgeben von Institutionen. Die ungeschriebenen institutionellen Regeln geben eine Handlungsorientierung und eine Anleitung für eine geregelte Kooperation. Sie haben in einer Kultur den Stellenwert des Selbstverständlichen. Die Institutionen haben demnach Entlastungsfunktion und zugleich stabilisieren sie die Verhaltenserwartungen und Erwartungserwartungen. Und bei der »Formalisierung von Verhaltenserwartungen [handelt es sich] um eine sehr zentrale Ordnungserscheinung des menschlichen Zusammenlebens«. (Luhmann 1976, 55) Orientierungen für den eigenen Lebensentwurf Etwas anderes als die Orientierungen für das Soziale ist die Orientierung für den eigenen Lebensentwurf, von der nun die Rede sein soll. Wenn man darüber nachdenkt, stellt man sich die Frage, wer man sein will, wie man für sich ein gelungenes und geglücktes Leben anstreben und realisieren kann. Es geht folglich darum, sich anhand der Frage, welcher Mensch man insgesamt werden will, einen Orientierungsmaßstab zu entwickeln. Es geht nicht um die Orientierung in einem abgegrenzten Lebensbereich, sondern um das Menschsein eines konkreten Menschen insgesamt. Doch wie findet man einen solchen Orientierungsmaßstab? Den könnten beispielsweise Vorbilder geben, denn von Margarete Mitscherlich wissen wir: »Es ist klar, wir alle brauchen Ideale, Vorbilder, Ziele, an denen wir uns orientieren, nach deren Verwirklichung wir streben können.« (Mitscherlich 1978, 14) In meiner Jugend, in den 1950er Jahren, hatten wir eine große Auswahl: Albert Schweitzer, Theodor Heuß, Carlo Schmid, John F. Kennedy, Albert Einstein boten sich an. Auch zur Zeit der Studentenbewegung hingen in allen Wohnungen Poster von Ho Chi Minh, Angela Davis und Che Guevara. Letzterer war für uns ein so großartiges Vorbild, dass viele von uns ernsthaft vorhatten, sein Werk in Bolivien zu vollenden. Das scheiterte damals nur am Flugpreis. Welche Eigenschaften müssen Vorbilder haben, wenn sie orientierend wirken sollen? Sie sollten pädagogisch wertvoll sein,
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108 | Jürgen Habermas und der Papst d.h. sie sollten moralerziehende Funktion haben, d.h. moralisch integer sein. (Vgl. Mehler 1995, 454) Das sind Pop- und Fußballidole in der Regel nicht. An Vorbildern mangelt es heute. Nehmen wir als Beispiel Bill Clinton, den man zu Beginn seiner Amtszeit noch als den neuen Kennedy feierte und der seine Anhänger durch die Affäre mit Monica Lewinksy und vor allem durch seine öffentlichen Lügen in diesem Zusammenhang enttäuschte. Man ist ja inzwischen von Politikern enttäuscht, wenn sie die Menschen nicht mehr enttäuschen. Die Jugend sucht Menschen, von denen sie sicher sein kann, dass keine Enttäuschung folgt. Man muss nicht alles realisieren, was die Vorbilder für richtig halten. Jugendliche »wollen Vorbilder statt Vorschriften«. (Drobinski 2005) Darauf komme ich gleich noch zu sprechen. Die Vorbilder sollen gradlinig und glaubwürdig sein. (Vgl. ebd.) Gemeinschaften können ebenfalls Orientierung geben. Nehmen wir als eine Gemeinschaft, die Orientierung geben kann, die Kirche. Der 19-jährige Niklas Habers aus Overath ist gläubiger Katholik, ist als Messdiener engagiert und hat aufopferungsvoll den Weltjugendtag und den Besuch des Papstes in Köln mit organisiert und vorbereitet. »Niklas hat in den vergangenen anderthalb Jahre viel über seinen Glauben nachgedacht, über die seltsamen Widersprüche, die er an sich und anderen jungen Katholiken in Deutschland sieht: Sie sind gläubig – obwohl sie kaum beten, kaum in die Messe gehen und sich auch ansonsten wenig von ihrer Kirche vorschreiben lassen. Für Niklas gibt es zwischen der Welt der Kirche und der Welt ihrer Jugend eine Kluft. ›Ich lebe mein Leben, und meine Kirche gehört dazu. Aber in vielen Punkten ist mir mein Leben wichtiger als die Regeln, die meine Kirche dazu aufstellt.‹ Manche dieser Punkte sind für Niklas selbstverständlich. Er hat Sex vor der Ehe, keine Probleme mit Schwulen und befolgt nicht, was seine Kirche zu Verhütung vorschreibt, das hält er in Zeiten von AIDS sowieso für eine Katastrophe.« (Schulz 2005) Die Orientierungsfunktion der Kirche ist eigentümlich gebrochen. Auch das ist anders als in den fünfziger Jahren. Die Vorgaben der Kirche waren für uns Lebensorientierungen, die uns halfen, im Leben zurechtzukommen, und nach denen wir uns richteten. Allein der Gedanke an vorehelichen Geschlechtsverkehr war ein unkeuscher Gedanke. Das bedeutete, dass wir wuss-
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8. Wo und wie lernt man, was man soll? | 109 ten, was für uns in einem bestimmten Alter in Sachen Sexualität gut und richtig war. Die Orientierung durch die Kirche wird in dieser Hinsicht heute nicht mehr für den eigenen Lebensentwurf angenommen, wenn man sich die Geschichte des 19-jährigen Niklas Habers ansieht, obwohl Keuschheit von der Kirche immer noch als eine Tugend herausgestellt wird. Im aktuellen, von Joseph Kardinal Ratzinger noch konzipierten und von ihm als Papst publizierten Katechismus steht, wie man dieser Tugend innewerden kann. Die Kirche bietet dazu viele Mittel an: »das Gebet, die Selbsterkenntnis, die Praxis einer den jeweiligen Situationen angepassten Askese, die Übung in sittlichen Tugenden, besonders der Tugend der Mäßigung, deren Ziel es ist, dass die Leidenschaften von der Vernunft geleitet werden«. (Katechismus 2005, 173) Für Niklas Habers sind das keine lebensorientierenden Regeln. Dennoch ist der Papst für ihn ein Vorbild, weil er gradlinig, ehrlich und wahrhaftig ist, d.h. zu seinen Überzeugungen steht und sie lebt. Oft wird beklagt, dass wir in der modernen Gesellschaft in einer ritualarmen Zeit leben. Für junge Mädchen gibt es das natürliche Signal der ersten Menstruation. Dadurch wissen sie, dass sie nun nicht mehr Kind sind, sondern dem Geschlecht der Mutter angehören. Die ersten stärkeren Konflikte mit dem Vater tauchen auf. Dies bedeutet einen deutlichen Einschnitt in der Entwicklung. Beim Jungen wird dieses Signal durch den Stimmbruch gesetzt. Deutlich ist dadurch nicht geworden, ob man nun zu der Gruppe der Jugendlichen oder der Erwachsenen zählt. Es fehlen begleitende Rituale, die deutlichere Zeichen setzen, so wie sie beispielsweise in der Autobiographie von Nelson Mandela beschrieben werden. Die Jungen gingen mit dem Medizinmann einmal im Jahr zur Beschneidung außerhalb des Dorfes, wo sie sich zur Vollziehung dieses Rituals mehrere Tage aufhielten. Als sie zurückkamen ins Dorf, gehörten sie zu den Erwachsenen, nahmen an Entscheidungen teil, die die Dorfgemeinschaft betrafen und bekamen ihre eigene Hütte. Hier gibt das Ritual eine klare Orientierung.
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9. Resümee | 111
9. Resümee
An den zuletzt im achten Kapitel dargestellten Forschungsergebnissen kann man ablesen, dass die Menschen in der säkularen Gesellschaft auf vielfachen Wegen Verhalten lernen. Es muss nicht nur moralische Pflichten geben, sondern wir müssen sie auch lernen. Ausgangspunkt meiner Erörterungen war der weitverbreitete Zweifel daran, dass es unumstößliche moralische Pflichten gibt. Der Papst beklagt neben vielen anderen einen um sich greifenden Werterelativismus. Er spricht von der »Diktatur des Relativismus, die nichts als definitiv anerkennt«. Im ersten Kapitel habe ich Gründe dafür benannt, warum der Anschein eines Werterelativismus entstehen kann. Da ist unter anderem die Presseberichterstattung, die einen singulären Regelverstoß oder Rechtsbruch anzeigt und das Interesse daran wachhält, so dass der Eindruck entsteht, wir hätten es mit einem generellen Werteverfall zu tun, was aber nicht der Fall ist. Im zweiten Kapitel hatte ich dargelegt, dass es objektive Werte gibt, die unabhängig von der Zustimmung oder der Ablehnung von Menschen bestehen, was Habermas als Diskurstheoretiker selbstverständlich anders sieht. Doch wären objektive Werte zustimmungsabhängig, wären sie logischerweise nicht objektiv. Diesen Befund bekräftigt der Papst trotz seiner Klage über den Werterelativismus, wenn er sagt, dass es Werte gibt, die kein Mensch außer Kraft setzen könne. (Vgl. Ratzinger 2005a, 25) Demnach kann sich seine Klage über den Werterelativismus nicht auf die gesellschaftliche Moral beziehen. Im ersten Kapitel hatte ich weiterhin den Unterschied zwi-
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112 | Jürgen Habermas und der Papst schen gemeinschaftlichen Werten und gesellschaftlicher Moral erörtert. In einer christlichen Gemeinschaft gelten gemeinschaftliche Werte, die man miteinander teilt, wenn man der Gemeinschaft der Gläubigen angehört. Letztere müssen darüber hinaus die gesellschaftlichen Werte anerkennen und die damit verbundenen moralischen Pflichten erfüllen, denn sie sind gleichzeitig immer auch Gesellschaftsmitglieder. Man kann sich aus der gesellschaftlichen Moral nicht abmelden, so wie man aus der Kirche oder einer anderen Gemeinschaft austreten kann. Die säkulare Moral als eine soziale Institution regelt die gesellschaftlichen Interaktionen, so dass die Erwartungen und Erwartungserwartungen erfüllt werden, was soziale Handlungskoordinationen ermöglicht. In dieser Hinsicht erfüllt die Moral eine gesellschaftliche Funktion. Moral ist genauso real wie eine Währung. Das Sollen, das durch die moralischen Pflichten vorgegeben ist, liegt in den sozialen Beziehungen zwischen Menschen und ist unspektakulär. Dass es Moral gibt, merkt man meist erst in dem Moment, in dem gegen moralische Regeln verstoßen wird. Wie das Gravitationsgesetz ist die Moral aber immer gegenwärtig. Weil das so ist, kann der Papst, wenn er über den Werterelativismus klagt, nur die Kirchenmitglieder meinen, die die christlichen, also die gemeinschaftlichen Werte aus ihrem Bewusstsein verloren haben und ihr Leben nicht mehr nach ihnen ausrichten. Nach allem, was ich in den vorhergehenden Kapiteln gesagt habe, kann nur das vom Pontifex gemeint sein. Die Kirche kann und sollte – wie Habermas fordert und was im dritten Kapitel erörtert wurde – Einfluss nehmen auf die Entwicklung der säkularen Moral, um auf diese Weise alle Kräfte zu mobilisieren, der Erosion sozialer Sinngehalte im säkularen Staat entgegenzuwirken, vor allem angesichts der gegenwärtigen moralischen Herausforderungen, die sich uns Menschen in der Vergangenheit nicht und nicht in dem Maße gestellt haben. Die sich aufgrund der technisch-wissenschaftlichen Entwicklung stellenden Probleme, wie die moralische Bewertung von Embryonenforschung und Genpatentierung, habe ich im ersten Kapitel ebenfalls aufgeführt. Nächstenliebe, die als zentraler christlicher Wert von Habermas in die Diskussion eingebracht wurde, geht – wie im sechsten und siebten Kapitel gezeigt wurde – über unsere auf Wechselseitigkeit gestellte Moral hinaus, die vom Menschen das fordert, was
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9. Resümee | 113 er auf der anderen Seite als moralisches Recht verlangen kann. Der Mensch, der nach dem Gebot der Nächstenliebe handelt, erwartet hingegen keine Gegenleistung, fordert also nicht das reziproke moralische Recht ein. Doch ob die Verbreitung und Anerkennung einer Moral der Supererogation13 im säkularen Staat möglich ist, wird sich erst erweisen müssen. The proof of the pudding is the eating. Diese Einsicht von Friedrich Engels gilt auch hier. Jedenfalls muss am Schluss noch einmal betont und herausgestellt werden, was ich im vierten und siebten Kapitel dargelegt habe: dass eine Moral der Supererogation ein Komplement zu einer gerechten Gesellschaft sein sollte. Mit dem Beispiel zur globalen Ungerechtigkeit, mit dem ich dieses Buch begonnen habe, war zu zeigen, dass eine gerechte, auf die Akzeptanz von Menschenwürde abstellende Gesellschaft noch nicht realisiert ist. Eine derart anzustrebende Gesellschaft kann sich allerdings nicht auf die reine Versorgung beschränken, die ein Leben oberhalb der Armutsgrenze und in Menschenwürde garantiert, was die im fünften Kapitel dargestellte nonegalitaristische Gerechtigkeitsauffassung zum Inhalt hat. Neben der rein technischen und in dieser Hinsicht vielleicht guten Versorgung brauchen die Menschen das, was das Menschliche ausmacht: die Zuwendung. So will ich dieses Buch mit dem unbedingt zustimmungswürdigen Satz aus dem § 28 der ersten Enzyklika des Papstes beenden: »Der totale Versorgungsstaat, der alles an sich zieht, wird letztlich zu einer bürokratischen Instanz, die das Wesentliche nicht geben kann, das der leidende Mensch – jeder Mensch – braucht: die liebevolle persönliche Zuwendung.«
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Anmerkungen | 115
Anmerkungen
1 Siehe Anmerkung 8! 2 Die Bibel wird von mir – wenn nicht anders genannt – durchgehend nach der Einheitsübersetzung von 1980 zitiert. 3 Darunter ist eine wechselseitige Beeinflussung und Durchdringung beider Kulturen, der hellenistischen und der jüdisch-christlichen, zu verstehen. Zur Historie vgl. Antes 1998, 77 und 87. 4 Zur Bedeutung vgl. Anmerkung 3. 5 In der Luther-Übersetzung steht »Decke« statt »Hülle«. 6 Diese Erwägungen verdanke ich Melanie Kuhlmann. 7 Gegenüber dem Original korrigiert. 8 Der Begriff der Supererogation geht auf das Gleichnis vom barmherzigen Samariter zurück. In Luk 10, 35 der Vulgatafassung der Bibel heißt es: »[…] et quodcumque supererogaveris ego cum rediero reddam tibi«: »[…] und wenn du mehr für ihn brauchst, werde ich es dir bezahlen, wenn ich wiederkomme.« (Einheitsübersetzung, siehe Anmerkung 2) Oder man könnte auch sagen, wie es in der Luther-Bibel von 1912 heißt: »[…] und so du was mehr wirst dartun, will ich dir’s bezahlen, wenn ich wiederkomme.« Wie auch immer, es ist mit Supererogation die über das obligate Maß hinausgehende Mehrleistung gemeint. Man könnte demnach frei übersetzen: ›Wenn du deine Pflicht in einem Übermaß erfüllen wirst, werde ich es dir bezahlen, wenn ich zurück komme.‹ 9 Vgl. Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, Zweiter Teil, I. Ethische Elementarlehre, I. Teil: Von den Pflichten gegen
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116 | Jürgen Habermas und der Papst sich selbst überhaupt. Auch in seiner Vorlesung zur Ethik spricht Kant von diesen Pflichten gegen sich selbst. (Vgl. Menzer 1924, 168 ff.) 10 Damit ist im Sinne der katholischen Soziallehre gemeint, dass der Staat nur ersatzweise oder unterstützend eintreten solle, also dann, wenn die Kirche in ihren Anliegen Unterstützung braucht. 11 Spannend ist, dass Humboldt ähnlich wie Kant die Pflichten gegen sich selbst kennt. (Vgl. Anmerkung 9) Nach Humboldts Ansicht »überhebt« der paternalistische Staat den Bürger »sogar jeder Verbesserung seines eigenen Zustands«. (Humboldt 1967, 34) Der Staat nimmt dem Bürger die Möglichkeit, tugendhafter zu werden. 12 Die Grundlagen des ersten Teils dieses Abschnitts habe ich schon an verschiedenen Stellen dargestellt; zuletzt in Horster 2004, 129 ff. 13 Zur Herkunft des Begriffs siehe Anmerkung 8.
2006-09-07 16-09-09 --- Projekt: T411.x-texte.horster / Dokument: FAX ID 00f9125622246618|(S. 115-116) T99_01 anmerkungen.p 125622247898
Literatur | 117
Literatur
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118 | Jürgen Habermas und der Papst Benedikt XVI.: Ansprache des Papstes während des Abschlussgottesdienstes auf dem Weltjugendtag am 21. August 2005 auf dem Marienfeld in Köln, unter: http://www.phoenix.de/ 35367.htm#, Zugriff: 22. August 2005. Benedikt XVI.: Enzyklika »Deus Caritas Est«, unter: http://www. kath.net/detail.php?id=12655 (erster Teil) und 12656 am Ende (zweiter Teil), Zugriff 25. Januar 2006. Benedikt XVI.: Inaugurationspredigt, unter: http://www.vatican. va/holy_father/benedict_xvi/homilies/2005/documents/ hf_ben-xvi_hom_20050424_inizio-pontificato_ge.html, Zugriff: 17. September 2005. Berger, Michael B.: Die antastbare Würde des Menschen. Landtag diskutiert über Formen der Sterbebegleitung. Bewegender Auftritt von Meta Janssen-Kucz, in: Hannoversche Allgemeine Zeitung, Nr. 233 vom 6. Oktober 2005, S. 9. Berger, Peter L./Luckmann, Thomas: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt/M. 1980. Berger, Peter L.: Einladung zur Soziologie, München 1977. Billmann-Mahecha, Elfriede/Horster, Detlef: Wie entwickelt sich moralisches Wollen? Eine empirische Annäherung, in: Detlef Horster/Jürgen Oelkers (Hg.): Pädagogik und Ethik, Opladen 2005, S. 193-211. Börsenverein des deutschen Buchhandels (Hg.): Friedenspreis des deutschen Buchhandels 2001 – Jürgen Habermas. Ansprachen aus Anlass der Verleihung, Frankfurt/M. 2001. Boshammer, Susanne: Was ist soziale Gerechtigkeit?, in: IG Metall (Hg.): Was ist soziale Gerechtigkeit?, Schwalbach/Ts. 2002, S. 9-36. Burow, Inka: Patente auf Gene lassen Kosten explodieren. Blutkonserven könnten knapp werden, weil der Preis für den Test auf Viren um das 3000-fache gestiegen ist, in: Hannoversche Allgemeine Zeitung, Nr. 102 vom 3. Mai 2003, S. 16. Dershowitz, Alan M.: Die Entstehung von Recht und Gesetz aus Mord und Totschlag, Hamburg 2002. Die Bibel. Altes und Neues Testament. Einheitsübersetzung, Freiburg 1980. Dornes, Martin: Der kompetente Säugling. Die präverbale Entwicklung des Menschen, Frankfurt/M. 1993.
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Literatur | 119 Dornes, Martin: Vom Triebbündel zum kompetenten Wesen. Die Psychoanalyse verändert ihr Bild vom Säugling, in: Frankfurter Rundschau, Nr. 250 vom 28. Oktober 1997, S. 10. Drobinski, Matthias: Der Glaube der Jugend, in: Süddeutsche Zeitung, Nr. 186 vom 13./14./15. August 2005, S. 4. Feuerbach, Ludwig: Gedanken über Tod und Unsterblichkeit = ders., Sämtliche Werke, neu herausgegeben von Wilhelm Bolin und Friedrich Jodl, zweite, unveränderte Auflage (1903-1911), 1. Band, Stuttgart-Bad Cannstatt 1960. Franke, Holger: Leonard Nelson. Ein biographischer Beitrag unter besonderer Berücksichtigung seiner rechts- und staatsphilosophischen Arbeiten, Ammersbek bei Hamburg 1991. Frey, Jana: Prügelknabe, Bindlach 2006. Graf, Friedrich Wilhelm: Moses Vermächtnis. Über göttliche und menschliche Gesetze, München 2006. Grasnick, Walter: Nach Gutsherrenart verteilt. Nach guter Rechtstradition beurteilt: Karlsruhe sei Dank für die Revision im Mannesmannprozeß, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 7 vom 9. Januar 2006, S. 33. Habermas, Jürgen/Ratzinger, Josef: Dialektik der Säkularisierung. Über Vernunft und Religion. Mit einem Vorwort herausgegeben von Florian Schuller, Freiburg, Basel, Wien 2005. Habermas, Jürgen: Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie, Frankfurt/M. 1996. Habermas, Jürgen: Die nachholende Revolution. Kleine Politische Schriften VII, Frankfurt/M. 1990. Habermas, Jürgen: Die Wahl ist frei bis zum Schluss, in: Die Zeit, Nr. 21 vom 13. Mai 2004, S. 3. Habermas, Jürgen: Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik, 4. erweiterte Auflage, Frankfurt/M. 2002a. Habermas, Jürgen: Eine Art Schadensabwicklung. Kleine Politische Schriften VI, Frankfurt/Main 1987. Habermas, Jürgen: Moral und Sittlichkeit, in: Merkur 442, Dez. 1985 (39. Jg.), S. 1041-1052. Habermas, Jürgen: Philosophisch-politische Profile. Erweiterte Ausgabe, Frankfurt/M. 1981. Habermas, Jürgen: Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt/M. 1984.
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Literatur | 121 Katechismus der katholischen Kirche. Kompendium, München 2005. Keller, Monika: Moralentwicklung und moralische Sozialisation, in: Detlef Horster/Jürgen Oelkers (Hg.): Pädagogik und Ethik, Opladen 2005, S. 149-172. Kersting, Wolfgang: Theorien der sozialen Gerechtigkeit, Stuttgart 2000. Kissler, Alexander: Der deutsche Papst. Benedikt XVI. und seine schwierige Heimat, Freiburg-Basel-Wien 2005. Krebs, Angelika: Arbeit und Liebe. Die philosophischen Grundlagen sozialer Gerechtigkeit, Frankfurt/M. 2002. Krebs, Angelika (Hg.): Gleichheit oder Gerechtigkeit. Texte der neuen Egalitarismuskritik, Frankfurt/M. 2000. Krebs, Angelika: Wieviel Gleichheit wollen wir?, in: Detlef Horster (Hg.): Sozialstaat und Gerechtigkeit, Weilerswist 2005, S. 37-43. Kremers, Heinz: Liebe und Gerechtigkeit. Gesammelte Beiträge, herausgegeben von Adam Weyer in Zusammenarbeit mit Thomas Kremers-Sper, Neukirchen-Vluyn 1990. Krohn, Dieter: Gustav Heckmann, in: Detlef Horster/Dieter Krohn (Hg.): Vernunft, Ethik, Politik. Gustav Heckmann zum 85. Geburtstag, Hannover 1983, S. 9-32. Leo XIII.: Enzyklika »Rerum Novarum«, unter: http://198.62.75. 1/www1/overkott/rerum.htm, Zugriff 5. Februar 2006. Luhmann, Niklas: Das Erziehungssystem der Gesellschaft, herausgegeben von Dieter Lenzen. Mit zahlreichen Faksimiles des Manuskripts, Frankfurt/M. 2002. Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt/ M. 1997. Luhmann, Niklas: Die Politik der Gesellschaft, herausgegeben von André Kieserling, Frankfurt/M. 2000. Luhmann, Niklas: Die Realität der Massenmedien, Vorträge G 333 der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften, Opladen 1995. Luhmann, Niklas: Funktionen und Folgen formaler Organisation, Berlin 1964, 3. Aufl. 1976. Luhmann, Niklas: Gibt es in unserer Gesellschaft unverzichtbare Normen?, Heidelberg 1993.
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122 | Jürgen Habermas und der Papst Luhmann, Niklas: Organisation, in: Willi Küpper/Günther Ortmann (Hg.): Mikropolitik. Rationalität, Macht und Spiele in Organisationen, 2. Auflage, Opladen 1992, S. 165-185. Luhmann, Niklas: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt/M. 1984. Luhmann, Niklas: Soziologische Aufklärung 3: Soziales System, Gesellschaft, Organisation, 2. Auflage, Opladen 1991. Mandela, Nelson Rolihlahla: Long walk to Freedom – Autobiography, London 1995 Mead, George Herbert: Gesammelte Aufsätze, 2 Bände, herausgegeben von Hans Joas, Frankfurt/M. 1987. Mehler, Frank: Von Albert Schweitzer zu Madonna – Braucht die Jugend heute noch Vorbilder?, in: Deutsche Jugend, 43. Jg. (1995), Heft 10, S. 453-459. Menzer, Paul (Hg.): Eine Vorlesung Kants über Ethik. Im Auftrage der Kantgesellschaft herausgegeben, Berlin 1924. Michalski, Krzysztof: Gott zu lieben – Johannes Paul II. (19202005), in: Transit Nr. 29 (Sommer 2005), S. 5-13. Mitscherlich, Margarete: Das Ende der Vorbilder, München 1978. Mommsen, Theodor: Die Grundrechte des deutschen Volkes, Leipzig 1849. Negt, Oskar: Uneingelöste Leistungsgerechtigkeit, in: Detlef Horster (Hg.): Sozialstaat und Gerechtigkeit, Weilerswist 2005, S. 109-123. Nunner-Winkler, Gertrud: Replik. Und es gibt sie doch – Vernunftmoral und ich-nahe Motive!, in: Erwägen-Wissen-Ethik, 14. Jg. (2003), Heft 4, S. 657-672. Nunner-Winkler, Gertrud: Zum Verständnis von Moral – Entwicklungen in der Kindheit, in: Horster, Detlef/Oelkers, Jürgen (Hg.): Pädagogik und Ethik, Opladen 2005, S. 173-192. Nunner-Winkler, Gertrud: Zur moralischen Sozialisation, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 44. Jg. (1992), S. 252-272. Parth, Christian: Ein Priester packt’s an. Gelebte Nächstenliebe, in: Stern, Nr. 52 vom 16. Dezember 2004, S. 90. Pauer-Studer, Herlinde: Autonom leben. Reflexionen über Freiheit und Gleichheit, Frankfurt/M. 2000. Pauer-Studer, Herlinde: Das Andere der Gerechtigkeit. Moraltheorie im Kontext der Geschlechterdifferenz, Berlin 1996.
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2006-09-07 16-09-10 --- Projekt: T411.x-texte.horster / Dokument: FAX ID 00f9125622246618|(S. 117-125) T99_02 literatur.p 125622247970
Literatur | 125 Stern, Daniel N.: Diary of a Baby, New York 1990, deutsch: Tagebuch eines Babys, München 1991. Stern, Daniel N.: The Interpersonal World of the Infant, New York 1985, deutsch: Die Lebenserfahrung des Säuglings, 5. Aufl., Stuttgart 1996. Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie, Neudruck der 8. Aufl. von 1935, 3., unveränderte Aufl., Darmstadt 1991. Tugendhat, Ernst: Vorlesungen über Ethik, Frankfurt/M. 1993. Zimmermann, Rolf: Philosophie nach Auschwitz. Eine Neubestimmung von Moral in Politik und Gesellschaft, Reinbek bei Hamburg 2005.
2006-09-07 16-09-10 --- Projekt: T411.x-texte.horster / Dokument: FAX ID 00f9125622246618|(S. 117-125) T99_02 literatur.p 125622247970
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) vakat 126.p 125622248034
Dank | 127
Dank
Für die Erläuterungen und Literaturhinweise zu vielen Aspekten des jüdischen Lebens bin ich Edna Brocke, der Leiterin der Alten Synagoge in Essen, zu großem Dank verpflichtet. Zu danken ist auch meinem früheren Doktoranden Sven Lewandowski, der mich schon vor vielen, vielen Jahren auf Schriften von Joseph Ratzinger aufmerksam machte, als der jetzige Papst mir nur erst vom Namen her bekannt war. Die Studentinnen und Studenten meiner Vorlesung Säkulare oder christliche Moral, was haben wir? im Sommersemester 2006 haben mich durch ihre intelligenten Interventionen wieder und wieder gezwungen, vieles einfacher zu sagen, besser zu argumentieren und genauer zu begründen; Ulrike Reichmuth und Ina Schröder haben mich in dieser Lehrveranstaltung durch ihre Beharrlichkeit auf den Weg des erneuten Nachdenkens vieler Sachverhalte verwiesen. Wenn ich den Standard, der mir auf diese Weise vorgegeben wurde, in der hier vorliegenden schriftlichen Fassung dennoch nicht erreicht haben sollte, geht das allein auf mein Konto. Das Buch widme ich dem Pfarrer Franz Meurer, der durch seine Arbeit, die ich im vorliegenden Buch gewürdigt habe, ein Vorbild für praktizierte Nächstenliebe ist.
2006-09-07 16-09-10 --- Projekt: T411.x-texte.horster / Dokument: FAX ID 00f9125622246618|(S. 127
) T99_03 dank.p 125622248098
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Oktober 2006, 130 Seiten, kart., 13,80 €, ISBN: 3-89942-411-5
Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de
2006-09-07 16-09-10 --- Projekt: T411.x-texte.horster / Dokument: FAX ID 00f9125622246618|(S. 128
) anz.horster.ds09a.p 125622248210