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German Pages 366 [368] Year 2016
Studien zum ausländischen und internationalen Privatrecht 348 Herausgegeben vom
Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht Direktoren:
Jürgen Basedow, Holger Fleischer und Reinhard Zimmermann
Christian Stempel
Treu und Glauben im Unionsprivatrecht
Mohr Siebeck
Christian Stempel, geboren 1982; Studium der Rechtswissenschaften in Köln, Paris (Maîtrise en Droit) und Cambridge (LL.M.); Assistent am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht in Hamburg; seit 2014 Referent beim Bundeskartellamt.
e-ISBN PDF 978-3-16-154420-0 ISBN 978-3-16-154350-0 ISSN 0720-1141 (Studien zum ausländischen und internationalen Privatrecht) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb. dnb.de abrufbar. © 2016 Mohr Siebeck, Tübingen. www.mohr.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwer tung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elek tronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruck papier gedruckt und von der Buchbinderei Nädele in Nehren gebunden.
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2015 von der Fakultät für Rechtswissenschaft der Universität Hamburg als Dissertation angenommen. Sie ist während meiner Zeit als wissenschaftlicher Assistent am Max-PlanckInstitut für ausländisches und internationales Privatrecht entstanden. Das Manuskript wurde zum Ende des Jahres 2014 fertiggestellt. Für die Veröffentlichung konnten noch vereinzelt Entwicklungen des Jahres 2015 berücksichtigt werden. Folgenden Personen bzw. Institutionen gebührt Dank dafür, dass sie in unterschiedlicher Weise zum Gelingen der Arbeit beigetragen haben: Professor Jürgen Basedow hat das Thema angeregt und mir durch die Stelle am Max-Planck-Institut die Möglichkeit gegeben, die Arbeit im denkbar besten Umfeld anzufertigen. Er hat mir bei der Abfassung alle Freiheiten gelassen und großes Vertrauen geschenkt. Zugleich habe ich von ihm viel über wissenschaftliche Neugier, Akribie im Detail einerseits sowie den Blick für das Ganze und eine originär unionsrechtliche Perspektive andererseits lernen dürfen. Professor Peter Mankowski hat freundlicherweise in kürzester Zeit das Zweitgutachten erstellt. Die Arbeit wurde gefördert von der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung. Die Studienstiftung des deutschen Volkes hat mit der Förderung meines Studiums in vielfältiger Weise dabei geholfen, die Grundlagen für eine Promotion zu legen. Professor Klaus Peter Berger hat mich im ersten Semester als studentische Hilfskraft am Institut für Bankrecht an der Universität zu Köln aufgenommen, wo ich insgesamt über drei Jahre tätig sein durfte. Er hat dadurch mein Forschungsinteresse geweckt und mich auch über meinen Abschied aus Köln hinaus unterstützt. Am Hamburger Max-Planck-Institut hat eine Vielzahl von Kollegen zum Gelingen der Arbeit beigetragen, die ich an dieser Stelle nicht sämtlich aufführen kann. Besonders hervorheben möchte ich aber Professor Christian Heinze, Professor Anatol Dutta und Dr. Matteo Fornasier. Sie haben mich bei der Arbeit an der Dissertation eng begleitet, konzeptionell wie in Details beraten und hatten für alle meine Fragen stets ein offenes Ohr. Meine Eltern haben entscheidenden Anteil am Erfolg meiner Ausbildung, indem sie mir Verlässlichkeit, Gelassenheit und Zuversicht vorgelebt und
VI
Vorwort
vermittelt haben und nie einen Zweifel daran aufkommen ließen, dass ich diese Dissertation erfolgreich abschließen würde. Meine Frau Aurélia hat mich durch alle Phasen des Promotionsvorhabens hindurch mit liebevoller Geduld begleitet und unterstützt. Sie ist mein wichtigster Berater und mein größtes Glück. Bonn, im November 2015
Christian Stempel
Inhaltsübersicht Inhaltsverzeichnis ........................................................................................ IX Abkürzungsverzeichnis .............................................................................. XV
Einleitung................................................................................................... 1 Kapitel 1 – Grundlagen .........................................................................11 A. B. C. D.
Treu und Glauben im Unionsprivatrecht ...............................................11 Vorverständnis ...................................................................................... 33 Verwandte Maßstäbe............................................................................. 65 Zwischenergebnis: Zuschnitt der Arbeit ................................................75
Kapitel 2 – Bestandsaufnahme und Analyse ....................................77 A. B. C. D. E. F. G. H. I.
Schranke der Privatautonomie............................................................... 78 Schranke der Rechtsausübung ............................................................. 202 Begründung von Treuepflichten in Sonderverbindungen..................... 236 Lauterkeit beruflichen Handelns ......................................................... 245 Bindung an eigenes Vorverhalten und Verwirkung ............................. 261 Begründung sonstiger Pflichten .......................................................... 282 Berechtigte Erwartungen ..................................................................... 288 Verhältnismäßigkeit, Gerechtigkeit und Fairness ................................ 289 Bösgläubigkeit .................................................................................... 302
VIII
Inhaltsübersicht
Kapitel 3 – Ergebnisse ......................................................................... 307 A. B. C. D. E. F. G. H. I.
Die wissenschaftliche Debatte um Treu und Glauben im Europäischen Privatrecht .................................................................... 308 Allgemeiner Grundsatz, zugrundeliegendes Prinzip oder unbestimmter Rechtsbegriff ................................................................ 310 Quellen und Anwendungsbereich ........................................................ 311 Horizontale und vertikale Dimension .................................................. 313 Treu und Glauben und guter Glaube ................................................... 315 Verwandtschaften und Definitionselemente ........................................ 316 Standardhöhe ...................................................................................... 319 (Fehl-)Entwicklungen ......................................................................... 320 Schlussfolgerungen ............................................................................. 321
Literaturverzeichnis .................................................................................... 323 Rechtsprechungsverzeichnis ....................................................................... 339 Sachverzeichnis .......................................................................................... 347
Inhaltsverzeichnis Vorwort ......................................................................................................... V Inhaltsübersicht .......................................................................................... VII Abkürzungsverzeichnis .............................................................................. XV
Einleitung................................................................................................... 1 Kapitel 1 – Grundlagen .........................................................................11 A.
Treu und Glauben im Unionsprivatrecht ...............................................11
I.
Unionsprivatrecht ................................................................................. 12 1. Unionales Recht ............................................................................... 12 2. Privatrecht ........................................................................................ 13 II. Generalklausel ...................................................................................... 14 1. Generalklausel und unbestimmter Rechtsbegriff ...............................16 2. Regel und Prinzip ............................................................................. 17 III. Mehrebenensystem und allgemeine Grundsätze ....................................18 1. Treu und Glauben im Vorabentscheidungsverfahren ........................18 2. Die Unterscheidung zwischen Auslegung und Anwendung ..............21 3. Treu und Glauben als beweglicher Begriff .......................................23 4. Keine reine Billigkeitsnorm ohne inneren Zusammenhang ...............24 5. Die Suche nach allgemeinen Grundsätzen des Unionsprivatrechts ............................................................................ 26 6. Eine Schwelle zum „allgemeinen“ Grundsatz? .................................28 7. Auswahl und Prüfung relevanter Fallgruppen ...................................31 B.
Vorverständnis ...................................................................................... 33
I. Ursprung und Wortlaut ......................................................................... 33 II. Status quo von Treu und Glauben im Unionsprivatrecht .......................35 III. Rechtsvergleichender Überblick ........................................................... 37 1. Deutschland ...................................................................................... 38 2. Frankreich ........................................................................................ 40
X
Inhaltsverzeichnis
3. England ............................................................................................ 43 4. Weitere Mitgliedstaaten .................................................................... 50 IV. Akademische Regelkataloge ................................................................. 53 1. PECL ................................................................................................ 56 2. Acquis-Principles ............................................................................. 59 V. Der Vorschlag für ein Gemeinsames Europäisches Kaufrecht ...............61 C.
Verwandte Maßstäbe ............................................................................ 65
I. II. III. IV. V. VI. VII.
Rechtsmissbrauch ................................................................................. 66 Verwirkung ........................................................................................... 69 Fairness................................................................................................. 70 Berechtigte Erwartungen ....................................................................... 70 Loyalität und Billigkeit ......................................................................... 72 Angemessenheit und Verhältnismäßigkeit ............................................72 Vernünftigkeit ....................................................................................... 75
D.
Zwischenergebnis: Zuschnitt der Arbeit ................................................75
Kapitel 2 – Bestandsaufnahme und Analyse ....................................77 A.
Schranke der Privatautonomie ............................................................. 78
I. II.
Zwingendes Recht und Umgehungsverbote...........................................78 Vorformulierte Klauseln: Die Richtlinie 93/13......................................79 1. Anwendungsbereich und Ratio .........................................................83 2. Die Generalklausel ........................................................................... 85 a) Konkretisierungskriterien: Treu und Glauben und das erhebliche Missverhältnis ............................................................. 86 b) Konkretisierungszuständigkeit .....................................................89 3. Konkretisierungsmaßstab .................................................................. 93 a) Generell-abstrakter oder individuell-konkreter Maßstab? .............93 b) Formelles und materielles Missverhältnis sowie Transparenz .................................................................................. 96 c) Erwägungsgründe ......................................................................... 97 d) Die Liste im Richtlinienanhang .................................................. 100 aa) Bindungswirkung der Liste .................................................. 100 bb) Materieller Gehalt der Liste ................................................. 102 e) Klauselrichtlinie und Wettbewerbsrecht ..................................... 104 4. Materielle Konkretisierung durch den Europäischen Gerichtshof ..................................................................................... 108 a) Einführung ................................................................................. 109 b) Scheinbare Annahme der Konkretisierungsaufgabe .................... 110
Inhaltsverzeichnis
XI
c) Ablehnung der Konkretisierungsaufgabe .................................... 114 d) Erteilung von Hinweisen an das nationale Gericht ..................... 124 aa) Fehlende Transparenz und die Bedeutung des Anhangs ....... 128 bb) Berücksichtigung der übrigen Vertragsklauseln ................... 132 cc) Treu und Glauben und hypothetische Individualvereinbarung ........................................................ 132 dd) Preisänderungsklauseln ........................................................ 136 ee) Maßstab des Missverhältnisses ............................................ 142 5. Prozessuale Gewährleistung der Klauselkontrolle........................... 145 a) Verpflichtung zur Klauselkontrolle von Amts wegen ................. 145 b) Amtswegige Tatsachenermittlung? ............................................. 148 c) Klauselkontrolle im Vollstreckungsverfahren ............................. 151 d) Verbot geltungserhaltender Reduktion ....................................... 152 6. Testfall: Verfallsklauseln bei Flugreisen ......................................... 156 a) Tarifmodelle und Umgehungsversuche ...................................... 157 b) Nationale Rechtsprechung zu Verfalls- und Nachberechnungsklauseln .......................................................... 159 aa) Deutschland ......................................................................... 159 bb) Österreich ............................................................................ 161 cc) Frankreich ............................................................................ 162 dd) Spanien ................................................................................ 163 c) Unionsautonome Lösungsansätze zu Verfalls- und Nachberechnungsklauseln .......................................................... 164 7. Ergebnisse ...................................................................................... 165 a) Konkretisierungskompetenz ....................................................... 166 b) Unionsautonomer Standard ........................................................ 170 aa) Missbräuchlichkeit ohne Vergleichsmaßstab bei einseitiger Belastung des Verbrauchers? .............................. 170 bb) Vergleichsmaßstab aus dem Acquis ..................................... 171 cc) Vergleichsmaßstab aus den nationalen Rechtsordnungen ................................................................. 173 c) Beispiele .................................................................................... 180 aa) Vertragsschluss .................................................................... 181 bb) Transparenzgebot ................................................................. 182 cc) Pacta sunt servanda ............................................................. 184 d) Prozessuale Schutzkomponente .................................................. 187 e) Ergebnisse für die Arbeit ............................................................ 189 III. Vorformulierte Klauseln in anderen Rechtsakten ................................ 192 1. Verbraucherkreditrichtlinie: Ausgleichsanspruch ........................... 192 2. Pauschalreiserichtlinie: Preisanpassungsklauseln ............................ 193 3. Zahlungsverzugsrichtlinie ............................................................... 194 4. Klauselkontrolle im CESL-Vorschlag ............................................. 197 IV. Kartellrecht ......................................................................................... 198
XII
Inhaltsverzeichnis
B.
Schranke der Rechtsausübung ............................................................. 202
I. II. III. IV.
V.
Missbrauchsverbot in der Grundrechtecharta ...................................... 203 Missbrauchsverbote im Sekundärrecht ................................................ 204 Marktmissbrauch (Insidergeschäfte) ................................................... 206 Missbräuchliche Berufung auf Unionsrecht in der Rechtsprechung des EuGH.................................................................. 207 1. Grundfreiheiten .............................................................................. 208 a) Umgehung zwingenden nationalen Rechts ................................. 208 b) Export und sofortiger Reimport .................................................. 209 c) Gesellschaftsrecht: Wegzugs- und Zuzugsfälle ........................... 214 d) Steuerrecht und Grundfreiheiten ................................................. 218 e) Gesellschaftsrecht: Rechte von Aktionären aus der Zweiten Richtlinie.................................................................................... 220 f) Zwischenergebnis ....................................................................... 223 2. Internationales Zuständigkeitsrecht ................................................ 224 a) Schriftform von Gerichtsstandsvereinbarungen .......................... 225 b) Torpedoklagen ........................................................................... 226 c) Dual Use-Verträge ..................................................................... 228 d) Zuständigkeitserschleichung ...................................................... 230 e) Herbeiführung eines Vorabentscheidungsverfahrens .................. 233 Ergebnis: Das Rechtsmissbrauchsverbot ............................................. 234
C.
Begründung von Treuepflichten in Sonderverbindungen ..................... 236
I. Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit im Primärrecht ...................... 236 II. Handelsvertreterrichtlinie: Pflichten der Parteien ................................ 237 III. Richtlinie über Märkte für Finanzinstrumente ..................................... 244 D.
Lauterkeit beruflichen Handelns ......................................................... 245
I.
II.
Die UGP-Richtlinie ............................................................................. 245 1. Die Begriffe in der Generalklausel.................................................. 246 2. Verhältnis zu schwarzer Liste und kleinen Generalklauseln............ 254 3. Konkretisierung und Auslegung ..................................................... 256 Fernabsatzrichtlinien ........................................................................... 260
E.
Bindung an eigenes Vorverhalten und Verwirkung ............................. 261
I. II.
Rechtsprechung des EuGH zum Verwaltungsrecht ............................. 261 Rechtsprechung des EuGH zum Abbruch von Vertragsverhandlungen ....................................................................... 264 III. Rechtsprechung des EuGH zur Verwirkung von Verbraucherrechten ............................................................................. 264
Inhaltsverzeichnis
XIII
IV. Verwirkung des Ausgleichsanspruchs nach der Handelsvertreterrichtlinie.................................................................... 279 V. Ergebnis: Bindung an eigenes Vorverhaltens und Verbot der Berufung auf eigenes rechtswidriges Verhalten .................................. 281 F. G.
Begründung sonstiger Pflichten .......................................................... 282 Berechtigte Erwartungen .................................................................... 288
I. II.
Produkthaftungsrichtlinie .................................................................... 288 Verbrauchsgüterkaufrichtlinie ............................................................. 288
H.
Verhältnismäßigkeit, Gerechtigkeit und Fairness ................................ 289
I. II. III. IV. V.
Handelsvertreterrichtlinie: Ausgleichsanspruch nach Billigkeit .......... 290 Urheberrechtsrichtlinie ....................................................................... 295 Richtlinie zum Vermiet- und Verleihrecht .......................................... 297 Datenschutzrichtlinie .......................................................................... 300 Richtlinie über alternative Streitbeilegung in Verbraucherangelegenheiten ............................................................... 301
I.
Bösgläubigkeit .................................................................................... 302
I. II.
Gemeinschaftsmarkenverordnung und Markenrichtlinie ..................... 302 Die „.eu“-Domain-Verordnung ........................................................... 304
Kapitel 3 – Ergebnisse ......................................................................... 307 A.
C. D.
Die wissenschaftliche Debatte um Treu und Glauben im Europäischen Privatrecht ................................................................... 308 Allgemeiner Grundsatz, zugrundeliegendes Prinzip oder unbestimmter Rechtsbegriff ................................................................. 310 Quellen und Anwendungsbereich ........................................................ 311 Horizontale und vertikale Dimension .................................................. 313
I. II.
Ein besonderes Bedürfnis für Treu und Glauben ................................. 313 Besondere Schwierigkeiten im Umgang mit Treu und Glauben .......... 314
E. F.
Treu und Glauben und guter Glaube ................................................... 315 Verwandtschaften und Definitionselemente ......................................... 316
I. II. III. IV.
Verbot des Rechtsmissbrauchs ............................................................ 317 Angemessenheit und Verhältnismäßigkeit; Vernünftigkeit .................. 317 Anständigkeit und Fairness ................................................................. 317 Sorgfaltsmaßstab und Sorgfaltspflichten ............................................. 318
B.
XIV
Inhaltsverzeichnis
V.
Willkürverbot und Motivationszwang sowie Verhandlungspflichten ........................................................................ 318
G. H. I.
Standardhöhe ...................................................................................... 319 (Fehl-)Entwicklungen ......................................................................... 320 Schlussfolgerungen ............................................................................. 321
Literaturverzeichnis .................................................................................... 323 Rechtsprechungsverzeichnis ....................................................................... 339 Sachverzeichnis .......................................................................................... 347
Abkürzungsverzeichnis A. a. A. a. F. a. a. O. ABl. Abs. AcP AEUV AG AGB All ER Art. Az.
Auflage andere(r) Ansicht alte Fassung am angegebenen Ort Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften/Union Absatz Archiv für civilistische Praxis (Zeitschrift) Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union Aktiengesellschaft Allgemeine Geschäftsbedingungen All England Law Reports Artikel Aktenzeichen
BGH bspw. bzw.
Bundesgerichtshof beispielsweise beziehungsweise
CESL CMLR
Common European Sales Law Common Market Law Review (Zeitschrift)
DCFR ders./dies. d. h.
Draft Common Frame of Reference derselbe/dieselbe(n) das heißt
EBLR ECLI EGV EIPR EJCL ELJ ELR endg. engl. ERCL ERPL etc. EU EuGH
European Business Law Review (Zeitschrift) European Case Law Identifier Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften European Intellectual Property Review (Zeitschrift) Electronic Journal of Comparative Law (Zeitschrift) European Law Journal (Zeitschrift) European Law Review (Zeitschrift) endgültig englisch European Review of Contract Law (Zeitschrift) European Review of Private Law (Zeitschrift) et cetera Europäische Union Europäischer Gerichtshof
XVI
Abkürzungsverzeichnis
EUV EuZW EWCA EWiR EWS
Vertrag über die Europäische Union Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht (Zeitschrift) England and Wales Court of Appeal Entscheidungen zum Wirtschaftsrecht (Zeitschrift) Europäisches Wirtschafts- und Steuerrecht (Zeitschrift)
f./ff. FAZ Fn. frz.
folgende Frankfurter Allgemeine Zeitung Fußnote französisch
GEK ggf. GmbH GPR GRUR
Vorschlag für ein Gemeinsames Europäisches Kaufrecht gegebenenfalls Gesellschaft mit beschränkter Haftung Zeitschrift für Gemeinschaftsprivatrecht Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht (Zeitschrift)
HGB Hrsg.
Handelsgesetzbuch Herausgeber(in)
i. d. R. i. S. v. i. V. m. IIC
in der Regel im Sinne von in Verbindung mit International Review of Intellectual Property and Competition Law (Zeitschrift)
JuS JZ
Juristische Schulung (Zeitschrift) Juristenzeitung (Zeitschrift)
lit. LMK
litera (Buchstabe) Lindenmaier-Möhring Kommentierte BGH-Rechtsprechung
M-EPLI MLR m. w. N.
Maastricht European Private Law Institute (Working Paper Series) Modern Law Review (Zeitschrift) mit weiteren Nachweisen
NJW NJW-RR N° Nr.
Neue Juristische Wochenschrift (Zeitschrift) NJW-Rechtsprechungs-Report, Zivilrecht (Zeitschrift) Numéro (Nummer) Nummer
OGH OLG OJLS
österreichischer Oberster Gerichtshof Oberlandesgericht Oxford Journal of Legal Studies (Zeitschrift)
PECL
Principles of European Contract Law
RabelsZ
Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht (Zeitschrift)
Abkürzungsverzeichnis RIW RL Rn. RRa Rs. RTDcom.
Recht der internationalen Wirtschaft (Zeitschrift) Richtlinie Randnummer(n) Reiserecht aktuell (Zeitschrift) Rechtssache Revue trimestrielle de droit commercial et de droit économique (Zeitschrift)
S. SA Slg. s. o. sog. StuW
Seite(n); Satz Société Anonyme Sammlung siehe oben sogenannt(e) Steuer und Wirtschaft (Zeitschrift)
u. a. UKHL usw. u. v. m.
unter anderem; und andere United Kingdom House of Lords und so weiter und vieles mehr
v. verb. Verf. vgl. VO VuR
von/vom verbunden(e) Verfasser vergleiche Verordnung Verbraucher und Recht (Zeitschrift)
WM WRP
Wertpapier-Mitteilungen (Zeitschrift) Wettbewerb in Recht und Praxis (Zeitschrift)
z. B. ZEuP ZfRV Ziff. ZIP ZLW z. T. ZVglRWiss ZZP
zum Beispiel Zeitschrift für Europäisches Privatrecht (Zeitschrift) Zeitschrift für Rechtsvergleichung (Zeitschrift) Ziffer Zeitschrift für Wirtschaftsrecht (Zeitschrift) Zeitschrift für Luft- und Weltraumrecht (Zeitschrift) zum Teil Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft (Zeitschrift) Zeitschrift für Zivilprozess (Zeitschrift)
XVII
Einleitung Einleitung
Einleitung
Treu und Glauben darf als einer der wichtigsten Grundsätze zahlreicher kontinentaleuropäischer Privatrechtsordnungen gelten.1 Als die Generalklausel schreibt er insbesondere den Parteien privatrechtlicher Verträge einen Mindeststandard redlichen Verhaltens vor. Er soll für dasjenige stehen, was im Allgemeinen – ohne in Vertrag oder Gesetz ausdrücklich geregelt zu sein – als von den Vertragspartnern konkludent mitvereinbart angesehen wird. Einerseits wird in einem marktwirtschaftlichen System die beste Ressourcenallokation dann erwartet, wenn ein jeder bei Vertragsverhandlungen und -durchführung seine eigenen Interessen verfolgt. Andererseits sind der Verfolgung der Eigeninteressen dort Grenzen gezogen, wo das jeweilige Verhalten als unlauter, unfair, unverhältnismäßig, unzuverlässig, kurz: als Verstoß gegen das Gebot von Treu und Glauben aufzufassen wäre. Man denke etwa an einen Vertragspartner, der über Informationen zu in seiner Sphäre liegenden und für die Risikoverteilung des Vertrags relevanten Umständen verfügt und diese dem anderen Teil, der keinen Zugang zu derlei Informationen haben kann, nicht mitteilt. Oder an ein Macht- oder Motivationsgefälle bei Vertragsschluss, das eine Partei ausnutzt, um der anderen Vertragsinhalte aufzuzwingen oder unterzuschieben, denen diese bei Vorhandensein alternativer Anbieter bzw. bei vollständiger Erfassung ihres jeweiligen Inhalts nicht zugestimmt hätte. Oder schließlich an einen Vertragspartner, der sich zwar dem Wortlaut der anwendbaren vertraglichen oder gesetzlichen Bestimmungen getreu verhält, der dabei aber die der Gegenseite zustehende Leistung durch anderweitige Handlungen entwertet bzw. die Erreichung des Vertragszwecks verhindert. Die vorliegende Arbeit untersucht den Geltungsanspruch und die innere Systematik des Gebots zum Handeln nach Treu und Glauben im von der Europäischen Union geschaffenen Privatrecht. Das Unionsprivatrecht2 ist eine Sammlung spezieller, sektorspezifischer Regelungen, die mit hoher Regelungsdichte in einem begrenzten Anwendungsbereich operieren. Ein gemeinsamer, allgemeiner Teil existiert für diese heterogenen Einzelregelungen im geschriebenen Recht bisher ebenso wenig wie ein umfassendes europäisches 1 Vgl. etwa Zimmermann / Whittaker, in: dies., Good faith in European contract law, S. 13: „‘Good faith’ […] is at least in some legal systems regarded as a vitally important ingredient for a modern general law of contract.“ Siehe außerdem unten S. 37 ff. 2 Zum Begriff des Unionsprivatrechts siehe sogleich S. 12 ff.
2
Einleitung
Prozessrecht zu ihrer Durchsetzung. Sie können daher ihre Wirkung nur im Rahmen des jeweiligen nationalen Rechts entfalten, das das sonstige Regelungsumfeld zur Verfügung stellt, insbesondere in Gestalt des allgemeinen Zivilrechts und des Verfahrensrechts. Allerdings muss das nationale Recht insoweit gewissen Mindeststandards entsprechen, die sich aus den Zielen der jeweiligen unionsprivatrechtlichen Bestimmung in Verbindung mit dem Effektivitätsgrundsatz ergeben. Es darf nämlich die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht übermäßig erschweren oder praktisch unmöglich machen.3 Abhängig von der konkreten Ausgestaltung dieser Anforderungen durch den Europäischen Gerichtshof stellt sich daher die Frage, inwieweit sich – im Schatten der spezifischen Regelungen – ein mindestharmonisierender allgemeiner Teil und entsprechende allgemeine zivilrechtliche und prozessuale Grundsätze des Unionsrechts entwickelt haben. Die für die vorliegende Untersuchung namensgebenden Begriffe, Treu und Glauben und das Unionsprivatrecht, sind dabei einem steten Wandel unterworfen und oftmals schwer zu greifen. Als gemeinsamer Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit drängen sie sich aus verschiedenen Gründen auf. Einerseits kommt Treu und Glauben im Unionsprivatrecht an einer Vielzahl von Stellen vor und wird im Richtlinienrecht, aber auch vom Europäischen Gerichtshof und von der Europäischen Kommission, verschiedentlich als allgemeiner Grundsatz bezeichnet bzw. vorausgesetzt. Andererseits wird Treu und Glauben jedoch als solcher allgemeiner Grundsatz im geschriebenen Unionsprivatrecht nicht definiert oder zumindest in allgemein gültiger Form als solcher aufgestellt, wie dies in der Mehrzahl der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen der Fall ist.4 Dem Unionsprivatrecht fehlen nämlich bisher ein allgemeiner Teil oder geschriebene, allgemeine zivilrechtliche Prinzipien.5 Der Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung nach Art. 5 EUV
Siehe etwa EuGH, 5.3.1996, Verb. Rs. C-46/93 und C-48/93 Brasserie du Pêcheur SA ./. Bundesrepublik Deutschland und The Queen ./. Secretary of State for Transport, Slg. 1996 I-01029 (für Entschädigungsansprüche Einzelner gegen die Mitgliedstaaten wegen zurechenbarer Verstöße gegen das Unionsrecht); EuGH, 14.3.2013, Rs. C-415/11 Mohamed Aziz ./. Caixa d´Estalvis de Catalunya, Tarragona i Manresa, ECLI:EU:C:2013: 164, Rn. 50 (zur Durchsetzung der Rechte aus der Klauselrichtlinie nach nationalem Prozessrecht). 4 Siehe dazu den rechtsvergleichenden Überblick auf S. 50 ff. 5 Vgl. bezogen auf die Rechtsvereinheitlichung Remien, ZVglRWiss 87 (1988), 105, 116 f.: „Die Zersplitterung der bisherigen Vorhaben zur Rechtsvereinheitlichung hat einen Mangel: Es fehlen z. T. die gemeinsamen allgemeinen Begriffe, auf die Bezug zu nehmen auch ein spezielles Einheitsgesetz nicht verzichten kann.“ Dies mit Bezugnahme auf Kötz, in: Bernstein / Drobnig / Kötz, Festschrift für K. Zweigert, S. 481, 483 ff.: „Gleichwohl muss die Frage gestellt werden, ob die überkommene Methode situationsgebundener und ‚pragmatischer‘, deshalb aber notwendig punktueller Rechtsvereinheitlichung nicht ergänzt werden sollte durch eine gezie[lt]e Bemühung um Herausarbeitung eines Bestandes allge3
Einleitung
3
hat dazu geführt, dass die Union nur in bestimmten Politikbereichen tätig geworden ist. Die von ihr erlassenen Regeln sind daher fragmentarisch; sie regeln spezielle Fragen, überlassen aber den allgemeinen Hintergrund der Autorität der Mitgliedstaaten. War Ende der achtziger Jahre in diesem Zusammenhang noch von „Inseln im Meer der Details der innerstaatlichen Vertragsrechte“ die Rede,6 so wurde ein gutes Jahrzehnt später – um die Jahrtausendwende – aber bereits vertreten, diese Inseln fügten sich „allmählich zu einem Archipel des europäischen Verbraucherrechts zusammen“.7 Dabei besteht die Besonderheit, dass das Unionsprivatrecht das Verbraucherrecht früher und stärker regelt als das allgemeine Vertragsrecht.8 Aus Sicht einer traditionellen Zivilrechtsordnung bzw. -kodifikation stellt sich der status quo in Gestalt des derzeit vorhandenen, sich aber stetig wandelnden Unionsprivatrechts jedenfalls als zufällig oder willkürlich dar.9 Der Charakter des Richtlinienrechts, das in bestimmten Politikbereichen regulatorische Ziele verfolgt und dem kein dogmatisch-geordnetes Gesamtkonzept wie bei einer klassischen, zivilrechtlichen Kodifikation zugrunde liegt, zeigt sich auch darin, dass die Rechtsakte häufig eine Mischung aus ganz unterschiedlichen Rechtsbereichen betreffen und in ein und demselben Rechtsakt etwa zivilrechtliche, prozessrechtliche und öffentlichrechtliche Fragen geregelt sein können.10 Es stellt sich also die Frage, inwieweit dem Acquis communautaire ein immanenter, wenn auch teils nur mindestharmonisierender allgemeiner Teil entnommen werden kann. Die Untersuchung soll dieser Frage am Beispiel von Treu und Glauben und verwandten Missbrauchsverboten nachgehen und dabei insbesondere analysieren, inwieweit die Verwendung bzw. Anwendung dieser Grundsätze durch den europäischen Gesetzgeber und den Gerichtshof über den Einzelfall hinaus systematisierbar und verallgemeinerbar sind. Wozu bedarf es überhaupt der Verwendung unbestimmter Begriffe wie Treu und Glauben oder anderer Missbrauchsverbote? Wo auch immer Recht gesetzt wird – sei es in Gestalt von Gesetzen oder privatautonom durch Verträge – besteht für die Adressaten dieser Rechtssätze ein Anreiz, sie zu ihrem eigenen Vorteil zu nutzen. Hierin liegt an sich kein Problem; derartige Verhaltensweisen entsprechen vielmehr der Steuerungswirkung des Rechts. Allerdings umfassen Rechtssätze ihrem Wortlaut nach tatbestandlich zuweilen auch Verhaltensweisen, die der Gesetzgeber oder die Vertragsparteien bei ihrer Abfassung nicht im Sinn gehabt haben können. Von wenigen Ausnahmeiner Grundsätze des Schuldrechts, die auf einen internationalen Konsens – jedenfalls in Europa – rechnen können.“ 6 Remien, ZVglRWiss 87 (1988), 105, 113. 7 Basedow, AcP 200 (2000), 445, 453; ders., JuS 2004, 89, 93 spricht von „Farbkleckse[n]“, die zusammen aber „mehr und mehr den Eindruck eines generellen Bildes“ schafften. 8 Dazu etwa Poillot, Petites Affiches 2011, N° 234, 34, 36. 9 Basedow, JuS 2004, 89, 92. 10 Basedow, JuS 2004, 89, 92 ff.
4
Einleitung
men – etwa Zahlen – abgesehen, enthält nämlich jeder Rechtssatz notwendigerweise ein mehr oder weniger starkes Maß an Abstraktion.11 Dadurch ist er auslegungsbedürftig und insbesondere in den Randbereichen unscharf. Bestimmte Sachverhalte erfüllen dann den Tatbestand oder fallen aus ihm heraus, obwohl nach Sinn und Zweck der Vorschrift wohl jeweils das Gegenteil der Fall sein sollte. Die Rechtsanwender begegnen solchen Schwierigkeiten methodisch dadurch, dass sie entweder das Gesetz teleologisch auslegen bzw. den wirklichen Willen der Vertragsparteien näher erforschen oder aber dort, wo eine solche Auslegung an ihre Grenzen stößt, allgemeine (normexterne) Grundsätze anwenden.12 Solche Grundsätze untersagen unter bestimmten Voraussetzungen etwa die Ausübung eines Rechts, erklären das Zustandekommen eines Vertrages (teilweise) für unwirksam oder erweitern die Pflichten der Parteien über den aus der Vereinbarung selbst unmittelbar herzuleitenden Parteiwillen hinaus. Derartige, allgemeine Regeln, etwa in Gestalt des Grundsatzes von Treu und Glauben oder des Verbots missbräuchlicher Rechtsausübung bzw. der Gesetzesumgehung, kennt traditionell praktisch jede nationale Rechtsordnung. Dabei stößt die Verwendung solcher Generalklauseln13 bereits innerhalb der nationalen Rechtsordnungen ob ihrer Offenheit, ihrer Unbestimmtheit und daraus folgend ihrer eigenen Missbrauchsanfälligkeit auf dogmatische Bedenken und praktische Schwierigkeiten bei der Anwendung. Diese vervielfachen sich im Mehrebenensystem des Europäischen Privatrechts. Das Unionsprivatrecht ist insgesamt eine mit besonders vielen methodischen Schwierigkeiten und damit verbundenen Auslegungsfragen aufwartende Rechtsmaterie. Die Europäische Union befindet sich scheinbar dauerhaft am Scheideweg und die vorliegende Untersuchung ist unter dem Eindruck der Finanz-, Wirtschafts- und Staatsschuldenkrise entstanden, die sehr grundlegende Fragen zur Zukunft des politischen Systems der EU aufgeworfen hat. Das Privatrecht steht stets etwas im Schatten dieser Themen,14 wenn man von wenigen, Aufsehen erregenden Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs etwa im Bereich des Antidiskriminierungsrechts absieht.15 Dabei ist es 11 12
871 f.
Franzen, Privatrechtsangleichung durch die Europäische Gemeinschaft, S. 536. Zur Außen- und Innentheorie beim Rechtsmissbrauch siehe Fleischer, JZ 2003, 865,
Näher zu diesem Begriff und zu benachbarten Kategorien sogleich S. 16 ff. Vgl. Study Group on Social Justice in European Private Law, Social Justice in European Contract Law: a Manifesto, ELJ 10 (2004), S. 653: „The private law of contract is not the most obvious place to look for fundamental controversies about the future of the European Union. […] however […] In many respects what happens to the law of contract will be a defining moment in the history of Europe.“ 15 Vgl. etwa zum Verbot der Altersdiskriminierung durch den Gesetzgeber bei der Zulässigkeit der Befristung von Arbeitsverträgen EuGH, 22.11.2005, C-144/04 Mangold ./. Helm, Slg. 2005 I-09981; zum Verbot der Diskriminierung wegen des Geschlechts beim 13 14
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durchaus kein Geheimnis, dass mittlerweile ein wesentlicher Teil des vom nationalen Richter angewandten Privatrechts auf europäischen Vorgaben beruht.16 Gerade im Bereich der Verbraucherverträge gibt es mittlerweile einen umfassenden Normenbestand, der von der Frage des anwendbaren Rechts, über die Verbindlichkeit bestimmter Formen des Vertragsschlusses, die Zulässigkeit vorformulierter Vertragsinhalte bis hin zu Fragen des vertraglichen Leistungsstörungsrechts oder der deliktischen Haftung für Produktfehler eine Vielzahl von Teilfragen betrifft. Während sich diese Rechtsakte ursprünglich auf wenige, punktuelle Eingriffe in bestimmte Bereiche beschränkten, hat mittlerweile eine Verdichtung zu einer eigenen Rechtsmaterie – dem Unionsprivatrecht – stattgefunden. Dieses hat einen wachsenden Einfluss auch auf solche Bereiche des nationalen Rechts, die vom Anwendungsbereich des jeweiligen Rechtsakts gar nicht unmittelbar betroffen sind. Hierzu gehören Grundfeste der nationalen Privatrechtsordnungen wie das Allgemeine Schuldrecht, das Zivilverfahrensrecht und das Zwangsvollstreckungsrecht. Instrumente dieser Einflussnahme können allgemeine Rechtsgrundsätze des Unionsrechts sein, häufig aber auch ganz konkrete Bestimmungen, die etwa in Verbindung mit dem Effektivitätsgrundsatz 17 innerhalb des Anwendungsbereichs des jeweiligen Rechtsakts bestimmte Gestaltungen des nationalen Rechts geoder verbieten.18 Noch immer sind diese Regelungen aber nicht annähernd umfassend in einem Sinne, der sie mit einem nationalen Zivilgesetzbuch vergleichbar machen würde. Sie bedürfen einerseits, soweit es sich um Richtlinienrecht handelt, der Umsetzung in das nationale Recht und sind dabei häufig mindestharmonisierend, d. h. für die Mitgliedstaaten nur im Hinblick auf eine Untergrenze des umzusetzenden Regelungsgehalts verbindlich, über den diese Abschluss von Versicherungsverträgen siehe EuGH, 1.3.2011, Rs. C-236/09 Association belge des Consommateurs Test-Achats ASBL u. a. ./. Conseil des ministres, Slg. 2011 I-00773. Es ist darauf hinzuweisen, dass beide Entscheidungen keine genuin privatrechtlichen sind, sondern Anwendungen allgemeiner Rechtsgrundsätze des Unionsrechts auf Fragen im Bereich des Privatrechts darstellen. 16 Die Angabe konkreter Zahlen ist hierbei naturgemäß schwierig. Eine differenzierte Betrachtung, die zu dem Ergebnis kommt, dass tatsächlich etwa 80 % des Wirtschaftsrechts unionsrechtlichen Ursprungs sein dürften, findet sich bei Hoppe, EuZW 2009, 168 f. 17 Siehe oben Einleitung Fn. 3. Zur Unterscheidung zwischen dem hier gemeinten (sanktionsorientierten) Effektivitätsgrundsatz im engeren Sinne und dem Effektivitätsgrundsatz im weiteren Sinne, aus dem ersterer sich ableitet, siehe Heinze, in: Basedow / Hopt / Zimmermann, Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts I, S. 337 ff. 18 Ein anschauliches Beispiel hierfür ist etwa die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zur Klauselrichtlinie, die besonderen Wert darauf legt, dass der Verbraucher die Klauselkontrolle nach dem mitgliedstaatlichen Prozessrecht auch durchsetzen kann. Damit werden mittelbar bestimmte Verfahren des eigentlich nicht harmonisierten, nationalen Zivilverfahrensrechts in Frage gestellt. Hiervon können etwa der Beibringungsgrundsatz, das Mahnverfahren oder das Zwangsvollstreckungsverfahren betroffen sein, siehe unten S. 145 ff. sowie speziell zum Mahnverfahren insbesondere Dutta, ZZP 2013, 153 ff.
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aber zugunsten des Verbrauchers oder anderer begünstigter Normadressaten hinausgehen können und dies häufig auch tun. Außerdem – wohl noch entscheidender – haben die europäischen Vorgaben einen begrenzten Anwendungsbereich. Vertragsschlussregeln betreffen Fernabsatz- und Haustürgeschäfte, daneben Versicherungs- und Verbraucherkreditverträge. Auch dort decken sie die Frage des Zustandekommens des Vertrages nur zum Teil ab und sehen als wichtigsten Regelungsinhalt Widerrufsrechte vor. Das Recht missbräuchlicher Klauseln ist auf nicht individuell ausgehandelte Vertragsklauseln in Verbraucherverträgen beschränkt; die Rechte des Verbrauchers bei Mängeln gekaufter Sachen sind nur im Hinblick auf Nacherfüllung sowie Minderung oder Rücktritt geregelt, während etwaige Schadensersatzansprüche wegen derselben Mängel dem nationalen Recht überlassen bleiben.19 Andererseits werden diese beschränkten Vorgaben in gewisser Weise wieder erweitert, indem ihnen über den Äquivalenz- und Effektivitätsgrundsatz zu voller Wirksamkeit verholfen wird, was teilweise enorme Auswirkungen auf völlig andere Regelungsbereiche des nationalen Rechts haben kann, die der Unionsgesetzgeber überhaupt nicht im Blick gehabt haben dürfte.20 Die Auflösung der im Unionsprivatrecht bestehenden Gemengelage im Einzelfall bereitet dem Rechtsanwender Schwierigkeiten, die über diejenigen hinausgehen, die sich bei der Auslegung rein nationalen Rechts ebenfalls stellen würden. Stets ist nämlich nicht nur die zutreffende Auslegung einer anzuwendenden Bestimmung zu ermitteln, sondern zunächst zu klären, ob diese ggf. auf einer Richtlinie beruht und wenn ja, ob sie diese richtig umsetzt.21 Häufig kommt es auch zu scheinbaren oder echten Friktionen, wenn nämlich die Anwendung des zwingenden Sekundärrechts zu Ergebnissen führt, die mit den allgemeinen, bürgerlichrechtlichen Regeln der Mitgliedstaaten unvereinbar – kurz gesagt: ungerecht – erscheinen. Es gilt dann zu klären, ob diese Ergebnisse, etwa unter Einsatz allgemeiner zivilrechtlicher Regeln, die auch auf Ebene des Unionsrechts akzeptiert sind, gemildert, also abgeändert werden dürfen, oder ob sie aus europäischer Sicht gerade gewollt und damit zwingend sind.
19 Dagegen regelt der Vorschlag für ein Gemeinsames Europäisches Kaufrecht (siehe unten Einleitung Fn. 23) diese Frage umfänglich; zu den daraus neuerlich entstehenden Auslegungsschwierigkeiten siehe Stempel, EuZW 2013, 174, 176 ff. 20 Dutta, ZZP 2013, 153, 158 f. stellt im Hinblick auf die Klauselrichtlinie zu Recht fest, dass diese das Verfahrensrecht womöglich stärker harmonisiere als ihren eigentlichen Regelungsgegenstand, das Recht der materiellen Klauselkontrolle. 21 Das Richtlinienrecht leidet insgesamt daran, dass die nationalen Umsetzungsnormen für den Rechtsanwender nicht notwendig als solche erkennbar sind, was einer einheitlichen Auslegung abträglich sein kann. Basedow, in: Pfeiffer / Kummer / Scheuch, Festschrift für H. E. Brandner, S. 651, 655 f. bezeichnet die Richtlinie als bevorzugtes Instrument der Rechtsangleichung in der EU daher als „faule[n] politische[n] Kompromiss“.
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Bei solchen Abstimmungsfragen an der Schnittstelle zwischen Unionsrecht und nationalem Recht helfen insbesondere offene und dadurch flexible Rechtsbegriffe wie Treu und Glauben und verwandte Begriffe wie Angemessenheit, Vernünftigkeit, Loyalität, Billigkeit, Verwirkung oder Rechtsmissbrauchsverbote. Dies gilt übrigens auch in umgekehrter Richtung, wenn es darum geht, eine unionsrechtskonforme Gestaltung des nationalen Rechts, etwa eine richtlinienkonforme Auslegung gegen den Wortlaut einer Umsetzungsbestimmung, sicherzustellen. Die vorliegende Untersuchung wird zeigen, dass Treu und Glauben im Unionsprivatrecht die zentrale Kategorie dieser Art von Rechtsbegriffen darstellt und daher eine übergreifende Systematisierung derartiger Fälle unter dem Oberbegriff Treu und Glauben möglich und sinnvoll ist. Dabei dürfte einleuchten, dass es um so weniger auf den konkreten Wortlaut eines zu diesem Zweck ausgewählten Begriffs ankommt, je offener und unbestimmter dieser ist. Da man einen offeneren Begriff als Treu und Glauben schwerlich finden wird, kommt es daher bei der Beurteilung seiner Eignung als Oberkategorie hauptsächlich darauf an, ob seine Verwendung sich kohärent in das vorhandene Unionsrecht und – soweit möglich – auch in die nationalen Rechtstraditionen einfügt. Die Untersuchung sieht sich dabei verschiedenen Fragekomplexen gegenüber, die bisher in sehr unterschiedlichem Ausmaß erforscht sind. Eine recht breite Diskussion hat es etwa über den Missbräuchlichkeitsmaßstab der Klauselrichtlinie oder über den Begriff des Rechtsmissbrauchs im Gesellschaftsund Steuerrecht in Gestalt der schwierigen Differenzierung zwischen Gebrauchmachen und Missbrauch von Grundfreiheiten gegeben. In anderen Bereichen ist Treu und Glauben und verwandten Begriffen, obwohl teilweise an zentraler Stelle in Unionsrechtsakten vorhanden, in Rechtsprechung und Literatur sehr wenig Beachtung geschenkt worden.22 Und schließlich ist mit Blick in die Zukunft festzustellen, dass Treu und Glauben offenbar zu einem Lieblingskind des Europäischen Gesetzgebers geworden ist. Insofern stellt sich auch die Frage, welche Rolle Treu und Glauben in einem möglichen europäischen Zivilgesetzbuch spielen kann oder sollte. Im ersten legislativen Schritt in diese Richtung, dem Vorschlag für ein optionales, von den Parteien zu wählendes Gemeinsames Europäisches Kaufrecht23 kommt Treu und Glau-
Viele Bestandaufnahmen zu Treu und Glauben in übergreifenden Werken zum Europäischen- bzw. zum Unionsprivatrecht leiden zudem daran, etwas kursorisch und wenig differenziert vorzugehen, vgl. etwa Hartkamp, European Law and National Private Law, S. 114 f. 23 Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über ein Gemeinsames Europäisches Kaufrecht, Brüssel, 11.10.2011, KOM (2011) 635 endg. (hier fortan nach der geläufigeren englischen Abkürzung als „CESL“ [Common European Sales Law] bzw. „CESL-Vorschlag“ bezeichnet). 22
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ben geradezu inflationär vor, ohne dass aber klar ist, auf welcher Grundlage der Begriff im Einzelfall auszulegen sein soll.24 Der bereits angedeutete weite Zuschnitt des ohnehin weiten Themas wirft die Frage auf, was dem Untersuchungsgegenstand genau unterfallen soll. Gehören hierzu nur ausdrückliche Erwähnungen dieses oder verwandter Prinzipien, oder auch solche Regeln, denen der Gedanke von Treu und Glauben lediglich zugrunde liegen könnte? Dem steht praktisch im Wege, dass für Viele das gesamte Vertragsrecht als ein Ausdruck des Grundsatzes von Treu und Glauben angesehen wird25 und der Untersuchungsgegenstand damit endgültig uferlos würde. Zwar enthält das von der Union gesetzte Vertragsrecht bisher keine umfassenden und zudem fast ausschließlich zwingende Regeln. Dennoch dürfte es den Umfang der Arbeit überschreiten, jede Regel daraufhin zu untersuchen, inwieweit sie eine Ausprägung von Treu und Glauben darstellt. Solche Regeln sollen daher nur ausnahmsweise in die Untersuchung mit einbezogen werden, wenn sie von der Rechtsprechung oder der Rechtswissenschaft bereits als besonders typische Ausprägungen von Treu und Glauben identifiziert worden sind oder soweit es sich um die Kodifikation solcher Regeln durch den Gesetzgeber handelt, die vormals von der Rechtsprechung auf Basis des Grundsatzes von Treu und Glauben entwickelt worden waren. Das Erkenntnisinteresse der Arbeit liegt ausschließlich auf Ebene des Unionsrechts, so dass selbstverständlich nicht unreflektiert ein nationales Vorverständnis – insbesondere nicht das deutsche mit der sehr ausdifferenzierten Wirkungsweise von § 242 BGB – zugrunde gelegt werden darf. Vielmehr muss Ausgangspunkt die Frage sein, was gerade das Unionsrecht unter Treu und Glauben versteht. Gleichzeitig ist diese Frage aber schwierig zu beantworten; sie stellt ja gerade das Forschungsziel der Arbeit dar. Ein rein buchstäblich über den Wortlaut Treu und Glauben vorgenommener Zuschnitt der Arbeit würde der Komplexität des Themas nicht gerecht und würde darüber hinaus schon aus Gründen der unterschiedlichen Sprachfassungen scheitern.26 Was das Unionsrecht im Deutschen mit Treu und Glauben bezeichnet, wird nicht stets mit good faith oder la bonne foi in die englische oder französische Sprachfassung übertragen – und umgekehrt.27 Außerdem löst das Unionsrecht Siehe dazu unten S. 61 ff. So etwa Hesselink, in: ders., The New European Private Law. Essays on the Future of Private Law in Europe, S. 195 f. 26 Exemplarisch für eine sorgfältige Berücksichtigung der unterschiedlichen Sprachfassungen einer Richtlinie etwa EuGH, 30.5.2013, Rs. C-488/11 Dirk Frederik Asbeek Brusse und Katarina de Man Garabito ./. Jahani BV, ECLI:EU:C:2013:341, Rn. 25–28 (zum Begriff der Gewerbetreibenden nach der Klauselrichtlinie, der in der niederländischen Sprachfassung auf den Begriff des Verkäufers beschränkt zu sein schien). 27 Vgl. Riesenhuber, Europäisches Vertragsrecht, S. 227; zusätzlich besteht die Schwierigkeit, dass die im Deutschen vorhandene Unterscheidung zwischen objektivem Treu und 24 25
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an manchen Stellen bestimmte Fälle über Treu und Glauben und an anderen Stellen ähnliche Fälle über andere Rechtsinstitute, ohne dass dieser Unterscheidung ein klar erkennbares Konzept zugrunde liegt. Inwieweit diese anderen Rechtsinstitute in den Untersuchungsgegenstand mit einbezogen werden, kann daher sinnvollerweise nur nach funktionalen Kriterien entschieden werden. Damit steht fest, dass der Rahmen für die Untersuchung mehrdimensional gezogen werden muss: Neben dem Begriff Treu und Glauben in verschiedenen Sprachfassungen28 wird auch nach Funktionsäquivalenten zu suchen sein. Da sich diesbezüglich eine einheitliche Terminologie und Systematik im Unionsrecht bisher nicht erkennbar herausgebildet hat und die Frage daher selbst den Gegenstand dieser Untersuchung bildet, wird insoweit auf andere Maßstäbe, insbesondere auf die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen und auf (akademische) Regelkataloge zurückzugreifen sein, denen rechtsvergleichende oder unionsrechtliche Forschungen zugrunde liegen. Der Fokus dieser Untersuchung – die Suche nach verbindenden Elementen in der Anwendung von Treu und Glauben über die unterschiedlichen Fundstellen und Bereiche hinaus – setzt auch voraus, dass das Unionsrecht zumindest den Anspruch hat, die von ihm verwendeten Begriffe rechtsakts- und gebietsübergreifend einheitlich auszulegen. Dass dies der Fall ist, hat der EuGH im Urteil Murphy29 jedenfalls für das Richtlinienrecht grundsätzlich bestätigt. Treu und Glauben hat im Unionsprivatrecht aber auch eine rechtspolitische Dimension: Einerseits geht es um die Frage, wo der Handlungsfreiheit, insbesondere der Vertragsfreiheit, Grenzen gezogen werden dürfen und dies mit dem Ziel des Schwächerenschutzes gerechtfertigt werden kann.30 Dies betrifft Glauben und subjektiver Gutgläubigkeit sich in anderen Sprachen begrifflich nicht in derselben Klarheit wiederfindet, vgl. Ahlt, in: Gsell / Hau, Zivilgerichtsbarkeit und Europäisches Justizsystem, S. 31, 36. 28 Grundsätzlich sind bei der Auslegung des Unionsrechts alle Sprachfassungen gleichrangig zu berücksichtigen, siehe EuGH, 6.10.1982, Rs. 283/81 Srl CILFIT und Lanificio di Gavardo SpA ./. Ministero della Sanità, Slg. 1982, S. 03415, Rn. 18; EuGH, 3.4.2008, Rs. C-187/07 Strafverfahren ./. Dirk Endendijk, Slg. 2008 I-02115, Rn. 22 ff. 29 EuGH, 4.10.2011, verb. Rs. C-403/08 und C-429/08, Football Association Premier League Ltd u. a. ./. QC Leisure u. a. sowie Karen Murphy ./. Media Protection Services Ltd, Slg. 2011 I-09083, Rn. 188: „Unter diesen Umständen müssen in Anbetracht der Erfordernisse der Einheit und Kohärenz der Unionsrechtsordnung die in sämtlichen dieser Richtlinien verwendeten Begriffe dieselbe Bedeutung haben, es sei denn, dass der Unionsgesetzgeber in einem konkreten gesetzgeberischen Kontext einen anderen Willen zum Ausdruck gebracht hat.“ 30 Zur Gewährleistung von Vertragsfreiheit im Unionsrecht siehe etwa die Schlussanträge des Generalanwalt Leendert A. Geelhoed vom 31. Januar 2002 in der Rs. C-334/00 Fonderie Officine Meccaniche Tacconi SpA ./. Heinrich Wagner Sinto Maschinenfabrik GmbH (HWS), Slg. 2002 I-07357, Rn. 55: „Aus dem Grundsatz der Vertragsfreiheit folgt, dass jedermann frei wählen kann, mit wem und worüber er in Verhandlungen treten und
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im Bereich des Vertragsrechts insbesondere die Inhaltsfreiheit, die durch die Klauselrichtlinie und weitere Rechtsakte eingeschränkt wird. Es betrifft aber wohl auch die Grenzziehung zwischen Individualismus und Privatautonomie einerseits und sozialer Gerechtigkeit oder „Wohlfahrtsökonomik“ (social welfarism) andererseits.31 Die Beantwortung der Frage, wo diese Grenze im Einzelfall liegen soll, soll nicht Gegenstand dieser Untersuchung sein. Hier soll es nur darum gehen, Methode und Kompetenzverteilung für die Auslegung und Anwendung von Treu und Glauben zu untersuchen sowie in Form von Fallgruppen normative Aussagen darüber zu machen, wie dieser Begriff auszufüllen sein könnte. Die auf recht abstrakter Ebene geführte Debatte, ob die Verwendung von Treu und Glauben durch den Gesetzgeber nun eher einem liberalen, marktwirtschaftlichen Vertragsrecht Vorschub leistet oder ob es sich in Wahrheit um ein Vehikel wohlfahrtsstaatlichen Interventionismus handelt,32 soll dagegen nicht vertieft werden.
bis zu welchem Punkt er die Verhandlungen fortsetzen will.“ Dies erfolgt allerdings mit dem Hinweis auf die Unidroit-Principles und die dort enthaltene Einschränkung, dass ein Abbruch von Vertragsverhandlungen „in bad faith“ zu Schadensersatzansprüchen verpflichten kann. Ausführlich zur Rolle der Vertragsfreiheit im Unionsprivatrecht Basedow, Bitburger Gespräche Jahrbuch 2008/I, S. 85, 89 ff., der darauf hinweist, dass die Vertragsfreiheit zwar in den Verträgen keine ausdrückliche Erwähnung findet, ihre Gewährleistung aber von diesen – insbesondere in Gestalt der Grundfreiheiten – aber offensichtlich vorausgesetzt wird. 31 Die Study Group on Social Justice in European Private Law, Social Justice in European Contract Law: a Manifesto, ELJ 10 (2004), S. 653, 655 kritisiert den im Vertragsrecht von der Kommission nach Ansicht der Study Group bisher eingeschlagenen, ihrer Auffassung nach neoliberalen und technokratischen Weg. 32 Vgl. Navaretta, Jus Civile 2013, 118, 120 „[…] equally attacked from the right and from the left.“
Kapitel 1
Grundlagen Kapitel 1 – Grundlagen
Eine Untersuchung des Grundsatzes von Treu und Glauben im Unionsprivatrecht begegnet verschiedenen Herausforderungen. Die schwierige Abgrenzbarkeit und die große Bandbreite dieses Begriffs machen eine Auseinandersetzung auch mit benachbarten bzw. verwandten Rechtsinstituten erforderlich. Zunächst ist also auszuführen, was überhaupt von Treu und Glauben umfasst ist, um den Untersuchungsgegenstand entsprechend zuschneiden zu können. In einem Mehrebenensystem muss auch geklärt werden, welcher Grundsatz von Treu und Glauben hier betrachtet wird, also ob und inwieweit er auf Ebene des europäischen oder des nationalen Rechts zu suchen ist, definiert wird und Geltung beansprucht. Damit verbunden ist die Frage des Vorverständnisses, das bei unionsrechtlichen Begriffen grundsätzlich ein autonom-europäisches sein muss.1 Gleichzeitig muss der Rechtsanwender bei der Systematisierung und Fallgruppenbildung auf bereits vorhandene Überlegungen zurückgreifen können, die bislang aber teilweise nur im nationalen Recht bzw. in der Rechtsvergleichung existieren. Bevor auf das der Untersuchung zugrunde zu legende Vorverständnis von Treu und Glauben eingegangen wird (B.), ist zunächst der Rahmen abzustecken, innerhalb dessen die Wirkungsmacht dieses Gebots untersucht wird (A.). Anschließend wird ein Überblick über mit Treu und Glauben im Unionsrecht erkennbar verwandte Rechtsinstitute gegeben (C.), woraus sich dann der Zuschnitt der Untersuchung ergibt (D.).
A. Treu und Glauben im Unionsprivatrecht A. Treu und Glauben im Unionsprivatrecht
Treu und Glauben soll als Gegenstand dieser Untersuchung im Hinblick auf seine Geltung und seinen Inhalt im von der Europäischen Union gesetzten und bestimmten Privatrecht betrachtet werden. Das setzt zunächst voraus, dass dieses Umfeld näher definiert wird (I.). Außerdem soll einführend auf die typischen Schwierigkeiten eingegangen werden, die im Allgemeinen mit
1 EuGH, 10.4.1984, Rs. 14/83 Sabine von Colson und Elisabeth Kamann ./. Land Nordrhein-Westfalen, Slg. 1984, S. 01891 Rn. 26; EuGH, 13.11.1990 Rs. C-106/89 Marleasing SA ./. La Comercial Internacional de Alimentacion SA, Slg. 1990 I-04135, Rn. 8; siehe auch Grundmann, RabelsZ 75 (2011), 882, 886.
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Kapitel 1 – Grundlagen
der Verwendung von Generalklauseln verbunden sind (II.) und sich in einem Mehrebenensystem in besonderer Weise zeigen (III.). I.
Unionsprivatrecht
Der Untersuchungsgegenstand ist beschränkt auf das Unionsprivatrecht, das hier synonym auch als EU-Privatrecht bezeichnet wird. Darunter wird das von der Europäischen Union selbst gesetzte oder jedenfalls mittelbar beeinflusste, schon und noch geltende Privatrecht verstanden. 1. Unionales Recht Mit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon am 1. Dezember 2009 endete die Existenz der Europäischen Gemeinschaft. Ihre Rechtsnachfolgerin ist gemäß Art. 1 Abs. 3 S. 3 EUV die Europäische Union. Insofern wird hier begrifflich stets von unionalem Recht, von Unionsrecht bzw. von Unionsprivatrecht die Rede sein und nicht mehr von Gemeinschaftsrecht oder Gemeinschaftsprivatrecht. Hierzu gehören insbesondere das gesamte Primär- und Sekundärrecht der Union sowie die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs. Im Bereich des Richtlinienrechts wird sich die Untersuchung auf denjenigen Regelungsgehalt beschränken, der den Mitgliedstaaten vom Unionsgesetzgeber verbindlich vorgegeben wird.2 Umsetzungsgesetzgebung und nationale Rechtsanwendung werden nur in den Fokus genommen, soweit dies für das Verständnis der vom Erkenntnisinteresse der Arbeit umfassten Zusammenhänge unerlässlich ist. Abzugrenzen ist der Begriff des Unionsprivatrechts insbesondere von demjenigen des Europäischen Privatrechts. Dieser bezeichnet beide, Unionsprivatrecht und gemeineuropäisches Privatrecht, und nimmt je nach Definition auch noch das geltende internationale Einheitsrecht hinzu. Sowohl der nicht harmonisierte, rein nationalrechtliche Teil der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen – auch soweit diese sich untereinander im Wesentlichen entsprechen – als auch das Einheitsprivatrecht nehmen aber am Erkenntnisinteresse dieser Untersuchung nicht teil. Auf sie wird nur zurückzugreifen sein, soweit dies etwa für die Klärung des Vorverständnisses von Treu und Glauben erforderlich wird. Der Begriff „Europäisches Privatrecht“ wird daher in dieser Arbeit
2 Vgl. zum Begriff des Unionsprivatrechts in diesem Sinne Basedow, in: Basedow / Hopt / Zimmermann, Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts Band I, S. 680; dessen Begriffsvorgänger – das Gemeinschaftsprivatrecht – hat zuerst Müller-Graff, Privatrecht und europäisches Gemeinschaftsrecht (Wiederabdruck eines Vortrags aus dem Jahr 1987), in: ders., Gemeinsames Privatrecht in der Europäischen Gemeinschaft, S. 267, 285 verwendet: „Ist hier ein Rechtsgebiet im Entstehen, das man Gemeinschaftsprivatrecht nennen könnte? Die Frage lässt sich unumwunden bejahen.“ Siehe auch ders., NJW 1993, 13 ff.
A. Treu und Glauben im Unionsprivatrecht
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selten verwendet.3 Allerdings könnten die Untersuchungsergebnisse dazu dienen, dass die für das gemeineuropäische Privatrecht etwa in Gestalt der PECL entwickelten Grundsätze an das vorhandene Unionsprivatrecht „rückgekoppelt“4 werden, sofern man als Fernziel die Zusammenführung des Europäischen Privatrechts zu einer einheitlichen Rechtsmaterie befürwortet. 2. Privatrecht Das Erkenntnisinteresse der Untersuchung ist auf das Privatrecht beschränkt. Hierunter versteht die Arbeit aus dem Bereich des Sekundärrechts im Kern das Vertragsrecht, also das Verbraucherprivatrecht der EU, das Handelsvertreterrecht und einige weitere Bereiche, etwa den Schutz kleinerer Unternehmen vor den Folgen des Zahlungsverzugs. Im weiteren Sinne zählt die Untersuchung auch das Wettbewerbsrecht, das Recht des geistigen Eigentums, das Gesellschaftsrecht und das internationale Zivilverfahrensrecht zum Privatrecht. Bei der Untersuchung der Rechtsprechung des EuGH muss auch über die Grenzen des Privatrechts im weiteren Sinne hinausgegangen werden, um nicht einen Teil der Entwicklung aus der Betrachtung herauszunehmen, ohne den sich diese nicht nachvollziehen lässt. Insgesamt ist eine ganz strikte Grenzziehung ohnehin schwerlich möglich. Wegen des privatrechtlichen Zuschnitts der Arbeit und des privatrechtlichen Ursprungs von Treu und Glauben in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen wird die Untersuchung jedoch solchen Fundstellen und Anwendungsfällen von Treu und Glauben besonderes Gewicht beimessen, die das Vertragsrecht betreffen. Ein rechtsvergleichender Tagungsband der Association Henri Capitant 5 zum Thema „La Bonne Foi“ trifft im Hinblick auf den Grundsatz von Treu und Glauben die naheliegende Differenzierung nach dessen Geltung unter (natürlichen und juristischen) Privatpersonen, zwischen Privaten und dem Staat und in internationalen Beziehungen, also zwischen Staaten. Diese Unterteilung nach den Normunterworfenen bietet sich an, um den Untersuchungsgegenstand weiter zu differenzieren. Die dritte Kategorie – Treu und Glauben im Völkerrecht6 – wird hier keine wesentliche Rolle spielen. Zwar 3 Er ist zudem recht ungenau, weil er in ganz verschiedener Art und Weise benutzt wird. Siehe zur sehr heterogenen Verwendung des Begriffs „Europäisches Privatrecht“ Metzger, Extra legem, intra ius: Allgemeine Rechtsgrundsätze im Europäischen Privatrecht, S. 111 ff.; vgl. etwa auch die Änderung im Titel des Buches von Heiderhoff, Gemeinschaftsprivatrecht (in der 2. Auflage) in Heiderhoff, Europäisches Privatrecht (in der 3. Auflage), wobei die Autorin andererseits im Vorwort selbst darauf hinweist, dass eigentlich „jetzt von EU-Privatrecht oder Unionsprivatrecht gesprochen werden [muss]“. 4 Forderung von Basedow, AcP 200 (2000), 445, 490. 5 Association Henri Capitant, Travaux de l’Association Henri Capitant des amis de la culture juridique française, La Bonne Foi – Journées louisianaises 1992. 6 Art. 2 Abs. 2 der Charta der Vereinten Nationen bestimmt etwa: „Alle Mitglieder erfüllen, um ihnen allen die aus der Mitgliedschaft erwachsenden Rechte und Vorteile zu
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Kapitel 1 – Grundlagen
findet sich dieser Gedanke im Europarecht ebenfalls wieder,7 aber seine Anwendungsfälle sind recht privatrechtsfern, so dass sie für eine Untersuchung des Unionsprivatrechts nicht viel hergeben. Die zweite Kategorie – Treu und Glauben zwischen einem Privaten und dem Staat – betrifft ebenfalls nicht unmittelbar das Privatrecht. Sie kann sich aber je nach Fall sehr stark auf das Privatrecht auswirken, man denke nur an alle diejenigen Bereiche, die in verschiedener Weise staatlicher Aufsicht oder Einwirkung unterliegen, so etwa das Markenrecht oder das Gesellschaftsrecht mit ihren Registrierungspflichten oder aber das Zivilverfahrensrecht, wo ein Großteil der Verfahrenshandlungen nicht unmittelbar gegenüber der anderen Partei, sondern gegenüber dem Gericht oder einer vergleichbaren staatlichen Stelle vorzunehmen ist. Aber auch andere Bereiche ohne unmittelbare Anbindung an das Privatrecht werden mit zu untersuchen sein, einfach weil es dort teilweise eine deutlich differenziertere Rechtsprechung und Dogmatik zum Untersuchungsgegenstand gibt. Allerdings ist stets darauf zu achten, dass die dort für die Konstellation Privater – Staat entwickelten Konzepte nicht eins zu eins auf die Konstellation Privater – Privater übertragen werden können. Letztere Kategorie – Geltung und Inhalt von Treu und Glauben zwischen Privaten – stellt selbstverständlich den Kern dieser Arbeit dar. Innerhalb dieser Kategorie ist dann nach der Wirkungsweise von Treu und Glauben in- und außerhalb des Vertragsrechts und nach den Unterkategorien vor Vertragsschluss, bei Vertragsschluss, während der Vertragsdurchführung und nach Vertragsbeendigung zu unterscheiden. Eine solche Unterteilung erscheint im Unionsprivatrecht auch gut durchführbar, das ja – um jeweils ein Beispiel zu geben – vorvertragliche Informationspflichten, Klauselkontrolle, Rechtsbehelfe bei Mangelhaftigkeit von Kaufsachen und bestimmte Aspekte der Rückabwicklung von Verträgen nach Rücktritt oder Widerruf regelt. II. Generalklausel Was ist (oder sind) Treu und Glauben? Ein allgemeiner Rechtsgrundsatz, wonach gegen diese Gebote verstoßendes Verhalten verboten ist, mithin nicht die beabsichtigten Rechtsfolgen zeitigen kann oder sonstige Sanktionen, ggf. sichern, nach Treu und Glauben die Verpflichtungen, die sie mit dieser Charta übernehmen.“ Siehe auch Constantinesco, in: Capotori u. a., Liber Amicorum Pierre Pescatore, S. 100 ff. 7 Dies ist insbesondere in Gestalt der loyalen Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten (Unionstreue) der Fall, siehe unten S. 236. Auch der Europäische Gerichtshof hat die Geltung des Grundsatzes von Treu und Glauben im Völkerrecht mehrfach ausdrücklich anerkannt, siehe etwa EuGH, 3.6.2008, Rs. C-308/06 The Queen, auf Antrag von International Association of Independent Tanker Owners (Intertanko) u. a. ./. Secretary of State for Transport, Slg. 2008 I-04057, Rn. 52; ausführlicher EuGH, 6.11.2008, Rs. C-203/07 P Hellenische Republik ./. Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Slg. 2008 I-08161, Rn. 16 und 64.
A. Treu und Glauben im Unionsprivatrecht
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auch selbständige Schadensersatzansprüche nach sich zieht? Oder nur ein objektiver, an der Grenze rechtlicher Definierbarkeit liegender Verhaltensstandard, der seine Wirkung nur durch Einbettung in eine – geschriebene oder ungeschriebene – Rechtsnorm entfalten kann? Ist die Verwendung einer solchen Norm für eine Rechtsordnung begrüßenswert, weil sie Flexibilität für die Anpassung an neue wirtschaftliche, soziale oder technische Entwicklungen gibt und der Gesetzgeber nicht jeden denkbaren Fall im Vorhinein umfänglich regeln kann?8 Oder birgt die Verwendung dieser Norm die Gefahr von Rechtsunsicherheit und schlecht begründeten, womöglich gar willkürlichen Entscheidungen?9 Wie ist eine einheitliche und kohärente Rechtsanwendung bei einer solchen Blankettnorm sicherzustellen, d. h. insbesondere: Inwieweit ist so eine Vorschrift einer Auslegung zugänglich, die vom jeweiligen Einzelfall losgelöst gültig ist und damit eine durch höhere Gerichte überprüfbare Rechtsfrage darstellt? Oder handelt es sich um eine reine Billigkeitsnorm, die tatrichterliches Ermessen einräumt, das eine Frage ihrer Anwendung im Einzelfall darstellt und damit allenfalls sehr begrenzt überprüfbar ist? Im Zusammenhang mit Treu und Glauben ist häufig von einer oder sogar von der Generalklausel die Rede und dieser Begriff wird auch hier verwendet werden. Er wirft möglicherweise sprachliche Schwierigkeiten für Juristen bestimmter Rechtsordnungen auf, für die der Begriff der Klausel ausschließlich denjenigen der Vertragsklausel bezeichnet.10 Allerdings ist mittlerweile jedenfalls in England und Frankreich der Begriff general clauses bzw. clauses générales in dem sogleich zu beschreibenden Sinn durchaus etabliert. Auch wird seit Langem eine Diskussion um Vorzüge und Gefahren der Nutzung von Generalklauseln im Allgemeinen und von Treu und Glauben im Besonderen geführt.11 Diese soll hier nicht abstrakt wiedergegeben werden;
8 Dabei ist Treu und Glauben auch Einfallstor für außerrechtliche, moralische und soziale Wertungen, vgl. Hesselink, in: ders., The New European Private Law. Essays on the Future of Private Law in Europe, S. 195 f. Siehe auch Schmidt, Martin, Konkretisierung von Generalklauseln im europäischen Privatrecht, S. 33, 116: „Vielmehr dient Treu und Glauben der Rezeption der Grundentscheidungen des Rechts und außerrechtlicher sozialer Vorstellungen […].“ 9 Vgl. zu dieser immer wieder aufs Neue aufgeworfenen Frage mit einem historischen Überblick aus Sicht des deutschen Rechts Looschelders / Olzen, in: Staudinger BGB, § 242, Rn. 1 ff. 10 Vgl. etwa Tallon, in: Basedow / Hopt / Kötz, Festschrift für U. Drobnig, S. 677, 681. 11 Hierzu kritisch und mit vielen Nachweisen Auer, ERPL 2002, 279, 281 ff. Für die nach Inkrafttreten des BGB in Deutschland um Treu und Glauben entstandene Diskussion siehe etwa Looschelders / Olzen, in: Staudinger BGB, § 242 Rn. 39 ff., wonach ein enger, „vertragsrechtlicher Ansatz“ (wonach Treu und Glauben auf die Schließung von den Vertragsparteien gelassener Lücken durch Auslegung anhand des [mutmaßlichen] Parteiwillens zu beschränken war) mit einem – sich rasch durchsetzenden – „gesellschaftlichen Ansatz“ konkurrierte, der auch eine Kontrollfunktion von Treu und Glauben umfasste und es dement-
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Kapitel 1 – Grundlagen
vielmehr wird im Laufe der Untersuchung genau auf diese Frage einzugehen sein, allerdings mit dem ausschließlichen Fokus auf dem Unionsprivatrecht und anhand konkreter Fälle. 1. Generalklausel und unbestimmter Rechtsbegriff Der Begriff der Generalklausel wird in der deutschen Rechtswissenschaft von demjenigen des unbestimmten Rechtsbegriffs unterschieden. Die Unterscheidung soll sich danach vollziehen, dass ein unbestimmter Rechtsbegriff gewissermaßen konkreter ist als die Generalklausel, indem er einen Begriffskern aufweist, innerhalb dessen er bereits seinem Wortlaut nach definierbar ist und nur in der Peripherie, dem sog. Begriffshof, wirklich unbestimmt ist.12 Dagegen sei die Generalklausel im Ausgangspunkt vollkommen unbestimmt.13 Ob diese Unterscheidung stringent durchzuhalten ist, ist jedoch umstritten.14 Insbesondere ist unklar, ob sie auf die Ebene des Unionsprivatrechts übertragen werden kann, dessen Dogmatik noch weit weniger ausdifferenziert ist.15 Zu überlegen ist auch, ob eine Unterscheidung danach getroffen werden kann, dass bei einer Generalklausel nicht nur ein oder mehrere Tatbestandsmerkmasprechend erlaubte, etwa den Inhalt eines Vertrages anhand objektiv anerkannter Gerechtigkeitsvorstellungen auch gegen den ausdrücklichen Willen der Parteien zu modifizieren. 12 Diese Unterscheidung stammt ursprünglich wohl von Heck, AcP 112 (1914), 1, 46 („Vorstellungskern“ und „Vorstellungshof“) sowie 173 („Bedeutungskern“ und „Bedeutungshof“); siehe auch Grundmann, in: Grundmann / Mazeaud, General Clauses and Standards, S. 3 (dort Fn. 4). Franzen, Privatrechtsangleichung durch die Europäische Gemeinschaft, S. 536 weist zurecht darauf hin, dass die Unterscheidung zwischen konkretisierungsbedürftigen und nicht konkretisierungsbedürftigen Rechtsbegriffen mit wenigen Ausnahmen nur eine graduelle sein kann: „[…] nahezu jeder Rechtsbegriff [ist] in gewissem Umfang präzisierungsbedürftig, von Zahlwörtern abgesehen.“ Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, S. 33 f., führt aus, der Unterschied zwischen Generalklauseln und unbestimmten Rechtsbegriffen sei kein qualitativer, sondern ein quantitativer. Laut Weber, AcP 192 (1992), 516, 526 ff. zeichnen sich Generalklauseln durch den fehlenden Begriffskern und die dadurch nicht vorhandene Subsumierbarkeit aus, die durch die Bildung von Fallgruppen als „Ersatztatbestandsmerkmale“ überwunden werden könne. Es handele sich jedoch nicht nicht um echte Tatbestandsmerkmale, da diese nicht abstrakt aus der Generalklausel selbst, sondern aus dem konkreten Fall entwickelt würden. 13 Auch dies ist nicht unumstritten; so ist etwa Heinrich, Formale Freiheit und materiale Gerechtigkeit, S. 316 f. sowie 334 f. der Auffassung, auch Generalklauseln beinhalteten eine eigene Wertung und seien keine Leerformeln. 14 Roth, Wulf-Henning, ERCL 2011, 425, 431 hält einen möglichem methodischen Unterschied jedenfalls für vernachlässigbar; eingehend zur Unterscheidung zwischen „Generalklausel“ und „unbestimmtem Rechtsbegriff“ und den dazu vertretenen Meinungen Schillig, Konkretisierungskompetenz und Konkretisierungsmethoden im Europäischen Privatrecht, S. 116 ff. 15 Vgl. Schmidt, Martin, Konkretisierung von Generalklauseln im europäischen Privatrecht, S. 18 f.
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le unbestimmt sind, sondern auch die Rechtsfolgen der Norm.16 Eine ähnliche Unterscheidung, wonach die Generalklausel ein eigener Rechtssatz ist, während der unbestimmte Rechtsbegriff Tatbestandsmerkmal einer anderen Norm ist,17 ermöglicht in der Tat eine sinnvolle Differenzierung für die Zwecke dieser Arbeit: Danach ist der Grundsatz von Treu und Glauben im Unionsprivatrecht dort als Generalklausel zu qualifizieren, wo er aus sich selbst heraus zur Anwendung gebracht wird, während er als Tatbestandsmerkmal anderer Normen, etwa bei der Missbrauchskontrolle allgemeiner Geschäftsbedingungen, als unbestimmter Rechtsbegriff einzuordnen ist. Im Übrigen erscheint eine allzu feinsinnige Unterscheidung für das Unionsprivatrecht zurzeit nicht dienlich.18 Es kommt auf sie für die Zwecke dieser Arbeit aber auch nicht entscheidend an. Wichtiger erscheint dagegen der Hinweis darauf, dass die Generalklausel im Sinne des hier untersuchten Begriffs von Treu und Glauben kein technischer Begriff ist, dessen zutreffende Auslegung gewissermaßen im Vorhinein umfänglich festgestellt werden könnte, sondern dass es sich um einen beweglichen, mit der Zeit und der gesellschaftlichen Entwicklung veränderlichen Standard handelt. Dieser Standard bewegt sich auch bei seiner konkreten Anwendung an der Grenze rechtlicher Definierbarkeit, da er stets erst mit Wertungen aufgeladen werden muss, die auch dem außerrechtlichen Bereich entstammen können und insbesondere moralische Elemente beinhalten können. Damit soll nicht gesagt sein, dass solche Begriffe einer einheitlichen Auslegung durch letztinstanzliche Gerichte nicht zugänglich wären.19 2. Regel und Prinzip Außerdem zu nennen ist hier die Unterscheidung zwischen Rechtsregel und Prinzip. Ohne dass im Einzelnen auf rechtstheoretische Grundlagen eingegangen werden kann,20 ist für die Untersuchung der einzelnen Fundstellen von Treu und Glauben zu berücksichtigen, dass es sich nicht nur um das Tatbestandsmerkmal einer Norm oder um eine unabhängige Norm mit eigener Rechtsfolge handeln kann, sondern auch noch um ein einer anderen Norm Dagegen sieht Nasall, in: Gebauer / Wiedmann, Zivilrecht unter europäischem Einfluss, S. 173, 196 die Generalklausel als eine Norm mit einer Rechtsfolgenaussage, jedoch mit unbestimmtem Tatbestand. 17 Schillig, Konkretisierungskompetenz und Konkretisierungsmethoden im Europäischen Privatrecht, S. 117 m. w. N. 18 Vgl. Schillig, Konkretisierungskompetenz und Konkretisierungsmethoden im Europäischen Privatrecht, S. 136 f., 144. 19 Glöckner, GRUR 2013, 224, weist darauf hin, dass auch die Grundfreiheiten des AEUV Generalklauseln darstellen. Diese sind bekanntlich vom Europäischen Gerichtshof erfolgreich und umfassend konkretisiert worden. 20 Siehe dazu etwa Hesselink, in: ders., The New European Private Law. Essays on the Future of Private Law in Europe, S. 195, 197 mit Hinweisen auf zahlreiche weitere Bezeichnungen für die Rechtsnatur des Grundsatzes von Treu und Glauben. 16
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mit anderem Wortlaut zugrundeliegendes Rechtsprinzip (underlying principle)21. Dies wirft Schwierigkeiten auf, weil sich eine sehr große Zahl, möglicherweise sogar die Mehrzahl jedenfalls der vertragsrechtlichen Bestimmungen in der einen oder anderen Weise auf Treu und Glauben zurückführen lassen dürfte.22 Auch das dispositive Vertragsrecht dient ja der Verwirklichung eines fairen Ausgleichs zwischen den Interessen beider Parteien für den Fall, dass insoweit keine Vereinbarung getroffen wurde. Hierdurch würde das Thema jedoch uferlos, so dass Regeln mit Treu und Glauben als zugrundeliegendem Prinzip nur dann in die Untersuchung einbezogen werden können, wenn die Verbindung zu Treu und Glauben besonders qualifiziert ist. Das kann etwa dann der Fall sein, wenn Rechtsprechung und Rechtswissenschaft den jeweiligen Fall explizit als Ausprägung von Treu und Glauben ansehen oder wenn die jeweilige Regel die Kodifizierung einer ursprünglich auf Treu und Glauben basierenden Rechtsprechung darstellt. Nichtsdestotrotz darf der Gedanke des „zugrundeliegenden Rechtsprinzips“ bei der Untersuchung nicht vollständig ausgeblendet werden. III. Mehrebenensystem und allgemeine Grundsätze Die Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe hat grundsätzlich Vorteile in Form einer höheren Flexibilität des Rechtssystems, um auf Einzelfälle und neue Entwicklungen im Rechtsleben angemessen reagieren zu können. Andererseits hat sie den Nachteil schlechterer Vorhersehbarkeit von Entscheidungen und damit einer gewissen Rechtsunsicherheit, solange der jeweilige Begriff noch nicht hinreichend durch die Rechtsprechung konkretisiert wurde. Im Mehrebenensystem der Europäischen Union kommt dies in besonderer Weise zum Tragen und es vermag daher zunächst zu verwundern, dass der Grundsatz von Treu und Glauben im Unionsprivatrecht überhaupt verwendet wird. 1. Treu und Glauben im Vorabentscheidungsverfahren Das von den nationalen Gerichten anzuwendende Unionsrecht geht dem nationalen Recht innerhalb seines Anwendungsbereiches vor.23 Hat ein nationales Gericht entscheidungserhebliche Zweifel an der Gültigkeit oder Auslegung einer unionsrechtlichen Bestimmung, so legt es die Frage gemäß Art. 267 AEUV dem Europäischen Gerichtshof zur Vorabentscheidung vor. LetztinZur Unterscheidung siehe Grundmann, in: Grundmann / Mazeaud: General clauses and standards in European contract law, S. 3: „One second characteristic is that general clauses and standards are legal rules – to be applied! – not just general underlying principles which can be deducted from a multitude of rules – although general clauses and standards may as well give rise to such underlying principles or constitute such principles.“ 22 Hesselink, in: ders., The New European Private Law. Essays on the Future of Private Law in Europe, S. 195 f. 23 EuGH, 15.7.1964, Rs. 6/64 Costa ./. E.N.E.L, Slg. 1964, S. 01141. 21
A. Treu und Glauben im Unionsprivatrecht
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stanzliche Gerichte haben dabei nach Abs. 3 der Vorschrift eine Pflicht zur Vorlage. Dies dient der Sicherstellung einer autonomen und einheitlichen Auslegung des Unionsrechts.24 Damit müsste es in der Tendenz umso mehr Vorabentscheidungsverfahren geben, je weniger eindeutig und präzise das europäische Recht gefasst ist. Die Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe ist insofern potentiell problematisch, als dass eine einzige Vorschrift zu einer Vielzahl immer neuer Vorlagefragen führen kann. Die Auslegung des Begriffs Treu und Glauben dürfte nämlich im Einzelfall kaum je „derart offenkundig, dass für einen vernünftigen Zweifel keinerlei Raum bleibt“ im Sinne der sog. acte clair-Doktrin25 sein, sofern nicht eine identische oder sehr ähnliche Konstellation vom EuGH bereits entschieden worden ist. Dagegen wird eine Rationalisierung des europäischen Rechtssystems durch solche Begriffe erst dann in Betracht kommen, wenn ein Grundsatz wie Treu und Glauben das Unionsprivatrecht flächendeckend durchdrungen hat, von Gesetzgebung, Rechtsprechung und Rechtswissenschaft ein hohes Maß inhaltlicher Konkretisierung erfahren hat und außerdem feststeht, dass die jeweilige Auslegung auch über den betroffenen Rechtsakt hinaus Geltung beanspruchen kann. Die Verwendung eines unbestimmten Rechtsbegriffs wie Treu und Glauben ist damit zunächst mit hohen Kosten verbunden. Diese äußern sich etwa in Form längerer Verfahrensdauern und der Bindung zusätzlicher Ressourcen beim EuGH, der durch das immer stärker anwachsende Unionsprivatrecht und die damit verbundenen Vorlageverfahren ohnehin an die Grenze seiner Belastbarkeit gekommen ist.26 Dazu kommt möglicherweise ein Verzicht der Rechtssubjekte auf den Abschluss grenzüberschreitender Verträge, wenn hiermit eine zusätzliche Rechtsunsicherheit verbunden ist. Wenn der europäische Gesetzgeber und der europäische Richter sich dennoch des Grundsatzes von Treu und Glauben bedienen, müssen sie sich hiervon also Vorteile versprechen, die die genannten Nachteile zumindest langfristig überwiegen. Solche Vorteile können unterschiedlicher Natur sein. Im Fall der Klauselrichtlinie war man wohl schon wegen der im Vorhinein nicht zu erfassenden Vielzahl potenzieller Vertragsklauseln auf die Verwendung eines unbestimmten Rechtsbegriffs angewiesen. Der EuGH dagegen zieht den Grundsatz von Treu und Glauben häufig zur Begründung eines ganz bestimmten Ergebnisses im Einzelfall heran.27 In solchen Fällen ist die Unbestimmtheit von Treu und Glauben also nicht Anlass des jeweiligen Verfahrens, sondern umgekehrt Begründungselement der Entscheidung. Allerdings könnten solche Entscheidungen des Gerichtshofs wiederum ein Beweggrund dafür sein, dass nationaWegener, in: Calliess / Ruffert, EUV/AEUV, Art. 267 Rn. 1. EuGH, 6.10.1982, Rs. 283/81 Srl CILFIT and Lanificio di Gavardo SpA ./. Ministry of Health, Slg. 1982, S. 03415. 26 Basedow, AcP 210 (2010), 157, 190 f. 27 Siehe etwa unten S. 261 ff. 24 25
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le Gerichte sich zunehmend veranlasst sehen, selbst ebenfalls Grundsätze wie Treu und Glauben – mit28 oder ohne29 vorherige Vorlagefrage zur Zulässigkeit dieser Vorgehensweise – auf das Unionsprivatrecht anzuwenden. Dies hat im ersten Fall die Folge einer entsprechenden Belastung des EuGH, im zweiten Fall birgt es die Gefahr einer uneinheitlichen Auslegung des Unionsprivatrechts. In diesem Zusammenhang sind einige Entscheidungen des EuGH aus jüngerer Zeit erwähnenswert, in denen der Gerichtshof durch den Verweis auf „Grundsätze des bürgerlichen Rechts wie Treu und Glauben oder ungerechtfertigte Bereicherung“,30 „Grundsätze des Zivilrechts“31 oder allgemeiner auch Begriffe wie die „Angemessenheit“32 seine Auslegung des an sich zwingenden und im Ergebnis oft starren Unionsprivatrechts öffnet und den nationalen Gerichten über solche unbestimmten Rechtsbegriffe einen Spielraum bei der Anwendung des Sekundärrechts zubilligt. Diese Tendenz erscheint angesichts des Ziels einer einheitlichen Auslegung des Unionsrechts allerdings zweischneidig und wird näher zu untersuchen sein.33 Im Hinblick auf die umfangreiche Rechtsprechung des EuGH, die Treu und Glauben nicht zum Gegenstand der Vorlagefrage hat, sondern deren Begründung auf diesen Grundsatz gestützt wird, stellt sich die zentrale Frage, ob die Verwendung des Begriffs in kohärenter, verallgemeinerungsfähiger Weise erfolgt oder ob es sich nur um eine Worthülse zur Begründung bereits feststehender Ergebnisse
28 Siehe etwa die Vorlageverfahren aus Griechenland zur Zweiten Richtlinie (Gesellschaftsrecht): EuGH, 23.3.2000, Rs. C-373/97 Dionysios Diamantis ./. Elliniko Dimosio, Organismos Oikonomikis Anasygkrotisis Epicheiriseon AE (OAE), Slg. 2000 I-01705 sowie EuGH, 12.5.1998, Rs. C-367/96 Alexandros Kefalas u. a. ./. Elliniko Dimosio, Organismos Oikonomikis Anasygkrotisis Epicheiriseon AE (OAE), Slg. 1998 I-02843, unten S. 220 ff. 29 Siehe etwa das Urteil des BGH, 22.12.2004, VIII ZR 91/04, NJW 2005, 1045, der ohne vorherige Vorlage entschieden hat, dass einem Käufer, der dem Verkäufer einen gewerblichen Verwendungszweck der Kaufsache vortäuscht, die Berufung auf die Vorschriften über den Verbrauchsgüterkauf verwehrt ist; näher dazu unten Kapitel 2 ab Fn. 841. 30 EuGH, 3.9.2009, Rs. C-489/07 Pia Messner ./. Firma Stefan Krüger, Slg. 2009 I-07315. 31 EuGH, 10.4.2008, Rs. C-412/06 Annelore Hamilton ./. Volksbank Filder eG, Slg. 2008 I-02383. In der englischen Fassung der Entscheidungen Messner und Hamilton ist jeweils gleichlautend die Rede von „principles of civil law“, wobei die verbindliche Sprachfassung beider Entscheidungen aber die (divergierende) deutsche Fassung ist. 32 EuGH, 16.6.2011, Verbundene Rs. C-65/09 Gebr. Weber GmbH ./. Jürgen Wittmer und C-87/09 Ingrid Putz ./. Medianess Electronics GmbH, Slg. 2011 I-05257. Hiernach kann der Anspruch des Verbrauchers auf Erstattung der Kosten für den Ausbau des mangelhaften Verbrauchsguts und den Einbau des als Ersatz gelieferten Verbrauchsguts auf die Übernahme eines angemessenen Betrags durch den Verkäufer beschränkt werden. 33 Siehe dazu unten S. 264 ff.
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beziehungsweise um einen „Deckmantel für einen immensen Bestand richterlicher heteronomer Rechtssetzung“34 handelt. Das Augenmerk wird auch auf den Anwendungsbereich eines unionsprivatrechtlichen Grundsatzes von Treu und Glauben zu legen sein. Dieser kann nur insoweit Geltung beanspruchen, wie der Anwendungsbereich des Unionsrechts selbst reicht.35 Dies mag selbstverständlich klingen, wirft aber etwa im Bereich der Anwendung mindestharmonisierender Richtlinien sehr wohl Schwierigkeiten auf. Hier muss die Anwendung eines Regulativs wie Treu und Glauben zugleich eine Abgrenzung des Anwendungsbereichs des Unionsrechts beinhalten. Dies kann ggf. auch dazu führen, dass der Grundsatz von Treu und Glauben zugleich einen unionsrechtlichen und einen der nationalen Rechtsordnung überlassenen Gehalt hat, also selbst mindestharmonisierend ist. Der europäische Teil würde den zwingenden Mindestinhalt eines solchen Grundsatzes darstellen, der sich etwa aus dem Effektivitätsgrundsatz im Zusammenhang mit den inhaltlichen Vorgaben und dem Zweck des jeweiligen Rechtsaktes ergibt. Der nationale Teil wäre – innerhalb der allgemeinen Grenzen, insbesondere des Äquivalenzgrundsatzes – den nationalen Rechtsordnungen und Richtern überlassen. Dies würde insbesondere auch für seine Bezeichnung gelten, zu deren Übernahme die Mitgliedstaaten insoweit nicht verpflichtet wären, sondern die ihren Rechtsordnungen eigenen, funktionsäquivalenten Korrektive anwenden könnten. 2. Die Unterscheidung zwischen Auslegung und Anwendung Wie bereits angeklungen liegt ein Problem der Anwendung von Generalklauseln bei der Abgrenzung zwischen den Kompetenzen der unterschiedlichen Ebenen. Klar ist im Ausgangspunkt, dass die vom europäischen Gesetzgeber 34 So etwa Lurger, Grundfragen der Vereinheitlichung des Vertragsrechts in der Europäischen Union, S. 383, im Hinblick auf einige Bereiche der Verwendung von Treu und Glauben in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen und insoweit Hesselink zustimmend. Dieser selbst beschreibt Treu und Glauben vor allem als „Anti-Formalismus“, d. h. als Methode zur Überwindung eines ansonsten für zwingend bzw. bindend gehaltenen Wortlauts von Normen oder Verträgen durch den Richter, siehe etwa Hesselink, in: ders., The New European Private Law. Essays on the Future of Private Law in Europe, S. 75, 114. Die bei vielen Anwendungsfällen von Treu und Glauben festzustellende „soziale“ oder altruistische Prägung sei nicht selbstverständlich, sondern rühre vor allem daher, dass das vorhandene Vertragsrecht wegen seiner eher liberalen Prägung diese Aspekte wenig berücksichtige. Dies könne sich aber auch umkehren, etwa im Hinblick auf eine Anwendung von Treu und Glauben zur Begrenzung verbraucherschützender Vorschriften. Zum Umgang der vorliegenden Untersuchung mit der Kritik von Hesselink siehe auch oben S. 24. 35 Dies ist auch ein entscheidendes Argument gegen den Einwand, mit einem umfassenden Grundsatz von Treu und Glauben werde in die Kompetenzen der Mitgliedstaaten eingegriffen, wie er etwa von Schillig, Konkretisierungskompetenz und Konkretisierungsmethoden im Europäischen Privatrecht, S. 204 ff. vorgetragen wird.
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in Gestalt des Unionsrechts gemachten Vorgaben vom Europäischen Gerichtshof abschließend und verbindlich ausgelegt werden. Dagegen ist die Anwendung des europäischen Rechts, also der Subsumtionsvorgang im Einzelfall – sprich: die Beurteilung des dem Gericht vorliegenden Tatsachenmaterials im Hinblick darauf, ob es die unionsrechtlich vorgegebenen Tatbestandsmerkmale erfüllt – Sache der nationalen Gerichte. Diese Abgrenzung funktioniert gut, wenn die europäischen Normen in einer Weise interpretationsfähig sind, dass die wesentlichen Auslegungsfragen mit wenigen Vorlagen weitgehend geklärt werden können; sie funktioniert schlecht, wenn die europäische Norm so vage formuliert ist, dass praktisch jeder neue Fall potentiell Anlass zu einer abermaligen Vorlage geben könnte. Dies führt auf Seiten der Rechtsanwender zu der Überlegung, ob denn eine solche Vielzahl von Vorlagen gewollt sein kann und ob die Norm vielmehr in wesentlichen Teilen nicht auf der Auslegungs- oder Tatbestandsseite, sondern im Bereich der Rechtsanwendung zu „konkretisieren“ sei und den nationalen Gerichten einen entsprechenden Spielraum lasse. Bei einer Generalklausel ist daher sehr schwierig zu beurteilen, wo die Trennlinie zwischen Auslegung und Anwendung verlaufen soll.36 Eine Generalklausel kann niemals in einem einzigen Urteil umfassend ausgelegt werden, sondern nur im Hinblick auf die Umstände des jeweiligen Einzelfalls. Normalerweise fallen nun die Zuständigkeiten für Auslegung und Anwendung einer Norm zusammen und werden von ein und demselben Gericht vorgenommen. Das bedeutet, dass eine Trennung zwischen Auslegung und Anwendung gar nicht vollzogen werden muss – ob das Gericht die Generalklausel im Lichte des jeweiligen Falles auslegt oder die Umstände des Falles unter die etwas unbestimmte Generalklausel subsumiert werden, spielt allenfalls im Rahmen der zur Verfügung stehenden Rechtsmittel eine Rolle. Dies ändert sich im Mehrebenensystem des Unionsprivatrechts, wo Auslegung und Anwendung im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens regelmäßig auseinanderfallen. Der Europäische Gerichtshof steht hier vor der Schwierigkeit, die Generalklausel auslegen zu müssen, ohne schon den konkreten Fall zu entscheiden. Das nationale Gericht leidet ggf. unter einer zu wenig konkreten Auslegung der Generalklausel, was zu Lasten der einheitlichen Auslegung des Unionsrechts gehen kann. Dies hat insbesondere im Fall der Klauselrichtlinie schon lange vor den ersten Urteilen zu einer 36 So auch Rösler, Europäische Gerichtsbarkeit auf dem Gebiet des Zivilrechts, S. 452 f.; vgl. auch Roth, Wulf-Henning, in: Basedow / Hopt / Kötz, Festschrift für U. Drobnig, S. 135, 140: „Was ‚Treu und Glauben‘ gebieten, läßt sich dabei nicht abstrakt, sondern letztlich immer nur im konkreten Fall im Hinblick auf die in Anspruch genommene Rechtsposition und die Interessen der beteiligten Parteien bestimmen.“ Franzen, Privatrechtsangleichung durch die Europäische Gemeinschaft, S. 271 spricht von einem „Dilemma“ des EuGH, der zwischen womöglich zu abstrakten Auslegungshinweisen und einer in den Zuständigkeitsbereich des nationalen Gerichts übergriffigen Orientierung am Einzelfall entscheiden müsse.
A. Treu und Glauben im Unionsprivatrecht
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breiten Debatte über die sog. „Konkretisierungskompetenzen“ geführt.37 Das Problem besteht aber genauso in allen anderen Fällen, wo Treu und Glauben – sei es als Generalklausel oder unbestimmter Rechtsbegriff – eine Rolle spielt. Wie noch zu zeigen sein wird, geht der Europäische Gerichtshof hiermit in sehr unterschiedlicher Weise um: Teilweise verweist er zwar auf Treu und Glauben, gibt aber trotzdem eine sehr konkrete Lösung vor. Teilweise benutzt er den Grundsatz aber auch gerade als Öffnungsklausel, um den nationalen Gerichten einen größeren Teil der Konkretisierung zu überlassen. 3. Treu und Glauben als beweglicher Begriff Eine wichtige Funktion von Treu und Glauben ist auch die eines Bezugspunktes, die den Vergleich verschiedener Fälle und ihrer Lösungen, in denen etwa die Unterscheidung zwischen redlichem und missbräuchlichem Verhalten eine Rolle gespielt hat, ermöglicht. Treu und Glauben als allgemeiner Grundsatz ist beweglich; er stellt gewissermaßen einen Auffangtatbestand dar, der sich zudem auch noch einigermaßen dynamisch entwickelt. Dies lässt sich insbesondere im deutschen Recht sehr schön zeigen. Dort hat die Rechtsprechung für bestimmte Probleme zu einem gewissen Zeitpunkt Lösungen entwickelt, die auf Treu und Glauben gestützt wurden. Diese sind dann in einem zweiten Schritt vom Gesetzgeber bestätigt und positivrechtlich geregelt worden. Ähnliches lässt sich in Ansätzen auch im Unionsprivatrecht nachweisen.38 Mit der neuen Vorschrift geht allerdings häufig der explizite Verweis auf Treu und Glauben – und damit dem gemeinsamen Bezugspunkt der angestellten Erwägungen – wieder verloren. Dies macht die Erfassung der auf Treu und Glauben basierenden Regeln besonders schwierig, weil der Grundsatz durch den soeben beschriebenen Mechanismus gewissermaßen Opfer seines eigenen Erfolges werden kann. Andersherum wird teilweise nicht zu Unrecht vertreten, sämtliches dispositive Recht sei zu einem gewissen Grad auf Treu und Glauben zurückzuführen und Treu und Glauben sei gewissermaßen die Mutter aller spezielleren Regeln.39 Dies erklärt, warum Fragen, die vielleicht über den Rechtsgedanken von Treu und Glauben zu Siehe unten S. 89 ff. In Deutschland betrifft dies etwa den Wegfall der Geschäftsgrundlage (jetzt § 313 BGB), die culpa in contrahendo (jetzt § 241 Abs. 2 BGB) und die AGB-Kontrolle (zunächst ab 1977 im AGB-Gesetz, jetzt in §§ 305 ff. BGB). Im Unionsprivatrecht sind solche Ansätze ebenfalls zu erkennen, so etwa in Gestalt der auf Treu und Glauben abstellenden Entscheidung Messner (oben Kapitel 1 Fn. 30). Die dort vom Gerichtshof gewählte Lösung wurde mittlerweile in Erwägungsgrund 47 sowie Art. 14 Abs. 2 der Richtlinie 2011/83/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Oktober 2011 über die Rechte der Verbraucher, ABl. 2011 L 304/64, integriert. 39 Vgl. auch Storme, ERPL 2007, 233, 235: „Rules that in some systems are drafted in the form of very specific predictable rules are in other systems hidden behind vague norms like good faith, reasonableness, public policy, and so on.“ 37 38
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lösen wären, die aber eine vorrangige, positivrechtliche Regelung erfahren haben, nicht sämtlich in diese Untersuchung einbezogen werden können. Entsprechend wird es auch keinen bestimmten Zeitpunkt geben, von dem an man davon sprechen kann, Treu und Glauben sei nun ein „allgemeiner Grundsatz“ des Unionsprivatrechts geworden. Die Entwicklung ist stetig, und sie geht in Richtung der Verallgemeinerung eines solches Grundsatzes. Auch etwa im deutschen Recht ist aber die Bedeutung von Treu und Glauben nicht abschließend geklärt und wird es auch niemals sein. Der Charakter einer solchen offenen Norm liegt ja gerade darin, dass sie auf neue Entwicklungen reagieren kann. Das Unionsprivatrecht ist zudem eine Materie, die sich fortlaufend und besonders dynamisch weiterentwickelt, indem sie sowohl ihren Anwendungsbereich erweitert als auch die Regelungsdichte innerhalb des Anwendungsbereichs vertieft.40 4. Keine reine Billigkeitsnorm ohne inneren Zusammenhang Dem Einwand, etwa § 242 BGB im deutschen Recht sei eine reine Billigkeitsnorm, mittels derer der Richter das durch Anwendung des Gesetzes gefundene Ergebnis fast nach Belieben oder jedenfalls mit einem gewissen Ermessen korrigieren könne, kann bereits mit dem Hinweis darauf entgegengetreten werden, dass die Auslegung der Vorschrift und damit auch der Inhalt von Treu und Glauben vom Bundesgerichtshof als Rechtsfrage kontrolliert werden.41 Genau dies soll auch für das europäische Privatrecht gezeigt und die Meinung widerlegt werden, es handele sich bei einer solchen Generalklausel um eine Bequemlichkeitsvorschrift, die die Gerichte nutzen, um sich „[…] ein sorgsames Herausarbeiten und Abwägen der gesetzlichen Wertungen [zu] ersparen […]“.42 Müsste man Treu und Glauben dagegen tatsächlich als eine Art Worthülse für reine Billigkeitsentscheidungen oder richterliche Rechtsfortbildung betrachten, ohne dass all diese Fälle einen Zusammenhang, einen gemeinsamen „Kern“, aufwiesen, dann stellte dies den Wert der vorliegenden Untersuchung wohl in Frage.43 In diese Richtung geht insbesondere auch die Kritik von Hesselink: Siehe Riesenhuber, in: ders., Europäische Methodenlehre, S. 338 f. Looschelders / Olzen, in: Staudinger BGB, § 242 Rn. 333 m. w. N. 42 So Koziol, AcP 212 (2012), 1, 59 zum deutschen Recht, aber auch mit Blick auf die PECL und den DCFR. 43 Siehe dazu die Ausführungen von Storme, EJCL 2003, Volume 7.1., S. 2 (dort Fn. 5) mutmaßend, dass Kötz möglicherweise zu dieser Ansicht neige, da sein „Europäisches Vertragsrecht“ kein separates Kapitel zu Treu und Glauben enthalte. Vgl. dagegen in Bezug auf § 242 BGB Roth / Schubert, in: MüKo BGB, § 242, Rn. 7: „Die Konsolidierung und Systematisierung des Rechtsstoffs unter dem Titel des § 242 hat daher in dogmatischer wie praktischer Hinsicht ihre Berechtigung. Nur so ist ein übergreifender Wertungszusammenhang herstellbar und für weitere Anwendungsfälle nutzbar zu machen.“ 40 41
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„‘Good faith rules‘ have nothing more in common that distinguishes them from other rules than that the courts, when adopting them, have mentioned the general good faith clause as their legal basis. […] Therefore, the sum of good faith rules has no inner coherence. […] Good faith is not the highest norm of contract law or even of private law, but no norm at all, and is merely the mouthpiece through which new rules speak, or the cradle where new rules are born.“44
Die Untersuchung muss sich also der These stellen, wonach Treu und Glauben keine eigene Rechtsnorm, sondern lediglich ein „Feigenblatt“ für die üblichen Aufgaben des Richters bei der Rechtsauslegung und -anwendung darstellt.45 Hesselink ist insbesondere der Auffassung, zwischen den unterschiedlichen Funktionen und Fallgruppen, in denen Treu und Glauben zur Anwendung kommt, bestehe keinerlei innerer Zusammenhang. Er ordnet der Auslegungs-, der Ergänzungs- und der Korrekturfunktion von Treu und Glauben im Grunde – ohne diese Begriffe zu nennen – die Methoden der Gesetzesauslegung, der Analogie und der teleologischen Reduktion zu.46 Dabei trägt Hesselink auch vor, auf Treu und Glauben basierende Entscheidungen seien nicht von gemeinsamen Grundgedanken getragen und stellten insbesondere nicht notwendig ein Korrektiv zur Vertragsfreiheit dar. Vielmehr finde Treu und Glauben immer und überall dort Anwendung, wo das geschriebene Recht Unzulänglichkeiten aufweise. Dies sei in den Kodifikationen des 19. Jahrhunderts in Gestalt einer sehr prominenten Rolle von Vertragsfreiheit und Parteiautonomie der Fall, so dass Treu und Glauben hier die Funktion des Schwächerenschutzes erfülle, diese liberalen Konzepte also in die Schranken weise. Genauso könne aber Treu und Glauben umgekehrt der Vertragsfreiheit etwa dort größeren Raum verschaffen als vom Gesetzgeber vorgesehen, wo dieser bspw. das Ziel des Verbraucherschutzes überbetont habe. Hesselink leitet aus seinen Überlegungen die Forderung ab, der Richter solle die von ihm aufgestellte „neue Regel“ offen als solche benennen, statt sich gewissermaßen hinter einer vorgeblichen Auslegung von Treu und Glauben zu verstecken.47 Die Kritik von Hesselink mag teilweise berechtigt sein. So dürfte es schwierig sein, etwa zwischen Informationspflichten – soweit man diese auf Treu und Glauben zurückführt – und dem Verbot des Rechtsmissbrauchs durchgehend einen Funktionszusammenhang festzustellen. In anderen Fällen liegt dagegen die Rückführung auf einen gemeinsamen Grundgedanken durchHesselink, in: ders., The New European Private Law. Essays Law in Europe, S. 195, 217, 219. 45 Hesselink, in: ders., The New European Private Law. Essays Law in Europe, S. 195, 210 ff. 46 Hesselink, in: ders., The New European Private Law. Essays Law in Europe, S. 195, 211. 47 Hesselink, in: ders., The New European Private Law. Essays Law in Europe, S. 195, 215. 44
on the Future of Private on the Future of Private on the Future of Private on the Future of Private
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aus nicht fern. Leider nennt Hesselink auch wenige konkrete Beispiele für seine Überlegungen. Es wird daher auch eine Aufgabe der vorliegenden Untersuchung sein, diese Thesen für den Bereich des Unionsprivatrechts zu testen. 5. Die Suche nach allgemeinen Grundsätzen des Unionsprivatrechts „Dieses Netz an dem Vertragsrecht gewidmeten Richtlinien fordert seinerseits zu systematischer und dogmatischer Erfassung sekundärrechtlichen Vertragsrechts heraus. Das Herausschälen von Institutionen des Vertragsrechts auf europäischer Gemeinschaftsebene erscheint ein erstrebenswertes Ziel rechtswissenschaftlicher Tätigkeit.“48 „Staubtrockene Urteile […] sind nicht dazu angetan, den Enthusiasmus des Lesers für das Europäische Privatrecht zu entfachen. Noch schlimmer, das Gericht [der EuGH] vergibt eine Chance, die Entwicklung eines europäischen Privatrechts durch allgemeine Grundsätze zu leiten. Solange sich das Gericht so zurückhält, verbleibt die Last der Entwicklung dringend benötigter allgemeiner Grundsätze ausschließlich bei der Rechtslehre.“49 „Es ist gewiss nicht die Aufgabe des Gerichtshofes, aus den verschiedenen Rechtsakten, die zum europäischen Zivil- und Zivilverfahrensrecht ergangen sind, in einer von prätorischer Kühnheit getragenen Rechtsprechungsentwicklung übergreifende Rechtsprinzipien und Anspruchsinstitute des europäischen Privatrechts zu schaffen.“50
Ist es überhaupt zulässig und sinnvoll, nach übergreifenden Prinzipien des Unionsprivatrechts zu suchen? Sollte die Tatsache, dass ein Funktionszusam48 Heiss, ZfRV 1995, 54, 59; in diesem Sinne auch Basedow, AcP 200 (2000), 445 ff., 453: „Andererseits erlaubt aber die Verdichtung des Gemeinschaftsprivatrechts die Frage, ob nicht hinter den punktuellen Richtlinien Rechtsgrundsätze stehen, die sich für eine verbindende Sinngebung eignen und eine gewisse Verallgemeinerung gestatten.“ Siehe auch Roth, Wulf-Henning, in: Basedow / Hopt / Kötz, Festschrift für U. Drobnig, S. 135 f., der voraussagt, bis zur Ergreifung weiterer Schritte in Richtung eines Europäischen Zivilgesetzbuches werde sich das Bestreben verstärken, „[…] den auf einzelne Probleme bezogenen Charakter bisheriger Gemeinschaftsgesetzgebung durch die Entwicklung allgemeiner, dieser Gesetzgebung zugrundeliegender Grundsätze und Prinzipien zu überwinden.“ Auch Beale, ERCL 2006, 303, 312 geht davon aus, dass dem Unionsprivatrecht ein ungeschriebenes allgemeines Vertragsrecht zugrunde liegt: „Thirdly, a great deal of general contract law that is not explicitly referred to in the acquis is nonetheless essential background to it.“ 49 Basedow, JuS 2004, 89, 95. 50 von Danwitz, ZEuP 2010, 463, 475. Damit relativiert von Danwitz seine frühere Aussage in der FAZ, wonach der Gerichtshof verpflichtet sei, „[…] die Entwicklung der Gemeinschaftsrechtsordnung im Dienste der Integration fortzusetzen. Dies gilt vor allem für die Wirtschafts- und Wettbewerbsordnung des Binnenmarktes.“, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.03.2007, Nr. 73, S. 8 („Wächter der Gemeinschaft“). Kritisch gegenüber der Identifizierung allgemeiner Grundsätze des Unionsprivatrechts durch den EuGH auch Weatherill, ERCL 2010, 80, der negative Auswirkungen auf die nationalen Zivilrechtsordnungen befürchtet: „A more coherent system at EU level may lead to a less coherent system at national level. Such a starkly destructive outcome is not inevitable, but this is where the Court’s use of general principles of civil law may lead, and this is one reason why it is troubling.“
A. Treu und Glauben im Unionsprivatrecht
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menhang zwischen den verschiedenen Verwendungsarten von Treu und Glauben nicht immer durchgehend festzustellen sein wird, von einer solchen Untersuchung abhalten? Machen die oben geschilderten Vorbehalte und Probleme eine solche Untersuchung nur schwierig, oder machen sie sie unmöglich? Bei der Verwendung unbestimmter Begriffe im Mehrebenensystem steigen die Schwierigkeiten ja gewissermaßen exponentiell an: Stets sind nicht nur der unbestimmte Charakter einer Norm, die schwierige Abgrenzung zwischen ihrer Anwendung und Auslegung, sondern materiell zusätzlich die Grenzen der Anwendung des Unionsrechts und prozessual die Abgrenzung der Kompetenzen von europäischen und nationalen Gerichten zu beachten. Falls eine solche Untersuchung schwierig ist, sollte sie dann nicht gerade deshalb in Angriff genommen werden, zumal die behandelten Probleme ja durchaus von hoher praktischer Relevanz sind? Die oben angesprochenen Besonderheiten und praktischen Schwierigkeiten zeigen bereits, dass eine Befassung mit allgemeinen Grundsätzen und insbesondere mit Treu und Glauben im Unionsprivatrecht sinnvoll ist. Dabei soll es nicht – wie es wohl von Danwitz befürchtet – darum gehen, gewissermaßen am Gesetzgeber vorbei ein Parallelsystem zu schaffen, mit dem Rechtsprechung oder Rechtswissenschaft ihre abstrakten Gerechtigkeitsvorstellungen durchzusetzen versuchen. Vielmehr sollte man die Augen nicht davor verschließen, dass die Verwendung von Treu und Glauben und verwandten Grundsätzen durch Gesetzgebung und Rechtsprechung eine tägliche Realität darstellt, dass es andererseits aber an einem System fehlt, das es den Rechtsanwendern erlauben würde, die der Anwendung dieser Grundsätze zugrundeliegenden Wertungsgesichtspunkte von Fall zu Fall zu vergleichen. Um es mit den Worten Wieackers zu sagen: „Mit der Sichtung und inneren Ordnung der Rechtsprechung, die sich seit einem halben Jahrhundert zu § 242 gebildet hat, setzen wir die weit vorgeschrittene Aufklärungsarbeit der neueren Lehrbücher und Kommentare so fort, daß wir vor allem die inhaltlichen Maximen weiter herauszuarbeiten versuchen. Dazu bedarf es der energischen Durchgliederung […]. Einer solchen Durchgliederung kann nicht entgegengehalten werden, dass sie nicht auf jeden konkreten Streitfall reinlich paßt: es gehört zur legitimen Ordnungs- und Darstellungsaufgabe der Rechtswissenschaft, die begrifflichen und funktionellen Elemente ihrer Entscheidungen zu analysieren.“51
Auch wenn sich Wieackers Analyse der Ausgangssituation zu § 242 BGB in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts mit der Situation von Treu und Glauben im Unionsprivatrecht des 21. Jahrhundert aufgrund der geschilderten Besonderheiten nur bedingt vergleichen lässt und von einer „weit vorgeschrittenen Aufklärungsarbeit“ hier keine Rede sein kann, so ist dennoch festzuhalten, dass eine solche Durchgliederung nichts mit der Schaffung neuer Prinzipien in „prätorischer [bzw. hier: akademischer] Kühnheit“ zu tun hat. Sie 51
Wieacker, Zur rechtstheoretischen Präzisierung des § 242 BGB, S. 20.
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Kapitel 1 – Grundlagen
stellt vielmehr den einzig gangbaren, pragmatischen und anwendungsorientierten Ansatz dafür dar, den seit Langem stattfindenden Einsatz solcher allgemeinen Grundsätze besser zu erschließen, die bisherige Rechtsanwendung transparenter und die künftige damit kohärenter zu machen. Hier liegen aber auch die Grenzen der Untersuchung. Es kann in der Tat nicht das Ziel der Arbeit sein, den materiellen Gehalt von Treu und Glauben über dasjenige hinaus herauszuarbeiten, was Gesetzgebung und Rechtsprechung vorgegeben bzw. an Fällen entschieden haben. Dies wäre Spekulation; umgekehrt würde allein die Machbarkeit eines solchen Unterfangens die Legitimität der Verwendung von Generalklauseln durch den Gesetzgeber in Frage stellen. Wenn und soweit die Möglichkeit besteht, entsprechende Wertentscheidungen umfassend im Vorhinein zu treffen, muss der Gesetzgeber dies selbst tun. Generalklauseln schaffen zunächst Rechtsunsicherheit und rechtfertigen sich nur dadurch, dass eine konkrete Regelung ex ante gerade nicht möglich ist.52 6. Eine Schwelle zum „allgemeinen“ Grundsatz? Kann es, wie manchmal suggeriert wird, sinnvoller Weise eine Art Schwelle geben, von der an Treu und Glauben gewissermaßen in den Rang eines allgemeinen Grundsatzes aufsteigt? Falls ja, wo soll diese Schwelle liegen? In einer anderen Frage hat der EuGH Kriterien für die Feststellung eines allgemeinen Grundsatzes zwar angedeutet.53 Dort ging es jedoch um einen weitaus engeren und spezifischeren Grundsatz, dessen Existenz der Gerichtshof im Ergebnis abgelehnt hat, nämlich „einen allgemeinen Rechtsgrundsatz betreffend die Gleichbehandlung von Aktionären“, der in seiner konkreten Gestaltung Minderheitsaktionären im Fall einer Übernahme den gleichen Aufkaufpreis für ihre Aktien hätte garantieren sollen, wie er pro Aktie zum Erwerb der Kontrolle über das Unternehmen bezahlt wurde. Dabei wies der Gerichtshof insbesondere darauf hin, dass „der bloße Umstand, dass es im abgeleiteten Gemeinschaftsrecht verschiedene Vorschriften zum Schutz von Minderheitsaktionären gibt, für sich genommen noch nicht für den Nachweis der Existenz eines allgemeinen Grundsatzes des Gemeinschaftsrechts genügt, insbesondere wenn ihr Anwendungsbereich auf sehr genau festgelegte und bestimmte Rechte beschränkt ist. Die Prüfung der vom vorlegenden Gericht genannten Vorschriften dient daher allein der Feststellung, ob diese Vorschriften schlüssige Indizien für die Exis52 Dies bestätigt auch Hesselink, in: ders., The New European Private Law. Essays on the Future of Private Law in Europe, S. 195, 199: „It is often emphasized, that concretization will not and indeed should not lead to the fossilization of good faith. First of all, it would be an illusion to think that concretization will ever lead to a limited set of clearly distinguishable rules. But, it is said, more importantly good faith should remain an open norm in order to be able to continue to play its important role of making the law flexible. The inner system of good faith should not become a strait-jacket.“ 53 EuGH, 15.10.2009, Rs. C-101/08 Audiolux SA e.a ./. Groupe Bruxelles Lambert SA (GBL) u. a. und Bertelsmann AG u. a., Slg. 2009 I-09823.
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tenz des gesuchten Grundsatzes bieten. Einen Indizwert haben diese Vorschriften nur, soweit sie zwingend formuliert sind […] und sich der genaue Inhalt des gesuchten Grundsatzes aus ihnen ergibt […].“54
Daraus lässt sich für die hier durchgeführte Untersuchung ableiten, dass allein aus dem Vorhandensein eines Grundsatzes von Treu und Glauben in verschiedenen Rechtsakten nicht auf dessen Eigenschaft als allgemeiner Grundsatz des Unionsprivatrechts geschlossen werden kann. Den Ausführungen des EuGH in der Rs. Audiolux lässt sich zudem entnehmen, dass von „schlüssigen Indizien“ nur dann ausgegangen werden darf, wenn in den jeweiligen Einzelregelungen nicht zum Ausdruck kommt, dass es sich gerade um Ausnahmen für bestimmte Situationen handelt.55 Metzger hat daneben folgende Kriterien entwickelt: „Im Regelfall ist für die Anerkennung eines Prinzips zu fordern, dass dieses mehrere Verankerungen im positiven Recht gefunden hat und auf diese Weise seine grundlegende Bedeutung erkennen lässt.“56
Es wird schnell erkennbar, dass die Frage der Anerkennung als allgemeiner Grundsatz im Fall von Treu und Glauben besonders schwierig zu beantworten ist. Soweit allgemeine Rechtsgrundsätze einen konkreten Inhalt haben, erscheint es gut denkbar, ihre Existenz in ähnlicher Weise an verschiedenen Stellen des Unionsrechts nachzuweisen und ggf. bestehende Ausnahmen ebenfalls auf die jeweils bestehenden Besonderheiten hin zu untersuchen. Im Fall von Treu und Glauben ist dies insofern besonders schwierig, als dieser Grundsatz keine festen Tatbestandsvoraussetzungen oder Rechtsfolgen aufweist und seine Konturen nur anhand richterlichen Fallrechts ausformen kann. Vielmehr muss man aber auch hinterfragen, inwieweit die Qualifizierung als allgemeiner Grundsatz denn im Fall von Treu und Glauben überhaupt weiterführend ist. So wäre umgekehrt bspw. auch eine abstrakte Aussage wie „Treu und Glauben ist ein allgemeiner Grundsatz des Unionsprivatrechts. Er gilt deshalb auch im Bereich der Verbraucherwiderrufsrechte“, für den Rechtsanwender nicht hilfreich, weil sie ihm nicht mitteilt, was Treu und Glauben, angewandt auf solche Widerrufsrechte, denn nun bedeutet. Ein anEuGH, 15.10.2009, Rs. C-101/08 Audiolux, Rn. 34. EuGH, 15.10.2009, Rs. C-101/08 Audiolux, Rn. 35 ff., 53. 56 Metzger, Extra legem, intra ius: Allgemeine Rechtsgrundsätze im Europäischen Privatrecht, S. 384. Riesenhuber, Europäisches Vertragsrecht, S. 259 f. würde Treu und Glauben als allgemeinen Rechtsgrundsatz bezeichnen, soweit er „das Recht so weitgehend durchdringt, dass er an ganz verschiedenen Stellen zum Tragen kommt.“ Rybarz, Billigkeitserwägungen im Kontext des Europäischen Privatrechts, S. 38 f., folgert bereits aus dem Vorhandensein an zentraler Stelle in Klauselrichtlinie und Handelsvertreterrichtlinie „[…] dass es sich bei Treu und Glauben um einen verallgemeinerungsfähigen Rechtsgedanken des europäischen Privatrechts handelt, aus dem ein allgemeines Rechtsprinzip gewonnen werden kann.“ 54 55
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wendbarer Rechtssatz kann aus Treu und Glauben nur entwickelt werden, wenn er etwa lautet: „Der Verbraucher, der einen im Fernabsatz erworbenen Kaufgegenstand über das für die Prüfung, wie sie im Ladengeschäft möglich ist, erforderliche Maß hinaus in Gebrauch nimmt, verstößt, wenn er den Vertrag gleichwohl widerruft, gegen Treu und Glauben und ist daher gegenüber dem Verkäufer ausnahmsweise zum Wertersatz verpflichtet.“57 Machbar und zielführend erscheint daher bereits jetzt nur die Anerkennung bestimmter Facetten von Treu und Glauben im Sinne von Fallgruppen, die einen etwas höheren Konkretisierungsgrad aufweisen als der Grundsatz selbst. Bemerkenswert ist dabei auch, dass der Europäische Gerichtshof viele Facetten von Treu und Glauben mit einer solchen Selbstverständlichkeit im Unionsrecht zur Anwendung bringt, dass es eigentlich kaum möglich erscheint, die Anerkennung als allgemeiner Grundsatz zu verneinen.58 Im Bereich allgemeiner Rechtsgrundsätze kann man grundsätzlich drei Funktionen im Hinblick auf die geschriebene Rechtsordnung unterscheiden: Auslegung (secundum legem), Ergänzung (praeter legem) und Korrektur (contra legem).59 Es handelt sich also um dieselben Funktionen, die typischerweise mit Treu und Glauben – dann sowohl im Hinblick auf das Gesetz wie auf privatrechtliche Verträge bzw. die sich daraus ergebenden Rechte und Pflichten – verbunden werden.60 Hier zeigt sich bereits, dass Treu und Glauben wohl in eine andere Kategorie von Grundsätzen gehören dürfte als etwa der Grundsatz der Gleichbehandlung von Frauen und Männern. Treu und Glauben ist – trotz der Bindung auch der öffentlichen Verwaltung, die aufgrund der Geschichte des Unionsrechts den ersten Anwendungsfall des Grundsatzes auf dieser Ebene darstellt61 – ein originär privatrechtlicher Grundsatz. Er bindet nicht den Gesetzgeber, sondern Privatrechtssubjekte, typischerweise Vertragsparteien. Als Grenze für die Tätigkeit des Gesetzgebers taugt er nur sehr begrenzt, etwa in Gestalt des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Dabei kann Treu und Glauben aber als Oberkategorie für eine Näher zu diesem konkreten Fall unten S. 264 ff. Siehe etwa Grundmann, in: Großfeld / Sack u. a., Festschrift für Wolfgang Fikentscher zum 70. Geburtstag, S. 671, 676 f., der im Hinblick auf Treu und Glauben, das Rechtsmissbrauchsverbot und die Verwirkung in der Rechtsprechung des EuGH ausführt, diese „Grundsätze erschienen so selbstverständlich, daß kaum Rechtsvergleichung betrieben wurde.“ 59 Diese Kategorien finden sich etwa bei Metzger, Extra legem, intra ius: Allgemeine Rechtsgrundsätze im Europäischen Privatrecht, S. 389–409, m. w. N. 60 Siehe hierzu etwa Hesselink, in: ders., The New European Private Law. Essays on the Future of Private Law in Europe, S. 195, 199 ff. mit einem rechtsvergleichenden Überblick. Ebenso Storme, EJCL 2003, Volume 7.1., S. 4 f. mit Hinweis auf die Arbeiten von Siebert und Wieacker. Storme weist zusätzlich darauf hin, dass der Wegfall der Geschäftsgrundlage teilweise als eigene, vierte Kategorie aufgeführt wird; die Abtrennung von der Korrekturfunktion sei aber höchst künstlich. 61 Siehe unten S. 261 ff. 57 58
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Reihe kleinerer, zivilrechtlicher Prinzipien dienen, die als gemeinsamen Nenner eine Bindung an bestimmte Komponenten von Treu und Glauben aufweisen, etwa die Redlichkeit, berechtigte Verbrauchererwartungen, das Verbot widersprüchlichen Verhaltens oder die Verwirkung.62 7. Auswahl und Prüfung relevanter Fallgruppen Sofern Treu und Glauben als allgemeine, geschriebene Verpflichtung Teil eines Rechtssystems ist, kann man sich der Norm also systematisch in der Weise nähern, dass man ihre Anwendungsfälle nach Fallgruppen63 aufteilt, innerhalb derer die Norm gleich oder jedenfalls in ähnlicher Weise angewandt worden ist. Im Bereich des Europäischen Privatrechts stellt sich aber das zusätzliche Problem, dass eine allgemeine, geschriebene Vorschrift über Treu und Glauben nicht existiert. Hierin liegt nicht zuvorderst ein materiellrechtliches Problem, sondern es gibt damit vor allem keinen mit § 242 BGB vergleichbaren Fixpunkt für die Untersuchung. Die Suche nach entsprechenden Anwendungsfällen und Fallgruppen muss daher im Wesentlichen nach funktionellen Kriterien erfolgen bzw. von vornherein auf eine Reihe denkbarer Unterkategorien von Treu und Glauben beschränkt werden. Allerdings darf diese Kategorienbildung nicht einfach dem eigenen, nationalen Recht entnommen werden. Um diesem Problem der Vorprägung bzw. des Vorverständnisses64 zu begegnen, gibt es unterschiedliche Möglichkeiten: Man könnte zunächst alles, aber auch nur dasjenige in die Untersuchung einbeziehen, was das geschriebene Unionsrecht oder der EuGH in mindestens einer Sprachfassung etwa mit Treu und Glauben, good faith oder la bonne foi bezeichnen. Da dies nach funktionellen Maßstäben aber unzureichend ist, wird man sich zusätzlich z. B. danach zu richten haben, welche Fälle eine Mehrheit der nationalen Rechtordnungen über Treu und Glauben löst bzw. welche Unterprinzipien dem Grundsatz dort zugeordnet werden. Dies zu ermitteln, stellt aber selbst eine schwierige Frage dar und würde als Voruntersuchung den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Daher wird insoweit nur ein kurzer AufSo fordert etwa Metzger, Extra legem, intra ius: Allgemeine Rechtsgrundsätze im Europäischen Privatrecht, S. 410 die Anerkennung „fallnahe[r] ‚kleine‘[r] Prinzipien“ und Basedow, AcP 210 (2010), 157, 189, 194 begrüßt die Verwendung von „Grundsätzen von mittlerer Abstraktionshöhe“ im Zivilrecht, die er dem Gemeinsamen Referenzrahmen entnehmen und auf das Unionsprivatrecht insgesamt angewendet wissen möchte. 63 Dies gilt auch über das deutsche Recht hinaus, siehe etwa Hesselink, in: ders., The New European Private Law. Essays on the Future of Private Law in Europe, S. 195, 198: „The generally agreed method for rationalising is that of distinguishing functions and developing groups of cases in which good faith has previously been applied (Fallgruppen).“ Zu den Grenzen der Fallgruppenbildung siehe Heinrich, Formale Freiheit und materiale Gerechtigkeit, S. 323 f. 64 Siehe dazu unten S. 37 ff. Vgl. allgemein auch Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, S. 83. 62
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riss der Entwicklung von Treu und Glauben in drei großen Rechtsordnungen gegeben und ansonsten auf vorhandene Ergebnisse entsprechender rechtsvergleichender Untersuchungen, wie etwa die PECL, zurückgegriffen werden. Hinzuweisen ist auch darauf, dass ein Induktionsschluss von spezielleren Anwendungsfällen auf Fallgruppen eines allgemeinen Grundsatzes von Treu und Glauben nur in Grenzen zulässig ist.65 Dabei gilt es insbesondere zu überprüfen, ob Anwendungsbereich und Zielsetzung einer Regel so speziell sind, dass sie ausschließlich für den jeweils geregelten Fall Geltung beanspruchen können, oder ob es sich um die Formulierung eines allgemeineren Gedankens handelt, der hier lediglich auf einen speziellen Fall angewandt wird. Letzteres kann im Unionsprivatrecht insbesondere aufgrund des begrenzten Anwendungsbereichs der einzelnen Rechtsakte der Fall sein. Dennoch ist die Frage, ob ein bestimmter, in einer Richtlinie des Verbrauchervertragsrechts zum Ausdruck kommender Rechtsgedanke nun nach dem Willen des Gesetzgebers nur auf diesen Einzelfall bezogen, für das gesamte Verbrauchervertragsrecht oder für das Unionsprivatrecht insgesamt Geltung beanspruchen kann, kaum je mit abschließender Sicherheit zu beantworten. Allerdings wird man aus einer Vielzahl von Fundstellen desselben Prinzips in unterschiedlichen Rechtsakten schon eher auf eine allgemeine Geltung schließen dürfen. Der von Metzger 66 vorgebrachte Einwand, es bedürfte nicht der Herleitung vorhandener Missbrauchsverbote und anderer Grundsätze aus einem europäischen Grundsatz von Treu und Glauben, ist an sich zutreffend. Wie bereits erwähnt sind nämlich Quelle und Bezeichnung grundlegender Prinzipien umso weniger relevant, je abstrakter und unbestimmter diese Prinzipien sind. Die Untersuchung wird aber zeigen, dass die verschiedenen Missbrauchsverbote des Unionsrechts keinesfalls für sich allein stehende Rechtsgrundsätze sind. Sie sind vielmehr eng miteinander verwoben, werden teilweise synonym gebraucht und sind nicht immer eindeutig voneinander abzugrenzen. In so einer Gemengelage kann es sinnvoll sein, Gemeinsamkeiten all dieser Grundsätze herauszuarbeiten, um so einen Beitrag zur Systematisierung des Unionsprivatrechts zu leisten.67 Unter welchem Oberbegriff dies geschieht, ist a priori irrelevant; für eine Einordnung unter das Gebot von Treu und GlauFür eine grundsätzliche Generalisierbarkeit besonderer Vorschriften bei der Herausbildung eines allgemeinen Vertragsrechts Grundmann, in: Riesenhuber, Europäische Methodenlehre, S. 299 f.; differenzierend gerade im Hinblick auf die Verallgemeinerbarkeit verbrauchervertragsrechtlicher Vorschriften – insbesondere bei der Klauselkontrolle – in das allgemeine Vertragsrecht hinein durch die Acquis-Principles etwa Zimmermann / Jansen, JZ 2007, 1113, 1120. 66 Metzger, AcP 213 (2013), 316, 317. 67 Siehe in diesem Sinne etwa auch Ranieri, in: ders., Die Europäisierung der Rechtswissenschaft, S. 129, 142 f., der die „Herausarbeitung allgemeiner Privatrechtsprinzipien“ als notwendige Bedingung für ein systematisch aufzubauendes Unionsprivatrecht bezeichnet. 65
B. Vorverständnis
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ben als Oberbegriff spricht aber Folgendes: Der Begriff ist im Unionsprivatrecht an vielen Stellen vorhanden und wird zudem vom Gerichtshof als Rechtsgrundsatz herangezogen. Er ist außerdem auch in den gemeinsamen Traditionen der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen verwurzelt, wenn auch mit unterschiedlicher Funktion und Reichweite. Dies gilt auch für das Vereinigte Königreich, das nur subjektive Elemente eines good faith-Grundsatzes ablehnt, um die es hier nicht in erster Linie gehen wird. Schließlich – und das ist ein weiterer, entscheidender Aspekt – hat sich die Europäische Kommission offenbar für Treu und Glauben als zentralen Grundsatz in künftigen Gesetzgebungsvorhaben entschieden.
B. Vorverständnis B. Vorverständnis
I.
Ursprung und Wortlaut
„Nothing has, so far, been said about what good faith actually means. The reason for this is that not much can be said; and what can be said is not very helpful for deciding concrete cases.“68
Der Begriff Treu und Glauben als solcher ist zunächst weitgehend inhaltsleer.69 Löst man sich insbesondere vom mittlerweile recht ausdifferenzierten deutschen Vorverständnis, so ist er nicht ganz einfach zu fassen. Daher bedarf es zu Beginn der Untersuchung insoweit einiger Präzisierungen. Zunächst soll kurz auf den Wortlaut eingegangen werden, wenn auch unter dem Vorbehalt, dass es sich hier offensichtlich um einen dem deutschen Recht entstammenden Begriff handelt,70 der zudem sehr spezifisch ist und sich nicht Eins zu Eins etwa ins Englische oder Französische übersetzen lässt. Was bedeutet also Treu und Glauben? Offenbar handelt es sich um einen Maßstab, der sich sowohl auf das Verhalten wie auch auf die Vorstellungen von PersoZimmermann / Whittaker, in: dies., Good faith in European contract law, S. 30. Siehe auch Martínez Sanz, in: Schulte-Nölke/Schulze, Europäisches Vertragsrecht im Gemeinschaftsrecht, S. 127: „[…] the development of the principle of good faith has nothing or little to do with the wording of the provision containing it […].“ Ebenso Kennedy, ERPL 2001, 7, 19: „[…] the phrase good faith has no content at all […].“ Ähnlich Malaurie / Aynès / Stoffel-Munck, Droit Civil – Les Obligations, S. 380: „[…] difficile à enserrer dans une definition […].“ Kötz / Flessner, Europäisches Vertragsrecht I, S. 224 halten die Definitionselemente der Klauselkontrolle, wozu auch Treu und Glauben gehört, für ohne „greifbaren operationalen Gehalt“; Hesselink, in: ders., The New European Private Law. Essays on the Future of Private Law in Europe, S. 195, 214 ist der Ansicht, dass Treu und Glauben auf jegliche Tatsachen und mit jeglicher Rechtsfolge angewandt werden könne: „In other words: any rule could be based on it. There is no difference between saying ‘good faith requires’ and ‘justice requires’ or ‘the law requires‘.“ 70 Für den Begriff Treu und Glauben im deutschen Recht siehe Heinrich, Formale Freiheit und materiale Gerechtigkeit, S. 395 m. w. N. 68 69
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nen beziehen kann. Beide Komponenten sollen eigenständige Bedeutung haben.71 Unter der aus heutiger Sicht rein sprachlich etwas schiefen Treu(e) versteht man ein verlässliches Verhalten, vor allem in Gestalt der Einhaltung abgegebener Versprechen.72 Es geht also insbesondere um die Vertragstreue im weiteren Sinne, die nicht nur hinsichtlich der vereinbarten Haupt- und Nebenpflichten besteht, sondern zusätzlich etwa ein Verbot der Vereitelung des Vertragszwecks umfasst. Insofern scheint der Grundsatz also primär innerhalb vertraglicher Beziehungen anwendbar.73 Der Glauben – ein sonst ja häufig in religiöser Bedeutung verwendeter Begriff – meint dann den eigenen und berechtigten Glauben an eine entsprechende Treue des anderen Teils, nach der man sein Verhalten ausrichten darf. Die Grenzen einer echten Wortlautauslegung sind hier sehr bald erreicht. Festzuhalten ist aber zum einen, dass man im engeren Sinne nur dann treu sein kann, wenn man vorher etwas versprochen hat und zum anderen, dass Treu und Glauben eine Symmetrie enthält, wonach jede Partei Treuepflichten unterliegt und aber andersherum auf die Einhaltung entsprechender Pflichten durch die Vertragsgegenseite zählen darf. Hier zeigt sich, dass das Gebot von Treu und Glauben nichts Subjektives ist, sondern sich am ehesten mit dem englischen „good faith and fair dealing“ bzw. „legitimate expectations“ vergleichen lässt. Der englische Begriff „good faith“ bzw. der französische Begriff „la bonne foi“ als solche sind dagegen mit Treu und Glauben nur teilweise deckungsgleich. Sie bezeichnen in den nationalen Rechtsordnungen insbesondere auch den subjektiven „guten Glauben“. Im Unionsrecht werden diese beiden Begriffe sprachlich aber regelmäßig mit Treu und Glauben übersetzt; die damit verbundenen Schwierigkeiten, in unterschiedlichen Sprachfassungen von Rechtsakten ein einheitliches Verständnis des Grundsatzes sicherzustellen, werden noch zu erörtern sein. Viel näher kann auf den Wortlaut aber kaum sinnvoll eingegangen werden. Das zeigt sich einerseits dadurch, dass die hier zitierten Quellen sich natürlich auf das deutsche Recht beziehen, während es in anderen Sprachen praktisch nur Literatur zu den dortigen Parallelbegriffen gibt. Zum anderen hat Treu Weller, Die Vertragstreue, S. 306 ff. spricht von „Paarformel-Begriffen“. Weller, Die Vertragstreue, S. 306 f. nennt als hiermit außerdem verbundene Begriffe „Verlässlichkeit“, „Zuverlässigkeit“, „Gewissenhaftigkeit“, „Aufrichtigkeit“, „Rücksichtnahme“ und „Loyalität“. 73 Dies gilt aber nicht uneingeschränkt; man beachte etwa, dass der EuGH, 17.9.2002, Rs. C-334/00 Fonderie Officine Meccaniche Tacconi SpA ./. Heinrich Wagner Sinto Maschinenfabrik GmbH (HWS), Slg. 2002 I-07357, Rn. 21–26, den Anspruch wegen Verletzung einer Vorschrift des italienischen Rechts, wonach die Parteien bei den Vertragsverhandlungen und beim Vertragsschluss nach Treu und Glauben zu handeln haben, nicht als vertraglicher Natur, sondern als unerlaubte Handlung im Sinne des Übereinkommens über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivilund Handelssachen vom 27. September 1968 (GVÜ oder EuGVÜ) eingeordnet hat. 71 72
B. Vorverständnis
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und Glauben im Unionsrecht selbstverständlich eine autonome Bedeutung. Auch wenn dies bedeutet, dass nationale Vorstellungen von dem jeweiligen Begriff nicht unbesehen zugrunde gelegt werden dürfen, so ist zwar eine Berücksichtigung des nationalrechtlichen Gehalts eines bestimmten Begriffs andererseits auch nicht von vornherein ausgeschlossen, insbesondere wenn sich die europäische Regelung ersichtlich an einem bestimmten nationalen Modell orientiert. Dabei sind jedoch die historischen Wurzeln eines Begriffes in ihren Einzelheiten sicher von noch geringerer Bedeutung als im nationalen Recht selbst, zumal Treu und Glauben trotz seiner „Paarformel“-Struktur seinen Gehalt hauptsächlich als feststehender Einzelbegriff erlangt hat und die Zweiteilung in der Praxis selten zum Tragen kommt.74 II. Status quo von Treu und Glauben im Unionsprivatrecht Wie bereits angedeutet ist zunächst folgende Abgrenzung zu machen: Die Untersuchung beschränkt sich auf Treu und Glauben als objektiven Verhaltensmaßstab.75 Das Unionsrecht ist hier – wie die Untersuchung noch zeigen wird – manchmal sprachlich ungenau und spricht etwa von „gutem Glauben“, wo es einen objektiven Maßstab von Treu und Glauben meint. In solchen Fällen ist häufig schon eine Betrachtung der englischen und der französischen Sprachfassung, zusammen mit der Funktion der jeweiligen Bestimmung, aufschlussreich.76 Als unumstritten darf die Existenz des Treu und Glauben-Grundsatzes im Unionsprivatrecht gelten,77 die sich unschwer aus den zahlreichen FundstelZur eigenständigen Bedeutung von Treu und Glauben als Gesamtbegriff siehe etwa Looschelders / Olzen, in: Staudinger BGB, § 242 Rn. 142 ff. 75 Im Englischen entspricht dies dem Grundsatz des „objective good faith“ bzw. „good faith and fair dealing“ unter Ausschluss des Begriffs der Gutgläubigkeit („subjective good faith“), wie er etwa Voraussetzung für den Erwerb einer Sache vom Nichtberechtigten ist. Vgl. zum subjektiven Verständnis des Begriffes „bonne foi“ auch Calais-Auloy, in: Grundmann / Mazeaud, General clauses and standards in European contract law, S. 189, 193. 76 Vgl. für entsprechende sprachliche Ungenauigkeiten in den PECL Lenaerts, ERPL 2010, 1121, 1141 f. Häufig bezeichnet der Begriff „guter Glauben“ auch im Unionsrecht den subjektiven guten Glauben, also etwa die Kenntnis einer Person – z. B. eines Subventionsempfängers – von bestimmten Umständen, vgl. Art. 62 Abs. 6 S. 2 und Erwägungsgrund 38 der Verordnung (EG) Nr. 43/2003 der Kommission vom 23. Dezember 2002 mit Durchführungsbestimmungen zu den Verordnungen (EG) Nr. 1452/2001, (EG) Nr. 1453/ 2001 und (EG) Nr. 1454/2001 des Rates hinsichtlich der Beihilfen für die örtliche Erzeugung pflanzlicher Produkte in den Gemeinschaftsregionen in äußerster Randlage, ABl. 2003 L 7/25. 77 Der Bundesgerichtshof stellt im Urteil vom 22.12.2004, VIII ZR 91/04, NJW 2005, 1045, 1046, ausdrücklich fest, „auch im Gemeinschaftsrecht [sei] der Grundsatz von Treu und Glauben anerkannt“. Der BGH beruft sich dabei auf Basedow, in: MüKo BGB, § 310 Rn. 48 (in der 4. A. 2003; mittlerweile Rn. 54). Nach Fleischer, JZ 2003, 865, 871 gehört der Grundsatz sogar „zu den gemeinschaftsrechtlichen Fixsternen“. 74
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len ablesen lässt, an denen sich der Grundsatz im Wortlaut oder – je nach funktionaler Abgrenzung – jedenfalls als Rechtsgedanke im Sekundärrecht und in der Rechtsprechung des EuGH nachweisen lässt. Zu untersuchen ist jedoch, ob es sich auch um einen allgemeinen78 Grundsatz des Unionsprivatrechts in dem Sinne handelt, dass er „das gesamte Rechtsleben beherrscht“.79 Und vielleicht viel wichtiger: Hat der Grundsatz im Unionsprivatrecht einen einheitlichen Gehalt, d. h. lässt er sich über die jeweils betroffene Rechtsfrage hinaus so verallgemeinern, dass bestimmte Verhaltensweisen grundsätzlich – natürlich unter Berücksichtigung der jeweiligen Umstände – als Verstoß gegen Treu und Glauben zu werten sind?80 Diese Fragen sind bisher offen81 und werden auch durch diese Arbeit keine abschließende Klärung erfahren. Erforscht werden soll aber, inwieweit der Grundsatz von Treu und Glauben das Unionsprivatrecht durchdrungen hat und in welchen Bereichen oder Ausprägungen er jedenfalls Wesenszüge eines allgemeinen Grundsatzes trägt. Eine solche Untersuchung ist bisher nicht unternommen worden, obwohl es sich um Fragen von großer Bedeutung für die weitere Entwicklung des Europäischen Privatrechts handelt.82 Es gibt 78 So für das Europäische Vertragsrecht früh Basedow, Legal Studies 18 (1998), 121, 137: „A second general principle of EC contract law is that of good faith. […] After all, the principle of good faith can be said to form part of Community law as a principle of interpretation of both legal and contractual provision and it may even determine the validity of contract terms in consumer contracts.“ A. A. etwa Roth / Schubert, in: MüKo BGB, § 242, Rn. 151 (in Bezug auf eine Anerkennung als allgemeiner Grundsatz durch den EuGH) m. w. N. Ob die Anerkennung als allgemein bei einem solch unbestimmten Grundsatz wie Treu und Glauben eine vertiefte Befassung überhaupt lohnt oder nicht vielmehr aus normativer Sicht reichlich irrelevant ist, darf ohnehin in Frage gestellt werden, siehe oben S. 28 ff. 79 So für den Grundsatz von Treu und Glauben im deutschen Recht: BGH, 25.11.1958, VIII ZR 151/57, NJW 1959, 380, 381. 80 Dies wurde bisher meist verneint, so etwa von Schmidt, Martin, Konkretisierung von Generalklauseln im europäischen Privatrecht, S. 121; Riesenhuber, System und Prinzipien des Europäischen Vertragsrechts, S. 411. 81 Vgl. etwa die Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat – Ein kohärenteres Europäisches Vertragsrecht – Ein Aktionsplan, KOM/2003/0068 endg.: „In den Beiträgen von Rechtspraktikern wird zur Frage der Anwendung des Gemeinschaftsrechts durchweg die Ansicht vertreten, der derzeitige Ansatz, lediglich Einzelaspekte des Vertragsrechts zu regeln, führe zu Undurchsichtigkeit und Unstimmigkeiten. Als Unstimmigkeit in Richtlinien wird u. a. die Frage angeführt, ob allgemeine Grundsätze wie der Grundsatz von Treu und Glauben anerkannt würden.“ 82 Looschelders / Olzen, in: Staudinger, BGB – Neubearbeitung 2009, § 242 Rn. 103: „Im Fluss befindlich und von nicht zu überschätzender Bedeutung ist ferner die Frage, welche Stellung der Vorschrift im europäischen Kontext zukommt […]. Insofern gilt es zu klären, ob der Grundsatz von Treu und Glauben oder ein vergleichbares Rechtsprinzip europaweit Geltung beanspruchen, oder aber europäisches Recht einer Anwendung des nationalen Grundsatzes entgegenstehen kann […].“
B. Vorverständnis
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Untersuchungen zum unionsrechtlichen Rechtsmissbrauchsverbot,83 zum Begriff von Treu und Glauben in der Klauselrichtlinie84 mit ihrem Anhang85 und zur Frage der Zuständigkeit für die Konkretisierung von Generalklauseln.86 Daneben gibt es umfassende Untersuchungen zu allgemeinen Rechtsgrundsätzen im Europäischen Privatrecht87 und im Recht der Europäischen Union insgesamt.88 Außerdem gibt es eine Arbeit, die unter dem Oberbegriff „Billigkeitserwägungen“89 untersucht, inwieweit über die Rechtsinstitute der ungerechtfertigten Bereicherung, der Verwirkung und des Rechtsmissbrauchs Einzelfallgerechtigkeit hergestellt werden kann. Es fehlt aber bisher an einer Untersuchung, die den Grundsatz von Treu und Glauben in seiner Gesamtheit untersucht, d. h. anhand verschiedener Fallgruppen die Art seiner Verwendung und das Vorhandensein eines gemeinsamen Maßstabs von Treu und Glauben analysiert.90 Gerade letztere Frage, die das Herstellen von Querverbindungen zwischen den einzelnen Fundstellen voraussetzt, wurde bisher nur am Rande behandelt. Die Untersuchung soll insoweit einen Beitrag zur Überwindung der Zersplitterung91 des Unionsprivatrechts leisten. III. Rechtsvergleichender Überblick Die Untersuchung des Grundsatzes von Treu und Glauben in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten ist nicht zentraler Bestandteil dieser Arbeit. Ein wortgleicher, unionsprivatrechtlicher Grundsatz ist hiervon unabhängig auszulegen und zu konkretisieren. Nichtsdestotrotz ist gerade bei einem so unbestimmten Begriff, der zudem im nationalen Recht eine sehr unterschiedliche Bedeutung haben kann, eine Klärung des Vorverständnisses notwendig und sinnvoll.124 Treu und Glauben und verwandte Konzepte kommen zumindest 83
law?
De la Féria / Vogenauer, Prohibition of abuse of law – A new general principle of EU
Kapnopoulou, Das Recht der missbräuchlichen Klauseln in der Europäischen Union. Henke, Enthält die Liste des Anhangs der Klauselrichtlinie 93/13/EWG Grundregeln des Europäischen Vertragsrechts? 86 Schillig, Konkretisierungskompetenz und Konkretisierungsmethoden im Europäischen Privatrecht. 87 Metzger, Extra legem, intra ius: Allgemeine Rechtsgrundsätze im Europäischen Privatrecht. 88 Tridimas, The General Principles of EU Law. 89 Rybarz, Billigkeitserwägungen im Kontext des Europäischen Privatrechts. 90 Heiderhoff, Grundstrukturen des nationalen und europäischen Verbrauchervertragsrechts, S. 346 und 434 ff. etwa ist der Ansicht, zwar sei Treu und Glauben ein Grundsatz des Unionsrechts, jedoch sei ein einheitlicher europäischer Maßstab nicht festzustellen und eine Untersuchung dieses Maßstabs nicht möglich. 91 Siehe zur Rechtszersplitterung im Verbrauchervertragsrecht etwa die Schlussanträge von Generalanwältin Verica Trstenjak vom 29.11.2011, Rs. C-453/10 Jana Pereničová und Vladislav Perenič ./. SOS financ spol. s r. o., ECLI:EU:C:2011:788, dort Fn. 40. 84 85
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Kapitel 1 – Grundlagen
in allen kontinentaleuropäischen Rechtsordnungen vor.93 Gleichzeitig steht der Begriff exemplarisch für vermeintliche94 Unterschiede zwischen dem kontinentaleuropäischen Rechtskreis des Civil Law und dem angloamerikanischen Rechtskreis des Common Law. Daher sollen hier exemplarisch die Wirkungsweisen von Treu und Glauben in Deutschland, Frankreich und im englischen Common Law als wichtige Beispiele für den romanischen Rechtskreis, den deutschen und den angelsächsischen Rechtskreis95 in aller Kürze beleuchtet werden. Dabei wird dem Common Law die größte Sorgfalt gewidmet, weil sein scheinbar schwieriges Verhältnis zu diesem Grundsatz auch Auswirkungen auf die Frage haben kann, ob Treu und Glauben für das Unionsprivatrecht eine Generalklausel mit Zukunft ist. 1. Deutschland Nach § 242 BGB ist der Schuldner verpflichtet, die Leistung so zu bewirken, wie Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte es erfordern. Der 92 Der Gedanke einer Orientierung der Untersuchung am römischen Recht, das ja zumindest begrifflich den Ursprung des Untersuchungsgegenstands in Gestalt der bona fides darstellt, soll hier jedoch nicht weiter verfolgt werden. Der Grundsatz von Treu und Glauben hat sich – in seiner unionsprivatrechtlichen Bedeutung – vom römischen Recht nämlich so sehr entfernt, dass eine Einbeziehung der dortigen Konzepte für die Zwecke dieser Untersuchung nicht weiterzuhelfen verspricht. Vgl. hierzu mit Bezug auf den Grundsatz von Treu und Glauben auch Alpa, EBLR 2004, 1123, 1130: „And it has been considered anachronistic to refer this idea to the Roman law tradition, as some authors have done. At the time of the Romans […] such idea had a wholly different meaning […].“ 93 Vgl. Martínez Sanz, in: Schulte-Nölke/Schulze, Europäisches Vertragsrecht im Gemeinschaftsrecht, S. 127: „The principle of good faith as such exists all over Europe and cannot be considered to be alien in any of the European [Community] legal systems.“ Ebenso Steensgaard / Twigg-Flesner, in: Dannemann / Vogenauer, The Common European Sales Law in Context – Interactions with English and German Law, S. 216, 247: „The duty of good faith and fair dealing in Art 2 CESL is found in various expressions in most Member States“. Diese Nachweise betreffen jeweils nur die Frage des Vorhandenseins eines Grundsatzes von Treu und Glauben in der betreffenden Rechtsordnung, womit über die Bedeutung dieses Grundsatzes in der Praxis selbstverständlich noch keine Aussage getroffen ist. Für vertiefende Hinweise zu verschiedenen Rechtsordnungen siehe noch Lando, ERPL 2007, 841, 844 ff.; Hesselink, De redelijkheid en billijkheid in het Europese Privaatrecht, S. 439; Looschelders / Olzen, in: Staudinger BGB, § 242 Rn. 1116; Eckl, Treu und Glauben im spanischen Vertragsrecht, S. 3. 94 Untersuchungen konkreter Anwendungsfälle haben gezeigt, dass in der substantiellen Lösung die Ergebnisse viel häufiger identisch sind, als es die fundamentalen Unterschiede in den hierbei verwendeten Instrumenten nahezulegen scheinen. Siehe dazu Basedow, in: Festschrift für M. P. Stathopoulos, S. 159, 166 f. sowie Zimmermann / Whittaker, in: dies., Good faith in European contract law, S. 653 ff. 95 Diese Aufteilung nutzt für die rechtsvergleichende Untersuchung von Generalklauseln auch Grundmann, in: Grundmann / Mazeaud, General clauses and standards in European contract law, S. 7.
B. Vorverständnis
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Grundsatz hat eine sehr prominente Rolle, kommt in der Rechtsprechung häufig vor und ist trotz der Stellung der Vorschrift zu Beginn des Abschnitts über das allgemeine Schuldrecht nicht streng auf bestehende Schuldverhältnisse beschränkt.96 Er hat insbesondere zur Entwicklung wichtiger Rechtsinstitute wie der Inhaltskontrolle allgemeiner Geschäftsbedingungen, der culpa in contrahendo oder dem Wegfall der Geschäftsgrundlage geführt, die mittlerweile Einzug in das BGB gefunden haben. Darüber hinaus beruhen oder beruhten im deutschen Recht u. a. folgende Rechtsfiguren auf Treu und Glauben: – – – – – –
die Inhaltskontrolle allgemeiner Geschäftsbedingungen97 der Einwendungsdurchgriff bei verbundenen Verträgen98 die Lehre vom Wegfall der Geschäftsgrundlage99 der Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter100 die Verwirkung101 das Recht zur Beendigung von Dauerschuldverhältnissen aus wichtigem Grund.102
Basierend auf der Arbeit von Wieacker103 wird grundsätzlich zwischen drei Funktionen von Treu und Glauben unterschieden: – secundum legem, konkretisierend „[i]n Ausfüllung der geschriebenen Rechtsordnung“ bzw. in „sinngemäße[r] Verwirklichung des gesetzgeberischen Wertungsplanes durch den Richter“ – praeter legem, das geschriebene Recht ergänzend, in Gestalt der exceptio doli, also der „Unzulässigkeit des gegen Treu und Glauben verstoßenden Verhaltens“ 96 Siehe etwa Roth / Schubert, in: MüKo BGB, § 242, Rn. 2, die darauf hinweisen, dass der Tatbestand dem Wortlaut nach zwar ein bestehendes Schuldverhältnis voraussetze, dass das in § 242 enthaltene Gebot aber „auch im Prozessrecht, Strafrecht und sonstigen öffentlichen Recht Wirkung“ entfalte. Auch im Zivilrecht könne die von der Vorschrift vorausgesetzte rechtliche Sonderverbindung in manchen Fällen durch § 242 selbst erst begründet werden (Rn. 87). 97 Basedow, in: MüKo BGB, Vorbemerkung §§ 305 ff., Rn. 9. 98 Looschelders / Olzen, in: Staudinger BGB, § 242 Rn. 98, 391. 99 Roth / Schubert, in: MüKo BGB, § 242, Rn. 23, 80. 100 Looschelders/Olzen, in: Staudinger BGB, § 242 Rn. 666. 101 Roth / Schubert, in: MüKo BGB, § 242, Rn. 329 ff. 102 Roth / Schubert, in: MüKo BGB, § 242, Rn. 22; Looschelders / Olzen, in: Staudinger BGB, § 242, Rn. 205, 213. 103 Wieacker, Zur rechtstheoretischen Präzisierung des § 242 BGB, S. 21 ff.; diese Aufteilung ist nicht auf die deutsche Literatur zu § 242 BGB beschränkt, sondern gilt so oder ähnlich in den meisten mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen, vgl. Association Henri Capitant, Travaux de l’Association Henri Capitant des amis de la culture juridique française, La Bonne Foi – Journées louisianaises 1992, S. 224 f.; für das Unionrechts sieht Hartkamp, RabelsZ 75 (2011), 241 f. die genannten als die drei Funktionen allgemeiner Rechtsgrundsätze insgesamt.
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– contra legem, als „richterliche Neuschöpfung“ oder „rechtsethische Durchbrüche durch Gesetzesrecht“. 2. Frankreich Anders als in Deutschland ist der Grundsatz der bonne foi in Frankreich im Ausgangspunkt auf Vertragsverhältnisse beschränkt, dem Wortlaut von Art. 1134 Abs. 3 Code Civil nach sogar auf die Erfüllung von Verträgen. Dagegen ist das Rechtsinstitut des abus de droit ursprünglich ein deliktsrechtliches104 und setzt neben der Zufügung eines Schadens einen Verschuldensvorwurf voraus, weswegen es nicht mit Rechtsmissbrauch etwa im deutschen Recht deckungsgleich ist.105 Daher wird die missbräuchliche Berufung auf Formvorschriften beispielsweise über einen Verzicht gelöst.106 Nach Art. 1134 Code Civil gilt: „Les conventions légalement formées tiennent lieu de loi à ceux qui les ont faites. […] Elles doivent être exécutées de bonne foi.“107
Art. 1135 ergänzt hierzu: „Les conventions obligent non seulement à ce qui y est exprimé, mais encore à toutes les suites que l’équité, l’usage ou la loi donnent à l’obligation d’après sa nature.“108
Außerdem ist auf Art. 1156 hinzuweisen: „On doit dans les conventions rechercher quelle a été la commune intention des parties contractantes, plutôt que de s’arrêter au sens littéral des termes.“109
Über den Wortlaut der bonne foi findet sich in der französische Literatur wenig.110 Im Vertragsrecht ist die bonne foi zur Zeit der Erschaffung des Cour de Cassation 3.8.1915, N° de pourvoi 00-02378 (abrufbar unter ) – Clément Bayard; dies soll selbst innerhalb von Verträgen gelten, was in Frankreich wegen der strikten Trennung vertraglicher und deliktischer Haftung („principe du non-cumul“) zu schwierigen Folgefragen führt, dazu Stoffel-Munck, L’abus dans le contrat – Essai d’une théorie, S. 106 f. 105 Lenaerts, ERPL 2010, 1121, 1127 f. 106 Looschelders / Olzen, in: Staudinger BGB, § 242 Rn. 1129. 107 „In rechtmäßiger Weise geschlossene Vereinbarungen binden die Parteien wie ein Gesetz. […] Sie sind nach Treu und Glauben zu erfüllen.“ (Übersetzung des Verf.) 108 „Die Vereinbarungen verpflichten nicht nur zu dem, was in ihnen ausgedrückt ist, sondern zu jeglichen Folgen, die die Billigkeit, die Gebräuche oder das Gesetz ihrer Natur nach an die eingegangene Verpflichtung knüpfen.“ (Übersetzung des Verf.) 109 „Man muss in den Vereinbarungen nach der gemeinsamen Absicht der vertragsschließenden Parteien suchen, statt sich auf den Wortsinn der Ausdrücke zu beschränken.“ (Übersetzung des Verf.) 110 Siehe aber das Zitat „[…] la foi, autre mot-clé évoquant une combinsaison de confiance et de fidelité“ bei Constantinesco, L’article 5 CEE, de la bonne foi à la loyauté communautaire, in : Capotori u. a., Liber Amicorum Pierre Pescatore, S. 97, dort zitiert 104
B. Vorverständnis
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Code Civil als einer seiner zentralen Grundsätze angesehen worden. Im 19. Jahrhundert hat sich seine Bedeutung dann weitgehend verloren, was auf den hohen Stellenwert der Parteiautonomie und die entsprechende Aversion gegen eine „Einmischung“ des Richters in die Parteivereinbarung zurückzuführen sein dürfte.111 Nach langem Schattendasein ist die bonne foi in den vergangenen Jahrzehnten von Rechtsprechung und Lehre dann wieder deutlich stärker verwendet und ausdifferenziert worden als zuvor,112 vor allem unter dem Gesichtspunkt des Schwächerenschutzes.113 Besonderer Wert wird weiterhin auf die positive Dimension von Treu und Glauben in Gestalt der Vertragstreue gelegt, aus der insbesondere ein Gebot vorhersehbaren Verhaltens und des Respekts der legitimen Erwartungen des Vertragspartners abgeleitet wird, das sich weitgehend mit dem Verbot des venire contra factum proprium deckt.114 Eine besondere Rolle spielt in Frankreich seit langem die Frage, welche Folgen veränderte Umstände für ein Vertragsverhältnis haben können, die etwa in Deutschland als „Wegfall der Geschäftsgrundlage“ qualifiziert werden und einen Anspruch auf Vertragsanpassung oder ggf. ein Rücktrittsrecht begründen können. Dem berühmt gewordenen Canal de Craponne-Urteil der Cour de Cassation115 liegt ein Sachverhalt zugrunde, in dem der Eigentümer eines Grundstücks sich gegenüber einer Gemeinde zur Errichtung und Unterhaltung eines Bewässerungskanals verpflichtet hatte. Sein Rechtsnachfolger klagte auf Abänderung des im Jahr 1567 geschlossenen Vertrages, weil das vorgesehene Entgelt mittlerweile durch Geldentwertung nicht einmal mehr annähernd kostendeckend war. Die Cour de Cassation verweigerte aber unter Hinweis auf Art. 1134 Code Civil mit folgender Begründung eine Anpassung: „Attendu que la règle qu’il [l’Article 1134] consacre est générale, absolue et régit les contrats dont l’exécution s’étend à des époques successives de même qu’à ceux de toute autre nature; Que, dans aucun cas, il n’appartient aux tribunaux, quelque équitable que puisse apparaître leur décision, de prendre en considération le temps et les circonstances pour modifier
nach G. Duby, Guillaume le Maréchal ou le meilleur chevalier du monde, Ed. Fayard (coll. Folio) 1984, S. 161, das zeigt, dass offenbar auch der französische Begriff der foi (wörtl. Glauben) bereits die zwei Komponenten von Treu und Glauben, nämlich die eigene Treue (fidelité) und das Vertrauen in die Treue des anderen (confiance), enthält. 111 Tallon, Le concept de bonne foi en droit français du contrat, S. 3 ff.; Malaurie / Aynès / Stoffel-Munck, Droit Civil – Les Obligations, S. 377 ff. 112 Vgl. Doralt, RabelsZ 76 (2012), 761, 772: „[…] die Rechtsprechung [hat] sich mittlerweile ein sehr weites Verständnis der bonne foi zu eigen gemacht.“ 113 Tallon, Le concept de bonne foi en droit français du contrat, S. 5. 114 Malaurie / Aynès / Stoffel-Munck, Droit Civil – Les Obligations, S. 378 f. 115 Cour de Cassation, 6.3.1876, zitiert nach: Terré / Lequette, Les grands arrêts de la jurisprudence civile – Canal de Craponne, S. 409 f.; ausführliche Sachverhaltsschilderung und Besprechung bei Doralt, RabelsZ 76 (2012), 761, 763 f.
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les conventions des parties et substituer des clauses nouvelles à celles qui ont été librement acceptées par les contractants; Qu’en décidant le contraire et en élevant à 30 centimes de 1834 à 1874, puis à 60 centimes à partir de 1874, la redevance d’arrosage, fixée à 3 sols par les conventions de 1560 et 1567, sous prétexte que cette redevance n’était plus en rapport avec les frais d’entretien du canal de Craponne, l’arrêt attaqué a formellement violé l’article 1134 ci-dessus visé;“116
Die Cour de Cassation hält sich also strikt und scheinbar ausnahmslos an Absatz 1 von Art. 1134 Code Civil. Absatz 3, der die Leistung nach Treu und Glauben anordnet, wird ignoriert und der Konflikt zwischen dem Grundsatz pacta sunt servanda und der offensichtlichen unbilligen Verschiebung des vertraglichen Gleichgewichts damit verleugnet und ungelöst gelassen. In der Formel „quelque équitable que puisse apparaître leur décision“ (so gerecht ihnen ihre Entscheidung auch erscheinen mag) kann angesichts der engen Verbindung zwischen Treu und Glauben und den Begriffen der Gerechtigkeit und Fairness (équité) aber auch eine offene Ablehnung einer Anwendung des hier untersuchten Grundsatzes insgesamt gesehen werden. Das Urteil ist in jüngerer Zeit mehrfach insoweit relativiert worden, als dass eine Verhandlungspflicht vorgeschrieben wurde117 und zuletzt auch eine Abkehr von der Canal de Craponne-Entscheidung insgesamt angedeutet wurde, gilt aber dem Grunde nach fort.118 Bemerkenswert ist auch, dass die französischen Verwaltungsgerichte im Bereich öffentlich-rechtlicher Versorgungsverträge den Einwand des Wegfalls der Geschäftsgrundlage – der sog. „imprévision“ – stets zugelassen haben.119 In Frankreich hat außerdem das Rechtsmissbrauchsverbot eine starke Entwicklung erfahren und früher eine gewichtige Rolle gespielt als die bonne foi. 116 „In Anbetracht dessen, dass die aufgestellte Regel aber allgemein und absolut ist und Verträge, deren Ausführung sich auf aufeinanderfolgende Zeitabschnitte erstreckt genauso regelt wie jegliche anderen Verträge; dass es in keinem Fall den Gerichten zusteht, wie gerecht ihre Entscheidung auch erscheinen mag, die Zeit und die Umstände in Betracht zu ziehen, um die von den Parteien geschlossenen Vereinbarungen abzuändern und neue Vertragsklauseln an die Stelle derjenigen zu setzen, denen die Vertragsparteien frei zugestimmt haben; dass, indem es das Gegenteil entschieden hat und den Bewässerungspreis auf 30 Cent von 1834 bis 1874, anschließend auf 60 Cent ab 1874 heraufgesetzt hat, der in den Vereinbarungen von 1560 und 1567 auf 3 Sols [oder: Sou, 1/20 Franc, dementsprechend 5 Cent, Anmerkung des Verf.] festgelegt worden war, dies unter dem Vorwand, dass dieser Preis in keinem Verhältnis mehr mit den Kosten für den Unterhalt des Canal de Craponne gestanden habe, hat das Urteil den oben zitierten Artikel 1134 Code Civil eindeutig verletzt […].“ (Übersetzung des Verf.) 117 Cour de Cassation, 16.3.2004, N° de pourvoi: 01-15804 (abrufbar unter ); siehe dazu auch Benillouche, Petites Affiches 2004, N° 151, S. 6, 11 f. 118 Vgl. aber Cour de Cassation, 29.6.2010, N° de pourvoi 09-67.369, Dalloz 2010, 2481. Zum eingeschränkten Stellenwert dieser nicht in der offiziellen Sammlung (Bulletin) veröffentlichten Entscheidung siehe Helleringer, RabelsZ 77 (2013), 345, 360. 119 Conseil d’État, 30.3.1916, N° 59928 – Companie générale d‘éclairage de Bordeaux (abrufbar unter ).
B. Vorverständnis
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Beide Begriffe überschneiden sich aber auch. So ist etwa der Widerruf eines Angebots entgegen Treu und Glauben auch als „Missbrauch des Rechts, einen Vertrag nicht abzuschließen“ behandelt worden.120 Seit einigen Jahrzehnten erfährt die bonne foi allerdings in Frankreich wieder verstärkte Aufmerksamkeit durch Rechtsprechung und Literatur. 3. England Im englischen Recht war sehr früh anerkannt, dass für bestimmte Vertragstypen, bei denen ein Informationsungleichgewicht bei Vertragsschluss besteht, besondere Aufklärungspflichten gelten müssen. Diese wurden aus einem besonders strengen Grundsatz von Treu und Glauben abgeleitet (uberrima fides121 bzw. utmost good faith), der insbesondere122 auf Versicherungsverträge Anwendung findet.123 Im zugrundeliegenden Fall Carter v Boehm hatte der Gouverneur des englischen Fort Malborough auf Sumatra eine Versicherung gegen Angriffe abgeschlossen. Nachdem das Fort tatsächlich durch zwei französische Kriegsschiffe sturmreif geschossen und eingenommen worden war und die Versicherung in Anspruch genommen werden sollte, stellte sich heraus, dass die Befestigungen nur zur Verteidigung gegen die lokalen Ureinwohner, aber nicht gegen Kriegsschiffe europäischer Feinde konzipiert waren. Zu den bei Abschluss eines Versicherungsvertrages bestehenden Aufklärungspflichten führte Lord Mansfield aus: „Insurance is a contract of speculation […]. The special facts, upon which the contingent chance is to be computed, lie most commonly in the knowledge of the insured only: the under-writer trusts to his representation, and proceeds upon confidence that he does not keep back any circumstances in his knowledge, to mislead the under-writer into a belief that the circumstance does not exist. […] Good faith forbids either party by concealing what he privately knows, to draw the other into a bargain from his ignorance of that fact, and his believing the contrary.“124
Tallon, Le concept de bonne foi en droit français du contrat, S. 7. Furmston, Cheshire, Fifoot and Furmston’s law of contract, S. 378 ff.; Ranieri, in: Basedow / Hopt / Zimmermann, Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts Band II, S. 1499. 122 Zu weiteren Vertragsarten, auf die der Grundsatz Anwendung findet, siehe MacDonald Eggers / Foss, Good Faith and Insurance Contracts, S. 19 ff.; eine abschließende Aufstellung solcher Verträge existiert indes nicht, vgl. Furmston, Cheshire, Fifoot and Furmston’s law of contract, S. 378. 123 Siehe auch Rühl, Obliegenheiten im Versicherungsvertragsrecht, S. 149 ff. (Pflicht zur Anzeige geänderter Umstände), S. 322 ff. (Verbot arglistiger Täuschung bei der Geltendmachung von Ansprüchen). 124 House of Lords, Carter v. Boehm [1766] 97 ER 1162, 1164; „Versicherungen sind spekulative Verträge […]. Die speziellen Tatsachen, auf deren Grundlage die jeweilige Wahrscheinlichkeit [des Eintritts des Versicherungsfalles] errechnet wird, unterliegen ganz regelmäßig ausschließlich der Kenntnis des Versicherten: der Versicherer vertraut seiner 120 121
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Anders als es zunächst schien, konnte sich Treu und Glauben im Anschluss an diese Entscheidung aber im englischen Recht nicht allgemein durchsetzen.125 Vielmehr gilt es heute als Allgemeinplatz, dass das englische Recht weder einen allgemeinen Grundsatz von Treu und Glauben noch ein allgemeines Rechtsmissbrauchsverbot kennt.126 Stattdessen verwendet es spezifische Einzellösungen für bestimmte Situationen (piecemeal solutions)127, so etwa „reasonable expectations“ und „implied terms“ bei der Vertragsauslegung.128 Die damit teilweise verbundene, starke Abneigung gegen Treu und Glauben129 ist allerdings möglicherweise ein rein begriffliches Problem.130 Es Schilderung und handelt auf Grundlage des Vertrauens darauf, dass dieser Umstände, von denen er Kenntnis hat, zurückhält, um den Versicherer dahingehend zu täuschen, dass dieser glaubt, der jeweilige Umstand existiere nicht. […] Treu und Glauben verbieten es beiden Parteien, durch ein Verbergen des eigenen Wissens die andere Partei zu einem Geschäft zu veranlassen, dass nur auf Grundlage ihres Unwissens von dieser Tatsache und dem Glauben an das Gegenteil geschlossen wird.“ (Übersetzung des Verf.) 125 Vgl. etwa House of Lords, Manifest Shipping Co Ltd v. Uni-Polaris Shipping Co Ltd, [2001] UKHL 1, 42, Lord Hobhouse of Woodborough, Rn. 42, in Bezug auf Carter v. Boehm: „[…] Lord Mansfield was at the time attempting to introduce into English commercial law a general principle of good faith, an attempt which was ultimately unsuccessful and only survived for limited classes of transactions, one of which was insurance.“ 126 Zimmermann / Whittaker, in: dies., Good faith in European contract law, S. 39; Weatherill, ERPL 1995, 307, 322 ff.; differenzierend Beale, ERPL 2010, 501, 513 ff. (mit einer Betrachtung der wichtigsten Funktionen S. 517–520); zum Rechtsmissbrauch vgl. auch Court of Appeal, Chapman v. Honig [1963] 2 Q.B. 502, 520 (Lord Pearson): „A person who has a right under a contract or other instrument is entitled to exercise it and can effectively exercise it for a good reason or a bad reason or no reason at all.“ 127 Der Begriff wird verwendet von Lord Bingham in Interfoto Picture Library Ltd v. Stiletto Visual Programmes Ltd, [1987] EWCA Civ 6: „In many civil law systems […] the law of obligations recognises and enforces an overriding principle that in making and carrying out contracts parties should act in good faith. This does not simply mean that they should not deceive each other, a principle which any legal system must recognise; its effect is perhaps most aptly conveyed by such metaphorical colloquialisms as ‘playing fair’, ‘coming clean’ or ‘putting one’s cards face upwards on the table’. It is in essence a principle of fair and open dealing. […] English law has, characteristically, committed itself to no such overriding principle but has developed piecemeal solutions in response to demonstrated problems of unfairness.“ 128 Siehe dazu Whittaker, in: Weatherill / Bernitz, The Regulation of Unfair Commercial Practices under EC Directive 2005/29, S. 154 ff.; Weatherill, EBLR 2005, 533, 542 f. 129 Vgl. nur das Vorwort des damaligen Justizministers Jack Straw in einer Broschüre der Law Society of England and Wales: „England and Wales: The jurisdiction of choice“, abrufbar unter : „[…]In ever more complex, sophisticated and inter-related markets, English commercial law provides predictability of outcome, legal certainty and fairness. It is clear and is built upon well-founded principles, such as the ability to require exact performance and the absence of any general duty of good faith.“ Siehe auch Kötz, ERPL 2010, 1243 ff. Teubner, MLR 61 (1998), 11 ff. hat im Hinblick auf die Einführung des Grundsatzes ins englische Recht durch das Richtlinienrecht den Begriff des „legal irritant“ verwendet.
B. Vorverständnis
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besteht auf Seiten der Gegner vor allem die Sorge, dass den Parteien bei Vertragsverhandlungen eine altruistische Herangehensweise aufgezwungen würde131 und sie nicht mehr im besten marktwirtschaftlichen Sinne ihre Eigeninteressen verfolgen könnten.132 So führt Lord Ackner zu der Frage, ob eine Pflicht zum Verhandeln nach Treu und Glauben in dem Sinne bestehen kann, dass der Abbruch von Vertragsverhandlungen Sanktionen nach sich ziehen könnte, aus: „How can a court be expected to decide whether, subjectively, a proper reason existed for the termination of negotiations? The answer suggested depends upon whether the negotiations have been determined ‘in good faith’. However the concept of a duty to carry on negotiations in good faith is inherently repugnant to the adversarial position of the parties when involved in negotiations. Each party to the negotiations is entitled to pursue his (or her) own interest, so long as he avoids making misrepresentations. […] A duty to negotiate in good faith is as unworkable in practice as it is inherently inconsistent with the position of a negotiating party.“133
Seit einiger Zeit ist aber – bedingt durch die Veränderungen im Wirtschaftsleben mit einem sich stärker verschiebenden Gleichgewicht der Kräfte zwiGrobecker, Implied Terms und Treu und Glauben, S. 38 f. weist darauf hin, dass good faith häufig als „bloßes subjektives Gerechtigkeitsempfinden“ verstanden würde und befürchtet werde, dass „von Geschäftsleuten einmal getroffene Entscheidungen durch vage richterliche Gerechtigkeitsvorstellungen willkürlich revidiert werden könnten“. 131 Siehe dazu aber die differenzierenden Ausführungen von Kennedy, ERPL 2001, 7, 19: „This means that the good faith clause plays a part in defining the limit of altruism, visà-vis self reliance, rather than that the clause reconstitutes an individualist system as altruist. To say that a legal system requires good faith means not that it requires altruism in the abstract, or that it is altruist, but that it may, in a set of circumstances not fully specified in advance, require an actor to take the interests of the other into account beyond the degree specified in the general background rules of contract law.“ 132 Zur Aversion gegen good faith und zur Debatte über die Einführung eines solchen Grundsatzes durch das europäische Sekundärrecht in England auch Schillig, Konkretisierungskompetenz und Konkretisierungsmethoden im Europäischen Privatrecht, S. 126–136; Alpa, EBLR 2010, 119, 136: „English thinking is still marked by the irrelevance of the conduct of the parties in the course of negotiation, by the obsessive fear of ‘good faith’ (whilst a similar sentiment is not found in relation to ‘fairness’ or ‘fair dealing’).“ 133 House of Lords, Walford v. Miles [1992] 1 All ER 453, 460; „Wie kann man von einem Gericht erwarten, zu entscheiden, ob subjektiv ein richtiger Grund für den Abbruch von Vertragsverhandlungen bestand? Die vorgeschlagene Antwort macht dies davon abhängig, ob die Verhandlungen ‚nach Treu und Glauben‘ [oder: ‚in gutem Glauben‘] beendet wurden. Jedoch ist das Konzept einer Pflicht zur Durchführung von Vertragsverhandlungen nach Treu und Glauben mit der gegensätzlichen Position der Parteien in solchen Verhandlungen zutiefst unvereinbar. Jede Partei der Verhandlungen hat das Recht, ihr eigenes Interesse zu verfolgen, solange sie die Begehung einer arglistigen Täuschung vermeidet. […] Eine Pflicht zur Verhandlung nach Treu und Glauben ist ebensowenig praktisch umzusetzen, wie sie von sich aus unvereinbar mit der Position einer verhandelnden Partei ist.“ (Übersetzung des Verf.) Eine ausführliche Analyse weiterer Rechtsprechung findet sich bei Arden, Journal of Contract Law 2013, 199, 202 ff. 130
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schen den Parteien – wieder eine Tendenz zu Treuepflichten (loyality) und Fairness im Vertragsrecht zu beobachten, auch wenn der Grundsatz von Treu und Glauben als solcher immer noch abgelehnt wird.134 Exemplarisch sollen hier die Erörterungen von Mr Justice Leggatt in einem Urteil des High Court135 nachvollzogen werden: Dort werden umfangreiche und durchaus neuartige Ausführungen zum Grundsatz von Treu und Glauben im englischen Recht gemacht.136 Der Fall betrifft einen Vertrag über die Lieferung und das exklusive Vertriebsrecht von Duftstoffen und Körperpflegeprodukten unter der Marke des Fußballvereins Manchester United an bestimmten Flughäfen. Die Beklagte versprach die Verfügbarkeit bestimmter solcher Waren und suggerierte zudem, Inhaber entsprechender Lizenzen zu sein, was – zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses – beides nicht vollumfänglich zutraf. Der Kläger wollte die ganze Linie von Düften und weiteren Produkten in einer Aktion mit speziell und auf seine Kosten angefertigten Aufstellern in verschiedenen Duty-Free-Shops einführen. Die Beklagte lieferte aber zunächst nur Teile der versprochenen Produktserie, während die Lieferung der übrigen Produkte sich immer wieder aufs Neue verzögerte, obwohl der Käufer bei Vertragsschluss klargemacht hatte, dass die gleichzeitige Einführung aller Produkte für ihn entscheidend sei. Auch wurden versprochene Registrierungen der Produkte bei nationalen Behörden nicht vorgenommen und schließlich wurden Produkte entgegen der Absprache anderswo günstiger angeboten als im Duty-Free-Shop. Der Richter untersucht die verschiedenen vorgetragenen Vertragsverletzungen, von denen er einige nicht, andere aber sehr wohl für hinreichend schwerwiegend erachtet, um ein Rücktrittsrecht zu begründen. Zudem geht Mr Justice Leggatt davon aus, dass der Vertrag die ungeschriebene Verpflichtung der Parteien enthielt, sich gemäß dem Gebot von Treu und Glauben zu verhalten. Dies wird von ihm zum Anlass genommen, die Geltung eines solchen allgemeinen Grundsatzes im englischen Recht zu diskutieren.137 Dabei geht der Richter auch ausführlich auf den Einfluss des entsprechenden Begriffs aus dem Europäischen Sekundärrecht auf das englische Recht sowie auf die PECL und den CESL-Vorschlag ein, die ebenfalls eine allgemeine Verpflichtung von Treu und Glauben enthielten; er kommt dabei zu dem Schluss, dass die Durchdringung des englischen Rechts mit dem Grundsatz von Treu und Glauben durch die fortschreitende Vereinheitlichung des europäischen Vertragsrechts eher noch zunehmen werde. Außerdem weist er auf die Rechtordnungen der Vereinigten Staaten, von Kanada und Australien hin, wo jeweils die Pflicht der Parteien eines Vertrages, nach Grobecker, Implied Terms und Treu und Glauben, S. 49 f. High Court of Justice, Yam Seng Pte Limited, 2013 WL 128777, . 136 Siehe zu der Entscheidung auch Landbrecht, RIW 2013, 592 ff. 137 High Court of Justice, Yam Seng Pte Limited, 2013 WL 128777, Rn. 120–154. 134 135
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Treu und Glauben zu handeln, anerkannt sei. Für den jetzigen Zustand des englischen Rechts differenziert er insofern, als zwar noch kein allgemeines Gebot von Treu und Glauben aus dem Common Law selbst für sämtliche Handelsverträge verbindlich sei, dass aber ein solches Gebot – im jeweiligen Einzelfall – als stillschweigend vereinbart in die Verträge hineingelesen werden könne. Insgesamt lässt sich sagen, dass Treu und Glauben zumindest in der Ausprägung als Kriterium bei der Vertragsauslegung und als Garant des Prinzips pacta sunt servanda auch im englischen Recht angekommen und auch im Übrigen jedenfalls funktional vorhanden ist.138 Auch die Implementierung des europäischen Richtlinienrechts in Gestalt von Handelsvertreter- und Klauselrichtlinie hat die Debatte über den Grundsatz von Treu und Glauben im englischen Recht befeuert.139 Im Übrigen wird seine Rolle großenteils auch vom Kriterium der Vernünftigkeit (reasonableness) ausgefüllt.140 Sachlich scheint ein Unterschied nur in wenigen Konstellationen zu bestehen, wie etwa im Bereich von vorvertraglichen Informationspflichten.141 Die englische Debatte als solche ist für die vorliegende Untersuchung nicht von zentraler Bedeutung. Wichtig ist die Feststellung, dass erstens in funktionaler Hinsicht England diejenigen Fallkonstellationen, die auf dem Kontinent über das Gebot von Treu und Glauben oder ein allgemeines Rechtsmissbrauchsverbot entschieden werden, vielleicht mit anderen Instrumenten, aber in der Sache mit sehr ähnlichen Ergebnissen löst. Und zweitens ist für die Untersuchung des unionsrechtlichen Grundsatzes von Bedeutung, dass England sich diesem selbst auch begrifflich nicht mehr derart kategorisch verschließt, dass seine einheitliche Auslegung deshalb von vornherein und über das normale Maß hinaus gefährdet erschiene. Insoweit scheint es für den europäischen Gesetzgeber vor allem angebracht, darauf hinzuweisen, dass es sich um einen objektiven Grundsatz im Sinne des good faith and fair dealing handelt und nicht etwa um eine reine Billigkeitsnorm und dass es 138 Vgl. Zimmermann / Jansen, JZ 2007, 1113, 1124 (Fn. 167): „[…] doch läßt sich die These, daß dieser Grundsatz im common law keinen Platz habe, angesichts rechtsvergleichender und rechtshistorischer Studien kaum mehr aufrechterhalten […]“. 139 Ausführlich Schillig, Konkretisierungskompetenz und Konkretisierungsmethoden im Europäischen Privatrecht, S. 128 ff.; auch zu good faith und insbesondere zur Klauselrichtlinie im englischen Recht Weatherill, ERPL 1995, 307, 322 ff. 140 Grobecker, Implied Terms und Treu und Glauben, S. 52 ff.: „[…] ein Kriterium, das sich durch das gesamte Vertragsrecht zieht.“ Grobecker definiert den Begriff als „objektive praktische Rechtsvernunft“ und setzt diesen gleich mit den Begriffen „Fairness“ und „Redlichkeit“. Dies seien „die gleichen Wertungsmaßstäbe, die den Inhalt des Grundsatzes von Treu und Glauben in Verträgen ausmachen.“ Grobecker kommt zu dem Schluss, dass „reasonableness“ und „good faith“ „untereinander und mit dem deutschen Grundsatz von Treu und Glauben inhaltlich und funktional vergleichbar sind“ (S. 59). 141 Siehe hierzu die anschaulichen Beispiele bei Zimmermann / Whittaker, Good faith in European contract law, Case 2 (zum englischen Recht S. 226 ff.).
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auch nicht um eine Beurteilung der subjektiv-individuellen Vorstellungen einer Person geht. Festzuhalten ist auch bereits jetzt, dass der Grundsatz von Treu und Glauben jedenfalls über das Unionsprivatrecht Einzug in das englische Recht gehalten hat. Er ist dort auch als solcher umgesetzt und insbesondere im Fall der Kontrolle missbräuchlicher Vertragsklauseln von der Rechtsprechung angenommen und sorgfältig ausgelegt worden. Als exemplarisch kann insoweit die Sache First National Bank142 gelten. Dort hatte das House of Lords zu entscheiden, ob eine in Darlehensverträgen verwendete Klausel missbräuchlich ist, wonach der vertraglich geschuldete Zins auch nach einem Gerichtsurteil und bis zur Begleichung des ausgeurteilten Betrages geschuldet blieb. Nach englischem Recht ist nach einem Urteil der Rechtsgrund für eine Schuld nicht mehr der ursprüngliche Vertrag, sondern nunmehr das Urteil selbst – mit der Folge, dass ein nach dem Vertrag geschuldeter Zins keine Anwendung mehr findet und der Darlehensgeber stattdessen nur den ggf. geringeren gesetzlichen Zinssatz aus dem Urteil erhalten kann.143 Dem versuchten die Darlehensgeber durch – grundsätzlich zulässige – zusätzliche vertragliche Vereinbarungen, wonach auch nach einem Urteil entsprechende Zinsen geschuldet sind, entgegenzutreten. Der klagende Director General of Fair Trading hielt die Klausel hier aber für missbräuchlich, u. a. weil sie dem Verbraucher den Schutz einer nationalen Regelung entzog, wonach bei Verurteilungen zur Zahlung eines bestimmten Betrages in Raten Zinsen immer erst dann fällig werden, wenn auch die jeweilige Rate fällig wird, so dass also nicht von der Verurteilung an Zinsen auf den gesamten Betrag zu entrichten wären. Während das erstinstanzliche Gericht die Klausel für zulässig gehalten hatte, sprach sich der Court of Appeal für ihre Missbräuchlichkeit aus und begründete das damit, dass die Bank sich einen Zinsanspruch verschaffe, der ihr sonst nicht zustünde und die Regelung nicht durch einen entsprechenden Vorteil für den Verbraucher ausgeglichen werde. Das House of Lords warf zunächst die Frage auf, ob nicht eine Vorlage an den EuGH zur Auslegung von Art. 3 Abs. 1 der Klauselrichtlinie angezeigt sein könnte.144 Bemerkenswert ist, dass zwischen den Gerichten im Instanzenzug ja keineswegs Einigkeit darüber bestand, wie Art. 3 der Klauselrichtlinie im Hinblick auf diesen Fall denn auszulegen sei. Dennoch legte das House of Lords die Frage nicht
142 House of Lords, Director General of Fair Trading v. First National Bank, [2001] UKHL 52. 143 Bei einer Verurteilung zur Rückzahlung des Darlehens in bestimmten Raten erhält er offenbar gar keine weiteren Zinsen, vgl. House of Lords, Director General of Fair Trading v. First National Bank, [2001] UKHL 52, Rn. 5. 144 House of Lords, Director General of Fair Trading v. First National Bank, [2001] UKHL 52, Rn. 17.
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vor,145 sondern erklärt den Wortlaut der Richtlinienbestimmung für eindeutig. Dabei erläuterte es das Gebot von Treu und Glauben wie folgt: „The requirement of good faith in this context is one of fair and open dealing. Openness requires that the terms should be expressed fully, clearly and legibly, containing no concealed pitfalls or traps. Appropriate prominence should be given to terms which might operate disadvantageously to the customer. Fair dealing requires that a supplier should not, whether deliberately or unconsciously, take advantage of the consumer’s necessity, indigence, lack of experience, unfamiliarity with the subject matter of the contract, weak bargaining position or any other factor listed in or analogous to those listed in Schedule 2 of the regulations. Good faith in this context is not an artificial or technical concept; nor, since Lord Mansfield was its champion, is it a concept wholly unfamiliar to British lawyers. It looks to good standards of commercial morality and practice. Regulation 4(1) lays down a composite test, covering both the making and the substance of the contract, and must be applied bearing clearly in mind the objective which the regulations are designed to promote.“ 146
Lord Steyn führte aus, dass die fragliche Bestimmung nicht missbräuchlich sei. Die Generalklausel in Art. 4 Abs. 1 der Regulations versteht er wie Lord Bingham so, dass good faith mit fair and open dealing gleichzusetzen sei und betont, dass es sich um ein objektives Kriterium handele. Zudem zieht er interessanterweise die PECL147 als Auslegungshilfe heran, wonach der Zweck des Gebots von Treu und Glauben darin bestehe, unionsweit einheitliche Standards von Fairness und Angemessenheit / Vernünftigkeit (reasonableness) im Handelsverkehr zu etablieren. Dass die Kommentierung der PECL hier – wie von Lord Steyn auch zitiert – auf Handelsgeschäfte (commercial transactions) abstellt, hält ihn von einer Anwendung der Überlegung auf die Klauselrichtlinie und damit auf Verbraucherverträge nicht ab. Für diese gelte der Standard erst recht. Aus Schedule 3 (der dem Anhang der Klauselrichtlinie entspricht) ergebe sich zudem, dass good faith gerade nicht ausschließlich Vgl. auch Miller, The Emergence of EU Contract Law, S. 67 f. „Das Erfordernis von Treu und Glauben ist in diesem Kontext eines des fairen und offenen Umgangs. Offenheit erfordert, dass die Vertragsbedingungen vollständig, klar und lesbar sind und keine verborgenen Tücken oder Fallen enthalten. Dabei sind solche Vertragsklauseln, die sich zum Nachteil des Verbrauchers auswirken könnten, in geeigneter Weise hervorzuheben. Der faire Umgang verlangt, dass ein Gewerbetreibender nicht, ob absichtlich oder unbewusst, die Bedürfnisse, die Mittellosigkeit, den Mangel an Erfahrung, die fehlende Vertrautheit mit dem Vertragsgegenstand, die schwache Verhandlungsposition oder irgendeinen anderen Faktor, der in Anhang 2 der Regulations aufgeführt oder diesem gleichzustellen ist, ausnutzt. Treu und Glauben ist in diesem Kontext kein künstliches oder technisches Konzept; ebensowenig ist es, zumal Lord Mansfield sein Verfechter war, ein für englische Juristen völlig unbekanntes Konzept. Regulation 4 (1) legt eine mehrteilige Prüfung fest, die sowohl das Zustandekommen wie auch den materiellen Gehalt des Vertrags umfasst, und bei deren Anwendung Sinn und Zweck der Regulation zu berücksichtigen sind.“ (Übersetzung des Verf.) 147 Er bezieht sich dabei auf S. 113 des Buches und damit auf Art. 1:201, also den allgemeinen Grundsatz von Treu und Glauben in den PECL. 145 146
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oder hauptsächlich eine „prozedurale“ Regel in dem Sinne sei, dass es sich mit Mängeln in Verhandlungsprozessen befasse. Vielmehr sei der Grundsatz – in Verbindung mit dem erheblichen Missverhältnis – ein Test der materiellen Fairness von Verträgen. Hier zitiert Lord Steyn zudem Hugh Collins.148 Dieser hat allerdings das „erhebliche Missverhältnis“ als solches als ein Kriterium betrachtet, bei dem alle Einschränkungen der vertraglichen Rechte des Verbrauchers durch einen entsprechend niedrigen Preis gerechtfertigt sein könnten. Anders sei dies nur aufgrund des Gebots von Treu und Glauben zu beurteilen, das dem englischen Recht im Zusammenhang mit der Inhaltskontrolle eines Vertrags aber unbekannt sei („mysterious and exciting to an english lawyer“).149 Treu und Glauben ist laut Collins auch ein Maßstab in Vertragsverhandlungen und insbesondere für Informationspflichten und als solcher dem englischen Recht durchaus bekannt. Im Rahmen der Richtlinie könnte man sich hierauf aber nicht beschränken; vielmehr sei es hier eben der Wortlaut, also der Inhalt der fraglichen Vertragsbestimmung selbst, der gegen Treu und Glauben verstoßen müsse. Lord Steyn sieht allerdings eine große Überlappung zwischen beiden Konzepten good faith und significant imbalance. Was die von ihm herausgearbeitete Dimension materieller Fairness angeht, so kommt Lord Steyn nach ausgiebiger Überlegung zum dem Schluss, dass die Klausel, auch wenn sie den Darlehensnehmer deutlich schlechter stelle, nicht als missbräuchlich angesehen werden könne, solange die entsprechende gesetzliche Bestimmung, von der abgewichen werde, anderweitige vertragliche Gestaltung nicht verbiete. Dies ist als Argument offensichtlich von begrenztem Wert, weil es bei der Beurteilung missbräuchlicher Klauseln ohnehin stets nur um individualvertraglich noch zulässige Abweichungen vom dispositiven Recht gehen kann; andernfalls wäre die betreffende Klausel ja ohnehin unwirksam. Insgesamt zeigt die Entscheidung aber beispielhaft, dass der Grundsatz von Treu und Glauben dem englischen Recht keineswegs völlig fremd ist und von den dortigen Gerichten auch und gerade dann angenommen wird, wenn er über das europäische Sekundärrecht Einzug ins eigene Recht erhält. Kritisch ist allerdings anzumerken, dass hier schon angesichts der unterschiedlichen Meinungen der verschiedenen Instanzen zur Missbräuchlichkeit der Klausel eine Vorlage der Sache an den Europäischen Gerichtshof angezeigt gewesen wäre. 4. Weitere Mitgliedstaaten Die übrigen mitgliedstaatlichen Privatrechtsordnungen kennen nicht alle einen allgemeinen Grundsatz von Treu und Glauben und soweit dies mehrheitlich der Fall ist, ist er jedenfalls nicht stets in identischer Weise ausgeprägt und 148 149
Collins, 14 OJLS 1994, 229. Collins, 14 OJLS 1994, 229, 249 f.
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wird auch nicht identisch angewandt.150 Einzelheiten können hier mit Rücksicht auf das rein unionsrechtliche Erkenntnisinteresse der Arbeit nicht untersucht werden. Da vorhandene Untersuchungen – etwa die PECL oder auch Zimmermann / Whittaker – diesbezüglich aber besonders nach den Erweiterungen der Union seit dem Jahr 2004 nicht vollständig sind, soll zumindest ein kurzer Überblick darüber gegeben werden, welche Rechtsordnungen Treu und Glauben in ihrem geschriebenen Recht kennen. Vorschriften, die auf die subjektive Gutgläubigkeit abstellen, wie sie etwa bei der Stellvertretung oder beim Erwerb vom Nichtberechtigten vorkommen, sind hier nicht mit aufgeführt; ebenso wenig Umsetzungsbestimmungen der Klauselrichtlinie. Zu einigen Mitgliedstaaten liegen zudem keine Erkenntnisse vor 151: – Belgien: Art. 1134 Zivilgesetzbuch (Vertragserfüllung nach Treu und Glauben, die Vorschrift entspricht derjenigen des französischen Code Civil). – Bulgarien: Art. 12 Schuldrecht- und Vertragsrechtsgesetz (Treu und Glauben in Vertragsverhandlungen und beim Vertragsschluss); Art. 63 (Vertragserfüllung nach Treu und Glauben). – Dänemark: Art. 36-1 Vertragsrechtsgesetz (Vertragsanpassung oder -auflösung, wenn die Erfüllung unvernünftig wäre oder gegen die Grundsätze von Treu und Glauben verstieße; die Regel scheint sich also teils mit der wirtschaftlichen Unmöglichkeit, teils mit dem Wegfall der Geschäftsgrundlage nach deutschem Recht zu decken); darüber hinaus soll es in Dänemark (wie in Schweden) keine allgemeine, gesetzliche Verpflichtung der Parteien auf den Grundsatz von Treu und Glauben geben, wohl aber umfangreiche Rechtsprechung, die verschiedene vertragliche Pflichten aus Treu und Glauben ableitet.152 – Estland: § 6 des estnischen Obligationenrechts von 2002 (Abs. 1: allgemeine Verpflichtung von Gläubiger und Schuldner auf Treu und Glauben; Abs. 2: Treu und Glauben als Grenze der Rechtsausübung), § 23 Abs. 4 (als Quelle für die Begründung vertraglicher Pflichten), § 26 Abs. 3 (bei Bestimmung der Leistung durch eine Partei oder Dritte), § 27 Abs. 2 (ergänzende Vertragsauslegung oder Lückenfüllung), § 76 Abs. 2 (Vertragserfüllung nach Treu und Glauben) u. v. m. – Finnland: keine allgemeinen Pflichten der Parteien zum Handeln nach Treu und Glauben. Vgl. auch Zimmermann / Whittaker, in: dies., Good faith in European contract law, S. 57 f.; außerdem zu Generalklauseln allgemein die Ausführungen verschiedener Autoren in: Grundmann / Mazeaud, General clauses and standards in European contract law, Kapitel 2–4. Ein überblickshafter Rechtsvergleich über die Funktionen von Treu und Glauben findet sich auch bei Hesselink, in: ders., The New European Private Law. Essays on the Future of Private Law in Europe, S. 195, 203 ff. 151 Es handelt sich um Slowenien, die Slowakei, Ungarn und Zypern. 152 Lando, in: Bernitz u. a., Festskrift till Jan Ramberg, S. 351 f. 150
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– Griechenland: Art. 288 Zivilgesetzbuch (Bewirkung der Leistung nach Treu und Glauben). – Irland: keine allgemeinen, geschriebenen Pflichten der Parteien zum Handeln nach Treu und Glauben; Irland gehört zum Rechtskreis des Common Law (siehe oben S. 43 ff.). – Italien: Art. 1175 Zivilgesetzbuch (allgemeine Verpflichtung von Gläubiger und Schuldner auf Treu und Glauben bzw. Redlichkeit – „corretezza“); Art. 1375 (Durchführung des Vertrags nach Treu und Glauben). – Kroatien: Art. 4 des Zivilgesetzbuchs von 2005 (allgemeiner Grundsatz von Treu und Glauben bei Vertragsschluss und bei der Ausübung vertraglicher Rechte); Art. 251 Abs. 2 und 3 (Abbruch bzw. Aufnahme von Vertragsverhandlungen entgegen Treu und Glauben); Art. 371 (Vertragsanpassung / Wegfall der Geschäftsgrundlage). – Lettland: Art. 1 Zivilgesetzbuch (allgemeine Pflicht zur Ausübung von Rechten und Erfüllung von Verpflichtungen nach Treu und Glauben). – Litauen: Art. 1.5 Zivilgesetzbuch (Abs. 1: allgemeine Pflicht zur Ausübung von Rechten und Erfüllung von Verpflichtungen nach Vernünftigkeit und Treu und Glauben; Abs. 2: Treu und Glauben im Hinblick auf den Vertragsschluss/-inhalt; Abs. 3: Treu und Glauben als Maßstab für gerichtliche Entscheidungen über Fragen in Verträgen; Abs. 4: Treu und Glauben als Maßstab für die Auslegung der Gesetze durch Gerichte). – Luxemburg: Artikel 1134 Zivilgesetzbuch (Vertragserfüllung nach Treu und Glauben, wie Frankreich). – Malta: Art. 993 (Vertragsausführung nach Treu und Glauben). – Niederlande: Art. 6:2 Nieuw Burgerlijk Wetboek (allgemeine Verpflichtung von Gläubiger und Schuldner, sich nach den Geboten der „Redlichkeit und Billigkeit“ zu verhalten); Art. 6:248 („Redlichkeit und Billigkeit“ als Maßstab für die Vertragsauslegung und als Grenze der Vertragsfreiheit). – Österreich: kein allgemeiner Grundsatz von Treu und Glauben im geschriebenen Gesetzesrecht; aber Art. 863 Abs. 2 ABGB Rücksichtnahme „auf die im redlichen Verkehr geltenden Gewohnheiten und Gebräuche“ bei der Auslegung von Handlungen; Art. 914 (Vertragsauslegung nach wahrem Parteiwillen und „der Übung des redlichen Verkehrs“). – Polen: Art. 56 Zivilgesetzbuch (Auslegung nach Treu und Glauben); Art. 354 (Berücksichtigung von sozio-ökonomischen und sozialen Normen sowie Sitten und Gebräuchen bei der Erfüllung von Verpflichtungen). – Portugal: Art. 334 Zivilgesetzbuch (Verbot unzulässiger Rechtsausübung bei Überschreitung von Treu und Glauben oder des sozialen oder wirtschaftlichen Zweckes eines Rechts); Art. 437; (Berechtigung zum Rücktritt wegen Wegfalls der Geschäftsgrundlage, wenn das Festhalten an den übernommenen Verpflichtungen einen schweren Verstoß gegen Treu und Glauben darstellte); Art. 762 Abs. 2 (allgemeiner Grundsatz von Treu und Glauben gilt bei der Erfüllung von Verpflichtungen und der Ausübung von Rechten).
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– Rumänien: Art. 970 Zivilgesetzbuch (Ausführung von Verträgen nach Treu und Glauben). – Schweden: siehe Dänemark. – Spanien: Art. 1258 Zivilgesetzbuch (Vertragsausführung bzw. Vertragsauslegung nach Treu und Glauben). – Tschechien: Art. 6-228 Abs. 1 (Treu und Glauben als Grenze der Vertragsfreiheit). Als Ergebnis aus dieser Auflistung ist vor allem die Feststellung zu treffen, dass – soweit ermittelbar – auch ein Großteil der seit dem Jahr 2004 der EU beigetretenen Staaten, die häufig recht junge Zivil- oder Vertragsrechtsgesetze haben, Treu und Glauben nicht nur kennen, sondern ausgiebig von diesem Grundsatz Gebrauch machen. Es scheint sich – bei der hier nur möglichen kursorischen Betrachtung – eine Tendenz abzuzeichnen, dass Staaten bei der Reform ihres Vertragsrechts die für den allgemeinen Grundsatz von Treu und Glauben etwa im deutschen Recht in der Rechtsprechung gefundenen Anwendungen in ihre Gesetzbücher aufnehmen. Möglicherweise geschieht dies auch unter dem Eindruck der Verwendung von Treu und Glauben im Unionsprivatrecht, dessen Richtlinien die neuen Mitgliedstaaten ja vor dem Beitritt umzusetzen hatten. Mit Sicherheit kann festgestellt werden, dass Treu und Glauben der Mehrzahl der Mitgliedstaaten – und besonders den neuen Mitgliedstaaten – jedenfalls nicht fremd ist. Daneben ist aber auch festzuhalten, dass Treu und Glauben unter den Mitgliedstaaten ganz unterschiedlichen Stellenwert genießt und unterschiedliche Funktionen erfüllt. Auch das Rechtsmissbrauchsverbot ist in praktisch allen Mitgliedstaaten bekannt oder wird sonst jedenfalls funktional durch andere Mechanismen wahrgenommen. Dort variieren Funktionen und Voraussetzungen des Verbots allerdings; vor allem wird teils eine Schädigungsabsicht verlangt (subjektiver Ansatz), teils schädigende Auswirkungen (objektiver Ansatz).153 Insbesondere in Frankreich und Belgien reicht aber für den subjektiven Test auch Fahrlässigkeit im Sinne eines bestimmten Verschuldensgrades aus, was mit der deliktsrechtlichen Herkunft des „abus de droit“ zusammenhängt. IV. Akademische Regelkataloge „[…] good faith […] has been one of the most controversial principles in the academic debate on European private law.“154
Ebenfalls zur Klärung des Vorverständnisses auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene und insbesondere in der akademischen Debatte soll auf die Rolle von Treu und Glauben in einigen akademischen Regelwerken bzw. Siehe überblickshaft Lenaerts, ERPL 2010, 1121, 1125 ff. Hesselink, in: Leczykiewicz, The Involvement of EU Law in Private Law Relationships, S. 131, 168. 153 154
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Restatement-Projekten eingegangen werden. Die Principles of European Contract Law (kurz: PECL) folgen der Idee der amerikanischen Restatements und versuchen die Erarbeitung eines gemeinsamen Kerns der nationalen Rechtsordnungen.155 Ein gegenteiliger Ansatz liegt der anderen großen akademischen Regelsammlung zugrunde, den Principles of Existing EC Contract Law (kurz Acquis-Principles oder ACQP).156 Diese haben grundsätzlich einen ähnlichen Anspruch wie die vorliegende Untersuchung selbst, nämlich eine ordnende Darstellung und Analyse des vorhandenen Unionsprivatrechts, die sich im Fall der ACQP auf das Vertragsrecht beschränkt. Auf eine Darstellung der Rolle von Treu und Glauben im Draft Common Frame of Reference (kurz: DCFR)157 verzichtet die Untersuchung bewusst.158 Zum einen greift dieser auf die vorgenannten Vorhaben zurück, zum anderen wird im Rahmen der Untersuchung des vorhandenen Unionsrechts der Blick auch auf den Verordnungsvorschlag für ein Gemeinsames Europäisches Kaufrecht (kurz: CESL)159 zu richten sein. Dieser stellt eine Folgetextstufe des DCFR dar und ist von der Europäischen Kommission vorgelegt worden, die sich die betreffenden Regelungen damit zu eigen gemacht hat. Das Vorhandensein des Grundsatzes an zentraler Stelle in diesen Regelwerken ist jedenfalls ein weiterer, wichtiger Indikator für die grenzüberschreitende Verbreitung von Treu und Glauben.160 Außerdem kann bei der Bildung von „Fallgruppen“ in sehr praktischer Weise – zumindest als Indiz – der Ansatz von Zimmermann / Whittaker herangezogen werden, die eine Vielzahl typischer Fälle von Juristen aus unter155 Lando u. a., The principles of European contract law, Full text of Parts I & II combined, S. xxii und xxvi. 156 Research Group on the Existing EC Private Law, Principles of the Existing EC Contract Law (Acquis Principles), Contract II. 157 von Bar / Clive / Schulte-Nölke, Principles, definitions and model rules of European private law – Draft Common Frame of Reference (DCFR), Full edition, München 2009. 158 Für eine Kritik an diesem Vorschlag, insbesondere auch an der großen Anzahl dort verwendeter unbestimmter Rechtsbegriffe und der zentralen Rolle von Treu und Glauben, das u. a. weitgehende Einschränkungen der Vertragsfreiheit ermöglichen würde siehe Eidenmüller / Faust / Grigoleit / Jansen / Wagner / Zimmermann, JZ 2008, 529, 538 f. 159 Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über ein Gemeinsames Europäisches Kaufrecht, Brüssel, 11.10.2011, KOM (2011) 635 endg. 160 Auch auf die Rolle von Treu und Glauben im UN-Kaufrecht kann an dieser Stelle nur kurz hingewiesen werden. Das UN-Kaufrecht sieht in Art. 7 Abs. 1 vor, dass es mit Rücksicht auf „the observance of good faith in international trade“ auszulegen ist. Die deutsche Übersetzung, die aber nicht verbindlich ist, spricht insoweit von der „Wahrung des guten Glaubens im internationalen Handel“, was sprachlich etwas verunglückt ist, da nicht der subjektive „gute Glaube“ sondern eben Treu und Glauben gemeint sein dürften; vgl. die Amtliche Übersetzung für Deutschland, Übereinkommen der Vereinten Nationen über Verträge über den internationalen Warenkauf, vom 11. April 1980, BGBI. 1989 II S. 588. Der Grundsatz von Treu und Glauben bezieht sich hier dem Wortlaut des Übereinkommens nach also nur auf die Interpretation seiner selbst.
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schiedlichen Rechtsordnungen haben untersuchen lassen.161 Sie kommen zu dem für die Rechtsvergleichung nicht untypischen Schluss, dass die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen auf sehr unterschiedlichen Lösungswegen zu sehr ähnlichen Ergebnissen kommen. Die geprüften Fälle lassen sich nicht sämtlich ins Unionsrecht übertragen, weil die enthaltenen Probleme nicht alle in dessen Anwendungsbereich fallen. Dennoch ist die Untersuchung interessant, weil sie zeigt, welche Fälle eine Gruppe internationaler Wissenschaftler jedenfalls zum „Dunstkreis“ des good faith-Grundsatzes zählt. Hierzu gehören – abstrakt zusammengefasst – u. a. folgende Konstellationen: – Verursachung eines Schadens durch mangelhafte Information des Verkäufers über korrekte Anwendung eines Produkts (Fall 1, S. 171) – Unterlassen der Information über den wahren Wert einer Kaufsache (Bsp.: Bild eines berühmten Malers) durch den Käufer (Fall 2, S. 208) – Abbruch von Vertragsverhandlungen (Fall 3, S. 236) – Berufung auf Formerfordernisse, nachdem man die andere Partei glauben gemacht hat, diese seien nicht erforderlich oder nach langer Zeit, während die Gegenseite vertraut und investiert hat (Fall 4, S. 258 und Fall 5, S. 281) – Berechtigung eines Schuldners zu Teilleistungen, wenn dies eigentlich nicht vorgesehen, aber dem Gläubiger zumutbar und dem Schuldner die Ablehnung unzumutbar ist (Bsp.: Lieferung von 49 Säcken Mehl, wenn 50 geschuldet sind) (Fall 6, S. 292) – Verbot der Kündigung bei verspäteter Mietzahlung (die eigentlich zur fristlosen Kündigung berechtigen würde), wenn anschließend sofort gezahlt wird (Fall 7, S. 305) – Ablehnung einer Lieferung zur Unzeit (Fall 8, S. 322) – Willkür- oder Schikaneverbot; Verhältnismäßigkeit von Anweisungen im Arbeitsrecht (Fall 9, S. 331) – Unzulässigkeit von Rechtsbehelfen, wenn deren Voraussetzungen durch das Verschulden des Kündigenden herbeigeführt worden sind (Fall 10, S. 348) – Unzulässigkeit der Anfechtung wegen arglistiger Täuschung, wenn die Ware im Ergebnis in Ordnung ist (Fall 11, S. 362) – Dolo agit, qui petit quod statim redditurus est (Fall 12, S. 379) – Die Pflicht, Einsicht in Bücher zu gewähren, kann verweigert und auf Einsicht durch dritte (zur Verschwiegenheit verpflichtete) Person verwiesen werden, wenn Missbrauch droht (Fall 13, S. 391) – Kündigung nach kurzer Zeit, wenn der andere Teil erhebliche Investitionen getätigt hat (venire contra factum proprium) (Fall 14, S. 404) – Informationspflicht des Kontoinhabers gegenüber der Bank über unberechtigt eingegangene Zahlungen (Fall 18, S. 458)
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Zimmermann / Whittaker, in: dies., Good faith in European contract law, S. 60 ff.
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Kapitel 1 – Grundlagen
– Zulässigkeit der Beendigung langfristiger Handelsbeziehungen, Frage nach einem Ausgleichsanspruch (Fall 23, S. 532; Fall, 24 S. 546) – Anspruch auf Vertragsanpassung bei Inflation (normale Inflation oder besonders dramatische Inflation aufgrund unvorhersehbarer Ereignisse) (Fall 25, S. 557) 1. PECL Die PECL stellen eine umfassende, rechtsvergleichende Untersuchung des mitgliedstaatlichen Privatrechts dar. Sie sind zwar mit der Perspektive einer europäischen Vertragsrechtsvereinheitlichung geschrieben worden; das vorhandene Unionsprivatrecht in Gestalt des Sekundärrechts oder der Rechtsprechung des EuGH berücksichtigen sie allerdings nicht.162 Zudem richten sie ihren Blick nicht ausschließlich auf die Lösung mit der breitesten Basis unter den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen, sondern suchen auch nach der jeweils besten Lösung.163 Dennoch können die in den PECL aufgestellten Grundsätze bei der Annäherung an das gemeineuropäische Vorverständnis vom Untersuchungsgegenstand hilfreich sein. Außerdem stellen sie einen der wichtigsten Ausgangspunkte für die akademische Debatte um Treu und Glauben im europäischen Privatrecht dar. Innerhalb der PECL nimmt der Grundsatz von Treu und Glauben eine zentrale Stellung ein.164 Er kommt in Art. 1:102 Abs. 1 als Grenze der Vertragsfreiheit, in Art. 1:106 Abs. 1 als Maßstab für die Auslegung der PECL selbst und in Art. 1:201 Abs. 1 als allgemeine Pflicht der Parteien, nach Treu und Glauben zu handeln, vor.165 Weitere Fundstellen sind – Art. 1:302 (Definition der Begriffe Angemessenheit und Vernünftigkeit) – Art. 1:305 lit. b) (Bösgläubigkeit von Gehilfen) – Art. 2:301 Abs. 2 (Haftung für den Abbruch von Vertragsverhandlungen / culpa in contrahendo) – Art. 3:201 Abs. 3 (Rechtsscheinvollmacht)166 Zimmermann, Die Europäisierung des Privatrechts und die Rechtsvergleichung, S. 54 bezeichnet dies als „eine der größten Schwächen“ der PECL. 163 Schmidt, Martin, Konkretisierung von Generalklauseln im europäischen Privatrecht, S. 120. 164 Vgl. Hesselink, in: ders., The New European Private Law, S. 113: „The PECL represent the international triumph of the principle of good faith.“ 165 Dabei benutzt die englische Originalfassung regelmäßig den Begriff „good faith and fair dealing“, der in der deutschen Übersetzung mit „Treu und Glauben und der redliche Geschäftsverkehr“ übertragen wurde. 166 Allerdings ist hier „in good faith“ nicht wie in Art. 1:302 („im Einklang mit den Geboten von Treu und Glauben“) übersetzt, sondern mit „in gutem Glauben“. Es geht hier also um die subjektive Gutgläubigkeit, die kein zentraler Gegenstand dieser Untersuchung sein soll. Von Interesse ist dies aber insoweit, als es zeigt, dass diese Differenzierung im 162
B. Vorverständnis
57
– Art. 4:103 Abs. 1 lit. a) ii) (Irrtumsanfechtung / Aufklärungspflicht) – Art. 4:107 Abs. 1 (Arglistige Täuschung, Kriterien für Offenlegungspflicht) – Art. 4:109 Abs. 2 (Vertragsanpassung wegen unangemessener Ausnutzung oder übermäßigen Vorteils) – Art. 4:110 Abs. 1 (Klauselkontrolle) – Art. 4:118 Abs. 2 (Grenzen des Ausschlusses der Irrtumsanfechtung) – Art. 5:102 (g) (Vertragsauslegung) – Art. 6:102 (c) (Stillschweigende Vertragsbestimmungen) – Art. 6:111 (3) (Schadensersatz wegen Abbruch von Verhandlungen wegen Vertragsanpassung) – Art. 8:109 (Grenze des Haftungsausschlusses wegen Nichterfüllung – Ausübungskontrolle) – Art. 11:204 (b) (zulässige Änderung einer Forderung nach Abtretung)167 – Art. 11:308 (Ergänzung zu Art. 11:204 b) – Art. 16:102 (Verhinderung oder Herbeiführung eines Bedingungseintritts) Eine Definition von Treu und Glauben enthalten die PECL nicht. Der Kommentar weist allerdings darauf hin, dass der Grundsatz über seine einzelnen Anwendungen hinaus greife und „die Durchsetzung allgemein anerkannter Standards der Anständigkeit, Fairness und Vernünftigkeit in den Geschäftsbeziehungen“ zum Ziel habe.168 Zusätzlich zu den hier aufgelisteten Vorschriften nennt der Kommentar zu Art. 1:201 PECL weitere Vorschriften als Ausprägungen des Grundsatzes von Treu und Glauben: – Art. 2:105 Abs. 4 und Art. 2:106 Abs. 2 (Ausschluss der Geltendmachung einer Integrations- bzw. Schriftformklausel) – Art. 2:202 Abs. 3 (Unwirksamkeit des Widerrufs eines Angebots) – Art. 2:302 (Bruch der Vertraulichkeit bei Vertragsverhandlungen) – Art. 8:104 (Recht des Schuldners zur Heilung einer mangelhaften Leistung vor Fälligkeit) – Art. 9:102 Abs. 2 lit. b) (Recht zur Verweigerung der Erfüllung bei unangemessenen Anstrengungen oder Kosten) – Art. 5:101 Abs. 3 (Vertragsauslegung) – Art. 9:505 (Schadensminderungspflicht)
Englischen – möglicherweise aus allgemeinen sprachlichen Gründen und damit auch außerhalb der PECL – nicht klar hervortritt. 167 Auch hier ist „in good faith“ mit „in gutem Glauben“ übersetzt. Allerdings scheint es hier doch eher um solche Änderungen zu gehen, die nach einem objektiven Maßstab von Treu und Glauben ausnahmsweise zulässig sein müssen, so dass hier vielleicht eher wieder die Übersetzung „im Einklang mit den Geboten von Treu und Glauben“ gepasst hätte, vgl. auch oben Kapitel 1 Fn. 166. 168 von Bar / Zimmermann, Grundregeln des Europäischen Vertragsrechts Teile I und II, S. 110.
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Kapitel 1 – Grundlagen
Für eine eingehende Analyse aller Einzelfälle ist hier kein Raum, zumal die PECL selbst auch nicht immer eine Aussage dazu treffen, inwieweit Treu und Glauben sich bei der jeweiligen Regelung auch im Recht der Mitgliedstaaten wiederfindet. Dennoch lassen sich für diese Arbeit aber einige interessante Beobachtungen machen: Die PECL machen von Treu und Glauben ausgiebig Gebrauch. Die weitaus häufigste Verwendung ist dabei die in der Form des „good faith and fair dealing“, zu Deutsch „Treu und Glauben und der redliche Geschäftsverkehr“. Der Kommentar erläutert insoweit, dass good faith innerhalb der PECL einen subjektiven und fair dealing einen objektiven Maßstab darstelle, weist aber auch darauf hin, dass Treu und Glauben im deutschen und die bonne foi im französischen Sinne beide Begriffe umfassen.169 Die PECL müssten hier möglicherweise genauer differenzieren. Interessant sind im Hinblick auf das Ziel dieser Arbeit, Treu und Glauben im Unionsprivatrecht nach seinen Funktionen in Fallgruppen einzuteilen, die Funktionen von Treu und Glauben in den PECL. Diese lassen sich aufteilen nach den Funktionen von Treu und Glauben als Grenze der Vertragsfreiheit (Art. 1:102, Art. 4:118, Art. 8:109), als Grenze der Ausübung vertraglicher Rechte (hierunter fallen als Unterkategorien das Verbot widersprüchlichen Verhaltens, die treuwidrige Herbeiführung oder Verhinderung von Bedingungen, Freizeichnungsklauseln, Integrations- bzw. Schriftformklauseln, der unwirksame Widerruf eines Angebots, das Recht zur Heilung vor Fälligkeit, die wirtschaftliche Unmöglichkeit, d. h. der Ausschluss von „specific performance“ bei unangemessenen Kosten), als Grundlage für die Schaffung zusätzlicher Pflichten (etwa die Aufklärungspflicht in Art. 4:103 mit den Kriterien in Art. 4:107, die Vertraulichkeit von Vertragsverhandlungen, die Schadensminderungspflicht) und schließlich als Maßstab für die Auslegung von Verträgen (Art. 5:102, ergänzende Auslegung von Verträgen, Art. 6:102, Art. 5:101). Die PECL stellen weiterhin einen engen Zusammenhang zwischen Treu und Glauben und den Begriffen Angemessenheit und Vernünftigkeit her. Beide Begriffe – die innerhalb der PECL wiederum an vielen Stellen als wichtiges Kriterium verwendet werden170 – sind über Treu und Glauben definiert: Angemessen bzw. vernünftig ist das, was eine nach Treu und Glauben handelnde Person dafür halten würde, Art. 1:302. Ein letzter – möglicherweise auch für diese Untersuchung sehr relevanter – Schluss aus den PECL ist derjenige, dass auch solche Regeln als Ausdruck von Treu und Glauben angesehen werden, die den Grundsatz nicht im Wortlaut enthalten. Wann und warum dieser im Gesetz ausdrücklich genannt wird oder nicht wird dabei nicht näher erläutert; es mag auch an Zufälligkeiten wie 169 von Bar / Zimmermann, Grundregeln des Europäischen Vertragsrechts Teile I und II, S. 113. 170 Übersicht bei von Bar / Zimmermann, Grundregeln des Europäischen Vertragsrechts Teile I und II, S. 127 ff.
B. Vorverständnis
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der hauptsächlich zugrunde gelegten nationalen Regelung oder der Person des verantwortlichen Berichterstatters oder Referenten liegen. Für den Zuschnitt der hier durchgeführten Untersuchung kann aber festgehalten werden, dass dies auch im Unionsrecht der Fall sein könnte, das ja im Gesetzgebungsprozess nicht nur wie die PECL von Personen aus unterschiedlichen Mitgliedstaaten entworfen wird, sondern wo zusätzlich von verschiedenen Institutionen mit ihren unterschiedlichen Interessen Änderungsvorschläge gemacht werden.171 Dies gilt alles umso mehr, wenn eine Vielzahl von Rechtsakten aus unterschiedlichen Politikbereichen untersucht werden soll. Hinzu kommt schließlich noch die vom Europäischen Gerichtshof verwendete Terminologie, die ebenfalls nicht zwingend einheitlich ist, sondern sich aus den Schlussanträgen unterschiedlicher Generalanwälte und aus den Vorprägungen oder Vorstellungen unterschiedlicher Berichterstatter und Kammern ergeben kann. 2. Acquis-Principles Die Acquis-Principles kommen in Rn. 8 der Anmerkungen zu Art. 2:101 – wo die Frage erörtert wird, ob statt einer Vielzahl einzelner good faith-Regeln in bestimmten Bereichen auch ein einziger, übergreifender good faithGrundsatz für das Vertragsrecht hätte formuliert werden können – zu folgender Feststellung: „[C]urrently, the acquis does not provide a solid basis for an overarching principle of good faith that could serve as a single standard for all aspects of contract law. The concept of good faith appears in the acquis rather in various different facets depending on whether it relates to pre-contractual, contractual or even post-contractual matters.“172
Allerdings zeigen die Acquis-Principles trotzdem eine ganze Reihe von Fundstellen innerhalb des Acquis Communautaire auf, die von ihnen als Ausfluss einer Verpflichtung zum Handeln nach Treu und Glauben verstanden werden. Ein Schwerpunkt wird hierbei auf vorvertragliche Pflichten gelegt, die die Acquis-Principles insbesondere in folgenden Vorschriften zusammenfassen: – Art. 2:101 sieht vor, dass die Parteien sich bei Vertragsverhandlungen nach Treu und Glauben zu verhalten haben; im vorvertraglichen Bereich besteht also offenbar eine allgemeine Pflicht zum Handeln nach Treu und Glauben.173 Warum diese mit Fundstellen aus dem Acquis begründet wird, 171 Man denke zusätzlich nur an die auch innerhalb dieser Institutionen noch vorhandenen verschiedenen Ratsformationen, Ausschüsse des Europäischen Parlaments oder Generaldirektionen und Referate der Kommission, die an dem jeweiligen Entwurf mitwirken. 172 Pfeiffer / Ebers, in: Research Group on the Existing EC Private Law, Acquis Principles, Contract II, S. 103. 173 So auch Jansen / Zimmermann, MLR 2008, 505, 524. Die Autoren kritisieren insbesondere, dass der Eindruck entstehe, die Verpflichtung zum Handeln nach Treu und Glau-
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– – – –
Kapitel 1 – Grundlagen
die ihrerseits die Vertragsdurchführung betreffen, für die ja wiederum die Existenz einer solchen allgemeinen Pflicht verneint wird, bleibt unklar. Die Kommentierung führt in Rn. 8 lediglich aus, es fehle insoweit an einer hinreichend soliden Basis, weil Treu und Glauben im vorvertraglichen, im vertraglichen und im nachvertraglichen Bereich in so vielen unterschiedlichen Facetten auftauche. Art. 2:102 (Berechtigte Verbrauchererwartungen an Unternehmer mit besonderen Kenntnissen) Art. 2:103 (Treuwidriges Aufnehmen bzw. Abbruch von Vertragsverhandlungen) Art. 2:201 (Informationspflicht über Güter und Dienstleistungen) Art. 6:201 (Verpflichtung zum Hinweis auf nicht individuell ausgehandelte Vertragsbedingungen)
Daneben identifizieren die ACQP weitere Vorschriften des Acquis als Ausprägungen von Treu und Glauben, die aber wie soeben zitiert nicht in die Formulierung eines allgemeinen Grundsatzes münden. Dennoch benennen sie weitere Grundsätze, die sie selbst als Ausprägungen unterschiedlicher Aspekte des Grundsatzes von Treu und Glauben ansehen: – Art. 6:301, 6:304, 6:305 (AGB-Kontrolle, graue und schwarze Liste) – Art. 7:101 (Erfüllung von Verpflichtungen gemäß Treu und Glauben) – Art. 7:102 (Ausübung von Rechten durch den Gläubiger gemäß Treu und Glauben) – Art. 7:103 (Loyalitätspflicht des Schuldners) – Art. 7:104 (Pflicht zur Zusammenarbeit von Gläubiger und Schuldner) – Art. 8:407 (unfaire Zinsbestimmungen bei Zahlungsverzug) Bemerkenswert ist, dass insbesondere die Bestimmungen in Art. 7.101 bis 7:104 doch von einer solchen Allgemeinheit und Breite sind, dass die Frage aufkommt, warum man denn von der Festlegung eines allgemeinen Grundsatzes von Treu und Glauben Abstand genommen hat. Anders formuliert: Es bleibt offen, welche Bereiche oder Verhaltensweisen, die von einem allgemeinen Grundsatz von Treu und Glauben umfasst gewesen wären, denn von den Acquis-Principles nun nicht umfasst sind. Diesen Widerspruch zeigt insbesondere auch Rn. 6 des Kommentars zu Art. 7:102 ACQP, der erläutert, warum die Vorschrift als „a general rule preventing the abus de droit“ verstanden werden könnte. Zumindest diese Dimension von Treu und Glauben
ben sei vor Vertragsschluss umfassender als danach (S. 527). Außerdem sei es problematisch, denselben Grundsatz in einer Vielzahl von Einzelregelungen zu verwenden, weil dadurch suggeriert werde, dass er dort stets dieselbe Bedeutung habe, während bei einer umfassenden Generalklausel selbstverständlich sei, dass diese an die jeweilige Situation angepasst werden müsse (S. 528).
B. Vorverständnis
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soll also in einer generellen Regel umfasst sein.174 Man darf sich also fragen, ob hier der Verzicht auf einen allgemeinen Grundsatz von Treu und Glauben nicht eher aus politischen Gründen vorgenommen wurde. V. Der Vorschlag für ein Gemeinsames Europäisches Kaufrecht Die neuesten Entwicklungen im Bereich übergreifender Kodifikationsversuche des Unionsprivatrechts sind die Durchführbarkeitsstudie der Sachverständigengruppe zum europäischen Vertragsrecht175 und der darauf aufbauende Vorschlag der Kommission für ein Gemeinsames Europäisches Kaufrecht. Die (nicht in deutscher Sprache verfügbare) Durchführbarkeitsstudie enthält in einer Vielzahl von Vorschriften den Standard von „good faith and fair dealing“ (Definition in Art. 2 Abs. 10, allgemeine Verpflichtung der Parteien in Art. 8, außerdem weitere konkretere Pflichten in Art. 23, 27, 45, 46, 48, 57, 66, 81, 85, 92, 175). Der Verordnungsvorschlag für ein Gemeinsames Europäisches Kaufrecht176 – auf den hier als den neueren der beiden Texte allein eingegangen werden soll – ist als solcher nicht verabschiedet worden. Er wird im Arbeitsprogramm der Kommission 2015 in der Liste der zurückzuziehenden oder zu ändernden Vorschläge aufgeführt.177 Allerdings wird als Begründung angegeben, dass der Vorschlag geändert werde, „um das Potenzial des elektronischen Handels im digitalen Binnenmarkt voll zur Entfaltung zu bringen.“ Es kann also mit Einbringung eines neuen Vorschlags gerechnet werden, dessen Anwendungsbereich dann möglicherweise auf den Internethandel beschränkt sein wird. Dennoch wird der bislang bekannte CESLVorschlag aus mehreren Gründen in diese Untersuchung einbezogen: Der Vorschlag stellt gewissermaßen das vorläufige politische Endergebnis jahrzehntelanger akademischer Vorarbeiten dar.178 Er unterscheidet sich vom 174 So auch Lenaerts, ERPL 2010, 1121, 1143: „Thus, the principle of the prohibition of abuse of rights may be understood as a specific application of the general duty of good faith, in its limitative function […].“ 175 A European contract law for consumers and businesses: Publication of the results of the feasibility study carried out by the Expert Group on European contract law for stakeholders’ and legal practitioners’ feedback (http://ec.europa.eu/justice/contract/files/feasibil ity_study_final.pdf). 176 Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über ein Gemeinsames Europäisches Kaufrecht, Brüssel, 11.10.2011, KOM (2011) 635 endg. (fortan nach der geläufigeren englischen Abkürzung: CESL bzw. CESL-Vorschlag). 177 Europäische Kommission, Anhang zur Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss den den Ausschuss der Regionen – Arbeitsprogramm der Kommission für 2015, Ein neuer Start, Straßburg, den 16.12.2014, COM (2014) 910 final, Annex 2, dort Nr. 60 der Liste. 178 Insbesondere geht der Vorschlag auf den akademischen Draft Common Frame of Reference zurück, der seinerseits wiederum auf frühere Restatement-Projekte eines unionalen (Acquis-Principles) und eines gemeineuropäischen Privatrechts (PECL) zurückgreift,
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Kapitel 1 – Grundlagen
sonst in dieser Untersuchung betrachteten Unionsrecht dadurch, dass er nicht nur punktuell einige Aspekte des Vertragsrechts regelt, sondern den Anspruch erhebt, vom Vertragsschluss bis zum Schadensersatz „den ganzen Lebenszyklus eines Vertrags [zu] umfassen“.179 Er enthält dementsprechend auch die allgemeinen Regeln und Grundsätze, deren ungeschriebenes Bestehen im Bereich des Unionsprivatrechts in dieser Arbeit ja gerade untersucht werden soll und die sich hier erstmals im Unionsrecht in geschriebener Form wiederfinden würden. Das CESL macht in geradezu inflationär erscheinender Weise von Treu und Glauben Gebrauch. Die Europäische Kommission, der regelmäßig das alleinige Initiativrecht für europäische Gesetzgebungsvorhaben zukommt und die sich diesen Vorschlag zu eigen gemacht hat, scheint dem hier untersuchten Grundsatz also für die Zukunft des europäischen Vertragsrechts eine zentrale Rolle zuzuweisen, was zumindest indiziell darauf hindeutet, dass ein entsprechend breites Vorverständnis von Treu und Glauben auf Unionsebene durchaus vorhanden ist. So bezeichnet der Vorschlag auf S. 14 „das Gebot, nach Treu und Glauben zu handeln und einen redlichen Geschäftsverkehr zu betreiben“ als Beispiel für „die allgemeinen Grundsätze des Vertragsrechts, die alle Parteien im Umgang miteinander einhalten müssen“. In Erwägungsgrund 31 wird dann erläutert, dass der Maßstab für diesen Grundsatz kontextbezogen, insbesondere nach der Art des Geschäfts und der Sachkunde der Parteien im Einzelfall zu bestimmen sein soll. In Art. 2 lit. b) des Vorschlags erfolgt dann eine Definition, als zweiter Begriff im CESL überhaupt und unmittelbar nach der Definition des „Vertrages“, soweit man hieraus Rückschlüsse auf den Stellenwert des Grundsatzes innerhalb des CESL ziehen möchte: „Für die Zwecke dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck […] (b) ‚Treu und Glauben und redlicher Geschäftsverkehr‘ ein[en] Verhaltensmaßstab, der durch Redlichkeit, Offenheit und Rücksicht auf die Interessen der anderen Partei in Bezug auf das fragliche Geschäft oder Rechtsverhältnis gekennzeichnet ist;“.
Im Anhang I, der die eigentlichen, materiellen Regelungen des CESL enthält, wird auf den einmal definierten Grundsatz dann ausgiebig zurückgegriffen. An dieser Stelle soll aber vor allem auf die allgemeine Pflicht zum Handeln „im Einklang mit dem Gebot von Treu und Glauben und des redlichen Geschäftsverkehrs“ eingegangen werden, weil sie die größte Tragweite hat und die übrigen Fundstellen gewissermaßen verklammert. Den allgemeinen Grundsatz stellt der CESL-Vorschlag in Art. 2 Abs. 1 des Anhangs I mit
auch wenn sich die an diesen Projekten beteiligten Wissenschaftler das CESL nicht mehr uneingeschränkt zueigen machen wollen. 179 CESL-Vorschlag, S. 4.
B. Vorverständnis
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Geltung für das gesamte CESL auf.180 Zugleich sieht Abs. 2 vor, dass Verletzungen dieser Pflicht nicht nur anspruchs- bzw. einwendungsausschließend wirken können, sondern auch selbständig zum Ersatz des der anderen Partei hieraus entstandenen Schadens verpflichten können.181 Hinzuweisen ist hier für das Vorverständnis auch noch auf Art. 59 h) CESL, der Treu und Glauben als Auslegungskriterium für Verträge benennt und auf Art. 68, wo der Grundsatz als ein Kriterium für die Bestimmung des Inhalts von Verträgen jenseits der Auslegung fixiert wird. Solche Bestimmungen finden sich im Acquis communautaire und damit im Hauptteil dieser Untersuchung nicht, weil die Auslegung von Verträgen, in den Grenzen der Vorgaben etwa der Klauselrichtlinie und des Effektivitätsgrundsatzes, sich grundsätzlich nach nationalem Recht richtet. Allerdings ist der Befund eines in Anwendungsbereich und Rechtsfolgen ausgesprochen breiten Grundsatzes von Treu und Glauben im CESL insoweit unter Vorbehalt zu stellen, als hiergegen im bisherigen Gesetzgebungsverfahren Widerstand aufgekommen ist. Insbesondere aus dem Vereinigten Königreich sind dabei offenbar Befürchtungen laut geworden, dass die Parteien bei Vertragsverhandlungen nicht mehr zuvorderst ihre Eigeninteressen verfolgen dürften. So hat der Rechtsausschuss des Europäischen Parlaments vorgeschlagen, 182 die Definition mit der Einschränkung zu versehen, dass die im Hinblick auf die Pflicht zur Rücksicht auf die Interessen der anderen Partei nur noch „soweit angemessen, angemessene Rücksicht“ zu nehmen ist. Diese sprachliche Verunglückung der deutschen Fassung zeigt,183 wie sehr der Grundsatz von Treu und Glauben offenbar mit Vorurteilen und Befürchtungen belegt ist, er könne unter Umständen normale, kompetitive Verhandlungen zwischen den Parteien verbieten. Im Umkehrschluss zeigt die Stelle ja, dass es im Rechtsausschuss offenbar die Erwartung gab, ohne diese Einschränkung sei es nicht auszuschließen, dass den Parteien eine völlig unangemessene, übertriebene Rücksicht auf den jeweils anderen Teil auferlegt werde. Andererseits legt der Rechtsausschuss aber Wert auf die Klarstellung, dass Treu und Glauben ein allgemeiner Grundsatz ist. Hinsichtlich der Rechtsfolgen von Verstößen geht er wiederum auf Befürchtungen aus dem Vereinigten
180
Rn. 1.
Schulte-Nölke, in: Schulze, Common European Sales Law – Commentary, Article 2
Kieninger, in: Jansen, Der Entwurf für ein optionales europäisches Kaufrecht, S. 219, geht davon aus, dass diesem Schadensersatzanspruch bisher die „nötigen Konturen“ fehlen. 182 European Parliament, Committee on Legal Affairs, 24.9.2013, Report on the proposal for a Regulation of the European Parliament and of the Council on a Common European Sales Law, A7-0301/2013. Siehe S. 30 f. (Änderungsantrag 37). 183 In der englischen Originalfassung des Vorschlags lautet die Stelle „[…] in so far as may be appropriate, reasonable consideration […]“. 181
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Kapitel 1 – Grundlagen
Königreich ein und stellt klar, dass eine Verletzung von Treu und Glauben nicht automatisch einen Schadensersatzanspruch nach sich zieht: „Die Parteien sollten sich bei ihrer Zusammenarbeit vom allgemeinen Gebot von Treu und Glauben und vom allgemeinen Grundsatz des redlichen Geschäftsverkehrs leiten lassen. Bestimmte Vorschriften stellen konkrete Ausprägungen dieser allgemeinen Grundsätze dar und sollten ihnen daher vorgehen. Die besonderen Rechte und Verpflichtungen der Parteien, wie sie in den spezifischen Bestimmungen festgelegt sind, sollten daher nicht unter Berufung auf die allgemeinen Grundsätze abgeändert werden können. Die konkreten Anforderungen, die aus dem allgemeinen Gebot von Treu und Glauben und dem allgemeinen Grundsatz des redlichen Geschäftsverkehrs erwachsen, sollten unter anderem von der Sachkunde der Parteien abhängen und sollten daher in Geschäften zwischen Unternehmen und Verbrauchern anders beschaffen sein als in Geschäften zwischen Unternehmen. In Geschäften zwischen Unternehmen sollte es dabei auch auf die gute Handelspraxis in der betreffenden Situation ankommen. Das allgemeine Gebot von Treu und Glauben und der allgemeine Grundsatz des redlichen Geschäftsverkehrs sollte ein Standardverhalten festlegen, das eine ehrliche, transparente und faire Beziehung gewährleistet. Wird dadurch eine Partei daran gehindert, Rechte, Abhilfen oder Verteidigungen wahrzunehmen oder sich darauf zu berufen, die die Partei ansonsten hätte, sollte der Grundsatz an sich nicht zu einem allgemeinen Schadensersatzanspruch führen. Regeln des Gemeinsamen Europäischen Kaufrechts, die spezifische Ausprägungen des allgemeinen Grundsatzes von Treu und Glauben und des redlichen Geschäftsverkehrs sind, wie die Anfechtung wegen arglistiger Täuschung oder wegen Nichterfüllung einer impliziten Verpflichtung kann zu einem Recht auf Schadensersatz führen, dies jedoch in nur sehr spezifischen Fällen.“184
Der Ausschluss von Schadensersatzansprüchen – der sich auch in der vollständigen Umkehrung von Art. 2 Abs. 2 des Annex durch den Rechtsausschuss des Europäischen Parlaments manifestiert185 – wird damit begründet, dass man im CESL nur die „Schutzfunktion“ und nicht die „Angriffsfunktion“ von Treu und Glauben zur Geltung kommen lassen wollte.186 Im Acquis sind jedenfalls Schadensersatzansprüche auf der Grundlage von Treu und Glauben weitgehend unbekannt. Man denkt bei der sog. Angriffsfunktion etwa an die deutsche culpa in contrahendo, wie sie von der Rechtsprechung auf der Grundlage von § 242 BGB entwickelt und inzwischen in §§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2 BGB übernommen worden ist. Dass ihm die Idee einer solchen Haftung bekannt ist, hat der Europäische Gerichtshof etwa in den Rs. Erwägungsgrund 31 der Stellungnahme des Rechtsausschusses des Europäischen Parlaments; die vom Verf. kursiv gesetzten Teile kennzeichnen Änderungen gegenüber dem Kommissionsvorschlag. 185 Änderungsantrag 83, Art. 2 Abs. 2: „Verletzt eine Partei diese Pflicht, so kann sie das von der Ausübung oder Geltendmachung von Rechten, Abhilfen oder Einwänden, die ihr sonst zugestanden hätten, ausschließen, führt aber nicht unmittelbar zu einer Abhilfe wegen Nichterfüllung.“ 186 Stellungnahme des Rechtsausschusses des Europäischen Parlaments zum CESLVorschlag (oben Kapitel 1 Fn. 182), S. 139 (deutsche Fassung) bzw. S. 130 (englische Fassung, in der von der „shield“- bzw. „sword-function“ die Rede ist). 184
C. Verwandte Maßstäbe
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Schulte und Crailsheimer Volksbank zu erkennen gegeben,187 den Mitgliedstaaten den Weg der Folgenbeseitigung aber offen gelassen.188 Auch die PECL kennen eine solche Funktion von Treu und Glauben in Gestalt einer Haftung für den Abbruch von Vertragsverhandlungen in Art. 2:301 Abs. 2. Im Übrigen ist im vorhandenen Unionsprivatrecht eine solche Angriffsfunktion von Treu und Glauben aber nicht zu erkennen, was sich abermals durch dessen Anwendungsbereich erklären lässt, der etwa den Vertragsschluss grundsätzlich nicht umfasst. Sanktionen für die Verletzung von Informationspflichten kennt das Unionsprivatrecht hauptsächlich in Gestalt verlängerter oder gar nicht ablaufender Widerrufsrechte, während Folgenbeseitigungsansprüche – die etwa über einen Schadensersatzanspruch realisiert werden können – nur im Ausnahmefall gewährt werden.
C. Verwandte Maßstäbe C. Verwandte Maßstäbe
Der bisherige, rechtsvergleichende und unionsrechtliche Überblick über das Vorverständnis von Treu und Glauben hat bereits gezeigt, dass sein Anwendungsbereich und die Fallgruppen weit anzulegen sind. Zudem ist Treu und Glauben als Rechtsbegriff aber so offen, dass auch die klare Abgrenzung zu zahlreichen anderen unbestimmten Begriffen große Schwierigkeiten bereitet. Rechtsvergleichend haben hier Zimmermann und Whittaker festgestellt, dass die verschiedenen Rechtsordnungen zwar in der überwiegenden Zahl der untersuchten Fälle zu weitgehend identischen Ergebnissen kommen, dass aber die dafür eingesetzten rechtlichen Vehikel vielfältiger kaum sein könnten.189 In der Tat lassen sich im Fall von Treu und Glauben vom kategorischen Imperativ190 bis zu unterschiedlichen allgemeinen Maßstäben des posi187 EuGH, 25.10.2005, Rs. C-350/03 Elisabeth Schulte und Wolfgang Schulte ./. Deutsche Bausparkasse Badenia AG, Slg. 2005 I-09215; EuGH, 25.10.2005, Rs. C-229/04 Crailsheimer Volksbank eG ./. Klaus Conrads u. a., Slg. 2005 I-09273. Siehe dazu auch Heinze, Schadensersatz im Unionsprivatrecht – Ein Beitrag zur Durchsetzung des Europäischen Privatrechts durch nationale Gerichte, S. 227 ff. 188 Das mindestharmonierende Unionsprivatrecht kennt auch an anderer Stelle die Wahlmöglichkeit des Umsetzungsgesetzgebers zwischen der Unwirksamkeit einer Vereinbarung oder der Anordnung von Schadensersatzansprüchen als Alternative hierzu; siehe etwa Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2011/7/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Februar 2011 zur Bekämpfung von Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr (Neufassung), ABl. 2011 L 48/1. Näher zu diesem Rechtsakt, der ebenfalls auf Treu und Glauben (wörtlich dort: „des guten Glaubens und der Redlichkeit“) Bezug nimmt siehe unten S. 194 ff. 189 Zimmermann / Whittaker, in: dies., Good faith in European contract law, S. 669. 190 Siehe dazu etwa Lando, ERPL 2007, 841, 843 f., der die Auffassung vertritt, dass zwischen Kants Sittengesetz und allgemeinen rechtlichen Grundsätzen wie Treu und Glauben eine enge Verbindung bestehe: „Kant did not mention the good faith principle. There
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Kapitel 1 – Grundlagen
tiven Rechts ohne größere Schwierigkeiten Verbindungen herstellen, die eine trennscharfe Abgrenzung zwischen diesen Grundsätzen schwierig bis unmöglich machen. Im Unionsrecht kommt hinzu, dass dessen Terminologie insgesamt noch nicht fertig ausgebildet ist, was sich bei weniger konturscharfen Begriffen – insbesondere bei allgemeinen Grundsätzen – besonders bemerkbar macht;191 solche Standards bewegen sich ja häufig ohnehin an der Grenze rechtlicher Definierbarkeit. Mit den Worten von Generalanwalt Mischo192: „Auch hat der Gerichtshof seine Argumentation nicht ausdrücklich auf den allgemeinen Grundsatz ‚fraus omnia corrumpit‘ gestützt […]. Im Grunde genügt es nach Ansicht des Gerichtshofes, zu verhindern, daß das Gemeinschaftsrecht in einer Weise angewandt würde, die gegen den gesunden Menschenverstand verstieße und an Tatsachen vorbeiginge, die doch offenkundig und unbestreitbar sind.“
In der Hoffnung, dass eine solche – praktisch sicher endgültig nicht mehr operative – Verallgemeinerung auf den „gesunden Menschenverstand“193 vermeidbar ist, sollen hier die wichtigsten, mit Treu und Glauben verwandten Rechtsinstitute einer Art Vorprüfung daraufhin unterzogen werden, welche Rolle sie im Unionsrecht spielen und inwieweit sie mit Treu und Glauben verbunden und daher in die Untersuchung mit einzubeziehen sind. I.
Rechtsmissbrauch
Das Verbot des Rechtsmissbrauchs ist einer der wichtigsten allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts194 und kann auch dort als eine Fallgruppe des Grundsatzes von Treu und Glauben angesehen werden,195 was im Laufe dieis, however, a close link between his moral law and several of the ‘fundamental legal values’ we now have in our laws: freedom, democracy and human rights, human dignity, personal freedom and the good faith principle.“ 191 Heiderhoff, Europäisches Privatrecht, S. 94 f. 192 Schlussanträge des Generalanwalts Jean Mischo vom 4.6.1991 in der Rs. C-45/90 Alberto Paletta u. a. ./. Brennet AG, Slg. 1992 I-03423, Rn. 34. 193 Frz. Fassung: „bon sens“, engl. Fassung: „common sense“. 194 Grundmann, in: Grundmann / Mazeaud, General clauses and standards in European contract law, S. 147; Herresthal, JZ 2006 695, 706 („als Bestandteil der Gemeinschaftsrechtsordnung u. a. bei der Richtlinienauslegung zu berücksichtigen“). 195 Lenaerts, ERPL 2010, 1121, 1143 ff. (1145). sieht – in Bezug auf Vorschriften in den Acquis-Principles und im DCFR – das Rechtsmissbrauchsverbot als Anwendungsfall des Grundsatzes von Treu und Glauben in seiner begrenzenden Funktion. Auch in der Mehrzahl der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen wird das Rechtsmissbrauchsverbot aus dem Grundsatz von Treu und Glauben abgeleitet, siehe hierzu Stoffel-Munck, L’abus dans le contrat – Essai d’une théorie, S. 61 f.; in Frankreich wurde traditionell zwischen dem auf vertragliche Beziehungen beschränkten Grundsatz der bonne foi und dem aus dem Deliktsrecht stammenden abus de droit unterschieden; auch diese Trennung weicht allerdings zunehmend auf, siehe ders., S. 106 ff. Für Deutschland siehe auch Looschelders / Olzen, in: Staudinger BGB, § 242 Rn. 214 ff.
C. Verwandte Maßstäbe
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ser Untersuchung noch genauer zu betrachten sein wird. Das Rechtsmissbrauchsverbot im engeren Sinne – also als Missbrauch vorhandener Rechtspositionen – ist zunächst abzugrenzen von der Gesetzesumgehung, die sich wiederum in Gesetzesvermeidung und Gesetzeserschleichung gliedern lässt.196 Im Unionsprivatrecht sollte also insbesondere zwischen dem Missbrauch von Unionsrecht und der Umgehung bzw. Erschleichung von Unionsrecht differenziert werden.197 Diese Grenze soll dort zu ziehen sein, wo ein Recht gar nicht erst wirksam entstanden ist – dann liegt Gesetzesumgehung bzw. -erschleichung im Sinne einer fraude à la loi vor – wogegen beim Rechtsmissbrauch ein tatsächlich entstandenes Recht zweckwidrig ausgeübt wird.198 Dabei ist die Gesetzeserschleichung oder -vermeidung dadurch gekennzeichnet, dass auch hier die den Tatbestand einer Norm erfüllenden Tatsachen tatsächlich und nicht etwa nur zum Schein geschaffen werden. Der entscheidende Unterschied soll aber darin bestehen, dass die Schaffung dieser Tatsachen ausschließlich um ihrer Wirkung im Hinblick auf die fragliche Norm und „nicht wirklich um ihrer selbst willen gewollt werden“.199 Auch diese Unterscheidung ist aber nur auf den ersten Blick einfach zur Anwendung zu bringen200: Wird ein Kaufvertrag geschlossen, um zwischen den Parteien entsprechende Verpflichtungen zur Übertragung von Kaufsache und Kaufpreis zu schaffen, so liegt offensichtlich ein „um seiner selbst willen“ geschlossenes Rechtsgeschäft vor. Wird dieser Kaufvertrag dagegen geschlossen, um einen Gegenstand aus dem Vermögen eines Schuldners zu entfernen und so dem Zugriff seiner Gläubiger zu entziehen oder um eine an diesen Gegenstand anknüpfende Steuer zu vermeiden, so liegt eine Umgehung nahe, wenn die Übertragung sonst wirtschaftlich eigentlich nicht gewollt ist. Zwischen diesen beiden Extremen liegt aber ein weiter Graubereich von Ziel- und Zweckvorstellungen der Parteien, die nicht eindeutig der einen oder der anderen Seite zuzuordnen sind. Noch komplizierter wird es, wenn nicht ein, sondern mehrere Ziele verfolgt werden. 196 Beide Rechtsinstitute werden im Unionsrecht regelmäßig unter einen weiten Begriff des Rechtsmissbrauchs gefasst, vgl. etwa Lenaerts, ERPL 2010, 1121, 1129, 1133. 197 Siehe Fleischer, JZ 2003, 865, 869 f.: „In dieser Hinsicht fehlt es dem Gemeinschaftsrecht freilich noch an dogmatischer Durchbildung; der EuGH neigt vielfach dazu, beide Figuren unter dem Einheitsdach des Rechtsmißbrauchs zusammenzufassen.“ 198 Basedow, in: Festschrift für M. P. Stathopoulos, S. 159, 161; Siehr, in: Basedow / Hopt / Zimmermann, Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts Band I, S. 742; Lenaerts, ERPL 2010, 1121, 1122: „The concept of abuse of rights refers so situations in which a right is formally exercised in conformity with the conditions laid down in the rule granting the right, but where the legal outcome is against the objective of that rule. Thus, the tension between the strict application and the true spirit of that rule is at stake.“ 199 Basedow, in: Festschrift für M. P. Stathopoulos, S. 159, 161. Die Gesetzesumgehung ist damit insbesondere im Bereich der Grundfreiheiten relevant, siehe etwa SchmidtKessel, in: Jud / Bachner u. a., Jahrbuch junger Zivilrechtswissenschaftler 2000, S. 61, 69. 200 So auch Basedow, in: Festschrift für M. P. Stathopoulos, S. 159, 163.
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Kapitel 1 – Grundlagen
Die klassischen, im Unionsrecht entwickelten Konstellationen des Rechtsmissbrauchs betreffen in der Regel das Verhältnis Bürger – Staat und haben somit keine originär privatrechtlichen Fragen zum Gegenstand.201 Dennoch ist die Grundunterscheidung – beim Rechtsmissbrauch wird Anstoß an der Art und Weise der Ausübung eines Rechts genommen, bei der Gesetzesumgehung an seiner Entstehung202 – hilfreich. Gesetzesumgehung wird teilweise auch – unter dem Stichwort „Missbrauch“ – als Spielart der teleologischen Auslegung diskutiert.203 In diesem Sinne ist wohl auch das bekannte Planiol-Zitat „Le droit cesse où l’abus commence“204 zu verstehen. Aus der These von Planiol hat sich jedenfalls die Unterscheidung zwischen dem formalen Inhalt eines Rechts und seinem tatsächlich bezweckten Inhalt ergeben, die noch heute, auch im Unionsprivatrecht, die Definition des Rechtsmissbrauchs maßgeblich bestimmt.205 Treu und Glauben und Rechtsmissbrauch sind im Unionsrecht kaum zu trennen. Grundmann untersucht beispielsweise die Missbrauchskontrolle nach der Klauselrichtlinie, die sich auf Treu und Glauben stützt, unter der Überschrift „Abuse of Rights“.206 Auch das EuG unterscheidet nicht erkennbar zwischen dem Grundsatz von Treu und Glauben und dem Verbot des Rechtsmissbrauchs und verwendet beide Begriffe synonym bzw. als einen einheitlichen Maßstab.207 Zwar zeigt ein Blick auf die nationalen Rechtsordnungen, dass das Rechtsmissbrauchsverbot etwa in Deutschland als Unterfall von Treu und Glauben verstanden wird,208 während es in anderen Mitgliedstaaten eine eigene Kategorie bildet. Im Unionsprivatrecht ist diese Kategorisierung nicht eindeutig. Da der EuGH bei der Beschränkung von durch das Gemeinschaftsrecht gewährten Rechten aber teils auf Treu und Glauben, teils
Siehe unten S. 207 ff. Basedow, in: Festschrift für M. P. Stathopoulos, S. 159, 161. 203 Vgl. Cauffman, M-EPLI Working Paper No. 2013/5, S. 21 f.: „There is a fine line between ‘proportionate’ interpretation of legal rules and the recognition of the theory of abuse of rights as a limitation of an excessive use of rights. […] In theory, the former case deals with the existence of a right, the latter with the use thereof.“ 204 Planiol / Ripert, Traité élémentaire de droit civil. Die Gegenauffassung vertrat Josserand, Louis, De l’Esprit des droits et de leur relativité – Théorie dite de l’abus des droits, der noch stärker auf den sozialen Zweck des jeweiligen Rechts abstellte und den Missbrauch aber nicht nur durch Auslegung der Reichweite des jeweiligen Rechts selbst, sondern durch eine eigenständige Rechtsmissbrauchslehre lösen wollte. 205 Dazu Stoffel-Munck, L’abus dans le contrat – Essai d’une théorie, S. 14 f. 206 Grundmann, in: Grundmann / Mazeaud, General clauses and standards in European contract law, S. 144. 207 EuG, 8.5.2007, Rs. T-271/04 Citymo SA ./. Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Slg. 2007 II-01375, insbesondere Rn. 127–137. 208 Looschelders / Olzen, in: Staudinger BGB, § 242 Rn. 214–216. 201 202
C. Verwandte Maßstäbe
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auf das Verbot des Rechtsmissbrauch zurückgreift,209 kann die Untersuchung letzteres jedenfalls nicht ausblenden. Rechtsmissbrauch ist damit Teil des Untersuchungsgegenstands dieser Arbeit und soll als eine der wichtigsten Kategorien210 von Treu und Glauben auch als Fallgruppe besonders beleuchtet werden. Dabei sind die bekannten Schwierigkeiten zu beachten, die es im Unionsrecht mit der Auslegung zwischen den unterschiedlichen Sprachfassungen der Rechtsakte gibt211 und die beim Rechtsmissbrauchsverbot mit seiner starken nationalen Prägung um so größer werden dürften.212 II. Verwirkung Unter dem Oberbegriff der Verwirkung werden Fälle behandelt, in denen ein widersprüchliches Verhalten eines Rechtsinhabers festzustellen ist, wo also zunächst berechtigte Erwartungen beim anderen Teil dahingehend geweckt werden, dass ein Recht in einer bestimmten Weise (nicht) ausgeübt werde und diese Erwartungen anschließend enttäuscht werden. Dieses Rechtsinstitut ist nicht nur in Deutschland als Fallgruppe des § 242 BGB, sondern auch in England (estoppel) und weiteren Mitgliedstaaten bekannt.213 Verwirkung wird auch im Unionsrecht häufig als Unterfall von Treu und Glauben angesehen214 und insbesondere im Bereich der Beschränkung von Widerrufsrechten diskutiert, deren Umfang sich – entweder bereits auf Unionsebene oder aber durch die Art der Umsetzung in den Mitgliedstaaten – in mancher Hinsicht als zu weit erwiesen hat.215 Das Rechtsinstitut der Verwirkung knüpft jedenfalls an die Frage schutzwürdigen Vertrauens an und ist daher mit dem Grundsatz von Treu und Glauben eng verwoben. Daneben weist es auch Verbindungen zum Rechtsmissbrauchsverbot auf.216 209 Grundmann, in: Grundmann / Mazeaud, General clauses and standards in European contract law, S. 147. 210 So auch Fleischer, JZ 2003, 865, 86; Heiderhoff, Gemeinschaftsprivatrecht, S. 131. 211 Allgemein zum Umgang des Gerichtshofs mit den unterschiedlichen Sprachfassungen Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, S. 146 ff. 212 Siehe im Hinblick auf verschiedene sprachliche Varianten des unionalen Rechtsmissbrauchsverbots schon innerhalb der englischen Sprache Vogenauer, in: de la Feria / Vogenauer, Prohibition of abuse of law, S. 521, 524. 213 Siehe ausführlich Stoffel-Munck, L’abus dans le contrat – Essai d’une théorie, S. 92 ff. 214 Franck, Europäisches Absatzrecht, S. 17 sowie S. 297. 215 Siehe etwa Martens, Die Entwicklung der Widerrufsrechte des Verbrauchers bis zur Umsetzung der Richtlinie 2008/48/EG, S. 233 ff., der sich im Ergebnis für eine Verwirkbarkeit von Widerrufsrechten ausspricht. 216 Mankowski, JZ 2008, 1141, 1144: „Auf der anderen Seite korrespondiert Verwirkung sehr gut mit dem Institut des Rechtsmissbrauchs. Rechtsmissbrauch formal bestehender Rechtspositionen entwickelt sich im Gemeinschaftsrecht immer mehr zum Gegengewicht und Kontrolltatbestand.“
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Kapitel 1 – Grundlagen
III. Fairness Fairness ist ein zentraler Begriff des europäischen Rechts, insbesondere im Hinblick auf die Sicherstellung des Wettbewerbs und den Verbraucherschutz im Binnenmarkt. Bereits die Präambel des AEUV benennt die Gewährleistung eines „redlichen“ Wettbewerbs217 als Ziel des Vertrages. Hinzuweisen ist insoweit natürlich auch auf die Kontrolle allgemeiner Geschäftsbedingungen, die den Begriff der „unfairen“ Klausel – so die englische Sprachfassung des Rechtsakts – an einen Verstoß gegen Treu und Glauben koppelt. Der objektive Maßstab von Treu und Glauben etwa in der Klauselrichtlinie ist von Begriffen wie Fairness und Aufrichtigkeit kaum zu trennen.218 Das Grünbuch zum Verbrauchervertragsrecht von 2007219 hatte die Frage aufgeworfen, ob die Verbraucherrechterichtlinie eine allgemeine Verpflichtung zum Handeln „im Einklang mit den Geboten von Treu und Glauben und Fairness“ 220 enthalten sollte, die entweder nur die Unternehmer oder Unternehmer und Verbraucher gleichermaßen binden könnte. Die Kommission ließ hier eine gewisse Präferenz für einen solchen allgemeinen Grundsatz durchblicken, für den sie eine Vielzahl von Vorteilen aufführt (Auslegungshilfe für spezifischere Vorschriften, Lückenfüllung – dadurch verbesserter Verbraucherschutz und Vermeidung von Rechtsunsicherheit –, Hilfe bei der Vertragsauslegung, Überwindung, Anpassung des Sekundärrecht in sich ändernden Zeiten), denen als einziger denkbarer Nachteil eine möglicherweise divergierende Auslegung in den Mitgliedstaaten gegenübergestellt wurde. Der Begriff der Fairness ist jedenfalls allein schon über die englische Fassung des objektiven Grundsatzes von Treu und Glauben in Gestalt des good faith and fair dealing nicht vom Untersuchungsgegenstand abzuspalten. IV. Berechtigte Erwartungen Eine weitere wichtige Abgrenzung bzw. terminologische Präzisierung betrifft den Begriff der berechtigten (oder legitimen) Erwartungen, insbesondere auch in Gestalt legitimer Verbrauchererwartungen. Der Begriff der berechtigten Erwartungen ist mit dem von Treu und Glauben eng verbunden,221 was sich 217 Englische Fassung: „fair competition“; französische Fassung: „loyauté dans la concurrence“. 218 Alpa, A Glance at Unfair Terms, EBLR 2004, 1123, 1129, 1132: „‘Good faith’ and ‘fairness’ are used indifferently […]“. Vgl. auch Lurger, Grundfragen der Vereinheitlichung des Vertragsrechts in der Europäischen Union, S. 380 ff., die die Verwendung eines „Prinzip[s] der Rücksichtnahme und Fairness“ vorschlägt. 219 Grünbuch – Die Überprüfung des gemeinschaftlichen Besitzstands im Verbraucherschutz, Brüssel, 8.2.2007, KOM (2006) 744 endg., Anhang I, S. 19 f. (Rn. 4.3 / Frage C). 220 Zur Verbindung zwischen Treu und Glauben und dem Gebot eines fairen und kooperativen Umgangs siehe auch Rösler, Europäisches Konsumentenvertragsrecht, S. 158. 221 Jansen / Zimmermann, MLR 2008, 505, 528.
C. Verwandte Maßstäbe
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bereits an der manchmal gewählten englischen Fassung des Grundsatzes in Gestalt von „good faith and legitimate expectations“ zeigt. Dieser Begriff taucht bereits in der Produkthaftungsrichtlinie222 auf, wo in Art. 6 die Fehlerhaftigkeit eines Produkts über die berechtigten Erwartungen an seine Sicherheit definiert wird. Dabei wird zudem auf den „Gebrauch des Produkts, mit dem billigerweise gerechnet werden kann“ abgestellt. Hier dient der Begriff also offensichtlich der Bestimmung des Umfangs bestimmter Pflichten und in der Sache der Begrenzung der Haftung des Herstellers. Die Acquis-Principles223 bezeichnen die berechtigten Erwartungen als Konkretisierung von Treu und Glauben und nennen zudem zahlreiche Fundstellen im Acquis Communautaire, die ebenfalls die enge Verbindung beider Grundsätze zeigen.224 Damit ist für diese Arbeit festzuhalten, dass berechtigte Erwartungen offenbar einen wichtigen Rechtsbegriff des Unionsprivatrechts darstellen, der zudem in engem Zusammenhang mit Treu und Glauben steht und der daher in die Untersuchung einzubeziehen sein wird. In diesem Zusammenhang kommt auch das unionale Verbraucherbild bzw. der „Durchschnittsverbraucher“ zum Tragen.225 Das zunächst vom Gerichtshof entwickelte Konzept des Durchschnittsverbrauchers ist mittlerweile in die Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken226 aufgenommen worden. Es gründet in dem Sinne auf dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, dass es den Mitgliedstaaten untersagt, zu strenge Anforderungen zu stellen und damit unangemessene Handelshemmnisse aufzubauen.227 Dieses Leitbild ist mitentscheidend dafür, welche Erwartungen berechtigterweise gehegt werden dürfen und bestimmt damit in gewissen Bereichen die Auslegung des objektiven Grundsatzes von Treu und Glauben mit. 222 Richtlinie 85/374/EWG des Rates vom 25. Juli 1985 zur Angleichung der Rechtsund Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Haftung für fehlerhafte Produkte, ABl. 1985 L 210/29. 223 Pfeiffer / Ebers, in: Research Group on the Existing EC Private Law, Acquis Principles, Contract I, Art. 2:101, Rn. 6. 224 Zustimmend Zimmermann / Jansen, JZ 2007, 1113, 1123, die berechtigte Erwartungen als „jeweils im engen Zusammenhang mit dem Grundsatz von Treu und Glauben stehen[d]“ bezeichnen; ausführlich zu legitimen Verbrauchererwartungen auch Heiderhoff, Grundstrukturen des nationalen und europäischen Verbrauchervertragsrechts, S. 226 ff., 331 ff. 225 Vgl. hierzu etwa Busch, in Ajani / Ebers, Uniform terminology for European contract law, S. 219, 231 (Fn. 49). 226 Richtlinie 2005/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Mai 2005 über unlautere Geschäftspraktiken im binnenmarktinternen Geschäftsverkehr zwischen Unternehmen und Verbrauchern und zur Änderung der Richtlinie 84/450/EWG des Rates, der Richtlinien 97/7/EG, 98/27/EG und 2002/65/EG des Europäischen Parlaments und des Rates sowie der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates (Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken), ABl. 2005 L 149/22 (UGP-Richtlinie). 227 Abbamonte, in: Weatherill / Bernitz, The Regulation of Unfair Commercial Practices under EC Directive 2005/29, S. 11, 24 f.; vgl. auch Grundmann, in: Grundmann / Mazeaud, S. 143.
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Kapitel 1 – Grundlagen
V. Loyalität und Billigkeit Loyalität und Billigkeit sind Definitionselemente für Treu und Glauben.228 Dabei weist wiederum die Billigkeit enge Verbindungen zu Grundsätzen wie der Vernünftigkeit auf, wie etwa die Übersetzung von „billigerweise“ in Art. 2 lit. h) der UGP-Richtlinie mit „reasonably“ bzw. „raisonnablement“ in der englischen bzw. französischen Sprachfassung zeigt. Auch wenn man hier wohl von einer ungenauen Übersetzung ausgehen kann,229 so zeigt dies doch, dass auch die Begriffe der Billigkeit und der Vernünftigkeit im Unionsrecht teilweise deckungsgleich sind oder zumindest einen engen Bezug zueinander haben. Daneben wird die Billigkeit auch mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gleichgesetzt.230 Art. 13 Abs. 2 EUV versteht unter „loyaler Zusammenarbeit“ in der deutschen Fassung „mutual sincere cooperation“ in der englischen Fassung. Auch die Komponente der Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit, die in Treu und Glauben enthalten ist, findet sich also in der Loyalität wieder. VI. Angemessenheit und Verhältnismäßigkeit Angemessenheit und Vernünftigkeit sind scheinbar objektivere und quantifizierbarere Kriterien als Treu und Glauben. Auch diese Begriffe werden aber insbesondere bei der Begrenzung der Ausübung von Rechten eingesetzt, so dass zu Treu und Glauben enge Verbindungen bestehen. Teilweise werden die Begriffe auch verwendet, um sich jeweils gegenseitig zu definieren.231 228 Siehe nur Erwägungsgrund 16 der Klauselrichtlinie; vgl. auch den Bericht der Kommission über die Anwendung der Richtlinie 93/13/EWG des Rates vom 5. April 1993 über Mißbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen, Brüssel, den 27.04.2000, KOM (2000) 248 endg., S. 13, Fn. 20. Die Kommission erwähnt dort in Bezug auf die CLAB-Datenbank (ein mittlerweile eingestelltes Projekt zur Sammlung der einschlägigen nationalen Rechtsprechung), dass nicht nur die Rechtsprechung zu missbräuchlichen Klauseln im Sinne der Richtlinie, sondern auch „jegliche anderweitige Rechtsprechung [enthalten sei], die trotz Heranziehung sonstiger allgemeiner rechtlicher Bestimmungen oder Grundsätze (Treu und Glauben, Billigkeit, Rechtsmißbrauch usw.) den Themenbereich mißbräuchliche Klauseln berührt.“ Sie erkennt damit die inhaltliche Nähe und teilweise Austauchbarkeit dieser Begriffe offenbar an. 229 Köhler, in: Köhler / Bornkamm, Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb, § 3 Rn. 47, weisen darauf hin, dass in Art. 5 Abs. 3 derselbe Begriff mit „vernünftigerweise“ ins Deutsche übertragen wurde. 230 Vgl. Schmidt, Martin, Konkretisierung von Generalklauseln im europäischen Privatrecht, S. 310. 231 Siehe nur die Schlussanträge des Generalanwalts Antonio Mario La Pergola vom 16.7.1998 in der Rs. C-212/97 Centros Ltd. ./. Erhvervs- og Selskabsstyrelsen, Slg. 1999 I-01459, Rn. 20: „[…] [D]er Inhaber eines Rechts [missbraucht] dieses dann, wenn er zum Nachteil anderer ‚widerrechtliche Vorteile‘ anstrebt […]. In diesem Aspekt des Rechtsmißbrauchs wird eine bestimmte Verwandtschaft zwischen dem allgemeinen Grundsatz, der ihn verbietet, und dem Grundsatz sichtbar, der mit dem Kriterium der Verhältnismässigkeit als Grenze der Rechtsausübung zusammenhängt.“
C. Verwandte Maßstäbe
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Die Verhältnismäßigkeit ist ein allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts in dem Sinne, dass „die Maßnahmen der Union inhaltlich wie formal nicht über das zur Erreichung der Ziele der Verträge erforderliche Maß hinaus[gehen]“, Art. 5 Abs. 4 S. 1 EUV. Der Gerichtshof verwendet daneben die Formel, wonach „die von einer Bestimmung des Unionsrechts eingesetzten Mittel zur Erreichung der mit der betreffenden Regelung verfolgten Ziele geeignet sind und nicht über das dazu Erforderliche hinausgehen“ dürfen.232 Insoweit dient der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit also der Ab- und Begrenzung der unionalen Kompetenzen gegenüber den Mitgliedstaaten. Dies ist nicht nur unmittelbar bei der Rechtssetzung, sondern auch später bei der Auslegung des einmal gesetzten Rechts zu berücksichtigen. Eine Aussage darüber, inwieweit ein solcher Grundsatz auch zwischen Privaten allgemein gelten kann, ist hiermit natürlich nicht verbunden. Jedenfalls findet sich aber der Maßstab der Verhältnismäßigkeit – etwa bei der Ausübung von Rechtsbehelfen – auch im Unionsprivatrecht an verschiedenen Stellen wieder. Auch hat das Gericht der Europäischen Union den primärrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als zu den „allgemeinen Grundsätzen vertraglicher Beziehungen“ gehörend erklärt.233 Mit dem Verhältnismäßigkeitsprinzip wird etwa auch begründet, warum das EU-Recht grundsätzlich auf den angemessen informierten und aufmerksamen Durchschnittsverbraucher abstellt.234 Auch der unionsprivatrechtliche Grundsatz von Treu und Glauben wird teilweise als Anwendungsfall des primärrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes analysiert.235 Umgekehrt wird der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit regelmäßig als ein Teilaspekt von Treu und Glauben angesehen.236 Dabei begrenzt ersterer letzteren Grundsatz offenbar in beide Richtungen. Unmittelbar einleuchtend erscheint, dass ein Verhalten einer Partei, das als unverhältnismäßig zu qualifizieren ist, auch gegen Treu und Glauben verstoßen kann. Andersherum sollen bestehende Treuepflichten aber ihrerseits wiederum durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz 232 So etwa EuGH, 13.3.2012, Rs. C-380/09 P Melli Bank plc ./. Rat der Europäischen Union, ECLI:EU:C:2012:137, Rn. 52 m. w. N. aus der Rechtsprechung. 233 EuG, 24.5.2004, Rs. T-154/01 Distilleria F. Palma SpA ./. Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Slg. 2004 II-01493, Rn. 45. Der zugrundeliegende Fall betraf allerdings eine Schadensersatzklage gegen die EU-Kommission, so dass trotz der weiten Formulierung dieser Aussage die Geltung für das Privatrecht unklar erscheint. 234 Vgl. etwa 18. Erwägungsgrund der UGP-RL (siehe unten S. 245 ff.). 235 Siehe Cauffman, M-EPLI Working Paper No. 2013/5, S. 14 f. Zur zugrundeliegenden Rs. Messner siehe unten S. 264 ff. 236 Roth / Schubert, in: MüKo BGB, § 242 Rn. 152, im Hinblick auf Treu und Glauben im europäischen Verbraucherschutzrecht; im Hinblick auf das Unionsrecht insgesamt Soyka, Der Verbrauchsgüterkauf, S. 39; unter dem Blickwinkel des Wettbewerbsrechts ebenso Köhler, in: Köhler/Bornkamm, Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb, § 3 Rn. 43, der ausführt, über den Maßstab von Treu und Glauben könne u. a. der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in die Beurteilung der Unlauterkeit einfließen.
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Kapitel 1 – Grundlagen
begrenzt sein.237 Brown weist darauf hin, dass der Begriff des Missbrauchs eines Rechts den Gedanken des Exzesses, der Überschreitung eines Maßes in sich trage.238 Die Verbindung ist also insbesondere da sehr eng, wo Treu und Glauben seine Funktion als Rücksichtnahmegebot erfüllt. Ähnliches gilt für die mit der Verhältnismäßigkeit eng verwandte Angemessenheit. „Angemessen oder vernünftig ist, was Treu und Glauben entspricht“ – so lautet – etwas verkürzt – die Definition in Art. 1:302 der PECL, die diese Begriffe dann wiederum in einer Vielzahl anderer Vorschriften verwenden. Die enge Verbindung zwischen Angemessenheit und Treu und Glauben zeigt sich auch bei der Klauselkontrolle, wo viele Mitgliedstaaten auch vor Inkrafttreten der RL 93/13 entweder den einen oder den anderen Begriff benutzten, ohne dass dies in der Sache zu wesentlichen Unterschieden geführt hätte.239 Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auch noch auf die Schlussanträge der Generalanwältin Kokott in der Rs. Aziz, wo es um die Missbräuchlichkeit einer Klausel nach der RL 93/13 wegen Verstoßes gegen das Gebot von Treu und Glauben i. S. v. Art. 3 Abs. 1 geht. Dort werden unterschiedslos die Begriffe „Rechtsmissbräuchkeit“ und „Unverhältnismäßigkeit“ gleichgesetzt,240 wobei letzterer Begriff auch in der Vorlagefrage verwendet wird. An einer mangelhaften Übersetzung kann das in diesem Fall nicht liegen, weil die Generalanwältin ihre Schlussanträge in deutscher Sprache entwirft – es zeigt also eindrucksvoll die Nähe und scheinbare Austauschbarkeit der Begriffe untereinander. Verhältnismäßigkeit besteht nach der deutschen Definition, von der die europäischen Regeln inspiriert sind,241 aus dem Dreiklang „Erforderlichkeit – Geeignetheit – Angemessenheit“ einer Maßnahme. Dabei wird unter Angemessenheit auch die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne verstanden, was abermals die Nähe bzw. teilweise Deckungsgleichheit dieser beiden Begriffe zueinander zeigt. Die Brücke vom öffentlich-rechtlichen zum privatrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz wird dabei insoweit geschlagen, dass zwingendes Recht – etwa das EU-Verbraucherrecht – stets Riesenhuber, Europäisches Vertragsrecht, S. 231. Brown, in: Curtin / Heukels, Festschrift für H. G. Schermers, S. 511, 521. Remien, in: Basedow / Hopt / Zimmermann, Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts Band II, S. 1632 sieht ebenfalls eine „Verwandtschaft“ des Rechtsmissbrauchsverbots zum Verhältnismäßigkeitsgrundsatz; Fleischer, JZ 2003, 865, 873 spricht zumindest von „Berührungspunkte[n]“. 239 von Bar / Zimmermann, Grundregeln des Europäischen Vertragsrechts Teile I und II, S. 320. 240 Schlussanträge der Generalanwältin Juliane Kokott vom 14.3.2013, Rs. C-415/11 Mohamed Aziz ./. Caixa d´Estalvis de Catalunya, Tarragona i Manresa (Catalunyacaixa), ECLI:EU:C:2012:700, Rn. 3 und 38 („Rechtsmissbräuchkeit“) sowie Rn. 30 („Unverhältnismäßigkeit“ in der Vorlagefrage). Dies beruht auch nicht etwa auf Übersetzungsfehlern, denn die Schlussanträge wurden auf Deutsch geschrieben, vgl. Fn. 1 der Schlussanträge. 241 Cauffman, M-EPLI Working Paper No. 2013/5, S. 4. 237 238
D. Zwischenergebnis: Zuschnitt der Arbeit
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einen Eingriff in Grundrechte der Parteien darstellt und sich damit als solches am öffentlich-rechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz messen lassen muss.242 Es zeigt sich also bereits bei diesem kursorischen Überblick, dass ein Schwerpunkt der Untersuchung auch darauf liegen muss, wie sich das Verhältnis zwischen Treu und Glauben, Rechtsmissbrauch und dem Maßstab der Verhältnismäßigkeit im Unionsprivatrecht darstellt.243 VII. Vernünftigkeit Der Begriff der Vernünftigkeit (reasonableness) kann gewissermaßen als ein Pendant des Common Law zu Treu und Glauben im kontinentaleuropäischen Civil Law angesehen werden. Das englische Recht benutzt diesen Maßstab sehr häufig, insbesondere in Form der „reasonable person“, einer fiktiven Vergleichsperson, deren erwartetes Verhalten als „sozial akzeptiert“ und von „gesundem Menschenverstand“ und „Ausgeglichenheit“ geprägt beschrieben wird.244 Dabei begegnet die Vernünftigkeit auf Seiten der aus dem Civil Law stammenden Juristen ähnlichen Einwänden rechtlicher Unsicherheit wie Treu und Glauben diese umgekehrt im Common Law hervorruft.245 In ihrer praktischen Anwendung zeigt sich zwischen beiden Maßstäben aber eine weitgehende Überlappung.246 Teilweise wird reasonableness auch als ein Bestandteil des Grundsatzes von Treu und Glauben angesehen.247
D. Zwischenergebnis: Zuschnitt der Arbeit D. Zwischenergebnis: Zuschnitt der Arbeit
Damit ist zunächst ein weiter Untersuchungsansatz zu wählen, der – jedenfalls in den Kernbereichen des Privatrechts – auch alle oben identifizierten, mit Treu und Glauben verwandten Begriffe in die Arbeit mit einbezieht,280 die von Treu und Glauben schwierig zu trennen sind und von der Gesetzgebung, der Rechtsprechung und der Rechtswissenschaft jedenfalls bisher auch So Cauffman, M-EPLI Working Paper No. 2013/5, S. 10. Vgl. auch Cauffman, M-EPLI Working Paper No. 2013/5, S. 21 „The Case [die Rs. Citymo SA, siehe unten Kapitel 2 Fn. 770] makes it very likely that the principle of abuse of rights can be used to limit the excessive use of contractual rights and that abuse of contractual rights will be equated with the principle of good faith. Good faith and proportionality seem to be equal principles of community law.“ 244 Troiano, ERPL 2009, 749, 750 f. 245 Navaretta, Jus Civile 2013, 118, 122. 246 Dannemann, in: Dannemann / Vogenauer, The Common European Sales Law in Context – Interactions with English and German Law, S. 708, 720. Zum bestehenden Sekundärrecht siehe bspw. Synodinou, IIC 2010, 819, 835 f.: „[…] objective good faith […] could be defined as an objectively accepted standard of reasonableness […].“ Im Einzelnen zur Urheberrechtsrichtlinie siehe unten S. 295 ff. 247 Vgl. Troiano, ERPL 2009, 749, 783; Navaretta, Jus Civile 2013, 118, 122. 242 243
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Kapitel 1 – Grundlagen
nicht248 klar getrennt werden. Es kann nicht Ziel der Untersuchung sein, gewissermaßen begriffliche Scheuklappen anzulegen und sich auf solche Rechtsakte und Einzelnormen zu beschränken, die Treu und Glauben im Wortlaut enthalten. Vielmehr ist hier ein funktionaler und damit breiterer Ansatz zu wählen; es gilt, eine Bestandsaufnahme von Vorkommen und jeweiliger Aufgabe der oben aufgeführten Rechtsinstitute im Unionsprivatrecht und sodann eine funktionale Systematisierung vorzunehmen. Es ist im Rahmen dieser Untersuchung nicht machbar, im Fall von Richtlinienrecht auch umfassend über nationale Umsetzungsbestimmungen und insbesondere die zu diesen ergangene Judikatur zu berichten. Soweit dies – auch unter Verweis auf andere Literatur – möglich und zur Auslegung von Bestimmungen des Unionsrechts sinnvoll ist, erfolgt es punktuell. Es soll aber bewusst vermieden werden, das deutsche Recht bei den Umsetzungsbestimmungen allzu sehr hervorzuheben. Aus verschiedenen Gründen – die deutsche Rechtsordnung ist besonders groß und bei Vorabentscheidungsverfahren in absoluten Zahlen mit Abstand am stärksten vertreten249 und die deutsche Rechtswissenschaft publiziert viel zum Unionsprivatrecht – werden ohnehin die Quellen aus Deutschland eine wichtige Rolle spielen. Wo immer möglich, werden aber zumindest die in Frankreich und dem Vereinigten Königreich gewählten Lösungen und erhobenen Literaturstimmen zum Vergleich mit in den Blick genommen werden. Die Arbeit soll auch nicht etwa in weiten Teilen aus spekulativen Überlegungen dahingehend bestehen, in welche Richtung sich ein materieller Standard von Treu und Glauben entwickeln könnte, indem sie die Generalklausel gewissermaßen aus sich selbst heraus entwickelt. Wäre dies „am Reißbrett“ möglich, so würde es die Verwendung einer Generalklausel durch den Gesetzgeber als unzulässig erscheinen lassen.250 Es soll vielmehr induktiv aus dem vorhandenen Unionsprivatrecht ein Gesamtbild davon gezeichnet werden, was den Grundsatz von Treu und Glauben auf dieser Ebene zum jetzigen Zeitpunkt ausmacht und welche Methoden für seine Auslegung verwendet werden.251
248 Vgl. etwa den von Brown, in: Curtin / Heukels, Festschrift für H. G. Schermers, S. 511, 516 gewählten Ansatz für seine Untersuchung: „A wide net will be cast in order to bring in any elements which may be considered to have an abuse of rights ‘flavour’“. 249 Vgl. Rösler, Europäische Gerichtsbarkeit auf dem Gebiet des Zivilrechts, S. 165 f. 250 Siehe oben S. 26 ff. 251 Zur Induktion bei der Ermittlung allgemeiner Rechtsgrundsätze siehe Metzger, Extra legem, intra ius: Allgemeine Rechtsgrundsätze im Europäischen Privatrecht, S. 36 ff. Zur unterschiedlichen – eher deduktiven oder eher induktiven – Herangehensweise nationaler Rechtswissenschaft an die Konkretisierung von Treu und Glauben siehe Hesselink, in: ders., The New European Private Law. Essays on the Future of Private Law in Europe, S. 195, 199.
Kapitel 2
Bestandsaufnahme und Analyse Kapitel 2 – Bestandsaufnahme und Analyse „In den Beiträgen von Rechtspraktikern wird zur Frage der Anwendung des Gemeinschaftsrechts durchweg die Ansicht vertreten, der derzeitige Ansatz, lediglich Einzelaspekte des Vertragsrechts zu regeln, führe zu Undurchsichtigkeit und Unstimmigkeiten. Als Unstimmigkeit in Richtlinien wird u. a. die Frage angeführt, ob allgemeine Grundsätze wie der Grundsatz von Treu und Glauben anerkannt würden.“1
Dieses Kapitel bildet den Kern der vorliegenden Untersuchung und hat sowohl das geschriebene Unionsprivatrecht wie die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zum Gegenstand. Es untersucht – bereits nach den im Ersten Kapitel als in Frage kommend identifizierten Fallgruppen vorsortiert – insbesondere die Rechtsakte im (Verbraucher-)Vertragsrecht der Union. Dort existiert mittlerweile eine Vielzahl vor allem von Richtlinien, die Treu und Glauben und hiermit verwandte Grundsätze enthalten. Die weitaus wichtigste Rolle spielt hierbei die Richtlinie über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen, gefolgt von der Richtlinie über die selbständigen Handelsvertreter, die beide den Grundsatz an zentraler Stelle verwenden. An diesen beiden Rechtsakten lassen sich nicht nur Ansätze einer unionsautonomen Konkretisierung von Treu und Glauben erkennen, sondern hier ist – insbesondere im Fall der Klauselrichtlinie – auch eine breitere akademische Debatte über die Rolle dieses Grundsatzes im Unionsprivatrecht entstanden, wenn diese sich auch weitgehend auf den jeweiligen Rechtsakt beschränkt. Als dritter wichtiger Rechtsakt ist die Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken zu nennen, wo Treu und Glauben, allerdings über mehrere Schachteldefinitionen, Bestandteil der Generalklausel zur Feststellung unlauterer Geschäftspraktiken ist. Darüber hinaus lässt sich der Rechtsgedanke von Treu und Glauben, wie er im Ersten Kapitel dieser Untersuchung skizziert worden ist, aber noch in einer Vielzahl weiterer Rechtsakte feststellen. Diese erwähnen Treu und Glauben zwar teils nicht unmittelbar, enthalten aber Funktionsäquivalente oder Konkretisierungselemente des Grundsatzes. Innerhalb der einzelnen Fallgruppen spielt auch der Vorschlag für ein optionales Kaufrecht (CESL) eine wichtige Rolle. Auch wenn sowohl das Ob als auch das Wie der Verabschiedung dieses Vorhabens nicht sicher sind, nimmt der Vorschlag 1 Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat: Ein kohärenteres europäisches Vertragsrecht – ein Aktionsplan, Brüssel, den 12.2.2003, KOM (2003) 68 endgültig, S. 39 f.
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gerade im Bereich allgemeiner Grundsätze des Zivilrechts – insbesondere in Gestalt von Treu und Glauben – eine Pionierrolle ein und wird selbst im Falle eines Scheiterns allein aufgrund des Vorschlagsstatus und der im Gesetzgebungsvorhaben geführten Diskussionen bei der weiteren Entwicklung des Unionsprivatrechts einen wichtigen Anker darstellen.
A. Schranke der Privatautonomie A. Schranke der Privatautonomie
In diesem Abschnitt soll es um solche Fälle gehen, in denen ein Missbrauch von Privatautonomie und Vertragsfreiheit – in der Regel zu Lasten einer Vertragspartei – im Raum steht und Treu und Glauben als inhaltliche Grenze für die privatautonome Gestaltbarkeit von Vereinbarungen fungiert.2 I.
Zwingendes Recht und Umgehungsverbote
Das Unionsprivatrecht ist in der Regel zwingend,3 so dass anders lautende Parteivereinbarungen unwirksam sind und die Frage der Vertragsfreiheit der Parteien mithin entzogen ist. Auch bei zwingendem Recht kann sich aber eine Missbrauchsproblematik ergeben. Dies ist dann der Fall, wenn eine Umgehung dieser Vorschriften unternommen wird, die formal nicht unmittelbar auf eine Abbedingung der jeweiligen, zwingenden Bestimmung abzielt, sondern diesen durch anderweitige Gestaltung ausweicht. Dies kann über eine Rechtswahl geschehen, aber auch innerhalb des anwendbaren Rechts, indem etwa Vereinbarungen getroffen werden, die in der Sache dieselbe Wirkung haben wie ein vertraglicher Ausschluss bestimmter Rechte. Solchen Gestaltungen wirkt das Unionsprivatrecht ebenfalls entgegen. So enthalten zahlreiche verbraucherschützende Richtlinien mittlerweile eine Vorschrift, die verhindern soll, dass ihre Anwendbarkeit über kollisionsrechtliche Gestaltungen ausgeschaltet wird.4 Hinzu treten Verbote der Umgehung zwingender Vorschriften 2 Nicht behandelt werden soll hier der umgekehrte Fall des Kontrahierungszwanges, den das Unionsprivatrecht ebenfalls in Einzelfällen anordnet, so etwa in Art. 15 Abs. 2 der Übernahmerichtlinie (Richtlinie 2004/25/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. April 2004 betreffend Übernahmeangebote, ABl. 2004 L 142/12). Danach kann bei einer Übernahme der Bieter, der bereits 90 % der Gesellschaftsanteile einer Zielgesellschaft erworben oder sich diesen Erwerb jedenfalls vertraglich gesichert hat, von den verbleibenden Minderheitsaktionären verlangen, dass diese ihm ihre Wertpapiere zu einem angemessenen Preis verkaufen (zur Angemessenheit als Komponente von Treu und Glauben siehe S. 72 ff.). 3 Siehe etwa Basedow, in: Bitburger Gespräche Jahrbuch 2008/I, S. 85, 91 f. mit Hinweisen auf einige Ausnahmen in Gestalt dispositiver Vorschriften. 4 Vgl. etwa Art. 6 Abs. 2 Klauselrichtlinie (unten Kapitel 1 Fn. 9), Art. 12 Abs. 2 Fernabsatzrichtlinie (unten Kapitel 2 Fn. 754), Art. 7 Abs. 2 Verbrauchsgüterkaufrichtlinie (unten Kapitel 2 Fn. 865), Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie über den Fernabsatz von Finanz-
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durch anderweitige vertragliche Gestaltung, etwa in Art. 7 Abs. 1 der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie. Diese Vorschrift geht über die Anordnung einer zwingenden Geltung der Richtlinie insoweit hinaus, als dass sie ausdrücklich anordnet, dass auch solche Vertragsklauseln nicht bindend sind, „durch welche die mit dieser Richtlinie gewährten Rechte unmittelbar oder mittelbar außer Kraft gesetzt oder eingeschränkt werden“. Schließlich ist auch noch auf das in Art. 22 Abs. 3 der Verbraucherkreditrichtlinie5 enthaltene, ausdrückliche Umgehungsverbot hinzuweisen.6 II. Vorformulierte Klauseln: Die Richtlinie 93/13 „Le juge qui refusera de juger, sous prétexte du silence, de l’obscurité ou de l’insuffisance de la loi, pourra être poursuivi comme coupable de déni de justice.“7 „[…] [D]ie Beantwortung der Frage, ob eine Klausel wie die in den Ausgangsverfahren in Rede stehende „mißbräuchlich“ ist, [erfordert] nicht mehr als eine Auslegung des Wortlauts der Richtlinie, insbesondere des Artikels 3 Absätze 1 und 2 […].“8
Die Richtlinie über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen9 nimmt innerhalb dieser Untersuchung eine gewisse Sonderrolle ein. Treu und Glauben ist hier Maßstab für die Beurteilung der Wirksamkeit vorformulierter Klauseln und in dieser Ausprägung recht weit von einer Verallgemeinerbarkeit als allgemeiner Grundsatz des Zivilrechts entfernt. Andererseits hat dienstleistungen (unten Kapitel 2 Fn. 755) sowie Art. 9 der Richtlinie 94/47/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Oktober 1994 zum Schutz der Erwerber im Hinblick auf bestimmte Aspekte von Verträgen über den Erwerb von Teilzeitnutzungsrechten an Immobilien, ABl. 1994 L 280/83. Über diese Regelungen hinaus hat der Gerichthof ein internationalprivatrechtliches Umgehungsverbot für den durch Richtlinien gewährten Schutz – jedenfalls für den Fall der Handelsvertreterrichtlinie, die eine ausdrückliche Bestimmung in diesem Sinne nicht enthält – aufgestellt; siehe EuGH, 9.11.2000, Rs. C-381/98 Ingmar GB Ltd ./. Eaton Leonard Technologies Inc., Slg. 2000 I-09305 (dazu unten Kapitel 2 nach Fn. 875). Siehe auch Basedow, in: Festschrift für M. P. Stathopoulos, S. 185. 5 Richtlinie 2008/48/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. April 2008 über Verbraucherkreditverträge und zur Aufhebung der Richtlinie 87/102/EWG des Rates, ABl. 2008 L 133/66. 6 Dabei ist das Umgehungsverbot angesichts des zwingenden Charakters der Vorschriften eine Selbstverständlichkeit, so dass die zusätzliche, ausdrückliche Normierung eigentlich nur als Klarstellung verstanden werden kann, siehe Schürnbrand, JZ 2009, 133, 134 f. 7 Art. 4 des französischen Code Civil: „Der Richter, der sich unter dem Vorwand des Schweigens, der Unbekanntheit oder der Mangelhaftigkeit des Gesetzes weigert, zu urteilen, kann wegen Rechtsverweigerung verfolgt werden.“ (Übersetzung des Verf.) 8 Schlussanträge des Generalanwalts Antonio Saggio vom 16.12.1999, verb. Rs. C-240/98 bis C-244/98 Océano Grupo Editorial SA und Salvat Editores SA ./. Rocío Murciano Quintero u. a., Slg. 2000 I-04941, Rn. 18. 9 Richtlinie 93/13/EWG des Rates vom 5. April 1993 über mißbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen, ABl. 1993 L 95/29 (im Folgenden als Klauselrichtlinie oder RL 93/13 bezeichnet).
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die Klauselrichtlinie mit großem Abstand am häufigsten Anlass für eine Auslegung des Begriffs von Treu und Glauben durch den EuGH gegeben,10 die auch ein großes Echo in der Literatur gefunden hat.11 Allein um die dort gefundenen Maßstäbe und Argumente nicht ohne Not aus dieser Untersuchung auszublenden, ist eine Einbeziehung geboten. Außerdem kann auch der Anhang der Richtlinie, der eine „als Hinweis dienende und nicht erschöpfende Liste der Klauseln, die für missbräuchlich erklärt werden können“ enthält, für diese Untersuchung von Interesse sein.12 Art. 3 Abs. 1 der Klauselrichtlinie mit der dazugehörigen Rechtsprechung bildet als solcher natürlich auch keine Fallgruppe im eigentlichen Sinne. Es wird zu überlegen sein, ob missbräuchliche Klauseln im Einzelnen anderen Fallgruppen zugeordnet werden können, was wegen der genannten Besonderheiten mit einer gewissen Vorsicht geschehen muss. In der Sache geht es bei der Klauselkontrolle nicht um einen Verstoß der Klausel selbst gegen Treu und Glauben, sondern um einen Missbrauch der Vertragsfreiheit durch den Steller der Klauseln bei Vertragsschluss.13 Dieser Missbrauch ist ihm entweder aufgrund seiner überlegenen Marktmacht oder 10 Die Entscheidungen des EuGH zu Art. 3 Abs. 1 der Klauselrichtlinie haben neben der Auslegung selbst des Begriff von Treu und Glauben insbesondere auch die Frage aufgeworfen, wer überhaupt bis zu welchem Grad für die Auslegung dieser Bestimmung zuständig ist. Zunächst schien der EuGH zum zentralem Missbrauchsmaßstab der Richtlinie noch konkrete Vorgaben machen zu wollen (EuGH, 27.6.2000, Rs. C-240/98 Océano Grupo, Slg. 2000 I-04941). In einer späteren Entscheidung hat er dann aber die Bewertung einzelner Klauseln den nationalen Gerichten überlassen (EuGH, 1.4.2004, Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten ./. Hofstetter, Slg. 2004 I-03403; siehe dazu auch die Schlussanträge des Generalanwalts Leendert A. Geelhoed vom 25. September 2003 in dieser Rechtssache) und inzwischen mehrfach bestätigt, dass er dem nationalen Richter nur Kriterien vorgeben, aber keine verbindliche Auslegung im Einzelfall vornehmen will (EuGH, 4.6.2009, Rs. C-243/08 Pannon GSM, Slg. 2009 I-04713; EuGH, 9.11.2010, Rs. C-137/08 VB Pénzügyi Lízing Zrt. ./. Ferenc Schneider, Slg. 2010 I-10847). 11 Die Herangehensweise des EuGH im Hinblick auf den mindestharmonisierenden Charakter der Richtlinie rechtfertigend Heiderhoff, Gemeinschaftsprivatrecht, S. 70 ff.; anders Basedow, AcP 210 (2010), 157, 173: „Daraus folgt, dass die Harmonisierung des Rechts allgemeiner Geschäftsbedingungen, wie sie vom Europäischen Gesetzgeber beabsichtigt war, praktisch gescheitert ist, weil der Europäische Gerichtshof nicht willens war, sich auf die Auslegung der Generalklausel der Richtlinie einzulassen.“ 12 Vgl. auch Henke, Enthält die Liste des Anhangs der Klauselrichtlinie 93/13/EWG Grundregeln des Europäischen Vertragsrechts? 13 Das Europäische Recht der Klauselkontrolle ist von Beginn an unter dieser Prämisse diskutiert worden, vgl. Commission Communication presented to the Council on 14 February 1984 (based on COM (84) 55 final) – Unfair terms in contracts concluded with consumers, Bulletin of the European Communities, Supplement 1/84, S. 5 Rn. 8. Dass die Entstehung missbräuchlicher Klauseln nach jüngerer ökonomischer Theorie nicht hauptsächlich durch den Missbrauch von Marktmacht, sondern durch die missbräuchliche Ausnutzung von Informationsasymmetrien begünstigt wird, ändert an diesem Befund nichts.
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aufgrund eines partiellen Marktversagens bei Massengeschäften mit relativ geringem Volumen pro Geschäft möglich, wo sich der Aufwand einer Kenntnisnahme und Bewertung der allgemeinen Geschäftsbedingungen für den anderen Teil schlicht nicht lohnt. Dies erklärt auch die starke Betonung des Kriteriums der Transparenz der Klausel als Komponente von Treu und Glauben, auf die noch einzugehen sein wird. Es verbindet auch die Klauselkontrolle mit dem Verbot des Missbrauchs überlegener Marktmacht im AEUV und mit dem Verbot der Verwendung unlauterer Geschäftspraktiken nach der UGP-Richtlinie. Der Gerichtshof hat sich im Übrigen mittlerweile in einem anderen Kontext mit der Frage befasst, inwieweit die Vertragsfreiheit als Grundrecht durch den Gesetzgeber in Abwägung mit anderen Grundrechten eingeschränkt werden darf.14 Hieran werden sich auch die Klauselrichtlinie und ihre Auslegung messen lassen müssen. Die Geschichte der Rechtsprechung des EuGH zur Klauselrichtlinie ist jedoch schwierig und erst etwa 20 Jahre nach Erlass der Richtlinie wirklich in Gang gekommen. Während dem Europäischen Gerichtshof in anderen Bereichen oft vorgeworfen wird, seine Kompetenzen zu überschreiten,15 stellt sich im Bereich der Klauselrichtlinie die umgekehrte Frage. Auch wenn die eingangs zitierte französische Vorschrift für den Gerichtshof nicht gilt, so ging die Bewertung seiner Zurückhaltung gegenüber Vorabentscheidungsersuchen zur Auslegung der Generalklausel der RL 93/13 doch durchaus in die Richtung einer Rechtsverweigerung. Allerdings hat der EuGH in jüngerer Zeit eine moderatere Position eingenommen und bemüht sich, wenn auch sehr zurückhaltend, die Generalklausel mit Inhalt zu füllen. Einen Schwerpunkt in Gestalt einer sehr weitgehenden Auslegung des Unionsrechts setzt der Gerichtshof dagegen bei der Frage, auf wessen Veranlassung, in welchen VerEuGH, 22.1.2013, Rs. C-283/11 Sky Österreich GmbH ./. Österreichischer Rundfunk, ECLI:EU:C:2013:28, Rn. 45 ff. Auch hier betont der Gerichtshof wieder besonders die Verhältnismäßigkeit des Eingriffs. 15 Vgl. etwa aus dem Bereich der allgemeinen Rechtsgrundsätze EuGH, 22.11.2005, C-144/04 Mangold ./. Helm, Slg. 2005 I-09981; dazu Herzog/Gerken, Stoppt den Europäischen Gerichtshof, F.A.Z. v. 8.9.2008, S. 8. sowie EuGH, 20.01.2010, C-555/07 Seda ./. Kücükdeveci, Slg. 2010 I-00365; dazu Willemsen/Sagan, Europarichter stellen BGB ins Belieben deutscher Gerichte, F.A.Z. v. 27.01.2010, S. 23. Aus dem Bereich des Richtlinienrechts siehe etwa EuGH, 19.11.2009, Verb. Rs. C-402/07 und C-432/07 Christopher Sturgeon u. a. ./. Condor Flugdienst GmbH und Stefan Böck und Cornelia Lepuschitz ./.Air France SA, Slg. 2009 I-10923; Hobe / Müller-Rostin / Recker, ZLW 2010, 149, 155 bezeichnen dieses Urteil als einen „Verstoß gegen höherrangiges Völkerrecht und als eine an Wortlaut sowie Entstehungsgeschichte der Normen vorbeigehende Interpretation des europäischen Sekundarrechts, dem deshalb keine Bindungswirkung für nationale Gerichte zukommen kann.“ Alle hier genannten Rechtssachen weisen zudem eine sehr hohe gesellschaftliche und/oder wirtschaftliche Bedeutung auf. Weitere Fundstellen aus der Tagespresse mit deutlicher Kritik am Europäischen Gerichtshof finden sich bei Basedow, in: Micklitz / de Witte, The European Court of Justice and the Autonomy of the Member States, S. 65 f. 14
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fahrensarten und in welcher Weise eine Kontrolle missbräuchlicher Klauseln überhaupt stattzufinden hat, also auf die prozessuale Seite des Schutzes vor missbräuchlichen Klauseln.16 Die Missbrauchskontrolle vorformulierter Vertragsbedingungen dürfte einen der in Rechtsprechung und Rechtswissenschaft am häufigsten diskutierten Bereiche des Unionsprivatrechts darstellen. Dabei lassen sich drei wichtige Komplexe unterscheiden, die aber nur gemeinsam einen effektiven und einheitlichen Schutz der Verbraucher vor der Verwendung missbräuchlicher Klauseln im Binnenmarkt sicherstellen können. Der erste Komplex betrifft den – vor allem in Deutschland – sehr früh und ausgiebig geführten Streit um die sogenannte Konkretisierungskompetenz. Es geht dabei um die Frage, ob und inwieweit sich der Europäische Gerichtshof im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens überhaupt zur Missbräuchlichkeit bestimmter Klauseln äußern kann. Während dies aus europäischer Sicht wegen des erklärten Ziels der Vereinheitlichung des AGB-Rechts im Binnenmarkt selbstverständlich erscheinen mag, wurde gegen eine solche Zuständigkeit des Gerichtshofs vor allem angeführt, er müsse dazu nationales Recht anwenden und sei zudem einer Rolle als „Superrevisionsinstanz“ des Rechts der missbräuchlichen Klauseln in der EU auch vom Umfang her nicht gewachsen.17 Zudem nehme die Richtlinie ja in Art. 1 Abs. 2 solche Klauseln von der Kontrolle aus, die sich mit „bindenden Rechtsvorschriften“ decken, womit wohl auch das dispositive nationale Vertragsrecht gemeint ist.18 Diese Vorschrift gefährde selbst die von der Richtlinie lediglich beabsichtigte Mindestharmonisierung.19 Der – mit dem ersten verwandte – zweite Komplex ist dann die Frage nach dem materiellen Maßstab der Klauselkontrolle. Dieser Aspekt ist für die hier durchgeführte Untersuchung von zentraler Bedeutung. Es geht darum, autonom-europäische Konkretisierungselemente des Grundsatzes von Treu und Glauben zu finden. Dies beinhaltet die Frage nach dem Vergleichsmaßstab, an dem sich Abweichungen durch AGB messen lassen müssen.20 Der dritte Komplex betrifft die prozessuale Berücksichtigung der Missbräuchlichkeit von Klauseln, also die unionsrechtlichen Vorgaben für die Art und Weise des Stattfindens einer Kontrolle missbräuchlicher Klauseln im Siehe dazu unten S. 145 ff. In diesem Sinne etwa Franzen, Privatrechtsangleichung durch die Europäische Gemeinschaft, S. 539; Canaris, EuZW 1994, 417; Heiderhoff, WM 2003, 509, 511; Roth, Herbert, JZ 1999, 529, 535. 18 Pfeiffer, in: Grabitz / Hilf, Recht der EU, Art. 1 Mißbrauchskontrolle, Rn. 25. 19 Plakativ De Nova, ERPL 1995, 221: „My point is that the Directive, as a tool of harmonisation, begins with Article 1 (1), and runs the Risk of ending with Article 1 (2).“ 20 Vgl. Schmidt, Martin, Konkretisierung von Generalklauseln im europäischen Privatrecht, S. 207 ff.: „Soll etwas für ‚falsch‘ im Sinne von ungerecht oder missbräuchlich gehalten werden [können], muss es ein ‚Richtig‘ im Sinne von gerecht geben.“ 16 17
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Prozess. Der Europäische Gerichtshof urteilt in ständiger Rechtsprechung, dass die Klauselkontrolle von Amts wegen zu erfolgen hat, wendet diese Prämisse auch auf besondere Verfahrensarten an und verlangt teilweise, dass auch die zugrundeliegenden Tatsachen von Amts wegen zu ermitteln sind.21 Diese Vorgaben, die die Beseitigung von Verstößen gegen Treu und Glauben durch den Gewerbetreibenden durch ein aktives Eingreifen der Gerichte sicherstellen sollen, sind sehr weitgehend und betreffen die nationalen Zivilverfahrensrechte in einer Weise, die bei Verabschiedung der Klauselrichtlinie kaum absehbar gewesen sein dürfte. 1. Anwendungsbereich und Ratio Die Klauselrichtlinie findet nach Art. 3 Abs. 1 Anwendung auf „nicht im einzelnen ausgehandelt[e]“ Vertragsklauseln, was nach Abs. 2 dann der Fall ist, wenn die Klausel „im voraus abgefasst wurde und der Verbraucher deshalb, insbesondere im Rahmen eines vorformulierten Standardvertrags, keinen Einfluß auf ihren Inhalt nehmen konnte“.22 Die Richtlinie verfolgt mehrere Zwecke, zu denen insbesondere der Schutz schwächerer Vertragsparteien – namentlich Verbrauchern – und die Sicherstellung eines unverzerrten Wettbewerbs auf dem Weg zur Vollendung des Binnenmarktes23 gehören. Zu diesem Zweck verfolgt sie nach Art. 1 Abs. 1 ausdrücklich das Ziel einer „Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über mißbräuchliche Klauseln in Verträgen zwischen Gewerbetreibenden und Verbrauchern.“24 Die Gewährleistung eines einheitlichen Mindeststandards bei der Klauselkontrolle erfolgt im Wesentlichen zentral über eine Generalklausel, die der Missbräuchlichkeitskontrolle nicht ausgehandelter Klauseln dient. Diese wird durch eine Liste im Anhang konkretisiert und ergänzt. Die Anfänge der Klauselkontrolle finden sich in den nationalen Rechtsordnungen, insbesondere in Deutschland und Frankreich.25 Ursprünglich ging Siehe dazu unten S. 145 ff. Die teilweise schwierigen Abgrenzungsfragen des Anwendungsbereichs der Richtlinie sind für das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit nicht von zentraler Bedeutung. Wenn im Folgenden von Klauseln, Vertragsklauseln oder AGB die Rede ist, so sind damit stets „nicht im einzelnen ausgehandelte“ Vertragsklauseln im Sinne der Richtlinie gemeint. 23 Vgl. für das Ziel des Verbraucherschutzes Erwägungsgründe 4, 8 und 10 sowie für das Ziel des Schutzes des Wettbewerbs Erwägungsgründe 2 und 7; außerdem für beide Art. 7 Abs. 1 („im Interesse der Verbraucher und der gewerbetreibenden Wettbewerber“). Zum Verhältnis von Klauselrichtlinie und Wettbewerbsrecht siehe auch unten S. 104. 24 Vgl. auch Erwägungsgrund 3, der auf die „beträchtliche[n] Unterschiede“ unter den mitgliedstaatlichen Vorschriften zur AGB-Kontrolle hinweist. 25 Zur Gesetzgebung in den Mitgliedstaaten vor Erlass der Richtlinie siehe etwa v. Hippel, RabelsZ 41 (1977), 237, 253 ff.; Herkenrath, Die Umsetzung der Richtlinie 93/13/EWG über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen in Deutschland, dem Vereinigten Königreich, Frankreich und Italien, S. 60 ff.; tabellarische Übersichten zu21 22
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man davon aus, dass der Grund für die Entstehung und Verwendung treuwidrig benachteiligender Vertragsbedingungen schlicht in der Ausnutzung einer wirtschaftlichen Machtposition zu suchen sei, qua derer bestimmte Anbieter die Vertragsbedingungen mangels Ausweichmöglichkeiten mehr oder weniger diktieren konnten.26 Mittlerweile ist weitgehend anerkannt, dass der Hauptgrund für die Entstehung missbräuchlicher AGB in einem „Informations- und Motivationsgefälle“ zwischen den Parteien zu suchen ist: Je nach Umfang des Geschäfts lohnt es sich für den Kunden schlicht nicht, die AGB vor Vertragsschluss überhaupt umfassend zur Kenntnis zu nehmen oder gar zwischen unterschiedlichen Anbietern zu vergleichen oder zu verhandeln.27 Der Verwender kann dagegen die Kosten für die Ausarbeitung der AGB auf eine Vielzahl von Geschäften verteilen. Diese ungleiche Verteilung der Transaktionskosten führt dazu, dass die üblichen Marktmechanismen nicht funktionieren und es zum einem Vertragsversagen (Fornasier) bzw. einem partiellen Marktversagen (Basedow) kommt. Dieses führt wiederum schlussendlich zu einem Verschlechterungswettbewerb dahingehend, dass die Anbieter Anreize für die Verwendung möglichst kundenfeindlicher AGB haben, weil sie dann niedrigere Preise anbieten können, für die der Kunde – anders als für das „Kleingedruckte“ – sensibel ist.28 Aus diesen Überlegungen, die hier nicht vertieft werden können, ergibt sich auch, warum Informationspflichten allein den unionsrechtlichen Vernächst der parallelen gesetzgeberischen Entwicklungen im AGB-Recht auf Unionsebene und mitgliedstaatlicher Ebene und sodann der Umsetzung der Richtlinie in den Mitgliedstaaten findet sich bei Tenreiro / Karsten, in: Schulte-Nölke / Schulze, Europäische Rechtsangleichung und nationale Privatrechte, S. 267 ff. 26 Sog. Monopolrechtsprechung des Reichsgerichts, vgl. RGZ 62, 264, 266: „Wo der einzelne ein ihm tatsächlich zustehendes Monopol oder den Ausschluss einer Konkurrenzmöglichkeit dazu mißbraucht, dem allgemeinen Verkehr unbillige, unverhältnismäßige Opfer aufzuerlegen, unbillige und verhältnismäßige Bedingungen vorzuschreiben, da können dieselben rechtliche Anerkennung nicht finden.“ Ausführlich zu neueren Erklärungsansätzen Fornasier, Freier Markt und zwingendes Vertragsrecht, S. 148 ff.; die Study Group on Social Justice in European Private Law, Social Justice in European Contract Law: a Manifesto, ELJ 10 (2004), S. 653, 665 sieht die Klauselkontrolle als Vehikel zur Durchsetzung von „social justice“ in der EU. 27 Eingehend Basedow, in: MüKo BGB, Vorbemerkung zu §§ 305 ff. Rn. 5 f.; ders., AcP 200 (2000), 445, 486 ff.; Fornasier, Freier Markt und zwingendes Vertragsrecht, S. 154 ff.; Leyens / Schäfer, AcP 2010, 772, 783 ff. Zu den unterschiedlichen Zielrichtungen – partielles Marktversagen wegen Informationsasymmetrie einerseits oder Schutz schwächerer Vertragsparteien andererseits – siehe auch Schulte-Nölke / Twigg-Flesner / Ebers: EC Consumer Law Compendium, S. 204. Die Schlussanträge der Generalanwältin Verica Trstenjak vom 29.10.2009, Rs. C-484/08 Caja de Ahorros y Monte de Piedad de Madrid ./. Asociación de Usuarios de Servicios Bancarios (Ausbanc), Slg. 2010 I-04785, Rn. 39 rechtfertigen den Eingriff in die Privatautonomie, den die Richtlinie vornimmt, hauptsächlich mit dem Ziel des Schwächerenschutzes. 28 Fornasier, Freier Markt und zwingendes Vertragsrecht, S. 161 f.
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braucherschutz nicht immer sicherstellen können: Je alltäglicher das Geschäft, je geringer sein Umfang, desto eher muss damit gerechnet werden, dass auch der verständige Durchschnittsverbraucher die ihm zur Verfügung gestellten Informationen überhaupt nicht zur Kenntnis nimmt. Umgekehrt erklärt sich hierdurch auch, dass und inwieweit die vertraglichen Hauptpflichten kontrollfrei bleiben können (Art. 4 Abs. 2 Klauselrichtlinie). Ebenfalls gut erklärbar ist mit der Begründung des partiellen Marktversagens die Überschneidung zwischen Missbräuchlichkeit und intransparenten bzw. überraschenden Klauseln: Der Verbraucher soll materiell vor unangemessener Benachteiligung geschützt werden, mit der er nicht rechnen musste, weil sie das vertragliche Gleichgewicht wesentlich verschiebt. 2. Die Generalklausel Die innerhalb des Unionsprivatrechts wohl bekannteste Verwendung des Begriffs von Treu und Glauben im Sekundärrecht findet sich in Art. 3 Abs. 1 der Klauselrichtlinie. Danach ist eine Vertragsklausel in allgemeinen Geschäftsbedingungen „als missbräuchlich anzusehen, wenn sie entgegen dem Gebot von Treu und Glauben zum Nachteil des Verbrauchers ein erhebliches und ungerechtfertigtes Missverhältnis der vertraglichen Rechte und Pflichten der Vertragspartner verursacht“.29
Im Ausgangspunkt besteht Einigkeit darüber, dass diese Bestimmung als Vorschrift des Unionsrechts autonom auszulegen ist und nicht etwa ins Recht der Mitgliedstaaten verweist.30 Klar ist auch, dass es sich hier um einen objektiven Maßstab von Treu und Glauben handelt.31 Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass das Erfordernis des ungerechtfertigten Missverhältnisses nur in der deutschen Richtlinienfassung vorhanden und damit eher zu vernachlässigen ist.32 Wie sogleich noch auszuführen sein wird, sind die beiden bestimmenden Kriterien für das zu treffende negative Werturteil33 über eine Klausel das erhebliche Missverhältnis einerseits und der Verstoß gegen das Gebot von Treu und Glauben andererseits. In diesem ist die fehlende Rechtfertigung
29 Engl. Fassung: „[…] unfair if, contrary to the requirement of good faith […]“. Frz. Fassung: „ […] abusive, lorsque, en dépit de l’exigence de bonne foi […]“. 30 Grundmann, Europäisches Schuldvertragsrecht, S. 263. 31 Alpa, A Glance at Unfair Terms in Italy and the United Kingdom, European Business Law Review 2004, 1123, 1128; Pfeiffer, in: Wolf / Lindacher / Pfeiffer, Art. 3 RL, Rn. 42. 32 Vgl. Pfeiffer, in: Grabitz/Hilf, Recht der EU, 40. A. 2009, Art. 3 Mißbrauchskontrolle Rn. 48, 62; Riesenhuber, EU-Vertragsrecht, S. 171 sieht im Kriterium des ungerechtfertigten Missverhältnisses einen Hinweis darauf, dass eine Kompensation durch andere Klauseln möglich sei. 33 Grundmann, in: Grundmann / Mazeaud, General clauses and standards in European contract law, S. 145.
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des erheblichen Missverhältnisses enthalten, so dass es sich dabei nicht um ein eigenständiges Kriterium handelt.34 a) Konkretisierungskriterien: Treu und Glauben und das erhebliche Missverhältnis Ob das „Gebot von Treu und Glauben“ und das „erhebliche und ungerechtfertigte Missverhältnis“ als kumulative Voraussetzungen zu verstehen sind oder beide Kriterien nicht doch austauschbar sind bzw. sich zumindest in wesentlichen Teilen überschneiden, ist nicht endgültig geklärt,35 spielt aber für Funktion und Konkretisierung des Begriffs in der Praxis keine entscheidende Rolle.36 Teilweise wird das eine, teils das andere Kriterium für das allein entscheidende gehalten.37 Allerdings scheint die Differenzierung vielmehr auch Pfeiffer, in: Wolf / Lindacher / Pfeiffer, Art. 3 RL, Rn. 62, der darauf hinweist, dass die fehlende Rechtfertigung daher in der Treuwidrigkeit enthalten sein müsse. Allerdings könne sie ihrerseits wiederum zur Auslegung von Treu und Glauben beitragen. 35 Ausführlich zum Verhältnis der beiden Kriterien zueinander sowie zur Gesetzgebungsgeschichte Nebbia, Unfair contract terms in European Law, S. 143 ff.; ebenfalls Kapnopoulou, Das Recht der missbräuchlichen Klauseln in der Europäischen Union, S. 113 ff., die darauf hinweist, dass das Gebot von Treu und Glauben in fast allen mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen bekannt sei, während das Missverhältnis „viel mehr als ein juristischer Begriff ein wirtschaftliches Ergebnis“ sei. Allerdings betont sie den Stellenwert des Missverhältnisses, der im Endeffekt höher sei als derjenige von Treu und Glauben (S. 116). Andererseits wiederum könne Treu und Glauben aber der entscheidende Maßstab für die Beurteilung dieser Missbräuchlichkeit sein, indem es gewissermaßen die Missbräuchlichkeit der einzelnen Klausel in den Gesamtkontext des Vertrages stellt (S. 118). Pfeiffer, in: Grabitz/Hilf, Recht der EU, 40. A. 2009, Art. 3 Mißbrauchskontrolle Rn. 52, 64 hält dagegen Treu und Glauben für entscheidender als das Missverhältnis und für das „zentrale Merkmal der Klauselkontrolle“; Tenreiro, ERPL 1995, 273, 279 hält Treu und Glauben nicht für ein zusätzliches Kriterium, sondern für eine Art Katalysator, der sowohl die Einbeziehung des nationalen Fallrechts ermögliche als auch als Fixpunkt für die Weiterentwicklung der Rechtsprechung zur Klauselkontrolle dienen könne. Eine Klausel, die ein erhebliches Missverhältnis verursache, verstoße aber stets auch gegen Treu und Glauben. 36 Für die entsprechende Frage im deutschen Recht siehe bereits im Jahre 1978 Kötz, in: MüKo-BGB (1. A. 1978), § 9 AGBG Rn. 3. Kötz weist darauf hin, dass das Gebot von Treu und Glauben insbesondere deshalb in die Vorschrift aufgenommen worden sei, um an die vorhandene Rechtsprechung zum AGB-Recht anzuknüpfen, die auf Grundlage von § 242 BGB ergangen war. Ob aber die Unangemessenheit einer Klausel sich aus dem Verstoß gegen Treu und Glauben ergebe oder umgekehrt, sei praktisch nicht relevant. 37 Vgl. etwa Kötz, in: MüKo-BGB (1. A. 1978), § 9 AGBG Rn. 2; Kapnopoulou, Das Recht der missbräuchlichen Klauseln in der Europäischen Union, S. 118. Heiderhoff, Grundstrukturen des nationalen und europäischen Verbrauchervertragsrechts, S. 345, geht davon aus, der EuGH habe in der Rs. C-240/98 Océano Grupo den Verstoß gegen Treu und Glauben und die Missbräuchlichkeit der Klausel synonym verwendet. Rybarz, Billigkeitserwägungen im Kontext des Europäischen Privatrechts, S. 38 bezeichnet Treu und Glauben als „das Kernstück des AGB-Rechts“, ohne jedoch die Frage der Abgrenzung zum erheblichen Missverhältnis zu thematisieren. 34
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dazu zu dienen, es den Mitgliedstaaten zu ermöglichen, die Klauselkontrolle vornehmlich anhand desjenigen Maßstabs durchzuführen, mit dem das jeweilige nationale Recht vertraut ist.38 Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auch darauf, dass die Klauselrichtlinie sich u. a. das Modell der deutschen AGB-Kontrolle zum Vorbild genommen hat, die wiederum auf Grundlage des Gebots von Treu und Glauben in § 242 BGB entwickelt worden war.39 Damit dürfte die Frage, welches von beiden Kriterien denn nun das praktisch wichtigere ist, nicht von entscheidender Bedeutung sein.40 Stoffel-Munck 41 hat für das französische Recht versucht, dem dort als alleiniges Kriterium in die Umsetzungsvorschrift des Art. 132-1 Abs. 1 Code de la consommation übernommen déséquilibre significatif der vertraglichen Rechte und Pflichten genauere Konturen zu verleihen. Er beklagt dabei, dass angesichts der Heterogenität der unterschiedlichen Rechte und Pflichten bereits unklar sei, welche man denn in eine solche Abwägung einstellen könne.42 Außerdem gebe es keine gemeinsame Bemessungsgrundlage für Vorund Nachteile aus unterschiedlichen Klauseln, so dass unklar bleibe, wie man nicht miteinander zusammenhängende Rechte und Pflichten denn zu bewerten habe. Eine Bewertung des wirtschaftlichen Wertes unterschiedlicher Klauseln könne der Richter nicht leisten. Daher, so Stoffel-Munck, habe die Rechtsprechung Unterkriterien der Missbräuchlichkeit herausgebildet43: Be38 Micklitz / Reich, CMLR 2014, 771, 785 berichten, die kumulative Verwendung beider Kriterien habe im Gesetzgebungsverfahren den Kompromiss zwischen den für Treu und Glauben plädierenden Deutschland und Frankreich einerseits und dem sich für das erhebliche Missverhältnis aussprechende England andererseits dargestellt. 39 Zimmermann / Whittaker, in: dies., Good faith in European contract law, S. 27, Fn. 116; eine umfassende Aufarbeitung der Gesetzgebungsgeschichte unter dem Gesichtspunkt der Konkretisierungskompetenz findet sich etwa bei Wolff, Die Verteilung der Konkretisierungskompetenz für Generalklauseln in privatrechtsgestaltenden Richtlinien, S. 206 ff. 40 Hinzuweisen ist auch darauf, dass der ursprüngliche Richtlinienvorschlag vier unabhängige Kriterien enthielt, von denen jedes für sich genommen bereits die Missbräuchlichkeit der fraglichen Vertragsklausel begründet hätte und von denen eines der Verstoß gegen Treu und Glauben war. Ausführlich zu Treu und Glauben in den unterschiedlichen Vorschlägen während des Gesetzgebungsverfahrens zur Klauselrichtlinie Tenreiro, ERPL 1995, 273, 274 ff., der die Änderungen darauf zurückführt, dass andernfalls wegen der Bedenken einiger Mitgliedstaaten Treu und Glauben in der Klauselrichtlinie nicht durchsetzbar gewesen wäre. 41 Stoffel-Munck, L’abus dans le contrat – Essai d’une théorie, S. 339 ff. 42 Stoffel-Munck nennt hier das Beispiel eines Fitnessclubs, bei dem sich der Betreiber eine einseitige Änderung der Öffnungszeiten vorbehalte und stellt dazu die Frage, ob man bei der Beurteilung dieser Klausel zu berücksichtigen habe, dass eine andere Klausel dem Kunden nach zehn im Klubrestaurant zu sich genommenen Mahlzeiten ein Freigetränk gewähre. 43 Diese beziehen sich allerdings zu einem großen Teil auf die Zeit vor Umsetzung der Klauselrichtlinie, wobei Stoffel-Munck auf letztere in seiner Untersuchung nur ganz am Rande eingeht.
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fugnisse zur einseitigen Abänderung von Vertragsbestimmungen,44 fehlende Gegenleistung für einen dem Gewerbetreibenden gewährten Vorteil45 sowie ungleiche Verteilung der vertraglichen Risiken.46 Mittlerweile hat der Europäische Gerichtshof in der Rs. Aziz 47 erkennen lassen, dass er zwischen der Prüfung des Vorliegens eines Missverhältnisses und des Verstoßes dieses Missverhältnisses gegen Treu und Glauben sehr wohl differenziert. Danach soll das Missverhältnis sich auf den Grad der Abweichung vom dispositivem Recht beziehen, während der Verstoß gegen Treu und Glauben danach zu beurteilen sein soll, ob der Unternehmer vernünftigerweise erwarten durfte, dass sich der Verbraucher in einer Individualvereinbarung auf eine solche Klausel einlässt. Nichtdestotrotz kann eine Trennlinie für die Zwecke dieser Untersuchung nicht so klar gezogen werden, dass auf das „Missverhältnis der vertraglichen Rechte und Pflichten“ nun nicht mehr einzugehen wäre. Zum einen gibt es nämlich weiterhin Aspekte, von denen nicht klar ist, ob sie nun unter die Frage des Missverhältnisses oder unter die des Treu und Glauben-Verstoßes fallen.48 Außerdem führen eben beide Kriterien zusammen zur „Missbräuchlichkeit“ einer Klausel, so dass die ganze Frage dem Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit unterfällt. Ein weiteres Indiz dafür, dass beide Kriterien mindestens teilweise deckungsgleich sein müssen, ist auch die Umsetzung in den Mitgliedstaaten, die die Europäische Kommission insoweit im Rahmen etwaiger Vertragsverletzungsverfahren unbeanstandet gelassen hat: Den Verstoß gegen das Gebot von Treu und Glauben haben nur dreizehn Mitgliedstaaten ausdrücklich umgesetzt, die Verursachung des erheblichen Missverhältnisses neunzehn Mitgliedstaaten.49 Dies spricht indiziell dafür, dass die beiden Kriterien nicht klar voneinander zu trennen sind, sondern im Hinblick auf eine Gesamtwürdigung der Missbräuchlichkeit einer Klausel zusammenwirken und größtenteils deckungsgleich sind. Andernfalls hätten ja diejenigen Mitgliedstaaten, die nur eines der beiden Kriterien umgesetzt haben, den Prüfungsmaßstab gewissermaßen halbiert. Auch wenn dies zur Folge hätte, dass AGB dann eher als missbräuchlich zu beurteilen wären, weil schon der Verstoß gegen eines der Stoffel-Munck, L’abus dans le contrat – Essai d’une théorie, S. 343–346. Stoffel-Munck, L’abus dans le contrat – Essai d’une théorie, S. 346–349. 46 Stoffel-Munck, L’abus dans le contrat – Essai d’une théorie, S. 349–362. 47 EuGH, 14.3.2013, Rs. C-415/11 Mohamed Aziz ./. Caixa d´Estalvis de Catalunya, Tarragona i Manresa, ECLI:EU:C:2013:164, Rn. 68 f. 48 Hierzu gehören etwa die Begleitumstände des Vertragsschlusses oder die Frage der Berücksichtigung der übrigen Klauseln im Rahmen einer Summierung bzw. Konsumierung der Missbräuchlichkeit. 49 Siehe dazu im Einzelnen Acquis-Principles, Rn. 4 zu Art. 6:301 (Bulgarien, Kroatien und Rumänien sind dort noch nicht berücksichtigt). Siehe auch Ebers, InDret 1/2012, 1, 21. Insgesamt zur Umsetzung der Klauselrichtlinie in den Mitgliedstaaten siehe SchulteNölke / Twigg-Flessner / Ebers, EC Consumer Law Compendium, S. 205 ff. 44 45
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Kriterien ausreicht, wäre eine solche Halbierung des Prüfungsmaßstabs im Hinblick auf das Harmonisierungsziel der Richtlinie sehr fragwürdig. b) Konkretisierungszuständigkeit Bei der Anwendung der Generalklausel stellen sich nun zwei zentrale Fragen, die in dieser Form nur im Mehrebenensystem des Unionsprivatrechts auftauchen: Wer soll letztverbindlich zur praktischen Ausfüllung dieser Generalklausel berufen sein, und auf welcher materiellen Grundlage soll dies geschehen? Maßstab für die Beurteilung des Vorliegens eines Missverhältnisses soll zunächst der Grad der Abweichung vom sonst anwendbaren, dispositiven Recht sein, was sich zumindest im Umkehrschluss aus Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie ergibt.50 Dieses Recht wird in den meisten Fällen nationales Recht sein, was die Herausbildung eines einheitlichen Kontrollstandards erschweren könnte. Es stellt sich allerdings die Frage, ob nicht immerhin ein Mindeststandard – und die RL 93/13 ist ja nur mindestharmonisierend – auch ohne Rückgriff auf möglicherweise divergierende Regeln des nationalen Rechts herausgebildet werden kann. Ein solcher Standard könnte sich je nach betroffenem Klauseltyp etwa aus allgemeinen Grundsätzen des EU-Rechts, aus Grundsätzen des Unionsprivatrechts, ggf. in Verbindung mit der Liste im Richtlinienanhang, oder auch aus Rechtsvergleichung ergeben, soweit diese zu dem Ergebnis kommt, dass die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen in der jeweiligen Frage keine so wesentlichen Abweichungen aufweisen, dass diese einer einheitlichen Beurteilung der betreffenden Klausel im Wege stehen würden. Mit dieser Frage eng verwoben ist die Frage danach, wer zur Festlegung dieses Kontrollmaßstabs letztlich berufen sein soll. Ausgangspunkt dieser Überlegungen kann nur sein, dass das Monopol für die autonome und einheitliche Auslegung des sekundären Unionsrechts nach Art. 267 AEUV beim Europäischen Gerichtshof liegt. Auch dem Gesetzgeber war bewusst, dass das Harmonisierungsziel der Richtlinie nur erreicht werden kann, wenn der Europäische Gerichtshof ihre Generalklausel zumindest teilweise unionsautonom füllt.51 So hatte im Gesetzgebungsverfahren der Wirtschafts- und Sozialausschuss in seiner Stellungnahme darauf hingewiesen, dass er „die wichtige Rolle in Betracht gezogen [habe], die dem Europäischen Gerichtshof im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens bei der Fortentwicklung der gemeinschaftsrechtlichen Definition des Begriffes ‚Mißbrauch‘ zukommt.“ 52
So auch Schillig, Konkretisierungskompetenz und Konkretisierungsmethoden im Europäischen Privatrecht, S. 248. 51 So auch Wolff, Die Verteilung der Konkretisierungskompetenz für Generalklauseln in privatrechtsgestaltenden Richtlinien, S. 105 (grundsätzliche Auslegungs- und Konkretisierungskompetenz des EuGH bei Generalklauseln in Richtlinien). 50
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Hinzuweisen ist auch darauf, dass die Wahl einer Generalklausel durch den Gesetzgeber als solche keineswegs darauf hindeutet, dass nur ein geringes Maß an Rechtsvereinheitlichung beabsichtigt wäre. Vielmehr ist dies – wie es dem Zweck einer Generalklausel entspricht – der Tatsache geschuldet, dass sich die Vielzahl möglicher Einzelfälle (hier: Vertragsklauseln) nicht im Vorhinein abschließend regeln lässt.53 Der Gerichtshof macht aber auch sonst zu Generalklauseln und unbestimmten Begriffen detaillierte Vorgaben.54 Gegen eine Konkretisierungszuständigkeit des Gerichtshofs wird hauptsächlich vorgebracht, Referenzmaßstab für die Missbräuchlichkeit sei der Grad der Abweichung vom dispositiven Recht. Dieses sei aber regelmäßig nationales Recht, das vom EuGH nicht ausgelegt werden könne; es gebe somit keinen einheitlichen Vergleichsmaßstab.55 Diesem Argument ist entgegenzuhalten, dass das anwendbare nationale Recht vom vorlegenden Gericht vorzutragen ist. Der Gerichtshof ist damit keineswegs daran gehindert, die Generalklausel etwa dahingehend auszulegen, dass bestimmte Klauseln vor dem Hintergrund einer bestimmten Regelung im nationalen Recht missbräuchlich sind. Er würde damit nicht das nationale Recht auslegen, sondern einen bestimmten Regelungsgehalt des nationalen Rechts als gegeben voraussetzen.56 Gerichte anderer Mitgliedstaaten hätten dann Gelegenheit, bei Vorliegen einer vergleichbaren Klausel zu prüfen, ob ihr nationales Recht im Wesentlichen denselben Regelungsgehalt hat, vor dessen Hintergrund der Gerichtshof die betreffende Klausel für missbräuchlich erklärt hat, und die Entscheidung dann zu übertragen. Damit wäre eine Harmonisierung des euEuropäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss, Stellungnahme zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über mißbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen, 91/C 159/13, ABl. 1991 C 159/34 (35) unter 2.1.6. 53 So auch Henkel, Inhaltskontrolle von Finanzprodukten nach der Richtlinie 93/13/EWG des Rates über mißbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen, S. 408 f. 54 Siehe nur die Rechtsprechung zur Anwendung nationaler Rechtsmissbrauchsverbote auf das Unionsrecht (unten S. 220 ff.). Auch soweit unbestimmte Rechtsbegriffe vom EuGH noch nicht auslegt worden sind, wird ihre Auslegung vom Gerichtshof selbstverständlich erwartet, ohne die Frage von „Konkretisierungskompetenzen“ überhaupt anzusprechen – siehe etwa die Schlussanträge der Generalanwältin Juliane Kokott vom 28.2.2013 in der Rs. C-32/12 Soledad Duarte Hueros ./. Autociba SA und Automóviles Citroen España SA, ECLI:EU:C:2013:128, Rn. 57, zum Begriff der „geringfügigen Vertragswidrigkeit“ nach der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie (unten Kapitel 2 Fn. 865). 55 Vgl. Franzen, Privatrechtsangleichung durch die Europäische Gemeinschaft, S. 539; Canaris, EuZW 1994, 417; Heiderhoff, WM 2003, 509, 511; Roth, Herbert, JZ 1999, 529, 535. 56 So auch Coester, in: Heldrich / Schlechtriem / Schmidt, Festschrift für H. Heinrichs, S. 99, 105, der ausführt, der EuGH dürfe zwar den nationalen Regelungskontext nicht außer Acht lassen, jedoch werde dieser dadurch „nicht Gegenstand der Überprüfung durch den EuGH, sondern gehört zu den notwendigen sachverhaltlichen Vorgaben, anhand derer die autonome Konkretisierung der gemeinschaftsrechtlichen Wertungen zu erfolgen hat.“ 52
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ropäischen Grundsatzes von Treu und Glauben möglich, ohne dass hiermit eine Vereinheitlichung des nationalen Vertragsrechts „durch die Hintertür“ erfolgen würde. Eine bestimmte Klausel wäre ja nach dem unionalen Standard von Treu und Glauben immer nur dann und insoweit missbräuchlich, wie das nationale Recht einen im Wesentlichen gleichen Regelungsgehalt aufweist wie das dem jeweiligen Vorabentscheidungsverfahren zugrundeliegende nationale Recht. Teilweise wird auch argumentiert, die Konkretisierung unbestimmter Rechtsbegriffe sei sogar bei vollharmonisierenden Richtlinien Sache der Mitgliedstaaten, soweit nicht die Richtlinie selbst Vorgaben für die Konkretisierung enthalte.57 Diese Ansicht verkennt, dass das Gebot autonomer Auslegung immer gilt. Eine diesbezügliche Unterscheidung zwischen „bestimmten“ und „unbestimmten“ Rechtsbegriffen bzw. Generalklauseln ist nicht vorgesehen und schon deshalb nicht praktikabel, weil sie nicht trennscharf getroffen werden kann.58 Jeder Rechtsbegriff, der in irgendeiner Weise auslegungsbedürftig ist – und der Klärung solcher Fragen dient ja das Vorabentscheidungsverfahren – ist auch „unbestimmt“. Eine Ausnahme kann gelten, soweit nicht nur der entsprechende Rechtsakt, sondern der Acquis insgesamt und auch die gemeinsamen Rechtstraditionen der Mitgliedstaaten keinerlei Wertungen enthalten, die dem EuGH die autonome Auslegung eines Begriffes ermöglicht. Das kann bei der Generalklausel der RL 93/13 der Fall sein, wenn eine Klausel Bereiche des dispositiven Vertragsrechts berührt, in denen das Unionsrecht keine Aussagen trifft und das Recht der Mitgliedstaaten stark zersplittert ist. Die Feststellung, dass dies im jeweiligen Einzelfall zutrifft, ist aber ebenfalls Sache des Gerichtshofs.59 Viel eingehender soll die vor allem bei Erlass der Richtlinie und dann wieder nach den EuGH-Urteilen in den Rechtssachen Océano und Freiburger Kommunalbauten geführte Diskussion mit den Fürsprechern der auch hier vertretenen, weitestmöglich autonomeuropäischen Konkretisierung durch den EuGH auf der einen60 und den GeHerresthal, in: Hahn, Gemeinsames Europäisches Kaufrecht, S. 83, 94 f. So auch Basedow, Nationale Justiz und Europäisches Privatrecht – Eine Vernetzungsaufgabe, S. 10, der eine solche Unterscheidung für „weder möglich noch sachgerecht“ bezeichnet. 59 Basedow, in: MüKo BGB, Vorbemerkung § 305 BGB, Rn. 29; Coester, in: Heldrich / Schlechtriem / Schmidt, Festschrift für H. Heinrichs, S. 99, 105 f. 60 Für eine autonome Konkretisierung der Generalklausel der RL 93/13 durch den Europäischen Gerichtshof sind eingetreten Basedow, in: Pfeiffer / Kummer / Scheuch, Festschrift für H. E. Brandner, S. 651 ff., 680 f.; ders., AcP 210 (2010), 157, 172 ff.; ders., in: MüKo BGB, Vorbemerkung § 305 BGB, Rn. 29; Müller-Graff, in: Gemeinsames Privatrecht in der Europäischen Gemeinschaft, S. 9, 56 f.; Coester, in: Heldrich / Schlechtriem / Schmidt, Festschrift für H. Heinrichs, S. 99, 104 ff.; Nasall, WM 1994, 1645, 1650 ff; ders., JZ 1995, 689, 690 f. (mit der Einschränkung, dass eine unionsautonome Konkretisierung nur in den Grenzen des Subsidiaritätsprinzips stattfinden könne); von Vogel, Verbrauchervertragsrecht und allgemeines Vertragsrecht, S. 167 f.; Henkel, Inhaltskontrolle von 57 58
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genstimmen auf der anderen Seite61 hier nicht aufgearbeitet werden.62 Vielmehr werden die entsprechenden Argumente bei der Analyse der neueren Finanzprodukten nach der Richtlinie 93/13/EWG des Rates über mißbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen, S. 406 „[…] jedenfalls soweit es einzelfallunabhängige gemeinschaftsweite Grundgedanken und Leitlinien gibt […].“ Klauer, Die Europäisierung des Privatrechts, S. 140 sieht „[…] schwierige Grauzonen […]“ zwischen der in der Praxis nur möglichen Entscheidung der meisten AGB-rechtlichen Fragen durch nationale Gerichte und dem Erfordernis, dem EuGH Gelegenheit zur Entwicklung „[…] europäische[r] Leitlinien für die Inhaltskontrolle […]“ zu geben, „[…] um das Ziel der Richtlinie zu verwirklichen, einen einheitlichen, europäischen Prüfungsmaßstab durchzusetzen.“ Klauer will dies so auflösen, dass jedenfalls dann vorzulegen sei, wenn die im jeweiligen Mitgliedstaat gewählte Lösung vom Richtlinienanhang abweicht, wenn ein grenzüberschreitender Sachverhalt vorliegt oder wenn Divergenzen zwischen der Rechtsprechung der höchsten Gerichte der Mitgliedstaaten bestehen. Siehe ebenfalls Grundmann, Europäisches Schuldvertragsrecht, S. 263: „In jedem Fall sind gerade die in der Generalklausel verwandten Begriffe gemeinschaftsrechtlich-autonom auszulegen.“ Des Weiteren treten für eine autonome Konkretisierung ein: Riesenhuber, Europäisches Vertragsrecht, S. 260 f.; Wurmnest, in: MüKo BGB, § 307 Rn. 25 ff.; Markwardt, Die Rolle des EuGH bei der Inhaltskontrolle vorformulierter Verbraucherverträge, S. 97 ff., 110 f.; Kapnopoulou, Das Recht der missbräuchlichen Klauseln in der Europäischen Union, S. 115 f.; eine Konkretisierungsbefugnis des EuGH hinsichtlich des Begriffs „Treu und Glauben“ selbstverständlich voraussetzend auch der ehemalige Generalanwalt van Gerven, ERPL 1995, 367, 372, 374 f.; Weatherill, ERPL 1995, 307, 316 ff. will die Generalklausel und einzelne Fallgruppen aus dem Anhang vor allem unter Bezugnahme auf das Vertrauen bzw. die berechtigten Erwartungen der Verbraucher in ein redliches Verhalten ihrer Vertragspartner („consumer confidence“) durch den Gerichtshof konkretisiert wissen. 61 Eine Konkretisierungsbefugnis des EuGH verneinend Roth, Wulf-Henning, in: Basedow / Hopt / Kötz, Festschrift für U. Drobnig, S. 135, 141, 143. Franzen, Privatrechtsangleichung durch die Europäische Gemeinschaft, S. 539, hält das Vorabentscheidungsverfahren zur Konkretisierung von Generalklauseln grundsätzlich für ungeeignet, da diese als Auftrag zur richterlichen Rechtsfortbildung im Einzelfall gerade anhand der jeweils individuellen Fallkonstellation auszufüllen seien; zudem verhindere – so Franzen (S. 557 f.) – das Fehlen eines unionseinheitlichen Schuldrechts als Vergleichsmaßstab die Möglichkeit einer autonomen Auslegung der Generalklausel ohnehin. Canaris, EuZW 1994, 417 malt das Bild vom EuGH als „privatrechtlicher Superrevisionsinstanz“ und plädiert für Beschränkungen der Prüfungskompetenz des EuGH insbesondere bei der Konkretisierung von Generalklauseln. Roth, Herbert, JZ 1999, 529, 536 f., bezeichnet Vorlagen zu dieser Frage als „zweckwidrig“ und äußert die Befürchtung, andernfalls könne die „[…] pointilistische Rechtsangleichung zum unkontrollierbaren Flächenbrand für die Systemgerechtigkeit einer ganzen Kodifikation […]“ werden. 62 Differenzierend, aber im Ergebnis eher gegen eine Konkretisierungszuständigkeit des EuGH auch Heinrichs, NJW 1996, 2190, 2196 f., der allerdings dann eine Ausnahme machen will und eine Vorlagepflicht bejaht, wenn „[…] ein Grundsatz des Gemeinschaftsrechts zu berücksichtigen ist […]“, was aber nicht weiter ausgeführt wird. Siehe auch Wolff, Die Verteilung der Konkretisierungskompetenz für Generalklauseln in privatrechtsgestaltenden Richtlinien, S. 204 ff., die zwar die richtlinieneigenen Definitionselemente in Art. 4 Abs. 1 und im 16. Erwägungsgrund sowie die Klarstellung in Art. 8, dass es eine verbindliche unionale Untergrenze der Klauselkontrolle geben muss, für Indizien für eine
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Rechtsprechung zur Sprache kommen, soweit diese für den Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit relevant sind. 3. Konkretisierungsmaßstab Unter dem Konkretisierungsmaßstab werden hier materielle Anhaltspunkte für die Auslegung der Generalklausel verstanden. Zunächst soll – noch losgelöst von der hierzu ergangenen Rechtsprechung – aufgezeigt werden, welche Konkretisierungselemente die Richtlinie selbst enthält, anhand derer die Auslegung der Generalklausel potentiell vorgenommen werden könnte. Vorweggenommen werden kann hier, dass die Verschiebung der vertraglichen Rechte und Pflichten durch AGB im klassischen Sinne verhältnismäßig sein muss, also maßvoll-angemessen und einen legitimen Zweck verfolgend.63 Anschließend wird darauf eingegangen, welches Konzept des Grundsatzes von Treu und Glauben der Europäische Gerichtshof in seinen bisherigen Entscheidungen entworfen hat. Schlussendlich werden Perspektiven aufgezeigt und Vorschläge gemacht, wie eine Mindestharmonisierung des Rechts der Klauselkontrolle in Zukunft besser gelingen könnte. a) Generell-abstrakter oder individuell-konkreter Maßstab? Zusätzlich zur Definition von missbräuchlichen Klauseln in Art. 3 Abs. 1 schreibt Art. 4 Abs. 1 folgende Vorgehensweise bei der Feststellung der Missbräuchlichkeit vor: „Die Mißbräuchlichkeit einer Vertragsklausel wird unbeschadet des Artikels 7 unter Berücksichtigung der Art der Güter oder Dienstleistungen, die Gegenstand des Vertrages sind, aller den Vertragsabschluß begleitenden Umstände sowie aller anderen Klauseln Konkretisierungskompetenz des EuGH hält. Stärkeres Gewicht misst sie jedoch der Ausnahme in Art. 1 Abs. 2 und der Unverbindlichkeit der Liste im Richtlinienanhang zu (S. 207 ff.). Daraus zieht Wolff insgesamt den Schluss, dass die „Regelungsintensität des Mißbräuchlichkeitsmaßstabs“ nur „einen bescheidenen Harmonisierungsgrad“ erfordere und somit die Konkretisierung der Generalklausel „weitgehend“ den nationalen Gerichten überlassen sei (S. 209). Roth, Wulf-Henning, Europäisches Recht und nationales Recht, in: Heldrich / Hopt, 50 Jahre Bundesgerichtshof, Band II, S. 847, 876 ff. differenziert insoweit, als er Generalklauseln und unbestimmte Rechtsbegriffe insoweit der Konkretisierungskompetenz des EuGH unterstellt wissen will, als diese den Anwendungsbereich einer Richtlinie bestimmen oder soweit sie „parallel im Verordnungsrecht der Gemeinschaft Verwendung finden“. Darüber hinaus legt Roth sich nicht fest, so dass unklar ist, ob er im Übrigen grundsätzlich von einer Konkretisierungszuständigkeit der nationalen Gerichte ausgeht. 63 So auch Grundmann, in: Grundmann / Mazeaud, General clauses and standards in European contract law, S. 145, der von der Unterscheidung zwischen einer erheblichen Abweichung vom dispositiven Recht ohne Ausgleich einerseits und einer „angemessenen Anpassung der dispositivgesetzlichen Lösung an die besonderen Bedürfnisse des jeweiligen Geschäftsbereichs“ andererseits spricht. (Übersetzung des Zitats durch Verf.)
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desselben Vertrages oder eines anderen Vertrages, von dem die Klausel abhängt, zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses beurteilt.“
Die Klauselrichtlinie weist eine gewisse Zwiespältigkeit zwischen generellabstrakter und individuell-konkreter Klauselkontrolle auf, die sich nicht endgültig auflösen lässt. Die Frage ist jedoch auch für die materielle Beurteilung des Maßstabs von Treu und Glauben und für die Frage der sogenannten Konkretisierungskompetenzen von großer Bedeutung und soll daher vorab erörtert werden. Nationale, oftmals höchstrichterliche Rechtsprechung hat einen großen Bestand an Fallrecht zu verschiedenen Bereichen geschaffen, das bestimmte Klauseln in bestimmten Vertragstypen völlig unabhängig von den Umständen des Einzelfalles für unwirksam erklärt.64 Der umfangreiche Bestand an Rechtsprechung zeigt, dass es jedenfalls bei einem Großteil der verwendeten Klauseln möglich sein muss, sie unabhängig von einer individuellkonkreten Betrachtung des jeweiligen Sachverhalts für missbräuchlich zu erklären und diese Beurteilung zudem als Rechts- und nicht als Tatfrage von den höchsten nationalen Gerichten entscheiden zu lassen. Die Klauselrichtlinie ist hier etwas unentschieden. In den Anwendungsbereich der Richtlinie fallen ja gerade solche Vertragsklauseln, die „im voraus abgefaßt“ wurden und somit Bestandteil eines „vorformulierten Standardvertrags“ sind (Art. 3 Abs. 2). Das bedeutet auch, dass der Gesetzgeber sich bewusst gewesen sein muss, dass es in sehr vielen Fällen keine echten, individuellen Begleitumstände des Vertragsschlusses gibt, sondern es sich vielmehr um typische Massengeschäfte handelt, denen allenfalls allgemeingültige, stets vergleichbare Begleitumstände zugeordnet werden können. Art. 4 Abs. 1 nennt drei Faktoren, die bei der Beurteilung der Missbräuchlichkeit einer Vertragsklausel zu berücksichtigen sind. Hierzu gehören die Begleitumstände des Vertragsschlusses, die sich im ersten Zugriff als ein individuell-konkretes Kriterium darstellen, das im Rahmen von Vorlagefragen beim EuGH schlecht abgefragt werden kann. Ihre Bedeutung ist aber eher gering geblieben und auch dieses Kriterium lässt sich zudem in gewisser Weise generalisieren, etwa weil bestimmte Vertragsformen stets unter vergleichbaren Begleitumständen abgeschlossen werden.65 Teilweise ist auch 64 Vgl. für Deutschland nur Grabitz / Hilf, AGB-Recht, 5. Teil mit einer Zusammenstellung der Rechtsprechung zu verschiedenen Bereichen auf über eintausend Seiten; in Frankreich gibt es sowohl eine richterliche wie auch eine administrative Kontrolle missbräuchlicher Klauseln durch die Commission des clauses abusives, deren zahlreiche Beschlüsse und Empfehlungen, ebenso wie die nationale Rechtsprechung, unter abzurufen sind. 65 So wird bspw. ein Immobilienkreditvertrag, der der Finanzierung eines Eigenheimes dient, häufig unter Umständen geschlossen werden, die für den Kreditnehmer durch einen gewissen Zeitdruck und durch die Hoffnung geprägt sein werden, den Kredit überhaupt zu bestimmten Konditionen zu bekommen. Hier dürfte also oft eine Position überlegener Verhandlungsmacht vorliegen, die den Kreditnehmer dazu bewegen wird, die AGB
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spekuliert worden, ob nicht während des Gesetzgebungsverfahrens vergessen wurde, dieses Kriterium zu streichen, das möglicherweise nur für die vom ursprünglichen Richtlinienvorschlag umfassten Individualverträge sinnvoll war.66 Andernfalls sei nämlich „die Ausarbeitung wirksamer AGB praktisch unmöglich“,67 weil sie dann nicht mehr einheitlich für alle Vertragspartner denselben Inhalt haben könnten und eine entsprechende einheitliche Rechtsprechung zu AGB damit auch obsolet wäre.68 Damit sei die Einbeziehung der Umstände des Vertragsschlusses („konkret-individuelle Betrachtungsweise“) auf Individualvertragsklauseln zu beschränken. Zweitens wird die Rolle anderer Klauseln in Art. 4 Abs. 1 ebenfalls ausdrücklich als zu berücksichtigender Gesichtspunkt erwähnt. Auch dieser Aspekt schränkt die Möglichkeit, bestimmte Klauseln generell für missbräuchlich zu erklären, ggf. etwas ein, schließt sie aber nicht aus. Denkbar sind hier grundsätzlich ein Summierungseffekt und ein Kompensationseffekt der im Zusammenspiel mit den übrigen Klauseln eintritt.69 Der dritte Aspekt – die Art der Güter und Dienstleistungen – bezieht sich ohnehin nicht hauptsächlich auf den individuellen Fall, sondern eher auf den jeweiligen Vertragstyp. schlicht hinzunehmen, selbst wenn er sie liest und nicht unbedingt gutheißt, solange er die gewünschte Hauptleistung zu annehmbaren Konditionen erhält. Dagegen dürfte etwa der Kauf einer CD oder die Buchung eines Fluges im Internet unter Umständen stattfinden, in denen es sich für den Verbraucher zeitlich schlicht nicht lohnt, neben dem möglicherweise stattfindenden Vergleich der Leistungen und Preise auch noch die AGB verschiedener Anbieter zu vergleichen. Hier liegt also eher eine Situation eines Informations- und Motivationsgefälles vor, das zu partiellem Marktversagen führt. Beide beschriebenen Begleitumstände sind aber bis zu einem gewissen Grad typisierbar. 66 Grundmann, Europäisches Schuldvertragsrecht, S. 265: „[…] fehlerhaft tradierter Rest der Kommissions-Vorschläge ist, in denen die Kontrolle von Individualverträgen geregelt war […].“ Ebenso Remien, ZEuP 1994, 34, 55. Zur Entstehungsgeschichte der Klauselrichtlinie als Kompromiss zwischen der im ursprünglichen Vorschlag vorgesehenen Kontrolle aller Verbraucherverträge und der in Deutschland geltenden Beschränkung auf für eine Vielzahl von Verträgen vorformulierte Vertragsbedingungen Drexl, Die wirtschaftliche Selbstbestimmung der Verbrauchers, S. 344 ff. Zum scheinbaren Widerspruch zwischen dem objektiven Ansatz der Inhaltskontrolle und der Berücksichtigung der Begleitumstände des Vertragsschlusses ders., S. 354 f. Drexl kommt zu dem Schluss, letztere sei eigentlich nicht Bestandteil der Inhaltskontrolle, sondern stelle „eine besondere Form der Einbeziehungskontrolle“ dar. 67 Schmidt, Martin, Konkretisierung von Generalklauseln im europäischen Privatrecht, S. 245. 68 Dem kann man allerdings entgegenhalten, dass dieses Argument nur gilt, wenn sich der Steller der AGB ganz am unteren Rand des abstrakt-generell gerade noch zulässigen Klauselinhalts bewegen möchte. Außerdem sind im Massengeschäft die Umstände des Vertragsschlusses ja typischerweise auch durchgehend sehr ähnlich. 69 Diese Fragen hat der Gerichtshof mittlerweile auf abstrakter Ebene zum Teil beantwortet. Danach ist die Rolle anderer Klauseln grundsätzlich zu berücksichtigen, siehe unten Kapitel 2 ab Fn. 253.
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Damit bleibt festzuhalten, dass die Richtlinie zwar im Einzelfall einen individuell-konkreten Maßstab der Klauselkontrolle zulässt, dass sie von ihrem Kontrollansatz her aber grundsätzlich vom Leitbild einer generell-abstrakten Klauselkontrolle ausgeht, bei der eine bestimmte Klausel in einem bestimmten Regelungsumfeld unabhängig von Umständen des Einzelfalls für missbräuchlich erklärt werden kann. Dafür sprechen im Übrigen auch der 15. Erwägungsgrund und die Möglichkeit einer Klauselkontrolle auf Veranlassung von Verbraucherverbänden in Art. 7 Abs. 2.70 b) Formelles und materielles Missverhältnis sowie Transparenz Aus den AGB des Zahlungsdienstleisters PayPal: „1.4 Abtretung. Sie dürfen keinerlei Rechte oder Verpflichtungen, die Ihnen aus diesen Nutzungsbedingungen entstehen, ohne die vorherige schriftliche Zustimmung von PayPal übertragen oder abtreten. PayPal behält sich vor, diesen Vertrag oder daraus entstehende Rechte und Pflichten ohne Ihre vorherige Zustimmung zu übertragen oder abzutreten.“71
Eine weitere mögliche Differenzierung, die die Annährung an die Konkretisierung der Generalklausel erleichtern kann, ist die zwischen formellem und materiellem Missverhältnis der vertraglichen Rechte und Pflichten.72 Ersteres stellt die Frage dar, ob eine Klausel gewissermaßen symmetrisch ist, also eine Verschiebung der vertraglichen Rechte und Pflichten für beide Parteien gleichermaßen vorsieht. Das eingangs zitierte Beispiel begründet offensichtlich ein formelles Missverhältnis, weil es für die Unternehmerseite ausdrücklich Gestattungen und für die Verbraucherseite spiegelbildliche Verbote vorsieht. Das formelle Missverhältnis kann aber immer nur ein erstes Indiz ein. Entscheidend ist das materielle Missverhältnis, das aus dem formellen Missverhältnis folgen kann, aber nicht zwingend muss. Dieses besteht in einer Interessenbewertung. Dabei wird das materielle Missverhältnis z. T. noch weiter in ein informationelles und ein inhaltliches unterteilt. Das informationelle Missverhältnis soll darin bestehen, dass etwa gegen das Transparenzgebot verstoßen und damit eine Vertragspartei über ihre Rechte und Pflichten im Unklaren gelassen wird.73 Das inhaltliche Missverhältnis bemesse sich dann nach dem Grad der Abweichung vom dispositiven Recht.74 Diese Unter-
Hierzu sogleich S. 97. Aus: PayPal-Nutzungsbedingungen, Stand 19. Dezember 2012, abrufbar unter . 72 Siehe Pfeiffer, in: Grabitz/Hilf, Recht der EU, Art. 3 Mißbrauchskontrolle Rn. 53; ders., in: Wolf / Lindacher / Pfeiffer, Art. 3 RL, Rn. 53 ff. 73 Pfeiffer, in: Grabitz / Hilf, Recht der EU, Art. 3 Mißbrauchskontrolle Rn. 54. 74 Ähnlich unterscheidet Guillen, Die Kriterien der Mißbräuchlichkeit in der EG-Richtlinie über mißbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen, VuR 1994, 309, 311 ff., zwischen formeller und materieller Missbräuchlichkeit: Erstere sei gegeben, wenn gegen das 70 71
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teilungen lösen nicht alle Fragen, sie sind aber als Grundgerüst hilfreich. Insbesondere stellt sich hier auch schon die Frage nach dem Verhältnis von Generalklausel und Transparenzgebot, das nach herrschender Auffassung ein besonderes Kriterium der Missbrauchskontrolle darstellt.75 Das Transparenzgebot bzw. die Frage des informationellen Missverhältnisses lässt sich wiederum aufteilen in Klarheit und Verständlichkeit. Klarheit bedeutet, dass die Klausel in ihren Tatbestandsvoraussetzungen und ihrer Wirkung eindeutig formuliert ist, so dass der Verbraucher die Bedeutung der Klausel für sich absehen kann. Verständlichkeit bedeutet, dass der Verbraucher die Klausel überhaupt wahrnehmen und lesen können muss.76 Der Gedanke, dass ein Verstoß gegen das Transparenzgebot als Verstoß gegen Treu und Glauben bewertet werden kann, ergibt sich auch aus Art. 4 Abs. 2 sowie aus Buchstabe i) in Abs. 1 des Anhangs der Klauselrichtlinie.77 c) Erwägungsgründe Die Erwägungsgründe78 15 bis 20 geben Anhaltspunkte für die Beurteilung der Missbräuchlichkeit. Diese gehen teilweise nicht über den Wortlaut der verbindlichen Vorschriften hinaus, teilweise geben sie aber durchaus zusätzliche Hinweise für deren Auslegung. So stellt etwa der 15. Erwägungsgrund fest: „Die Kriterien für die Beurteilung der Mißbräuchlichkeit von Vertragsklauseln müssen generell festgelegt werden.“
Dies kann zumindest als Absichtserklärung dahingehend gedeutet werden, dass bestimmte Klauseltypen immer – unabhängig von den Umständen des Einzelfalls – für missbräuchlich erklärt werden können. Eine Möglichkeit der generell-abstrakten Klauselkontrolle setzt die Richtlinie offenbar zudem voraus, wenn sie in Art. 7 Abs. 2 abstrakte Kontrollverfahren auf Initiative von Transparenzgebot verstoßen werde, letztere wenn das materielle Gleichgewicht unangemessen verschoben werde. 75 Guillen, VuR 1994, 309, 312. Siehe auch die Schlussanträge der Generalanwältin Verica Trstenjak vom 13.9.2012, Rs. C-92/11 RWE Vertrieb AG ./. Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen e.V., ECLI:EU:C:2012:566, Rn. 62 f. (eingehend unten Kapitel 2 ab Fn. 275). Nasall, JZ 1995, 689, 692 hat bereits früh das Transparenzgebot aus dem verbraucherrechtlichen Acquis abgeleitet und als wichtigsten unionsrechtlichen Wertmaßstab bei der Klauselkontrolle identifiziert. A. A. etwa Trillmich, Klauselkontrolle nach spanischem Recht im Vergleich mit der Klauselrichtlinie 93/13/EWG, S. 275 („kein systematischer Zusammenhang“ zwischen Transparenzgebot und Inhaltskontrolle). 76 Micklitz, in: Micklitz / Reich, Europäisches Verbraucherrecht, S. 508 f. 77 European Commission, The ‘Unfair Terms’ Directive, Five Years On, Evaluation and future perspectives, Brussels Conference, 1.–3.7.1999, S. 132. 78 Zum Stellenwert der Erwägungsgründe (Art. 296 Abs. 2 AEUV spricht von „Begründung“) vgl. Köndgen, in: Riesenhuber, Europäische Methodenlehre, S. 150; diese seien „Richtschnur für jede teleologische Interpretation“ und „die ‚begründungserwägungskonforme‘ Auslegung des Richtlinientextes striktes Gebot für den Anwender“.
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Verbraucherverbänden vorsieht oder in ihrem Anhang Klauseln aufführt, die auch unabhängig vom Einzelfall eine Einstufung als missbräuchlich nach sich ziehen können.79 Die Funktion des Grundsatzes von Treu und Glauben wird insbesondere vom 16. Erwägungsgrund erläutert: „Die nach den generell festgelegten Kriterien erfolgende Beurteilung der Mißbräuchlichkeit von Klauseln […] muß durch die Möglichkeit einer globalen Bewertung der Interessenlagen der Parteien ergänzt werden. Diese stellt das Gebot von Treu und Glauben dar. Bei der Beurteilung von Treu und Glauben ist besonders zu berücksichtigen, welches Kräfteverhältnis zwischen den Verhandlungspositionen der Parteien bestand, ob auf den Verbraucher in irgendeiner Weise eingewirkt wurde, seine Zustimmung zu der Klausel zu geben, und ob die Güter oder Dienstleistungen auf eine Sonderbestellung des Verbrauchers hin verkauft bzw. erbracht wurden. Dem Gebot von Treu und Glauben kann durch den Gewerbetreibenden Genüge getan werden, indem er sich gegenüber der anderen Partei, deren berechtigten Interessen er Rechnung tragen muß, loyal und billig verhält.“
Dies liest sich so, als sei zwischen der generellen Beurteilung der Missbräuchlichkeit in Gestalt des Missverhältnisses einerseits und dem Verstoß gegen Treu und Glauben als individuelle Komponente andererseits zu unterscheiden. Das Gebot von Treu und Glauben stellt danach eine „Möglichkeit einer globalen Bewertung der Interessenlagen der Parteien“ dar, die insbesondere unter Berücksichtigung der soeben zitierten Aspekte erfolgt, sobald die generelle Bewertung abgeschlossen ist. Fragen nach dem Kräfteverhältnis oder nach einer Einwirkung auf den Verbraucher deuten aber eher auf individuell ausgehandelte Klauseln hin, die im ersten Richtlinienentwurf ja vom Anwendungsbereich noch mit umfasst waren. Bei vorformulierten Klauseln ist es ja in der Regel so, dass gerade keine Einflussmöglichkeit des Verbrauchers auf die Klauselgestaltung besteht, so dass dieser den Vertrag nur mit dem zugehörigen Klauselwerk abschließen oder hiervon insgesamt Abstand nehmen kann und sich die Klauseln im Einzelnen in der Regel gar nicht erst ansehen wird, sofern das Geschäft ein gewisses Volumen nicht überschreitet. Danach verkörpert Treu und Glauben also bereits selbst die Bewertung der Interessenlage zwischen den Parteien, was im direkten Vergleich mit Art. 3 Abs. 1 etwas inkohärent ist.80 Dennoch zeigt sich hier jedenfalls die herausgehobene Stellung von Treu und Glauben als Element der Klauselkontrolle.81 Hinzuweisen ist darauf, dass die im 16. Erwägungsgrund enthaltenen Kriterien wohl hauptsächlich deshalb in die Richtlinie aufgenommen wurden, um Vgl. Schmidt, Martin, Konkretisierung von Generalklauseln im europäischen Privatrecht, S. 242 f. 80 So auch Schmidt, Martin, Konkretisierung von Generalklauseln im europäischen Privatrecht, S. 229 f. 81 Grundmann, Europäisches Schuldvertragsrecht, S. 263, hält das Missverhältnis der vertraglichen Rechte und Pflichten für „das konkretere und wichtigere Element“; Pfeiffer, in: Wolf / Lindacher / Pfeiffer, Art. 3 RL Rn. 64, bezeichnet Treu und Glauben als „zentrales Merkmal der Missbrauchskontrolle“. 79
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den in England bestehenden Bedenken im Hinblick auf den Grundsatz von Treu und Glauben zu begegnen.82 Hierfür spricht eine erste Version dieses Erwägungsgrundes, die die von den Common Law-Juristen teils so gefürchtete Berücksichtigung der Interessen des anderen Teils83 deutlich stärker in den Vordergrund stellte und daher vermutlich abgelehnt worden ist. Diese Version lautete nach Auskunft von Tenreiro wie folgt: „[…] whereas the assessment of the unfair character of non-negotiated contract terms according to the general criteria provided must be supplemented by an evaluation of ethical character; whereas this evaluation is based on the implicit existence of an obligation to adopt fair and reasonable conduct which takes into account the legitimate interests of the other contracting party and does not offend the sense of fairness of society; whereas in this regard the concept of good faith is adequate to express the criteria for this additional evaluation […]“.84
Auch die Erwägungsgründe bringen also keinen entscheidenden Erkenntnisgewinn. Sie deuten darauf hin, dass zunächst eine isolierte Missbrauchskontrolle der streitgegenständlichen Klausel im Hinblick auf das Ausmaß des durch sie versurachten Ungleichgewichts stattzufinden haben könnte; in einem zweiten Schritt würde dann der Grundsatz von Treu und Glauben den Blickwinkel öffnen und etwa die Interessenlage der Parteien im jeweiligen Vertragsverhältnis in die Bewertung einbeziehen. Auf dieser Stufe könnte eine festgestellte Verschiebung der vertraglichen Rechte und Pflichten dann ggf. gerechtfertigt werden, etwa weil sie nicht lediglich der Bevorteilung des Gewerbetreibenden dient, sondern ökonomisch insgesamt sinnvoll erscheint und Vorteile generiert, die – etwa über günstigere Preise – mittelbar auch dem Verbraucher zugute kommen.85 Außerdem kann festgehalten werden, dass Treu und Glauben aus der Berücksichtigung der berechtigten Interessen Ponick, Die Richtlinie über mißbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen und ihre Umsetzung im Vereinigten Königreich, S. 82 f. weist darauf hin, dass die Berücksichtigung 1.) des zwischen den Verhandlungspositionen der Parteien bestehenden Kräfteverhältnisses, 2.) der Frage einer Einwirkung auf den Verbraucher im Hinblick auf seine Zustimmung zur Klausel und 3.) der Frage, ob es sich um eine Sonderbestellung des Verbrauchers handelt, beinahe wörtlich mit den Buchstaben a), b) und e) des Anhangs 2 zum Unfair Contract Terms Act 1977 übereinstimmt. 83 Siehe dazu oben S. 43 ff. 84 Tenreiro, ERPL 1995, 273, 277 f., der sich die finale Adaption dieses Vorschlags im 16. Erwägungsgrund nicht recht erklären kann und sowohl die Bezugnahme auf öffentliche Dienstleistungen wie auch die Nennung von Kriterien, die offensichtlich eher zur Kontrolle von Individualvereinbarungen passen, kritisiert. 85 So hat bspw. Basedow, in: Pfeiffer / Kummer / Scheuch, Festschrift für H. E. Brandner, S. 651, 681 vorgeschlagen, als Vorlagefragen zu stellen, ob die Missbräuchlichkeit einer Klausel durch einen günstigeren Preis ausgeräumt werden könne und ob Haftungsbeschränkungen möglicherweise dann nicht als missbräuchlich anzusehen sein könnten, wenn es insgesamt kostengünstiger ist, wenn der Verbraucher das betreffende Risiko selbst versichert. 82
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der anderen Partei besteht und als loyales und billiges Verhalten dieser gegenüber beschrieben wird. d) Die Liste im Richtlinienanhang Das ausführlichste, direkt anwendbare materielle Konkretisierungsmaterial für die Generalklausel findet sich in der Liste im Anhang der Richtlinie. Auch wenn der rechtliche Stellenwert dieser Liste umstritten ist, so lassen sich aus den in ihr enthaltenen Beispielen doch Grundsätze entnehmen, die verallgemeinerbar sein dürften. aa) Bindungswirkung der Liste Zur Konkretisierung der Generalklausel verweist Art. 3 Abs. 3 der RL 93/13 auf „eine als Hinweis dienende und nicht erschöpfende Liste der Klauseln, die für mißbräuchlich erklärt werden können.“
Nach dem 17. Erwägungsgrund der Richtlinie kann die Liste „für die Zwecke dieser Richtlinie nur Beispiele geben; infolge dieses Minimalcharakters kann sie von den Mitgliedstaaten im Rahmen ihrer einzelstaatlichen Rechtsvorschriften, insbesondere hinsichtlich des Geltungsbereichs dieser Klauseln, ergänzt oder restriktiver formuliert werden.“
Die Rechtsnatur – insbesondere der Verbindlichkeitsgrad – dieser Liste war lange sehr umstritten.86 Eine unbefangene Wortlautauslegung führt zunächst zu dem Schluss, dass die Liste jedenfalls nicht abschließend ist.87 Sodann stellt sich aber die Frage, was mit „als Hinweis dienend“88 gemeint ist: Bedeutet dies einen verbindlichen oder einen völlig unverbindlichen Hinweis? Oder als Kompromisslösung eine Art Regelvermutung, die aber widerleglich ist? Nimmt man nun den 17. Erwägungsgrund hinzu, so stellt man zunächst fest, dass die deutsche Formulierung, wonach die Liste „Beispiele“ gebe, nicht in Richtung bindender Beispiele gedeutet werden kann, die immer missbräuchlich sind, da die englische und die französische Sprachfassung auch hier wieder nur vom Hinweischarakter sprechen.89 Einigen Aufschluss kann aber die Formulierung bringen, wonach die Mitgliedstaaten die Liste Wolff, Die Verteilung der Konkretisierungskompetenz für Generalklauseln in privatrechtsgestaltenden Richtlinien, S. 202 ff. m. w. N; Leible, RIW 2001, 422, 426 f.; Kapnopoulou, Das Recht der missbräuchlichen Klauseln in der Europäischen Union, S. 125 spricht von einer „wertvollen[n] Quelle für die Konkretisierung des gemeinschaftsrechtlichen Gebots von Treu und Glauben.“ 87 Das dürfte schon deshalb unumstritten sein, weil die Klauselrichtlinie mindestharmonisierend ist und weil außerdem die Generalklausel des Art. 3 Abs. 1 praktisch hinfällig wäre, wenn die Liste ihre Anwendung abschließend regelte. 88 Engl. und frz. Fassung: „indicative“. 89 Engl. Fassung: „indicative value“ und frz. Fassung: „caractère indicatif“. 86
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ergänzen oder restriktiver formulieren können.90 Dies entspricht eigentlich den üblichen Verhältnissen zwischen EU- und nationalem Recht im Bereich mindestharmonisierender Richtlinien: Die Mitgliedstaaten können über die durch die Richtlinie gemachten Vorgaben hinausgehen, indem sie, zugunsten der geschützten Verbraucher, bei der Umsetzung die von der Richtlinie aufgestellten Regeln verschärfen oder erweitern. Dann muss die Liste im Anhang der Klauselrichtlinie aber im Umkehrschluss auch ein gewisses Maß an Verbindlichkeit haben: Die Mitgliedstaaten können bei der Umsetzung ja offenbar nicht Bestandteile der Liste weglassen oder diese weniger restriktiv formulieren.91 Diese Vorgabe wiederum wäre aber zwecklos, wenn die Liste dann in der konkreten Anwendung vollkommen unverbindlich wäre. Damit ist aber noch nicht geklärt, wie nun mit einer Klausel zu verfahren ist, die sich unter eines der Beispiele subsumieren lässt. Wenn man auf die Formulierung in Art. 3 Abs. 3 zurückkommt, wonach die den Beispielen in der Liste entsprechenden Klauseln für missbräuchlich erklärt werden können, so deutet das Auslegungsergebnis insgesamt am ehesten auf eine Vermutung der Missbräuchlichkeit hin, wobei aber im Einzelfall die Klausel nach einer im Rahmen von Art. 3 Abs. 1 vorzunehmenden Abwägung doch wirksam sein kann, wenn sich dies aus den sonstigen Umständen ergibt.92 Im Gesetzgebungsverfahren sah die Liste zunächst als sog. „schwarze“ Liste zwingend die Missbräuchlichkeit der in ihr enthaltenen Klauseln vor. Dies gilt sowohl für den ersten,93 wie insbesondere für den auf die Stellungnahme des Wirtschafts- und Sozialausschusses94 hin geänderten Kommissionsvorschlag, der nun ausdrücklich klarstellte, dass die Liste „nicht erschöp90 Für eine detaillierte Übersicht, welche Buchstaben der Liste in welchen Mitgliedstaaten wie umgesetzt worden sind, siehe Schulte-Nölke / Twigg-Flessner / Ebers, EC Consumer Law Compendium, S. 233 ff. 91 Diese Lesart des 17. Erwägungsgrundes vertritt auch Basedow, in: Pfeiffer / Kummer / Scheuch, Festschrift für H. E. Brandner, S. 651, 658. 92 Der EuGH ist hinsichtlich des Stellenwerts des Anhangs sehr zurückhaltend, was aber auch mit seiner sonstigen Zurückhaltung bei der Auslegung der Generalklausel zu tun haben mag. Er hat inzwischen mehrfach geurteilt, dass der Anhang „lediglich eine als Hinweis dienende und nicht erschöpfende Liste von Klauseln [enthält], die für missbräuchlich erklärt werden können“, siehe zuletzt EuGH, 26.4.2012, Rs. C-472/10 Nemzeti Fogyasztóvédelmi Hatóság ./. Invitel Távközlési Zrt, ECLI:EU:C:2012:242, Rn. 25 mit Verweis auf weitere Urteile. Im Vergleich zum Wortlaut von Art. 3 Abs. 3 fällt hier das zusätzlich eingefügte „lediglich“ auf, das den Stellenwert der Liste scheinbar zusätzlich verringert. Letzteres kann aber wie so häufig auch eine Überinterpretation darstellen. 93 Commission of the European Communities, Proposal for a Council Directive on Unfair Terms in Consumer Contracts, COM (90) 322 final – SYN 285, Brussels, 14 September 1990, Annex (S. 71). 94 Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss, Stellungnahme zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über mißbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen, 91/C 159/13, ABl. 1991 C 159/34 (35) unter 2.8.2.
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fend“ sei, die in ihr enthaltenen Klauseln aber „immer als mißbräuchlich anzusehen“ seien.95 Erst der Rat setzte dann offenbar im Gemeinsamen Standpunkt96 die „graue“ Liste durch, die im schließlich verabschiedeten Vorschlag beibehalten wurde. Der überprüfte Kommissionsvorschlag97 weist darauf hin, dass die Mitgliedstaaten einer „totalen Verbotsliste“ wohl nicht zustimmen könnten, kritisiert aber zugleich die Unschärfe der Formulierung „als Hinweis dienende Liste“ und schlägt vor, die Liste als eine von „typischerweise mißbräuchlichen Klauseln“ zu bezeichnen, was sich aber im weiteren Gesetzgebungsverfahren nicht durchsetzen konnte. Der Europäische Gerichtshof ist zunächst von einer sehr geringen Bindungswirkung der Liste ausgegangen; mittlerweile hebt er allerdings den Stellenwert der Liste zunehmend hervor und wendet die in ihr enthaltenen Beispiele an, ohne die Frage nach ihrem Verbindlichkeitsgrad erneut aufzuwerfen.98 bb) Materieller Gehalt der Liste Die Liste selbst enthält innerhalb der einzelnen Regelbeispiele Wertungsmöglichkeiten, die abermals an unbestimmte Rechtsbegriffe anknüpfen (z. B. „ungebührlich“, „unverhältnismäßig“, „schwerwiegender“ bzw. „triftiger Grund“).99 Erkennbares Leitmotiv des Anhangs ist der Grundsatz pacta sunt servanda bzw. die Erhaltung des Äquivalenzverhältnisses des Vertrags, das nicht durch AGB soweit verschoben werden können soll, dass der eigentlich vereinbarte Leistungsaustausch nicht mehr wiederzuerkennen ist.100 Eine denkbare Einteilung,101 die an die Kategorien der formellen und materiellen Missbräuchlichkeit von Klauseln angelehnt ist, ist die nach formeller 95 Commission of the European Communities, Amended Proposal for a Council Directive on Unfair Terms in Consumer Contracts, COM (92) 66 final – SYN 285, Brussels, 4 March 1992, S. 2 sowie Annex (S. 13). 96 Gemeinsamer Standpunkt des Rates im Hinblick auf die Annahme der Richtlinie über mißbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen, abgedruckt in ZIP 1992, 1591– 1564. 97 Überprüfter Vorschlag für eine Richtlinie des Rates in Verbraucherverträgen, Brüssel, den 26. Januar 1993, KOM (93) 11 endg. – SYN 285, S. 2 f. 98 Siehe dazu unten die Ausführungen S. 114 f. sowie im Anschluss an Kapitel 2 Fn. 246. 99 Siehe dazu die Schlussanträge des Generalanwalts Leendert A. Geelhoed vom 31.1.2002, Rs. 478/99 Kommission der Europäischen Gemeinschaften ./. Königreich Schweden, Slg. 2002 I-04147, Rn. 26. 100 Nasall, in: Gebauer / Wiedmann, Zivilrecht unter europäischem Einfluss, S. 173, 199 spricht von einer „Einstandspflicht“ für die angebotenen Waren und Dienstleistungen, die er als allgemeinen Grundsatz auch den entsprechenden Regeln über Leistungsstörungen in anderen Rechtsakten entnimmt. 101 Vgl. auch die Ausführungen bei Pfeiffer, in: Grabitz / Hilf, Recht der EU, Art. 3 Mißbrauchskontrolle Rn. 67–74, der dem Anhang folgende Grundwertungen entnimmt:
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und materieller Vertragstreue. Formelle Vertragstreue bedeutet, dass der Gewerbetreibende sich in Klauseln nur eingeschränkt Rechte zubilligen lassen kann, die seine Bindung an den Vertrag wieder beseitigen oder wesentlich modifizieren. Hierunter fallen insbesondere anlasslose, überraschende bzw. fristlose und einseitige Änderungs- oder Lösungsrechte – insbesondere solche, die für den Fall ihrer Ausübung keine entsprechenden Sonderkündigungsrechte oder Ausgleichsansprüche für den Verbraucher vorsehen –, eine Anknüpfung der Leistungspflicht des Gewerbetreibenden an eine Potestativbedingung oder das einseitige Recht des Gewerbetreibenden, den von den Parteien geschlossenen Vertrag verbindlich auszulegen (lit. c, f, g, j, k, l, m, n des Anhangs). Spiegelbildlich gehören in diese Kategorie dann auch Klauseln, die die Bindung des Vertrages über die ursprüngliche Einigung hinaus ermöglichen und damit die Willensautonomie des Verbrauchers durch entsprechende Fiktionen einschränken (lit. h, i,) oder eine Abtretung des Vertrages erlauben (lit. p). Unter dem Gesichtspunkt der materiellen Vertragstreue sind solche Klauselverbote zu betrachten, die dem Verbraucher Primär- oder Sekundäransprüche abschneiden, die ihm nach dem dispositiven Recht zustünden (lit. a, b, o). Ebenfalls zur materiellen Vertragstreue wird man umgekehrt Klauselverbote zählen können, die den Verbraucher in bestimmten Fällen einseitig oder übermäßig belasten oder die den Gewerbetreibenden für den Fall der Nichterfüllung freistellen (lit. d, e, o). Schlussendlich sind dann konsequenterweise auch solche Klauseln tendenziell unwirksam, die die prozessuale Durchsetzung der dem Verbraucher zustehenden Ansprüche vereiteln oder erschweren (lit. q). Zuzugeben ist, dass diese Einteilungsversuche nicht immer trennscharf und zwingend sind – ob der Gewerbetreibende das zu liefernde Erzeugnis einfach ändern kann (formelle Vertragstreue), oder ob dem Verbraucher Erfüllungsund Gewährleistungsansprüche abgeschnitten werden, wenn er eine andere als die bestellte Leistung erhält (materielle Vertragstreue), macht in der Sache keinen wesentlichen Unterschied. Es zeigt sich aber sehr deutlich, woran der Klauselrichtlinie gelegen ist und woran man sich daher auch im Übrigen bei der Auslegung der Generalklausel orientieren kann: Grundlegende vertragsrechtliche Prinzipien sollen nicht durch entsprechende Klauseln ad absurdum geführt werden können; der Vertragszweck und das Äquivalenzverhältnis sollen geschützt werden. Inwieweit die Liste über das Recht der missbräuchlichen Klauseln hinaus allgemeine Regeln eines europäischen Vertragsrechts enthält, kann hier nicht untersucht werden.102 Jedenfalls müssen – in formelVertragstreue, Verbot der Bindung an bloße Willensfiktionen, Stabilität des Preis-Leistungs-Verhältnisses, Einstandspflicht für den Vertragszweck, Achtung der Rechtsgüter des Verbrauchers, Vermeidung asymmetrischer Vertragsgestaltungen, Verbot einseitiger Abrechnungsprivilegien und Verbot treuwidriger Rechtschutzverkürzungen. 102 Dieser Frage widmet sich Henke, Enthält die Liste des Anhangs der Klauselrichtlinie 93/13/EWG Grundregeln des Europäischen Vertragsrechts?
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ler wie in materieller Hinsicht – die Charakteristika des Vertrags gewahrt bleiben. Der wesentliche Kern des vereinbarten Austauschs von Hauptleistungen darf nicht durch Vertragsklauseln durch die Hintertür so deutlich verändert werden, dass die Vertragsziele in Gefahr geraten. Dies ist insbesondere bei formell einseitigen und anlasslosen und bei materiell unverhältnismäßigen Klauseln der Fall, die keinem berechtigten Interesse des Gewerbetreibenden folgen, sondern schlicht das vertragliche Gleichgewicht zu dessen Gunsten verschieben sollen. Sofern man die Liste insgesamt als Illustration der Generalklausel verstehen darf, kann man die im Anhang zum Ausdruck kommenden Grundwertungen dann wohl auch als repräsentativ für den Inhalt des unionsprivatrechtlichen Grundsatzes von Treu und Glauben ansehen.103 e) Klauselrichtlinie und Wettbewerbsrecht Zwischen der Klauselrichtlinie und der Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken104 bestehen in den Zielen und in der Wirkungsweise zahlreiche Gemeinsamkeiten. Beide Rechtsakte dienen sowohl dem Schutz der Verbraucher wie auch dem Schutz eines fairen Wettbewerbs im Binnenmarkt. 105 Der Zusammenhang zwischen beiden Rechtsakten ist bereits im Ersten Verbraucherprogramm der Gemeinschaft aus dem Jahr 1975 angelegt gewesen. 106 Dort wird unter Nr. 24 der „Schutz der Verbraucher vor mißbräuchlichen Handelspraktiken“ als ein Ziel aufgeführt. Während irreführende Werbung (Nr. 22) einen eigenen Aspekt darstellt, finden sich unter Nr. 24 sowohl die Vertragsbedingungen – also die AGB – wie auch z. B. Garantieklauseln, Haustürgeschäfte etc., die ja alle im Laufe der Jahre in einem jeweils eigenen Rechtsakt eine Regelung erfahren haben. Es liegt daher nicht von vornherein fern, zwischen den unterschiedlichen, „inselartigen“ Rechtsakten gemeinsame Grundprinzipien zu suchen. Im Fall von Klauselrichtlinie und UGP-Richtlinie ist diese Querverbindung insbesondere auch unter dem Gesichtspunkt der Konkretisierungskompe103 Röthel, in: Riesenhuber, Europäische Methodenlehre, S. 368 f. bezeichnet die Liste im Anhang der Klauselrichtlinie – zusammen mit dem Anhang der UGP-RL – als „die wichtigsten Anhaltspunkte für einen gemeinschaftsrechtlichen Treuemaßstab“. 104 Richtlinie 2005/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Mai 2005 über unlautere Geschäftspraktiken im binnenmarktinternen Geschäftsverkehr zwischen Unternehmen und Verbrauchern und zur Änderung der Richtlinie 84/450/EWG des Rates, der Richtlinien 97/7/EG, 98/27/EG und 2002/65/EG des Europäischen Parlaments und des Rates sowie der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates (Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken), ABl. 2005 L 149/22 (UGPRichtlinie). 105 Für die Klauselrichtlinie siehe oben Kapitel 2 Fn. 23; für die UGP-RL siehe unten S. 245 f. 106 Entschließung des Rates vom 14. April 1975 betreffend ein Erstes Programm der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft für eine Politik zum Schutz und zur Unterrichtung der Verbraucher, ABl. 1975 C 92-1.
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tenzen interessant. Die UGP-Richtlinie ist nämlich vollharmonisierend und setzt dem Umsetzungsspielraum der Mitgliedstaaten damit enge Grenzen.107 Der Europäische Gerichtshof hat sich in der Rs. Pereničová108 zum Verhältnis zwischen der Generalklausel der Klauselrichtlinie und derjenigen der Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken geäußert. Hier ging es um die Missbräuchlichkeit bestimmter Klauseln in einem Verbraucherkreditvertrag und daneben um die Frage, ob die RL 93/13 es erlaubt, dass der Vertrag insgesamt für unwirksam erklärt wird, wenn dies für den Verbraucher günstiger ist.109 Der Kreditgeber hatte u. a. einen effektiven Jahreszins von 48 % angegeben, während das vorlegende Gericht einen effektiven Jahreszins von 58 % berechnete. Hieraus resultierte die Frage, ob die Angabe eines geringeren als des tatsächlichen effektiven Jahreszinses eine unlautere Geschäftspraktik im Sinne der Richtlinie 2005/29 darstellen kann und ob die Feststellung einer solchen unlauteren Geschäftspraktik dann auch Auswirkungen auf die Qualifikation einer Klausel als missbräuchlich nach der Richtlinie 93/13 haben kann. Diese Frage ist insbesondere deshalb interessant, weil die Generalklausel der Richtlinie 2005/29 auch auf den Grundsatz von Treu und Glauben rekurriert und außerdem anders als die Klauselrichtlinie vollharmonisierend ist.110 Eine übergreifende Auslegung der beiden Rechtsakte könnte daher für die Herausbildung des materiellen Kontrollstandards der Klauselrichtlinie besonders hilfreich sein. Ausgangspunkt für die Frage der übergreifenden Auslegung ist zwar, dass Art. 3 Abs. 2 der RL 2005/29 ausdrücklich vorsieht, dass das Vertragsrecht 107 Art. 4 der UGP-Richtlinie sieht vor: „Die Mitgliedstaaten dürfen den freien Dienstleistungsverkehr und den freien Warenverkehr nicht aus Gründen, die mit dem durch diese Richtlinie angeglichenen Bereich zusammenhängen, einschränken.“ Aus dieser Bestimmung wird gefolgert, dass die Richtlinie vollharmonisierend ist, siehe etwa EuGH, 23.4.2009, verbundene Rs. C-261/07 und C-299/07 VTB-VAB NV ./. Total Belgium NV und Galatea BVBA ./. Sanoma Magazines Belgium NV, Slg. 2009 I-02949, Rn. 52 und 63 sowie EuGH, 14.1.2010, Rs. C-304/08 Zentrale zur Bekämpfung unlauteren Wettbewerbs eV ./. Plus Warenhandelsgesellschaft mbH, Slg. 2010 I-00217, Rn. 41 und 50; in beiden Entscheidungen hat der Gerichtshof die Richtlinie jeweils so ausgelegt, dass nationale Umsetzungsbestimmungen bestimmte Geschäftspraktiken nicht grundsätzlich verbieten dürfen, ohne dass Raum für eine Berücksichtigung der spezifischen Einzelfallumstände gelassen wird. Siehe zuletzt die Schlussanträge des Generalanwalts Pedro Cruz Villalón vom 26.11.2013, Rs. C-421/12 Europäische Kommission ./. Königreich Belgien, ECLI:EU:C: 2013:769, Rn. 71. 108 EuGH, 15.3.2012, Rs. C-453/10 Jana Pereničová und Vladislav Perenič ./. SOS financ spol. s r. o., ECLI:EU:C:2012:144. 109 Diese Frage, die für die vorliegende Untersuchung keine Rolle spielt, beantwortet der EuGH so, dass die Unverbindlichkeit des ganzen Vertrages – wenn dies für den Verbraucher günstiger ist – zwar nicht der Zielsetzung von Art. 6 Abs. 1 der RL 93/13 entspreche. Allerdings sei die Nichtigerklärung des gesamten Vertrages im Hinblick auf den mindestharmonisierenden Charakter der Richtlinie dennoch zulässig. 110 Siehe Kapitel 2 Fn. 107.
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unberührt bleiben soll.111 Die Generalanwältin sieht aber durch eine „gesamtsystematische Betrachtung […] vielfältige Verknüpfungen“ zwischen den Rechtsakten112 und stellt fest, beide Richtlinien wiesen eine „Konvergenz in ihrer Schutzrichtung“ auf, indem sie die „Beurteilungsfähigkeit und Entscheidungsfreiheit im Geschäftsverkehr“ schützen wollten. So könne eine unlautere Geschäftspraktik gerade in der Verwendung missbräuchlicher Klauseln bestehen und umgekehrt könnten falsche und irreführende Angaben in einer Vertragsklausel deren Missbräuchlichkeit im Sinne der RL 93/13 begründen.113 Die Generalanwältin untersucht zunächst, ob die Angabe eines zu geringen effektiven Jahreszinses eine unlautere Geschäftspraktik im Sinne der RL 2005/29 darstellt.114 Sie bejaht sowohl eine irreführende Handlung i. S. v. Art. 5 Abs. 4 lit. a) i. V. m. Art. 6 der RL 2005/29, als auch – hilfsweise115 – einen Verstoß gegen die Erfordernisse der beruflichen Sorgfaltspflicht i. S. v. Art. 5 Abs. 2 lit. a). Dabei weist sie auf den fachlichen Vorsprung des Gewerbetreibenden und die entsprechende Schutzbedürftigkeit und den geringeren Informationsstand des Verbrauchers hin. Entsprechend sei „vom Gewerbetreibenden die strikte Einhaltung bestimmter Informationspflichten“ zu verlangen. Die Generalanwältin stellt dann fest, die Klausel sei einer Inhaltskontrolle nach der RL 93/13 zugänglich, wenn sie i. S. ihres Art. 4 Abs. 2 nicht klar und verständlich abgefasst sei, was letztlich das nationale Gericht zu prüfen habe.116 Der Gerichtshof selbst äußert sich zur Kontrollfähigkeit nicht, obwohl dies nahegelegen hätte. Schließlich stellen Zinsen ja die Gegenleistung für die Kreditgewährung dar und könnten damit unter Art. 4 Abs. 2 der Klauselrichtlinie fallen.117 Sodann kommt die Generalanwältin zur entscheidenden Frage, nämlich dem Maßstab für die Beurteilung der Missbräuchlichkeit einer solchen Klausel. Dabei gelangt sie zu dem Ergebnis, dass unter den in Art. 4 Abs. 1 der 111 Das sieht auch Generalanwältin Verica Trstenjak in Rn. 83 ihrer Schlussanträge vom 29.11.2011 in der Rs. C-453/10 Jana Pereničová und Vladislav Perenič ./. SOS financ spol. s r. o., ECLI:EU:C:2011:788 so und bezeichnet die UGP-Richtlinie daher zunächst als für den Ausgangsrechtsstreit „im Endeffekt […] irrelevant“ (Rn. 85). Damit meint die Generalanwältin aber offenbar nur, dass sich aus der RL 2005/29 keine unmittelbar für den Ausgangsrechtsstreit relevanten Rechtsfolgen ergeben. Die eigentliche Frage, nämlich die nach einer Wechselwirkung auf die RL 93/13, wird erst in einem zweiten Schritt beantwortet. 112 Rn. 88 der Schlussanträge in der Rs. C-453/10 Pereničová. 113 Rn. 90 f. der Schlussanträge in der Rs. C-453/10 Pereničová. 114 Rn. 93–108 der Schlussanträge in der Rs. C-453/10 Pereničová. 115 Die Generalanwältin führt zwar aus, eine Prüfung der Generalklausel „erübrige“ sich, führt dann aber „vorsorglich“ trotzdem eine Prüfung durch (Rn. 106 der Schlussanträge in der Rs. C-453/10 Pereničová) und stellt auch ein entsprechendes Ergebnis fest (Rn. 107). 116 Rn. 117 und 119 der Schlussanträge in der Rs. C-453/10 Pereničová. 117 So auch Luzak, Ars Aequi 2012, 428, 431 f.
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RL 93/13 genannten Umständen „auch solche Faktoren berücksichtigt werden [müssen], mit denen bestimmte rechtliche Wertungen des Gesetzgebers verbunden sind“.118 Hierzu gehörten auch die in Art. 2 lit. d der RL 2005/29 definierten Geschäftspraktiken, was sich insbesondere aus dem 15. Erwägungsgrund der RL 93/13 ergebe, der darauf abstellt, ob auf den Verbraucher „eingewirkt“ wurde. Daher müsse die Unlauterkeit einer Geschäftspraxis nach der RL 2005/29 in die Beurteilung der Missbräuchlichkeit von AGB nach der RL 93/13 „einfließen“. Unlauterkeit beschreibe nämlich eine „missbilligte Einwirkung auf die Beurteilungsfähigkeit und Entscheidungsfreiheit des Verbrauchers“. Zudem gebe die Unlauterkeit einer Geschäftspraktik auch „Aufschluss über einen wesentlichen Faktor“, nämlich ob der Gewerbetreibende gegen Treu und Glauben i. S. v. Art. 3 Abs. 1 der RL 93/13 verstoßen habe.119 Zugespitzt gesagt: Ein Gesetzesverstoß120 indiziert also einen Verstoß gegen die berufliche Sorgfalt und damit gegen Treu und Glauben – sowohl nach Art. 2 lit. h) der RL 2005/29 (auf den die Generalanwältin nicht ausdrücklich eingeht), als auch – in einem weiteren Schritt121 – nach Art. 3 Abs. 1 der RL 93/13. Der Gerichtshof positioniert sich zur zweiten Vorlagefrage wie folgt: Die Angabe eines geringeren als des realen effektiven Jahreszinses stelle eine falsche Angabe und damit eine unlautere Geschäftspraxis i. S. v. Art. 6 Abs. 1 lit. d) RL 2005/29 dar. Er schließt sich den Ausführungen der Generalanwältin insofern an und urteilt, dass die Unlauterkeit einer Geschäftspraxis „ein Anhaltspunkt unter mehreren“ bei der Beurteilung der Missbräuchlichkeit von Klauseln i. S.der RL 93/13 sei. Dabei ordnet der Gerichtshof den Verstoß gegen die RL 2005/29 als einen der den Vertragsschluss begleitenden Umstände im Sinne von Art. 4 Abs. 2 der Klauselrichtlinie ein.122 Die Beurteilung dieser Umstände obliege aber dem nationalen Gericht.123 Daher ist die Reichweite der Entscheidung trotz der interessanten Verknüpfung zwischen den beiden Richtlinien begrenzt; der Gerichtshof bleibt hinter den Ausführungen der Generalanwältin doch ein Stück weit zurück. Schlussendlich kann Rn. 123 der Schlussanträge in der Rs. C-453/10 Pereničová. Rn. 124 der Schlussanträge in der Rs. C-453/10 Pereničová. 120 In diesem Fall lag ein Verstoß gegen Art. 4 Abs. 2 lit. a) der Richtlinie 87/102/EWG des Rates vom 22. Dezember 1986 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Verbraucherkredit, ABl. 1987 L 42/48 vor, der die Angabe des effektiven Jahreszinses vorschreibt. 121 Die Generalanwältin legt allerdings Wert darauf, dass der Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 RL 93/13 nicht „automatisch“ indiziert sei, sondern dass hierfür nur „ein Anhaltspunkt unter mehreren“ vorliege, Rn. 125 der Schlussanträge in Pereničová. 122 Rn. 42 f. des Urteils Pereničová. Dies stellt laut Riesenhuber, EU-Vertragsrecht, S. 173, den ersten Fall dar, in dem der Gerichtshof die den Vertragsschluss begleitenden Umstände bei der Klauselkontrolle herangezogen hat. 123 Rn. 44 des Urteils in der Rs. C-453/10 Pereničová. 118 119
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man den EuGH auch so verstehen, dass die Berücksichtigung der Unlauterkeit im Rahmen der Klauselkontrolle dem nationalen Richter nicht untersagt ist, mehr aber auch nicht. Dies führt dazu, dass sowohl in dogmatischer wie in normativer Hinsicht in diesem Bereich eine Vielzahl von Fragen ungeklärt bleiben, zu deren Klärung hier Gelegenheit bestanden hätte.124 Natürlich kann nicht jede unlautere Geschäftspraxis die Missbräuchlichkeit von Klauseln begründen.125 Aber eine etwas engere Verbindung hätte der Gerichtshof durchaus herstellen können. Es hätte hier auch besonders nahe gelegen, auf den in beiden Rechtsakten zentral als Kriterium der Missbräuchlichkeit bzw. der Unlauterkeit verwendeten Grundsatz von Treu und Glauben dahingehend näher einzugehen, ob der Begriff denn jedenfalls im Kern derselbe ist. Dieser Frage hat sich der EuGH aber nicht gewidmet. Hätte er dies getan, so hätte er etwa feststellen können, dass im ursprünglichen Entwurf der Klauselrichtlinie in Art. 2 Nr. 5 der deutschen Fassung126 statt „Missbräuchlichkeit“ synonym auch der Begriff „Lauterkeit oder Unlauterkeit“ verwendet wurde.127 Der Begriff wurde dann erst später im Geänderten Vorschlag128 auf Wunsch des Europäischen Parlaments nicht mehr verwendet. Die begriffliche Trennung zwischen „Lauterkeit“ und „Missbräuchlichkeit“ ist also mehr oder weniger zufällig und zudem eine Besonderheit der deutschen Fassung. Die englischen Fassungen benutzen durchgehend den Begriff (Un)Fairness, während in der französischen Fassung dann wieder zwischen „clauses abusives“ einerseits und „pratiques commerciales déloyales“ andererseits unterschieden wird. Beides zeigt aber die Nähe zum Begriff von Treu und Glauben in besonderer Weise – es geht auch im Recht des unlauteren Wettbewerbs um missbilligtes Verhalten gegenüber einer anderen Person, nicht nur gegenüber dem „abstrakten“ Wettbewerb.129 4. Materielle Konkretisierung durch den Europäischen Gerichtshof Die Rechtsprechung des EuGH zum Kontrollstandard der Generalklausel betrifft in großen Teilen nicht materielle Fragen im eigentlichen Sinne, sondern befasst sich damit, inwieweit der Gerichthof diese Fragen überhaupt 124 Vgl. nur eine neuerliche Vorlage zur Berechnung der effektiven Gesamtkosten eines Verbraucherkredits im Lichte der Klauselrichtlinie und der UGP-Richtlinie, anhängige Rs. C-372/14, eingereicht am 1.8.2014, Provident Financial s.r.o. ./. Zdeněk Sobotka. 125 Vgl. Alexander, WRP 2012, 515, 519 mit einzelnen Beispielen. 126 In der englischen Fassung „fairness or unfairness“, in der französischen „l’équité ou le caractère abusif“. 127 KOM (90) 322 endg. – SYN 285. 128 Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Geänderter Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über Mißbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen, KOM (92) 66 endg. – SYN 285, Brüssel, den 4. März 1992, S. 2. 129 Dazu auch Orlando, ERCL 2011, 25 ff.; Busch, in: Ajani / Ebers, Uniform terminology for European contract law, S. 219 ff.
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beantworten kann und soll. Entscheidend ist hierbei – in der Terminologie des EuGH – die Grenzziehung zwischen Auslegung und Anwendung des Sekundärrechts. Die Unterscheidung nach diesen beiden Kategorien lässt sich insbesondere mit der durch das Primärrecht vorgegebenen Kompetenzverteilung problemlos begründen. Allerdings ist allein mit dieser Formel auch noch kein großer Erkenntnisgewinn verbunden. Wo die Grenze zwischen Auslegung und Anwendung verläuft, ist nämlich – insbesondere bei Generalklauseln – in der Praxis häufig unklar.130 Die tatsächlich zu stellende Frage scheint vielmehr zu sein, inwieweit die Generalklausel der RL 93/13 eine auslegungsfähige Rechtsnorm ist oder inwieweit sie nicht vielmehr eine reine „Delegationsnorm“ darstellt, verbunden mit der sich im europäischen Mehrebenensystem dann zusätzlich stellenden Frage, wer überhaupt Adressat des in dieser Delegationsnorm enthaltenen „Gestaltungsauftrags“ ist.131 a) Einführung Zur Klauselrichtlinie gibt es mittlerweile eine äußerst umfangreiche Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs.132 Diese Rechtsprechung lässt sich in verschiedene Phasen aufteilen: Zunächst geschah bemerkenswert lange Zeit gar nichts, weil die nationalen Gerichte keine entsprechenden Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH richteten. Die in der Literatur ausführlich diskutierte Frage, ob der EuGH sich auch zur Missbräuchlichkeit einzelner Klauseln äußern könne, schien dann mit der ersten Entscheidung schlagartig entschieden, als der Gerichtshof – obwohl hierzu gar nicht angerufen – diese Aufgabe scheinbar annahm und eine streitgegenständliche Klausel obiter für missbräuchlich erklärte.133 Damit schien der Bann gebrochen und der Weg für eine Vereinheitlichung der materiellen AGB-Kontrolle über das Vorabentscheidungsverfahren frei. Doch als der deutsche Bundesgerichtshof dann die erste Vorlagefrage stellte, die unmittelbar auf die Beurteilung der Missbräuchlichkeit einer Klausel gerichtet war, holte er sich eine wahrhaftige Abfuhr.134 Der EuGH führte nämlich aus, er sei zwar zuständig für die Auslegung der Missbräuchlichkeitskriterien, aber unzuständig für deren Anwendung auf den Einzelfall, also auf bestimmte Klauseln. Dies entspricht zwar der allgemeinen KompetenzSiehe auch Pavillon, ERPL 2007, 737, 747. Röthel, Konkretisierung von Generalklauseln, in: Riesenhuber, Europäische Methodenlehre, S. 351 f. 132 Prägnante Kurzzusammenfassung bei Pfeiffer, EuZW 2013, 241 f., der zurückhaltend von einer „nicht ganz gradlinig verlaufenen Entwicklung“ spricht. 133 EuGH, 27.6.2000, Rs. C-240/98 Océano Grupo, Slg. 2000 I-04941. 134 EuGH, 1.4.2004, Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten ./. Hofstetter, Slg. 2004 I-03403. Den Begriff „Abfuhr“ verwendet Wittwer, European Law Reporter 2004, 380, 382. 130 131
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verteilung im Vorabentscheidungsverfahren.135 Der Gerichtshof machte aber auch keinerlei Ausführungen zur Auslegung der Missbräuchlichkeitskriterien im Lichte des der Vorlage zugrundeliegenden Falles, wie dies sonst bei der Auslegung des Richtlinienrechts die Regel ist. Er erklärte die Vorlagefrage zwar nicht für unzulässig, verweigerte aber ihre Beantwortung völlig. Diese Auslegung hat der Gerichtshof dem Grunde nach bis heute beibehalten, weshalb auch der von der Klauselrichtlinie für das europäische Privatrecht teilweise erwartete „Bewusstseinsschub“136 ausgeblieben ist. Er bemüht sich aber mittlerweile, dem vorlegenden Gericht mit der Auslegung der „allgemeinen Kriterien“ zumindest einen Rahmen für die Missbräuchlichkeitsprüfung im Einzelfall an die Hand zu geben, der allerdings bisher äußerst unvollständig ist und dort, wo er vorhanden ist, teilweise vage bleibt. b) Scheinbare Annahme der Konkretisierungsaufgabe Die Klauselrichtlinie war nach ihrem Art. 10 Abs. 1 und 2 bis zum 31.12.1994 von den Mitgliedstaaten umzusetzen und auf anschließend geschlossene Verträge anwendbar. Bis zur ersten Vorlage dauerte es vier Jahre.137 Das Vorabentscheidungsersuchen in der Rs. Océano Grupo138 betraf eigentlich die Frage, ob die Missbräuchlichkeit einer in den Anwendungsbereich der Richtlinie fallenden Klausel durch das nationale Gericht von Amts wegen geprüft werden darf. Konkret ging es um Ratenkaufverträge über Lexika, die jeweils eine Gerichtsstandklausel zugunsten der ausschließlichen Zuständigkeit der Gerichte am Sitz des Verkäufers vorsahen. Dabei ist zu beachten, dass die spanischen Umsetzungsvorschriften der RL 93/13 im vorliegenden Fall gar nicht anwendbar waren, da die Klage vor ihrem Inkrafttreten erhoben worden war.139 Außerdem ist anzumerken, dass der spanische 135 EuGH, 28.3.1979, Rs. 222/78 ICAP ./. Walter Beneventi, Slg. 1979, S. 01163, Rn. 10; Wegener, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 267 AEUV, Rn. 5; Borges, NJW 2001, 2061 (dort Fn. 10). 136 Diesen Begriff verwendet Basedow, in: Pfeiffer / Kummer / Scheuch, Festschrift für H. E. Brandner, S. 651, 654. 137 Allgemein kritisch im Hinblick auf die damalige Vorlageunwilligkeit deutscher Gerichte Basedow, in: Pfeiffer / Kummer / Scheuch, Festschrift für H. E. Brandner, S. 651, 665 ff.; speziell mit Blick auf die Klauselrichtlinie ders., in: Schulte-Nölke / Schulze, Europäische Rechtsangleichung und nationale Privatrechte, S. 277, 279 ff. 138 EuGH, 27.6.2000, verb. Rs. C-240/98 bis C-244/98 Océano Grupo Editorial SA und Salvat Editores SA ./. Rocío Murciano Quintero u. a., Slg. 2000 I-04941. 139 Vgl. Schlussanträge des Generalanwalts Antonio Saggio vom 16.12.1999, verb. Rs. C-240/98 bis C-244/98 Océano Grupo Editorial SA und Salvat Editores SA ./. Rocío Murciano Quintero u. a., Slg. 2000 I-04941, Rn. 9 und 13. Die Umsetzungsfrist war aber abgelaufen und die Vorlage diente daher der richtlinienkonformen Auslegung des bereits vorhandenen spanischen Rechts der missbräuchlichen Klauseln. Detailliert zur Rechtslage in Spanien bis zur verspäteten Umsetzung der Klauselrichtlinie Leible, RIW 2001, 422, 423 ff.
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Umsetzungsgesetzgeber Gerichtsstandsklauseln, die eine Zuständigkeit der Gerichte andernorts als am Sitz des Verbrauchers oder am Erfüllungsort vorsehen, in eine nationale schwarze Liste missbräuchlicher Klauseln aufgenommen hatte.140 Das Oberste Gericht Spaniens hatte Klauseln wie die streitgegenständliche daher bereits wiederholt für missbräuchlich erklärt, weshalb sich das vorlegende Gericht im konkreten Fall entschieden hatte, die Klage bereits nicht zuzustellen. Stattdessen stellte es beim EuGH die Frage zur Vorabentscheidung, ob es mit der Klauselrichtlinie vereinbar sei, wenn das nationale Gericht die Missbräuchlichkeit von Klauseln von Amts wegen und bereits in der Zulässigkeit der Klage prüft. Aus heutiger Sicht erscheint die Antwort auf die Vorlagefrage selbstverständlich: Die amtswegige Berücksichtigung ist zulässig. Für die vorliegende Untersuchung ist die Entscheidung Océano vielmehr deshalb interessant, weil der Gerichtshof Ausführungen zur Auslegung von Art. 3 Abs. 1 der Klauselrichtlinie macht. Schon Generalanwalt Saggio hatte in seinen Schlussanträgen eingehend begründet, warum er die streitgegenständliche Klausel bereits aufgrund der Generalklausel der RL 93/13 – also unabhängig von der spanischen Konkretisierung in Form einer schwarzen Liste, in Anlehnung an Nr. 1 lit. q) des Anhangs – für missbräuchlich hielt.141 Auch der Gerichtshof stellt vor Beantwortung der eigentlichen Vorlagefrage fest: „Somit ist eine Gerichtsstandsklausel, die in einen Vertrag zwischen einem Verbraucher und einem Gewerbetreibenden aufgenommen worden ist, ohne im einzelnen ausgehandelt worden zu sein, und die ausschließliche Zuständigkeit dem Gericht zuweist, in dessen Bezirk der Gewerbetreibende seine Niederlassung hat, als mißbräuchlich im Sinne des Artikels 3 der Richtlinie anzusehen, da sie entgegen dem Gebot von Treu und Glauben zum Nachteil des Verbrauchers ein erhebliches und ungerechtfertigtes Mißverhältnis der vertraglichen Rechte und Pflichten der Vertragspartner verursacht.“142
Dabei stützt der Gerichtshof seine Bewertung hauptsächlich auf zwei Erwägungen, nämlich einerseits auf die abschreckende Wirkung für den Verbraucher, sich angesichts ggf. geringer Streitwerte überhaupt zu verteidigen und andererseits auf die einseitige Erleichterung für den Gewerbetreibenden, der seine Prozessführung an einem Ort bündeln kann.143 Dieses obiter dictum des Vgl. Rn. 14 des Urteils in der Rs. C-240/98 Océano. Schlussanträge des Generalanwalts Antonio Saggio vom 16.12.1999, verb. Rs. C-240/98 bis C-244/98 Océano Grupo Editorial SA und Salvat Editores SA ./. Rocío Murciano Quintero u. a., Slg. 2000 I-04941, Rn. 16–19. 142 Urteil in der Rs. C-240/98 Océano, Rn. 21–24. 143 Diese Argumente scheinen über den Einzelfall hinaus Gültigkeit zu haben, so dass die Klausel auch generell als Verstoß gegen das Gebot von Treu und Glauben qualifiziert werden kann. Siehe dazu Stuyck, CMLR 2001, 719, 728 f. Stuyck untersucht auch die Frage des Zusammenwirkens der Rechtsprechung zu Gerichtsstandsvereinbarungen nach der Klauselrichtlinie mit Art. 15 der EuGVO. Dazu (bzw. zum GVÜ) auch Leible, RIW 2001, 422, 429 ff. sowie Rutgers, ERCL 2005, 87, 92 ff., die beide zu dem Ergebnis 140 141
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Gerichtshofs stieß angesichts der vorher in der Wissenschaft geführten Diskussion auf großes Interesse. Mit Océano schien der Gerichtshof anzukündigen, dass er sich in der Lage sieht, diese Rolle selbst zu übernehmen. Außerdem schien die Liste im Anhang der Richtlinie zumindest starke Indizwirkung hinsichtlich der Missbräuchlichkeit einer unter sie zu subsumierenden Klausel zu haben. Die in Océano getroffene Aussage ist jedoch bereits aus damaliger Sicht in zweierlei Hinsicht zu relativieren. Der erste Aspekt betrifft den Inhalt des obiter dictum in den unterschiedlichen Sprachfassungen. Es ist nämlich davon auszugehen, dass – obwohl der Berichterstatter hier ein deutscher Muttersprachler ist144 – das Urteil in französischer Sprache entworfen und unter den Richtern diskutiert worden ist, wie dies am Gerichtshof grundsätzlich der Fall ist.145 Hier ist festzustellen, dass die französische und auch die englische Fassung des Urteils die Missbräuchlichkeit der Klausel gar nicht definitiv feststellen, sondern diese nur annehmen, insoweit 146 ein Verstoß gegen Treu und Glauben vorliegt. Selbiges gilt für die spanische Sprache als Verfahrenssprache, in der hier nach Art. 41 der Verfahrensordnung des EuGH147 die verbindliche Fassung des Urteils abgefasst ist.148 Allerdings hatte Generalanwalt Saggio sich in seinen Schlussanträgen sehr eindeutig dahingehend geäußert, er wolle „[z]ur Einstufung der in Rede stehenden Vertragsklausel […] sofort klarstellen, daß sie im Licht der Richtlinie als ‚mißbräuchliche Klausel‘ zu betrachten ist“, denn diese Beurteilung erfordere „[…] nicht mehr als eine Auslegung des Wortlauts der Richtlinie […]“.149 Auch der Gerichtshof kommen, dass die Wertungen der EuGVO zwar Berücksichtigung finden können, dass aber die EuGVO trotzdem von der Klauselrichtlinie bzw. den sie umsetzenden Bestimmungen überlagert werden könne, d. h. dass letztere vorgehe, wenn eine nach der EuGVO wirksame Gerichtsstandsvereinbarung dennoch gegen Treu und Glauben im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Klauselrichtlinie verstößt. 144 Berichterstatter in der Rs. C-240/98 Océano war der Österreicher Peter Jann. 145 Rösler, Europäische Gerichtsbarkeit auf dem Gebiet des Zivilrechts, S. 116; Ahlt, in: Gsell/Hau, Zivilgerichtsbarkeit und Europäisches Justizsystem, S. 31, 35 f. 146 Rn. 24 des Urteils in der Rs. C-240/98 Océano in der französischen Fassung lautet: Eine Klausel wie die streitgegenständliche „[…] doit être considérée comme abusive au sens de l’article 3 de la directive, dans la mesure où elle crée, en dépit de l’exigence de bonne foi, au détriment du consommateur un déséquilibre significatif entre les droits et les obligations des parties découlant du contrat.“ Die engl. Fassung lautet „[…] in so far as it causes, contrary to the requirement of good faith, a significant imbalance […].“ Die Hervorhebungen sind jeweils durch Verf. vorgenommen worden. In der deutschen Fassung findet man wie oben bereits zitiert an dieser Stelle aber kein „insoweit“, sondern ein „da“ im Sinne von „weil“, so dass die Entscheidung über die Missbräuchlichkeit als abschließend verstanden worden ist, vgl. etwa Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, S. 403. 147 Verfahrensordnung des Gerichtshofs, ABl. L 265/9 vom 29.9.2012. 148 Auch die spanische Fassung verwendet in Rn. 24 nicht etwa den Begriff „porque“ („da / weil“), sondern „en la medida en que“ („insofern / insoweit“). 149 Rn. 17 und 18 der Schlussanträge in der Rs. C-240/98 Océano.
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selbst führt einige Jahre später in der Rs. Freiburger Kommunalbauten aus, dass in Océano „die Missbräuchlichkeit dieser Klausel festgestellt“ habe werden können.150 Man kann sich also fragen, ob der vom Gerichtshof offenbar gesehene „Erklärungsbedarf“ für Océano151 in dieser Form überhaupt bestand oder ob nicht der deutschsprachige Berichterstatter Peter Jann sich bei der Beschäftigung mit Océano möglicherweise selbst von der fragwürdigen deutschen Übersetzung hat täuschen lassen. Dies lässt sich freilich nicht mehr abschließend klären.152 Der zweite Aspekt, der Zweifel an der Verallgemeinerbarkeit von Océano aufwirft, ist die Motivation für das vermeintliche obiter dictum. Der Gerichtshof schien nämlich die Missbräuchlichkeit der betreffenden Klausel bereits als Voraussetzung für die Eröffnung des Anwendungsbereichs153 der Richtlinie anzusehen,154 wie es insbesondere der Generalanwalt auch dargestellt hatte.155 Dies überrascht; es vermag aber vielleicht zu erklären, warum der Gerichtshof sich hier berufen fühlte, überhaupt Ausführungen zu dieser Frage zu machen. Damit erscheint es jedenfalls sehr plausibel, dass der Gerichtshof in Océano in Übereinstimmung mit den Schlussanträgen die Feststellung der Missbräuchlichkeit als Anwendungsvoraussetzung für die Richt-
EuGH, 1.4.2004, Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten ./. Hofstetter, Slg. 2004 I-03403, Rn. 23. 151 So Basedow, in: Müller / Osterloh / Stein, Festschrift für G. Hirsch, S. 51, 56. 152 Peter Jann war allerdings auch bereits Berichterstatter in der Rs. C-240/98 Océano, was ein solches Missverständnis umso schwieriger erklärbar erscheinen lässt. 153 Eine überzeugende Differenzierung zwischen Anwendungsbereich und Regelungsinhalt von (dort: vollharmonisierenden) Richtlinien trifft Riehm, JZ 2006, 1035, 1037 ff. Danach wird der Anwendungsbereich einer Richtlinie durch „die Menge aller Sachverhalte, für welche die Richtlinie eine Regelungsaussage enthält“ gebildet. 154 So auch Henkel: Inhaltskontrolle von Finanzprodukten nach der Richtlinie 93/13/ EWG des Rates über mißbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen, S. 407. 155 Rn. 17 der Schlussanträge in der Rs. C-240/98 Océano. Siehe auch ausdrücklich EuGH, 21.11.2002, Rs. C-473/00 Cofidis SA ./. Jean-Louis Fredout, Slg. 2002 I-10875, Rn. 23. Dort führt der Gerichtshof unter dem Gliederungspunkt „Zulässigkeit“ aus: „Diese Klauseln fallen jedoch nur dann in den Anwendungsbereich der Richtlinie, wenn sie die Tatbestandsmerkmale des Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie erfüllen, d. h. nicht im Einzelnen ausgehandelt worden sind und entgegen dem Gebot von Treu und Glauben zum Nachteil des Verbrauchers ein erhebliches und ungerechtfertigtes Missverhältnis der vertraglichen Rechte und Pflichten der Vertragspartner verursachen.“ Noch eindeutiger sind die Schlussanträge des Generalanwalts Antonio Tizzano vom 18.8.2002, Rs. C-473/00 Cofidis SA ./. Jean-Louis Fredout, Slg. 2002 I-10875, Rn. 39: „Daher ist zunächst zu prüfen, ob im vorliegenden Fall tatsächlich missbräuchliche Klauseln vorliegen, da die Richtlinie andernfalls überhaupt nicht anwendbar wäre […].“ Der Generalwalt beruft sich in Fn. 24 der Schlussanträge zur Begründung dieser Prüfungsreihenfolge auf die Rs. C-240/98 Océano. Allerdings ist nie begründet worden, warum die Missbräuchlichkeit der Klausel eine Frage des Anwendungsbereichs der Richtlinie sein sollte. 150
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linie vorab prüfen wollte. Dies würde also gegen ein absichtliches obiter dictum hinsichtlich der Frage der Konkretisierungskompetenzen sprechen. c) Ablehnung der Konkretisierungsaufgabe Angesichts der Besonderheit der deutschen Fassung von Océano verwundert es nicht, dass der Gerichthof die erste Vorlage, die unmittelbar auf die Beurteilung der Missbräuchlichkeit einer konkreten Klausel zielte, aus Deutschland erhielt. In der Rs. Freiburger Kommunalbauten156 wollte der Bundesgerichtshof wissen, ob in einem Vertrag über die Errichtung eines Bauwerks (hier ein Pkw-Stellplatz in einem Parkhaus) die Vereinbarung einer vom Baufortschritt unabhängigen Vorleistungspflicht des Erwerbers der von der RL 93/13 vorgegebenen Klauselkontrolle standhält, sofern seine Ansprüche im Fall der Nichterfüllung der Bauleistung durch Bankbürgschaft abgesichert sind. Der Bundesgerichtshof ging davon aus, dass die Klausel – gemessen am dispositiven deutschen Werkvertragsrecht – nicht missbräuchlich war.157 Das Oberlandesgericht Karlsruhe hatte dies in der Berufungsinstanz anders gesehen.158 Die Vorlagefrage des BGH zielte in der Sache darauf, zu erfahren, ob es mit der RL 93/13 vereinbar ist, eine Klausel wie die streitgegenständliche als zulässig und wirksam zu behandeln.159 Der Europäische Gerichtshof beantwortet das Vorabentscheidungsersuchen mit einer wahrhaftigen Abfuhr an das vorlegende Gericht und der schlichten Feststellung, es sei „[…] Sache des nationalen Gerichts […], festzustellen, ob eine Vertragsklausel wie die, die Gegenstand des Ausgangsverfahrens ist, die Kriterien erfüllt, um als missbräuchlich im Sinne von Artikel 3 Absatz 1 der Richtlinie qualifiziert zu werden.“
Die bemerkenswert kurze Begründung des Urteils stützt sich auf die folgenden fünf, vom Gerichtshof äußerst knapp ausgeführten Gesichtspunkte,160 auf die im Folgenden näher einzugehen ist: Erstens führt der EuGH aus, Art. 3 definiere „nur abstrakt die Faktoren […], die einer nicht im Einzelnen ausgehandelten Vertragsklausel missbräuchlichen Charakter verleihen“. Hierbei beruft sich der Gerichtshof auf das Urteil Kommission ./. Schweden,161 ein von der EU-Kommission initiiertes Vertragsverletzungsverfahren. Die Kommission hatte die Auffassung vertreten, dass die nach Art. 3 Abs. 3 im Anhang der Richtlinie befindliche Liste EuGH, 1.4.2004, Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten ./. Hofstetter, Slg. 2004 I-03403. 157 BGH, Vorlagebeschluss vom 2.5.2002, Az. VII ZR 178/01 (bei juris), Rn. 16 ff. 158 OLG Karlsruhe, Urteil vom 19.4.2001, Az. 4 U 83/00 (bei juris). 159 So auch Hesselink, ERCL 2006, 366, 369. 160 Siehe Rn. 19–24 des Urteils in der Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten. 161 EuGH, 7.5.2002, Rs. C-478/99 Kommission der Europäischen Gemeinschaften ./. Königreich Schweden, Slg. 2002 I-04147. 156
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von „Klauseln, die für mißbräuchlich erklärt werden können“ als solche ins nationale Recht umgesetzt werden muss. Die Entscheidung ist deshalb für die vorliegende Untersuchung von Belang, weil sich der Gerichtshof für die Beurteilung des Umfangs der Umsetzungspflicht zunächst zur Rechtsnatur der im Anhang befindlichen Liste äußern musste,162 die als solche eine umfangreiche Konkretisierung des europäischen Gebots von Treu und Glauben – vor allem, aber ggf. nicht nur, als Maßstab der Klauselkontrolle – darstellen könnte.163 Generalanwalt Geelhoed164 unterschied insofern zwischen einem „normativ-bindenden Teil“ der Richtlinie, der u. a. die Generalklausel des Art. 3 Abs. 1 umfasse und einem „indikativ-illustrativen Teil“ in Gestalt des Anhangs.165 Die Liste sei insoweit nur Anhaltspunkt bzw. Auslegungshilfe und damit – so der Generalanwalt ausdrücklich – „nicht bindend“.166 Der Gerichtshof nimmt dies auf und ist der Auffassung, dass die Liste den „Ermessensspielraum“ der Mitgliedstaaten bei der Umsetzung der Klauselrichtlinie nicht einschränke;167 vielmehr sei die Liste nur eine „Informationsquelle“. Er akzeptiert daher die schwedische Umsetzung, die die Liste lediglich in die Gesetzgebungsmaterialien aufgenommen hatte. Die Entscheidung stellt – vor allem nach Océano – eine nicht unbedingt zu erwartende Abwertung der Liste dar.168 Zugleich hat der Gerichtshof in Kommission ./. Schweden eine Äußerung getätigt, auf die er sich nun in Freiburger Kommunalbauten beruft: „Artikel 3 der Richtlinie definiert abstrakt die Faktoren, die einer Klausel missbräuchlichen Charakter verleihen.“ Die zusätzliche Beschränkung durch das nun eingefügte „nur“, die nun offenbar im Sinne einer Nicht-Anwendbarkeit auf Einzelfälle verstanden werden soll, ist in Kommission ./. Schweden aber nicht enthalten gewesen. Die Aussage, wonach eine gesetzliche Bestimmung abstrakt ist, hätte man sonst im besten Fall wohl als SelbstverständlichSo auch die Schlussanträge des Generalanwalts Leendert A. Geelhoed vom 31.1.2002, Rs. C-478/99 Kommission der Europäischen Gemeinschaften ./. Königreich Schweden, Slg. 2002 I-04147, Rn. 22. 163 Zur Frage, inwieweit der Liste allgemein vertragsrechtliche Regeln zu entnehmen sind vgl. Henke, Enthält die Liste des Anhangs der Klauselrichtlinie 93/13/EWG Grundregeln des europäischen Vertragsrechts? 164 Schlussanträge des Generalanwalts Leendert A. Geelhoed vom 31.1.2002, Rs. C-478/99 Kommission der Europäischen Gemeinschaften ./. Königreich Schweden, Slg. 2002 I-04147. 165 Rn. 35 ff. der Schlussanträge in der Rs. C-478/99 Kommission ./. Schweden. 166 Siehe Rn. 29, 30 und 37 der Schlussanträge in der Rs. C-478/99 Kommission ./. Schweden. 167 Rn. 21 des Urteils in der Rs. C-478/99 Kommission ./. Schweden. Ein solcher Spielraum muss dann wohl erst recht bestehen, wenn ein bestimmter Fall von der Liste nicht erfasst wird. Insoweit kann man hier die in der Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten gemachte Aussage schon angedeutet sehen. Allerdings blieb damit immer noch offen, ob der Gerichtshof nicht eine Mindestkontrolle nach unten hin gewährleisten könnte. 168 Vgl. Loos, ERCL 2007, 439, 441. 162
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keit angesehen. Der Gerichtshof legt hier die Grundlage dafür, die Grenzen zwischen einer Generalklausel oder einem unbestimmten Rechtsbegriff einerseits und einer unverbindlichen Zielbestimmung andererseits zu verwischen. Zweitens erklärt der EuGH, der Anhang habe lediglich Hinweischarakter.169 Dies führt der Gerichtshof wohl aus, um sich nicht mit der Anwendbarkeit von lit. o) des Anhangs der Klauselrichtlinie befassen zu müssen, wonach Klauseln für missbräuchlich erklärt werden können, die zur Folge haben, dass der Verbraucher allen seinen Verpflichtungen nachkommen muss, obwohl der Gewerbetreibende seine Verpflichtungen nicht erfüllt. Auf diese Vorschrift hatten sich die Beklagten, Herr und Frau Hofstetter, nämlich berufen, was auch naheliegend erschien. Warum der Gerichtshof diesen Hinweis nicht nutzt, um der Generalklausel im Hinblick auf die Vorlagefrage Konturen zu verleihen, teilt er nicht mit. Drittens führt der EuGH aus, Art. 4 verlange eine umfassende Prüfung der Umstände des Einzelfalles, wozu insbesondere auch „eine Prüfung des nationalen Rechtssystems“ gehöre.170 Dies ist grundsätzlich ein Argument, das weiter zu verfolgen sein wird, wobei die daraus zu ziehenden Schlussfolgerungen aber offen sind. Der Gerichtshof befasst sich im Bereich des Richtlinienrechts ja in aller Regel mit dem jeweiligen Sachverhalt und dem anwendbaren nationalen Recht, wobei ihm beide Aspekte vom vorlegenden Gericht vorgetragen werden. Viertens zieht der Gerichtshof aus dem bisher Gesagten den entscheidenden Schluss, er könne daher nur „[…] die vom Gemeinschaftsgesetzgeber zur Definition des Begriffes der missbräuchlichen Klausel verwendeten allgemeinen Kriterien auslegen […]“. Die Anwendung dieser Kriterien auf eine konkrete Klausel in einem bestimmten Fall sei ihm dagegen verwehrt. Hierbei beruft sich der Gerichtshof auch auf die ausführlicheren Schlussanträge von Generalanwalt Geelhoed.171 Diese zeigen allerdings, anders als das Urteil, ein weiteres und möglicherweise entscheidendes Motiv für die Entscheidung offen auf: Sie sind sichtlich von der Befürchtung geprägt, der Gerichtshof könne zur „privatrechtlichen Superrevisionsinstanz“172 im Bereich des AGB-Rechts werden. So beginnt der Generalanwalt seine Schlussanträge mit der Vorbemerkung, es bestehe Veranlassung, „auf den Umfang der Auslegungsaufgabe des Gerichtshofs einzugehen“ und dieser „strikte Grenzen zu setzen“.173 Außerdem stützt er sich später auf das Erfordernis „des ökonomischen Gebrauchs der Rechtsbehelfe“ und äußert die Sorge, die Frage der Missbräuchlichkeit von Klauseln in Verbraucherverträgen könne „immer wie169 Rn. 20 des Urteils in der Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten, hier zu Recht mit Verweis auf die Rs. C-478/99 Kommission ./. Schweden. 170 Rn. 21 des Urteils in der Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten. 171 Rn. 22 des Urteils in der Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten. 172 Begriff von Canaris, EuZW 1994, 417. 173 Rn. 2 f. der Schlussanträge in der Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten.
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der Anlass geben, Vorabentscheidungsfragen vorzulegen.“174 Er gibt auch das Ergebnis seiner Ausführungen – nämlich eine Verweigerung der Beantwortung der Vorlagefrage – vorab bekannt.175 Die Erklärungen der Verfahrensbeteiligten, die sich offenbar mit der Auslegung der Klausel in der Sache auseinandergesetzt hatten, finden keine Berücksichtigung.176 Die eigentliche Argumentation des Generalanwalts beschränkt sich sodann auf folgende Schlussfolgerung: Wenn die Liste im Anhang der Richtlinie nur als Hinweis diene und den Ermessensspielraum der Mitgliedstaaten nicht einschränke, so könne die Beurteilung der Missbräuchlichkeit einer Klausel „im konkreten Fall […] nicht unter die Geltung des Gemeinschaftsrechts“ fallen. Vielmehr stelle das Unionsrecht „nur die abstrakten Rahmenbedingungen auf“.177 Damit kommt der Vorschlag des Generalanwalts praktisch einer Unverbindlichkeit der Richtlinie gleich und die erwähnten „abstrakten Rahmenbedingungen“ bestehen mehr oder weniger nur darin, dass überhaupt eine AGB-Kontrolle stattfindet, während ihr materieller Gehalt den Mitgliedstaaten überlassen bleibt. Dies ist mit dem Harmonisierungsziel in Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie nicht zu vereinbaren. Der restriktive Ansatz des Generalanwalts soll nämlich gerade nicht nur für die Anwendung im Einzelfall gelten, sondern auch viel allgemeiner für die Kriterien der Missbräuchlichkeit von Klauseln.178 Zwar räumt Geelhoed ein, dass der Gerichtshof grundsätzlich für die Auslegung von Art. 3 der Klauselrichtlinie zuständig ist und sich daher ggf. dazu äußern muss, ob „eine bestimmte nationale Regelung den von der Richtlinie geforderten Mindestschutz bietet“. Die Frage nach der Missbräuchlichkeit konkreter Klauseln könnte jedoch nicht den Gegenstand einer Vorlage bilden.179 Zusätzlich sieht der Generalanwalt die Notwendigkeit, seine Argumentation mit der von Teilen der Literatur vertretenen Meinung zu untermauern, dass es „keiner einheitlichen Auslegung des Gemeinschaftsrechts in diesem Punkt“ bedürfe,180 da ja der Vergleichsmaßstab das nationale Recht sei. Die Ausführungen des Generalanwalts hinsichtlich des Ermessensspielraums der Mitgliedstaaten im Bereich der RL 93/13, dessen Beeinträchtigung er befürchtet, überzeugen nicht. Zwar ist es zutreffend, dass die Klauselrichtlinie mindestharmonisierend ist und die Mitgliedstaaten damit einen Spielraum nach oben – also im Sinne einer strengeren Klauselkontrolle als durch die Richtlinie Rn. 29 der Schlussanträge in der Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten. Rn. 4 der Schlussanträge in der Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten. 176 Rn. 12 der Schlussanträge in der Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten. 177 Rn. 17 der Schlussanträge in der Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten. 178 Vgl. insbesondere Rn. 18 der Schlussanträge in der Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten: „Die Beantwortung der Frage, welche Art von Klauseln dieses erhebliche und ungerechtfertigte Missverhältnis verursachen kann, ist den nationalen Behörden überlassen.“ 179 Rn. 29 der Schlussanträge in der Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten. 180 Rn. 30 der Schlussanträge in der Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten. 174 175
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geboten – haben. Nach unten – also den Mindeststandard der Klauselkontrolle und damit des Verbraucherschutzes im AGB-Recht betreffend – ist die Richtlinie aber verbindlich. Damit haben nationale Gerichte jedenfalls dann eine Frage der Auslegung der Richtlinie dem EuGH vorzulegen, wenn sie sich ihrer Auslegung nicht sicher sind und befürchten müssen, mit ihrer Auslegung einer nationalen Umsetzungsbestimmung von Art. 3 Abs. 1 den zwingend vorgeschriebenen Mindestschutz der Richtlinie zu unterschreiten, indem sie eine bestimmte Klausel für zulässig erklären. Fünftes und letztes Begründungselement ist dann die Abgrenzung vom Urteil Océano.181 Dort bestätigt der Gerichtshof indirekt die Probleme in der Auslegung dieser Entscheidung, indem er einmal behauptet, die streitgegenständliche Klausel habe „[…] alle Kriterien erfüllt, um als missbräuchlich im Sinne der Richtlinie qualifiziert werden zu können“. Nur zwei Sätze später klingt dies anders, wenn der EuGH schreibt: „Daher konnte die Missbräuchlichkeit dieser Klausel festgestellt werden […]“.182 Jedenfalls sieht sich der Gerichtshof hier offenbar in der Pflicht, ein Distinguishing gegenüber Océano zu betreiben. Dieses besteht darin, dass in Océano ausnahmsweise die Situation dergestalt gewesen sei, dass die gegenständliche Klausel „[…] ausschließlich und ohne Gegenleistung zugunsten des Verbrauchers für den Gewerbetreibenden vorteilhaft war, da sie unabhängig vom Vertragstyp die Wirksamkeit des gerichtlichen Schutzes der Rechte in Frage stellte, die die Richtlinie dem Verbraucher zuerkennt.“
Der Gerichtshof schien damit folgende Unterscheidung zu machen183: Insoweit er die Missbräuchlichkeit einer Klausel abstrakt – also ohne Rückgriff etwa auf die Umstände des Vertragsschlusses (Art. 4 Abs. 1) und insbesondere auf das anwendbare nationale Vertragsrecht, das grundsätzlich für ein Gleichgewicht der vertraglichen Rechte und Pflichten der Parteien sorgt – beurteilen kann, ist er für die Auslegung von Art. 3 Abs. 1 der Klauselrichtlinie auch in Bezug auf die Beurteilung der Missbräuchlichkeit einer bestimmten Klausel zuständig.184 Andernfalls wird er nur allgemeine Kriterien zur Definition des Begriffs der missbräuchlichen Klausel auslegen. Es erstaunt allerdings, dass er auch das in Freiburger Kommunalbauten nicht getan hat. Zwar hatte der BGH nur nach der Missbräuchlichkeit der konkret in Frage Rn. 23 des Urteils in der Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten. Rn. 23 des Urteils in der Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten; die Hervorhebungen sind jeweils solche des Verf. 183 Kritisch zur praktischen Anwendbarkeit der vom Gerichtshof gemachten Differenzierung Hesselink, ERCL 2006, 366, 371. 184 Grundmann, in: Grundmann / Mazeaud, General clauses and standards in European contract law, S. 157 will danach unterscheiden, eine Klausel ausschließlich Nachteile für den Verbraucher mit sich bringt – dann sei der EuGH selbst zur Anwendung der Generalklausel berufen – oder ob eine Abwägung der für den Verbraucher entstehenden Vor- und Nachteile vorzunehmen sei, was eine Aufgabe der nationalen Gerichte darstelle. 181 182
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stehenden Klausel gefragt. Allerdings bemüht sich der EuGH in der Regel, Vorlagefragen so auszulegen, dass sie zulässig sind.185 Es wäre also durchaus denkbar gewesen, die Vorlage beispielsweise dahingehend umzudeuten, inwieweit bei der Beurteilung der Missbräuchlichkeit einer Klausel wegen Umkehrung der gesetzlich vorgesehenen Leistungsreihenfolge eine dem Verbraucher als Sicherheit gegebene Bankbürgschaft als Ausgleich in Betracht gezogen werden darf.186 Zu kritisieren187 ist an Freiburger Kommunalbauten also zweierlei: Erstens die fehlende Auslegung der „allgemeinen Kriterien“, zu der der Gerichtshof nach eigener Auslegung berufen gewesen wäre. Sie führt dazu, dass er in der Sache überhaupt keine Antwort gibt und das vorlegende Gericht aus Sicht Einiger damit geradezu brüskiert.188 Damit lehnt das Urteil sich in der Sache sehr nahe an die Schlussanträge an, die nicht nur die Anwendung im Einzelfall, sondern auch die „Beantwortung der Frage, welche Art von Klauseln dieses erhebliche und ungerechtfertigte Missverhältnis verursachen kann […] den nationalen Behörden überlassen“ wollten. Zweitens ist die Begründung für die vom Gerichtshof gewählte Kompetenzverteilung zumindest zu undifferenziert. Sie ist einerseits eine Selbstverständlichkeit: Der EuGH legt nach 185 Siehe nur EuGH, 30.09.2003, Rs. C-224/01 Gerhard Köbler ./. Republik Österreich, Slg. 2003 I-10239, Rn. 60 m. w. N. aus der Rechtsprechung. 186 Mittlerweile hat der Bundesgerichtshof in vergleichbaren Konstellationen mehrfach Klauseln für missbräuchlich und unwirksam erklärt, die den Bestellern von Werkleistungen eine Vorleistungspflicht auch dann auferlegten, wenn die Leistung nicht vollständig oder mangelhaft erbracht wurde, vgl. BGH, 7.3.2013, VII ZR 162/12 und BGH, 4.3.2010, III ZR 79/09, NJW 2013, 1431–1434 (auch bei juris). Zu divergierenden Urteilen unter den mitgliedstaatlichen Gerichten in ähnlichen Fragen siehe Kieninger, RabelsZ 73 (2009), 793, 802. 187 Ebenso Basedow, in: Müller / Osterloh / Stein, Festschrift für G. Hirsch, S. 51, 61, der darauf hinweist, der EuGH habe „für seine Verweigerung so brüchige Gründe genannt, dass es schwerfällt, daran zu glauben, dass sie den Gerichtshof selbst überzeugt haben.“; Tilmann, GPR 2004, 182, 188 (Verteilung der Konkretisierungskompetenzen „bedenklich“); Schmidt, Martin, Konkretisierung von Generalklauseln im europäischen Privatrecht, S. 228 („abzulehnen“); befürwortend dagegen Freitag, EWiR 2004, 397, 398, der befürchtet, der EuGH wäre sonst „in die Rolle eines Ersatzzivilrechtsgesetzgebers gedrängt worden“ und Rosenfeld, GPR 2005, 71, 73, der ausführt, die Bildung eines autonomen Missbrauchsbegriffs durch den EuGH sei „weder praktikabel noch wünschenswert“. 188 Wittwer, European Law Reporter 2004, 380, 382, 385 spricht von einer „fadenscheinigen und widersprüchlichen Begründung“ und bezeichnet das Urteil als „Abfuhr“ an das vorlegende Gericht, das bei konsequenter Fortführung „das Ende des europäischen Privatrechts“ bedeute; Hesselink, ERCL 2006, 366, 370 bezeichnet die Entscheidung als aus Sicht des Harmonisierungsziels „desaströs“; Luby, RTD Com. 2004, 838, vergleicht die Rechtsprechung mit einem „bateau ivre“ (wörtl. „betrunkenes Boot“) und kritisiert auch den dreisten Ton der Entscheidung; Osztovits / Nemessányi, ZfRV 2010, 22, 24 bezeichnen die „Wende“ des Gerichtshofs als „nicht besonders überzeugend“. Eher zustimmend dagegen: Unberath / Johnston, CMLR 2007, 1237, 1265 ff.; Fuchs, in: Ulmer / Brandner / Hensen, AGB-Recht, § 307 BGB Rn. 401 „im Prinzip zu begrüßen“.
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Art. 267 AEUV das europäische Recht aus und wendet es nicht auf den Einzelfall an, was Sache der nationalen Gerichte ist. Dahinter steht andererseits aber eine Abgrenzung zwischen Auslegung und Anwendung, die im Bereich von Generalklauseln oder unbestimmten Rechtsbegriffen Schwierigkeiten aufwerfen kann189 und damit keineswegs so „klar“ ist, wie suggeriert wird.190 Der Gerichtshof geht hier einen Weg, der den nationalen Rechtsordnungen fremd sein dürfte, indem er einen wesentlichen Teil der Rechtsauslegung in den Bereich der Rechtsanwendung verlagert. Eigentlich gilt: Ob ein feststehender Sachverhalt einem Gesetz unterfällt, ist eine Frage der Auslegung des Gesetzes. Festzustellen, ob die Voraussetzungen hierfür im Einzelfall tatsächlich gegeben sind – ob der fragliche Sachverhalt also vorliegt – ist eine Frage der Anwendung.191 Auch wenn dieser rechtstheoretischen und methodischen Frage hier nicht im Einzelnen nachgegangen werden kann, so wird doch jedenfalls klar, dass der Gerichtshof die nur scheinbar klare Abgrenzung hier in einer Weise vornimmt, die die Klauselkontrolle im Grunde zu einer bloßen Billigkeitsprüfung im Einzelfall werden lässt. Dies war aber nicht gewollt und die umfangreiche Rechtsprechung nationaler oberster Gerichte im Bereich des AGB-Rechts zeigt ja auch, dass diese die Auslegung des Verbots missbräuchlicher Klauseln sehr wohl als Rechtsfrage sehen.192 Andernfalls würden entsprechende Verfahren die obersten Gerichte ja überhaupt nicht erreichen. Als positive Erkenntnis blieb aus Freiburger Kommunalbauten zumindest die Möglichkeit, dass der EuGH in besonderen Fällen ausnahmsweise doch die Generalklausel umfassend auslegen kann, wenn eine Klausel schon unabhängig vom nationalen Recht missbräuchlich ist.193 Die Hoffnung
189 Die Trennung zwischen Auslegung und Anwendung wird schon für unscharf und daher für die Abgrenzung der Kompetenz des EuGH wenig geeignet gehalten, siehe etwa Adrian, Grundprobleme einer juristischen (gemeinschaftsrechtlichen) Methodenlehre, S. 815 ff. m. w. N., insbesondere Fn. 876. Auch Röthel, ZEuP 2005, 418, 424 weist darauf hin, dass die Unterscheidung zwischen Auslegung und Anwendung nicht sauber zu treffen sei. 190 Siehe Rn. 29 der Schlussanträge sowie Rn. 22 des Urteils in der Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten. 191 Das entspricht jedenfalls der herrschenden Meinung. Vgl. aus deutscher Sicht etwa Zippelius, Juristische Methodenlehre, S. 80 f. Anders allerdings zu unbestimmten Rechtsbegriffen, hier am Beispiel des Begriffs der reasonableness in England, die dort offenbar als Tatfrage gesehen wird Hager, Rechtsmethoden in Europa, S. 110. 192 In diesem Sinne auch Basedow, Nationale Justiz und Europäisches Privatrecht – Eine Vernetzungsaufgabe, S. 11, der ausführt, die Herausbildung von Fallgruppen zur Generalklausel des AGB-Rechts zeige, dass deren Ausfüllung nicht notwendig einen Einzelfallbezug aufweise. 193 Basedow, in: Müller / Osterloh / Stein, Festschrift für G. Hirsch, S. 51, 62 äußerte daher die Hoffnung, dass als Kompromiss zumindest solche Vorabentscheidungsersuchen weiter zulässig seien, die Klauseln zum Gegenstand hätten, die entweder kategorisch einseitig seien oder die sich in der Liste des Richtlinienanhangs wiederfänden.
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auf eine umfangreichere Rechtsprechung dieser Art erfüllte sich in der Folge aber zunächst nicht. Die erste Bestätigung der in Freiburger Kommunalbauten getroffenen Kompetenzverteilung findet sich in der Entscheidung Mostaza Claro.194 Hier ging es um einen Mobilfunkvertrag mit einer Mindestlaufzeit, der eine Schiedsklausel enthielt. Das vorlegende Gericht, das auf den Rechtsbehelf der Verbraucherin einen gegen diese ergangenen Schiedsspruch aufheben sollte, hielt die Schiedsklausel für missbräuchlich. Die Missbräuchlichkeit der Schiedsklausel hatte die Verbraucherin jedoch im Schiedsverfahren selbst nicht vorgetragen. Es stellte sich nun die Frage, ob das staatliche Gericht unter diesen Umständen die Missbräuchlichkeit der Schiedsklausel noch berücksichtigen kann. Auch in diesem Verfahren hatten die Beteiligten wiederum – gewissermaßen als Vorfrage – ausführlich die Missbräuchlichkeit der Schiedsklausel in der Sache erörtert.195 Nicht ohne den Hinweis, dass er selbst die Klausel für missbräuchlich halte, führt der Generalanwalt dann mit Hinweis auf Freiburger Kommunalbauten aus, dass die Beurteilung dieser Frage nicht Sache des Gerichtshofs sei. Die Unterscheidung zwischen Mostaza Claro und Océano Grupo – also zwischen der Möglichkeit zur Beurteilung der Missbräuchlichkeit einer Schiedsklausel einerseits und einer Gerichtsstandsklausel andererseits durch den EuGH selbst – umgeht der Generalanwalt in der Sache und beschränkt sich auf den pauschalen Hinweis, dass der letztgenannte Fall einen „ganz außergewöhnlichen Präzedenzfall“ dargestellt habe, „der als solcher nicht verallgemeinert werden kann“.196 Nun wären aber die in Océano Grupo benutzten Argumente wohl auch für die hier streitgegenständliche Schiedsklausel passend gewesen.197 Diesem Problem weicht der Generalanwalt zunächst mit dem pauschalen Hinweis, im „Allgemeinen“ seien „die Fälle aber nicht so offensichtlich“198 aus und argumentiert dann im Wesentlichen, eine Beurteilung der Missbräuchlichkeit der Klausel durch den EuGH sei ja gar nicht erforderlich, da das nationale Gericht diese bereits festgestellt hatte. Der Gerichtshof selbst geht auf die Frage der Missbräuchlichkeit der Klausel kaum noch ein, indem er in einer Vorbemerkung feststellt, dass das nationale Gericht die betreffende Klausel für missbräuchlich halte und im Übrigen Freiburger Kommunalbauten mit dem pauschalen Hinweis zitiert, es sei 194 EuGH, 26.10.2006, Rs. C-168/05 Elisa María Mostaza Claro ./. Centro Móvil Milenium SL, Slg. 2006 I-10421. 195 Schlussanträge des Generalanwalts Antonio Tizzano vom 27.4.2006, Rs. C-168/05 Elisa María Mostaza Claro ./. Centro Móvil Milenium SL, Slg. 2006 I-10421, Rn. 23–27. 196 Rn. 30 der Schlussanträge in der Rs. C-168/05 Mostaza Claro. 197 Das ergibt sich schon aus Rn. 49 der Schlussanträge zur Rs. C-168/05 Mostaza Claro, wonach die „Verteidigungsrechte des Verbrauchers“ in dem betreffenden Schiedsverfahren „offenbar sehr stark eingeschränkt“ waren. 198 Rn. 32 der Schlussanträge in der Rs. C-168/05 Mostaza Claro.
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„[…] daran zu erinnern, dass der Gerichtshof sich nicht zur Anwendung der vom Gemeinschaftsgesetzgeber zur Definition des Begriffes der missbräuchlichen Klausel verwendeten allgemeinen Kriterien auf eine bestimmte Klausel äußern kann, die anhand der Umstände des konkreten Falles zu prüfen ist […].“199
Mostaza Claro kann damit als Abkehr von Océano angesehen werden, wonach als Ausnahme zur Freiburger Kommunalbauten-Doktrin der EuGH die Missbräuchlichkeit einer Klausel selbst beurteilt, wenn diese unabhängig vom konkreten Fall immer gegen Treu und Glauben verstößt.200 Allerdings war die Missbräuchlichkeit der Klausel hier eben nicht Gegenstand der Vorlagefrage, so dass es auch noch denkbar war, dass der EuGH lediglich von seiner Prüfungsreihenfolge, die Missbräuchlichkeit als Anwendungsvoraussetzung der Richtlinie gewissermaßen vorab zu prüfen, abgerückt ist. Die Ablehnung jeglicher unionsautonomen Konkretisierung der Generalklausel hat sich anschließend aber in der Entscheidung Pannon201 stabilisiert. Diese geht auf ein Vorabentscheidungsersuchen aus Ungarn zurück und betraf abermals eine Gerichtsstandsklausel in einem Mobilfunkvertrag zugunsten der Gerichte am Sitz des Mobilfunkanbieters. Zwei Vorlagefragen betrafen wieder die amtswegige Prüfung der Missbräuchlichkeit von Klauseln und wurden vom Gerichtshof im Einklang mit der bereits ergangenen Rechtsprechung dahingehend beantwortet, dass eine vorherige Anfechtung der Klausel durch den Verbraucher nicht erforderlich ist und dass das nationale Gericht eine Klausel – auch bereits im Rahmen der Prüfung der eigenen Zuständigkeit – von Amts wegen auf ihre Missbräuchlichkeit prüft. Allerdings bestehe diese „Verpflichtung“ – so der Gerichtshof ausdrücklich – nur, „sobald es [das nationale Gericht] über die hierzu erforderlichen rechtlichen und tatsächlichen Grundlagen“ verfügt. 202 Von besonderem Interesse für diese Untersuchung ist die dritte Vorlagefrage, die darauf abzielte, „welche Gesichtspunkte“ bei der Prüfung der Missbräuchlichkeit einer Klausel „vom nationalen Richter zu berücksichtigen und abzuwägen“ sind. Das vorlegende Gericht hatte aus der Verweigerung einer Antwort in Freiburger Kommunalbauten offenbar seine Schlüsse gezogen und versuchte nun, die Vorlagefrage in einer Weise zu formulieren, die auf eine Antwort durch den EuGH hoffen ließ.203 In seiner Antwort wiederholt der Rn. 22 des Urteils in der Rs. C-168/05 Mostaza Claro. Anders Loos, ERCL 2004, 439, 444, der davon ausgeht, dass der EuGH sich zu dieser Möglichkeit hier nur deshalb nicht geäußert habe, weil die Voraussetzungen nicht vorlagen. Dies ergebe sich – so Loos – daraus, dass Frau Mostaza Claro die Möglichkeit hatte, die Durchführung des Schiedsverfahrens innerhalb von 10 Tagen abzulehnen (Rn. 17 des Urteils in der Rs. C-168/05 Mostaza Claro). 201 EuGH, 4.6.2009, Rs. C-243/08 Pannon GSM Zrt. ./. Erzsébet Sustikné Győrfi, Slg. 2009 I-04713. 202 Rn. 32 des Urteils in der Rs. C-243/08 Pannon. 203 Osztovits / Nemessányi, ZfRV 2010, 22, 24 sprechen von einem erkennbaren Bestreben vorlegender ungarischer Gerichte, der „Freiburger Kommunalbauten-Falle zu entgehen“. 199 200
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EuGH zunächst die wesentlichen Aussagen aus Freiburger Kommunalbauten.204 Er geht dann auf Océano ein und gibt die wesentlichen Elemente der dortigen Begründung für die von ihm angenommene Missbräuchlichkeit der Gerichtsstandsklausel wieder. Anschließend verweigert er wiederum jede über Océano hinausgehende inhaltliche Festlegung zu den Kriterien der Missbräuchlichkeit und lässt das nationale Gericht mit dieser Frage alleine.205 Océano wird dabei zudem insofern relativiert, als dass die betreffende Klausel nun nur noch „als missbräuchlich angesehen werden kann“ und der Gerichtshof suggeriert, er habe schon damals nur die „allgemeinen Kriterien ausgelegt“.206 Damit kann Pannon als endgültige Abkehr von Océano angesehen werden,207 was die Konkretisierungskompetenzen angeht. Hinsichtlich der Auslegung der „allgemeinen Kriterien“ der Generalklausel liefert der EuGH im Vergleich zu Océano keinerlei neue Aspekte. Immerhin bleibt im Hinblick auf Gerichtsstandsklauseln zugunsten der Gerichte am Sitz des Gewerbetreibenden festzuhalten, dass diese „alle Kriterien erfüll[en], um als missbräuchlich im Sinne der Richtlinie qualifiziert werden zu können“. Dem EuGH ist zwar zuzugeben, dass er die Formel zur Aufgabenteilung zwischen Gerichtshof und nationalem Richter nicht erst in der Rechtsprechung zur Klauselrichtlinie benutzt hat. So hat der Gerichtshof etwa im Urteil Lloyd Schuhfabrik Meyer,208 einer markenrechtlichen Entscheidung, den BeRn. 37–39 des Urteils in der Rs. C-243/08 Pannon. Rn. 43 des Urteils in der Rs. C-243/08 Pannon. 206 Rn. 42 des Urteils in der Rs. C-243/08 Pannon. Der EuGH zitiert hier nur Rn. 21 aus der Rs. C-240/98 Océano. Mit der insoweit – vor allem in der deutschen Fassung – weit eindeutigeren Rn. 24 der Entscheidung Océano ist dies jedoch schwer vereinbar. So auch Basedow, in: MüKo BGB, Vorbemerkung § 305 BGB, Rn. 42: „Diese Deutung des früheren Urteils steht allerdings in einem unverkennbaren Spannungsverhältnis zu seinem Wortlaut, der gerade keinen Beurteilungsspielraum für den nationalen Richter erkennen lässt.“ Pfeiffer, NJW 2009, 2367, 2369 spricht von „starker Biegung“ von Océano, unter der der Gerichtshof nun dem Vorhandensein von Klauseln, die „schon kraft gemeinschaftsrechtlicher Wertung zwingend als missbräuchlich anzusehen sind“ eine Absage erteile. Wurmnest, in: MüKo BGB, § 307, Rn. 28 geht davon aus, dass der EuGH die Ausführungen in der Rs. C-243/08 Pannon „im Endeffekt unter Korrektur seiner älteren Rspr.“ macht. 207 Aufrichtiger als der Gerichtshof in der Rs. C-243/08 Pannon sind insoweit etwa die Schlussanträge der Generalanwältin Verica Trstenjak vom 8.8.2011, Rs. C-327/10 Hypoteční banka a.s. ./. Udo Mike Lindner, Slg. 2011 I-11543. Sie schreibt dort in Fn. 38 zu Rn. 107: „In diesen Urteilen [den Rs. C-243/08 Pannon und C-137/08 Pénzügyi Lízing] ist der Gerichtshof von seiner im Urteil [in der Rs. C-240/98 Océano] vertretenen Position abgerückt, nach der die abschließende Beurteilung einer Gerichtsstandsklausel durch den Gerichtshof selbst möglich sein soll, wenn es sich um eine Klausel handelt, die ausschließlich und ohne Gegenleistung zugunsten des Verbrauchers für den Gewerbetreibenden vorteilhaft ist, da sie unabhängig vom Vertragstyp die Wirksamkeit des gerichtlichen Schutzes der Rechte in Frage stellt, die die Richtlinie 93/13 dem Verbraucher zuerkennt.“ 208 EuGH, 22.6.1999, Rs. C-342/97 Lloyd Schuhfabrik Meyer & Co. GmbH ./. Klijsen Handel BV, Slg. 1999 I-03819. 204 205
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griff der Verwechslungsgefahr nach der Ersten Markenrechtsrichtlinie209 auszulegen gehabt. Die Vorlagefragen zielten dabei teilweise sehr konkret auf den zugrundeliegenden Sachverhalt. Hier hat der Gerichtshof zunächst in Erinnerung gerufen, dass „[n]ach der ständigen Rechtsprechung zu der Aufgabenverteilung nach Artikel 177 EGVertrag [ …] die Aufgabe des Gerichtshofes darauf beschränkt [ist], dem nationalen Gericht die Auslegungskriterien anzugeben, die es zur Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits benötigt, während es Sache des nationalen Gerichts ist, diese Vorschriften, wie sie vom Gerichtshof ausgelegt worden sind, auf den anhängigen Fall anzuwenden […]. Demnach ist die Entscheidung, ob bei den beiden Marken, um die es im Ausgangsverfahren geht, eine Verwechslungsgefahr im Sinne der Richtlinie vorliegt, Sache des vorlegenden Gerichts.“210
Daran anschließend hat der Gerichtshof dem vorlegenden Gericht aber durchaus sehr konkrete Kriterien an die Hand gegeben, die bei der Beurteilung der Faktoren für das Vorliegen einer Verwechslungsgefahr zu berücksichtigen sind. Dieser zweite Schritt der Konkretisierung der Generalklausel ist aber bei der Missbräuchlichkeit bzw. dem Verstoß gegen Treu und Glauben in der Rs. Freiburger Kommunalbauten und der weiteren Rechtsprechung zunächst gerade nicht vollzogen worden. d) Erteilung von Hinweisen an das nationale Gericht Mittlerweile lässt sich aber eine Tendenz feststellen, dass der EuGH einen Mittelweg einschlägt und über die Auslegung der „allgemeinen Kriterien“ der Generalklausel die Konkretisierungskompetenz schrittweise an sich zieht und mit der Herausbildung eines unionsautonomen Standards der Klauselkontrolle beginnt.211 Allerdings steht diese Entwicklung erst am Anfang. Als erste Entscheidung in dieser Richtung darf – wenn auch noch unter Vorbehalt und vor allem im Hinblick auf die Schlussanträge – das auf eine ungarische Vorlage212 hin ergangene Urteil Pénzügyi Lízing213 gelten, das abermals eine 209 Erste Richtlinie 89/104/EWG des Rates vom 21. Dezember 1988 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Marken, ABl. 1989 L 40/1. 210 Rn. 11 des Urteils in der Rs. C-342/97 Lloyd Schuhfabrik Meyer; bereits verwendet in EuGH, 8.2.1990, Rs. C-320/88 Staatssecretaris van Financiën ./. Shipping and Forwarding Enterprise Safe BV, Slg. 1990 I-00285 (zur Frage der Auslegung des Begriffs „Lieferung eines Gegenstands“ im Sinne des Umsatzsteuerrechts). 211 So auch Kas / Micklitz, EWS 2013, 314, 323. 212 Zur Vorgeschichte der Vorlage und zu Änderung der Vorlagefragen siehe Osztovits / Nemessányi, ZfRV 2010, 22, 25, die davon sprechen, das vorlegende Gericht sei mit dem Urteil in der Rs. C-243/08 Pannon nicht zufrieden gewesen und habe daher auf die Frage des EuGH, ob es die Vorlage aufrecht erhalte, seine „originellen Fragen“ widerrufen, um „neue provozierende Fragen an den EuGH zu richten“. 213 EuGH, 9.11.2010, Rs. C-137/08 VB Pénzügyi Lízing Zrt. ./. Ferenc Schneider, Slg. 2010 I-10847.
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Gerichtsstandsklausel betraf, die in diesem Fall in einem Darlehensvertrag zur Finanzierung eines Kfz enthalten war. Diese Rechtssache ist auch insofern von besonderem Interesse, als das vorlegende Gericht mit der zurückhaltenden Rechtsprechung des EuGH zur Klauselrichtlinie offenbar nicht recht zufrieden war.214 Das Vorabentscheidungsersuchen enthält ganz explizit die Frage danach, ob der EuGH für die Auslegung von Art. 3 Abs. 1 der Klauselrichtlinie sowie der Liste der Klauseln in ihrem Anhang „zuständig“ sei. Außerdem wollte das vorlegende Gericht wissen, ob es zulässig ist, wenn bei einem Vorabentscheidungsersuchen zwar nach den von nationalen Gerichten zu berücksichtigenden Aspekten bei der Auslegung von Art. 3 Abs. 1 Klauselrichtlinie gefragt wird, dabei aber Bezug auf eine „besondere individuelle Vertragsklausel“ genommen wird. Und schließlich stellte das Gericht noch die Frage, ob es im Rahmen der amtswegigen Prüfung der Missbräuchlichkeit auch selbst – ohne Antrag der Parteien – Ermittlungen anstellen kann, wenn das vorgetragene Tatsachenmaterial für eine Beurteilung der Missbräuchlichkeit nicht ausreicht und das nationale Recht eine solche amtswegige Untersuchung nicht vorsieht. Es geht also auch um eine nähere Erläuterung der in Pannon verwendeten Formel für die Verpflichtung des nationalen Gerichts zur amtswegigen Missbrauchsprüfung, „sobald es über die hierzu erforderlichen rechtlichen und tatsächlichen Grundlagen verfügt“. Dieser Aspekt wurde von den Mitgliedstaaten offenbar für besonders wichtig gehalten, wie die Zahl der in den Schlussanträgen abgedruckten Stellungnahmen215 im Vergleich zu denen zur zweiten und dritten Vorlagefrage216 zeigt. Andersherum kann man dies auch so deuten, dass die Mehrzahl der Mitgliedstaaten die Frage einer weiterführenden Auslegung der Missbrauchsklausel und damit des Begriffs von Treu und Glauben in Art. 3 Abs. 1 durch den Gerichtshof zu diesem Zeitpunkt bereits aufgegeben hatten. Auf dem Weg zur unionsautonomen Konkretisierung der Generalklausel sind zunächst die Schlussanträge von Generalanwältin Trstenjak zu erwähnen, die mehrere Neuheiten aufweisen. Die Generalanwältin stellt in der Beantwortung der entscheidenden Fragen 2 und 3 zunächst klar, dass die Auslegungskompetenz des Gerichtshofs das gesamte Sekundärrecht umfasst und 214 Die Schlussanträge der Generalanwältin Verica Trstenjak vom 6.7.2010, Rs. C-137/08 VB Pénzügyi Lízing Zrt. ./. Ferenc Schneider, Slg. 2010 I-10847, Rn. 86 und 91 umschreiben dies mit dem Satz „Die Art, in der die Vorlagefragen abgefasst sind, lässt gewisse Unsicherheiten seitens des vorlegenden Gerichts hinsichtlich der Rolle sowohl des Gerichtshofs als auch der nationalen Gerichte im Rahmen der Auslegung und der Anwendung der Richtlinie 93/13 erkennen.“ und verstehen die zweite Vorlagefrage „eher im Sinne einer Aufforderung an den Gerichtshof, die Aufgabenverteilung […] zu erläutern […]“. 215 Rn. 43–58 des Urteils in der Rs. C-137/08 Pénzügyi Lízing. 216 Rn. 39–42 des Urteils in der Rs. C-137/08 Pénzügyi Lízing. Die zweite und dritte Vorlagefrage beinhalten die Fragen zur Konkretisierung der Generalklausel, wie sie soeben dargestellt wurden.
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dass dessen Begriffe grundsätzlich unionsautonom auszulegen sind.217 Dagegen spreche – in Anbetracht des Richtlinienziels der Rechtsangleichung – auch nicht die Tatsache, dass es sich um einen „normativ-ausfüllungsbedürftigen unbestimmten Rechtsbegriff“ handele.218 Dies wird im Übrigen auch hinsichtlich des Anhangs bejaht,219 so dass die sehr grundsätzlich gehaltenen Ausführungen Hoffnung schüren, die Generalanwältin werde sich nun für eine Abkehr von Freiburger Kommunalbauten aussprechen. Allerdings bestätigen die Schlussanträge die oben untersuchte Rechtsprechung. 220 Ferner führen sie aber auch aus, dass die „allgemeinen Kriterien“ noch weiter ausbaufähig seien: „Die Konkretisierung des Missbrauchstatbestands in Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie auf gemeinschaftsrechtlicher Ebene ist im Ergebnis als ein fortdauernder Vorgang zu verstehen, den letzten Endes der Gerichtshof zu steuern hat. Dessen Aufgabe muss es sein, schrittweise die abstrakten Kriterien der Missbräuchlichkeitskontrolle zu präzisieren und mit wachsender Erfahrung Konturen einer gemeinschaftlichen Missbrauchskontrolle zu erarbeiten.“221
Dies stellt sich als ein deutlicher Fortschritt im Vergleich zur bis dahin vom EuGH vorgetragenen Aufgabenverteilung dar, weil hierin ein klares Bekenntnis zu einem dynamischen Prozess liegt, in dessen Verlauf der Gerichtshof einen unionsautonomen Standard der Klauselkontrolle entwickelt und die Konkretisierungskompetenz damit zunehmend wieder an sich zieht.222 Etwas versteckt findet sich sodann noch der Hinweis, der Gerichtshof sei zwar bei der Auslegung von Art. 3 Abs. 1 auf Hinweise der nationalen Gerichte zum mitgliedstaatlichen Recht angewiesen. Allerdings sei es auch „[…] denkbar […], dass der Gerichtshof darüber hinaus hilfsweise auf von europäischen Akademikern ausgearbeitete Kodifizierungsmodelle wie das Draft Common Frame of Reference (DCFR) zurückgreift, um in zivilrechtlichen Streitfällen zu sachgerechten Lösungen zu kommen.“223
Ein Rückgriff auf den DCFR und vergleichbare Regelwerke wäre ein großer, für den Gerichtshof sicher revolutionärer Schritt, der zumindest zu einer teilweisen Vereinheitlichung des materiellen Maßstabs der Klauselkontrolle führen könnte.224 Die Entscheidung des Gerichtshofs selbst – in der Großen KamRn. 87 der Schlussanträge in der Rs. C-137/08 Pénzügyi Lízing. Rn. 88 f. der Schlussanträge in der Rs. C-137/08 Pénzügyi Lízing. 219 Rn. 90 der Schlussanträge in der Rs. C-137/08 Pénzügyi Lízing. 220 Rn. 93–98 der Schlussanträge in der Rs. C-137/08 Pénzügyi Lízing. 221 Rn. 99 der Schlussanträge in der Rs. C-137/08 Pénzügyi Lízing. 222 Kritisch Roth, Wulf-Henning, ERCL 2011, 425, 436 f., der diese Ansicht als vom Gerichtshof selbst nicht geteilt ansieht. 223 Fn. 54 der Schlussanträge in der Rs. C-137/08 Pénzügyi Lízing. 224 Vgl. auch Basedow, in: MüKo BGB (4. A. 2003), § 307 Rn. 26, der vorschlägt, man könne in manchen Fällen auch den Vergleichsmaßstab aus den Principles of European Contract Law gewinnen; ders., AcP 210 (2010), 157, 186 f. mit einer Ausweitung dieses 217 218
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mer – weicht von den Schlussanträgen allerdings erheblich ab. Die offensichtlichste Abweichung betrifft zunächst die Vorlagefrage zur Missbräuchlichkeitsprüfung von Amts wegen. Hier verpflichtet der EuGH die nationalen Gerichte zu amtswegigen Untersuchungsmaßnahmen – also den der Entscheidung zugrundeliegenden Tatsachenstoff betreffend – zur Feststellung der Missbräuchlichkeit von Klauseln auch dann, wenn das nationale Recht solche Befugnisse des Gerichts gar nicht vorsieht.225 Was die materielle Konkretisierung der Generalklausel angeht, rezitiert der EuGH zunächst die einschlägigen Passagen aus Freiburger Kommunalbauten, wie er sie u. a. in Pannon GSM wiederholt hatte.226 Damit entsteht zunächst der Eindruck, die bekannte Formel werde abermals verwendet, ohne dass der EuGH in der Sache zu den abstrakten Faktoren der Missbräuchlichkeit etwas sagt, dass über die bekannten Ausführungen zu Gerichtsstandsvereinbarungen hinausgeht. Im Anschluss an die eigentlich schon abgeschlossene Beantwortung der Frage nach der amtswegigen Untersuchungspflicht betreffs Tatsachen macht der EuGH dann aber noch einmal Ausführungen, die auf Océano zurückkommen und erläutern, warum eine Klausel wie die streitgegenständliche „als missbräuchlich im Sinne des Art. 3 der Richtlinie anzusehen ist“. 227 Ob dies eine gewollte Ankündigung der Rückkehr zu Océano darstellt228 oder angesichts der Beantwortung der zweiten Frage nur eine missverständliche Formulierung, bleibt allerdings offen.229 Im Ergebnis sind die Schlussanträge in Pénzügyi Lízing damit als äußerst progressiv zu beurteilen, während die Haltung des Gerichtshofs selbst zur Konkretisierung der Generalklausel im Unklaren bleibt. Vorschlags auf einen Gemeinsamen Referenzrahmen; Heinig, EuZW 2009, 885, 886 f. nennt ebenfalls den DCFR sowie einen späteren Gemeinsamen Referenzrahmen als möglichen Maßstab; Freitag, EWiR 2004, 397, 398 erwähnt den Acquis communautaire sowie Rechtsvergleichung als denkbare Quellen. 225 Basedow, in: MüKo BGB, Vorbemerkung § 305 BGB, Rn. 38, merkt an, dass unklar sei, ob diese Amtsermittlungspflicht auch dann gelten soll, wenn es nicht um Gerichtsstands- bzw. Schiedsklauseln geht, sondern um materielle Regelungen in AGB. Pfeiffer, LMK 2012, 311868 ist der Ansicht, der Gerichtshof differenziere nicht zwischen diesen beiden Fällen und somit schienen „seine Ausführungen auf sämtliche Anwendungsfälle der Klauselrichtlinie zu zielen“. Unklar erscheint auch, was die Tatsachenermittlungspflicht auslösen soll und worauf sie sich genau bezieht, nur auf die Tatsachen, die den Anwendungsbereich der Richtlinie eröffnen oder auch auf die materielle Missbrauchskontrolle. Siehe dazu unten S. 148. 226 Rn. 36–44 des Urteils in der Rs. C-137/08 Pénzügyi Lízing. 227 Rn. 53 des Urteils in der Rs. C-137/08 Pénzügyi Lízing. Hinzuweisen ist allerdings darauf, dass hier – wie auch in der Rs. C-240/98 Océano selbst – abermals die deutsche Sprachfassung eindeutiger klingt als die englische und die französische (s. o. Kapitel 2 Fn. 146). Allerdings hatte sich der Gerichtshof in in der Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten ja ein Verständnis von Océano zu eigen gemacht, das offenbar von der definitiven Feststellung der Missbräuchlichkeit der Klausel im Sinne der deutschen Fassung ausging. 228 In diesem Sinne wohl Bieder, in: Gsell/Hau, Zivilgerichtsbarkeit und Europäisches Justizsystem, S. 155, 159 f.
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aa) Fehlende Transparenz und die Bedeutung des Anhangs Materielle Konkretisierungselemente, die über Océano hinausgehen, nennt der Gerichtshof selbst erstmals in der Rechtssache C-76/10 Pohotovosť.230 Dort drängte sich ein Verstoß gegen Treu und Glauben wirklich auf. Die Verbraucherin, die eine Invaliditätsrente von ca. 370 Euro bezog, nahm ein Darlehen über ca. 600 Euro auf, das sie binnen eines Jahres in monatlichen Raten von ca. 100 Euro zurückzuzahlen hatte, wobei der effektive Jahreszins bei über 95 % lag. Als die Frau mehr als eine Rate nicht vollständig zahlte, wurden gemäß der vertraglichen Vereinbarung zusätzlich Verzugszinsen von 0,25 % pro Tag fällig, was noch einmal über 90 % Zinsen pro Jahr bedeutete. Nicht zuletzt enthielt der Kreditvertrag dann noch eine Vollmacht, die es im Fall eines Rechtsstreits dem Kreditgeber erlaubte, den den Kreditnehmer vertretenden Rechtsanwalt auszuwählenden. Hiervon konnte der Verbraucher sich nur gegen eine Vertragsstrafe i. H. v. weiteren 15 % des Darlehensvertrages lösen. Die nach einem Schiedsspruch beantragte Vollstreckung hob das nationale Gericht wegen Verstoßes gegen die guten Sitten auf. Das von der Kreditgeberin angerufene Rechtsmittelgericht legte dem EuGH u. a. die Frage vor, ob eine Klausel, die einen bestimmten Verzugszinssatz vorsieht, als missbräuchlich angesehen werden könnte (hier: 0,25 % pro Tag = 91,25 % p. a.). Der Gerichtshof verweist auf lit. e) des Anhangs der Richtlinie 231 und wiederholt sonst nur seine Kompetenzabgrenzung aus Freiburger Kommunalbauten,232 obwohl die Missbräuchlichkeit der Zinssätze sich hier geradezu aufdrängt und ein europäischer Standard ja insbesondere für die Euro-Staaten durch Vergleich mit dem Leitzins der Europäischen Zentralbank denkbar wäre.233 Insoweit ist die Entscheidung Pohotovosť eher enttäuschend. Erwähnenswert sind aber Ausführungen zur fehlenden Angabe des effektiven Jahreszinses. Das vorlegende Gericht wollte einerseits wissen, ob die fehlende Angabe über die GesamtkosWurmnest, in: MüKo BGB § 307 Rn. 28 – ist der Ansicht, auch nach der Rs. C-137/08 Pénzügyi Lízing überlasse der „EuGH den mitgliedstaatlichen Gerichten ohne jede Ausnahme das ‚letzte Wort‘“. 230 EuGH, 16.11.2010, Beschluss, Rs. C-76/10 Pohotovosť s.r.o. ./. Iveta Korčkovská, Slg. 2010 I-11557. 231 Rn. 58 des Urteils in der Rs. C-76/10 Pohotovosť. 232 Der Gerichtshof entscheidet hier zudem durch Beschluss, ohne Schlussanträge und in einer Kammer mit 3 Richtern und macht damit klar, dass er die Kompetenzverteilung aus der Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten nun offenbar für endgültig etabliert hält. 233 Auf die Möglichkeit einer unabhängig vom anwendbaren Recht erfolgenden Beurteilung der Missbräuchlichkeit von Zinsklauseln, die einseitig zulasten des Verbrauchers überhöhte Verzugszinsen vorsehen hat bereits Basedow, in: Müller / Osterloh / Stein, Festschrift für G. Hirsch, S. 51, 59 hingewiesen. Basedow nennt außerdem als weitere, nicht abschließende Beispiele Schiedsklauseln zu Schiedsgerichten eines Branchenverbandes, Strafklauseln zulasten des Verbrauchers und vorformulierte Aufrechnungsverbote als Fälle, in denen eine allein unionsautonome Konkretisierung der Generalklausel möglich sein müsste. 229
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ten, die hier zusätzlich zur exzessiven Zinshöhe vorlag, die Klausel intransparent und damit nach Art. 4 Abs. 2 auch dann kontrollfähig macht, wenn sie die Hauptleistungspflichten betrifft. Außerdem erstreckte sich die erste Vorlagefrage noch darauf, ob nicht auch schon „wegen unzureichender Transparenz und Verständlichkeit auch die Vereinbarung über die Kosten als missbräuchliche Klausel angesehen wird“. Es ging also darum, ob neben der Zinshöhe auch die Intransparenz der Klauseln als solche ihre Missbräuchlichkeit begründen kann. Der EuGH hebt die Bedeutung der Information des Verbrauchers über die Gesamtkosten des Kredits nach der Verbraucherkreditrichtlinie 234 hervor. Diese sei ein „maßgeblicher Faktor im Rahmen der vom nationalen Gericht vorzunehmenden Prüfung“235 der Frage, ob die Klausel klar und verständlich abgefasst und damit kontrollfähig ist. 236 Der Gerichtshof führt anschließend auch noch aus, dass das Fehlen der entsprechenden Informationen in die Prüfung der Missbräuchlichkeit der Klauseln durch das nationale Gericht einfließen kann.237 Allerdings stellt er dann fest, dass das slowakische Recht bei fehlender Angabe des effektiven Jahreszinses eine Zins- und Kostenfreiheit des Kredites vorsieht und hält die weitere Missbräuchlichkeitsprüfung nach der Klauselrichtlinie daher für entbehrlich.238 Dennoch ist hier die Etablierung einer Querverbindung zwischen der Klauselrichtlinie und einem weiteren Sekundärrechtsakts zu konstatieren, die das Konkretisierungsmaterial für die Auslegung der Generalklausel erweitert.239 Die Rechtssache Invitel240 geht auf ein Vorabentscheidungsersuchen aus Ungarn zurück und betrifft die Klage eines Verbraucherschutzbüros gegen ein Telekommunikationsunternehmen auf Feststellung der Missbräuchlichkeit einer bestimmten Vertragsklausel. Die Klausel erlaubte es dem Anbieter, bestimmte Kosten nachträglich in Rechnung zu stellen, wobei hierfür keine BeDer Gerichtshof hält hier Richtlinie 87/102/EWG des Rates vom 22. Dezember 1986 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Verbraucherkredit, ABl. 1987 L 42/48 für anwendbar. Das vorlegende Gericht war von einer Anwendbarkeit der Richtlinie 2008/48/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. April 2008 über Verbraucherkreditverträge und zur Aufhebung der Richtlinie 87/102/EWG des Rates, ABl. 2008 L 133/66 ausgegangen, vgl. Rn. 65 des Urteils in der Rs. C-76/10 Pohotovost’. 235 Wurmnest, in: MüKo BGB, § 307 Rn. 29 weist zu Recht darauf hin, dass der EuGH hier seine Rechtsprechung zu den Konkretisierungskompetenzen bei der Missbräuchlichkeitskontrolle auf die Transparenzkontrolle überträgt. 236 Rn. 71 des Urteils in der Rs. C-76/10 Pohotovosť. 237 Rn. 73 des Urteils in der Rs. C-76/10 Pohotovosť. 238 Rn. 74 und 76 des in der Rs. C-76/10 Urteils Pohotovosť. 239 Siehe für weitere solche Querverbindungen, etwa zur UGP-Richtlinie, oben S. 104 sowie zur Erdgasbinnenmarktrichtlinie die Ausführungen zur Rs. RWE, unten Kapitel 2 ab Fn. 272. 240 EuGH, 26.4.2012, Rs. C-472/10 Nemzeti Fogyasztóvédelmi Hatóság ./. Invitel Távközlési Zrt, ECLI:EU:C:2012:242. 234
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rechnungsmethode festgelegt war. Konkret ging es um Kosten, die dem Unternehmen entstehen, wenn per Geldanweisung bezahlt wird.241 Die Generalanwältin macht durchaus umfangreiche Ausführungen zu einem möglichen Verstoß solcher einseitiger Änderungsklauseln gegen das Gebot von Treu und Glauben.242 Diese Änderungsbefugnis könne nur durch einen triftigen Grund gerechtfertigt werden, der in der Klausel ausdrücklich und hinreichend transparent – insbesondere in konkreter Form – genannt werden müsse und bei Bewertung der Interessen beider Seiten einen „rechtlich überwiegenden“ Grund darstelle.243 An einer Nennung des konkreten Grundes in der Klausel fehle es im Ausgangsfall, so dass „Anhaltspunkte für eine Einstufung der Klausel als missbräuchlich durchaus vorhanden“ seien. Die endgültige Entscheidung im Einzelfall überlässt die Generalanwältin auch hier dem nationalen Richter. Allerdings unterstreicht die Generalanwältin ihre Wertung noch, indem sie später die Anhaltspunkte für die Missbräuchlichkeit der Klausel als „dringend“ qualifiziert.244 Teilweise wird kritisiert, dass die Generalanwältin nicht auch hier auf das Verhältnis eines in der Benutzung der fraglichen Klausel möglicherweise liegenden Verstoßes gegen das Lauterkeitsrecht zur Frage der Missbräuchlichkeit dieser Klausel nach der RL 93/13 eingegangen ist. 245 Der Gerichtshof selbst betont in seiner Entscheidung die Wichtigkeit des Anhangs, den er als „wesentliche Grundlage“ für die Beurteilung der Missbräuchlichkeit einer Klausel durch das nationale Gericht bezeichnet.246 Dabei sei mit Blick auf den Ausgangsfall insbesondere entscheidend, ob der Änderungsmodus angegeben war und ob dem Verbraucher ein Recht zur Vertragsbeendigung eingeräumt wird. Der EuGH macht hieran anschließend zudem recht umfangreiche Ausführungen darüber, welche Aspekte bei der Beurteilung der Missbräuchlichkeit einer solchen Klausel besonders zu beachten sind. Der Gerichtshof kommt zu folgendem Ergebnis: „Im Rahmen dieser Beurteilung hat dieses Gericht insbesondere zu prüfen, ob im Licht sämtlicher Klauseln in den AGB der Verbraucherverträge, zu denen die streitige Klausel gehört, und der nationalen Rechtsvorschriften, die Rechte und Pflichten regeln, die zu den in den AGB vorgesehenen hinzukommen könnten, Gründe oder Modus der Änderung der mit der zu erbringenden Dienstleistung verbundenen Kosten klar und verständlich angegeben sind und ob die Verbraucher gegebenenfalls über ein Recht zur Beendigung des Vertrags verfügen.“247
Vgl. Rn. 17 der Generalanwältin Verica Trstenjak vom 26.4.2012, Rs. C-472/10 Nemzeti Fogyasztóvédelmi Hatóság ./. Invitel Távközlési Zrt, ECLI:EU:C:2011:806. 242 Rn. 86 der Schlussanträge in der Rs. C-472/10 Invitel. 243 Rn. 87 der Schlussanträge in der Rs. C-472/10 Invitel. 244 Rn. 98 der Schlussanträge in der Rs. C-472/10 Invitel. 245 Micklitz / Reich, EuZW 2012, 126, 127. 246 Rn. 26 des Urteils in der Rs. C-472/10 Invitel. 247 Rn. 30 des Urteils in der Rs. C-472/10 Invitel. 241
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Damit geht der Gerichtshof bei der Auslegung der „allgemeinen Kriterien“ nun einen Schritt weiter, indem er die grundsätzlichen Anforderungen an Änderungsklauseln für Preise und Kosten klar herausstellt.248 Klar tritt hier auch hervor, dass Missbräuchlichkeit und Transparenz einer Klausel zwei nicht voneinander zu trennende Fragen sind.249 Die in Invitel angedeutete, steigende Bedeutung des Richtlinienanhangs bestätigt der Gerichtshof in der Rs. Jahani.250 Im Zusammenhang mit hohen Vertragsstrafen in einem Wohnraummietvertrag hatte das vorlegende niederländische Gericht Fragen zur Anwendbarkeit der Klauselrichtlinie, zur amtswegigen Prüfpflicht in verschiedenen Instanzen und zur Zulässigkeit geltungserhaltender Reduktion missbräuchlicher Klauseln gestellt.251 Zu letzterer Frage macht der Gerichtshof vorab eine Bemerkung zum Stellenwert des Anhangs, aus dem sich die Missbräuchlichkeit einer Klausel zwar nicht allein ergebe, der „aber eine wesentliche Grundlage bildet, auf die das zuständige Gericht seine Beurteilung der Missbräuchlichkeit dieser Klausel stützen kann“.252 Ausdrücklich weist der Gerichtshof hier auf Abs. 1 lit. e) des Anhangs hin. Nach der Beurteilung der Missbräuchlichkeit der Klausel als solche hatte das vorlegende Gericht aber nicht gefragt, so dass die Ausführungen des Gerichtshofs gewissermaßen als obiter dictum erscheinen. Notwendig für die Beantwortung der Frage nach der geltungserhaltenden Reduktion sind sie jedenfalls nicht. Falls der Gerichtshof mit seinen Ausführungen also eine Mitteilung verbinden wollte, so könnte es sich um eine Bekräftigung der Tendenz handeln, dass er nun doch einen Teil der Konkretisierungskompetenz an sich ziehen möchte.
Vgl. auch Henze, GPR 2013, 35, 37, der einen „Trend“ sieht, „dass der Gerichtshof dazu übergeht, allgemeine Vorgaben zu machen“. Henze weist auch darauf hin, dass der Gerichtshof die Bestimmungen aus dem Anhang auch für solche Klauseln heranziehe, die nicht unmittelbar in den Anwendungsbereich der jeweiligen Bestimmung fallen. Das spricht dafür, dass der Anhang Prinzipien enthält, die über den jeweiligen Anwendungsbereich hinaus verallgemeinerungsfähig sind und als materielles Konkretisierungsmaterial bei der Klauselkontrolle verwendet werden können. 249 Vgl. Rn. 28 des Urteils in der Rs. C-472/10 Invitel: „Daher ist im Kontext der Beurteilung der Missbräuchlichkeit im Sinne von Art. 3 der Richtlinie von wesentlicher Bedeutung, dass der Verbraucher anhand klarer und verständlicher Kriterien die Änderungen der AGB in Bezug auf die mit der zu erbringenden Dienstleistung verbundenen Kosten vorhersehen kann.“ 250 EuGH, 30.5.2013, Rs. C-488/11 Dirk Frederik Asbeek Brusse und Katarina de Man Garabito ./. Jahani BV, ECLI:EU:C:2013:341. 251 Siehe hierzu unten S. 152. 252 Rn. 55 des Urteils in der Rs. C-488/11 Jahani. 248
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bb) Berücksichtigung der übrigen Vertragsklauseln Die Rechtssache Banif Plus253 betraf die vorzeitige Kündigung eines Darlehensvertrags. Hier gab die streitgegenständliche Klausel dem Darlehensgeber das Recht, trotz vorzeitiger Kündigung – und zusätzlich zu dann ohnehin geschuldeten Verzugszinsen und Kosten – den Gesamtbetrag der noch ausstehenden Raten zu verlangen. Hierzu zählten auch sämtliche für das Darlehen vereinbarte Zinsen und eine entsprechende Versicherungsprämie. Dies hielt das vorlegende Gericht selbst für missbräuchlich und legte diese Frage dementsprechend auch nicht vor. Die für die vorliegende Untersuchung relevante Vorlagefrage zielte darauf, ob das nationale Gericht bei der Missbräuchlichkeitsprüfung alle Vertragsklauseln mit einbeziehen kann oder ob es auf diejenigen Klauseln beschränkt ist, auf die der mit der Klage geltend gemachte Anspruch gestützt wird. Dies beantwortet der EuGH – ohne Schlussanträge – unter Verweis auf Art. 4 Abs. 1 der Klauselrichtlinie und ohne weitere Erläuterungen 254 dahingehend, dass nicht etwa nur eine Berechtigung des nationalen Gerichts zur Berücksichtigung aller Klauseln des Vertrags bestehe, sondern vielmehr eine dahingehende Pflicht. Fraglich ist insoweit noch, ob dies nur bedeutet, dass eine für sich genommen möglicherweise noch nicht missbräuchliche Klausel durch das Zusammenspiel mit anderen Klauseln des Vertrags missbräuchlich werden kann, dass also eine Gesamtschau zugunsten des Verbrauchers stattfindet.255 Andererseits könnte eine solche Gesamtschau nämlich auch zulasten des Verbrauchers stattzufinden haben, d. h. dass eine für sich genommen zunächst missbräuchliche Klausel durch die Gesamtschau ausgeglichen wird und deshalb dann eben doch wirksam ist. Das Urteil des EuGH liest sich auch für diese Art der Berücksichtigung aller Vertragsklauseln offen. Allerdings ist die Frage durchaus umstritten.256 cc) Treu und Glauben und hypothetische Individualvereinbarung Die Rechtssache Aziz257 beruhte auf einer spanischen Vorlage und betraf ebenso einen Kreditvertrag, wobei das gegen den Kreditnehmer eingeleitete Verfahren hier zunächst ein vereinfachtes Hypothekenvollstreckungsverfahren nach spanischem Recht war. Ähnlich wie dies i. d. R. bei Mahnverfahren der Fall ist, handelt es sich auch hierbei um ein Verfahren, in dem die Miss-
253 EuGH, 21.2.2013, Rs. C-472/11 Banif Plus Bank Zrt ./. Csaba Csipai, Viktória Csipai, ECLI:EU:C:2013:88. 254 Vgl. Rn. 40 des Urteils in der Rs. C-472/11 Banif Plus. 255 Sog. Summierungseffekt, Wurmnest, in: MüKo BGB, § 307, Rn. 35. 256 Sog. Kompensation, vgl. Wurmnest, in: MüKo BGB, § 307, Rn. 36. 257 EuGH, 14.3.2013, Rs. C-415/11 Mohamed Aziz ./. Caixa d´Estalvis de Catalunya, Tarragona i Manresa, ECLI:EU:C:2013:164.
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bräuchlichkeit von Klauseln nicht geltend gemacht werden kann,258 was die Frage der Vereinbarkeit des nationalen Verfahrensrechts mit der Klauselrichtlinie und dem Effektivitätsgrundsatz aufwarf.259 Materiell ging es darum, wie der Begriff der „Unverhältnismäßigkeit“ (das Gericht dürfte die Missbräuchlichkeit i. S. v. Art. 3 Abs. 1 RL 93/13 meinen)260 im Hinblick auf drei Aspekte auszulegen ist: Erstens ging es um die Zulässigkeit vorzeitiger Fälligstellung oder Kündigung in langfristigen Kreditverträgen schon bei kurzzeitiger Nichterfüllung, zweitens um die Zulässigkeit von Verzugszinsen in Höhe von 18 % und drittens um die Festlegung variabler Zinsen durch den Darlehensgeber, verbunden mit einer Möglichkeit der Vollstreckung, bei der bestimmte Einwendungen erst nach Abschluss des Vollstreckungsverfahrens geltend gemacht werden können. Hierzu äußerte sich die Generalanwältin wie folgt: Die Missbräuchlichkeit der Klausel zur vorzeitigen Fälligstellung schon beim Verzug mit nur einer Rate in einem Vertrag mit 33 Jahren Laufzeit hänge davon ab, was im nationalen dispositiven Recht vorgesehen ist, weil sich nur dann das Ausmaß der Verschiebung des vertraglichen Gleichgewichts ermessen lasse.261 Nachdem ein solches Missverhältnis festgestellt ist, will die Generalanwältin aber seine mangelnde Rechtfertigung – in Gestalt des Verstoßes gegen Treu und Glauben – allgemein und auf Ebene des Unionsrechts definieren: „Ein erhebliches Missverhältnis wird insbesondere dann als ungerechtfertigt anzusehen sein, wenn die Rechte und Pflichten des Verbrauchers in einem solchen Umfang beschnitten werden, dass der Steller der Vertragsbedingungen nach Treu und Glauben nicht davon ausgehen durfte, dass sich der Verbraucher auf eine entsprechende Regelung im Rahmen individueller Vertragsverhandlungen eingelassen hätte.“262
Die Ausführungen sind für das Erkenntnisinteresse dieser Untersuchung aus zweierlei Gründen bemerkenswert: Erstens deuten sie zumindest an, dass die Feststellung des erhebliches Missverhältnisses wegen des notwendigen Abgleichs mit dem dispositiven Recht auf nationaler Ebene, der Verstoß gegen Treu und Glauben dann aber einheitlich, also auf Ebene des Unionsrechts zu erfolgen hat. Zweitens füllen sie den Maßstab Treu und Glauben darüber aus, dass AGB, die bereits ein erhebliches Missverhältnis der vertraglichen Rechte und Pflichten verursachen, nur dann wirksam sein können, wenn der Steller Schlussanträge der Generalanwältin Juliane Kokott vom 8.11.2012, Rs. C-415/11 Mohamed Aziz ./. Caixa d’Estalvis de Catalunya, Tarragona i Manresa, ECLI:EU:C:2012: 700, Rn. 3. 259 Dazu sogleich S. 151. 260 Dazu Rn. 59 der Schlussanträge in der Rs. C-415/11 Aziz. Allerdings verwenden die Schlussanträge fortwährend den Begriff der „Rechtsmissbräuchlichkeit“ von Vertragsklauseln, den die Richtlinie ebenfalls nicht kennt, vgl. Rn. 38, 43, 45, 47, 50, 53 und 57 der Schlussanträge in der Rs. C-415/11 Aziz. 261 Rn. 68–71 der Schlussanträge in der Rs. C-415/11 Aziz. 262 Rn. 74 der Schlussanträge in der Rs. C-415/11 Aziz. 258
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davon ausgehen durfte, dass der Verbraucher sich im Rahmen hypothetischer Individualverhandlungen darauf eingelassen hätte. Dies erscheint im ersten Zugriff als ein einleuchtendes Kriterium, weil es den Grundgedanken der Klauselkontrolle gut widerspiegelt, wonach es nicht möglich sein soll, das zwischen den Parteien vereinbarte Äquivalenzverhältnis durch AGB so stark zu verändern, dass die erhaltene Leistung für den Verbraucher einen wesentlichen Teil ihres Wertes verliert. Problematisch ist auch hier wieder, dass die AGB-Kontrolle die Frage einer Reduzierung der Gegenleistung als Ausgleich für einseitige AGB nicht abbilden kann, sprich: In einer Individualverhandlung ist davon auszugehen, dass die Seite, die bestimmte Bedingungen zu ihren Gunsten verändern möchte (z. B. durch Vereinbarung eines außerhalb von Verbraucherverträgen weitgehend möglichen Gewährleistungsausschlusses) dafür eine entsprechende Reduzierung etwa des Kaufpreises hinnehmen muss. Bei ungünstigen AGB wird sich der Steller regelmäßig darauf berufen, diese seien insgesamt effizienter und der hieraus entstehende Vorteil zum Nutzen beider Seiten bereits eingepreist. Ein Nachweis, wie sich der Preis durch diese AGB verändert hat und ob sich ein Verbraucher hierauf eingelassen hätte, dürfte aber unmöglich zu führen sein.263 Daneben soll es nach Auffassung der Generalanwältin auch eine Rolle spielen, ob entsprechende Klauseln gewissermaßen „branchenüblich“ sind, ob sie auf einem sachlichen Grund beruhen und ob sie den Verbraucher nicht schutzlos stellen.264 Das Kriterium der Branchenüblichkeit erscheint allerdings problematisch, weil dem Verbraucher der Schutz der Richtlinie nach deren Sinn und Zweck sicher nicht gerade dann entzogen werden soll, wenn er mit einem Gewerbetreibenden aus einer Branche kontrahiert, in der die Verwendung missbräuchlicher Klauseln gewissermaßen üblich ist. Die Schlussanträge geben dem nationalen Gericht dann noch konkrete Kriterien an die Hand, um die Missbräuchlichkeit der gegenständlichen Klausel anhand des nationalen Rechts zu prüfen. Dabei sei zwar einerseits zu berücksichtigen, dass die Ratenzahlungsverpflichtung die wesentliche Vertragspflicht des Darlehensnehmers sei. Andererseits sei der Anspruch der Bank mit einer Hypothek gesichert und der Verzug mit einer einzigen Rate könne auch auf einem Versehen beruhen. Insofern sei auch auf die Verhältnismäßigkeit zu achten, weil einerseits das Darlehen für den Darlehensnehmer von existenzieller Bedeutung sei und dagegen andererseits das Interesse des Darlehensgebers an der Möglichkeit zur Lösung vom Vertrag nach Nichtzahlung nur einer Rate stehe. Allerdings sei auch zu berücksichtigen, dass das nationale Recht in diesem Fall dem Darlehensnehmer die Möglichkeit gebe, die Wirkungen 263 Vgl. hierzu auch die Ausführungen des EuGH, 16.1.2014, Rs. C-226/12 Constructora Principado SA ./. José Ignacio Menéndez Álvarez, ECLI:EU:C:2014:10; dazu unten S. 142 ff. 264 Rn. 74 f. der Schlussanträge in der Rs. C-415/11 Aziz.
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einer erfolgten Kündigung oder Gesamtfälligstellung wieder entfallen zu lassen, indem er fällige Raten ausgleiche.265 Diese Ausführungen sind zu begrüßen, weil sie dem vorlegenden Gericht einen Rahmen für die Abwägung geben und insbesondere den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in den Mittelpunkt stellen. Die Klausel zur Höhe der Verzugszinsen sei wie folgt zu beurteilen: Sie sei zunächst mit dem gesetzlichen Zinssatz zu vergleichen und sodann im Einzelfall zu prüfen, ob eine Abweichung hiervon zulasten des Darlehensnehmers gerechtfertigt sei. Insoweit sei auch Abs. 1 lit. e) des Richtlinienanhangs zu berücksichtigen, der unverhältnismäßig hohe Entschädigungsbeträge zulasten des Verbrauchers untersagt. Auch wenn der Anhang nur Hinweischarakter habe, so sei die Nennung einer Klausel doch eine wesentliche Grundlage für die Beurteilung der Missbräuchlichkeit durch das nationale Gericht. Zu berücksichtigen seien aber auch die unter den Mitgliedstaaten divergierenden Zwecke von Verzugszinsen, die einerseits einen pauschalierten Verzugsschadensersatz darstellen würden, teilweise aber auch dazu dienten, den Vertragspartner zur Vertragstreue anzuhalten. Im ersteren Fall sei der Verzugszinssatz bereits überhöht, wenn er über dem entstandenen Schaden liege, im zweiten Fall liege diese Grenze erst dort, wo er auch über die Erreichung des Zwecks der Anhaltung zur Vertragstreue hinausgehe. Im Hinblick auf die Klausel, die den Darlehensgeber zur einseitigen Festlegung des Betrags für die Zwangsvollstreckung berechtigt, wobei der Darlehensnehmer gegen diese Festlegung innerhalb der Zwangsvollstreckung keinerlei Rechtsbehelf hat, stellt die Generalanwältin fest, dass sich hierdurch der Darlehensgeber ein vorgeschaltetes Erkenntnisverfahren spart. Auch diese Verschiebung der vertraglichen Rechte und Pflichten sei am Ende aber vom nationalen Gericht am Vergleichsmaßstab des nationalen (Verfahrens-)Rechts zu bewerten.266 Der Gerichtshof selbst schließt sich, was die Missbräuchlichkeit der betreffenden Klauseln angeht, den Schlussanträgen im Hinblick auf die Beurteilung der vorzeitigen Fälligstellung, der Höhe der Verzugszinsen und der einseitigen Bezifferung für die Zwangsvollstreckung an, 267 hält seine Ausführungen aber knapper als die Generalanwältin. Neu ist die vom Gerichtshof verwendete Formulierung, wonach bei der Beurteilung, ob die Klausel in als missbräuchlich anzusehender Weise vom dispositiven Recht abweicht „[…] die Rechtslage des Verbrauchers vor dem Hintergrund der Mittel untersucht wird, die ihm das nationale Recht zur Verfügung stellt, um der Verwendung missbräuchlicher Klauseln ein Ende zu setzen.“268 Die Bedeutung dieser Formulierung ist 265 266 267 268
Rn. 77 f. der Schlussanträge in der Rs. C-415/11 Aziz. Rn. 89–96 der Schlussanträge in der Rs. C-415/11 Aziz. Rn. 73–75 des Urteils in der Rs. C-415/11 Aziz. Rn. 68 des Urteils in der Rs. C-415/11 Aziz.
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unklar. Sie liest sich so, als sehe der EuGH eine Abweichung vom dispositiven Recht dann eher als zulässig an, wenn das nationale (Prozess-)Recht die Verwendung von missbräuchlichen Klauseln gegenüber Verbrauchern besonders effektiv sanktioniert. Dies wäre angesichts des Ziels der Vereinheitlichung des Rechts der missbräuchlichen Klauseln aber verwunderlich. Von besonderem Interesse für diese Arbeit ist zudem die vom EuGH vorgenommene Unterscheidung zwischen den Kriterien des erheblichen und ungerechtfertigten Missverhältnisses und des Verstoßes gegen das Gebot von Treu und Glauben, zu denen sich der Gerichtshof hier zum ersten Mal dezidiert äußert und die entsprechenden Vorschläge der Generalanwältin weitgehend übernimmt. Während Ersteres also nach dem Ausmaß der Abweichung vom dispositiven Recht zu beurteilen sein soll, soll Letzteres sich danach richten, ob der Unternehmer vernünftigerweise erwarten durfte, dass sich der Verbraucher in einer Individualvereinbarung auf eine solche Klausel einlässt. 269 In dieser Unterscheidung zwischen der Angemessenheitskontrolle auf einer ersten und der Prüfung des Treu und Glauben-Verstoßes auf einer zweiten Stufe liegt eine begrüßenswerte Klarstellung. Insbesondere scheint – gerade im Lichte der hierzu in den Schlussanträgen gemachten Ausführungen – der Verstoß gegen den Grundsatz von Treu und Glauben auf der zweiten Stufe einer Harmonisierung vollständig zugänglich zu sein, weil es hier eben nicht mehr um die Abweichung vom nationalen Recht, sondern um die Bewertung des bereits festgestellten Missverhältnisses geht. Allerdings ist der hier gewählte Maßstab der Vereinbarung der Klausel in einer hypothetischen Individualverhandlung doch sehr streng. 270 Es handelt sich jedenfalls um eine weitere Entscheidung, in der sich die jüngst festzustellende Tendenz zeigt, dass der EuGH das Heft des Handeln im Bereich der Klauselkontrolle wieder in die Hand nimmt und verstärkt eine unionsautonome Konkretisierung vornimmt.271 dd) Preisänderungsklauseln Die Rs. RWE272 könnte die endgültige Trendwende dahingehend darstellen, dass der EuGH seine Auslegungsaufgabe bei der Klauselkontrolle nun doch annimmt. Der Sache lag die Klage einer Verbraucherzentrale gegen Preisänderungsklauseln in Gaslieferungsverträgen zugrunde. Der Gasversorger hatte Rn. 68 f. des Urteils in der Rs. C-415/11 Aziz. So auch Riesenhuber, EU-Vertragsrecht, S. 169 f. 271 Vgl. Kas / Micklitz, EWS 2013, 314, 323; die Autoren sehen die Entscheidung auch im Lichte des Rechts auf Wohnung nach Art. 34 Abs. 3 Grundrechtecharta. Diesen Gedanken hat der Gerichthof nicht ausdrücklich formuliert, dennoch handelt es sich sicherlich um einen Aspekt, der insbesondere in die Interessenabwägung der Parteien zwischen der Aufrechterhaltung einerseits und der vorläufigen Fälligstellung andererseits, die ja regelmäßig mit dem Verlust der Wohnung verbunden sein kann, andererseits, einzustellen ist. 272 EuGH, 21.3.2013, Rs. C-92/11 RWE Vertrieb AG ./. Verbraucherzentrale NordrheinWestfalen e.V., ECLI:EU:C:2013:180. 269 270
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in seinen AGB auf bestimmte Klauseln aus einer deutschen Rechtsverordnung, den „Allgemeinen Bedingungen für die Gasversorgung von Tarifkunden“ (AVB), verwiesen. Die betroffenen Verträge waren solche, die außerhalb der allgemeinen Versorgungsplicht geschlossen wurden und daher der Vertragsfreiheit unterlagen. Die AVB – die als Rechtsvorschriften im Sinne von Art. 1 Abs. 2 Klauselrichtlinie nicht kontrollfähig sind – waren auf diese Verträge also nicht unmittelbar anwendbar, wurden aber durch Verweis in den AGB in die betreffenden Verträge einbezogen. Der deutsche Bundesgerichtshof wollte einerseits wissen, ob die entsprechenden Klauseln in einer solchen Konstellation nach der RL 93/13 der Missbrauchskontrolle unterworfen sein müssen und andererseits, ob eine mangelnde Transparenz der Klauseln als solche dadurch kompensiert werden kann, dass Preiserhöhungen mit angemessener Frist erfolgen und mit einem Kündigungsrecht des Verbrauchers verbunden sind. Der EuGH entscheidet die für diese Untersuchung nicht zentrale erste Frage dahin, dass der Energieversorger die betreffenden Klauseln nicht dem Anwendungsbereich der Richtlinie 93/13 entziehen kann, nur weil sie mit denjenigen der AVB inhaltlich identisch sind. Die hier relevante zweite Frage betraf die Vereinbarkeit der Klausel mit den Vorgaben der Richtlinie 93/13 – sowohl der Missbrauchskontrolle des Art. 3 i. V. m. Abs. 1 lit. j) und Abs. 2 lit. b) S. 2 des Anhangs, als auch dem Transparenzgebot in Art. 5 – und mit der Richtlinie 2003/55/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2003 über gemeinsame Vorschriften für den Erdgasbinnenmarkt.273 Das vorlegende Gericht hatte hier die Auffassung vertreten, auch wenn die Klausel eigentlich gegen das Transparenzgebot verstoße, sei sie dennoch wirksam, weil nach § 315 BGB eine Überprüfung einseitiger Vertragsänderungen daraufhin möglich sei, ob diese der Billigkeit entsprechen.274 Die Antwort des Gerichtshofs ist für die hier durchgeführte Untersuchung von besonderem Interesse: Erstens wird das Verhältnis zwischen Art. 3 Abs. 1 und Art. 5 der Klauselrichtlinie erläutert: Wie die Generalanwältin ausführt,275 soll die Intransparenz einer Klausel ein „gesondert normiertes Kriterium der Missbräuchlichkeit“ darstellen.276 Dies eröffnet die Anwendbarkeit des Anhangs der Klausel273 Richtlinie 2003/55/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2003 über gemeinsame Vorschriften für den Erdgasbinnenmarkt und zur Aufhebung der Richtlinie 98/30/EG, ABl. 2003 L 176/57. 274 BGH Beschluss vom 9.2.2011, Az. VIII ZR 162/09, Rn. 20 f. 275 Schlussanträge der Generalanwältin Verica Trstenjak vom 13.9.2012, Rs. C-92/11 RWE Vertrieb AG ./. Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen e.V., ECLI:EU:C:2012: 566, Rn. 62 f. 276 Vgl. auch die Stellungnahme des Wirtschafts- und Sozialausschusses, die den Vorschlag eines zusätzlichem Missbrauchskriteriums der Unverständlichkeit einer Vertragsklausel machte (unter 2.5.3.); das Europäische Parlament hat in seiner Stellungnahme vom 20.11.1992, ABl. 1991 C 326/108–117 diesen Vorschlag aufgenommen und enthielt die
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richtlinie auch auf die Frage der Transparenz der jeweiligen Klausel im Sinne des Art. 5. Der Gerichtshof bestätigt diese Ansicht der Generalanwältin zwar nicht ausdrücklich. Er spricht allerdings zusammenfassend von den „Anforderungen an Treu und Glauben, Ausgewogenheit und Transparenz“, die in den Richtlinien 93/13 und 2003/55 aufgestellt würden.277 Zwar könnte man die Formulierung, wonach AGB „zum einen“ an Art. 3 Abs. 1 und „[z]um anderen“ an Art. 5 der RL zu messen seien,278 auch dahingehend verstehen, dass der EuGH von separaten Kriterien ausgeht. Da der Gerichtshof sich aber von der insoweit klaren Aussage der Generalanwältin, Intransparenz sei ein Missbräuchlichkeitskriterium, nicht absetzt und sich zudem der von ihr gezogenen Schlussfolgerung, wonach der Anhang der Klauselrichtlinie auch für die Auslegung von Art. 5 relevant sei, in der Sache anschließt, muss man davon ausgehen, dass er die in den Schlussanträgen vertretene Ansicht, dass auch die Transparenz ein Missbräuchlichkeitskriterium darstellt, teilt. Zweitens schlägt der Gerichthof hier abermals den Bogen zwischen der Klauselrichtlinie und einem anderen Sekundärrechtsakt, indem er ausführt, der anzulegende Transparenzmaßstab sei derselbe wie in der Erdgasbinnenmarktrichtlinie.279 Nach deren Art. 3 Abs. 3 S. 4 gewährleisten die Mitgliedstaaten „einen hohen Verbraucherschutz, insbesondere in Bezug auf die Transparenz der allgemeinen Vertragsbedingungen“. Anhang A stellt zusätzlich klar, dass sowohl die ursprünglichen Vertragsbedingungen „gerecht und im Voraus bekannt sein“ müssen und „in jedem Fall vor Abschluss oder Bestätigung des Vertrags übermittelt werden“, lit. a), als auch, dass „rechtszeitig über eine beabsichtigte Änderung der Vertragsbedingungen unterrichtet werden“ muss und „direkt jede Gebührenerhöhung mit angemessener Frist“ mitzuteilen ist, lit. b). Zudem müssten die Kunden „gegen unfaire oder irreführende Verkaufsmethoden geschützt sein“, lit. c). Die Generalanwältin argumentiert hier ausdrückliche Regel: „Unverständliche Vertragsklauseln gelten als mißbräuchlich.“ (Änderung Nr. 45, Art. 2 Nr. 5a). Der Gemeinsame Standpunkt des Rates (abgedruckt in der ZIP) gibt eine solche Aussage entgegen der Schlussanträge (Rn. 62 – wonach sich dem Gemeinsamen Standpunkt des Rates entnehmen lasse, die Generalklausel werde durch das Transparenzgebot ergänzt) aber nicht her – möglicherweise beziehen sich die Schlussanträge irrig auf die vorangestellte Einführung von Brandner in der ZIP 1992, 1590, 1591. Vgl. auch Micklitz, in: Micklitz / Reich, Europäisches Verbraucherrecht, S. 508: „Das Transparenzprinzip steht nicht neben dem Prinzip von Treu und Glauben als zweite Säule einer möglichen Inhaltskontrolle, sondern ist über die Materialisierung und den Grundsatz der legitimen Erwartungen als Unterfall von Treu und Glauben zu qualifizieren.“ 277 Vgl. Rn. 47 bzw. 55 des Urteils in der Rs. C-92/11 RWE. Micklitz / Reich, EuZW 2013, 457, 460 sprechen unter Bezugnahme auf die Rs. C-472/10 Invitel von Transparenzgebot und Missbrauchsverbot als „zwei Seiten ein und derselben Medaille“. Auch Fornasier, ZEuP 2014, 410, 420, geht davon aus, dass der EuGH insoweit „stillschweigend die Überlegung der Generalanwältin teilt“. 278 Rnn. 42 bzw. 43 des Urteils in der Rs. C-92/11 RWE. 279 Rn. 64–69 der Schlussanträge sowie Rn. 45–47 des Urteils in der Rs. C-92/11 RWE.
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mit den identischen Regelungszielen beider Rechtsakte, die darin bestünden, Wettbewerb im Binnenmarkt zuzulassen, indem die Beseitigung missbräuchlicher oder intransparenter Klauseln sichergestellt wird.280 Daraus lässt sich im Übrigen folgender Schluss ziehen: Wenn das Transparenzgebot ein besonders wichtiges Missbräuchlichkeitskriterium ist und sich – inhaltsgleich – auch in der Erdgasbinnenmarktrichtlinie wiederfindet, so muss es ja offenbar einen rechtsaktübergreifenden Missbrauchsmaßstab geben. Drittens enthalten die Schlussanträge auch noch Hinweise zu den Konkretisierungskompetenzen und zum Transparenzmaßstab im Einzelfall: Zwar referiert die Generalanwältin zunächst die ständige Rechtsprechung zur Aufteilung der Konkretisierungskompetenzen, die nach Pohotovost’ und Invitel auch für das Transparenzgebot gilt281 und nach ihrer Auffassung auch auf die RL 2003/55 zu übertragen ist.282 Allerdings nimmt sie sodann durchaus „in concreto“ [sic!] eine „Überprüfung der streitgegenständlichen Preisanpassungsklausel“ am Maßstab des Transparenzgebots vor.283 Dabei stellt die Generalanwältin fest, dass eine Klausel, die sich zu Preiserhöhungen ihrem Wortlaut nach gar nicht verhält, wobei sich eine entsprechende Befugnis des Unternehmens aus der Rechtsprechung bzw. aus dem Verweis auf die AVBGasV ergebe, „im Regelfall“ als „nicht transparent“ zu beurteilen sei. Der Verbraucher könne die Berechtigung zur Preiserhöhung nämlich nicht nachprüfen.284 Der EuGH bestätigt dies und führt aus, dass es für die Zulässigkeit solcher Klauseln entscheidend sei, dass erstens Anlass und Modus der Änderung für den Verbraucher transparent und damit vorhersehbar dargestellt würden und dass zweitens der Verbraucher eine Kündigungsmöglichkeit haben müsse, die er auch tatsächlich wahrnehmen könne. Das Recht auf Information konkretisiert der Gerichtshof weiter dahingehend, dass ein bloßer Verweis auf eine Rechtsvorschrift nicht ausreiche – vielmehr müsse der Gewerbetreibende den Verbraucher selbst über den Inhalt der betreffenden Bestimmungen unterrichten.285 Die Kündigungsmöglichkeit müsse zudem so gestaltet sein, dass nicht ihre Modalitäten oder auch die Bedingungen auf dem betroffenen Markt ihre wirksame Ausübbarkeit vereiteln. Daher müsse etwa die Information über die Preiserhöhung angemessen lange Überlegungsfristen enthalten. Hierzu sei – so die Generalanwältin – insbesondere erforderlich, dass die Preiserhöhung rechtzeitig bekannt gegeben werde und dass andere Gasunternehmen als Alternative im Markt auch tatsächlich bereitstünden.286 Rn. 68 der Schlussanträge in der Rs. C-92/11 RWE. So auch Fornasier, ZEuP 2014, 410, 418, 420. 282 Rn. 70–74 der Schlussanträge in der Rs. C-92/11 RWE. 283 Siehe Rn. 60, Nr. 4 sowie Überschrift 4 nach Rn. 75 der Schlussanträge in der Rs. C-92/11 RWE. 284 Rn. 78 der Schlussanträge in der Rs. C-92/11 RWE. 285 Rn. 50 des Urteils in der Rs. C-92/11 RWE. 286 Rn. 85 der Schlussanträge in der Rs. C-92/11 RWE. 280 281
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Der Gerichtshof schließt sich insoweit aber der Ansicht der Generalanwältin an und stellt ebenfalls darauf ab, dass die Kündigungsmöglichkeit „tatsächlich wahrgenommen werden“ können muss.287 Demnach wirkt also der Effektivitätsgrundsatz auch auf die materielle Klauselkontrolle ein. Interessant ist zudem, dass die Ausführungen über Ausweichalternativen des Verbrauchers der Klauselkontrolle hier eine starke wettbewerbs- bzw. kartellrechtliche Prägung verleihen bzw. an den Konditionenmissbrauch des Art. 102 lit. a) AEUV knüpfen, der mit der beherrschenden Stellung des Verwenders der Geschäftsbedingungen ja ebenfalls eine Lage voraussetzt, in der nur begrenzt alternative Anbieter im Markt vorhanden sind.288 Hergeleitet wird diese Forderung insbesondere aus lit. b) des Anhangs A der Richtlinie 2003/55: Mit der faktischen Kündigungsmöglichkeit sei notwendig auch verbunden, dass überhaupt die Möglichkeit bestehe, „Gas von einem anderen, im Zweifelsfall günstigeren Anbieter zu beziehen.“ Das ergebe sich auch aus Art. 3 Abs. 3, wonach ein Ausschluss von Kunden von der Gasversorgung zu vermeiden ist. Dies ist zwar in der Sache richtig – der Kunde kann faktisch nicht kündigen, wenn keine alternativen Anbieter vorhanden sind und er auf den Bezug von Erdgas angewiesen ist. Die Nennung solcher, ggf. außerhalb des Einflussbereichs des Gewerbetreibenden liegender Faktoren, die zudem während der Laufzeit des Vertrags Änderungen unterworfen sein können, überrascht aber dennoch. Zwar sagt der EuGH nicht, dass bestimmte Rahmenbedingungen in jedem Fall gegeben sein müssten, damit eine Klausel als wirksam angesehen werden kann. Man darf sich aber fragen, wie etwa die Situation auf einem Markt mit wenig Wettbewerb zu beurteilen sein soll, wenn der Verbraucher schon deshalb effektiv keine Wechselmöglichkeit hat, weil die vorhandenen Wettbewerber die Leistung nur zu noch höheren Preisen anbietet. Verstößt die Preiserhöhungsklausel dann gegen Treu und Glauben, weil der Verbraucher „keine Wahl“ hat? Dies kann im Ergebnis schon deshalb nicht richtig sein, weil dann der günstigste Anbieter im Markt keine wirksame Preiserhöhungsklausel in seinen Verträgen vorsehen dürfte, während ohnehin teureren Anbietern die Verwendung einer solchen Klausel möglicherweise gestattet wäre – schließlich haben deren Kunden ja eine Wechselmöglichkeit zu einem günstigeren Anbieter. Näherliegend erscheint es daher, dass die Interessen des Unternehmers (z. B. in Gestalt steigender Beschaffungskosten an den Energiemärkten) ebenfalls berücksichtigt werden müssen. Die Schwierigkeit dieser Kriterien zeigt sich zusätzlich daran, dass sie Veränderungen unterliegen, während die Wirksamkeit einer Klausel aber zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses zu beurteilen ist.289 Regeln für eine spätere „AusübungskonRn. 54 des Urteils in der Rs. C-92/11 RWE. Siehe dazu im Einzelnen unten S. 198 ff. 289 Einige (skandinavische) Mitgliedstaaten kennen aber wohl auch die Möglichkeit einer nachträglichen Missbräuchlichkeit, wenn sich das vertragliche Gleichgewicht nach 287 288
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trolle“ von Klauseln enthält die Richtlinie dagegen nicht. Veränderungen der Marktbedingungen können daher im Rahmen der Richtlinie 93/13 eigentlich nicht berücksichtigungsfähig sein.290 Wenn der EuGH auf die Wechselmöglichkeiten des Verbrauchers abstellt, so suggeriert er aber, dass es (auch) auf den Zeitpunkt der Preiserhöhung ankommen kann. Schließlich stellt der Gerichtshof auch klar, dass eine Kompensation der Missbräuchlichkeit einer Klausel jedenfalls dann nicht in Betracht kommt, wenn die für den Verbraucher günstigen Regeln ohnehin ebenfalls zwingend geboten waren. Dies mag offensichtlich erscheinen, war aber direkt Gegenstand der vom Bundesgerichthof gestellten Vorlagefrage. Die Generalanwältin und der Gerichtshof stellen hier eine Art „Doppelverwertungsverbot“ im Rahmen der Kompensation auf. Hierzu führt die Generalanwältin zunächst aus, dass nach dem Anhang der Richtlinie 93/13 eine einseitige Änderungsklausel nur dann nicht missbräuchlich sei, wenn nicht nur ein Kündigungsrecht des Verbrauchers bestehe (Nr. 2 lit. b), sondern wenn auch Grund oder Modus der Änderung der Kosten in der Klausel angegeben seien.291 Da diese Anforderungen also ohnehin kumulativ gelten, kann nicht die Erfüllung der einen die Nichterfüllung der anderen Bedingung kompensieren. Die Art und Weise, in der dies vom Gerichtshof ausgeführt wird, deutet auch darauf hin, dass insbesondere das Transparenzerfordernis keineswegs mehr einem großen Ermessensspielraum des nationalen Gerichts unterliegt, sondern vom Gerichtshof so detailliert vorgegeben wird, dass er hier offenbar davon ausgeht, dass die vom Unionsrecht aufgestellten Voraussetzungen auch in concreto nicht gegeben sind. Die Auslegungsdichte ist hier also im Hinblick auf die im Allgemeinen vom Gerichtshof propagierte Kompetenzverteilung bemerkenswert hoch. Zur Rs. RWE bleibt damit im Ergebnis festzuhalten, dass die vom Gerichtshof gegebenen Hinweise in materieller Hinsicht fast zwingenden Charakter haben und das Urteil damit einen weiteren, wichtigen Schritt weg von der restriktiven Haltung des Gerichtshofs in Freiburger Kommunalbauten darstellt.292 Die Generalanwältin geht noch etwas weiter und macht sich in ihren Schlussanträgen u. a. eine Aussage von Hesselink zu eigen,293 wonach „die „HauptVertragsschluss verschiebt, vgl. Micklitz, in: Micklitz / Reich, Europäisches Verbraucherrecht, S. 513. 290 Vgl. auch Fornasier, ZEuP 2014, 410, 423: „Letztlich eignen sich die vom Gerichtshof entwickelten Prüfkriterien besser für die Ausübungskontrolle einer bestimmten Tariferhöhung ex post […].“ 291 Rn. 84 der Schlussanträge in der Rs. C-92/11 RWE mit Verweis auf die Rs. C-472/10 Invitel. 292 Micklitz / Reich, EuZW 2013, 457 f., sehen eine Bestrebung des EuGH zur Schaffung eines „autonome[n], formal wie inhaltlich einheitlich gestaltete[n] AGB-Recht[s] für die EU“. 293 Fn. 52 der Schlussanträge in der Rs. C-92/11 RWE. Der Verweis lautet auf Hesselink, Fair prices in the common market. On communitative and distributive justice in European
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funktion des Europäischen Vertragsrechts in der Verwirklichung von Gerechtigkeit („justice“) bzw. von Billigkeit („equity“) und Fairness („fairness“)“ bestehe. Missbräuchlichkeit und Transparenz sind keine strikt zu trennenden Kriterien; vielmehr ist die Transparenz ein Teilaspekt von Treu und Glauben. Dies ist auch deshalb wichtig, weil die Prüfung des Transparenzgebots in der Regel keinen Vergleich mit dem dispositiven nationalen Recht erfordert, wie er sonst bei der Missbräuchlichkeitsprüfung ggf. vorzunehmen ist. Daher ist hier die Herausbildung eines einheitlichen Maßstabs auf Ebene der Union viel eher möglich. 294 Auch der Richtlinienanhang wird durch RWE in der Sache aufgewertet. Der Gerichtshof betont hier nicht wie üblich die Unverbindlichkeit des Anhangs, sondern wendet die dort enthaltenen Vorgaben schlicht an.295 Was den Zeitpunkt für die Beurteilung der Missbräuchlichkeit von Preiserhöhungsklauseln angeht, so scheint der Gerichtshof sich allerdings auf einem Irrweg zu befinden, wenn er auf die Marktverhältnisse zum Zeitpunkt der Ausübung des Preiserhöhungsrechts abstellt. ee) Maßstab des Missverhältnisses Die Tendenz zu strengen Anforderungen an Preisänderungsklauseln bestätigt der EuGH in der Rs. Constructora Principado.296 Dem Verfahren lag eine Klausel in einem Immobilienkaufvertrag zugrunde, mittels derer der Bauträger eine kommunale Wertzuwachssteuer sowie Gebühren für den Anschluss an die Versorgungsnetze auf den Käufer der Wohnung überwälzte. Das mit der Frage der Unwirksamkeit der Klausel befasste Gericht wollte vom EuGH wissen, wie das Kriterium des erheblichen Missverhältnisses in Art. 3 Abs. 1 der RL 93/13 auszulegen sei und ob hierbei die Höhe der abgewälzten Zahlungsverpflichtung in Relation zum Gesamtbetrag des Rechtsgeschäfts zu setzen sei. Der Gerichtshof antwortet, dass die Erheblichkeit des Missverhältnisses sich nicht unbedingt aus der Relation zum Gesamtvolumen des betreffenden Rechtsgeschäfts ergeben müsse, sondern dass sie sich auch „[…] bereits aus einer hinreichend schwerwiegenden Beeinträchtigung der rechtlichen Stellung, die der Verbraucher als Vertragspartei nach den anwendbaren nationalen Rechtsvorschriften innehat, ergeben kann, sei es in Gestalt einer inhaltlichen Beschränkung der Rechte, die er nach diesen Vorschriften aus dem Vertrag herleitet, oder einer Beeinträchti-
contract law, in: Alpa / Danovi, Diritto privato europeo – Fonte ed effeti, Materiali del seminario dell’ 8–9 novembre 2002. 294 So auch Fornasier, ZEuP 2014, 410, 420 „einer unionsrechtlich-autonomen Ausfüllung viel eher zugänglich“. 295 Vgl. etwa Rn. 46, 49 und 52 des Urteils in der Rs. C-92/11 RWE; siehe auch Fornasier, ZEuP 2014, 410, 422. 296 EuGH, 16.1.2014, Rs. C-226/12 Constructora Principado SA ./. José Ignacio Menéndez Álvarez, ECLI:EU:C:2014:10.
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gung der Ausübung dieser Rechte oder der Auferlegung einer zusätzlichen, nach den nationalen Vorschriften nicht vorgesehenen Verpflichtung […]“.297
Dabei belässt es der Gerichtshof aber nicht, sondern macht sehr konkrete Ausführungen darüber, wie das vorlegende Gericht bei der Beurteilung der streitgegenständlichen Klauseln vorzugehen habe. Der Gerichtshof bestätig hier zunächst die bereits in der Rs. Aziz gemachte Aussage, dass „[…] bei der Frage, ob eine Klausel ein erhebliches und ungerechtfertigtes Missverhältnis der vertraglichen Rechte und Pflichten der Vertragspartner zulasten des Verbrauchers verursacht, insbesondere diejenigen Vorschriften zu berücksichtigen [sind], die im nationalen Recht anwendbar sind, wenn die Parteien in diesem Punkt keine Vereinbarung getroffen haben.“298
Die Erheblichkeit des Missverhältnisses kann sich daher nicht nur aus einem Vergleich der abgewälzten Kosten mit dem Gesamtvolumen des Vertrages ergeben, sondern eben bereits aus einer erheblichen Abweichung von der dispositiven Rechtslage als solcher. In diesem Zusammenhang bestätigt der Gerichtshof zudem die Pflicht zur Berücksichtigung aller übrigen Vertragsklauseln aus der Rs. Banif Plus. Besonderen Wert legt der EuGH auch in der Rs. Constructora Principado auf die Beachtung des Transparenzgebots. Im Einzelnen stört den Gerichtshof besonders, dass die auf den Verbraucher abgewälzte Wertzuwachssteuer sich offenbar nach dem Veräußerungsgewinn des Unternehmers – also nach einem von diesem erzielten, wirtschaftlichen Vorteil – richtete. Man wird hinzufügen dürfen, dass es bei der Überwälzung einer Steuer auf einen Veräußerungsgewinn auch an einem hinreichend engen, sachlichen Zusammenhang mit der Veräußerung an den Verbraucher fehlen dürfte. Zwar entsteht die Steuer durch diese Veräußerung, ihre Höhe richtet sich aber in der Regel entscheidend nach demjenigen Preis, zu dem der Unternehmer das betreffende Grundstück ursprünglich erworben hatte. Zu diesem Preis hat der Verbraucher aber keinerlei Verbindung und er profitiert insbesondere auch in keiner Weise davon, wenn dieser Preis etwa besonders niedrig und der zu besteuernde Veräußerungsgewinn damit besonders hoch wäre. Zudem war die Höhe der Steuer dem Verbraucher zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses wohl nicht bekannt. Eine solche „Ungewissheit des Verbrauchers über den Umfang der vertraglich eingegangenen Verpflichtungen“299 dürfte ihrerseits bereits eine Unwirksamkeit der betreffenden Klausel herbeiführen, bei der das nationale Gericht – wenn es denn den Sachverhalt tatsächlich dergestalt feststellt – auch keinerlei Beurteilungsspielraum mehr haben dürfte. Hieraus ergibt sich hinsichtlich der ersten Klausel für das nationale Urteil in der Rs. C-226/12 Constructora Principado, Rn. 23. Urteil in der Rs. C-415/11 Aziz, Rn. 68, Urteil in der Rs. C-226/12 Constructora Principado, Rn. 21. 299 Urteil in der Rs. C-226/12 Constructora Principado Rn. 26. 297 298
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Kapitel 2 – Bestandsaufnahme und Analyse
Gericht ein Prüfungsprogramm, das der Gerichtshof noch einmal detailliert vordekliniert.300 Bei der zweiten Klausel, die die Kosten für den Anschluss an die Versorgungsnetze auf den Verbraucher abwälzt, will der Gerichthof entscheidend darauf abstellen, „ob diese Beträge die Kosten für den Anschluss an allgemeine Installationen umfassen, die unverzichtbar sind, um die Bewohnbarkeit einer Wohnung zu gewährleisten.“301
Hierzu ist zunächst anzumerken, dass dies bei den betroffenen und ausdrücklich genannten Versorgungsnetzen – Wasser, Gas, Elektrizität und Kanalisation – nur eine rhetorische Frage darstellen kann. Interessanterweise geht der Gerichthof davon aus, dass die Herstellung einer ihrem Bestimmungszweck entsprechenden, also bewohnbaren, Wohnung „nach den anwendbaren nationalen Rechtsvorschriften“ eine Pflicht des Verkäufers darstellt und daher auf dessen Kosten geht. Dies liegt zwar nahe, aus den zitierten spanischen Vorschriften ergibt sich dies indes nicht. Ob der Gerichtshof hierfür ein Gutachten seiner eigenen Rechercheabteilung eingeholt hat, dass diesen Befund möglicherweise unter allen Mitgliedstaaten bestätigt, bleibt unklar. Jedenfalls spricht die Wendung für die in dieser Untersuchung vertretenen These, dass der Gerichtshof durchaus auf Grundlage des dispositiven, nationalen Rechts eine Klausel beurteilen kann und dass sich hieraus bei wesentlicher Gleichheit der nationalen Vertragsrechte302 zudem ein unionsautonomer Maßstab ergeben kann. Zusätzlich ist darauf hinzuweisen, dass entsprechende Vorschriften im nationalen Recht sich auch aufgrund einer überschießenden Umsetzung der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie ergeben können, die die Vertragsmäßigkeit in ihrem Art. 2 ausführlich definiert. Auch hier steht also ein unionsweit einheitlicher Standard als Orientierungsmarke zur Verfügung. Direkt anwendbar ist die Richtlinie in diesem Fall nicht, weil sie nach ihrem Art. 1 Abs. 2 lit. b) als Verbrauchsgüter nur bewegliche körperliche Gegenstände definiert. Die Würdigung, ob die Abweichung vom gesetzlichen Pflichtenprogramm zulasten des Verbrauchers hinreichend schwerwiegend ist, überlässt der EuGH allerdings wie üblich dem nationalen Gericht. Schließlich ist an der Rs. Constructora Principado noch interessant, dass der Unternehmer sich hier darauf berufen hatte, dass die Klausel zur Abwälzung der Wertzuwachssteuer die Angabe enthielt, eben diese Klausel sei bei der Preisfindung berücksichtigt worden. Hierzu führt der Gerichtshof nur aus, die Angabe in der Klausel sei „kein Beweis“ für eine Gegenleistung in Gestaltung einer Preisminderung. Hieraus lässt sich zweierlei ableiten: Erstens Urteil in der Rs. C-226/12 Constructora Principado Rn. 27. Urteil in der Rs. C-226/12 Constructora Principado Rn. 28. 302 Vgl. Erwägungsgrund 7, S. 2 der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie: „Der Grundsatz der Vertragsmäßigkeit kann als gemeinsames Element der verschiedenen einzelstaatlichen Rechtstraditionen betrachtet werden.“ 300 301
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scheint der Gerichtshof die Möglichkeit der Berücksichtigung einer solchen Preisminderung als „Gegenleistung“ für eine ungünstige Klausel nicht von vornherein auszuschließen. Zweitens ist dem Unternehmer aber der Weg abgeschnitten, pauschal sämtliche Klauseln für über einen geringeren Preis abgegolten zu erklären. Mit einer Offenlegung seiner kompletten Kalkulation durch den Unternehmer dürfte aus anderen Gründen aber nicht zu rechnen sein. Außerhalb von Individualvereinbarungen erscheint es daher nur denkbar, dass der Unternehmer dasselbe unterschiedliche Produkt zu unterschiedlichen Tarifen anbietet. Man denke etwa an verschiedene Tarife von Fluggesellschaften die – auch innerhalb einer Beförderungsklasse – sich dann durch unterschiedliche Bedingungen etwa für Gepäckmitnahme, Sitzplatzreservierung, Bordservice, Umbuchungen und Stornierungen unterscheiden. 5. Prozessuale Gewährleistung der Klauselkontrolle Die Entwicklung der Rechtsprechung des Gerichtshofs zur prozessualen Gewährleistung der Klauselkontrolle ist in der oben beschriebenen Herausbildung eines materiellen Prüfungsmaßstabs bereits teilweise mit angesprochen worden. Sie spielt eine zentrale Rolle, betrifft das Erkenntnisinteresse der Untersuchung aber nur mittelbar und soll deshalb in der gebotenen Kürze behandelt werden. Allerdings ist die prozessuale Komponente der praktisch bisher wohl wichtigste Aspekt in der Auslegung der Klauselrichtlinie durch den Europäischen Gerichtshof und das Recht auf effektive Klauselkontrolle stellt gewissermaßen den Gegenpol zu den ungleichen Verhandlungspositionen vor Vertragsschluss dar, die eine Seite ggf. unter Verstoß gegen Treu und Glauben ausnutzt. Zudem hat der Gerichtshof in Aziz angedeutet, dass das prozessuale Schutzniveau bei der Beurteilung der Missbräuchlichkeit einer Klausel durchaus zu berücksichtigen sein kann.303 Außerdem besteht ein bemerkenswerter Widerspruch zu den strengen Anforderungen an das Stattfinden einer Klauselkontrolle, wenn der Gerichtshof nicht zumindest langfristig auch das Ziel der materiellen Vereinheitlichung des AGB-Rechts weiter fördert.304 Es ist daher auch denkbar, dass die prozessuale Schutzkomponente der Klauselrichtlinie die Öffnung des EuGH hin zu stärkeren Vorgaben auch auf materieller Ebene zumindest mit beeinflusst hat. a) Verpflichtung zur Klauselkontrolle von Amts wegen Unabhängig von der Klauselrichtlinie hatte der Gerichtshof in der Rs. Van Schijndel 305 zu der Frage, ob das EU-Recht – dort wettbewerbsrechtliche Bestimmungen des EWG-Vertrags – von Amts wegen berücksichtigt werden muss, grundlegende Ausführungen gemacht. Nach einem Hinweis auf den 303 304
Rn. 68 letzter Satz des Urteils in der Rs. C-415/11 Aziz. So auch Basedow, in: Müller / Osterloh / Stein, Festschrift für G. Hirsch, S. 51, 58.
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Äquivalenz- und den Effektivitätsgrundsatz hat der EuGH dabei insbesondere den Verhandlungsgrundsatz der nationalen Zivilprozessrechte akzeptiert: „20. Im vorliegenden Fall ist darauf hinzuweisen, daß der Grundsatz des nationalen Rechts, daß das Gericht in einem Zivilverfahren von Amts wegen bestimmte Gesichtspunkte prüfen muß oder kann, dadurch begrenzt ist, daß sich das Gericht an den Streitgegenstand halten und seine Entscheidung auf die ihm vorgetragenen Tatsachen stützen muß. 21. Diese Begrenzung beruht auf dem Prinzip, daß die Initiative in einem Prozeß den Parteien zusteht und das Gericht nur in Ausnahmefällen von Amts wegen tätig werden darf, in denen das öffentliche Interesse sein Eingreifen erfordert. Dieses Prinzip ist Ausdruck der von den meisten Mitgliedstaaten geteilten Auffassungen vom Verhältnis zwischen Staat und Individuum, es schützt die Verteidigungsrechte und gewährleistet den ordnungsgemässen Ablauf des Verfahrens, insbesondere indem es dieses vor den mit der Prüfung neuen Vorbringens verbundenen Verzögerungen bewahrt. 22. Unter diesen Umständen ist auf die zweite Frage zu antworten, daß das Gemeinschaftsrecht es den nationalen Gerichten nicht gebietet, von Amts wegen die Frage eines Verstosses gegen Gemeinschaftsvorschriften aufzugreifen, wenn sie durch die Prüfung dieser Frage die ihnen grundsätzlich gebotene Passivität aufgeben müssten, indem sie die Grenzen des Rechtsstreits zwischen den Parteien überschreiten und sich auf andere Tatsachen und Umstände stützen, als sie die Prozesspartei, die ein Interesse an der Anwendung hat, ihrem Begehren zugrunde gelegt hat.“
Damit war insbesondere klargestellt, dass grundsätzlich keine Pflicht zur Erforschung von Tatsachen besteht, die die Parteien nicht vorgetragen haben. Der Gerichtshof nimmt es hier also hin, dass die Gestaltung des nationalen Zivilprozessrechts dazu führen kann, dass unionsrechtliche Bestimmungen unangewendet bleiben, wenn sich die Parteien nicht auf diese berufen haben oder jedenfalls nicht die für ihre Anwendung erforderlichen Tatsachen vorgetragen haben. Für die Klauselrichtlinie ließ sich zunächst aus der Rs. Océano als eindeutiges Ergebnis festhalten, dass das nationale Gericht befugt ist, die Missbräuchlichkeit von Klauseln von Amts wegen zu prüfen. Dies war nach der Formulierung des Urteils auch nicht auf die vom Gerichtshof wohl für missbräuchlich gehaltene Gerichtsstandsklausel beschränkt, sondern galt allgemein. Angesichts des mindestharmonisierenden Charakters der Richtlinie und der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten war dies nicht überraschend. In der Rs. Mostaza Claro306 ging der EuGH dann bereits zu einer Verpflichtung des nationalen Gerichts zur Prüfung der Missbräuchlichkeit über.307 Aller305 EuGH, 14.12.1995, Verb. Rs. C-430/93 und C-431/93 Jeroen van Schijndel und Johannes Nicolaas Cornelis van Veen ./. Stichting Pensioenfonds voor Fysiotherapeuten, Slg. 1995 I-04705. 306 EuGH, 26.10.2006, Rs. C-168/05 Elisa María Mostaza Claro ./. Centro Móvil Milenium SL, Slg. 2006 I-10421. 307 Während die Schlussanträge des Generalanwalts Antonio Tizzano vom 27.4.2006 in der Rs. C-168/05 Elisa María Mostaza Claro ./. Centro Móvil Milenium SL, Slg. 2006
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dings ging es hier nicht unmittelbar um die Verpflichtung zur Prüfung von Amts wegen, sondern um die Verpflichtung zur Aufhebung eines Schiedsspruches wegen Missbräuchlichkeit der Schiedsklausel auch dann, wenn diese nicht während des Schiedsverfahrens, sondern erst im Aufhebungsverfahren vor dem staatlichen Gericht geltend gemacht wurde. Daneben führt der EuGH aber in allgemeineren Worten auch aus: „Die Art und die Bedeutung des öffentlichen Interesses, auf dem der durch die Richtlinie den Verbrauchern gewährte Schutz beruht, rechtfertigen es weiter, dass das nationale Gericht von Amts wegen die Missbräuchlichkeit einer Vertragsklausel prüfen und damit dem Ungleichgewicht zwischen dem Verbraucher und dem Gewerbetreibenden abhelfen muss.“308
Entscheidungserheblich und unmittelbarer Gegenstand der ersten Vorlagefrage war die amtswegige Prüfungspflicht des nationalen Gerichts erst in der Rs. Pannon, wo der Gerichtshof die Pflicht zur amtswegigen Berücksichtigung der Missbräuchlichkeit von Klauseln bestätigt. 309 Diese Verpflichtung präzisierte der Gerichtshof in der Rs. Jahani310 weiter. Das Verfahren betraf in der Sache eine Klage wegen Mietschulden und Vertragsstrafen, die die Mietschulden in der Höhe deutlich übertrafen. Erst in zweiter Instanz machten die Beklagten die Missbräuchlichkeit der die Vertragsstrafen enthaltenden Klauseln geltend. Der Gerichtshof bejahte zunächst die Anwendbarkeit der Klauselrichtlinie auf Mietverträge. Was die Verpflichtung zur amtswegigen Prüfung angeht, so leitet der Gerichtshof diese in der Rs. Jahani aus dem Äquivalenzprinzip her. Danach sei, da im niederländischen Recht auch die Rechtsmittelgerichte zwingende nationale Vorschriften von Amts wegen prüfen, dies auch auf Art. 6 der Klauselrichtlinie anzuwenden.311 Die Rs. Jőrös312 betraf ähnliche Fragen wie in der Rs. Jahani. Hier ging es in der Sache um Klauseln eines Darlehensvertrags, die dem Darlehensgeber das einseitige Recht zur Anpassung von Bearbeitungsgebühren, zur Änderung des Darlehenszinssatzes und zur Abwälzung solcher Kosten, die sich aus einer Änderung rechtlicher Vorschriften ergeben würden, auf den Darlehensnehmer gaben, ohne dass letzterer in einem solchen Fall ein Recht zur außerordentlichen Kündigung hatte. Der EuGH bestätigt hier, dass nach dem ÄquivaI-10421, noch im Sinne der Rs. C-240/98 Océano davon ausgehen, dass das nationale Gericht den Schiedsspruch wegen Missbräuchlichkeit der Schiedsklausel von Amts wegen aufheben kann – sprich: darf, nicht muss –, nimmt der Gerichtshof an, dass insoweit eine Verpflichtung besteht. 308 Rn. 38 des Urteils in der Rs. C-168/05 Mostaza Claro. 309 EuGH, 4.6.2009, Rs. C-243/08 Pannon GSM Zrt. ./. Erzsébet Sustikné Győrfi, Slg. 2009 I-04713, Rn. 28. 310 EuGH, 30.5.2013, Rs. C-488/11 Dirk Frederik Asbeek Brusse und Katarina de Man Garabito ./. Jahani BV, ECLI:EU:C:2013:341. 311 Rn. 45 des Urteils in der Rs. C-488/11 Jahani. 312 EuGH, 30.5.2013, Rs. C-397/11 Erika Jőrös ./.Aegon Magyarország Hitel Zrt, ECLI:EU:C:2013:340.
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lenzgrundsatz die Klauselkontrolle von Amts wegen auch – ggf. erstmalig – im Rechtsmittelverfahren stattzufinden hat, wenn das Gericht bei innerstaatlichen Sachverhalten über eine solche Befugnis verfügt,313 d. h. wenn es nicht auf Unionsrecht basierende, aber zwingende nationale Vorschriften auch ohne entsprechenden Antrag im Rechtsmittelverfahren berücksichtigt. Offen bleibt damit die Frage, ob auch der Effektivitätsgrundsatz eine amtswegige Klauselkontrolle im Rechtsmittelverfahren gebietet. Hierzu hat der Gerichtshof sich weder in der Rs. Jahani, noch in der Rs. Jőrös geäußert, obwohl er den Effektivitätsgrundsatz jeweils auch als Prüfungsmaßstab erwähnt hat. Naheliegend dürfte dabei folgende Vorgehensweise sein: Wenn das erstinstanzliche Gericht eine ihm obliegende Missbräuchlichkeitsprüfung nicht vornimmt, so dürfte dies einen Rechtsfehler darstellen, der in der Rechtsmittelinstanz zu überprüfen ist. Dies wird nach dem Äquivalenzgrundsatz geboten sein, wenn vergleichbare Rechtsfehler bei der Prüfung nationalen Rechts revisibel sind und ggf. auch unmittelbar nach dem Effektivitätsgrundsatz, weil dem Verbraucher sonst die Ausübung seiner Rechte aus der Klauselrichtlinie zumindest übermäßig erschwert wird. Damit wird eine amtswegige Missbräuchlichkeitskontrolle regelmäßig geboten sein, wenn sich der Tatsachenstoff zwischen den Instanzen nicht ändert. Tut er dies ausnahmsweise doch, so dass die Verpflichtung zur amtswegigen Klauselkontrolle aufgrund des veränderten Tatsachenstoffes überhaupt erst in der Rechtsmittelinstanz entstehen kann, so wird man dem Rechtsmittelgericht dieselbe, sich aus dem Effektivitätsgrundsatz ergebende, Pflicht auferlegen, die sonst das erstinstanzliche Gericht getroffen hätte. Problematisch erscheinen damit auch hier alleine die Fälle, in denen der Verbraucher sowohl das Tatsachenmaterial wie auch die anwendbaren rechtlichen Regeln vortragen muss. b) Amtswegige Tatsachenermittlung? Der Europäische Gerichtshof wiederholt beständig, dass die Pflicht zur amtswegigen Missbräuchlichkeitsprüfung nur insoweit gilt, wie das erkennende Gericht über „die hierzu erforderlichen rechtlichen und tatsächlichen Grundlagen verfügt“.314 Allerdings war der Gerichtshof in der Rs. Pénzügyi Lízing315 auch gefragt worden, ob das nationale Gericht zusätzlich eine Pflicht zur Untersuchung und Feststellung eben dieser rechtlichen und tatsächlichen Rn. 30 des Urteils in der Rs. C-397/11 Jőrös. Siehe Rn. 32 des Urteils in der Rs. C-243/08 Pannon, anschließend Rn. 43 des Urteils EuGH, 14.6.2012, Rs. C-618/10 Banco Español de Crédito SA ./. Joaquín Calderón Camino, ECLI:EU:C:2012:349; Rn. 23 des Urteils EuGH, 21.2.2013, Rs. C-472/11 Banif Plus Bank Zrt ./. Csaba Csipai, Viktória Csipai, ECLI:EU:C:2013:88.; Rn. 27 des Urteils in der Rs. C-397/11 Jőrös. 315 EuGH, 9.11.2010, Rs. C-137/08 VB Pénzügyi Lízing Zrt. ./. Ferenc Schneider, Slg. 2010 I-10847. 313 314
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Grundlagen hat.316 Die Antwort des Gerichtshofs bleibt im Unklaren, weil er die Vorlagefrage nur insoweit beantwortet, dass er eine amtswegige Untersuchungspflicht hinsichtlich solcher Tatsachen bejaht, die die Eröffnung des Anwendungsbereichs der Richtlinie begründen, hier also das Vorliegen nicht im Einzelnen ausgehandelter Vertragsklauseln. Ob diese Pflicht sich – wenn der Anwendungsbereich dann eröffnet ist – auch auf die für die Beurteilung der Missbräuchlichkeit notwendigen Tatsachen erstreckt, sagt der Gerichtshof nicht direkt, obwohl die Vorlagefrage auch hierauf abzielte.317 Auch die spätere Antwortformel des Gerichthofs, wonach „[…] das nationale Gericht verpflichtet ist, von Amts wegen Untersuchungsmaßnahmen durchzuführen, um festzustellen, ob eine Klausel […] in den Anwendungsbereich der Richtlinie fällt, und, falls dies zu bejahen ist, von Amts wegen zu beurteilen, ob eine solche Klausel möglicherweise missbräuchlich ist“,318
hilft hier nicht mit Gewissheit weiter. Da sich beide Fragen aber im Wesentlichen dann beurteilen lassen dürften, wenn dem Gericht der streitgegenständliche Vertrag vollständig vorliegt, kann sich die Verpflichtung zu amtswegigen Untersuchungsmaßnahmen sinnvollerweise eigentlich nur sowohl auf die Eröffnung des Anwendungsbereichs, wie auch auf die Beurteilung der Missbräuchlichkeit als solche erstrecken. Gelegenheit zu näherer Befassung mit dieser Frage bekam der Gerichtshof dann in der Rechtssache Banco Español,319 die abermals einen Verbraucherkreditvertrag betraf. Hier hatte das nationale Gericht im Mahnverfahren einen vereinbarten Verzugszins von 29 % bereits für nichtig erklärt und herabgesetzt. Auf das Rechtsmittel der Bank wurde die Vorlagefrage gestellt. Die in der Rs. Pénzügyi Lízing eingeführte Pflicht zur Durchführung von Untersuchungsmaßnahmen zur Beschaffung der „rechtlichen und tatsächlichen Grundlagen“ wird von der Generalanwältin näher erläutert. Danach muss das nationale Gericht – auch wenn im nationalen Zivilprozessrecht eigentlich der Beibringungsgrundsatz320 gilt – von Amts wegen Untersuchungen über Tatsachen durchführen, wenn es feststellt, dass möglicherweise eine missbräuchliche Klausel vorliegt und die Parteien zur Beurteilung dieser Frage aber nicht 316 Eine etwaige Amtsermittlungspflicht des nationalen Gerichts im Hinblick auf die tatsächlichen Umstände des jeweiligen Falles dürfte mit dem in den Mitgliedstaaten regelmäßig verwendeten Beibringungsgrundsatz im Zivilverfahren in Konflikt geraten; vgl. zum Beibringungsgrundsatz bzw. Verhandlungsgrundsatz in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen insbesondere die Schlussanträge der Generalanwältin Verica Trstenjak in der Rs. C-137/08 VB Pénzügyi Lízing, Rn. 110 ff. 317 Siehe Rn. 25 (Nr. 3), 45–51 des Urteils in der Rs. C-137/08 VB Pénzügyi Lízing. 318 Rn. 56 des Urteils in der Rs. C-137/08 VB Pénzügyi Lízing. 319 EuGH, 14.6.2012, Rs. C-618/10 Banco Español de Crédito SA ./. Joaquín Calderón Camino, ECLI:EU:C:2012:349. 320 Vgl. Rn. 33 der Schlussanträge der Generalanwältin Verica Trstenjak vom 14.2.2012 in der Rs. C-618/10 Banco Español, ECLI:EU:C:2012:74.
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hinreichend vorgetragen haben. Auch die Generalanwältin versteht die in der Rs. Pénzügyi Lízing gemachten Ausführungen also weit. Allerdings sei diese Rechtsprechung auf das Mahnverfahren nicht ohne Weiteres zu übertragen, da dieses nur auf das Erkenntnisverfahren zugeschnitten sei.321 Außerdem sei auch nach der Art der Klausel zu unterscheiden. Gehe es – wie in der Rs. Pénzügyi Lízing – um eine Gerichtsstandsklausel, so sei die Unvereinbarkeit der Klausel mit den Geboten von Treu und Glauben unmittelbar erkennbar.322 Anders sei dies bei Klauseln, die „materielle Vertragspflichten festlegen“.323 Hier sei nämlich weiterhin eine Prüfung anhand aller Umstände des Einzelfalls durch das nationale Gericht erforderlich. Interessanterweise bezieht sich die Generalanwältin dann auf den CESL-Verordnungsvorschlag,324 der nicht nur die Bestimmungen aus der RL 93/13 im Wesentlichen übernehme, sondern auch eine spezielle Regelung zu vom Verbraucher zu bezahlenden Verzugszinsen enthalte. Art. 167 Nr. 3 CESL unterwerfe Abweichungen vom in Art. 166 bestimmten Zinssatz ausdrücklich der Klauselkontrolle nach der Verordnung. Im Ergebnis spricht sich die Generalanwältin jedenfalls gegen eine unionsrechtliche Verpflichtung zur amtswegigen Prüfung der Missbräuchlichkeit einer „materiellen“ Klausel bereits im Mahnverfahren aus. Der Gerichtshof sieht dies anders und argumentiert, die spanische Regelung, wonach im Mahnverfahren die Missbräuchlichkeit von AGB nicht geprüft werden könne, verstoße gegen den Effektivitätsgrundsatz. Daher müsse auch im Mahnverfahren von Amts wegen die Missbräuchlichkeit von Vertragsklauseln geprüft werden, wenn das Gericht über die hierzu erforderlichen rechtlichen und tatsächlichen Grundlagen verfügt.325 Zur amtswegigen Tatsachenermittlungspflicht, die in Banco Español nicht unmittelbar Gegenstand der Vorlagerfrage war, äußerst der Gerichtshof sich aber nicht.326
Rn. 34 und 36 der Schlussanträge in der Rs. C-618/10 Banco Español. Vgl. Rn. 44–46 der Schlussanträge in der Rs. C-618/10 Banco Español. 323 Rn. 41 der Schlussanträge in der Rs. C-618/10 Banco Español. 324 Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über ein Gemeinsames Europäisches Kaufrecht, Brüssel, 11.10.2011, KOM (2011) 635 endg., siehe oben S. 61. 325 Siehe eingehend zur Differenzierung im Hinblick auf die Ausgestaltung nationaler Mahnverfahren Dutta, ZZP 2013, 153, 166 ff. Dutta ist im Hinblick auf die Folgen der Entscheidung der Ansicht, es sei danach zu unterscheiden, ob im jeweiligen nationalen Mahnverfahren bereits Urkunden beizubringen sind, die den Bestand der geltend gemachten Forderung belegen und sodann auch bereits als tatsächliche Grundlage für die amtswegige Klauselkontrolle herhalten könnten. Sofern dies – wie in Deutschland – dagegen nicht der Fall sei, weil die Forderung lediglich bezeichnet werden müsse, blieben diese Verfahren von der Rs. Banco Español unberührt. Dies gelte jedenfalls, sofern nicht auch die Pflicht zur amtswegigen Tatsachenermittlung auf das Mahnverfahren ausgedehnt werde, was Dutta aber ablehnt, da eine solche Pflicht „den Grundsatz der mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie […] im Mahnverfahren bis zur Unkenntlichkeit entstellen“ würde. 321 322
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c) Klauselkontrolle im Vollstreckungsverfahren In der Rs. Asturcom327 ging es um die Frage, ob die Nichtigkeit einer Schiedsvereinbarung wegen Verstoßes gegen die Klauselrichtlinie noch nach ergangenem Schiedsspruch im Vollstreckungsverfahren geprüft werden kann oder muss. Der Fall entspricht also weitgehend dem der Entscheidung in der Rs. Mostaza Claro, mit dem Unterschied, dass die Verbraucherin hier solange untätig geblieben war, dass nun bereits das Vollstreckungsverfahren betrieben wurde.328 Der EuGH antwortete auf Grundlage des Äquivalenzgrundsatzes, dass das Gericht eine solche Prüfung dann vorzunehmen hat, wenn es den Verstoß einer Schiedsklausel gegen zwingende Bestimmungen des nationalen Rechts ebenso im Vollstreckungsverfahren berücksichtigen kann, was eine Frage des nationalen Prozessrechts darstelle.329 Mit dem Effektivitätsgrundsatz hielt der EuGH das nationale Recht, wonach der völlig untätige Verbraucher einen Schiedsspruch nach einer Ausschlussfrist von 60 Tagen nicht mehr angreifen konnte, aber für vereinbar.330 Ein Vollstreckungsverfahren lag auch der Rs. Aziz331 zugrunde. Dort wendete sich der Kreditnehmer gegen ein Hypothekenvollstreckungsverfahren. In diesem Verfahren kann in Spanien unter bestimmten Umständen die Missbräuchlichkeit von Klauseln nicht vorgetragen werden und wird auch nicht geprüft. Fraglich war, inwieweit dies mit der RL 93/13 und insbesondere mit dem Effektivitätsgrundsatz vereinbar ist. Da das der Vorlage zugrunde liegende Verfahren nicht das Vollstreckungsverfahren selbst ist, deuten die Schlussanträge332 die Vorlagefrage zugunsten ihrer Zulässigkeit dahingehend um, welche Rechtsbehelfe der Verbraucher zumindest im Rahmen des späteren Erkenntnisverfahrens beim Rechtschutz gegen die Vollstreckung noch haben muss und messen die spanischen Regeln dann am Effektivitätsgrundsatz. Sie stellen dabei fest, dass im spanischen vereinfachten Hypothekenvollstreckungsverfahren ein Schuldner die Verwendung missbräuchlicher Klau326 Siehe Rn. 44 des Urteils in der Rs. C-618/10 Banco Español. Der Gerichtshof wiederholt hier nur die Formel aus VB Pénzügyi Lízing, ohne dass aber klarer wird, ob sich die Pflicht zu tatsächlichen Untersuchungsmaßnahmen nun auch auf die Missbräuchlichkeit oder nur auf das Vorliegen nicht im Einzelnen ausgehandelter Vertragsklauseln erstreckt. 327 EuGH, 6.10.2009, Rs. C-40/08 Asturcom Telecomunicaciones SL ./. Cristina Rodríguez Nogueira, Slg. 2009 I-09579. 328 Vgl. Rn. 33 des Urteils in der Rs. C-40/08 Asturcom. 329 Rn. 53 des Urteils in der Rs. C-40/08 Asturcom. Aus Rn. 55 ergibt sich, dass der EuGH davon ausgeht, dass dies im spanischen Prozessrecht der Fall ist. 330 Rn. 39 ff. (insbesondere Rn. 47) des Urteils in der Rs. C-40/08 Asturcom. 331 EuGH, 14.3.2013, Rs. C-415/11 Mohamed Aziz ./. Caixa d´Estalvis de Catalunya, Tarragona i Manresa, ECLI:EU:C:2013:164. 332 Schlussanträge der Generalanwältin Juliane Kokott vom 8.11.2012, Rs. C-415/11 Mohamed Aziz ./. Caixa d´Estalvis de Catalunya, Tarragona i Manresa, ECLI:EU:C:2012: 700.
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seln im Darlehensvertrag überhaupt nicht geltend machen kann, sondern erst im späteren Erkenntnisverfahren. Damit sei eine Einstellung der Zwangsvollstreckung ausgeschlossen und der Darlehensnehmer könne nur noch den späteren Vollstreckungserlös beanspruchen. Er müsse damit ggf. den Verlust seines Eigenheims hinnehmen, auch wenn die Missbräuchlichkeit von Klauseln des Darlehensvertrags der Zwangsvollstreckung materiellrechtlich eigentlich entgegenstünde.333 Diese Verfahrensausgestaltung verstoße aber gegen den Effektivitätsgrundsatz, weil kein effektiver Rechtsbehelf zur Prüfung der Missbräuchlichkeit von Klauseln zur Verfügung stehe, wenn der Darlehensnehmer lediglich nachgelagerten Rechtschutz in Anspruch nehmen, aber den Verlust eines Eigenheims und die Räumung desselben nicht verhindern könne.334 Der Gerichtshof betont ebenfalls, dass die Versteigerung der Immobilie des Verbrauchers unumkehrbar ist, wenn dieser nicht in kurzer Frist eine Vormerkung für den Antrag auf Nichtigerklärung der Hypothek eintragen lässt, selbst wenn letztere aufgrund missbräuchlicher Klauseln tatsächlich nichtig ist.335 Damit sei die volle Wirksamkeit der Endentscheidung, in der erstmalig die Missbräuchlichkeit der Klauseln vorgetragen und geprüft werden kann, nicht gewährleistet und die spanische Regelung somit mit dem Effektivitätsgrundsatz unvereinbar. Dabei betont der Gerichtshof auch die besondere Rolle der Wohnung für den Verbraucher und seine Familie und die Tatsache, dass er deren endgültigen Verlust trotz der Nichtigkeit der Hypothek ggf. nicht verhindern kann. Festzuhalten bleibt Folgendes: Eine (amtswegige) Klauselkontrolle in Vollstreckungsverfahren ist nicht grundsätzlich unionsrechtlich geboten. Sie kann sich aus dem Äquivalenzgrundsatz ergeben. Aus dem Effektivitätsgrundsatz ergibt sie sich aber nur unter besonderen Umständen. Diese können einerseits in einer besonders ungünstigen Verfahrensgestaltung liegen, bei der die Vollstreckung sehr schnell abläuft, das Verfahren kompliziert ist und der Verbraucher seine Rechte nicht kennt. Andererseits spielt offenbar auch die Wichtigkeit und die Endgültigkeit der beeinträchtigten Rechtsgüter des Verbrauchers eine Rolle. Ist dagegen ein Verfahren so gestaltet, dass der Verbraucher eine hinreichend lange Rechtsmittelfrist hat (z. B. 60 Tage) und diese verstreichen lässt, so respektiert das Unionsrecht die Rechtskraft der nationalen Entscheidung und gebietet nicht in jedem Fall eine nachträgliche Klauselkontrolle im Vollstreckungsverfahren. d) Verbot geltungserhaltender Reduktion Abschließend soll noch kurz erläutert werden, wie der Gerichtshof sich mittlerweile zur Frage der geltungserhaltenden Reduktion missbräuchlicher Klau333 334 335
Rn. 46–50 der Schlussanträge in der Rs. C-415/11 Aziz. Rn. 51–53 der Schlussanträge in der Rs. C-415/11 Aziz. Rn. 57 ff. des Urteils in der Rs. C-415/11 Aziz.
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seln geäußert hat, weil dies einen Aspekt der Sanktionierung von Verstößen gegen Treu und Glauben darstellt. Die zweite Vorlagefrage in der Rs. Banco Español 336 betraf die Vereinbarkeit einer nationalen Vorschrift, wonach der Richter missbräuchliche Klauseln unter Berücksichtigung von Treu und Glauben anpassen kann, mit der Richtlinie. Die Generalanwältin führt hierzu zunächst aus, dass Art. 6 Abs. 1 der RL 93/13 nach seinem Wortlaut die „Unverbindlichkeit“ der betreffenden Klausel anordne und keine Reduzierung der Klausel auf ein noch zulässiges Maß vorsehe.337 Gegen eine solche Befugnis des nationalen Richters spreche außerdem das Richtlinienziel der Entfernung solcher Klauseln aus dem Geschäftsverkehr, weil sonst der Abschreckungseffekt auf die Gewerbetreibenden nicht gegeben sei bzw. diese sogar einen Anreiz hätten, missbräuchliche Klauseln in ihre Verträge aufzunehmen, die dann ja allenfalls vom Gericht auf ein für sie genehmes, gerade noch zulässiges Maß reduziert würden.338 Damit sei eine Befugnis des nationalen Richters zur Ersetzung der missbräuchlichen durch eine nicht missbräuchliche Klausel unionsrechtlich nicht zulässig. Dem schließt sich der Gerichtshof an und untersagt eine Auslegung von Art. 6 Abs. 1 RL 93/13, die dem nationalen Gericht eine Abänderungsbefugnis zugestehen würde. Damit spricht sich der Gerichtshof eindeutig für ein Verbot einer geltungserhaltenden Reduktion missbräuchlicher Klauseln aus. Dies wird in der Rs. Jahani bestätigt.339 Der Rs. Kásler340 lag in materieller Hinsicht die Frage zugrunde, inwieweit es zulässig ist, dass Verbraucherkreditverträge auf ausländische Währungen abgeschlossen werden. Hierdurch kann der Verbraucher ggf. von niedrigeren Zinsen profitieren, muss aber bei einem Kursverlust seiner Landeswährung, in der das Darlehen ausgezahlt und auch zurückgezahlt wird, mit einem entsprechenden Anstieg seiner Raten rechnen. Dem Europäischen Gerichtshof wurde allerdings nur die Frage vorgelegt, inwieweit die diese Modalitäten regelnden Klauseln als „Hauptgegenstand“ unter Art. 4 Abs. 2 der Klauselrichtlinie fallen und damit von der Missbräuchlichkeitskontrolle ausgenom-
EuGH, 14.6.2012, Rs. C-618/10 Banco Español de Crédito SA ./. Joaquín Calderón Camino, ECLI:EU:C:2012:349. 337 Rn. 84 der Schlussanträge in der Rs. C-618/10 Banco Español. 338 Rn. 86–88 der Schlussanträge in der Rs. C-618/10 Banco Español. Man fragt sich allerdings, ob dies nicht im Widerspruch zu den Ausführungen derselben Generalanwältin vom 8.8.2011 in der Rs. C-327/10 Hypoteční banka a.s. ./. Udo Mike Lindner, Slg. 2011 I-11543 steht, wo sie die Auffassung vertreten hatte, eine in der örtlichen Gerichtsstandsklausel „konkludent“ mitvereinbarte internationale Gerichtsstandsklausel würde selbst bei Unwirksamkeit der ersteren bestehen bleiben. 339 EuGH, 30.5.2013, Rs. C-488/11 Dirk Frederik Asbeek Brusse und Katarina de Man Garabito ./. Jahani BV, ECLI:EU:C:2013:341, Rn. 60. 340 Schlussanträge des Generalanwalts Nils Wahl vom 12.2.2014, Rs. C-26/13 Árpád Kásler und Hajnalka Káslerné Rábai ./. OTP Jelzálogbank Zrt, ECLI:EU:C:2014:85. 336
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men werden dürfen.341 In diesem Zusammenhang wird der EuGH auch um Präzisierung der Begriffe „klar und verständlich abgefaßt“ ersucht. Eine dritte Frage betrifft die Folgen der Missbräuchlichkeit solcher Klauseln, also das Schicksal des Darlehensvertrages. Generalanwalt Wahl stellt die Ausnahme in Art. 4 Abs. 2 im Hinblick auf ihren Sinn und Zweck in Frage342 und betont, dass die Auslegung der fraglichen Begriffe unter Berücksichtigung der schwächeren Position des Verbrauchers und der Asymmetrie des Kenntnisstandes erfolgen müsse.343 Er überträgt sodann die Kompetenzverteilung aus dem Bereich der Auslegung der Generalklausel auch auf die Auslegung des Begriffs „Hauptleistung“, so dass der Gerichtshof auch hier nur „die allgemeinen Kriterien“ der Definition auszulegen habe.344 Nach dem Hinweis auf unterschiedliche Ansätze in den Mitgliedstaaten schlägt der Generalanwalt vor, „in jedem einzelnen Fall die Hauptleistung oder die Hauptleistungen festzustellen, die objektiv im Rahmen des allgemeinen Vertragsgefüges als wesentlich anzusehen sind.“345
Der Generalanwalt definiert dann einen Verbraucherkreditvertrag als zeitweise Zurverfügungstellung eines Geldbetrages gegen Zinszahlung. Der Zinssatz gehöre hiermit zum Wesensgehalt des Vertrages und damit zum Hauptgegenstand. Hierzu soll wohl grundsätzlich auch seine Berechnung im Zusammenhang mit einer ausländischen Währung gehören.346 Zur Transparenz dieser Klausel stellt der Generalanwalt die Frage, ob diese sich nur in sprachlicher Hinsicht beurteile, oder ob sie sich „in einem allgemeineren Sinn auch auf die wirtschaftlichen Folgen bezieht, die sich aus der Anwendung der in Streit stehenden Vertragsklausel oder aus ihrem Verhältnis zu anderen Klauseln ergeben.“347
Die Frage der Auslegung des Begriffs „Hauptgegenstand des Vertrages“ im Sinne von Art. 4 Abs. 2 der RL 93/13 ist nicht Gegenstand dieser Untersuchung. Auch sie ist aber lange Zeit nicht Gegenstand von Vorabentscheidungsersuchen gewesen und stellt durch eine unterschiedliche Handhabung auf Ebene der Mitgliedstaaten eine Bedrohung für die einheitliche Auslegung der Richtlinie dar, siehe hierzu etwa Saintier, ERPL 2011, 519, 532 ff. 342 Rn. 34–36 der Schlussanträge in der Rs. C-26/13 Kásler. 343 Rn. 41 der Schlussanträge in der Rs. C-26/13 Kásler. 344 Rn. 47 der Schlussanträge in der Rs. C-26/13 Kásler. 345 Rn. 49 der Schlussanträge in der Rs. C-26/13 Kásler. 346 Rn. 63 und 65 der Schlussanträge in der Rs. C-26/13 Kásler: „Nach alledem lässt sich nicht ausschließen, dass im Fall eines Darlehensvertrags wie dem im Ausgangsverfahren streitigen die Klausel über den anzuwendenden Wechselkurs, da sie einen der Grundpfeiler eines auf eine ausländische Währung lautenden Vertrags bildet, zum Hauptgegenstand des Vertrags gehört.“). 347 Rn. 79 der Schlussanträge in der Rs. C-26/13 Kásler. 341
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Aufgrund des Ziels des Verbraucherschutzes plädiert der Generalanwalt für eine weite Auslegung des Transparenzerfordernisses; insbesondere sei es denkbar, dass der Verbraucher auch solche Klauseln in der Sache nicht verstehen könne, die sprachlich sehr wohl klar abgefasst seien. Der Verbraucher müsse daher „die Vor- und Nachteile des Abschlusses eines bestimmten Vertrags und die sich für ihn aus dem Geschäft ergebenden Risiken beurteilen […] können. Der Verbraucher muss nicht nur den Inhalt einer Klausel erfassen, sondern auch die damit verbundenen Pflichten und Rechte.“348
Die vom Gerichtshof in der Rs. RWE für die Transparenzkontrolle gemäß Art. 5 S. 1 aufgestellten Kriterien müssten insofern erst recht für das Transparenzerfordernis des Art. 4 Abs. 2 gelten. In Bezug auf die streitgegenständliche Klausel äußert der Generalanwalt Bedenken hinsichtlich ihrer inhaltlichen Verständlichkeit; kritisch sei insbesondere die Auszahlung des Darlehens nach dem Ankaufwechselkurs für Schweizer Franken, die Berechnung der monatlichen Raten aber nach dem jeweiligen Verkaufswechselkurs. Der Unterschied zwischen diesen beiden Kursen könne erheblich sein, was dem Durchschnittsverbraucher aber unbekannt sei. Damit die Klausel als hinreichend transparent bezeichnet werden könne, müsse sichergestellt sein, dass der Verbraucher nicht nur das sich aus möglichen Wechselkursschwankungen insgesamt ergebende Risiko, sondern auch den Unterschied zwischen Ankaufs- und Verkaufspreis erfassen könne. Zur Frage der Rechtsfolge der Missbräuchlichkeit weist der Generalanwalt auf das in der Rs. Banco Español vom Gerichtshof aufgestellte Verbot der geltungserhaltenden Reduktion hin. Dieses beziehe sich allerdings „auf Fälle, in denen die Aufhebung der in Streit stehenden Klausel, die im Vertragsgefüge nur akzessorischer Natur ist, nicht das Bestehen des Vertrags gefährdet und sich dem Verbraucher gegenüber nicht als nachteilig erweist.“
Angewendet auf den Ausgangsrechtsstreit führt der Generalanwalt aus, die Aufhebung der betreffenden Klausel würde die Vertragsdurchführung unmöglich machen und für den Verbraucher möglicherweise die Pflicht zur sofortigen Rückzahlung des Darlehens nach sich ziehen. Daher dürfe der nationale Richter „gemäß den Grundsätzen des Vertragsrechts“ die missbräuchliche Klausel „durch eine dispositive Bestimmung des nationalen Rechts“ ersetzen. Was der Generalanwalt genau mit den Grundsätzen des Vertragsrechts meint, bleibt hier unklar. Anzumerken ist auch noch, dass es ggf. denkbar wäre, aus dem Effektivitätsgrundsatz auch eine dem Verbraucher noch günstigere Lösung zu entwickeln. So könnte etwa der Vertrag rückabzuwickeln sein mit der Maßgabe, dass der Verbraucher dabei nicht schlechter gestellt werden darf als bei Gültigkeit des Vertrages. Dies könnte 348
Rn. 81 der Schlussanträge in der Rs. C-26/13 Kásler.
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bei einem Darlehensvertrag etwa bedeuten, dass die Verpflichtung zur Zahlung von Zinsen wegfällt, dass aber die Valuta nur in den vereinbarten Raten bzw. zum vereinbarten Rückzahlungszeitpunkt zurückgezahlt werden müssen.349 Hierzu sagt der Generalanwalt aber nichts. Fraglich ist wohl auch, ob dieser Kunstgriff der Ersetzung der Klausel durch das dispositive Recht überhaupt notwendig ist. Ist die Klausel unwirksam, so gilt an ihrer Stelle ohnehin das dispositive Recht – wenn dieses eine Lösung bereit stellt, kann der Vertrag also ohnehin fortbestehen und die Frage einer geltungserhaltenden Reduktion wegen Gefährdung des Vertrags im Ganzen stellt sich nicht. Gemeint ist daher möglicherweise eine Ersetzung der Klausel durch eine Regel des dispositiven Rechts, die nicht unmittelbar anwendbar wäre. Die Schlussanträge in der C-26/13 Kásler verursachen daher im Hinblick auf das Verbot geltungserhaltender Reduktion mehr Unklarheiten, als sie neue Lösungsansätze bieten würden. 6. Testfall: Verfallsklauseln bei Flugreisen Zur Umsetzung der Klauselrichtlinie in den Mitgliedstaaten ist eine Vielzahl von Monographien und anderer Literatur erschienen, die sich großenteils nur mit einer oder einigen wenigen nationalen Rechtsordnungen und mit bestimmten Aspekten des AGB-Rechts befassen.350 Es ist im Rahmen dieser Untersuchung nicht möglich, die Umsetzungsbestimmungen der einzelnen Mitgliedstaaten und die nationale Rechtsprechung im Hinblick auf Konkretisierungen des unionsprivatrechtlichen Grundsatzes von Treu und Glauben näher zu untersuchen.351 Jedoch soll, um die oben gemachten Ausführungen an einem konkreten Beispiel zu testen, eine Frage herausgegriffen werden, in der nationale Gerichte bei der Klauselkontrolle zu unterschiedlichen Ergeb349 Diese Lösung hat die deutsche Rechtsprechung bei der Rückabwicklung sittenwidriger Darlehensverträge über das Bereicherungsrecht gewählt, siehe BGH, Urteil vom 2.12.1982, Az. III ZR 90/81 (bei juris). 350 Siehe oben; zur Umsetzung der Klauselrichtlinie insgesamt in verschiedenen Mitgliedstaaten siehe etwa Herkenrath, Die Umsetzung der Richtlinie 93/13/EWG über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen in Deutschland, dem Vereinigten Königreich, Frankreich und Italien, S. 118 ff. (zur Umsetzung der Generalklausel); Trillmich, Klauselkontrolle nach spanischem Recht im Vergleich mit der Klauselrichtlinie 93/13/ EWG; ausführlich für alle Mitgliedstaaten mit Ausnahme von Bulgarien, Kroatien und Rumänien: Schulte-Nölke / Twigg-Flessner / Ebers, EC Consumer Law Compendium, S. 205– 220; zur Inhaltskontrolle in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten siehe auch Ranieri, Europäisches Obligationenrecht, S. 371–403. 351 Für den Bereich der Bankgebühren hat Kieninger, RabelsZ 73 (2009), 793, 802, nachgewiesen, dass die Rechtsprechung zur Zulässigkeit von Entgelten etwa bei Nichtausführung von Überweisungen oder Nichteinlösung eines Schecks wegen fehlender Deckung unter den höchsten Gerichten der Mitgliedstaaten divergiert. Vgl. auch Micklitz, ERCL 2010, 347, 364 ff.
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nissen kommen, obwohl die verwendeten Klauseln dieselben sind und es auch keine wesentlichen Unterschiede der zugrundeliegenden nationalen Vertragsrechte gibt. Herausgegriffen werden soll hier beispielhaft ein Vertragstypus mit besonders hoher Binnenmarktrelevanz. Die Allgemeinen Beförderungsbedingungen von Fluglinien sind in dieser Hinsicht ein lohnender Untersuchungsgegenstand. Luftbeförderungsverträge können sich innerhalb der Europäischen Union durch eine Vielzahl grenzüberschreitender Merkmale auszeichnen, etwa dem Sitz von Fluggesellschaft und Passagier, dessen Staatsangehörigkeit, dem Start- und Zielland oder dem Staat, in dem die Buchung erfolgte. Nach Art. 5 Abs. 2 S. 1 der Rom-I-Verordnung352 ist mangels Rechtswahl auf den Beförderungsvertrag das Recht desjenigen Staates anzuwenden, in dem die zu befördernde Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat, sofern sich in diesem Staat auch der Abgangsort oder der Bestimmungsort befindet. a) Tarifmodelle und Umgehungsversuche Fluglinien kalkulieren ihre Preise – wie andere Anbieter von Waren oder Dienstleistungen auch – nicht allein nach dem ihnen entstehenden Kostenaufwand, sondern auch nach dem am Markt erzielbaren Erlös. Dies führt dazu, dass teilweise Tickets mit einer höheren Zahl an Flugsegmenten günstiger angeboten werden als solche, die dieselbe Strecke mit weniger einzelnen Flügen überbrücken. Dies kann etwa dadurch begründet sein, dass eine Fluggesellschaft eine bestimmte Strecke nur als Umsteigeverbindung anbieten kann, während Konkurrenten dort Direktflüge durchführen. Um hiermit überhaupt konkurrieren zu können, muss der Preis des Direktfluges signifikant unterboten werden, weil ein vernünftig handelnder Durchschnittspassagier sonst aus Zeit- und Bequemlichkeitsgründen regelmäßig eine Präferenz für den Direktflug haben wird. Wenn also etwa Air France eine Verbindung von Frankfurt nach New York mit Umsteigen in Paris anbietet, so dürfte sie dort mit der Lufthansa und amerikanischen Fluggesellschaften konkurrieren, die diese Verbindung als Direktflug anbieten. Gleiches gilt umgekehrt für die Lufthansa im Fall der Verbindung Paris – New York. Dies kann z. B. dazu führen, dass Air France den Direktflug Paris – New York zu einem höheren Preis anbietet als die Verbindung Frankfurt – Paris – New York. Nachfragerpräferenzen führen z. B. auch dazu, dass teilweise ein einfacher Flug teurer angeboten wird als ein Hin- und Rückflug und dass Verbindungen mit Aufenthalt über das Wochenende häufig deutlichen günstiger angeboten werden als Hin- und Rückflug innerhalb derselben Wochen oder gar am selben Tag. 352 Verordnung (EG) Nr. 593/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Juni 2008 über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom I), ABl. 2008 L 177, S. 6.
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Wird sich der Passagier dieser Gestaltungen bewusst, so kann er auf den Gedanken kommen, sie zu Kostenersparnissen auszunutzen: Wenn er von Paris nach New York reisen möchte, bucht er Frankfurt – Paris – New York und lässt das erste Segment verfallen. Wer soll ihn daran hindern, weniger Leistungen in Anspruch zu nehmen, als er bezahlt hat? Statt mehrfach den teureren Hin- und Rückflug an aufeinanderfolgenden Tagen zu buchen, kann er Buchungen auf derselben Strecke auch ineinander verschränken, so dass jeweils ein Wochenende zwischen Hin- und Rückflug liegt und die Flüge dadurch günstiger werden (sog. Cross-Ticketing). Und was läge schließlich näher, als einen Hin- und Rückflug zu buchen und den Rückflug schlicht nicht anzutreten, wenn diese Buchung günstiger ist als die Buchung nur des Hinfluges als einfache Strecke? Gegen diese Gestaltungen versuchen die Fluggesellschaften, sich zu schützen. Sie stellen sich in Allgemeinen Beförderungsbedingungen auf den Standpunkt, dass der Fluggast nicht eine bestimmte Zahl von Flugsegmenten bucht, die er nach Belieben antreten oder aber auch schlicht verfallen lassen kann. Vielmehr werde eine Gesamtbeförderungsleistung gebucht, von der nicht abgewichen werden dürfe.353 Um sich vor Umgehungen dieser Anordnung zu schützen, enthalten die Beförderungsbedingungen Verfallsklauseln und Nachberechnungsklauseln. Hiermit räumen die Fluggesellschaften sich das Recht ein, alle übrigen Flugsegmente zu streichen, wenn eines nicht angetreten wird, oder den Flugpreis aufgrund der tatsächlich geflogenen Route nachzuberechnen, wenn die Segmente nicht wie gebucht abgeflogen werden. Dabei kann die Nachberechnung entweder so erfolgen, als habe der Fluggast zum Zeitpunkt seiner ursprünglichen Buchung die tatsächlich geflogene Strecke gebucht, oder aber die Nachberechnung erfolgt zum anwendbaren Tarif am Flugtag selbst, was für den Fluggast regelmäßig ungünstiger sein dürfte. Verweigert die Fluggesellschaft nun dem Passagier aufgrund nicht oder in falscher Reihenfolge abgeflogener Segmente den Check-in oder berechnet sie aufgrund dessen den Flugpreis neu und stellt Nachforderungen, so ist eine zentrale Frage des darauf ggf. folgenden Rechtsstreits die Wirksamkeit der soeben geschilderten Klauseln. Zu dieser Frage bestehen auffällige Divergenzen unter den Gerichten der Mitgliedstaaten. Bei der Untersuchung dieser Divergenzen fällt auf, dass sie nicht etwa auf Unterschiede des dispositiven 353 Vgl. etwa Art. 3.3. der AGB der Lufthansa (Stand Juli 2013) unter ; Art. 3.3 der Beförderungsbedingungen der Austrian Airlines (Stand Februar 2013) unter ; Art. 3 c) der General Conditions of Carriage der British Airways (Stand 13.4.2005), unter ; Art. 3.4 der Conditions Générales de Transport der Air France unter ; alle zuletzt abgerufen am 7.1.2014.
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Vertragsrechts zurückgehen. Es bestehen schlicht unterschiedliche Ansichten unter den Gerichten der verschiedenen Mitgliedstaaten. Dies stellt eine Situation dar, die der Vollendung des Binnenmarktes abträglich ist und der man durch entsprechende Vorgaben seitens des Europäischen Gerichtshofs begegnen könnte. Konkretisierungsmaterial hierfür ist auf europäischer Ebene reichlich zu finden. Im Hinblick auf die Konturen des unionsprivatrechtlichen Grundsatzes von Treu und Glauben ist die Konstellation im Übrigen zusätzlich deshalb von Interesse, weil die möglicherweise missbräuchlichen Klauseln aus Sicht der Fluggesellschaft ja selbst dem Ziel dienen, einen Missbrauch des von der Fluggesellschaft benutzten Tarifsystems durch den Kunden zu verhindern. Die Widersprüchlichkeit der unterschiedlichen Beurteilung der Wirksamkeit solcher Klauseln in verschiedenen Mitgliedstaaten zeigt sich schließlich noch daran, dass sie sich alle an derselben Empfehlung der Internationalen Luftverkehrs-Vereinigung orientieren,354 also offensichtlich keineswegs vor dem Hintergrund des jeweiligen, nationalen Vertragsrechts erarbeitet worden sind. b) Nationale Rechtsprechung zu Verfalls- und Nachberechnungsklauseln aa) Deutschland Der deutsche Bundesgerichtshof hat zu Verfallsklauseln geurteilt, dass solche Klauseln unwirksam seien, weil sie von der Regelung abweichen, wonach der Gläubiger grundsätzlich nur einen teilbaren Teil einer ihm vertraglich zustehenden Gesamtleistung fordern kann, wenn er dadurch nicht gegen Treu und Glauben verstößt.355 Er hat den Fluggesellschaften aber über die Einführung unterschiedlicher Tarife Möglichkeiten dafür eröffnet, solche Klauseln in zulässiger Weise zu gestalten. Dabei geht der BGH davon aus, dass ein Fluggast dann selbst gegen Treu und Glauben verstoßen kann, wenn er „[…] schon bei Vertragsschluss nicht die Absicht hat, die Gesamtleistung […] in Anspruch zu nehmen, sondern diese nur deshalb bucht, weil er auf diese Weise an einen Preisvorteil gelangen kann, den die Beklagte Fluggästen anbietet, die die Unbequemlichkeiten und den Zeitverlust einer Umsteigeverbindung auf sich nehmen, obwohl von dem von ihnen gewünschten Abflughafen auch Direktverbindungen zu ihrem Endziel angeboten werden.“356
Siehe Art. 3.3 der IATA Recommended Practice 1724, General Conditions of Carriage (Passenger and Baggage), PSC(MV79)1724. 355 BGH, Urteil vom 29.4.2010, Xa ZR 101/09, RRa 2010, 191, Rn. 14 ff. Der BGH bezeichnet die Berechtigung zur Forderung von Teilleistungen als „wesentlichen Grundgedanken des Schuldrechts“. Die Gerichte anderer Mitgliedstaaten haben diesen Ausgangspunkt nicht gewählt; die Grundregel scheint aber in allen Mitgliedstaaten in ähnlicher Form zu existieren, vgl. Art. 11:103 PECL. 356 BGH, 29.4.2010, Xa ZR 101/09, Rn. 19. 354
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Würde die Klausel nur solche Fälle erfassen, so wäre sie nach Ansicht des BGH offenbar wirksam. Da die konkret vorliegende Klausel aber auch andere Fälle umfasste – in denen sich z. B. die Reiseplanung im Nachhinein ändert oder der Zubringerflug verpasst wird – wird sie als Benachteiligung des Kunden entgegen Treu und Glauben angesehen. Es sei unangemessen benachteiligend, dass dann ggf. „dem gezahlten Flugpreis keine Gegenleistung mehr gegenüber stehen soll“.357 Die Fluggesellschaft müsse hier also eine differenziertere Regelung finden. Der BGH formuliert den Fluggesellschaften dann sogar vor, wie eine zulässige Klausel auszusehen hätte: „Dazu wäre es etwa ausreichend, wenn in den Beförderungsbedingungen bestimmt würde, dass bei Nichtinanspruchnahme einer Teilleistung für die verbleibende(n) Teilleistung(en) dasjenige Entgelt zu zahlen ist, das zum Zeitpunkt der Buchung für diese Teilleistung(en) verlangt worden ist, wenn dieses Entgelt höher ist als das tatsächlich vereinbarte.“358
Im Allgemeinen erkennt der BGH also das Interesse der Fluggesellschaft am Schutz der oben beschriebenen Tarifgestaltung vor Umgehung an. Das Ziel der Fluggesellschaft, mit ihrer Tarifgestaltung „geringeren Preiserwartungen am Abflugort des Zubringerfluges gerecht werden zu können“359 – sei es wegen des dortigen Preisniveaus, sei es wegen der Unannehmlichkeit der Umsteigeverbindung verglichen mit einer etwaigen Direktverbindung – wird ausdrücklich als legitim angesehen. Dazu gehört auch der Schutz dieses Modells vor kreativ buchenden Kunden, die eigentlich nur die Direktverbindung benötigen. Wichtig für das Verständnis der BGH-Entscheidung ist dabei, dass eine Nachzahlung, die zur Bedingung für die Beförderung gemacht wird, sich an demjenigen Entgelt zu orientieren hat, das zum Zeitpunkt der Buchung für die tatsächlich geflogene Strecke gegolten hätte.360 Nicht etwa darf der zum Zeitpunkt der Nachberechnung, etwa bei Erscheinen am Check-in, gültige – und mutmaßlich regelmäßig deutlich höhere – Beförderungspreis berechnet werden. Wie das Landgericht Frankfurt entschieden hat, muss dies in der fraglichen Klausel auch hinreichend klar herausgestellt sein.361 Dies dürfte allerdings die Fluggesellschaften in der Praxis vor die Schwierigkeit stellen, dass sie ex post für jeden beliebigen Zeitpunkt, zu dem irgendeine Buchung getäBGH, 29.4.2010, Xa ZR 101/09, Rn. 24. BGH, 29.4.2010, Xa ZR 101/09, Rn. 26. 359 BGH, 29.4.2010, Xa ZR 101/09, Rn. 21. 360 Kritisch Vogler, RRa 2010, 263 f., der den Kunden durch die Entscheidung des BGH als „unangemessen privilegiert“ sieht und davon ausgeht, das Urteil sei praktisch „schwerlich umzusetzen“. 361 Landgericht Frankfurt, Urteil vom 29. März 2012, 2-24 O 177/11 (bei juris). Das OLG Frankfurt, Urteil vom 28.2.2013, 16 U 86/12, NJW-RR 2013, 829, hat sich in der Berufungsinstanz die Ausführungen des Landgerichts ohne Einschränkungen zu Eigen gemacht. 357 358
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tigt wurde, objektiv nachvollziehbar die Konditionen für die tatsächlich abgeflogene Strecke vorhalten muss. bb) Österreich Der österreichische Oberste Gerichtshof hatte sich zu einer vergleichbaren Klausel zu äußern wie der deutsche Bundesgerichtshof.362 Besonders interessant ist die Entscheidung auch deshalb, weil sich die beklagte Fluggesellschaft Austrian Airlines im Prozess darauf berief, ihre AGB nach den vom deutschen BGH gemachten Vorgaben gestaltet zu haben. Die klagende Verbraucherorganisation hielt die Klausel, die für den Fall, dass Flugcoupons nicht in der gebuchten Reihenfolge abgeflogen werden, eine Nachberechnung gemäß dem zum Buchungszeitpunkt gültigen Tarif erlaubte, trotzdem für unwirksam. Zum einen sei sie unangemessen benachteiligend, da der Fluggesellschaft durch den Nichtantritt eines Segments kein Schaden, sondern ausschließlich ein Nutzen in Gestalt ersparter Aufwendungen entstünde. Außerdem sei die Klausel überraschend, weil der Verbraucher nicht damit rechnen müsse, einer Nachberechnung für die Nutzung solcher Teilflüge ausgesetzt zu sein, die er bereits bezahlt habe. Dem folgten sowohl das Berufungsgericht wie auch der OGH: Der Durchschnittsverbraucher sei mit der Tarifstruktur von Fluggesellschaften nicht vertraut und müsse daher nicht damit rechnen, dass er „für die Inanspruchnahme nur eines Teils einer Leistung mehr zahlen muss als für die Inanspruchnahme der gesamten Leistung.“ Nach österreichischer Rechtsprechung wäre damit zunächst erforderlich, dass der Kunde auf die Verpflichtung zum Abfliegen aller Segmente in gebuchter Reihenfolge und auf die Möglichkeit einer Nachberechnung gesondert hingewiesen wird, weil hiermit die Tatbestandsmäßigkeit als überraschende Klausel i. S. v. § 864a ABGB entfiele. Zusätzlich hält der OGH die Klausel aber auch für unangemessen benachteiligend. Zwar sieht auch der OGH den Schutz des Tarifsystems der Fluglinie als legitimes Ziel an. Dies soll die Klausel aber nur solchen Kunden gegenüber legitimieren, die durch Buchung etwa der Verbindung mit Zubringerflug das Tarifsystem der Beklagten bewusst umgehen. Dagegen bliebe die streitgegenständliche Klausel gegenüber anderen Kunden, die etwa einen Zubringerflug verpassen oder deren Reisepläne sich nachträglich ändern, gröblich benachteiligend.363 Der OGH will solche Fälle also von der Nachberechnungsklausel ausgenommen sehen und hält sie andernfalls – mangels Zulässigkeit einer geltungserhaltenden Reduktion – für insgesamt unwirksam. Damit verfolgt er zwar ein anerkennenswertes Ziel der Einzelfallgerechtigkeit, er dürfte die Fluggesellschaften aber in arge Beweisnöte bringen: Ob sich Pläne nachträglich ändern oder von vornherein eine Buchung in miss362 363
OGH, 17.12.2012, 4 Ob 164/12i. OGH, 17.12.2012, 4 Ob 164/12i, Rn. 3.3 ff., unter .
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bräuchlicher Absicht vorliegt, dürfte sich in vielen Fällen kaum aufklären lassen, erst recht nicht mit vertretbarem Aufwand. Damit können nach österreichischem Recht zu beurteilende Allgemeine Beförderungsbedingungen das hier beschriebene Buchungsverhalten von Kunden mutmaßlich allenfalls dann sanktionieren, wenn es sich um eine Vielzahl wiederkehrender Buchungen handelt, aus denen sich ein entsprechendes, wiederkehrendes Muster erkennen lässt. In solchen Fällen dürfte es jedenfalls gerechtfertigt sein, eine entsprechende Absicht des Kunden (widerleglich) zu vermuten, dessen Reisepläne sich nicht in stets derselben Weise kurzfristig ändern dürften. cc) Frankreich Französische Gerichte dagegen scheinen Verfallsklauseln bisher für wirksam zu halten.364 So hatte die Cour d’Appel de Paris über die Klage von Air France gegen einen Passagier zu entscheiden, der verschiedene Tickets zwischen Paris und Mailand als Bestandteil von Umsteigeverbindungen erworben und hiervon offenbar jeweils nur die Elemente zwischen diesen beiden Städten abgeflogen hatte. Air France berechnete entsprechend seiner AGB nach und verlangte klageweise 18801 € Nachzahlung, die sich nach dem anwendbare Preis für die tatsächliche abgeflogene Strecke zum jeweiligen Reisedatum selbst richteten. Im Prozess wurde eine mögliche Missbräuchlichkeit der Klausel, die eine bestimmte Flugreihenfolge und das Abfliegen aller Segmente vorschreibt, im Sinne der französischen Umsetzungsbestimmung zu Art. 3 Klauselrichtlinie (Art. L. 132-1 Code de la consommation) aufgeworfen. Die Cour d’Appel stellt die Klausel nicht ausdrücklich in Frage, nimmt die Argumentation aber inhaltlich auf. Sie argumentiert, der Reisende habe absichtlich und wissentlich Flugscheine mit Umsteigeverbindungen erworben, deren endgültige Zielorte nicht seinen eigentlichen Reisezielen entsprachen, um in den Genuss eines günstigeren Flugpreises zu kommen. Die Gegenleistung für diese Vergünstigung sei es aber gewesen, alle Flugsegmente auch tatsächlich abzufliegen. Es sei auch gerechtfertigt, dass die Preise für kürzere Verbindungen höher liegen könnten als für längere. Der Preis berechne sich nämlich nicht nur aus der Flugstrecke, sondern auch aus „technischen Kriterien“, wie etwa Steuern. Dies mag im Einzelfall zutreffen, wird aber bei Strecken mit mehreren Segmenten in der Regel nicht das entCour d’Appel de Paris, Pôle 05 Chambre 11, 10.12.2010, N° 08/14529. Vgl. außerdem Cour d’Appel d’Aix-en-Provence, Chambre 2, 20.11.2008, N° 2008/418. Dem Reisenden wurde hier zusätzlich von der Fluggesellschaft vorgeworfen, dass er sich eine Verschiebung der Termine durch die nicht autorisierte Aufbringung bestimmter Aufkleber auf seine Tickets erschlichen habe. Grundlage für die Nachberechnung des Tarifs durch die Air France war aber ausdrücklich auch die Vertragsklausel, wonach die Tickets in der Reihenfolge der Coupons abzufliegen sind. Die Wirksamkeit dieser Klausel wurde weder von den Parteien, noch von der Cour d’Appel in Frage gestellt. 364
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scheidende Argument für Preisunterschiede sein – mit der Zahl der Segmente werden die bei der Fluggesellschaft entstehenden Kosten und auch die Steuern und Gebühren regelmäßig steigen. Mit der eigentlichen Frage danach, ob Luftfahrtunternehmen mit solchen AGB ihr Tarifmodell schützen dürfen, mit dem sie auf den höheren Wettbewerbsdruck auf Umsteigeverbindungen, auf denen Konkurrenzairlines ggf. Direktverbindungen anbieten, reagieren, setzt sich die Cour d’Appel leider nicht auseinander. Festzuhalten bleibt jedenfalls, dass nach derzeitigem Stand Segments-, Verfalls- und Nachberechnungsklauseln in Frankreich vollumfänglich für wirksam gehalten werden. Dabei ist insbesondere darauf hinzuweisen, dass die Nachberechnung nach dem am Flugtag selbst anwendbaren Tarif, die hier zu einer enorm hohen Nachforderung geführt hatte, ebenfalls für wirksam gehalten wurde. Allerdings handelt es sich offenkundig um eine Entscheidung, die sich mehr am Verhalten des Passagiers im vorliegenden Einzelfall als an der Frage der Wirksamkeit der Verfallsklausel als solche orientiert. dd) Spanien Spanische Gerichte haben Verfallsklauseln im Fall des Nichtantritts des Hinfluges bei einem Ticket mit Hin- und Rückflug (no-show) wiederholt als missbräuchlich und damit unwirksam beurteilt. Das Juzgado de lo Mercantil (Handelsgericht) Palma de Mallorca betont dabei, dass die Pflichten des Passagiers sich darauf beschränkten, den geschuldeten Flugpreis zu zahlen und er frei darin sei, gebuchte Segmente zu nutzen oder eben auch nicht.365 Das Juzgado de lo Mercantil de Bilbao hält die Klauseln deshalb für missbräuchlich, weil die Fluglinien damit versuchten, den Passagier zu Hin- und Rückflug mit demselben Unternehmen zu bewegen und dadurch ihren Gewinn zu steigern.366 Dies vermag angesichts dessen, dass in den fraglichen Fällen ja Hin- und Rückflug günstiger angeboten werden, als die einfache Strecke, allerdings nicht recht zu überzeugen. Die Audiencia Provincial (Landgericht) Madrid hatte eine Sache zu entscheiden, in der dem Nichtantritt eines Segments eine Überbuchung und damit ohnehin eine Pflichtverletzung seitens der Fluggesellschaft zugrunde lag. Die nichtsdestotrotz erfolgte Annullierung des Rückfluges bezeichnet das Gericht als „ohne jede vertragliche Grundlage“ und „zutiefst unfair“.367
365 Siehe Juzgado de lo Mercantil n°2 de Palma de Mallorca, 22.3.2010 (00071/2010); zitiert nach Lyczkowska, Revista jurídica de Castilla-La Mancha 2010, 69, 92 ff. 366 Juzgado de lo Mercantil de Bilbao, 3.7.2009 (AC 2009/1802); zitiert nach Lyczkowska, Revista jurídica de Castilla-La Mancha 2010, 69, 92 ff. 367 SAP Madrid, 27.11.2009 (JUR 2010/70248); zitiert nach Lyczkowska, Revista jurídica de Castilla-La Mancha 2010, 69, 92 ff.
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c) Unionsautonome Lösungsansätze zu Verfalls- und Nachberechnungsklauseln Damit ist festzustellen, dass die Frage der Wirksamkeit von Verfallsklauseln bei Nichtantritt einzelner Segmente eines Flugtickets von den mitgliedstaatlichen Gerichten sehr unterschiedlich bewertet wird. Dies lässt sich nicht etwa auf wesentliche Unterschiede des dispositiven Rechts zurückführen, sondern schlicht darauf, dass die Gerichte unterschiedlicher Mitgliedstaaten die jeweiligen Interessenlagen unterschiedlich bewerten. In letzter Konsequenz kann dies z. B. bedeuten, dass von zwei Passagieren, die bei derselben Fluggesellschaft für dieselbe Verbindung das exakt selbe Ticket buchen, bei Nichtantritt des Hinfluges einer der beiden Passagiere das Recht zur Beförderung auf dem Rückflug verliert und der andere Passagier nicht, wobei dies aus dem einzigen Grund geschieht, dass sie ihren Wohnsitz in unterschiedlichen Mitgliedstaaten haben.368 Es wäre wünschenswert, wenn die Frage der Missbräuchlichkeit der Verfalls- und Nachberechnungsklauseln dem Europäischen Gerichtshof zur Vorabentscheidung vorgelegt würde. Neben der hohen Binnenmarktrelevanz liegt hier nämlich auch ein Fall vor, in dem es naheliegend erscheint, dass der Gerichtshof unionsautonome Konkretisierungselemente für die Generalklausel der RL 93/13 in Bezug auf solche Klauseln findet. Diese könnten sich sowohl aus der Fluggastrechteverordnung369 wie aus der Pauschalreiserichtlinie370 ergeben. So sieht Art. 4 Abs. 3 i. V. m. Art. 7 der Fluggastrechteverordnung die Zahlung von Ausgleichsleistungen vor, sofern „Fluggästen gegen ihren Willen die Beförderung verweigert“ wird. Dieser Rechtsgedanke könnte einerseits durchaus für die Auslegung der Klauselrichtlinie fruchtbar gemacht werden. Andersherum wäre es auch denkbar, zusätzlich eine Vorlagefrage unmittelbar zur Auslegung der Flugastrechteverordnung dahingehend zu stellen, ob auch etwa die Streichung eines Rückfluges nach freiwilligem Nichtantritt des Hinfluges durch den Fluggast unter Art. 4 Abs. 3 fällt. Mittlerweile scheint sich im Übrigen der europäische Gesetzgeber der Frage teilweise annehmen zu wollen. So enthält der Kommissionsvorschlag für 368 Vgl. hierzu etwa die AGB der Lufthansa (Stand Juli 2013) unter , zuletzt abgerufen am 7.1.2014, die ihre Nachberechnungsklausel – wohl wegen der oben dargestellten, strengeren Rechtsprechung des OGH, die sich aus Sicht der Fluggesellschaft offenbar praktisch nicht umsetzen lässt – unter folgenden Vorbehalt stellen: „Dieser Artikel 3.3.3 gilt nicht für Beförderungen von Verbrauchern mit Wohnsitz in Österreich“. 369 Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91, ABl. 2004 L 46/1. 370 Richtlinie 90/314/EWG des Rates vom 13. Juni 1990 über Pauschalreisen, ABl. 1990 L 158/59.
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eine Reform der Fluggastrechteverordnung371 eine Regelung, die Art. 4 der Verordnung, der Ausgleichsleistungen im Fall der Nichtbeförderung von Fluggästen gegen ihren Willen anordnet, um folgenden Absatz erweitert: „Die Absätze 1, 2 und 3 gelten auch für Rückflugscheine, wenn einem Fluggast auf dem Rückflug die Beförderung verweigert wird, weil er/sie den Hinflug nicht angetreten oder dafür keine zusätzliche Gebühr entrichtet hat.“
Sie verbieten also Verfallsklauseln bei Hin- und Rückflugtickets. Nicht vom Wortlaut umfasst sind dagegen Verfallsklauseln innerhalb der einzelnen Segmente von Umsteigeflügen. Klar dürfte damit sein, dass dann auch eine Nachberechnung wegen Nichtantritt des Hin- oder Rückflugs nicht erfolgen darf. Dies widerspräche dem Gedanken der neuen Vorschrift und würde daher eine – unionsautonom und einheitlich zu beurteilende – missbräuchliche Klausel im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Klauselrichtlinie darstellen.372 Bei Umsteigeflügen soll dagegen den Fluggesellschaften die Möglichkeit gegeben werden, diese günstiger anzubieten als Direktflüge, was wiederum einen effektiven Schutz dieses Tarifsystems voraussetzt. 7. Ergebnisse Der EuGH hat die in der Rs. Freiburger Kommunalbauten selbstgeweckte Erwartung, die „zur Definition des Begriffs der missbräuchlichen Klausel verwendeten allgemeinen Kriterien“ auszulegen, lange Zeit in keiner Weise erfüllt. Mittlerweile hat aber eine Entwicklung eingesetzt, in der der Gerichthof den nationalen Gerichten zunehmend – und dies durchaus auch einzelfallbezogen – Konkretisierungselemente an die Hand gibt.373 Dies führt dazu, dass sich mittlerweile durchaus ein unionsautonomer Standard bei der Klauselkontrolle herausgebildet hat. Allerdings handelt es sich hierbei nur um einen Mindeststandard. Dies entspricht zwar dem Konzept der Klauselrichtlinie als mindestharmonisierendem Rechtsakt nach ihrem
Europäische Kommission, Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und der Verordnung (EG) Nr. 2027/97 über die Haftung von Luftfahrtunternehmen bei der Beförderung von Fluggästen und deren Gepäck im Luftverkehr, Brüssel, den 13.3.2013, COM (2013) 130 final. 372 Sofern man das Verbot nicht unmittelbar dem Wortlaut der Fluggastrechteverordnung als zwingendes Recht entnehmen möchte, was ebenfalls denkbar erscheint. 373 A. A. Mittwoch, Vollharmonisierung und Europäisches Privatrecht – Methode, Implikationen und Durchführung, S. 244, die davon ausgeht, der EuGH habe die Konkretisierungsbefugnis auch in seiner neueren Rechtsprechung endgültig bei den Mitgliedstaaten angesiedelt. 371
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Art. 8. Der vom Gerichtshof vorgegebene Mindeststandard ist aber noch sehr lückenhaft und bedarf dringend des weiteren Ausbaus. Hinzu tritt das sehr strikte prozessuale Schutzkonzept, das der Gerichtshof von Anfang an betont und ohne große Rücksicht auf Besonderheiten des nationalen Zivilverfahrens- bzw. Zwangsvollstreckungsrechts weiterentwickelt hat. a) Konkretisierungskompetenz Die Generalklausel der Richtlinie 93/13 operiert in einem Umfeld, das zwei Besonderheiten aufweist. Die erste Besonderheit besteht in der Unbestimmtheit der die Generalklausel definierenden Begriffe, die ein ungerechtfertigtes Missverhältnis und einen Verstoß gegen Treu und Glauben erfordern. Die zweite Besonderheit liegt in der Natur von allgemeinen Geschäftsbedingungen, die als „Gesetz der Parteien“ – das zudem nicht in jedem Einzelfall neu verhandelt wird – Gesetzesrecht in der Formulierung sehr ähnlich und gut verallgemeinerbar sind. Die vom Europäischen Gerichtshof zur Rechtfertigung der eigenen Zurückhaltung ins Feld geführte Unterscheidung zwischen Auslegung und Anwendung des Unionsrechts markiert nach Art. 267 AEUV die Grenze zwischen der Kompetenz des EuGH und derjenigen der nationalen Gerichte; sie gilt – selbstverständlich – auch für die Klauselrichtlinie. Von einer Partei gestellte, vorformulierte Vertragsbedingungen sind demnach keine Rechtsakte, die unter Art. 267 Abs. 1 lit. b) fallen und damit unmittelbar der Zuständigkeit des EuGH unterfallen würden. Es handelt sich vielmehr um Tatsachen, deren Feststellung und Würdigung eine vom Tatrichter zu beurteilende Frage des Einzelfalles ist. Andererseits sind die in der Klauselrichtlinie enthaltenen rechtlichen Regeln – ebenso selbstverständlich – der Auslegungszuständigkeit des Gerichtshofs in vollem Umfang unterworfen; eine etwaige Relativierung dieser Zuständigkeit bei der Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe kennt das europäische Recht nicht, und eine Unterscheidung zwischen abschließend auslegungsfähigen Rechtsbegriffen einerseits und solchen, die als unbestimmte Rechtsbegriffe oder Generalklauseln nicht ausgelegt, sondern nur vom Tatrichter im Einzelfall „konkretisiert“ werden, erscheint weder sinnvoll noch trennscharf möglich. 374 Vielmehr hat der EuGH in anderen Bereichen gerade auch unbestimmte Begriffe umfassend ausgelegt.375 374 A. A. Roth, Wulf-Henning, ERCL 2011, 425, 437. Roth, der die Herangehensweise des Gerichtshofs an die Missbrauchsklausel der RL 93/13 begrüßt, möchte eine Unterscheidung machen zwischen solchen Richtlinienbestimmungen, die den Gerichtshof zu einer umfassenden Konkretisierung ermächtigen und solchen, die nur Rahmenbedingungen festlegen und die Konkretisierung im Einzelnen den mitgliedstaatlichen Gerichten überlassen. In welche Kategorie eine Vorschrift gehört, soll sich nach den Zielen der Richtlinie richten sowie danach, ob die Vorschrift nur ein erster Harmonisierungsschritt ist, auf den weitere
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Ein genauerer Blick auf die Natur von AGB zeigt, dass es sich zwar um Tatsachen handelt, die aber nicht einzelfallbezogen sind. Vielmehr wird eine bestimmte, streitige Klausel ja in aller Regel mit identischem oder sehr ähnlichem Wortlaut für eine Vielzahl von Verträgen und ggf. auch von einer Vielzahl von Unternehmen eingesetzt. AGB eignen sich daher im Ausgangspunkt eigentlich sogar besonders gut für eine einzelfallbezogene Auslegung der Richtlinienbestimmungen, weil die jeweiligen Klauseln bereits selbst einen mit Gesetzen vergleichbaren Abstraktionsgrad aufweisen und der EuGH daher mit Entscheidungen, die einen bestimmten Inhalt oder einen bestimmten Effekt von AGB für missbräuchlich erklären, einen großen Wirkungskreis abdecken könnte.376 Zu differenzieren ist nur gegenüber der ebenfalls vorgesehenen Berücksichtigung der Einzelfallumstände, die aber praktisch kaum eine Rolle spielt und möglicherweise auch ein Relikt der im Gesetzgebungsverfahren zwischenzeitlich ebenfalls vorgesehenen Kontrolle von Individualvereinbarungen darstellt. Hier ist auch abermals daran zu erinnern, dass die Vollendung des Binnenmarktes zu den Richtlinienzielen gehört,377 so dass schon der Harmonisierungszweck entscheidend für eine unionsautonome Konkretisierung spricht.378 Auf diesem Weg ist die Ermöglichung einer Nutzung einheitlicher allgemeiner Geschäftsbedingungen, die vom anwendbaren Vertragsrecht jedenfalls weitestmöglich unabhängig sind, ein wichtiger Schritt. Es ist in gewisser folgen, die im Wege der Auslegung der Vorschrift vorwegzunehmen nicht die Rolle des EuGH sein könne. Eine Rolle spiele auch die jeweilige Rechtsgrundlage, so dass danach unterschieden werden solle, ob eine umfängliche Konkretisierung durch den Gerichtshof vom Ziel der jeweiligen Rechtsgrundlage gedeckt ist. Auch die Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit seien bei der Beantwortung der Frage, inwieweit ein bestimmtes rechtliches Konzept unionsautonom zu konkretisieren sei, zu berücksichtigen. 375 Man betrachte nur etwa die Rechtsprechung zu den Grundfreiheiten und zu den Unionsgrundrechten, die – ebenfalls im Ausgangspunkt sehr unbestimmt formuliert – vom Gerichtshof sehr detailliert und mit weitreichenden Folgen ausgelegt worden sind. 376 Vgl. Nasall, WM 1994, 1645, 1650. Siehe auch Fornasier, Freier Markt und zwingendes Vertragsrecht, S. 14 f., der die Funktion von AGB als ein von einer Vertragspartei zur Verfügung gestelltes Vertragsrecht bezeichnet, das über das für viele Geschäftstypen nicht hinreichend konkrete dispositive Gesetzesrecht in der Detailtiefe hinausgehe. Ebenso European Commission, The ‘Unfair Terms’ Directive, Five Years On, Evaluation and future perspectives, Brussels Conference, 1.–3.7.1999, S. 133. Auch der deutsche Bundesgerichtshof benutzt in seinen auf eine Rechtskontrolle beschränkten Entscheidungen die Formulierung, dass eine bestimmte Klausel unwirksam „ist“, siehe bspw. BGH, Urteil vom 7. März 2013 – Az. VII ZR 162/12 (bei juris). 377 Vgl. Erwägungsgründe 6 und 7 der RL 93/13. 378 Allgemein für Treu und Glauben als Generalklausel im Richtlinienrecht Riesenhuber, Europäisches Vertragsrecht, S. 234; Basedow, Nationale Justiz und Europäisches Privatrecht – Eine Vernetzungsaufgabe, S. 10 f., weist darauf hin, dass die Richtlinie ohne eine einheitliche Auslegung ihrer Generalklausel eigentlich insgesamt funktionslos und damit entbehrlich wäre.
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Weise schizophren, wenn der Gerichtshof einerseits so großen Wert auf die Prüfung der Missbräuchlichkeit auch unter Umständen legt, die das nationale Verfahrensrecht vor große Schwierigkeiten stellen und in denen es dem Verbraucher auch ohne amtswegige Prüfung nicht versagt bliebe, in einem späteren Verfahrensstadium ohne Schaden die Missbräuchlichkeit der Klausel geltend zu machen. Andererseits legt der Gerichtshof nämlich anscheinend ebenso großen Wert darauf, dass die zu prüfende Kernfrage, also die Herausbildung des Maßstabes für die Missbräuchlichkeit der jeweiligen Klausel, für ihn jedenfalls – lange Zeit und zu großen Teilen – eine Art black box bleibt, in die er nicht hineinsehen kann oder will. Warum sollte das Stattfinden einer Klauselkontrolle auch in hierfür schlecht geeigneten Verfahrensarten zwingend geboten sein, wenn der inhaltliche Maßstab und das Ergebnis einer solchen Klauselkontrolle unvereinheitlicht bleiben, sprich ein und dieselbe Klausel nach einigen mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen wirksam, nach anderen aber unwirksam sein kann? Die Tendenz zur Prozessualisierung der Klauselkontrolle mit einer starken Betonung amtswegiger Prüfpflichten ergibt vielmehr nur dann einen Sinn, wenn die Harmonisierung des inhaltlichen Kontrollmaßstabes hiermit Schritt hält, wofür der Gerichtshof in seiner jüngeren Rechtsprechung ja auch bereits den Grundstein gelegt hat. Dementsprechend ist die Generalklausel soweit als möglich unionsautonom zu konkretisieren;379 es ist die Aufgabe des EuGH im Zusammenhang mit einer mindestharmonisierenden Richtlinie, diese insoweit auszulegen, wie sie einen verbindlichen Mindestgehalt für die Mitgliedstaaten enthält. Er muss also einen Maßstab der Missbrauchskontrolle entwickeln, den die nationalen Gerichte mindestens anzulegen haben.380 Die Entwicklung eines solchen Maßstabs wäre dem EuGH möglich gewesen, ohne die Missbräuchlichkeit einer Klausel im Einzelfall abschließend beurteilen zu müssen.381 Zutreffenderweise ist daher wie folgt zu unterscheiden: Der EuGH bestimmt letztverbindlich darüber, welchen Klauselinhalt die Generalklausel verbietet. Das nationale Gericht hat dann als Tatfrage zu beurteilen, ob die ihm vorliegende Klausel so zu verstehen ist, dass sie tatsächlich einen solchen verbotenen Inhalt hat oder eben nicht. Der Gerichtshof hat also darüber zu entscheiden, welchen Gehalt und welche Auswirkungen Klauseln (nicht) haben dürfen. Nur das Verständnis der Formulierung von Klauseln im Einzelfall ist dann „An-
379 Vgl. Röthel, Konkretisierung von Generalklauseln, in: Riesenhuber, Europäische Methodenlehre, S. 368, die sogar fordert, die Konkretisierung habe „ausschließlich mit Blick auf genuin gemeinschaftsrechtliche Wertvorstellungen zu erfolgen“, wobei die „Entwicklung eines eigenständigen gemeinschaftsrechtlichen Begriffs von Treu und Glauben […] an ihren Anfängen“ stehe. 380 Pavillon, ERPL 2007, 737, 747. 381 Nebbia, Unfair contract terms in European Law, S. 170.
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wendung“ des Unionsrechts.382 AGB-Kontrolle ist vielleicht nicht aus dogmatischer Sicht, aber doch de facto Rechtskontrolle383 und keine reine Tat- bzw. Einzelfallfrage. Außerdem ist die Auslegung einer Generalklausel zwar einerseits, wie dargestellt, teils schwierig von der Gesetzesanwendung abzugrenzen. wAndererseits liegt sie aber auch auf der Grenze zur Gesetzesergänzung,384 was die Kontrolle durch höchste Gerichte umso erforderlicher macht. Bestätigt wird dieses Ergebnis dadurch, dass es auch dem mitgliedstaatlichen Gesetzgeber nur gestattet sein soll, die Generalklausel insoweit zu konkretisieren, wie sich hieraus keine Einschränkungen ergeben, also gewissermaßen nur mit nicht abschließenden Positivbeispielen. Ein solches Verbot der einschränkenden Konkretisierung kann man der Rs. Kommission ./. Spanien385 entnehmen. Der EuGH hat dort Art. 6 Abs. 2 der Klauselrichtlinie ausgelegt, wonach sichergestellt sein muss, dass dem Verbraucher der durch die Klauselrichtlinie gewährte Schutz auch bei der Wahl drittstaatlichen Rechts zugute kommt, sofern „der Vertrag einen engen Zusammenhang mit dem Gebiet der Mitgliedstaaten aufweist.“ Diese Bestimmung hatte der spanische Gesetzgeber u. a. dahingehend konkretisiert, dass die Vorschriften zur Klauselkontrolle dann anwendbar seien, wenn „der Vertragspartner seine Willenserklärung im spanischen Gebiet abgegeben und er dort seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat“. Hierin sieht der Gerichthof eine unzulässige Verengung – der Begriff des engen Zusammenhangs dürfe zwar „unter Umständen durch Vermutungen konkretisiert werden“, er dürfe dadurch jedoch keine Einschränkung erfahren.386 Geht man davon aus, dass dieses Verbot für die ganze Richtlinie und damit auch für die Generalklausel des Art. 3 Abs. 1 Klauselrichtlinie gilt, so ergibt es keinen Sinn, wenn andererseits die mitgliedstaatli-
So auch Pfeiffer, in: Grabitz / Hilf, Recht der EU, 40. A. 2009, Art. 3 Mißbrauchskontrolle Rn. 46: „Verstößt eine Klausel bestimmten Inhalts nach Ansicht des EuGH gegen Prinzipien gemeineuropäischer Vertragsgerechtigkeit, so ist es Sache der nationalen Gerichte, im Einzelfall festzustellen, ob es sich bei einer konkret streitigen Klausel um eine Klausel solchen Inhalts handelt.“ Hiervon geht wie selbstverständlich auch Dutta, ZZP 2013, 153, 169 aus, wenn er ausführt, die Verpflichtung zur amtswegigen Klauselkontrolle scheine sich „im iura-novit-curia-Grundsatz zu erschöpfen“. 383 Nasall, WM 1994, 1645, 1650; Drexl, Die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers, S. 342 f. m. w. N. (für das deutsche AGB-Recht). 384 Metzger, Extra legem, intra ius: Allgemeine Rechtsgrundsätze im Europäischen Privatrecht, S. 182. 385 EuGH, 9.9.2004, Rs. C-70/03 Kommission der Europäischen Gemeinschaften ./. Königreich Spanien, Slg. 2004 I-07999. 386 In diesem Sinne Grundmann, in: Grundmann / Mazeaud, General clauses and standards in European contract law, S. 156 f. Allerdings legt Grundmann nicht offen, dass es hier nicht um die Generalklausel des Art. 3 Abs. 1, sondern um den unbestimmten Rechtsbegriff des „engen Zusammenhangs“ ging. Letzterer ist sicher auch auslegungsbedürftig, aber vielleicht nicht ganz so offen wie die Generalklausel der Klauselkontrolle selbst. 382
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chen Gerichte entsprechende Klauseln und damit Klauseltypen für zulässig erklären, ohne die Frage dem Europäischen Gerichtshof vorzulegen. b) Unionsautonomer Standard Wichtigste Quelle für die Herausbildung eines unionsautonomen Standards der Klauselkontrolle ist der Acquis Communautaire.387 Zwar trifft der Einwand zu, dass bei unmittelbarer Abweichung vom europäischen Verbraucherrecht eine Klauselkontrolle als solche in der Regel entbehrlich ist, weil das Unionsprivatrecht weitgehend zwingend ausgestaltet und die Abweichung ohnehin unwirksam ist; damit scheidet im Umkehrschluss das vorhandene Sekundärrecht als unmittelbarer Bezugspunkt für die Klauselkontrolle aus.388 Der Acquis enthält jedoch in einer Vielzahl von Rechtsakten Grundgedanken und Wertentscheidungen, die auch außerhalb ihres Anwendungsbereichs zutreffen und daher für die Klauselkontrolle fruchtbar gemacht werden können.389 Daneben kann insbesondere auf einen gemeineuropäischen Standard zurückgegriffen werden, der sich auf alle oder eine Vielzahl der nationalen Rechtsordnungen stützen kann. Viele solche Grundwertungen, wie sie natürlich auch in weitgehend nicht harmonisierten Bereichen – etwa beim Vertragsschluss oder bei der Verknüpfung von Leistung und Gegenleistung – vorhanden sind, dürften praktisch in allen mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen in ähnlicher Weise zu finden sein. aa) Missbräuchlichkeit ohne Vergleichsmaßstab bei einseitiger Belastung des Verbrauchers? Neben der Suche nach dem Vergleichsmaßstab aus dem positiven Recht ist zunächst zu überlegen, ob nicht solche Klauseln, die einseitig nur den Verbraucher belasten, auch ohne einen Vergleich mit dem dispositiven Recht als missbräuchlich angesehen werden könnten.390 Ohnehin haben ja in vielen Fällen weder der EuGH, noch das nationale Gericht einen solchen Maßstab zur Verfügung, so dass eine Bestimmung des „Abweichungsgrades“ ohnehin nicht möglich ist. Da ein solcher Abweichungsgrad – anders als die Frage, ob eine Abweichung überhaupt vorliegt – zudem schwierig zu bemessen ist, liegt es doch Schmidt, Martin, Konkretisierung von Generalklauseln im europäischen Privatrecht, S. 265. 388 Vgl. Grundmann, Europäisches Schuldvertragsrecht, S. 253, der darauf hinweist, dass die bei nicht zwingenden Vorschriften immer noch bestehende Möglichkeit der AGBKontrolle beim Erlass der sonstigen Rechtsakte wohl „nicht mitbedacht worden“ sei. 389 Siehe nur das Beispiel zur Beurteilung von Verfallsklauseln in Allgemeinen Beförderungsbedingungen von Fluggesellschaften anhand von Maßstäben aus der Fluggastrechteverordnung oben S. 164 ff. 390 In diesem Sinne etwa Mittwoch, Vollharmonisierung und Europäisches Privatrecht – Methode, Implikationen und Durchführung, S. 253. 387
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nahe, eine Missbräuchlichkeit der Klausel immer dann anzunehmen, wenn diese eine für den Verbraucher nachteilige Regelung enthält, dieser Nachteil von einer gewissen Schwere ist und die Regelung nicht durch andere Regelungen ausgeglichen wird oder anderweitig, etwa durch Effizienzgewinne, gerechtfertigt ist. Von der andernfalls geltenden Rechtslage abweichende Regelungen wären dann – genauso wie etwa schon formal asymmetrische Klauseln – ein Indiz für eine nachteilige Regelung. Gerade dort, wo es keinen einheitlichen Vergleichsmaßstab gibt, kann der Harmonisierungserfolg der Richtlinie nur erreicht werden, wenn der EuGH selbst einen solchen Maßstab entwickelt.391 bb) Vergleichsmaßstab aus dem Acquis Allgemeinen Grundsätzen mit sehr hohem Abstraktionsgrad wird sich in der Regel für die Missbräuchlichkeitsbeurteilung von Klauseln nicht viel entnehmen lassen.392 Hierunter fallen Grundsätze wie Privatautonomie bzw. Vertragsfreiheit393 oder das Ziel des Verbraucherschutzes. Ausstrahlungswirkungen des Primärrechts, insbesondere der Grundfreiheiten und der Unionsgrundrechte, dürfte es zwar geben, jedoch sind die praktisch bedeutsamen Konstellationen, die tatsächlich grundfreiheitenrelevant sind, rar.394 Allerdings hat der EuGH in der Rs. Sky Austria gezeigt, dass er nicht nur bestimmte privatrechtliche Gestaltungen etwa auf Basis der Unionsgrundrechte strikt untersagt, sondern auch in der Lage ist, beispielsweise zwischen der Vertragsfreiheit und den Grundfreiheiten eine Abwägung vorzunehmen.395 Hinzuweisen ist auch darauf, dass Generalanwalt Bot bei der Frage der Zulässigkeit der Erhebung von Gebühren auf Handgepäck durch Fluggesellschaften damit argumentiert hat, die Möglichkeit zur Mitnahme persönlicher Gegenstände unter eigener Aufsicht gehöre „zur Würde des Menschen“.396 Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht. S. 363 f., weist darauf hin, dass Konkretisierung nicht immer auf vorhandene Maßstäbe angewiesen sei, sondern ja gerade die Befugnis zum rechtsschöpferischen Tätigwerden enthalte. Daher sei die Konkretisierungskompetenz des EuGH nicht mit dem Einwand zu verneinen, es sei kein Konkretisierungsmaßstab vorhanden. Vielmehr sei der EuGH gerade dann zur einheitlich-autonomen Konkretisierung berufen. 392 Schmidt, Martin, Konkretisierung von Generalklauseln im europäischen Privatrecht, S. 265 f. 393 Zur Notwendigkeit, im Rahmen der Kontrolle missbräuchlicher Klauseln ein Gleichgewicht zwischen Verbraucherschutz und Vertragsfreiheit zu finden siehe auch die Schlussanträge des Generalanwalts Nils Wahl vom 12.2.2014, Rs. C-26/13 Árpád Kásler und Hajnalka Káslerné Rábai ./. OTP Jelzálogbank Zrt, ECLI:EU:C:2014:85, Rn. 3. 394 Vgl. Schillig, Konkretisierungskompetenz und Konkretisierungsmethoden im Europäischen Privatrecht, S. 304 ff. 395 EuGH, 22.1.2013, Rs. C-283/11 Sky Österreich GmbH ./. Österreichischer Rundfunk, ECLI:EU:C:2013:28, Rn. 59 ff. 396 Schlussanträge des Generalanwalts Yves Bot vom 23.1.2014, Rs. C-487/12 Vueling Airlines SA ./. Instituto Galego de Consumo de la Xunta de Galicia, ECLI:EU:C:2014:27, 391
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Aus dem Sekundärrecht lassen sich hingegen in vielerlei Weise Wertungen entnehmen,397 die hier nicht abschließend aufgeführt werden können, weil dies den Gegenstand eigener, umfangreicher Untersuchungen bilden würde. Hier könnte und sollte der Gerichtshof einen „Rechtsfundus“ aus „Wertmaßstäbe[n] des positiven Gemeinschaftsrechts“ bilden,398 dessen möglicher Inhalt hier nur beispielhaft angedeutet werden kann. Die Generalklausel mit dem Gebot von Treu und Glauben muss dabei als Einfallstor für Wertungen aus anderen Rechtsakten fungieren.399 Im Bereich des Sekundärrechts ist es dabei grundsätzlich vorzugswürdig, wenn der Gerichtshof dieses unmittelbar in den Blick nimmt und darlegt, wie er sein Verständnis eines bestimmten Rechtsaktes entwickelt und welche Wertungen er diesem Rechtsakt entnimmt. Akademische Regelwerke, die sich der systematischen Aufarbeitung des Acquis verschrieben haben, sollten nur hilfsweise herangezogen werden. Diese sind nicht von einer gesetzgeberischen Entscheidung getragen und stellen in gewisser Weise eine Privatmeinung dar. Der Anhang der Klauselrichtlinie dagegen erscheint durchaus verallgemeinerbar. Zunächst ist der Anhang natürlich direkt heranzuziehen, wenn seine Bestimmungen auf den jeweiligen Fall passen. Der Europäische Gerichtshof hat in einigen jüngeren Verfahren gezeigt, dass dies ein sehr gangbarer Weg zur Herstellung eines autonomen Maßstabs der Klauselkontrolle sein kann. Darüber hinaus lassen sich den Bestimmungen des Anhangs aber allgemeine Wertentscheidungen entnehmen, die auch dort zur Auslegung der Generalklausel herangezogen werden können, wo der Tatbestand keines der Beispiele des Anhangs unmittelbar erfüllt. Zu solchen Gedanken gehören vor allem der Grundsatz pacta sunt servanda und daraus folgend z. B. eine notwendige Symmetrie vertraglicher Rechte400: Wenn der Unternehmer sich ein bestimmtes Recht einräumt, so ist ein solches Recht grundsätzlich spiegelbildlich auch dem Verbraucher einzuräumen. Zudem lässt sich der Anhang auch in Verbindung mit anderen Bestimmungen aus dem Acquis verallgemeinern.401 Rn. 55. Das Verfahren betraf die Vereinbarkeit einer spanischen Regelung, wonach die Erhebung bestimmter Gebühren für Gepäck durch Fluggesellschaften untersagt ist, mit der Verordnung (EG) Nr. 1008/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. September 2008 über gemeinsame Vorschriften für die Durchführung von Luftverkehrsdiensten in der Gemeinschaft, ABl. 2008 L 293/3. 397 Siehe zu solchen Anhaltspunkten im vorhandenen Unionsrecht etwa Wurmnest, in: MüKo BGB, § 307 Rn. 26, der ausführt, diese gebe es „häufiger, als dies im Allgemeinen angenommen wird“. 398 Nassall, JZ 1995, 689, 692. 399 Grundmann, in: Grundmann / Mazeaud, General clauses and standards in European contract law, S. 144. 400 Vgl. Schmidt, Martin, Konkretisierung von Generalklauseln im europäischen Privatrecht, S. 277 ff. spricht von „formaler Rechtsgleichheit“. 401 Nasall, JZ 1995, 692 ff. findet die Fallgruppen Transparenzgebot, Stabilität des Preis- Leistungsverhältnisses, Einstandspflicht für die Verwirklichung des Vertragszwecks,
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Für die weitere Entwicklung sehr interessant wird auch das CESL sein, das eine eigene Klauselkontrolle enthält, darüber hinaus im Fall seines tatsächlichen Erlasses durch den europäischen Gesetzgeber aber eben auch von dessen Willen getragenes, allgemeines Schuldrecht enthält. Hierauf für die Zwecke der Auslegung der RL 93/13 zurückzugreifen, wird sich dem EuGH geradezu aufdrängen.402 cc) Vergleichsmaßstab aus den nationalen Rechtsordnungen Auch aus wertender Rechtsvergleichung lässt sich unter Umständen ein gemeinsamer Maßstab oder ein „kleinster gemeinsamer Nenner“ für die Klauselkontrolle ableiten.403 Dabei ist die Bedeutung gemeinsamer oder vergleichbarer Regeln des nationalen Privatrechts für das Unionsprivatrecht erläuterungsbedürftig.404 Ein unmittelbarer Rechtsquellencharakter kommt ihnen nicht zu. Allerdings hat der EuGH in anderem Zusammenhang bei der Auslegung des Begriffs „Ort, an dem das schädigende Ereignis eingetreten ist“ im Sinne von Art. 5 Nr. 3 des Brüsseler Übereinkommens sein Ergebnis mit einem Vergleich der im nationalen Recht der Vertragsstaaten gefundenen Lösungen wie folgt gestützt: „Sie [die gefundene Lösung] sucht die Vereinheitlichung in Übereinstimmung mit Artikel 5 Nr. 3 des Übereinkommens auf dem Wege einer ordnenden Zusammenfassung von in den meisten beteiligten Staaten bereits im Grundsatz anerkannten Lösungen zu erreichen.“405
Der Gerichtshof ist also für vergleichende Lösungen aus dem Recht der Mitgliedstaaten grundsätzlich auch dann offen, wenn ihm dies nicht wie im Fall der außervertraglichen Haftung der Union ohnehin ausdrücklich vorgegeben Effizienz der Rechtsdurchsetzung und Möglichkeit der Loslösung vom Vertrag in verschiedenen Bestimmungen des Acquis wiedergespiegelt. 402 Vgl. bereits jetzt die Verwendung des DCFR durch Generalanwälte – bspw. die Schlussanträge der Generalanwältin Verica Trstenjak vom 6.7.2010, Rs. C-137/08 VB Pénzügyi Lízing Zrt. ./. Ferenc Schneider, Slg. 2010 I-10847, dort Fn. 45 – obwohl dieser ja keine verbindliche, gesetzgeberische Entscheidung darstellt. Kritisch dazu Eidenmüller / Jansen / Kieninger / Wagner / Zimmermann, JZ 2012, 269, 288 mit Blick auf das CESL. Für eine Berücksichtigung des CESL als unionsautonomem Maßstab bei der Klauselkontrolle aber Riesenhuber, EU-Vertragsrecht, S. 172 f. 403 Zum Einsatz der Rechtsvergleichung bei der Auslegung des Unionsprivatrechts siehe etwa Schwartze, in: Riesenhuber Europäische Methodenlehre, S. 124 ff., Rn. 25: „Damit bleibt […] die Nutzung der Rechtsvergleichung durch den EuGH, um im Rahmen der gemeinschaftsautonomen Auslegung Erkenntnisse über mögliche Interpretationsvarianten des Europäischen Privatrechts zu gewinnen.“ 404 Vgl. Canaris, in: Basedow, Europäische Vertragsrechtsvereinheitlichung, S. 5, 8 ff., 13; Grundmann, in: Großfeld / Sack u. a., Festschrift für Wolfgang Fikentscher zum 70. Geburtstag, S. 671, 683 ff. 405 EuGH, 30.11.1976, Rs. 21/76 Handelskwekerij G. J. Bier BV ./. Mines de potasse d’Alsace SA, Slg. 1976, S. 01735, Rn. 23.
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ist.406 Zudem reicht es offenbar aus, wenn nicht alle Mitgliedstaaten diese Lösung so teilen und in der Mehrheit der Mitgliedstaaten die Lösung auch nur „im Grundsatz“ anerkannt ist.407 Es muss also keineswegs eine klar identische Rechtslage in allen Mitgliedstaaten gegeben sein. Dies erscheint auf die Klauselrichtlinie übertragbar und kann sich dort auch als dynamischer Prozess darstellen, indem die Rechtsprechung sich auf nationaler Ebene zur Frage der Missbrauchskontrolle nach eben dieser Richtlinie im Laufe der Zeit einheitlich entwickelt, woraufhin der EuGH sie gewissermaßen auf die Ebene des Unionsrechts erheben und damit für allgemeinverbindlich erklären könnte.408 Weiterhin wird es in vielen Bereichen zwischen den nationalen Rechtsordnungen Einigkeit geben, weil es zu bestimmten Fragen entweder sehr ähnliche Bestimmungen gibt oder aber einfach gar keine. Entsprechend werden dann auch die Beurteilungen von Abweichungen bzw. Bestimmungen in AGB übereinstimmen.409 Allerdings ist darauf zu achten, dass wirklich auf gemeinsame Vorstellungen der nationalen Rechtsordnungen abgestellt wird 406 Art. 340 Abs. 2 AEUV ordnet die Geltung der „allgemeinen Rechtsgrundsätze[n], die den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsam sind“ unmittelbar nur für den Bereich der außervertraglichen Haftung der Union für durch ihre Organe oder Bedienstete verursachte Schäden an. Dies hat den Europäischen Gerichtshof aber nie daran gehindert, in allen Bereichen des Unionsrechts auf die allgemeinen Rechtsgrundsätze zurückzugreifen, siehe Basedow, Legal Studies 18 (1998), 121, 135. 407 Für eine Berücksichtigung von aus Rechtsvergleichung gewonnenen allgemeinen Rechtsgrundsätzen bei der Konkretisierung der Generalklausel auch Markwardt, Die Rolle des EuGH bei der Inhaltskontrolle vorformulierter Verbraucherverträge, S. 145 ff., der betont, dass hierfür keine Übereinstimmung aller mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen erforderlich sein könne. Im Übrigen solle der EuGH auf rechtsvergleichende Vorarbeiten zurückgreifen, die „allgemein auf eine positive Resonanz gestoßen sind“, so etwa das UNKaufrecht oder die PECL. Vgl. auch Nasall, JZ 1995, 689, 691, der vertritt, nach dem Subsidiaritätsprinzip komme dem EuGH die Konkretisierung der Generalklausel nur insoweit zu, wie er „[…] auf positive Regeln des Gemeinschaftsrechts, anerkannte Grundsätze seiner Rechtsprechung oder grundlegende Prinzipien zurückgreift, die den nationalen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsam sind […]“). 408 Vgl. Pfeiffer, in: Grabitz / Hilf, Recht der EU, 40. A. 2009, Art. 3 Mißbrauchskontrolle Rn. 41: „Die rechtsvergleichende Herausarbeitung gemeinsamer Prinzipien wird insbesondere in dem Maße möglich werden, in dem sich in den Mitgliedstaaten eine auf die RL gestützte Kasuistik entwickelt, die Gemeinsamkeiten und Divergenzen zu Tage treten lässt.“ Klauer, Die Europäisierung des Privatrechts, S. 130 ff. spricht sich zwar – wohl aus Praktikabilitätsgründen, nicht in allen Fällen für Vorlagen an den EuGH aus (S. 140), sie verlangt eine solche aber jedenfalls bei Abweichungen von der Liste im Anhang sowie bei Vorliegen eines grenzüberschreitenden Sachverhaltes. Darüber hinaus ist Klauer jedoch in jedem Fall für einen einheitlichen Kontrollmaßstab, den die nationalen Gerichte „aus der Rechtsvergleichung und vom Gerichtshof“ beziehen sollten. Ablehnend Schmidt, Martin, Konkretisierung von Generalklauseln im europäischen Privatrecht, S. 290 f. 409 Trillmich, Klauselkontrolle nach spanischem Recht im Vergleich mit der Klauselrichtlinie 93/13/EWG, S. 273.
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und nicht schlicht die Maximallösung gewählt wird.410 Auf die PECL411 kann hierbei nur hilfsweise rekurriert werden; es ist stets zu überprüfen, ob die dort gewählte Lösung wirklich diejenige repräsentiert, die einer großen Mehrheit der nationalen Rechtsordnungen entspricht.412 Der Einwand, der EuGH wäre mit dieser Aufgabe überfordert,413 ist kein valides Argument. Der Gerichtshof verfügt gerade für solche Aufgaben eigens über eine Rechercheabteilung.414 Wenn die Arbeitsbelastung in quantitativer Hinsicht Überhand nimmt, muss der Gesetzgeber die Ressourcen des Gerichtshofs eben in dem Maße aufstocken, wie auch seine Aufgaben gewachsen sind. Daneben ist die Unterstützung des Gerichtshofs auch eine Aufgabe der Wissenschaft, die den Schritt zu einer echten Europäisierung selbst noch nicht geschafft hat.415 Diese Befürchtung äußernd Riesenhuber, Europäisches Vertragsrecht, S. 658. Insbesondere die Generalanwälte des Gerichtshofs haben sich bereits wiederholt auf die PECL berufen, siehe etwa die Schlussanträge der Generalanwältin Verica Trstenjak vom 6.3.2007, Rs. 1/06 Bonn Fleisch Ex- und Import GmbH ./. Hauptzollamt HamburgJonas, Slg. 2007 I-05609, Rn. 68; Schlussanträge der Generalanwältin Verica Trstenjak vom 15.11.2007, Rs. C-404/06, Quelle AG ./. Bundesverband der Verbraucherzentralen und Verbraucherverbände, Slg. 2008 I-02685, Fn. 28; Schlussanträge des Generalanwalts Poiares Maduro vom 21. November 2007, Rs. C-412/06 Annelore Hamilton ./. Volksbank Filder eG, Slg. 2008 I-02383, Fn. 8. 412 Vgl. Canaris, in: Basedow, Europäische Vertragsrechtsvereinheitlichung, S. 5, 16 sieht die PECL insoweit als Erleichterung für den Rechtsanwender. 413 Schmidt, Martin, Konkretisierung von Generalklauseln im europäischen Privatrecht, 291. 414 Basedow, in: Müller / Osterloh / Stein, Festschrift für G. Hirsch, S. 51, 59 f. weist darauf hin, dass die nationalen Vertragsrechte zumindest im Ergebnis häufig übereinstimmten. Ob dies der Fall sei, müsse und könne der Gerichtshof im Einzelfall selbst feststellen und sich hierbei sowohl der Stellungnahmen der Mitgliedstaaten im Verfahren wie auch seiner eigenen Rechercheabteilung bedienen. 415 Forderung von Zimmermann, JZ 1992, 8 ff. Diese Forderung lässt sich unterteilen: Zimmermann meint vor allem eine historisch-vergleichende Europäisierung der Wissenschaft, die zur gegenseitigen Durchdringung der nationalen Rechtsordnungen insgesamt führen und hierdurch in einem vermutlich recht langwierigen Prozess erst den Boden für eine europäische Rechtsvereinheitlichung durch die Legislative bereiten soll. Daraus abzuleiten, weit weniger ambitioniert, aber nicht weniger wichtig, wäre zunächst eine Europäisierung der Rechtswissenschaft im Bereich des Unionsprivatrechts. Diese findet teilweise statt und auch dieses Buch selbst bemüht sich um die Einbindung von Stimmen aus anderen Mitgliedstaaten, soweit dies aus sprachlichen Gründen machbar ist. Dennoch ist sehr auffällig, dass die Wahrnehmung bestimmter rechtlicher Fragen und Themen noch immer stark von den Auswirkungen etwa einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs auf die jeweilige nationale Rechtsordnung bestimmt werden. Der Gerichtshof ist bemüht, sämtliche ihm zugänglichen Anmerkungen zu seinen Entscheidungen auf der EURLEX-Seite aufzuführen (gerichtshofsintern sind diese im Volltext verfügbar). Dort fällt auf, dass Anmerkungen typischerweise in weit überwiegender Zahl aus dem Mitgliedstaat kommen, aus dem auch die Vorlagefrage stammt. Die Entscheidungen zur Klauselrichtlinie sind hier ein Paradebeispiel. Eine grenzüberschreitende Diskussion der Entscheidung nationaler Gerich410 411
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Ein echter unionsautonomer Standard kann also nicht stante pede, sondern nur im Laufe eines langen Prozesses des Dialogs der nationalen Gerichte mit dem EuGH416 – ggf. in begrenztem Maße auch der nationalen Gerichte untereinander – entwickelt werden. Eine Vorlage zu der Frage, ob ein nationales Gericht die Entscheidungen der Gerichte anderer Mitgliedstaaten zu einer „Vertragsklausel ähnlichen oder identischen Inhalts unter vergleichbaren tatsächlichen Umständen“ berücksichtigen muss, wurde leider zurückgezogen.417 Auch der Dialog zwischen Gerichtshof und nationalen Gerichten ist aber lange Zeit ausgeblieben und kürzlich erst ansatzweise in Gang gekommen. Er hat allerdings bisher nur einige Mitgliedstaaten umfasst und wird dort zudem möglicherweise aus besonderen Gründen betrieben,418 die nicht in erster Linie die richtlinienkonforme Auslegung der Generalklausel zum Ziel haben und von denen nicht unbedingt auf ein zukünftiges Vorlageverhalten der Gerichte auf den betreffenden Mitgliedstaaten geschlossen werden kann. Richtig bleibt dabei der Einwand, dass vollständig einheitliche AGB wohl nur auf der Grundlage eines einheitlichen materiellen Rechts möglich sind 419 und selbst in diesem Fall eine Vereinheitlichung des Vertragsrechts allein womöglich noch nicht einmal ausreicht, da auch öffentlichrechtliche Vorschriften eine bestimmte Ausgestaltung von AGB bedingen können.420 Dass
te zum Unionsprivatrecht kommt aus naheliegenden Gründen noch schwieriger in Gang. Einzelne Entscheidungen – die vom House of Lords in Sachen First National Bank (s. o. Kapitel 1 Fn. 144) kann hier beispielhaft genannt werden – sind die absolute Ausnahme. 416 So etwa Basedow, in: Schulte-Nölke / Schulze, Europäische Rechtsangleichung und nationale Privatrechte, S. 277, 289: „[…] allmähliche Annährung durch […] Ausformulierung allgemeiner Rechtsgrundsätze und die Festlegung von Orientierungspunkten von Fall zu Fall.“ 417 EuGH, 31.5.2013 (Beschluss), Rs. C-373/12, GIC Cash a.s. ./. Marián Gunčaga, ECLI:EU:C:2013:362. 418 So ist es etwa auffällig, dass in jüngerer Zeit eine große Zahl von Vorlagen aus Spanien stammt und im Zusammenhang mit der dortigen Immobilien- bzw. Hypothekenkreditkrise in Verbindung mit einem offenbar recht schneidigen nationalen Zivilprozessund Zwangsvollstreckungsrecht entspringen. Aus den seit 2004 beigetretenen Mitgliedstaaten, insbesondere Ungarn, sind viele Vorlagen gekommen, die wucherische Verbraucherverträge – insbesondere Kleinkredite oder Handyverträge – betreffen. 419 In diesem Sinne Eidenmüller / Jansen / Kieninger / Wagner / Zimmermann, JZ 2012, 269, 279; für Beispiele, in denen auch ohne Unterschiede im dispositiven Recht der Mitgliedstaaten Unterschiede bei der Beurteilung der Missbräuchlichkeit aufgetreten sind – so etwa bei Klauseln über Verpflichtung zur Zahlung sämtlicher Raten bei vorzeitiger Kündigung eines Leasingvertrags, die in Deutschland unwirksam, in Frankreich wirksam ist – siehe Kieninger, RabelsZ 73 (2009), 793, 803 f. 420 Eine Vielzahl nicht-vertragsrechtlicher Hindernisse ist etwa von der Expertengruppe der Kommission für europäisches Versicherungsvertragsrecht identifiziert worden, siehe European Commission, Final Report of the Commission Expert Group on European Insurance Contract Law (), siehe etwa Rn. 15, 28, 43 (Steuerrecht), 56 (Altersvorsorge) und 245 (Aufsichtsrecht und sprachliche Barrieren), 282 f. (Sozialversicherung). 421 Vgl. Wolff, Die Verteilung der Konkretisierungskompetenz für Generalklauseln in privatrechtsgestaltenden Richtlinien, S. 203 (Fn. 12–14) m. w. N. 422 European Commission, The ‘Unfair Terms’ Directive, Five Years On, Evaluation and future perspectives, Brussels Conference, 1. – 3.7.1999, S. 131 f. 423 So auch Heiderhoff, Grundstrukturen des nationalen und europäischen Verbrauchervertragsrechts, S. 140 f.; allgemein zu unionsrechtlichen Mindeststandards und Teilung der Konkretisierungskompetenz Wolff, Die Verteilung der Konkretisierungskompetenz für Generalklauseln in privatrechtsgestaltenden Richtlinien, S. 70 f.; Roth, Wulf-Henning, ERCL 2011, 425, 436 schlägt eine Unterscheidung zwischen „allgemeinen Kriterien“ – die sich aus Art. 3 Abs. 1, 4 Abs. 1 und dem Anhang der Klauselrichtlinie ergeben – gegenüber „besonderen“ oder „speziellen“ Kriterien vor, die zu definieren den Mitgliedstaaten überlassen bleiben würde. 424 Dazu Heiderhoff, Grundstrukturen des nationalen und europäischen Verbrauchervertragsrechts, S. 135. 425 Auch Leible, RIW 2001, 422, 426 fordert dies mit Hinweis darauf, das europäische Recht halte „durchaus Maßstäbe für die Beurteilung der Unangemessenheit“ bereit. Heinig, EuZW 2009, 885, 887, will „für die praktische Rechtsanwendung von einer Regelvermutung ausgehen“, dass eine Klausel als missbräuchlich anzusehen sei, wenn der Gerichtshof „deutlich die negativen Konsequenzen der Klausel aufzeigt“.
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zeugend und von einer Mehrzahl der Mitgliedstaaten getragen sind – hieraus ggf. Fallgruppen entwickelt.426 Basedow hat darauf hingewiesen, dass es auch bei einer erforderlichen Messung der Abweichung einer Klausel vom dispositiven Recht keineswegs stets so sein muss, dass damit ein unionsautonomer Standard in der Klauselkontrolle nicht existieren kann. Vielmehr fänden sich „zwischen den nationalen Rechten viele Übereinstimmungen; wenn nicht in den rechtlichen Strukturen, so doch oft in den Ergebnissen“.427 Auch auf Grundlage dieses zutreffenden Befundes wäre es jedoch erforderlich, dass der EuGH zunächst rechtsvergleichend überprüft, ob das vom dispositiven Recht in einer bestimmten Frage vorgegebene Gleichgewicht der vertraglichen Rechte und Pflichten denn in allen mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen dasselbe ist. Dies lässt sich in zwei scheinbare Probleme unterteilen, ein praktisches und ein kompetenzielles. Das praktische Problem besteht darin, dass die Erhebung der dispositiven Rechtslage nach einer Vielzahl nationaler Vertragsrechte ein zeitaufwendiges Unterfangen ist. Hierzu hätte der EuGH aber grundsätzlich mit seiner Bibliothek und dem wissenschaftlichen Dienst die Mittel, die ggf. aufzustocken wären. Jedenfalls sind solche Schwierigkeiten kein rechtliches Argument. Im Hinblick auf kompetenzielle Aspekte wird stets eingewandt, der EuGH sei nur zur Auslegung des Unionsrechts berufen und dürfe kein nationales Recht auslegen. Das ist insoweit richtig, als der EuGH nicht zur Auslegung des nationalen Rechts als Streitgegenstand berufen ist, Art. 267 AEUV. Warum dies bedeuten soll, dass der Gerichtshof sich bei der Auslegung des Unionsrechts und der Suche nach einem unionsautonomen Standard der Klauselkontrolle nicht daran orientieren dürfen soll, was eine überwiegende Mehrheit der nationalen Rechtsordnungen als Lösung vorgibt, leuchtet aber nicht ein. Zwar räumt auch Basedow ein, dass die Bemühungen um eine einheitlich-autonome Auslegung des Unionsrechts „nicht immer ergiebig sein werden“. Es sei aber Sache des EuGH, festzustellen, ob das Unionsrecht entsprechende Anhaltspunkte enthält.428 Der EuGH hat eine solche Verteilung von Konkretisierungskompetenzen, wonach er dann bereit ist, den Mitgliedstaaten einen Spielraum zu lassen, wenn das Unionsrecht keine hinreichenden Anhaltspunkte für eine einheitliche Auslegung enthält, im Übrigen bereits früh in einer Entscheidung zum Mehrwertsteuerrecht angedeutet.429 426 Navaretta, Jus Civile 2013, 118, 130, im Hinblick auf die Klauselrichtlinie: „Indeed, through the comparison of the national doctrines the ECJ might eventually extract typical groups of cases (Fallgruppen) so as to make its hermeneutic criteria progressively more specific.“ 427 Basedow, in: Müller / Osterloh / Stein, Festschrift für G. Hirsch, S. 51, 59. 428 Basedow, in: Müller / Osterloh / Stein, Festschrift für G. Hirsch, S. 59 f. 429 EuGH, 1.2.1977, Rs. 51/76 Verbond van Nederlandse Ondernemingen ./. Inspecteur der Invoerrechten en Accijnzen, Slg. 1977, S. 00113, Rn. 14/17: „In dieser Beziehung enthält die zweite Richtlinie nicht alle Angaben für eine einheitliche und präzise Um-
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Im Ergebnis sind hier zwei Fragen zu trennen: Die erste Frage ist eine allgemeine, nämlich inwieweit die Klauselkontrolle eine Frage der Rechtsauslegung und inwieweit eine Frage der Rechtsanwendung ist. Wer behauptet, allein letzteres sei der Fall und dem EuGH schon deshalb die Konkretisierungskompetenz aberkennt,430 der muss erklären, warum es dann Fragen der AGB-Kontrolle zu den höchsten Gerichten der Mitgliedstaaten schaffen, wo ja regelmäßig nur noch über rechtliche Fragen entschieden wird. Erst wenn man hier richtigerweise zu dem Schluss kommt, dass auch die Generalklausel des Art. 3 Abs. 1 der Auslegung fähig ist, kommt man zur nächsten Frage, nämlich der dem Europäischen Gerichtshof in diesem Zusammenhang gegebenen Möglichkeiten. Zentraler Aspekt ist der Vergleichsmaßstab. Dieser kann europäisch oder national sein. Ist er europäisch, so kann der EuGH auch die Generalklausel einheitlich auslegen. Auch die Frage, ob überhaupt ein europäischer Maßstab vorhanden ist, muss der Gerichtshof selbst entscheiden. Dabei muss die Entwicklung eines unionsautonomen Mindeststandards zwangsläufig durch den Europäischen Gerichtshof erfolgen. Die Richtlinie 93/13 ist mindestharmonisierend und ein nationales Gericht kann somit nur dann zu einer Vorlage verpflichtet sein, wenn es eine Klausel nicht für missbräuchlich hält und damit die Möglichkeit besteht, dass der vom Unionsrecht vorgegebene Standard unterschritten wird. Wenn dagegen ein mitgliedstaatliches Gericht eine Klausel für missbräuchlich hält, so erübrigt sich nicht nur eine etwaige Vorlage.431 Es kann auch kein unmittelbarer Schluss auf die Übertragbarkeit des Urteils für andere Mitgliedstaaten gezogen werden, weil i. d. R.nicht klar ist, ob die Entscheidung denn nun den unionsrechtlich gebotenen Mindeststandard darstellt oder über diesen hinausgeht. Die lange Zeit zu Recht beklagte zögerliche Vorlagepraxis nationaler Gerichte432 ist mittlerweile eindeutig überwunden. Zwar bezieht sich ein gewisser Anteil der jüngsten Vorlagewelle ausschließlich auf die Frage der Vereinbarkeit bestimmter Institute des nationalen Zivilprozessrechts mit der im Lichte des Effektivitätsgrundsatzes ausgelegten Richtlinie. Dennoch gibt es
schreibung der Erfordernisse [….]. Die Mitgliedstaaten verfügen daher über einen gewissen Ermessensspielraum hinsichtlich dieser Erfordernisse, haben dabei aber zu beachten, daß ein wesentlicher Unterschied zwischen Investitionsgütern und den übrigen Gütern besteht, die bei der Führung und laufenden Geschäftstätigkeit der Unternehmen verwendet werden.“ 430 Fundstellen bei Schillig, Konkretisierungskompetenz und Konkretisierungsmethoden im Europäischen Privatrecht, S. 213 f. 431 Vgl. nur bspw. BGH, 29.4.2010, Az. Xa ZR 101/09 (bei juris) Rn. 33. 432 Basedow, in: Schulte-Nölke / Schulze, Europäische Rechtsangleichung und nationale Privatrechte, S. 277, 279 ff; noch im Jahr 2013 Rösler, Europäische Gerichtsbarkeit auf dem Gebiet des Zivilrechts, S. 454, der (im negativen Sinne) anmerkt, die „Qualität der Rechtsprechung des EuGH [wirke] auf die Vorlagewilligkeit zurück“.
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mittlerweile eine Vielzahl von Vorlagefragen, die nach der materiellen Beurteilung der Missbräuchlichkeit vorformulierter Vertragsklauseln fragen. c) Beispiele Eine umfassende Darstellung der (denkbaren)inhaltlichen Vorgaben des Unionsprivatrechts zur Wirksamkeit von AGB kann die vorliegende Untersuchung nicht leisten. Dies gilt um so mehr, als diese Vorgaben in den meisten Bereichen noch nicht entwickelt worden433 bzw. – soweit sie aufgrund der einheitlichen Beurteilung einer Frage durch die mitgliedstaatlichen Gerichte zustande gekommen sein sollten – noch nicht identifiziert worden sind, weil es an entsprechenden Vernetzungsinstrumenten fehlt. In diesem Zusammenhang ist es zu bedauern, dass die Herausbildung einer gemeinsamen Praxis nationaler Gerichte im Hinblick auf die Beurteilung bestimmter Klauseln vom europäischen Gesetzgeber ins Auge genommen worden war, mittlerweile aber offenbar aufgegeben worden ist. Die EU-Kommission hatte zum Zweck der Zugänglichmachung nationaler Entscheidungen nämlich die CLAB („clauses abusives“) – Datenbank eingerichtet, in der zumindest ein großer Teil der nationalen Rechtsprechung zur RL 93/13 verzeichnet war.434 Dieses Projekt ist offenbar aus Kostengründen nach Ablauf einer fünfjährigen Finanzierung eingestellt worden.435 Gerade eine Zusammenarbeit der nationalen Gerichte nicht nur mit dem EuGH in einzelnen Verfahren, sondern auch untereinander und in einer institutionalisierten Form wäre aber äußerst hilfreich, um einem einheitlichen Standard bei der Klauselkontrolle zumindest näher zu kommen. Die verschenkte Gelegenheit kann an dieser Stelle nicht umfänglich nachgeholt werden. Dennoch sollen für einige Bereiche Beispiele dafür gegeben werden, wie unionsrechtliche und mitgliedstaatliche Wertungsgesichtspunkte zur Vereinheitlichung des Rechts der materiellen Klauselkontrolle beitragen könnten.
Generalklauseln können ihren Regelungsgehalt erst erst aus ihrer Anwendung und damit stückweisen Konkretisierung durch die Rechtsprechung beziehen, vgl. Röthel, ZEuP 2005, 418, 427. 434 Ausführlich zu Geschichte und Aufbau der Datenbank Micklitz, in: Micklitz / Reich, Europäisches Verbraucherrecht, S. 528 ff.; Fornasier, ZEuP 2010, 477, 492 führt aus, die CLAB sei eingestellt worden, weil sie „wegen fehlender Bedienungsfreundlichkeit in der Praxis nicht genügend Aufmerksamkeit erhalten“ habe (Fn. 80); siehe auch von Vogel, Verbrauchervertragsrecht und allgemeines Vertragsrecht, S. 169 („bislang weitgehend unbeachtet geblieben“). 435 Vgl. die Fragen zur Zukunft des CLAB-Projekt im Bericht der Kommission über die Anwendung der Richtlinie 93/13/EWG des Rates vom 5. April 1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen, Brüssel, den 27.04.2000, KOM (2000) 248 endgültig, S. 32 f. 433
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aa) Vertragsschluss Häufig wird im Fernabsatzhandel eine Klausel verwendet, wonach der Kaufvertrag erst mit der Lieferung der Waren zustande kommen soll.436 Der Verbraucher gibt mittels seiner Bestellung also nur ein Angebot ab, welches der Verkäufer sich dadurch anzunehmen vorbehält, dass er die bestellte Ware abschickt bzw. dass diese dem Verbraucher zugeht. Die Bestätigung der Bestellung, in der Regel per E-Mail, soll dagegen ausdrücklich noch keine Annahme darstellen. Soweit die Unternehmer für diese Vorgehensweise eine Begründung angeben, verweisen sie regelmäßig darauf, dass sie das Beschaffungsrisiko ausschalten, mithin sicherstellen wollen, dass sie die bestellte Ware tatsächlich in hinreichender Stückzahl vorrätig haben oder jedenfalls beschaffen könnten. Dies ist – auch wenn sich dieses Problem mittels moderner Warenwirtschaftssysteme sicher auf andere Weise lösen ließe – grundsätzlich ein legitimes Interesse des Unternehmers. Problematisch wird die Klausel dann, wenn sie mit der am Ende des Bestellvorgangs oder jedenfalls in einer späteren Nachricht an den Verbraucher gerichteten Aufforderung verbunden wird, die Ware vor der Auslieferung zu bezahlen bzw. wenn der Kaufpreis per Lastschrifteinzug, per Kreditkarte oder mit anderen Zahlungsmitteln vom Verkäufer veranlasst wird, bevor die Ware versendet ist. Auch diese Bedingung ist für sich genommen legitim, da der Verkäufer sich so vor betrügerischen Bestellern schützen kann und die Zahlung per Vorkasse ihm auch etwa Kosten für die Abfrage bei den sog. „Auskunfteien“ ersparen kann, was wiederum über ein niedriges Preisniveau auch den Verbrauchern zugute kommen kann. Im Zusammenwirken führen diese beiden Klauseln aber dazu, dass der Verbraucher zur Zahlung gezwungen ist, obwohl er noch gar keine entsprechende Verpflichtung eingegangen ist, sprich ein Vertrag noch nicht geschlossen ist und allein davon abhängt, ob der Verkäufer die Ware tatsächlich abschickt. Tut er dies nicht, so sind dem Verbraucher die ihm unionsrechtlich zustehenden Verbraucherrechte etwa aus der Verbrauchsgüterkaufund der Fernabsatzrichtlinie abgeschnitten: Für die Rückerstattung des gezahlten Kaufpreises ist er allein auf nationales Recht für die Rückabwicklung gescheiterter Verträge, also etwa das Bereicherungsrecht, angewiesen. Eine solche Vorgehensweise dürfte in der Kombination europaweit als ein gröbliches und ungerechtfertigtes Abweichen von den gesetzlichen Bestimmungen zu sehen sein. Der Verkäufer hat an ihr kein berechtigtes Interesse: Die Schaffung zusätzlicher Liquidität, gewissermaßen eines Kurzzeitkredits zulasten des Verbrauchers, ist kein legitimes Ziel. Dem Bedürfnis, sich zu vergewissern, ob die bestellte Ware überhaupt vorrätig oder zu beschaffen ist, kann der Verkäufer dadurch abhelfen, dass er dies zunächst tut, dann das Angebot des Verbrauchers annimmt und sodann erst dessen Zahlung veranDie Klauselrichtlinie gilt auch bereits vor Vertragsschluss, was sich etwa aus Zif. 1d) des Anhangs ergibt. 436
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lasst. Vergleicht man das hier erdachte Beispiel mit der Konstellation in der Rs. Freiburger Kommunalbauten, so fallen weitere Unterschiede auf, die es hier viel eher ermöglichen würden, die Missbräuchlichkeit solcher Klauseln einheitlich für alle Mitgliedstaaten auf europäischer Ebene festzustellen. Zum einen geht es hier nicht um – vielleicht national unterschiedlich geregelte – Abfolgen von Fälligkeiten im Werkvertragsrecht, sondern um den Vertragsschluss selbst und eine – jedenfalls faktische – Vorleistungspflicht des Verbrauchers, die soweit vorverlagert wird, dass sogar vor Vertragsschluss gezahlt wird. Zweitens gibt es – anders als in Freiburger Kommunalbauten – auch keine Absicherung des Verbrauchers gegen eine etwaige Insolvenz des Unternehmers. Hier könnte man als unionsrechtlichen Wertungsgesichtspunkt etwa die Pflicht zum Abschluss einer Versicherung für den Insolvenzfall des Reiseveranstalters nach der Pauschalreiserichtlinie heranziehen. Dort hat der Gesetzgeber klargestellt, dass der Verbraucher – besonders bei hohen Beträgen und in Fällen, wo zwischen Zahlung und Leistungserbringung eine längere Zeit liegt – den Verbraucher vor solchen Risiken schützen will437 – ein Gedanke, der allerdings auch in der Rs. Freiburger Kommunalbauten hätte fruchtbar gemacht werden können, dort im Übrigen mit der Folge, dass die Insolvenzabsicherung ein entscheidendes Indiz dafür sein kann, dass eine streitige Klausel nicht missbräuchlich ist. bb) Transparenzgebot Als von größter Wichtigkeit bei der Klauselkontrolle hat sich das Transparenzgebot herausgestellt. In diesem Bereich sieht sich die Herausbildung eines einheitlichen Maßstabes zudem besonders wenigen Hindernissen gegenüber, weil es hier keinen (wesentlichen) Einfluss dispositiven nationalen Vertragsrechts gibt. Die besondere Betonung des Transparenzgebots reflektiert zudem die Präferenz zugunsten des Informationsmodells. Dabei hat sich mittlerweile herausgestellt, dass die Transparenz von Klauseln keine eigene Kategorie darstellt, sondern ein gesondert normiertes Kriterium für ihre Missbräuchlichkeit ist. Im Übrigen zeigt sich hier auch, dass die englische Perspektive, wonach sich good faith auf den Verhandlungsprozess und nicht – unabhängig von diesem – rein auf den materiellen Inhalt einer Vereinbarung beziehen könne, in der Praxis der Klauselrichtlinie über das Transparenzgebot doch zumindest teilweise zum Tragen kommt.438
437 Vgl. dazu EuGH, 16.2.2012, Rs. C-134/11 Jürgen Blödel-Pawlik ./. Hanse Merkur Reiseversicherung AG, ECLI:EU:C:2012:98. 438 Vgl. hierzu schon Collins, 14 OJLS 1994, 229, 249 f.
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Das Transparenzgebot stellt eine der wichtigsten Komponenten des Grundsatzes von Treu und Glauben439 und zudem diejenige dar, die unionsautonom die klarsten Konturen verliehen bekommen hat. Zudem ist jedenfalls für diese Komponente von Treu und Glauben klar, dass sie über die Klauselrichtlinie hinaus Geltung beanspruchen kann. So hat die Europäische Kommission bereits im Jahr 2001 festgestellt: „Gemäß einem allgemeinen Grundsatz des Verbraucherschutzrechts müssen die Vertragsbedingungen klar und verständlich abgefasst sein […].“440
Der Verbraucherkreditrichtlinie441 (Erwägungsgrund 19) sowie der Zahlungsdiensterichtlinie442 lässt sich auch entnehmen, dass das Transparenzgebot nicht nur dem Schutz des einzelnen Verbrauchers dient, sondern einen Produktvergleich und damit Wettbewerb ermöglichen soll.443 In der Sache gilt, dass der Verbraucher bei Vertragsschluss erkennen können muss, welche Verpflichtungen aufgrund einzelner Klauseln konkret auf ihn zukommen. Gerade im Zusammenspiel mit einseitigen Leistungsbestimmungsrechten bzw. Preiserhöhungsklauseln, kann mangelnde Transparenz, sprich Vorhersehbarkeit der genauen Folgen, daher dazu führen, dass eine Klausel die Schwelle zur Missbräuchlichkeit überschreitet. Sieht man den Grund für die Existenz der AGB-Kontrolle mit den modernen Erklärungsansätzen hauptsächlich im partiellen Marktversagen aufgrund des typischerweise vorliegenden Informations- und Motivationsgefälles zwischen Unternehmer und Verbraucher im Hinblick auf die konkrete Befassung mit den AGB im Einzelfall und nicht in der überlegenen Marktmacht des Unternehmers, so leuchtet die Untrennbarkeit von Missbräuchlichkeit und fehlender Transparenz von Klau439 von Vogel, Verbrauchervertragsrecht und allgemeines Vertragsrecht, S. 166 bezeichnet das Transparenzgebot als den eigentlich entscheidenden Faktor für den hohen Stellenwert der Klauselrichtlinie im Unionsprivatrecht. 440 Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament zum Europäischen Vertragsrecht, Brüssel, den 11.07.2001, KOM (2001) 398 endgültig, S. 59. Die Kommission bezieht sich für den Nachweis dieses „allgemeinen Grundsatzes“ auf entsprechende Vorschriften in Art. 5 der Klauselrichtlinie, Art. 3 Abs. 2 der Pauschalreiserichtlinie, Art. 6 Abs. 2 der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie, Art. 4 Abs. 2 der Fernabsatzrichtlinie und Art. 3 Abs. 2 der noch zu verabschiedenden Richtlinie über den Fernabsatz von Finanzdienstleistungen. 441 Richtlinie 2008/48/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. April 2008 über Verbraucherkreditverträge und zur Aufhebung der Richtlinie 87/102/EWG des Rates, ABl. 2008 L 133/66. 442 Richtlinie 2007/64/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. November 2007 über Zahlungsdienste im Binnenmarkt, zur Änderung der Richtlinien 97/7/EG, 2002/65/EG, 2005/60/EG und 2006/48/EG sowie zur Aufhebung der Richtlinie 97/5/EG, ABl. 2007 L 319, S. 1. 443 Vgl. zusätzlich mit Blick auf die Erdgasbinnenmarkt-Richtlinie Fornasier, ZEuP 2014, 410, 421, 424 f.
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seln ohnehin unmittelbar ein: Nach diesem Modell gründet die Missbräuchlichkeit von Klauseln ja gerade darauf, dass der Verbraucher – auch wenn er die allgemeinen Geschäftsbedingungen im Einzelfall eben nicht liest – mit ihnen nicht rechnen musste, weil er sich darauf verlassen durfte, auf eine so wesentliche Abweichung vom eigentlich vereinbarten Vertragsinhalt deutlicher hingewiesen zu werden. cc) Pacta sunt servanda Der Grundsatz pacta sunt servanda findet nicht nur im Richtlinienanhang, sondern auch im sonstigen Sekundärrecht zahlreiche Stützen, man denke nur an die leistungsstörungsrechtlichen Vorschriften der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie (Art. 2 und 3) und der Pauschalreiserichtlinie (Art. 5 Abs. 2). Die Nennung dieses Grundsatzes als Fallgruppe ist hier insofern erläuterungsbedürftig, als dass (wirksame) Klauseln ja gerade Bestandteil des einzuhaltenden Vertrages werden. Gemeint ist daher in diesem Zusammenhang vor allem, dass allgemeine Geschäftsbedingungen das vertragliche Gleichgewicht, also den Austausch von Leistung und Gegenleistung, nicht gewissermaßen durch die Hintertür so deutlich verschieben dürfen, dass die eigentliche Vereinbarung damit konterkariert wird. Wann dies der Fall ist, kann nach den folgenden Kriterien beurteilt werden, die der Rechtsprechung des EuGH sowie dem Richtlinienanhang entnommen werden können: – Die von ihm erworbene Leistung muss für den Verbraucher effektiv nutzbar sein und darf nicht in ungerechtfertigter Weise durch den Unternehmer eingeschränkt werden.444 – Eine Verlagerung von Risiken oder sonstigen Lasten, die nach der Natur des Vertrages klar auf Seiten des Unternehmers liegen, ist tendenziell missbräuchlich, weil diese Aufgabe zum Kern seines vertraglichen Pflichtenprogramms gehört und der Verbraucher mit einer Abwälzung auf ihn nicht rechnen muss.445 – Eine Abwälzung von eigentlich ihm zugeordneten Risiken durch den Unternehmer ist außerdem dann missbräuchlich, wenn diese in tatsächlicher Hinsicht eher in seiner Sphäre liegen, insbesondere wenn der Unternehmer Einfluss auf die Verwirklichung dieser Risiken hat. Umgekehrt sind Klau-
444 Beispiele hierfür nennt etwa Kapnopoulou, Das Recht der missbräuchlichen Klauseln in der Europäischen Union, S. 123 f. 445 Als Beispiel kann hier etwa der Fall genannt werden, dass ein Anbieter im eigenen Interesse eine Bonitätsprüfung des Kunden durchführen lässt, dem Kunden hierfür dann aber Bearbeitungsgebühren berechnen möchte, vgl. OLG Dresden, Urteil vom 29.9.2011, Az. 8 U 562/11 und 8 U 0562/11 (bei juris).
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seln dann eher zulässig, wenn sie das Risiko auf denjenigen verlagern, der es leichter kontrollieren kann.446 – Einseitige Rechte zur Preis- und Leistungsänderung sind zwar grundsätzlich zulässig,447 aber an enge Bedingungen geknüpft. So muss etwa der Unternehmer hieran ein schützenswertes Interesse haben, bspw. weil er wegen stark schwankender Einkaufspreise bei einem langfristigen Vertrag den Preis nicht zuverlässig über die gesamte Laufzeit im Vorhinein bestimmen kann. Da hiermit aber auch in die vertragliche Position des Verbrauchers wesentlich eingegriffen wird, sind solche Klauseln an einem besonders strengen Vorhersehbarkeits- und Transparenzgebot zu messen. Darüber hinaus ergeben sich Regeln zu Preis- und Leistungsänderungen aus Art. 42 Nr. 6 lit. a) der Zahlungsdiensterichtlinie. Art. 4 Abs. 4 und 5 der Pauschalreiserichtlinie lässt sich entnehmen, dass Preiserhöhungen dort nur unter sehr engen Voraussetzungen (etwa steigende Treibstoffkosten, Gebühren oder Wechselkurse) und nur in einem begrenzten zeitlichen Rahmen bis 20 Tage vor Abreise zulässig sind und dass wesentliche Vertragsänderungen mit einem Rücktrittsrecht des Verbrauchers verbunden sein müssen. – Eine wirtschaftliche Betrachtung des vereinbarten Austauschverhältnisses kann nach der Zielrichtung der Klauselrichtlinie, eine nachträgliche Verschiebung eben dieses Austauschverhältnisses über das „Kleingedruckte“ zu bewirken, keine Rolle spielen. Anders gesagt: Erhält der Verbraucher die erworbene Leistung für einen besonders günstigen Preis, so werden dadurch etwaige, missbräuchliche Klauseln nicht im Einzelfall zulässig. Etwas anderes kann ggf. dann gelten, wenn der Unternehmer seine Kalkulation ersichtlich auf niedrige Preise auslegt und hierfür auch etwas ungünstigere Bedingungen bietet (no frills). Hier ist aber mit Augenmaß vorzugehen – so ist eine klar missbräuchliche Klausel, mittels derer eine Fluglinie 60 Euro für das Ausdrucken der Bordkarte am Flughafen verlangt, die der Passagier eigentlich selbst ausdrucken müsste, auch dann missbräuchlich, wenn die betreffende Fluglinie für ein niedriges Preisniveau und einen schlechten Service im Markt bekannt ist oder hiermit sogar wirbt. Zudem hat der EuGH mittlerweile entschieden, dass jedenfalls die Behauptung, die Verschiebung des vertraglichen Pflichtenprogramms zulasten des Verbrauchers habe zu einer Verschiebung der von ihm geschuldeten Leis-
446 Siehe hierzu etwa Pfeiffer, in: Grabitz / Hilf, Recht der EU, 40. A. 2009, Art. 3 Mißbrauchskontrolle Rn. 45, diese Überlegung jedenfalls im Grundgedanken für zutreffend bezeichnend, allerdings mit der Einschränkung, dass man die Erkenntnisse der Ökonomischen Analyse im Bereich der Klauselrichtlinie auch nicht überstrapazieren bzw. die Auslegung der Generalklausel schwerpunktmäßig auf die Ergebnisse dieser Methode stützen dürfe. 447 So auch Pfeiffer, in: Wolf / Lindacher / Pfeiffer, Art. 3 RL, Rn. 69.
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tung zu seinen Gunsten, sprich zu einem niedrigeren Preis geführt hat,448 nicht ausreicht. – Indizien etwa für die maximale Zulässigkeit von Vertragslaufzeiten entnimmt Basedow den Gruppenfreistellungsverordnungen,449 aus denen sich z. B. Hinweise dafür ableiten ließen, dass der europäische Gesetzgeber Vertragslaufzeiten in Versicherungsverträgen mit Verbrauchern missbillige, die 3 Jahre überschreiten. Auch weitere Wertungsgesichtspunkte können sich aus den Gruppenfreistellungsverordnungen ergeben. Diese Verordnungen konkretisieren die Voraussetzungen von Art. 101 Abs. 3 AEUV,450 wonach bestimmte, den Wettbewerb beschränkende Vereinbarungen vom Kartellverbot ausgenommen sind, wenn sie etwa – kurz gesagt – zu Wohlfahrtssteigerungen in Form von Effizienzgewinnen führen und die Verbraucher an diesen Vorteilen beteiligt werden. Zusätzlich muss die Beschränkung verhältnismäßig sein und darf den Wettbewerb im relevanten Markt nicht ausschalten. Dabei kann die die Wettbewerbsbeschränkung darstellende Vereinbarung auch in Gestalt von nicht im Einzelnen ausgehandelten Klauseln im Sinne der RL 93/13 erfolgen. Dies ist insbesondere in dem Fall, dass Herstellerunternehmen den von ihnen belieferten Großund Einzelhandelsunternehmen bestimmte Vorgaben in Gestalt allgemeiner Geschäftsbedingungen machen (etwa im Fall selektiver Vertriebssysteme), naheliegend. Ob aber aus der wettbewerbsrechtlichen Freistellung die Schlussfolgerung gezogen werden kann, dass die entsprechende Vereinbarung auch im Verhältnis der sie abschließenden Parteien untereinander nach dem Willen des Unionsgesetzgebers nicht als missbräuchlich gelten soll, wird man nicht unbesehen voraussetzen können, sondern stets im Einzelfall zu prüfen haben. Inwieweit sich diese Wertung der Gruppenfreistellungsverordnungen auf die Beurteilung allgemeiner Geschäftsbedingungen im Privatrecht übertragen lässt, ist dementsprechend umstritten.451
Vgl. dazu Trillmich, Klauselkontrolle nach spanischem Recht im Vergleich mit der Klauselrichtlinie 93/13/EWG, S. 275 f. 449 Dazu auch Henkel, Inhaltskontrolle von Finanzprodukten nach der Richtlinie 93/13/EWG des Rates über mißbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen, S. 421–425, die im Ergebnis eine „Indizwirkung“ ähnlich der Liste im Anhang der Klauselrichtlinie sieht. Allerdings seien etwa die Verbote einseitiger Änderungsklauseln und von bestimmten Mindestlaufzeiten nicht übertragbar (S. 448). 450 Vgl. etwa die sog. Vertikal-GVO – Verordnung (EU) Nr. 330/2010 der Kommission vom vom 20. April 2010 über die Anwendung von Artikel 101 Absatz 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf Gruppen von vertikalen Vereinbarungen und abgestimmten Verhaltensweisen, ABl. 2010 L 102/1. 451 Vgl. Henkel, Inhaltskontrolle von Finanzprodukten nach der Richtlinie 93/13/EWG des Rates über mißbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen, S. 421. 448
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– Art. 3 Abs. 3–5 Zahlungsverzugsrichtlinie452 enthalten Vorgaben für die Zulässigkeit von Zahlungsfristen, die auch außerhalb des Anwendungsbereichs der Richtlinie als Orientierungshilfe dienen könnten. d) Prozessuale Schutzkomponente Die Prognose, die RL 93/13 werde nach dem Freiburger KommunalbautenUrteil wegen der Schwierigkeiten bei der Herausbildung eines einheitlichen Missbrauchsmaßstabs praktisch genauso wenig eine Rolle spielen wie in den ersten sechs Jahren seit ihrem Erlass453 hat sich nicht nur wegen der inzwischen einsetzenden Bemühungen des Gerichtshofs, zumindest die „allgemeinen Kriterien“ der Missbrauchskontrolle tatsächlich auszulegen, als unzutreffend erwiesen. Vielmehr spielt die Klauselrichtlinie im Zusammenspiel mit dem Effektivitätsgrundsatz mittlerweile eine entscheidende Rolle für die unionsrechtliche Zulässigkeit bestimmter Institute des nationalen Prozessrechts. Bereits im Jahr 1977 hatte die Europäische Kommission ein Gutachten zur AGB-Kontrolle erstellen lassen, das zu dem Schluss kam, die für notwendig befundene Rechtsangleichung im Bereich der Allgemeinen Geschäftsbedingungen dürfe sich nicht auf das materielle Recht beschränken, sondern betreffe auch das Verfahrensrecht.454 Dies hat der europäische Gesetzgeber nicht umgesetzt; vielmehr scheint es aber bei Betrachtung der Rechtsprechung, dass der EuGH diese Forderung von Hippels nun in ungeahnt umfassender Weise umsetzt. Die Pflicht zur amtswegigen Prüfung – teilweise auch zur amtswegigen Tatsachenermittlung entgegen dem normalerweise geltenden Beibringungsgrundsatz – soll nämlich wie dargestellt nicht nur im normalen, streitigen Erkenntnisverfahren gelten, sondern auch im Mahnverfahren und in speziellen Vollstreckungsverfahren (bzw. diesen nachgeschalteten Erkenntnisverfahren, die dann aber entsprechenden Einfluss auf das Vollstreckungsverfahren nehmen müssen). Diese Entwicklung steht noch am Anfang, sie wird sich aber angesichts der existentiellen Schwierigkeiten, die im Zuge der Finanz- und Wirtschaftskrise eine große Zahl von Verbrauchern getroffen haben, ausweiten.455 Damit sind mannigfaltige prozessrechtliche Instrumente bzw. Verfahren, die aus unterschiedlichen Gründen nur eine eingeschränkte materiellrechtliche Prüfung des Sachverhalts kennen, möglicherweise nicht 452 Vgl. Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament zum Europäischen Vertragsrecht, Brüssel, den 11.07.2001, KOM (2001) 398 endg., S. 59. 453 Siehe etwa Freitag / Riemenschneider, WM 2004, 2470, 2479. 454 von Hippel, RabelsZ 41 (1977), 237, 246 ff. 455 Vgl. als Momentaufnahme nur die derzeit anhängigen Vorabentscheidungsverfahren. Ein entsprechendes Monitoring wird etwa vom European Law Institute durchgeführt und ist unter verfügbar.
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vollständig mit dem europäischen Recht vereinbar. Neben Mahnverfahren und (beschleunigten) Vollstreckungsverfahren könnte man auch etwa an Versäumnisurteile, Urkundsverfahren und weitere denken. Zwar hat der Gerichtshof mittlerweile in anderem Zusammenhang – es ging um die Vollstreckung ausländischer Entscheidungen nach der EuGVO – in der Rs. Trade Agency 456 entschieden, dass das Unterbleiben einer Prüfung des Gegenstands der Klage oder ihrer Grundlagen in der Sache in einem Verfahren, auf das sich der Beklagte nicht eingelassen hat, nicht ohne Weiteres gegen das Recht auf ein faires Verfahren verstößt. Wie diese Entscheidung mit dem Recht auf „effektive Klauselkontrolle“ in Einklang zu bringen sein wird, ist aber offen. Die Klauselrichtlinie dürfte insoweit eine Sonderrolle einnehmen, da der Gerichtshof hier den Gedanken in den Vordergrund stellt, dass das Informationsgefälle zwischen Verbraucher und Unternehmer auch nach Vertragsschluss fortbesteht. Die Anforderungen der RL 93/13 könnten diejenigen aus dem allgemeinen Recht auf ein faires Verfahren daher schlicht übersteigen. Mittlerweile hat sich zudem klar gezeigt, dass auch die prozessuale Dimension des Schutzes vor missbräuchlichen Klauseln mit dem Grundsatz von Treu und Glauben verbunden ist. Es kann ein Bogen geschlagen werden von der Situation vor Vertragsschluss zu derjenigen danach: Wenn die schwächere Verhandlungsposition und der geringere Informationsstand des Verbrauchers457 sich darin niederschlagen können, dass das Resultat der Willensbildung der Parteien missbräuchliche Klauseln enthält, dann muss dies durch Maßnahmen nach Vertragsschluss ausgeglichen werden. Anders gesagt: Wenn der Unternehmer die Nachteile des Verbrauchers vor Vertragsschluss unter Verstoß gegen das Gebot von Treu und Glauben ausnutzt, dann muss der betreffende Mitgliedstaat sicherstellen, dass prozessuale Mittel vorhanden sind, um zu verhindern, dass sich diese Situation nach Vertragsschluss perpetuiert. Es hilft dem Verbraucher nicht allein, wenn die Klauseln materiellrechtlich missbräuchlich sind. Die Missbräuchlichkeit muss sich auch darin niederschlagen, dass auf ihrer Grundlage gegen ihn kein Titel und keine Vollstreckungsmaßnahme ergehen, und zwar auch dann, wenn der Verbraucher – auch dies wieder wegen seiner strukturellen Benachteiligung – die Klauseln nicht aktiv angreift. Diese Haltung spiegelt sich auch darin wieder, dass der
456 EuGH, 6.9.2012, Rs. C-619/10 Trade Agency Ltd ./. Seramico Investments Ltd., ECLI:EU:C:2012:531. 457 Die schwächere Verhandlungsposition und der geringere Informationsstand des Verbrauchers werden in ständiger Rechtsprechung als Ausgangspunkt des von der Klauselrichtlinie geschaffenen Schutzsystems bezeichnet, siehe nur EuGH, 21.3.2013, Rs. C-92/11 RWE Vertrieb AG ./. Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen e.V., ECLI:EU:C:2013: 180, Rn. 41 m. w. N.
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EuGH die Verwendung missbräuchlicher Klauseln in anderem Zusammenhang als „Angriff[e] auf die Rechtsordnung“458 bezeichnet hat. Zwischen dem strengen prozessualen Schutzkonzept und der nach Freiburger Kommunalbauten lange unterbliebenen, materiellrechtlichen Vereinheitlichung der Klauselkontrolle bestand zudem ein offensichtlicher Widerspruch.459 Gleiches gilt für die nach ihrem Art. 6 Abs. 2 bestehende Pflicht zur Durchsetzung des durch die Richtlinie gewährten Schutzes gegenüber einem anwendbaren drittstaatlichen Recht.460 Es gibt noch viel Raum für Entwicklung. Spanische Gerichte benutzen die Klauselkontrolle, aber auch andere Bestimmungen des Europäischen Verbraucherrechts, um Bestimmungen des nationalen Prozess- oder Vollstreckungsrechts nicht anwenden zu müssen.461 Andererseits scheint dem Gerichtshof manchmal das Gespür für die eigentlichen Kernfragen, nämliche die materielle Harmonisierung, zu fehlen – so etwa, wenn ein dauerhaft und offenbar irreparabel undichtes Dach bei einem fabrikneu gekauften Kraftfahrzeug als geringfügiger Mangel eingestuft wird und daraufhin der Rücktritt vom Vertrags verweigert wird, ohne diese Frage zumindest vorzulegen.462 e) Ergebnisse für die Arbeit Die Klauselrichtlinie ist der wichtigste Anwendungsfall des unionsprivatrechtlichen Grundsatzes von Treu und Glauben, der hier in sehr enger Verbindung zu dem Missverhältnis der vertraglichen Rechte und Pflichten und auch zum Transparenzgebot steht. Auf die dogmatische Feinabgrenzung zwischen diesen Kriterien ist hier eingegangen worden, ohne dass dafür eine abschließende Lösung gefunden werden konnte. Vorschläge für ein festes 458 EuGH, 1.10.2002, Rs. C-167/00 Verein für Konsumenteninformation ./. Karl Heinz Henkel, Slg. 2002 I-08111, Rn. 42. 459 Hierzu auch Basedow, in: Müller / Osterloh / Stein, Festschrift für G. Hirsch, S. 51, 58. 460 Basedow, in: Müller / Osterloh / Stein, Festschrift für G. Hirsch, S. 58 „zutiefst widersprüchlich“. 461 Vgl. nur die Rechtssachen C-618/10 Banco Español de Crédito sowie Rs. C-415/11 Aziz. 462 EuGH, 3.10.2013, Rs. C-32/12 Soledad Duarte Hueros ./. Autociba SA und Automóviles Citroen España SA, ECLI:EU:C:2013:637. Zwar war die Frage der Geringfügigkeit des Mangels vom vorlegenden Gericht nicht gestellt worden. Es wäre jedoch hilfreich gewesen, wenn der Gerichtshof dem vorlegenden Gericht zumindest den Hinweis gegeben hätte, dass die Frage, ob ein nicht wasserdichtes Autodach bei einem Neuwagen nur einen geringfügigen Mangel darstellt, erstens in den Anwendungsbereich der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie und damit in die Auslegungszuständigkeit des Gerichtshofs nach Art. 267 AEUV fällt und dass zweitens eine Auslegung, wonach ein geringfügiger Mangel in diesem Fall bejaht werden kann, jedenfalls keinen acte clair darstellt. Die Generalanwältin Juliane Kokott hatte diesen Hinweis in ihren Schlussanträgen (Rn. 57) gegeben. Es erscheint formalistisch und als Zeichen mangelnden Interesses für den materiellen Harmonisierungserfolg der Richtlinie, dass der Gerichtshof dies in keiner Weise aufnimmt.
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Prüfungsschema für diese drei Kriterien, das sämtliche Unklarheiten hinsichtlich ihrer Abgrenzung untereinander bzw. der Einordnung einzelner Aspekte der Klauselkontrolle unter einen dieser Punkte beseitigt, können ohnehin nicht in überzeugender Weise gemacht werden. Dies ergibt sich schon daraus, dass im Bereich des Richtlinienrechts die Mitgliedstaaten in der Art und Weise der Umsetzung weitgehend frei sind, solange die Anwendung des nationalen Rechts zu dem von der Richtlinie vorgegebenen Ergebnis führt. Dementsprechend haben einige Mitgliedstaaten ohnehin nur entweder das ungerechtfertigte Missverhältnis oder Treu und Glauben in ihr nationales Recht übernommen. Für die vorliegende Untersuchung insgesamt lässt sich hier jedoch als wichtiges Ergebnis festhalten, dass Treu und Glauben mit einem Gebot des verhältnismäßigen Handelns und einem Gebot des fair and open dealing im Sinne des Transparenzgebots korrespondiert. Praktisch sämtliche Klauselverbote des Anhangs und sonstige Anwendungsfälle in der Rechtsprechung lassen sich nämlich unter eines oder beide dieser Kriterien fassen. Auch wenn das Ergebnis nicht völlig überraschend ist, so bestätigt sich hier, dass Treu und Glauben ein objektiver Maßstab ist, der genauso gut oder schlecht operabel ist, wie andere unbestimmte Rechtsbegriffe. Treu und Glauben meint vor allem ein Gebot des Maßhaltens seitens des Gewerbetreibenden, der das dispositive Recht durch AGB nur innerhalb der von diesem Gebot gesetzten Grenzen verschieben darf. In Verbindung mit dem Transparenzgebot wird der Grundsatz von Treu und Glauben im Richtlinientext nicht unmittelbar genannt. Auch das Transparenzgebot ist aber Bestandteil der Klauselkontrolle und dort ist Treu und Glauben insbesondere als das Verbot zu verstehen, das bei Vertragsschluss bestehende Ungleichgewicht dadurch auszunutzen, dass Klauseln, mit denen der Verbraucher nicht rechnen musste, in AGB gewissermaßen versteckt werden. Verallgemeinerungen von der Klauselrichtlinie auf den Inhalt des allgemeinen Grundsatzes von Treu und Glauben müssen dabei mit Vorsicht gezogen werden;463 es gibt aber keinen Grund, warum die in der Klauselrichtlinie enthaltenen Grundwertungen anderswo grundsätzlich keine Geltung beanspruchen können sollten. Allerdings wird man bei Fehlen des speziellen Ungleichgewichts, wie es der Klauselkontrolle in Gestalt der Konzepte der Marktmacht und des Informationsgefälles zugrunde liegt, von höheren Eingreifschwelle auszugehen haben. Auch hier zeigt sich aber, dass der genaue Wortlaut der Generalklausel für ihre Anwendung eigentlich irrelevant ist. Das belegen sowohl die unterschiedlichen nationalen Umsetzungen, wie auch die geteilte Literatur, die teils auf das ungerechtfertigte Missverhältnis, teils (auch) auf Treu und GlauZur Sonderstellung der Klauselrichtlinie insgesamt im Verbrauchervertragsrecht vgl. von Vogel, Verbrauchervertragsrecht und allgemeines Vertragsrecht, S. 166 f. 463
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ben abstellt. Eine gewisse Beliebigkeit der Begriffe kann man auch daran erkennen, dass im Gesetzgebungsverfahren zur Klauselrichtlinie zwischenzeitlich etwa nicht von missbräuchlichen, sondern von „unlauteren“ Vertragsklauseln die Rede war und als Kriterium für die Beurteilung der Klauseln darauf abgestellt wurde, ob „die Erfüllung des Vertrages für den Verbraucher unbillige Nachteile mit sich bringt.“464 Die Freiburger Kommunalbauten-Rechtsprechung darf mittlerweile als zumindest teilweise revidiert gelten.465 Der Gerichtshof hat spätestens mit der Entscheidung in der Rs. RWE466 begonnen, materielle Vorgaben für die Zulässigkeit von AGB zu machen, so dass die Autonomisierung der Generalklausel voranschreitet. Zugleich erfährt die an sich unverbindliche Liste im Anhang stete Aufwertung.467 Als Verbindung zum allgemeinen Grundsatz von Treu und Glauben bedarf es auch eines begriffliches Kniffes: Grundsätzlich bezieht sich der Maßstab des Handelns nach Treu und Glauben auf ein Verhalten;468 es ist also eigentlich nicht die Klausel, die gegen Treu und Glauben verstößt, sondern der Verwender, indem er eine unverhältnismäßig benachteiligende Klausel in den Vertrag aufnimmt.469 Dieser missbraucht also die Vertragsfreiheit. Im Hinblick auf die Verteilung der sog. Konkretisierungskompetenzen ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof selbst zum Stellenwert des Vorabentscheidungsverfahrens Folgendes ausgeführt hat: „Das System des Vorabentscheidungsverfahrens ist die eigentliche Grundlage für das Funktionieren des Binnenmarktes, da es entscheidend ist für die Erhaltung des Gemeinschaftscharakters der durch die Verträge errichteten Rechtsordnung und da es unter allen Umständen gewährleisten soll, daß dieser Rechtsordnung in allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union dieselbe Wirkung zukommt. Jede auch nur potentielle Beeinträchtigung der einheitlichen Anwendung und Auslegung des Gemeinschaftsrechts in der gesamten Union droht nämlich Wettbewerbsverzerrungen und diskriminierende Unterscheidungen zwischen den Wirtschaftsteilnehmern heraufzubeschwören und damit die Chancengleichheit zwischen diesen und infolgedessen das gute Funktionieren des Binnenmarktes zu gefährden.“470
464 Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Geänderter Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über Mißbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen, KOM (92) 66 endg. – SYN 285, Brüssel, den 4. März 1992, S. 9. 465 Micklitz / Reich, EuZW 2013, 457, 459. 466 EuGH, 21.3.2013, Rs. C-92/11 RWE Vertrieb AG ./. Verbraucherzentrale NordrheinWestfalen e.V., ECLI:EU:C:2013:180. 467 Micklitz / Reich, EuZW 2013, 457, 459 sprechen von einer Aufwertung zur „ ‚grauen Liste‘ von vermutet missbräuchlichen Klauseln“. 468 Vgl. nur die Definition von Treu und Glauben in Art. 2 lit. b) des CESL-Vorschlags (oben S. 61 ff.). 469 Tallon, Le concept de bonne foi en droit français du contrat, S. 5.
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Es wird interessant sein, weiter zu beobachten, ob der Gerichtshof seine Auslegungsaufgabe ernst nimmt oder sein „judicial self-restraint“471 wieder verstärkt. Die Jahre 2010–2013, insbesondere auch die noch anhängigen Vorabentscheidungsverfahren, bergen nämlich die Gefahr, dass der Gerichtshof nun langsam mit der Welle von Auslegungsersuchen geflutet wird, die vor 20 Jahren befürchtet worden war. Kritisch muss dabei auch die Tendenz gesehen werden, dass einige nationale Gerichte offenbar nicht primär an der Auslegung der Klauselrichtlinie interessiert sind, sondern nur irgendein Vehikel suchen, dass es Ihnen ermöglicht, die andernfalls zwingenden Vorgaben eines ansonsten teilweise sehr verbraucherfeindlichen Zivilprozess- und Zwangsvollstreckungsrechts zu überwinden und so auf soziale Probleme zu reagieren, die etwa infolge der spanischen Wirtschafts- und Immobilienkrise entstanden sind. Dies wäre eigentlich Aufgabe des spanischen Gesetzgebers, jedenfalls was das in seiner Rigidität fragwürdig erscheinende Vollstreckungsrecht angeht. Die Klauselrichtlinie wird damit vielleicht doch noch zum „Grundgesetz des materiellen Europäischen Schuldvertragsrechts“,472 indem sie nämlich durch die Auslegung ihrer Generalklausel dasjenige beschreibt, was – auf mindestharmonisierender Grundlage – die wesentlichsten, die „unveräußerlichen“ Rechte der Parteien eines Vertrages sind. III. Vorformulierte Klauseln in anderen Rechtsakten Neben der Klauselrichtlinie enthalten einige weitere Richtlinien des Sekundärprivatrechts Bestimmungen über missbräuchliche Klauseln, die erstere ergänzen. Im Übrigen können die dort getroffenen Wertungen ggf. auch über den Anwendungsbereich des jeweiligen Rechtsakts hinaus bei der Konkretisierung der Generalklauseln der RL 93/13 hilfreich sein. 1. Verbraucherkreditrichtlinie: Ausgleichsanspruch Zudem enthält die Verbraucherkreditrichtlinie in Art. 16 Abs. 2 die Vorgabe, dass eine Vorfälligkeitsentschädigung nur als „angemessene und objektiv gerechtfertigte Entschädigung für die möglicherweise entstandenen, unmittelbar mit der vorzeitigen Rückzahlung des Kredits zusammenhängenden Kosten“
470 Coester, in: Staudinger-BGB, § 307 Rn. 67 sieht den „judicial self-restraint“ offenbar als durchgehend vorhanden an und ist daher der Auffassung, „mit umfassender Kasuistik [sei] auch nicht zu rechnen“. 471 Coester, in: Staudinger-BGB, § 307 Rn. 67 sieht den „judicial self-restraint“ offenbar als durchgehend vorhanden an und ist daher der Auffassung, „mit umfassender Kasuistik [sei] auch nicht zu rechnen“. 472 Grundmann, Europäisches Schuldvertragsrecht, S. 250.
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zulässig ist. Dabei wird diese noch auf maximal 1 % der vorzeitig zurückgezahlten Valuta begrenzt und außerdem in Abs. 3 für eine Reihe von Fällen insgesamt aufgeschlossen. Auch hierin liegt eine Begrenzung von Vertragsfreiheit, der der Maßstab der Angemessenheit zugrunde liegt und die nicht auf vorformulierte Klauseln beschränkt ist. Dennoch liegt der Vergleich mit Nr. 1 lit. e) des Anhangs der RL 93/13, der solche Klauseln als indiziell missbräuchlich benennt, die dem Verbraucher unverhältnismäßig hohe Entschädigungsbeträge auferlegen, wenn er seinen Verpflichtungen nicht nachkommt, auf der Hand. 2. Pauschalreiserichtlinie: Preisanpassungsklauseln Die Pauschalreiserichtlinie473 sieht in Art. 4 Abs. 4 die ausnahmsweise Zulässigkeit von Preisanpassungsklauseln ausschließlich für Fälle sich ändernder Beförderungskosten und Treibstoffkosten, (Flug-)Hafengebühren und die Reise betreffender Wechselkurse vor. Selbstverständlich muss die Preisanpassungsmöglichkeit im Vertrag vorgesehen sein und dieser muss „genaue Angaben zur Berechnung des neuen Preises“ enthalten. Außerdem verfügt Abs. 4 lit. b) eine zeitliche Begrenzung, die die Möglichkeit zur Preiserhöhung ab dem zwanzigsten Tag vor dem vereinbarten Abreisetermin ausschließt. Die Regelung ist weitgehend mit Nr. 1 lit. l) i. V. m. Nr. 2 lit. d) des Anhangs der Klauselrichtlinie vergleichbar; insbesondere betonen beide Regelungen das Kriterium der Transparenz der Preiserhöhungsklausel. Allerdings verzichtet die Pauschalreiserichtlinie auf das Erfordernis, dass entweder die Preiserhöhung einer Verhältnismäßigkeitskontrolle unterliegen oder aber dem Verbraucher ein Rücktrittsrecht eingeräumt werden muss. Auch wenn die Richtlinie auf Pauschalreisen beschränkt und damit inhaltlich spezieller ist, so gilt die Klauselrichtlinie für alle vorformulierten Klauseln und nimmt hiervon Pauschalreiseverträge nicht aus. Man wird somit – unterstützt von Sinn und Zweck der Vorschrift – argumentieren können, dass die Geltung von Nr. 1 lit. l) des Anhangs der Klauselrichtlinie auf Pauschalreiseverträge jedenfalls nicht von vornherein ausgeschlossen ist und entsprechende Klauseln daher jedenfalls daran gemessen werden können, ob sie eine entsprechende Verhältnismäßigkeitsgrenze oder ein Rücktrittsrecht zugunsten des Verbrauchers enthalten.
Richtlinie 90/314/EWG des Rates vom 13. Juni 1990 über Pauschalreisen, ABl. 1990 L 158/59. 473
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3. Zahlungsverzugsrichtlinie Die Zahlungsverzugsrichtlinie474 verfolgt das Ziel einer einheitlichen Bekämpfung von Zahlungsverzug im unternehmerischen Geschäftsverkehr innerhalb des europäischen Binnenmarktes. Sie dient damit dem Schutz von Gläubigern – insbesondere kleiner und mittlerer Unternehmen – und ihrer Wettbewerbsfähigkeit vor einer schlechten Zahlungsmoral ihrer Schuldner.475 Dieses Ziel verfolgt sie u. a. dadurch, dass sie als materiellrechtliche Regelung nach Ablauf bestimmter Fristen die Zahlung von Zinsen in einer bestimmten Mindesthöhe vorsieht.476 Die Richtlinie geht dabei in zwei Stufen vor: Nach Ablauf einer Zahlungsfrist von 30 Tagen ab Rechnungseingang beim Schuldner, die per vertraglicher Vereinbarung grundsätzlich auf maximal 60 Tage verlängert werden kann (vgl. Art. 3 Abs. 1, Abs. 3 und Abs. 5), sind ohne weitere Mahnung Verzugszinsen fällig, deren Höhe die Richtlinie ebenfalls festlegt (Art. 2 Nr. 5–7: grundsätzlich 8 Prozentpunkte über dem Basiszinssatz der EZB). Die Richtlinie ist im Hinblick auf diese Bestimmungen jedoch dispositiv, sie erlaubt also grundsätzlich vertragliche Vereinbarungen, die von den Vorgaben abweichen.477 Allerdings sind dann Vereinbarungen über Zahlungsfristen von über 60 Kalendertagen, über (niedrigere) Zinssätze und über die in Art. 6 vorgesehenen, pauschal abzugeltenden Beitreibungskosten an Art. 7 der Richtlinie zu messen. Danach dürfen solche Vereinbarungen „nicht durchsetzbar“ sein oder müssen „einen Schadensersatzanspruch begründe[n]“ wenn sie „für den Gläubiger grob nachteilig sind“. Hier geht es also – so Erwägungsgrund 28 ausdrücklich – um die Verhinderung eines Missbrauchs der Vertragsfreiheit. Die ursprüngliche Zahlungsverzugsrichtlinie478 sah – etwas versteckt – in Art. 3 Abs. 3 S. 1 Folgendes vor: „Die Mitgliedstaaten bestimmen, dass eine Vereinbarung über den Zahlungstermin oder die Folgen eines Zahlungsverzugs, die nicht im Einklang mit Absatz 1 Buchstaben b) bis d) und Absatz 2 steht, entweder nicht geltend gemacht werden kann oder einen Schadensersatzanspruch begründet, wenn sie bei Prüfung aller Umstände des Falles, einschließlich der guten Handelspraxis und der Art der Ware, als grob nachteilig für den Gläubiger anzusehen ist.“479
Richtlinie 2011/7/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Februar 2011 zur Bekämpfung von Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr (Neufassung), ABl. 2011 L 48/1. 475 Aspöck, GPR 2009, 270. 476 Art. 3 Abs. 1 RL 2000/35/EG bzw. Art. 3 und 4 RL 2011/7/EU. 477 Siehe auch Oelsner, EuZW 2011, 940, 945. 478 Richtlinie 2000/35/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. Juni 2000 zur Bekämpfung von Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr, ABl. 2000 L 200/35. 479 Engl. Fassung: „[…] if, when all circumstances of the case, including good commercial practice and the nature of the product, are considered, it is grossly unfair to the 474
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In ihrer Neufassung vom 16. Februar 2011 (die die Mitgliedstaaten nach Art. 12 bis zum 16. März 2013 umzusetzen hatten) wird diese Bestimmung nun in einem eigenen Art. 7 neugeschrieben. Die wichtigste Änderung dürfte darin zu sehen sein, dass der Begriff der groben Nachteiligkeit nun u. a. unter Rückgriff auf den Grundsatz von Treu und Glauben in Art. 7 Abs. 1 lit. a) wie folgt konkretisiert wird. Danach ist bei der Prüfung der groben Nachteiligkeit auch „jede grobe Abweichung von der guten Handelspraxis, die gegen den Grundsatz des guten Glaubens und der Redlichkeit verstößt“
zu berücksichtigen. In der englischen Fassung ist insoweit aber die Rede von „good faith and fair dealing“ und in der französischen Fassung von „contraire à la bonne foi et à un usage loyal“, so dass insoweit von einer ungenauen Übersetzung ausgegangen werden kann und mit „gutem Glauben“ dasselbe gemeint sein muss wie sonst im Unionsrecht mit „Treu und Glauben“. Des Weiteren wird bei der Abwägung auf die „Art der Ware oder der Dienstleistung“ (lit. b) und auf das Vorliegen eines „objektiven Grund[es]“ (lit. c) abgestellt. Die Richtlinie sieht zudem vor, dass ein völliger Ausschluss von Verzugszinsen immer grob nachteilig ist (Abs. 2) und dass ein Ausschluss der Entschädigung für Beitreibungskosten zu einer Vermutung der groben Nachteiligkeit führt (Abs. 3). Auch diese Bestimmungen sind gegenüber der Vorgängerrichtlinie neu. Insoweit enthält die Neufassung also nun eine Regelungstechnik in Art einer schwarzen und einer grauen Liste, die allerdings jeweils nur einen Punkt enthalten. Dass die Richtlinie nun auf „Vertragsklauseln“ statt vorher auf „Vertragsbestimmungen“ abstellt, dürfte keinen Unterschied in der Sache machen. Insbesondere ist hiermit wohl keine Verengung auf vorformulierte Vereinbarungen verbunden. Dies ergibt sich bereits aus Sinn und Zweck der Richtlinie, aber auch aus Erwägungsgrund 28,480 aus der englischen und französischen Sprachfassung der Richtlinie und schließlich auch aus der Verwendung des Begriffs „Vertragsklauseln“ in der RL 93/13.481
creditor.“ Frz.: „[…] lorsque, compte tenu de tous les éléments du cas d’espèce, y compris les bonnes pratiques et usages commerciaux et la nature des produits, il constitue un abus manifeste à l’égard du créancier.“ Diese beiden Sprachfassungen sind also deutlich näher an Treu und Glauben, indem sie Fairness- bzw. Missbrauchsgedanken verwenden, während die deutsche Fassung lediglich auf die grobe Nachteiligkeit abstellt. 480 Die vorgenannten Vorschriften zur Missbrauchskontrolle sollen danach allgemein den „Missbrauch der Vertragsfreiheit zum Nachteil des Gläubigers“ verbieten. Vgl. auch Erwägungsgrund 19 der RL 2000/35/EG. 481 So auch Aspöck, GPR 2009, 270, 272.
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Kapitel 2 – Bestandsaufnahme und Analyse
Im Kommissionsvorschlag vom 8.4.2009482 war die Konkretisierung der groben Nachteiligkeit mittels des Grundsatzes von Treu und Glauben noch nicht enthalten gewesen (vgl. Abs. 6 des Kommissionsvorschlags). Allerdings findet sich in der Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Kommissionsvorschlag483 die Forderung nach einer „Durchsetzung der Grundsätze des fairen Wettbewerbs und des Leitbilds des ehrbaren Kaufmanns bei der Anwendung der Vertragsfreiheit, um Rechtsmissbrauch einzuschränken“ (Gliederungsziffern 1.3 sowie 4.1.5, englische Fassung:„[…] principles of fair competition and business ethics, and curbing the abuse of rights.“). Die Bestimmung in Art. 7 Abs. 1 lit. a) ist – möglicherweise auf diese Anregung des Ausschusses hin – dann durch den Standpunkt des Europäischen Parlaments vom 20. Oktober 2010484 in den Vorschlagtext aufgenommen worden, der der schließlich verabschiedeten Richtlinie entspricht. Ob hiermit eine wesentliche inhaltliche Änderung im Vergleich zur Vorgängerrichtlinie beabsichtigt oder bewirkt wurde, darf aber bezweifelt werden.485 Auch für den Begriff der „guten Handelspraxis“ in der RL 2000/35/EG war nämlich schon vertreten worden, hiermit sei die „Handelspraxis unter Wahrung der Gebote von Treu und Glauben“486 gemeint. Es zeigt sich aber auch hier wieder, dass der europäische Gesetzgeber Treu und Glauben offenbar als eine Oberkategorie für Grundsätze wie Fairness, Lauterkeit und das Verbot des Rechtsmissbrauchs ansieht.
Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Bekämpfung von Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr (Neufassung), KOM (2009) 126 endg. 483 Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses vom 17.12.2009 zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Bekämpfung von Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr (Neufassung)“, ABl. C 255/42. 484 Standpunkt des Europäischen Parlaments, festgelegt in erster Lesung am 20. Oktober 2010 im Hinblick auf den Erlass der Richtlinie 2011/…/EU des Europäischen Parlaments und des Rates zur Bekämpfung von Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr (Neufassung) (EP-PE_TC1-COD(2009)0054). Für eine Sichtbarmachung der Änderungen siehe Ratsdokument 15035/10 vom 25.10.2010. 485 Eine Auseinandersetzung damit, was die neu eingeführte Nennung von Treu und Glauben (bzw. des sprachlich wohl verunglückten „guten Glaubens“) inhaltlich bewirken soll, findet in der Literatur kaum statt; vgl. etwa Oelsner, EuZW 2011, 940, 945 f. Naheliegend erscheint es, dass insoweit eine sprachliche Angleichung an den Missbrauchsmaßstab der Klauselrichtlinie beabsichtigt war. 486 Cerina, Die Missbrauchsklausel der Zahlungsverzugsrichtlinie, S. 98, 120 f. Dagegen ist Kessel, Die Missbrauchsklausel der Zahlungsverzugsrichtlinie, S. 107 f. der Auffassung, das Gebot von Treu und Glauben sei bewusst nicht in die Zahlungsverzugsrichtlinie aufgenommen worden, da es sich hierbei nach Ansicht der Europäischen Kommission nicht um ein eigenständiges Kriterium bei der Bestimmung der Missbräuchlichkeit handele. 482
A. Schranke der Privatautonomie
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4. Klauselkontrolle im CESL-Vorschlag An dieser Stelle soll auf einige bemerkenswerte Strukturmerkmale der Vorschriften zur Klauselkontrolle im Verordnungsvorschlag für ein Gemeinsames Europäisches Kaufrecht eingegangen werden, die auch im Hinblick auf die weitere Entwicklung des derzeit geltenden Rechts der Klauselkontrolle von Interesse sein können. Zusätzlich zur auffälligen Verwendung als allgemeiner Grundsatz des Vertragsrechts487 behält das CESL in Art. 83 Nr. 1 das Gebot von Treu und Glauben als Maßstab bei der Klauselkontrolle in Verbraucherverträgen bei. Dieses wird hier nun – vollharmonisierend – durch die Listen der Art. 84 (per se unfaire Vertragsbestimmungen) und Art. 85 (Vermutung der Unfairness) konkretisiert. Anders als die Klauselrichtlinie wird hier also eindeutig klargestellt, welche Beispiele Bestandteil einer „schwarzen Liste“ – und damit stets missbräuchlich – und welche lediglich als Regelbeispiele in einer „grauen Liste“ enthalten sind. Dabei zeigt bereits das Vorhandensein einer schwarzen Liste, dass der europäische Gesetzgeber davon ausgeht, dass es sehr wohl möglich ist, Klauseln auch unabhängig von den Umständen des jeweiligen Einzelfalles für missbräuchlich zu erklären. Hinzu kommt, dass das CESL als Verordnung ergehen soll und damit anders als die mindestharmonisierende Klauselrichtlinie den Mitgliedstaaten bei seiner Anwendung auch zugunsten der Verbraucher keine Spielräume lässt. Entscheidend ist zudem, dass das CESL mit seinem umfassenden Regelungsansatz einen vertragsrechtlichen Hintergrund bereitstellt. Damit dürfte die lange herrschende und erst in jüngster Zeit in kleinen Teilen aufgegebene Zurückhaltung des Europäischen Gerichtshofs im Bereich der materiellen Klauselkontrolle im Anwendungsbereich des CESL nicht aufrecht zu erhalten sein. Vielmehr werden wegen des selbstverständlich „vollharmonisierenden“ Charakters der Verordnung Vorlagen zur Vorabentscheidung auch dann geboten sein, wenn der nationale Richter eine Klausel bereits für missbräuchlich hält, er aber noch vernünftige Zweifel daran haben kann, ob diese Sichtweise auch vom Gemeinsamen Kaufrecht in seiner autonom-europäischen Auslegung durch den Gerichtshof getragen wird. Für Verträge zwischen Unternehmen enthält das CESL die Einschränkung, wonach ein Verstoß gegen Treu und Glauben die Unfairness nur bei „gröblicher“ Abweichung von der guten Handelspraxis begründet (Art. 86). Dies steht im Einklang mit demjenigen Bereich des EU-Rechts, der bereits bisher eine AGB-Kontrolle im unternehmerischen Geschäftsverkehr kannte, nämlich der Zahlungsverzugsrichtlinie.488 Es scheint sich somit bereits jetzt herauszuSiehe oben S. 61 ff. Siehe oben S. 194. Die speziellen Regeln der Zahlungsverzugsrichtlinie, die ja auch bei nicht vorformulierten Vertragsbestimmungen Anwendung finden, nimmt das CESL in Art. 170 ebenfalls auf (gröbliche Abweichung von der guten Handelspraxis unter Verstoß gegen das Gebot von Treu und Glauben). 487 488
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Kapitel 2 – Bestandsaufnahme und Analyse
kristallisieren, dass das Unionsprivatrecht eine Klauselkontrolle grundsätzlich auch zwischen Unternehmern befürwortet, diese aber wegen des weniger großen Gefälles bei den für die Parteien verfügbaren Informationen und ihrer Verhandlungsmacht auf „grobe“ bzw. „gröbliche“ (engl. „grossly“) Abweichungen vom Grundsatz von Treu und Glauben beschränkt. Diese Regelung stellt zumindest einen klaren, graduellen Abstand zur Klauselkontrolle in Verbraucherverträgen her und ist damit vielleicht etwas besser anzuwenden als etwa die entsprechende Regel im deutschen Recht, das ja in § 310 Abs. 1 S. 2 BGB das Recht der Klauselkontrolle auf Verträge zwischen Unternehmern grundsätzlich für anwendbar erklärt und die Differenzierung zu Verbraucherverträgen durch den Verzicht auf die Regelbeispiele §§ 308, 309 BGB sowie dadurch herstellt, dass „auf die im Handelsverkehr geltenden Gewohnheiten und Gebräuche […] angemessen Rücksicht zu nehmen“ sei. IV. Kartellrecht Auch das europäische Kartellrecht setzt der Privatautonomie Grenzen, indem es bestimmte Vereinbarungen mit der zivilrechtlichen Sanktion der Nichtigkeit belegt (Art. 101 Abs. 2 AEUV). Das Kartellverbot erstreckt sich dabei nicht nur auf sog. Hardcore-Kartelle – also die direkte, auf horizontaler Ebene und isoliert getroffene Absprache etwa von Preisen, Quoten oder Gebieten – sondern auch auf vertikale Absprachen, die regelmäßig anlässlich eines im Übrigen zulässigen Vertragsschlusses und damit im Rahmen des normalen Geschäftsverkehrs erfolgen. Solche Absprachen werden etwa zwischen Herstellern und Händlern eines bestimmten Produktes getroffen und können bspw. eine unzulässige Preisbindung auf der nächsten Handelsstufe zum Gegenstand haben. Gerade hier zeigt sich die privatrechtliche Relevanz des Kartellrechts, wenn sich etwa die Frage stellt, ob ein bestimmtes Vertriebsmodell eines Markenherstellers, der einer „Verramschung“ seiner Produkte und damit seines Markenimages durch den Vertrieb auf bestimmten Internetplattformen entgegenwirken möchte, kartellrechtlich zulässig ist. Dabei spielen die Gruppenfreistellungsverordnungen – hier etwa die Vertikal-GVO – eine entscheidende Rolle. Auf die Möglichkeit, ggf. einzelne Wertungsgesichtspunkte aus den Gruppenfreistellungsverordnungen im Rahmen der Klauselkontrolle heranzuziehen, ist oben bereits kurz eingegangen worden.489 Das Kartellverbot selbst enthält Treu und Glauben oder verwandte Begriffe nicht unmittelbar; es dürfte aber außer Zweifel stehen, dass das EU-Recht hier einen Missbrauch der Vertragsfreiheit sanktioniert, auch wenn dieser in erster Linie zu Lasten Dritter bzw. der Allgemeinheit erfolgt. Daneben ist noch darauf hinzuweisen, dass die Nennung von „Beschlüsse[n]“ im Kartellverbot des Art. 101 Abs. 1 die Verlagerung der Absprache489
Siehe oben S. 184 ff.
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entscheidung in das Innere einer Organisation erfassen soll. Die Vorschrift soll also die Umgehung des Kartellverbots verhindern490 und fügt sich damit die in Reihe ausdrücklicher oder funktionaler Umgehungsverbote ein, die im Sekundärrecht in großer Zahl vorhanden sind.491 Neben dem Kartellverbot verbietet Art. 102 AEUV die „missbräuchliche Ausnutzung einer marktbeherrschenden Stellung“. Dieser Missbrauchsbegriff wird im Vertrag nicht legal definiert,492 sondern nur in vier, nicht abschließenden493 („insbesondere“) Beispielen exemplifiziert. Diese beinhalten u. a. die „Erzwingung von unangemessenen Einkaufs- oder Verkaufspreisen oder sonstigen Geschäftsbedingungen“ (lit. a, sog. Preis- bzw. Konditionenmissbrauch; engl. Fassung: „unfair purchase or selling prices or other unfair trading conditions“; frz.: „[…] non équitables“) und die „an den Abschluss von Verträgen geknüpfte Bedingung, dass die Vertragspartner zusätzliche Leistungen annehmen, die weder sachlich noch nach Handelsbrauch in Beziehung zum Vertragsgegenstand stehen.“ (lit. d, sog. Koppelungsgeschäfte). Die Nähe zum Vertragsrecht, insbesondere zum Recht der allgemeinen Geschäftsbedingungen, ist hier gut erkennbar. Zudem wird hier abermals – wie auch an verschiedenen anderen Stellen im Sekundärrecht festgestellt – ein Missbrauchsverbot über den Begriff der Angemessenheit konkretisiert. Dabei ist Art. 102 AEUV – anders als Art. 101 Abs. 1 – gewissermaßen „mindestharmonisierend“, er lässt nämlich nach Art. 3 Abs. 2 S. 2 VO 1/2003494 strengere innerstaatliche Vorschriften zu. Eine feststehende, subsumptionsfähige Definition dieses Missbrauchsverbots existiert auch außerhalb des Gesetzestextes nicht.495 Entscheidendes Kriterium soll aber die Konformität des Unternehmerverhaltens mit den Vertragszielen, insbesondere mit der Verwirklichung des Binnenmarktes sein. Der Europäische Gerichtshof versteht unter einer marktbeherrschenden Stellung „[…] die wirtschaftliche Machtstellung eines Unternehmens, die dieses in die Lage versetzt, die Aufrechterhaltung eines wirksamen Wettbewerbs auf dem relevanten Markt zu verhindern, indem sie ihm die Möglichkeit verschafft, sich seinen Wettbewerbern, seinen Abnehmern und letztlich den Verbrauchern gegenüber in einem nennenswerten Umfang unabhängig zu verhalten. […] Eine solche Stellung schließt im Gegensatz zu einem Monopol oder einem Quasi-Monopol einen gewissen Wettbewerb nicht aus, versetzt aber die begünstigte Firma in die Lage, die Bedingungen, unter denen sich dieser Wettbewerb entEmmerich, Kartellrecht, S. 48. Siehe unten S. 204 ff. 492 Emmerich, Kartellrecht, S. 129. 493 Siehe EuGH, 17.2.2011, Rs. C-52/09 Konkurrensverket ./. TeliaSonera Sverige AB, Slg. 2011 I-00527, Rn. 26 m. w. N. aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs. 494 Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates vom 16. Dezember 2002 zur Durchführung der in den Art. 81 und 82 des Vertrags niedergelegten Wettbewerbsregeln, ABl. 2003 L 1/1. 495 Weiß, in: Calliess / Ruffert, EUV/AEUV, 4. A. 2011, Art. 102 AEUV, Rn. 24; Jung, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 50. EGL 2013, Rn. 119. 490 491
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wickeln kann, zu bestimmen oder wenigstens merklich zu beeinflussen […]. Das Vorliegen einer beherrschenden Stellung kann sich aus dem Zusammentreffen mehrerer Faktoren ergeben, die jeweils für sich genommen nicht ausschlaggebend sein müssen, unter denen jedoch das Vorliegen erheblicher Marktanteile in hohem Maße kennzeichnend ist.“496
Die marktbeherrschende Stellung ist also in gewisser Weise die Fähigkeit eines Unternehmens zum Marktmissbrauch auf dem sachlich, räumlich und zeitlich relevanten Markt. Hinsichtlich der Erscheinungsformen des Marktmissbrauchs ist zunächst anerkannt, dass funktional zwischen Ausbeutungsmissbrauch, Behinderungsmissbrauch und Marktstrukturmissbrauch zu unterscheiden ist.497 Unter Ausbeutungsmissbrauch wird die missbräuchliche Ausbeutung der eigenen Abnehmer bzw. der Verbraucher verstanden. Art. 102 AEUV schützt insoweit die Handelspartner marktbeherrschender Unternehmen „vor der Anwendung von nachteiligen Geschäftsbedingungen“.498 Hierunter fallen der eingangs erwähnte Preis- bzw. Konditionenmissbrauch nach lit. a) und auch die Koppelungsgeschäfte nach lit. d), die die Verbindung zum Recht der missbräuchlichen Klauseln unmittelbar erkennbar werden lassen. Ein solcher Missbrauch von Marktmacht, durch den dem Abnehmer Bedingungen diktiert werden, die er beim Vorliegen eines funktionierenden Wettbewerbs nicht annehmen würde, kann auch im Einzelfall nach Art. 102 AEUV sanktioniert werden und insbesondere einen privatrechtlichen Schadensersatzanspruch nach sich ziehen.499 Zum Ausbeutungsmissbrauch urteilt der EuGH in ständiger Rechtsprechung, dass „eine missbräuchliche Ausnutzung einer beherrschenden Stellung vorliegt, wenn das Unternehmen, das diese beherrschende Stellung innehat, für seine Dienstleistungen einen Preis verlangt, der gemessen am wirtschaftlichen Wert der erbrachten Leistung unbillig oder unverhältnismäßig ist […]“.500
Da Art. 102 AEUV im Vergleich zu Art. 82 EGV praktisch unverändert geblieben ist, kann in der Aussage des Gerichtshofs insbesondere eine Konkretisierung des Kriteriums der (Un-)Angemessenheit in lit. a) der Vorschrift gesehen werden. Dabei verwendet der Gerichthof die Kriterien der Billigkeit
EuGH, 13.2.1979, Rs. 85/76 Hoffmann-La Roche & Co. AG ./. Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Slg. 1979, S. 00461, Rn. 38 und 39. 497 Weiß, in: Calliess / Ruffert, EUV/AEUV, 4. A. 2011, Art. 102 AEUV, Rn. 33; Fuchs / Möschel, in: Immenga / Mestmäcker, EU-Wettbewerbsrecht, Art. 102 AEUV, Rn. 134. 498 Fuchs / Möschel, in: Immenga / Mestmäcker, EU-Wettbewerbsrecht, Art. 102 AEUV. 499 Dazu etwa Meeßen, Der Anspruch auf Schadensersatz bei Verstößen gegen EUKartellrecht, S. 323 ff. 500 EuGH, 16.7.2009, Rs. C-385/07 P Der Grüne Punkt – Duales System Deutschland GmbH ./. Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Slg. 2009 I-06155, Rn. 142. 496
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(„unbillig“) und der Verhältnismäßigkeit.501 Gerade letzteres erscheint im Unionsrecht als ein wichtiges Definitionselement von Treu und Glauben. Ein Behinderungsmissbrauch liegt vor, wenn ein Unternehmen seine auf einem Markt bestehende marktbeherrschende Stellung auf diesem oder auf einem anderen Markt dazu nutzt, den Wettbewerb dort ohne sachlichen Grund einzuschränken.502 Die Behinderung bezieht sich also auf die Aktivitäten der Wettbewerber. Zum Behinderungsmissbrauch hat der EuGH entschieden, dass es sich bei der „[…] verbotenen missbräuchlichen Ausnutzung einer marktbeherrschenden Stellung […] nämlich um einen objektiven Begriff [handelt], der die Verhaltensweisen eines Unternehmens in beherrschender Stellung erfasst, die die Struktur eines Marktes beeinflussen können, auf dem der Wettbewerb gerade wegen der Anwesenheit des fraglichen Unternehmens bereits geschwächt ist, und die die Aufrechterhaltung des auf dem Markt noch bestehenden Wettbewerbs oder dessen Entwicklung durch den Einsatz von Mitteln behindern, die von den Mitteln eines normalen Produkt- oder Dienstleistungswettbewerbs auf der Grundlage der Leistungen der Marktbürger abweichen (Urteil Deutsche Telekom/Kommission, Randnr. 174 und die dort angeführte Rechtsprechung).“503
Dabei soll es auf das Vorliegen eines ursächlichen Zusammenhangs zwischen der marktbeherrschenden Stellung und der missbräuchlichen Ausnutzung nicht ankommen, 504 was angesichts des Begriffs der Ausnutzung der Marktbeherrschung505 zu verwundern vermag. Es passt aber zur objektiven Definition des Rechtsmissbrauchs, auf den die Untersuchung sogleich eingehen wird.506 Zu erwähnen ist auch eine Mitteilung der Europäischen Kommission aus dem Jahr 2009, mit der diese versucht, den Behinderungsmissbrauch durch marktbeherrschende Unternehmen zu konkretisieren.507 Die Kommission nennt dort zunächst eine Vielzahl zu berücksichtigender Kriterien und wendet sich dann Fallgruppen zu, die hier nicht im Einzelnen aufgeführt werden können. Erwähnenswert ist jedoch, dass eine der von der Kommission besonders bekämpften Strategien – der Verdrängung von Mitbewerbern durch Kampfpreise – der Nachweis dieses Verhaltens durch den Vergleich mit eiWirtz, in: Mäger, Europäisches Kartellrecht, S. 299 f. Weiß, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 102 AEUV, Rn. 33 f. 503 EuGH, 17.2.2011, Rs. C-52/09 Konkurrensverket ./. TeliaSonera Sverige AB, Slg. 2011 I-527, Rn. 27. 504 EuGH, 21.2.1973, Rs. 6/72 Europemballage Corporation und Continental Can Company Inc. ./. Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Slg. 1973, S. 00215, Rn. 27; dies ist in der Literatur weitgehend unumstritten, siehe etwa Wirtz, in: Europäisches Kartellrecht, S. 293 m. w. N. 505 Ähnlich die frz. Fassung („exploiter de façon abusive une position dominante“); etwas unspezifischer dagegen die engl. Fassung („abuse […] of a dominant position“). 506 Siehe unten S. 202 ff. 507 Mitteilung der Kommission – Erläuterungen zu den Prioritäten der Kommission bei der Anwendung von Artikel 82 des EG-Vertrags auf Fälle von Behinderungsmissbrauch durch marktbeherrschende Unternehmen, ABl. 2009 C 45/7, insbesondere Rn. 20 ff. 501 502
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Kapitel 2 – Bestandsaufnahme und Analyse
nem „vernünftigen“ Alternativverhalten erfolgen soll.508 Insgesamt wird klar, dass Art. 102 AEUV offenbar enge Verbindungen zu Wertungsmaßstäben aus dem Privatrecht aufweist. Akman argumentiert, der Maßstab der Fairness liege Art. 102 AEUV insgesamt zugrunde, wobei unklar sei, ob diese Fairness vertikal gegenüber den Wettbewerbern, horizontal gegenüber Handelspartnern oder beiden Gruppen gegenüber geschuldet sei.509 Die Nähe der Figur des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung zum Recht der Klauselkontrolle ergibt sich auch daraus, dass letzteres – jedenfalls in Deutschland – seinen Ursprung in der Rechtsprechung zu den Vertragsbedingungen von Monopolunternehmen findet.510 Abschließend ist im Zusammenhang mit Treu und Glauben hier auch der Abbruch bzw. die Verweigerung der Aufnahme vertraglicher Beziehungen zu nennen, der hier eine Fallgruppe des Marktmissbrauchs darstellt,511 die auch aus dem nationalen Privatrecht bekannt ist.512 In letzteren Fällen ergeben sich die den Verstoß begründenden Treuepflichten in der Regel daraus, dass in Verhandlungen bereits ein Maß an Verbindlichkeit erreicht wurde, das ihren Abbruch jedenfalls nicht mehr aus sachfremden Gründen erlaubt. Bei der Missbrauchskontrolle nach Art. 102 AEUV ergibt sich diese Bindung dagegen aus der marktbeherrschenden Stellung selbst.
B. Schranke der Rechtsausübung B. Schranke der Rechtsausübung
Neben dem Missbrauch von Vertragsfreiheit sanktioniert das EU-Recht an verschiedenen Stellen auch den Missbrauch bereits existierender Rechtspositionen. Dabei ist die Abgrenzung zwischen dem Missbrauch tatsächlicher und rechtlicher Macht nicht in allen Fällen eindeutig. Bemerkenswert ist vorab, Rn. 65 der Kommissionsmitteilung. Akman, The Concept of Abuse in EU Competition Law – Law and Economic Approaches, S. 146 ff. sowie S. 157. 510 Siehe Basedow, in: Pfeiffer / Kummer / Scheuch, Festschrift für H. E. Brandner, S. 651 f., der darauf hinweist, dass „[…] sich in den Begründungen nicht selten die Aspekte des Monopolmißbrauchs und des Mißbrauchs einseitig vorformulierter Vertragsbedingungen überdecken.“ 511 Siehe etwa EuGH, 16.9.2008, Verb. Rs. C-468/06 bis C-478/06 Sot. Lélos kai Sia EE u. a. ./. GlaxoSmithKline AEVE Farmakeftikon Proïonton, vormals Glaxowellcome AEVE, Slg. 2008 I-07139, Rn. 34: „Aus der gefestigten Rechtsprechung des Gerichtshofs geht hervor, dass die Weigerung eines Unternehmens, das auf dem Markt für ein bestimmtes Erzeugnis über eine beherrschende Stellung verfügt, die Bestellungen eines früheren Kunden auszuführen, eine missbräuchliche Ausnutzung dieser beherrschenden Stellung im Sinne von Art. 82 EG darstellt, wenn dieses Verhalten – ohne eine sachliche Rechtfertigung – geeignet ist, den Wettbewerb von Seiten eines Geschäftspartners auszuschalten […].“ 512 Siehe nur Art. 2:301 Abs. 2 PECL mit den entsprechenden Anmerkungen in von Bar / Zimmermann, Grundregeln des Europäischen Vertragsrechts Teile I und II, S. 216 ff. 508 509
B. Schranke der Rechtsausübung
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dass der Missbrauch rechtlicher Macht im EU-Recht seltener unmittelbar über den Grundsatz von Treu und Glauben selbst, sondern über andere Missbrauchsverbote erfasst wird. Dies widerspricht in gewisser Weise diametral der Aufteilung in einigen nationalen Rechtsordnungen, wo Treu und Glauben entweder allumfassend ist, wie etwa in Deutschland, oder – dort wo der Grundsatz einen engeren Anwendungsbereich hat – auf bestehende vertragliche Verbindungen beschränkt wird, wie dies traditionell etwa in Frankreich der Fall ist.513 I.
Missbrauchsverbot in der Grundrechtecharta
Der Vollständigkeit halber soll hier vorab darauf hingewiesen werden, dass auch das Primärrecht – neben den kartellrechtlichen Vorschriften514 – in Gestalt der Grundrechtecharta515 ein Verbot des Missbrauchs existierender Rechtspositionen enthält. Art. 54 Grundrechte verbietet nämlich den Missbrauch der Rechte aus der Charta selbst: „Keine Bestimmung dieser Charta ist so auszulegen, als begründe sie das Recht, eine Tätigkeit auszuüben oder eine Handlung vorzunehmen, die darauf abzielt, die in der Charta anerkannten Rechte und Freiheiten abzuschaffen oder sie stärker einzuschränken, als dies in der Charta vorgesehen ist.“
Die Vorschrift ist dem ähnlich lautenden Art. 17 EMRK nachgebildet, wobei letzterer aber seine Adressaten („einen Staat, eine Gruppe oder eine Person“) nennt, worauf Art. 54 Grundrechtecharta verzichtet. Es wird daher diskutiert, ob sich Art. 54 nur an Hoheitsträger richtet, was angesichts des Wortlauts der missbräuchlichen Handlungen („abschaffen“ bzw. „einschränken“) zumindest nicht unplausibel erscheint.516 Die auch sonst sehr unbestimmte Vorschrift517 soll jedenfalls hauptsächlich verhindern, dass die Rechte der Charta missbraucht werden, um andere Rechte derselben Charta einzuschränken518 und stellt daher einen Schutzmechanismus der Grundrechte selbst in einer wehrhaften Demokratie dar.519 Sie umfasst also vermutlich nicht die Fälle, in denen sich z. B. ein Privater auf ein Recht aus der Grundrechtecharta beruft, um damit etwa zwingenden Vorschriften des Rechts der Mitgliedstaaten oder der Union selbst auszuweichen und ist daher im Rahmen dieser Untersuchung nur von untergeordneter Bedeutung. Siehe oben S. 40 ff. Siehe oben S. 198 ff. 515 Charta der Grundrechte der Europäischen Union, ABl. 2010 C 83/389; aus Art. 6 Abs. 1 S. 1 Halbsatz 2 EUV ergibt sich der primärrechtliche Rang der Grundrechtecharta. 516 Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, EU-GRCharta, Art. 54, Rn. 2. 517 Kritisch Storme, ERPL 2007, 233, 246 der die Vorschrift für zu vage hält und sich präzisere Regeln zu Grundrechtsbeschränkungen gewünscht hätte. 518 Jarass, EU-GRCharta, Art. 54 Rn. 2–4. 519 Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 17, Rn. 2. 513 514
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II. Missbrauchsverbote im Sekundärrecht Neben den internationalprivatrechtlichen und materiellrechtlichen Umgehungsverboten520 enthält das geschriebene Unionsrecht auch an zahlreichen Stellen Missbrauchsverbote seiner selbst. Diese sind häufig nur am Rande privatrechtlicher Natur und sollen für die Zwecke dieser Untersuchung daher nicht umfassend untersucht, sondern lediglich aufgezeigt werden. So sieht etwa Art. 3 Abs. 1 der Durchsetzungsrichtlinie521 vor, dass die gemäß der Richtlinie von den Mitgliedstaaten vorzusehenden Maßnahmen zur Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums „fair und gerecht“ und „nicht unnötig kompliziert oder kostspielig“ sein dürften. Andererseits müssen diese Maßnahmen nach Abs. 2 aber auch u. a. verhältnismäßig sein und es muss „die Gewähr gegen ihren Missbrauch gegeben“ sein. Hier schreibt der Unionsgesetzgeber den Mitgliedstaaten also das Vorhandensein nationaler Missbrauchsverbote, die auf die Umsetzungsvorschriften der Richtlinie anwendbar sein sollen, sogar ausdrücklich vor.522 Zusätzlich sieht Art. 8 Abs. 3 lit. c) noch vor, dass speziell die Haftung bei Missbrauch von Auskunftsrechten durch den Rechteinhaber zu regeln ist, die diesem gegen einen Verletzer zustehen. Den Zweck der Missbrauchsverbote erläutert der 29. Erwägungsgrund teilweise näher, der ausführt, dass technische Maßnahmen, die der Bekämpfung der Produktpiraterie im Bereich der Rechte geistigen Eigentums dienten, „nicht zu dem Zweck missbraucht werden [dürften], die Märkte gegeneinander abzuschotten und Parallelimporte zu kontrollieren.“ Die Missbrauchsverbote begrenzen also den Spielraum der Rechteinhaber, die zwar ihre rechtmäßigen Interessen schützen, aber darüber nicht hinaus gehen können sollen und insbesondere den Schutz geistigen Eigentums nicht vorschieben können sollen, um in Wahrheit kartellrechtswidrige Zwecke zu verfolgen. Auch hier zeigt sich also wieder die enge Verbindung des unionalen Rechtsmissbrauchsbegriffs mit dem Zweck der jeweiligen Regelung und mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Im weiteren Sinne ein rechtsmissbräuchliches und damit treuwidriges Verhalten kann auch die Beantragung von Prozesskostenhilfe durch eine Person darstellen, die zwar formal berechtigt ist, die wirtschaftlich dieser Hilfe aber nicht bedarf. So erläutert der 36. Erwägungsgrund der Unterhaltsverordnung,523 dass in Unterhaltssachen „eine sehr günstige Regelung der Prozesskostenhilfe vorgesehen werden“ solle, „nämlich die uneingeschränkte Übernahme der Kosten in Verbindung mit Verfahren betreffend UnterhaltspflichSiehe oben S. 78 ff. Richtlinie 2004/48/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums, berichtigte Fassung in ABl. 2004 L 195/16. 522 Zur Diskussion um die grundsätzliche Zulässigkeit der Anwendung nationaler Missbrauchsverbote auf das umgesetzte Unionsrecht siehe unten S. 220 ff. 520 521
B. Schranke der Rechtsausübung
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ten gegenüber Kindern, die das 21. Lebensjahr noch nicht vollendet haben“. Allerdings sollen ausnahmsweise bei einem unterlegenen Antragssteller die Kosten dann beigetrieben werden dürfen, „sofern seine finanziellen Verhältnisse dies zulassen. Dies wäre insbesondere bei einer vermögenden Person, die wider Treu und Glauben gehandelt hat, der Fall.“ Auch die Freizügigkeitsrichtlinie524 nimmt den „Schutz vor Missbrauch“ ihrer selbst in den Erwägungsgründen 15 und 28 ausdrücklich in den Blick. Auch sie überlässt in ihrem Art. 35 den Mitgliedstaaten ohne konkretere Vorgaben den Erlass von Maßnahmen, „die notwendig sind, um die durch diese Richtlinie verliehenen Rechte im Falle von Rechtsmissbrauch oder Betrug – wie z. B. durch Eingehung von Scheinehen – zu verweigern, aufzuheben oder zu widerrufen.“
Hier ist festzustellen, dass der europäische Gesetzgeber die Begriffe Rechtsmissbrauch und Betrug, die sich in der Rechtsprechung des Gerichtshofs ja häufig wiederfinden und dort teilweise nicht klar getrennt werden,525 im Zusammenhang mit einem Beispiel verwendet, dessen Einordnung in eine der zwei Kategorien offen bleibt. Als Scheinehen werden in der Regel solche formal gültig erfolgten Eheschließungen bezeichnet, die von beiden Ehepartnern von Anfang an nicht mit dem Ziel der Herstellung einer ehelichen Lebensgemeinschaft getätigt werden, sondern ausschließlich etwa der Beantragung einer entsprechenden Aufenthaltserlaubnis dienen.526 Zu vermuten ist hier allerdings, dass den Mitgliedstaaten hier schlicht möglichst weiter Spielraum bei der Bekämpfung von Missbrauch in einem Bereich verliehen werden sollte, der bis auf einige internationalprivatrechtliche Aspekte weitgehend unvereinheitlicht ist in dem die nationalen Rechtstraditionen als besonders wichtig empfunden werden; ob das Eingehen einer Scheinehe aus Sicht des nationalen Rechts dogmatisch eher als Missbrauch oder schon als Betrug verstanden wird, sollte für die Möglichkeit, Ausnahmen von der Freizügigkeitsrichtlinie vorzusehen, dann keine entscheidende Rolle spielen.
523 Verordnung (EG) Nr. 4/2009 des Rates vom 18. Dezember 2008 über die Zuständigkeit, das anwendbare Recht, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und die Zusammenarbeit in Unterhaltssachen, ABl. 2009 L 7/1. 524 Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG, ABl. 2004 L 158/77. 525 Vgl. auch unten bei Kapitel 2 Fn. 573. 526 In Deutschland kann eine solche Ehe nach § 1314 Abs. 2 Nr. 5 BGB auch gegen den Willen der Ehegatten aufgehoben werden.
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Kapitel 2 – Bestandsaufnahme und Analyse
III. Marktmissbrauch (Insidergeschäfte) Die Marktmissbrauchsrichtlinie527 dient der Sicherung von Marktintegrität durch die Verhinderung bzw. Sanktionierung von Marktmissbrauch, worunter Insidergeschäfte einerseits und Marktmanipulation andererseits verstanden werden (Erwägungsgrund 12). Die Begriffe der Insider-Information und der Marktmanipulation werden dabei in Art. 1 Nr. 1 und Nr. 2 der Richtlinie umfassend definiert. Dabei werden unter Insider-Informationen nach Art. 1 Nr. 1 der Richtlinie solche Informationen verstanden, die nicht öffentlich bekannt sind, einen Bezug zu einem Finanzinstrument haben und bei Bekanntwerden geeignet sind, dessen Kurs zu beeinflussen. Insider-Informationen dürfen von Personen, die diese aufgrund ihrer Stellung in der Geschäftsleitung des betreffenden Unternehmens, als dessen Mitarbeiter oder als Gesellschafter erlangt haben, nicht verwendet werden, Art. 2 Abs. 1. Diese Situation lässt sich sehr gut mit Offenlegungspflichten vergleichen, wie sie auch das englische Recht im Sinne der uberrima fides kennt.528 Danach kann gerade bei einem spekulativen Geschäft derjenige, der aufgrund seiner Stellung über ein überlegenes Wissen verfügt, zur Offenlegung desselben verpflichtet sein. Die Nichtaufdeckung solcher Umstände wird also als unfair bzw. als Verstoß gegen Treu und Glauben gewertet. Genauso liegt es hier – die Preisbildung am Finanzmarkt kann nur dann wettbewerblich und fair verlaufen, wenn sie aufgrund öffentlich verfügbarer Informationen erfolgt und die Marktteilnehmer hierauf auch vertrauen dürfen. Da die mit einem Unternehmen verbundenen und ggf. zeitweise über einen entsprechenden Informationsvorsprung verfügenden Personen ihre Kenntnisse regelmäßig aus anderen rechtlichen Gründen – nämlich ihren Treuepflichten gegenüber dem Unternehmen – nicht aufdecken können, müssen sie also in gewissem Umfang auf einen Handel mit den Finanzinstrumenten des jeweiligen Unternehmens verzichten. Auch dieser Spezialfall eines Missbrauchs liegt also sehr nahe am klassisch-zivilrechtlichen Maßstab von Treu und Glauben. Die Marktmanipulation als zweite Missbrauchsmöglichkeit fügt sich hier ein; sie stellt gewissermaßen den umgekehrten Fall da und zeichnet sich also nicht durch das Verschweigen der Kenntnis zutreffender Informationen, sondern durch die Kundgabe falscher oder irreführender Signale aus, die im Zusammenhang mit dem Handel mit Finanzinstrumenten abgegeben werden (Art. 1 Nr. 2 der Marktmissbrauchsrichtlinie). Dass eine solche bewusste Irreführung ebenfalls gegen Treu und Glauben verstößt, zeigt bereits das Verbot der irreführenden Geschäftshandlungen in der UGP-Richtlinie,529 das zudem ja auch auf die Richtlinie 2003/6/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28. Januar 2003 über Insider-Geschäfte und Marktmanipulation, ABl.2003 L 96/16. 528 Siehe oben S. 43 ff. 529 Vgl. Art. 6 f. sowie die schwarze Liste im Anhang der UGP-Richtlinie; siehe im Einzelnen unten S. 245 ff. 527
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Bewertung allgemeiner Geschäftsbedingungen nach der Klauselrichtlinie durchschlagen kann.530 Insofern fügt sich also auch ein Spezialfall wie die Marktmissbrauchsrichtlinie gut in das allgemeine Konzept von Treu und Glauben im Unionsprivatrecht ein, obwohl dieser Rechtsakt den Grundsatz nicht im Wortlaut erwähnt, sondern abermals nur auf den Begriff des Missbrauchs abstellt. IV. Missbräuchliche Berufung auf Unionsrecht in der Rechtsprechung des EuGH Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ist eine wichtige Säule der Untersuchung über Treu und Glauben im Unionsprivatrecht. Der EuGH hat diesen und ähnliche Grundsätze – hier ist insbesondere das Verbot des Rechtsmissbrauchs zu nennen – mittlerweile in einer Vielzahl von Fällen auch dann herangezogen, wenn der entsprechende Rechtsakt keine ausdrückliche Verpflichtung auf Treu und Glauben oder einen sonstigen Missbrauchsvorbehalt enthielt. Die Rechtsprechung ist wegen ihrer Losgelöstheit von einer entsprechenden Anordnung des Grundsatzes im einzelnen Rechtsakt sogar von besonderem Interesse, weil die Untersuchung ja gerade auch die allgemeine Geltung des Grundsatzes von Treu und Glauben zum Gegenstand hat. Der Problemkreis der missbräuchlichen Berufung auf Unionsrecht ist keine genuin privatrechtlicher und hat sich insbesondere anhand der Grundfreiheiten entwickelt. Die zugrunde liegenden Beispiele stammen dabei insbesondere aus dem Bereich des grenzüberschreitenden Gesellschafts- und Steuerrechts. So hat der Gerichtshof einerseits in den sog. Zuzugsfällen die Eintragung der Niederlassung einer Gesellschaft im Nicht-Sitzstaat531 und ihre Rechts- und Parteifähigkeit vor Gerichten des Nicht-Sitzstaates vorgeschrieben532 sowie eine Sonderanknüpfung, die die Niederlassung einer Scheinauslandsgesellschaft besonderen Regeln unterwirft, für unzulässig erachtet.533 Er hat damit praktisch kaum mehr einen Raum für Einschränkungen wegen Missbrauchs gelassen. Dagegen hat er im Steuerrecht, z. B. in der Rs. Cadbury Schweppes, unionsautonome Maßstäbe des Rechtsmissbrauchs aufgestellt.534 Danach sind – vereinfacht gesagt – solche Gestaltungen nicht von den Grundfreiheiten geschützt, die „rein künstlich“ sind und nur der Steuervermeidung Siehe oben S. 104 ff. EuGH, 9.3.1999, Rs. C-212/97 Centros Ltd. ./. Erhvervs- og Selskabsstyrelsen, Slg. 1999 I-01459. 532 EuGH, 5.11.2002, Rs. C-208/00 Überseering ./. Nordic Construction Company Baumanagement GmbH, Slg. 2002 I-09919. 533 EuGH, 30.9.2003, Rs. C-167/01 Kamer van Koophandel en Fabrieken voor Amsterdam ./. Inspire Art Ltd., Slg. 2003 I-10155. 534 EuGH, 12.9.2006, Rs. C-196/04 Cadbury Schweppes ./. Commissioners of Inland Revenue, Slg. 2006 I-07995. 530 531
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dienen. Das soll aber jedenfalls dann nicht der Fall sein, wenn etwa eine beherrschte ausländische Gesellschaft ungeachtet des Vorhandenseins steuerlicher Motive tatsächlich im Aufnahmemitgliedstaat angesiedelt ist und dort wirklichen wirtschaftlichen Tätigkeiten nachgeht. Zu unterscheiden ist grundsätzlich zwischen der missbräuchlichen Berufung auf Unionsrecht – in der Regel Grundfreiheiten – zum Zweck der Umgehung zwingenden nationalen Rechts einerseits und dem Missbrauch, vor allem der Erschleichung, unionsrechtlicher Bestimmungen als solcher andererseits.535 1. Grundfreiheiten Größte Bedeutung für die Unionsrechtsordnung hat die Rechtsprechung zu den Grundfreiheiten, die bestimmte Bereiche etwa des Gesellschaftsrechts oder des Steuerrechts, für die die Europäische Union als solche gar keine Gesetzgebungszuständigkeit hatte, gründlich umgewälzt hat. Mit der Frage der Reichweite der Grundfreiheiten ging dabei aber regelmäßig auch – etwa in Gestalt eines entsprechenden Einwandes von Seiten des betroffenen Mitgliedstaats – die Frage ihres Missbrauchs einher. Allerdings betreffen die in diesem Bereich entstandenen Missbrauchskonstellationen regelmäßig das Verhältnis zwischen Bürger und Staat und sind damit nicht unbesehen auf das Privatrecht zu übertragen. a) Umgehung zwingenden nationalen Rechts Schon früh im Verlauf der europäischen Integration haben sich Rechtsunterworfene versucht gefühlt, auf dem Umweg über das europäische Recht bestimmten zwingenden Bestimmungen ihres nationalen Rechts auszuweichen. In der Rs. Van Binsbergen536 ging es darum, dass die Niederlande einen Prozessbevollmächtigten nicht mehr zulassen wollten, weil er seinen Wohnsitz nach Belgien verlegt hatte. Der EuGH bejahte im Ergebnis die Vereinbarkeit dieser nationalen Vorschrift mit der Dienstleistungsfreiheit. Auch wenn der Grund der Wohnsitzverlegung wohl ein anderer gewesen sein dürfte, führt der Gerichtshof aus, dass Regeln erlassen werden dürfen, die „[…] verhindern sollen, daß der Erbringer einer Leistung, dessen Tätigkeit ganz oder vorwiegend auf das Gebiet dieses Staates ausgerichtet ist, sich die durch Artikel 59 garantierte Freiheit zunutze macht, um sich den Berufsregelungen zu entziehen, die auf ihn Anwendung fänden, wenn er im Gebiet dieses Staates ansässig wäre […].“537
Siehe etwa Baudenbacher, ZfRV 2008, 205 ff. sowie zum Steuerrecht ausführlich Englisch, StuW 2009, 3, 5 ff. und 9 ff. 536 EuGH, 3.12.1974, Rs. 33/74 Johannes Henricus Maria van Binsbergen ./. Bestuur van de Bedrijfsvereniging voor de Metaalnijverheid, Slg. 1974, S. 01299. 537 Rn. 13 des Urteils in der Rs. 33/74 van Binsbergen. 535
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Damit war die Missbrauchsproblematik im Bereich der Grundfreiheiten erstmalig angesprochen. Die Rs. Knoors538 betraf einen Heizungsinstallateur niederländischer Staatsbürgerschaft, dessen an seinem Wohnsitz in Belgien erlangte Qualifikation die niederländischen Behörden nicht anerkannten. Der Gerichtshof hat hier abermals ausgeführt, „[…] daß ein Mitgliedstaat ein berechtigtes Interesse daran haben kann, zu verhindern, daß sich einige seiner Staatsangehörigen unter Mißbrauch der durch den Vertrag geschaffenen Erleichterungen der Anwendung ihrer nationalen Berufsausbildungsvorschriften zu entziehen versuchen.“539
Allerdings hat er im konkreten Fall das Bestehen einer solchen Gefahr verneint. b) Export und sofortiger Reimport Eine Fallgruppe, in der der ausschließliche Zweck der künstlichen Schaffung von Anknüpfungstatsachen besonders klar hervortritt, bilden die Fälle des Exports und sofortigen Reimports von Waren. In der Rs. Leclerc540 hatten die Leclerc-Supermärkte Bücher unterhalb eines durch die Buchpreisbindung gesetzlich vorgeschriebenen Preises angeboten. Der Export und sofortige Reimport der Bücher diente dazu, diese in den Anwendungsbereich der Grundfreiheiten zu bringen. Der Gerichtshof urteilte, dass die Anwendung der Buchpreisbindung auf reimportierte Bücher eine nach dem Vertrag verbotene Maßnahme gleicher Wirkung wie mengenmäßige Beschränkungen darstellte. Er stellte dies aber sogleich unter eine entscheidende Einschränkung541: „Dies gilt allerdings nicht, wenn sich aus objektiven Umständen ergeben sollte, daß die betreffenden Bücher allein zum Zwecke ihrer Wiedereinfuhr ausgeführt worden sind, um eine gesetzliche Regelung wie die hier vorliegende zu umgehen.“
Hier setzt der Missbrauch als zulässige Ausnahme von den Grundfreiheiten also bereits den alleinigen Zweck der Umgehung voraus, der sich allerdings allein aus den objektiven Umständen ergeben kann. In der Rs. General Milk542 war das Ziel der Volte – hier wurde Cheddar-Käse aus Neuseeland nach Deutschland eingeführt und sogleich in andere Mitgliedstaaten wieder ausgeführt – der Erhalt sog. Währungsausgleichsbeträge, obwohl bei der Einfuhr nach Deutschland keine entsprechenden (nega-
EuGH, 7.2.1979, Rs. 115/78 J. Knoors ./. Staatssecretaris van Economische Zaken, Slg. 1979, S. 00399. 539 Rn. 25 f. des Urteils in der Rs. 115/78 Knoors. 540 EuGH, 10.1.1985, Rs. 229/83 Association des Centres distributeurs Édouard Leclerc u. a. ./. SARL „Au blé vert“ u. a., Slg. 198,5 S. 00001. 541 Rn. 26 f. des Urteils in der Rs. 229/83 Leclerc. 542 EuGH, 3.3.1993, Rs. 8/92 General Milk Products GmbH ./. Hauptzollamt HamburgJonas, Slg. 1993 I-00779. 538
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tiven) Währungsausgleichsbeträge gezahlt wurden.543 Diese waren nach der von General Milk vertretenen und vom EuGH grundsätzlich bestätigten Auslegung nach dem damals geltenden Unionsrecht zu zahlen.544 Allerdings macht der Gerichtshof eine Einschränkung für den Fall, dass „[…] nachgewiesen wäre, daß die Einfuhr und die Wiederausfuhr dieses Käses nicht im Rahmen normaler Handelsgeschäfte, sondern nur zu dem Zweck getätigt wurden, die Gewährung von Währungsausgleichsbeträgen mißbräuchlich auszunutzen […]. Die tatsächliche Prüfung, ob es sich um ein Scheingeschäft gehandelt hat, fällt in die Zuständigkeit des vorlegenden Gerichts.“545
Hier bestätigt der Gerichtshof, dass es für die Missbräuchlichkeit einer Rechtsausübung entscheidend auf ihre Zweckwidrigkeit ankommt, wobei der missbilligte, sachfremde Zweck zugleich der einzige Zweck der entsprechenden Handlung bzw. des Rechtsgeschäfts sein muss. Nicht ohne die Gefahr von Missverständnissen zu erzeugen, führt der Gerichtshof hier zudem den Begriff des Scheingeschäfts in die Diskussion ein, der hier insofern unglücklich gewählt erscheint, als die fraglichen Transaktionen ja tatsächlich getätigt wurden. In der Sache lässt der EuGH das nationale Gericht mit einer schwierigen Entscheidung zurück, denn tatsächlich war es hier wohl keineswegs so, dass der Cheddar nur deswegen den Umweg über Deutschland nahm, um damit Währungsausgleichsbeträge zu generieren.546 Vielmehr erscheint es auch durchaus plausibel, dass der Käse schlicht im Hamburger Hafen angelandet und von dort dann innerhalb der Gemeinschaft weiterverteilt wurde. Der Bezug von Währungsausgleichsbeträgen würde dann nicht den einzigen Zweck, sondern einen reinen Mitnahmeeffekt der Einfuhr und Wiederausfuhr aus Deutschland darstellen. Diese Rechtsprechung festigt sich in weiteren wichtigen Entscheidungen zur Ein- und Ausfuhr von Waren. In der Rs. Emsland-Stärke547 ging es abermals um die Missbräuchlichkeit der Ausnutzung einer sekundärrechtlichen Vorschrift, die hier die Gewährung von Ausfuhrerstattungen für landwirtschaftliche Erzeugnisse vorsah, die das Gebiet der Europäischen Union verließen. Die Emsland-Stärke GmbH exportierte Stärkeprodukte in die Schweiz, die allerdings unmittelbar nach der entsprechenden zollrechtlichen Abfertigung unverändert und mit demselben Transportmittel nach Deutschland zurücktransportiert und dort wieder eingeführt wurden. Nachdem die Zollfahn543 Ausführlich erläutert ist das Zustandekommen dieser Rechtslage in den Schlussanträgen des Generalanwalts Marco Darmon vom 19.1.1993 in der Rs. 8/92 General Milk Products GmbH ./. Hauptzollamt Hamburg-Jonas, Slg. 1993 I-00779. 544 Rn. 15–20 des Urteils in der Rs. 8/92 General Milk. 545 Rn. 21 des Urteils in der Rs. 8/92 General Milk. 546 Schlussanträge des Generalanwalts Marco Darmon in der Rs. 8/92 General Milk, Rn. 46. 547 EuGH, 14.12.2000, Rs. C-110/99 Emsland-Stärke GmbH ./. Hauptzollamt HamburgJonas, Slg. 2000 I-11569.
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dung hiervon erfuhr, forderte sie die gewährten Ausfuhrerstattungen zurück. Der EuGH war nun dazu berufen, zu entscheiden, ob die entsprechende Verordnung solche Rückforderungen unter dem Gesichtspunkt des Rechtsmissbrauchs zulässt. Er stellte fest, dass zwar die formellen Voraussetzungen für die Gewährung der Ausfuhrerstattungen erfüllt waren, dass aber die konkreten Umstände des Ausgangsverfahrens auf einen Missbrauch hindeuten würden, da die Ausfuhr aus rein formalen Gründen stattfinde. In solchen Fällen fände eine EU-Verordnung aber keine Anwendung. Allerdings setzte die Feststellung des Missbrauchs voraus, dass „[…] zum einen […] eine Gesamtwürdigung der objektiven Umstände ergibt, dass trotz formaler Einhaltung der gemeinschaftsrechtlichen Bedingungen das Ziel der Regelung nicht erreicht wurde“
und „[z]um anderen setzt sie ein subjektives Element voraus, nämlich die Absicht, sich einen gemeinschaftsrechtlich vorgesehenen Vorteil dadurch zu verschaffen, dass die entsprechenden Voraussetzungen willkürlich geschaffen werden. Der Beweis für das Vorliegen dieses subjektiven Elements kann u. a. durch den Nachweis eines kollusiven Zusammenwirkens zwischen dem in der Gemeinschaft ansässigen Ausführer, der die Erstattungen erhält, und dem Einführer der Ware im Drittland erbracht werden.“548
Dabei sei es Sache des nationalen Gerichts, festzustellen, ob diese beiden Voraussetzungen im Einzelfall vorlägen. Ihre Bestätigung findet diese Rechtsprechung in der Rs. Vonk Dairy Products.549 Dort hat der Gerichtshof zum Nachweis der Missbräuchlichkeit bei der Gewährung von Ausfuhrerstattungen ausgeführt, dieser setze „[…] zum einen voraus, dass eine Gesamtwürdigung der objektiven Umstände ergibt, dass trotz formaler Einhaltung der gemeinschaftsrechtlichen Bedingungen das Ziel der Regelung nicht erreicht wurde, und zum anderen ein subjektives Element, nämlich die Absicht, sich einen gemeinschaftsrechtlich vorgesehenen Vorteil dadurch zu verschaffen, dass die entsprechenden Voraussetzungen künstlich geschaffen werden […]. Der Beweis für das Vorliegen dieses subjektiven Elements kann u. a. durch den Nachweis eines kollusiven Zusammenwirkens zwischen dem Ausführer, der die Erstattungen erhält, und demjenigen, der die Ware in ein anderes Drittland als das Einfuhrland einführt, erbracht werden.“
Eine ähnliche Konstellation betraf die Rs. Halifax,550 in der es um einen Gestaltungsmissbrauch in Form einer Normerschleichung551 ging, bei der künstlich eine Anrechenbarkeit von Umsatzsteuer als Vorsteuer nach der Sechsten Rn. 50 ff. des Urteils in der Rs. C-110/99 Emsland-Stärke. EuGH, 11.1.2007, Rs. C-279/05 Vonk Dairy Products BV ./. Productschap Zuivel, Slg. 2007 I-00239. 550 EuGH, 21.2.2006, Rs. C-255/02 Halifax plc, Leeds Permanent Development Services Ltd und County Wide Property Investments Ltd ./. Commissioners of Customs & Excise, Slg. 2006 I-01609. 551 Zur Unterscheidung der verschiedenen Kategorien siehe einführend oben S. 66 ff. 548 549
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Richtlinie552 herbeigeführt werden sollte. Der Gerichtshof entschied, dass Umsätze, die „ausschließlich in der Absicht getätigt werden, einen Steuervorteil zu erlangen, und sonst keinen wirtschaftlichen Zweck verfolgen“ zwar objektiv in den Anwendungsbereich der Richtlinie fallen. Allerdings sei die Richtlinie so auszulegen, dass das Recht auf Vorsteuerabzug ausgeschlossen sei, wenn die es begründenden Umsätze eine missbräuchliche Praxis darstellten. Deren Feststellung erfordere „[…] zum einen, dass die fraglichen Umsätze trotz formaler Anwendung der Bedingungen der einschlägigen Bestimmungen der Sechsten Richtlinie und des zu ihrer Umsetzung erlassenen nationalen Rechts einen Steuervorteil zum Ergebnis haben, dessen Gewährung dem mit diesen Bestimmungen verfolgten Ziel zuwiderlaufen würde. Zum anderen muss auch aus einer Reihe objektiver Anhaltspunkte ersichtlich sein, dass mit den fraglichen Umsätzen im Wesentlichen ein Steuervorteil bezweckt wird.“553
Die Beurteilung der Zweckwidrigkeit im Einzelfall sei dabei Sache des nationalen Gerichts.554 Dabei wird man nach der allgemeinen Kompetenzverteilung im Vorabentscheidungsverfahren aber wiederum nur zu dem Schluss kommen können, dass die verbindliche Festlegung des Zwecks einer unionsrechtlichen Bestimmung nur durch den EuGH erfolgen kann, während es dem mitgliedstaatlichen Tatrichter dann nur zukommen kann, zu ermitteln, ob die ihm vorliegenden Tatsachen einen Verstoß gegen diesen Zweck tragen. In der Zusammenschau dieser Entscheidungen zeigt sich also, dass der Missbrauchsbegriff des Gerichtshofs hier neben der objektiven Zweckwidrigkeit der Transaktion im Hinblick auf das in Anspruch genommene Recht aus der Unionsrechtsordnung auch einen entsprechenden Vorsatz, also ein subjektives Element, voraussetzen soll. Dessen Ermittlung wird zwar im Ergebnis den nationalen Gerichten überlassen, allerdings nennt der EuGH hier Kriterien wie etwa einen „rein willkürlichen Charakter“ dieser Umsätze, wirtschaftliche oder personelle Verflechtungen zwischen den Unternehmen555 – die etwa auf eine „Verschiebung“ von Umsätzen innerhalb derselben wirtschaftlichen Einheit hindeuten würden – oder, im Fall der Ausfuhrerstattungen, ein kollusives Zusammenwirken zwischen dem die Erstattungen vereinnahmenden Ausführer und dem Einführer der Ware im Drittland oder einen Weiterverkauf der Ware innerhalb des Drittlandes an ein mit dem Käufer verbundenes Unternehmen.556 In der Sache geht es bei der Feststellung des subjektiven Elements darum, dass die jeweils vorliegende Konstruktion gera552 Sechste Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage, ABl. 1977 L 145/1. 553 Rn. 74 f. des Urteils in der Rs. C-255/02 Halifax. 554 Rn. 74 f. des Urteils in der Rs. C-255/02 Halifax. 555 Rn. 81 des Urteils in der Rs. C-255/02 Halifax. 556 Rn. 53 und 58 des Urteils in der Rs. C-110/99 Emsland-Stärke.
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de (und ausschließlich) zu dem Zweck errichtet wurde, der dem Zweck der jeweiligen Regel zuwider läuft. Festgestellt wird dies anhand objektiver Indizien. In der Sache fallen damit solche Fälle aus dem Missbrauchsverbot heraus, in denen zwar objektiv der Zweck der jeweiligen Regelung verfehlt wird, wobei dies aber zufällig und nicht planmäßig erfolgt. Zu denken wäre etwa an Mitnahmeeffekte. Es ist zu vermuten, dass der Gerichtshof mit dem zusätzlichen Kriterium der willkürlichen Herbeiführung insgesamt schlicht verhindern wollte, dass die Mitgliedstaaten das Missbrauchsverbot allzu leichtfertig anwenden bzw. auf zu viele Fallkonstellationen ausdehnen. Daneben ist anzumerken, dass insbesondere das in der Rs. Halifax definierte Verbot des Rechtsmissbrauchs eine äußere Schranke darzustellen scheint, die sich also nicht schon aus einer teleologischen Auslegung, d. h. aus inhärenten Schranken des jeweils betroffenen Rechts selbst ergibt.557 Hierfür spricht insbesondere, dass der Gerichtshof ausführt, die tatbestandlichen Voraussetzungen der Richtlinie seien zwar eigentlich erfüllt, das Recht auf Vorsteuerabzug aber nach einem „grundsätzliche[n] Verbot missbräuchlicher Praktiken“558 für ausschließbar erklärt. In den Schlussanträgen559 hatte Generalanwalt Poiares Maduro hierzu noch ausgeführt, dass „dieses Missbrauchsverbot als ein die Auslegung des Gemeinschaftsrechts beherrschender Grundsatz wirkt. Ein entscheidender Faktor bei der Feststellung eines Missbrauchs ist offenbar der teleologische Geltungsbereich der geltend gemachten Gemeinschaftsregelung. Dieser muss definiert werden, um festzustellen, ob der erhobene Anspruch, soweit er nicht offensichtlich außerhalb des Geltungsbereichs dieser Vorschriften liegt, von diesen tatsächlich verliehen wird. Dies erklärt, warum der Gerichtshof sich häufig nicht auf den Rechtsmissbrauch, sondern einfach auf den Missbrauch bezieht.“
Von dieser Herangehensweise, die sich eher im Sinne der sog. „Innentheorie“ bzw. des Rechtsmissbrauchs als Facette der teleologischen Auslegung liest, scheint sich der EuGH selbst im Urteil Halifax aber abzusetzen.560 Siehe zu dieser Unterscheidung etwa Fleischer, JZ 2003, 865, 870 ff. sowie Schön, in: Wank, Festschrift für H. Wiedemann, S. 1271, 1282 ff. 558 Rn. 70 des Urteils in der Rs. C-255/02 Halifax. 559 Schlussanträge des Generalanwalts Miguel Poiares Maduro vom 7.4.2005, Rs. C-255/02 Halifax plc, Leeds Permanent Development Services Ltd und County Wide Property Investments Ltd ./. Commissioners of Customs & Excise, Slg. 2006 I-01609. 560 Siehe hierzu auch noch die Schlussanträge des Generalanwalts Antonio Mario La Pergola vom 16.7.1998 in der Rs. C-212/97 Centros Ltd. ./. Erhvervs- og Selskabsstyrelsen, Slg. 1999 I-01459, Rn. 20, die das Verbot des Rechtsmissbrauchs auch eher als Spielart der teleologischen Auslegung zu sehen scheinen: „Seine konkrete Ausgestaltung ist allerdings keine leichte Aufgabe. […] Im Übrigen ist, wie die Lehre aufgezeigt hat, die berühmte Definition des französischen Zivilrechtlers Planiol, daß „das Recht dort aufhört, wo der Mißbrauch anfängt“, nach wie vor aktuell. Diese Aussage zeigt in aller Deutlichkeit, daß die Problematik des Mißbrauchs letztlich in eine Definition der inhaltlichen Tragweite der subjektiven Rechtsposition und damit des Bereichs der Befugnisse mündet, die dem Inhaber zugestanden werden. Die Prüfung, ob die konkrete Ausübung eines Rechts mißbräuch557
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c) Gesellschaftsrecht: Wegzugs- und Zuzugsfälle In den Fokus einer größeren (Fach-)Öffentlichkeit ist die Rechtsprechung zu den Grundfreiheiten gerückt, als der Gerichtshof darüber zu urteilen hatte, inwieweit ausländische Gesellschaftsformen in anderen Mitgliedstaaten zugelassen werden müssen. Traditionellerweise verlangten viele Mitgliedstaaten, dass dort niedergelassene Gesellschaften – damit auch etwa Tochtergesellschaften ausländischer Mütter – sowie teils auch einfache Niederlassungen bzw. Betriebsstätten ausländischer Gesellschaften, im Inland gegründet und/oder eingetragen sein müssen. Hiermit wurde u. a. das Ziel verfolgt, zwingende Vorschriften des nationalen Gesellschaftsrechts – bspw. Mindestkapitalanforderungen – durchzusetzen. Ähnliche Vorschriften gab es auch auf der anderen Seite, also beim Wegzug von Gesellschaften, der nur in Gestalt einer Liquidierung und anschließenden Neugründung im Zielstaat möglich sein sollte. Hiermit dürften hauptsächlich steuerrechtliche Ziele verfolgt worden sein. So sollte etwa verhindert werden, dass in einer Gesellschaft angesammelte Gewinne, die aber noch nicht voll versteuert worden waren – etwa nicht ausgeschüttete Dividenden oder im Wert gestiegene Vermögensgegenstände, bei denen der Veräußerungsgewinn aber noch nicht verwirklicht worden war – vor dem Wegzug nicht realisiert wurden und damit auch nicht steuerlich erfasst werden konnten. In der Rs. Daily Mail561 hat der Gerichtshof entschieden, dass die Bestimmungen des EWG-Vertrags über die Niederlassungsfreiheit „[…] beim derzeitigen Stand des Gemeinschaftsrechts einer Gesellschaft, die nach dem Recht eines Mitgliedstaats gegründet ist und in diesem ihren satzungsmässigen Sitz hat, nicht das Recht gewähren, den Sitz ihrer Geschäftsleitung in einen anderen Mitgliedstaat zu verlegen.“562
Da die Mitgliedstaaten insoweit nicht verpflichtet waren, den Wegzug einer Gesellschaft als Ganzes zu tolerieren, stellte sich die Frage eines Missbrauchs der Niederlassungsfreiheit nicht. Allerdings stand sie sehr wohl im Hintergrund der Entscheidung: Daily Mail wollte ihren Sitz aus dem Vereinigten Königreich in die Niederlande verlegen, um anschließend bestimmte Papiere zu verkaufen und der Zahlung von Steuern auf den zu erwartenden, erheblichen Veräußerungsgewinn zu entgehen.563 Das englische Recht machte diese Verlegung jedoch von einer Zustimmung der Finanzbehörden abhängig, die ihre Zustimmung wiederum nicht bedingungslos erteilten, sondern sicherzulich ist oder nicht, bedeutet mit anderen Worten nichts anderes, als die inhaltliche Tragweite des Rechtes selbst zu ermitteln.“ 561 EuGH, 27.9.1988, Rs. 81/87 The Queen ./. H. M. Treasury and Commissioners of Inland Revenue, ex parte Daily Mail and General Trust plc., Slg. 1988, S. 05483. 562 Rn. 25 des Urteils in der Rs. 81/87 Daily Mail. 563 Rn. 7 des Urteils in der Rs. 81/87 Daily Mail.
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stellen versuchten, dass zumindest ein Teil der Veräußerungsgewinne im Vereinigten Königreich besteuert werden konnten. In einer Reihe von Entscheidungen zur Niederlassungsfreiheit in sogenannten „Zuzugsfällen“ hat der Gerichtshof das internationale Gesellschaftsrecht dann jedoch grundlegend verändert. Unter dem Stichwort „Zuzugsfälle“ werden dabei solche Fälle diskutiert, in denen die in einem Mitgliedstaat gegründete Gesellschaft in einem anderen Mitgliedstaat eine Niederlassung gründen will oder ganz dorthin transferiert werden soll und dabei im Zielstaat auf Hindernisse rechtlicher Art stößt. Diese Hindernisse können etwa darin bestehen, dass die Niederlassung bzw. die Gesellschaft sich dort nicht eintragen lassen kann, nicht als rechtsfähig behandelt oder sonst besonderen, nachteiligen Regeln unterworfen wird. Der EuGH hat hier mehrfach zuzugsfreundlich entschieden. So muss die Niederlassung einer Gesellschaft im Nicht-Sitzstaat eingetragen werden564 und ist vor Gerichten des Nicht-Sitzstaates als rechts- und parteifähig zu behandeln.565 Eine Sonderanknüpfung, die die Niederlassung einer (vorgeblichen Schein-)Auslandsgesellschaft besonderen Regeln unterwirft, ist unzulässig.566 Auf die Begründung der Ergebnisse im Einzelnen braucht für die Zwecke dieser Arbeit nicht eingegangen werden. Von Interesse ist jedoch, wie der Gerichtshof jeweils mit dem Einwand umgegangen ist, das Gebrauchmachen von der Niederlassungsfreiheit sei in Wahrheit ein Missbrauch selbiger, der einzig der Umgehung zwingender Vorschriften des Aufnahmestaats diene, etwa der Mindestkapitalvorgaben für haftungsbeschränkte Gesellschaften. In Centros hat der EuGH hierzu unter Bezugnahme auf seine vorherige Rechtsprechung zwar ausgeführt, dass „die mißbräuchliche oder betrügerische Berufung auf Gemeinschaftsrecht […] nicht gestattet [ist]“ und dass daher ein Mitgliedstaat „alle geeigneten Maßnahmen treffen [kann], um Betrügereien zu verhindern oder zu verfolgen“.567 Jedoch änderte dies nichts an der Hauptaussage des Urteils, wonach nämlich die Tatsache, dass „eine Gesellschaft in dem Mitgliedstaat, in dem sie ihren Sitz hat, keine Geschäftstätigkeiten entfaltet und ihre Tätigkeit ausschließlich im Mitgliedstaat ihrer Zweigniederlassung ausübt […] noch kein mißbräuchliches und betrügerisches Verhalten, das es dem letzteren Mitgliedstaat erlauben würde, auf diese Gesellschaft die Gemeinschaftsvorschriften über das Niederlassungsrecht nicht anzuwenden [darstellt].“568
EuGH, 9.3.1999, Rs. C-212/97 Centros Ltd. ./. Erhvervs- og Selskabsstyrelsen, Slg. 1999 I-01459. 565 EuGH, 5.11.2002, Rs. C-208/00 Überseering ./. Nordic Construction Company Baumanagement GmbH, Slg. 2002 I-09919. 566 EuGH, 30.9.2003, Rs. C-167/01 Kamer van Koophandel en Fabrieken voor Amsterdam ./. Inspire Art Ltd., Slg. 2003 I-10155. 567 Rn. 24 bzw. 38 des Urteils in der Rs. C-212/97 Centros. 568 Rn. 29 des Urteils in der Rs. C-212/97 Centros. 564
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Der Gerichtshof hat damit den Missbrauchseinwand zwar formal zugelassen, ihm in der Sache aber jeglichen Raum abgeschnitten. Die Rs. Überseering betraf dann einen Fall, in dem nicht eine Niederlassung, sondern die Gesellschaft selbst ihren Sitz aus den Niederlanden nach Deutschland verlegt hatte. So sahen es jedenfalls die deutschen Gerichte als zwingende Folge des Erwerbs der Gesellschaftsanteile von Überseering durch zwei deutsche Staatangehörige, während sie der Überseering dann aber nach der sog. „Sitztheorie“ in einem Rechtsstreit gegen eine deutsche Beklagte die Rechts- und Parteifähigkeit absprachen, weil diese nicht in Deutschland gegründet worden sei. Insofern lag hier der Sitzverlagerung anders als in Centros gar kein möglicherweise missbräuchliches Motiv zugrunde; vielmehr war sie als solche wahrscheinlich durch Überseering überhaupt nicht beabsichtigt. Insofern urteilte der EuGH hier auch mit Blick auf den Einzelfall konsequent, dass einer ausländischen Gesellschaft, die nach ihrem Heimatrecht Rechts- und Parteifähigkeit besitzt, selbige auch in einem anderen Mitgliedstaat gewährt werden muss, in den sie nach dessen Recht ihren Verwaltungssitz verlegt hat. Die Rs. Inspire Art betraf dagegen wieder einen Fall, der für die Diskussion des Missbrauchsgedankens großen Raum ließ. Inspire Art – als englische Private Limited Company gegründet – wollte über eine Zweigniederlassung in den Niederlanden aktiv werden. Dies war dort nur unter der Voraussetzung einer Anmeldung als „formal ausländische Gesellschaft“ im Handelsregister möglich, die wiederum mit zusätzlichen Auflagen verbunden war, weshalb Inspire Art sich gegen diese, von der Handelskammer Amsterdam verlangte Eintragung wehrte. Auch hier entschied der Gerichtshof im Ergebnis zugunsten von Inspire Art, indem er die Auferlegung zusätzlicher Offenlegungspflichten für mit Art. 2 der Elften Richtlinie569 sowie mit den Vorschriften des EG-Vertrages über die Niederlassungsfreiheit unvereinbar erklärte, soweit diese in der Richtlinie nicht vorgesehen sind bzw. sie Voraussetzungen des innerstaatlichen Rechts für die Gründung von Gesellschaften hinsichtlich etwa des Mindestkapitals oder der Geschäftsführerhaftung darstellen. Allerdings berücksichtigte der Gerichtshof den Missbrauchseinwand wie folgt im Tenor: „Die Gründe, aus denen die Gesellschaft in dem anderen Mitgliedstaat errichtet wurde, sowie der Umstand, dass sie ihre Tätigkeit ausschließlich oder nahezu ausschließlich im Mitgliedstaat der Niederlassung ausübt, nehmen ihr nicht das Recht, sich auf die durch den EG-Vertrag garantierte Niederlassungsfreiheit zu berufen, es sei denn, im konkreten Fall wird ein Missbrauch nachgewiesen.“570
Allerdings dürfte es hier um eine sehr enge Missbrauchsdefinition gehen, da der Gerichtshof zuvor unter Berufung auf die Rs. Centros ausführt, dass 569 Richtlinie 89/666/EWG des Rates vom 21. Dezember 1989 über die Offenlegung von Zweigniederlassungen, die in einem Mitgliedstaat von Gesellschaften bestimmter Rechtsformen errichtet wurden, ABl. 1989 L 395/36. 570 Rn. 105 des Urteils in der Rs. C-167/01 Inspire Art.
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„[d]ie Gründe, aus denen eine Gesellschaft in einem bestimmten Mitgliedstaat errichtet wird, […] nämlich, sieht man vom Fall des Betruges ab, für die Anwendung der Vorschriften über die Niederlassungsfreiheit irrelevant [sind].“
und „[…] dass der Umstand, dass eine Gesellschaft in einem Mitgliedstaat nur gegründet wurde, um in den Genuss vorteilhafterer Rechtsvorschriften zu kommen, keinen Missbrauch darstellt […]“.571
Es müsste also für das Verständnis des in der Rs. Inspire Art gemeinten Missbrauchsverbots geklärt werden, ob hiermit wirklich nur Betrug – also etwa die Vortäuschung von Anknüpfungstatsachen, die tatsächlich nicht bestehen – gemeint ist, oder ob auch andere Missbrauchskonstellationen umfasst sind. Im konkreten Fall betont der Gerichtshof zwar noch einmal, es sei „[…] bezüglich der Bekämpfung der missbräuchlichen Ausnutzung der Niederlassungsfreiheit daran zu erinnern, dass ein Mitgliedstaat berechtigt ist, Maßnahmen zu treffen, die verhindern sollen, dass sich einige seiner Staatsangehörigen unter Ausnutzung der durch den Vertrag geschaffenen Möglichkeiten in missbräuchlicher Weise der Anwendung des nationalen Rechts entziehen; die missbräuchliche oder betrügerische Berufung auf Gemeinschaftsrecht ist nicht gestattet […]“.572
Für den konkreten Fall kommt der Gerichtshof allerdings zu dem Ergebnis, dass das Ziel „der Anwendung des als strenger angesehenen niederländischen Gesellschaftsrechts zu entgehen“ von der Niederlassungsfreiheit gerade ermöglicht werden soll und die Errichtung einer Gesellschaft „in dem Mitgliedstaat […], dessen gesellschaftsrechtliche Vorschriften ihm die größte Freiheit lassen“, auch verbunden mit der anschließenden Gründung von Zweigniederlassungen in anderen Mitgliedstaaten, keinen Missbrauch, sondern die Ausübung der Niederlassungsfreiheit darstellt. Dies gelte selbst dann, wenn im Sitzstaat überhaupt keine Tätigkeit stattfände und diese nur an Zweigniederlassungen in anderen Mitgliedstaaten ausgeübt werde – hierin liege „noch kein missbräuchliches und betrügerisches Verhalten“.573 Für den Bereich der gesellschaftsrechtlich geprägten Zuzugsfälle, in denen es in der Sache um die Nutzung ausländischer Gesellschaftsformen in anderen Mitgliedstaaten zur Umgehung zwingender gesellschaftsrechtlicher Vorschriften geht, lässt sich damit Folgendes festhalten: Der EuGH betont zwar die Existenz eines Verbots der missbräuchlichen oder betrügerischen Berufung auf das Unionsrecht. Er verwischt dabei unnötigerweise die Grenze zwischen Missbrauch und Betrug.574 Vor allem beschränkt er den Missbrauch de facto aber auf Fälle des Betrugs. Ist die Auslandsgesellschaft dagegen 571 572 573 574
Rn. 95 bzw. 96 des Urteils Rs. C-167/01 Inspire Art. Rn. 136 des Urteils Rs. C-167/01 Inspire Art. Rn. 137, 138 bzw. 139 des Urteils Rs. C-167/01 Inspire Art. Für eine klare Trennung der beiden Kategorien auch Fleischer, JZ 2003, 865, 870.
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tatsächlich formal gegründet worden, so handelt es sich auch dann um ein zulässiges Gebrauchmachen von der Niederlassungsfreiheit, wenn hiermit zugleich der einzige Zweck verfolgt wird, zwingende Vorschriften des nationalen Rechts zu umgehen. Insofern weicht das hier anzuwendende Rechtsmissbrauchsverbot von demjenigen, wie es etwa im Bereich der Sekundärrechts festgestellt werden konnte, klar ab. d) Steuerrecht und Grundfreiheiten Deutlich differenzierter fällt dagegen wiederum die Rechtsprechung des EuGH im Bereich des Steuerrechts aus. Dieses stellt naturgemäß einen besonders sensiblen Bereich dar, weil effektive Steuervermeidungsmöglichkeiten die Grundlagen der Finanzierung der staatlichen Systeme der Mitgliedstaaten und damit auch der Union selbst beeinträchtigen können. Ein Binnenmarkt mit größten Freiheiten für die Niederlassung von natürlichen und juristischen Personen und mit einem freien Kapitalverkehr, aber mit unterschiedlichen – im Ausgangspunkt rein nationalen – Regeln zur Bemessungsgrundlage und zum Steuersatz bei der Unternehmensbesteuerung bietet findigen Steuerplanern mannigfaltige Möglichkeiten zur Steuervermeidung. Der nächstliegende Weg ist dabei sicher derjenige, innerhalb von Konzernstrukturen Gewinne möglichst bei Gesellschaften mit Sitz in Niedrigsteuerstaaten und umgekehrt Verluste bei Gesellschaften in Staaten mit hohen Steuersätzen anfallen zu lassen, um dort den Gewinn und damit die verbleibende Steuerlast zu verringern. Zu genau diesen beiden Möglichkeiten hatte der Europäische Gerichtshof darüber zu urteilen, ab wann solche Konstruktionen als Missbrauch von Grundfreiheiten anzusehen sind. Die Entscheidungen in den Rs. Marks & Spencer und Cadbury Schweppes sollen daher hier exemplarisch untersucht werden, um das Missbrauchsverbot von Grundfreiheiten im Bereich des Steuerrechts herauszuarbeiten. Die Rs. Marks & Spencer entstand in Folge einer wirtschaftlich weitgehend gescheiterten Expansion der britischen Kaufhauskette auf den europäischen Kontinent. Marks & Spencer hatte u. a. in Deutschland und Frankreich Filialen eröffnet und hierfür in diesen Staaten Tochterunternehmen gegründet. Die dort angefallenen Verluste wollte Marks & Spencer bei der in Großbritannien ansässigen, wirtschaftlich erfolgreicheren Mutter gewinnmindernd in Abzug bringen, was das englische Steuerrecht aber nur im Hinblick auf inländische Tochterunternehmen zuließ. Nach Ansicht von Marks & Spencer verstieß dies gegen die Niederlassungsfreiheit. Insofern stellt die Rechtssache jedenfalls keinen Missbrauchsfall dar, der gewissermaßen auf der Hand liegen würde: Die Verluste waren tatsächlich entstanden und konnten offenbar in den anderen Mitgliedstaaten nicht umfänglich geltend gemacht werden, weil Marks & Spencer sich aus diesen Märkten wieder vollständig zurückzog. Dem Gerichtshof war der Einwand des Missbrauchs im konkreten Fall auch nicht vorgetragen worden,
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allerdings war eine der für die englische Regelung als solche vorgetragenen Rechtfertigungen die Gefahr der Steuerflucht.575 Im Hinblick darauf führte der Gerichtshof aus, die Verhinderung konzerninterner Verlustübertragungen hin zu Gesellschaften in denjenigen Mitgliedstaaten mit den höchsten Steuersätzen sei als ein berechtigtes Ziel der englischen Regelung anzuerkennen.576 Bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung stellt der EuGH jedoch fest, dass ein allgemeiner Ausschluss der grenzüberschreitenden, konzerninternen Verlustverrechnung die Grenze des Erforderlichen überschreite. Die Verlustübertragung sei nämlich als milderes Mittel dann ausnahmsweise zuzulassen, wenn die ausländische Tochter sämtliche Möglichkeiten der Verlustberücksichtigung in ihrem Sitzstaat für die Vergangenheit ausgeschöpft habe und diese auch für die Zukunft nicht bestünden. Daneben sei aber „[…] noch hinzuzufügen, dass es den Mitgliedstaaten freisteht, nationale Maßnahmen beizubehalten oder zu erlassen, die speziell bezwecken, nur zur Umgehung des nationalen Steuerrechts oder zur Steuerflucht geschaffene Sachverhalte von einem Steuervorteil auszuschließen […]“.577
Die Rs. Cadbury Schweppes578 betraf die häufig vorkommende Konstellation, dass international tätige Konzerne Tochtergesellschaften an Orten errichten, an denen ein geringer Körperschaftssteuersatz gilt, und sich sodann bemühen, die Gewinne des Konzerns bei diesen Gesellschaften anfallen zu lassen, die im Ausgangspunkt ja selbständige Steuersubjekte sind.579 Vorliegend hatte Cadbury Schweppes entsprechende Tochtergesellschaften in Irland errichtet. Der britische Staat setzte sich hiergegen mittels der sog. Hinzurechnungsbesteuerung zur Wehr, wonach die Gewinne der ausländischen Tochter denen der in Großbritannien ansässigen Muttergesellschaft für steuerliche Zwecke hinzugerechnet werden, wenn der ausländische Steuersatz im Verhältnis zu dem in Großbritannien gültigen Steuersatz besonders niedrig ist und wenn die Gesellschaft nicht nachweisen kann, dass die Steuerminderung nicht das Hauptziel oder eines der Hauptziele der bei der Tochtergesellschaft angefallenen Umsätze war und dass der Existenzgrund der ausländischen Tochter „nicht hauptsächlich oder nicht unter anderem hauptsächlich darin lag, eine Steuerminderung im Vereinigten Königreich durch Abfluss von Gewinnen EuGH, 13.12.2005, Rs. C-446/03 Marks & Spencer plc ./. David Halsey (Her Majesty’s Inspector of Taxes), Slg. 2005 I-10837, Rn. 43. 576 Rn. 50 f. des Urteils in der Rs. C-446/03 Marks & Spencer. 577 Rn. 57 des Urteils in der Rs. C-446/03 Marks & Spencer, mit Verweis auf weitere Rechtsprechung des Gerichtshofs, auf die hier nicht im Einzelnen eingegangen werden soll. 578 EuGH, 12.9.2006, Rs. C-196/04 Cadbury Schweppes ./. Commissioners of Inland Revenue, Slg. 2006 I-07995. 579 Dies ist grundsätzlich etwa dadurch möglich, dass andere Gesellschaften diesen sog. Profitcentern hohe Zinsen oder Lizenzgebühren für die Nutzung einer Marke zahlen. 575
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Kapitel 2 – Bestandsaufnahme und Analyse
herbeizuführen“ (sog. Motivtest)580. Das im englischen Steuerrecht vorhandene Missbrauchsverbot stellte also auf den Zweck der Maßnahme ab, wobei sich sowohl die Gründung der Tochtergesellschaft als solche wie auch die Bewirkung der jeweiligen Umsätze – d. h.: die mögliche Verschiebung der Gewinne hin zur ausländischen Tochter – am Motivtest messen lassen müssen. Der EuGH hatte darüber zu entscheiden, ob diese Regelung mit den Grundfreiheiten – hier der Niederlassungsfreiheit und der Freiheit des Kapitalverkehrs – vereinbar sind. Der Gerichtshof führt unter Bezugnahme auf die Entscheidung Centros581 aus, dass auf das vom Steuerpflichtigen bei der Ausübung der Niederlassungsfreiheit verfolgte Ziel abzustellen sei. Der Niederlassungsbegriff setze insofern „eine tatsächliche Ansiedlung der betreffenden Gesellschaft im Aufnahmemitgliedstaat und die Ausübung einer wirklichen wirtschaftlichen Tätigkeit in diesem voraus“. Im Umkehrschluss dürfe die Niederlassungsfreiheit daher nur dann im Hinblick auf die Bekämpfung missbräuchlicher Praktiken beschränkt werden, „wenn das spezifische Ziel der Beschränkung darin liegt, Verhaltensweisen zu verhindern, die darin bestehen, rein künstliche, jeder wirtschaftlichen Realität bare Gestaltungen zu dem Zweck zu errichten, der Steuer zu entgehen, die normalerweise für durch Tätigkeiten im Inland erzielte Gewinne geschuldet wird.“582
Danach sind im Ausgangspunkt also solche Gestaltungen nicht von den Grundfreiheiten geschützt, die „rein künstlich“ sind und nur der Steuervermeidung dienen. Das soll aber jedenfalls dann nicht der Fall sein, wenn etwa eine beherrschte ausländische Gesellschaft ungeachtet des Vorhandenseins steuerlicher Motive tatsächlich im Aufnahmemitgliedstaat angesiedelt ist und dort realen wirtschaftlichen Tätigkeiten nachgeht. e) Gesellschaftsrecht: Rechte von Aktionären aus der Zweiten Richtlinie Die im Folgenden untersuchten Entscheidungen betreffen nicht den Missbrauch von Grundfreiheiten, sondern von Rechten aus einer Richtlinie. Sie sollen jedoch an dieser Stelle mitbehandelt werden, weil die Konstellation – Berufung auf tatsächlich existierende Rechte aus dem Unionsrecht zu sachfremden Zwecken – mit den oben behandelten gesellschaftsrechtlichen Fällen vergleichbar erscheint. Auf Vorlagen griechischer Gerichte sind hier mehrere wichtige Entscheidungen zur Frage der Anwendbarkeit nationaler Rechtsmissbrauchsverbote auf Rechte aus der Zweiten Richtlinie583 ergangen. Nach Siehe im Einzelnen Rn. 9 ff. des Urteils in der Rs. C-196/04 Cadbury Schweppes. Siehe oben S. 214 ff. 582 Rn. 54 ff. des Urteils in der Rs. C-196/04 Cadbury Schweppes. 583 Zweite Richtlinie 77/91/EWG des Rates vom 13. Dezember 1976 zur Koordinierung der Schutzbestimmungen, die in den Mitgliedstaaten den Gesellschaften im Sinne des Artikels 58 Absatz 2 des Vertrages im Interesse der Gesellschafter sowie Dritter für die 580 581
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deren Art. 25 Abs. 1 S. 1 muss „[j]ede Kapitalerhöhung […] von der Hauptversammlung beschlossen werden.“ Hiermit war ein griechisches Sanierungsgesetz insoweit unvereinbar, als es ermöglichte, die Geschäftsführung von Unternehmen in finanziellen Schwierigkeiten staatlichen Stellen zu übergeben, die dann u. a. eine zwangsweise Kapitalerhöhung anordnen konnten.584 Gegen solche Kapitalerhöhungen, die die Gesellschaftsanteile der jeweiligen Kläger am Gesamtkapital des Unternehmens entsprechend reduziert hatten, klagten diese unter Berufung auf die Zweite Richtlinie. Dem wollte das vorlegende Gericht jeweils Art. 281 des griechischen Zivilgesetzbuchs entgegenhalten, wonach die Ausübung eines Rechts unzulässig ist, wenn „sie die sich aus Treu und Glauben, aus den guten Sitten oder aus dem sozialen oder wirtschaftlichen Zweck des betreffenden Rechts ergebenden Schranken offensichtlich überschreitet“.585 Die Vorlagefrage zielte auf die Zulässigkeit der Anwendung dieses nationalen Missbrauchsverbots auf die Rechte aus der Richtlinie. In der Rs. Pafitis hatte der Gerichtshof bereits obiter angemerkt, dass die Anwendung eines nationalen Rechtsmissbrauchsverbots auf das Unionsrecht jedenfalls „die volle Wirksamkeit und die einheitliche Anwendung des Gemeinschaftsrechts in den Mitgliedstaaten nicht beeinträchtigen“ dürfe.586 Auf den konkreten Fall bezogen hatte er hinzugefügt, dass einem Aktionär, der sich auf Art. 25 Abs. 1 berufe, jedenfalls nicht schon deswegen missbräuchliches Verhalten vorgeworfen werden dürfe, „weil er Minderheitsaktionär einer Gesellschaft ist, die einer Sanierungsregelung unterliegt, oder weil er angeblich Vorteile aus der Sanierung der Gesellschaft gezogen hat“.587 In den Rs. Kefalas und Diamantis hat der EuGH die Anwendung nationaler Rechtsmissbrauchsverbote dann grundsätzlich zugelassen.588 Er hat aber gleichzeitig, um dem unionsrechtlichen Effektivitätsgrundsatz Geltung zu verschaffen, sehr konkrete Vorgaben dazu gemacht, welches Verhalten – in diesem Fall der klagenden Minderheitsaktionäre – jedenfalls von vornherein nicht als missbräuchlich angesehen werden könnte. Hierzu gehören die GelGründung der Aktiengesellschaft sowie für die Erhaltung und Änderung ihres Kapitals vorgeschrieben sind, um diese Bestimmungen gleichwertig zu gestalten, ABl. 1977 L 26/1. 584 EuGH, 30.5.1991, Verb. Rs. C-19/90 und C-20/90 Marina Karella und Nicolas Karellas ./. Ypourgio Viomichanias u. a., Slg. 1991 I-02691, Rn. 26. 585 EuGH, 23.3.2000, C-373/97 Dionysios Diamantis ./. Elliniko Dimosio, Organismos Oikonomikis Anasygkrotisis Epicheiriseon AE (OAE), Slg. 2000 I-01705, Rn. 13. 586 EuGH, 12.3.1996, Rs. C-441/93 Panagis Pafitis u. a. ./. Trapeza Kentrikis Ellados A.E. u. a., Slg. 1996 I-01347, Rn. 68. 587 Rn. 70 des Urteils in der Rs. C-441/93 Pafitis. 588 EuGH, 12.5.1998, C-367/96 Alexandros Kefalas u. a. ./. Elliniko Dimosio, Organismos Oikonomikis Anasygkrotisis Epicheiriseon AE (OAE), Slg. 1998 I-02843, dort Rn. 22, vgl. auch Rn. 21–27 der Schlussanträge; Rn. 34 der Rs. Diamantis; vgl. auch Rn. 22 der Schlussanträge.
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tendmachung des Rechts, die Kapitalerhöhung ausschließlich durch die Hauptversammlung vornehmen zu lassen auch in Fällen, in denen diese Kapitalerhöhung dem Aktionär vorteilhaft ist, obwohl der Aktionär von dem ihm im Rahmen der Kapitalerhöhung zustehenden Bezugsrechts keinen Gebrauch gemacht hat589 sowie in solchen Fällen, in denen der Aktionär die Unterstellung der Geschäftsführung an die vom griechischen Gesetz vorgesehenen staatlichen Stellen selbst beantragt hat.590 Dagegen soll eine Einstufung des Aktionärsverhaltens als missbräuchlich zulässig sein, „wenn einem sich auf Artikel 25 Absatz 1 der Zweiten Richtlinie berufenden Aktionär deshalb eine mißbräuchliche Rechtsausübung zur Last gelegt würde, weil er unter den verschiedenen Rechtsbehelfen, die für die Behebung einer durch einen Verstoß gegen diese Bestimmung entstandenen Lage zur Verfügung stehen, denjenigen ausgewählt hat, der den berechtigten Interessen Dritter einen derart schweren Schaden zufügt, daß er offensichtlich unverhältnismäßig ist.“591
Auch hier spielt also der Maßstab der Verhältnismäßigkeit der Ausübung von Rechtsbehelfen bei der Beurteilung ihrer Missbräuchlichkeit wieder eine entscheidende Rolle. Im Hinblick auf die vorherige Stellung des Antrags durch die jeweils klagenden Aktionäre selbst hätte allerdings der Einwand des venire contra factum proprium nahegelegen, den der Gerichtshof hier offenbar nicht gesehen hat oder jedenfalls nicht zur Anwendung bringen wollte. Die für die Bejahung eines missbräuchlichen Verhaltens gefundenen Kriterien, die den Aktionär jedenfalls zur Wahl desjenigen Rechtsbehelfs zwingen, der der Gesellschaft den geringeren Schaden zufügt, zeigen jedenfalls klar die Nähe zu typischen Treuepflichten, wie sie sich aus Treu und Glauben ergeben.592 Anzumerken ist zu diesen Entscheidungen – die ja die Anwendung nationaler Missbrauchsverbote auf das Unionsrecht betrafen – außerdem noch, dass Generalanwalt Tesauro in den Schlussanträgen zu den Rechtssachen Pafitis593 und Kefalas594 jeweils die Einordnung des Rechtsmissbrauchsverbots als allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts abgelehnt hat.595 Tesauro Rn. 26 des Urteils in der Rs. C-367/96 Kefalas. Rn. 36 des Urteils in der Rs. C-373/97 Diamantis. 591 Rn. 43 des Urteils in der Rs. C-373/97 Diamantis. 592 Guski, GPR 2009, 286, 291, spricht mit Blick auf die untersuchten Entscheidungen von einem „Gedanken des Rechtsverlusts durch Treueverstoß“. 593 Schlussanträge des Generalanwalts Giuseppe Tesauro vom 9.11.1995, Rs. C-441/93 Panagis Pafitis u. a. ./. Trapeza Kentrikis Ellados A.E. u. a., Slg. 1996 I-01347, Rn. 26–33. 594 Schlussanträge des Generalanwalts Giuseppe Tesauro vom 4. Februar 1998, Rs. C-367/ 96 Alexandros Kefalas u. a. ./. Elliniko Dimosio, Organismos Oikonomikis Anasygkrotisis Epicheiriseon AE (OAE), Slg. 1998 I-02843, Rn. 18–27. 595 Kritisch Ranieri, Verbot des Rechtsmissbrauchs und Europäisches Gemeinschaftsrecht, ZEuP 2001, 165, 171 ff. „überhaupt nicht überzeugend“, der nachweist, dass die Behauptung des Generalanwalts, das Rechtsmissbrauchsverbot habe in einigen Mitglied589 590
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begründet dies im Wesentlichen damit, dass eine gemeinsame Definition dieses Rechtsinstituts in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen fehle und dass die Gemeinschaftsrechtsordnung in ihrem damaligen Stadium einer solchen Regel gar nicht in dem Maße bedürfe, weil es dort „durch die Auslegungstätigkeit des Richters und die Praxis im allgemeinen leichter und sofort gelingt, das System den gesellschaftlichen Erfordernissen anzupassen.“596
Was Tesauro genau meint, bleibt offen. Wenn er sich darauf bezieht, dass das Rechtsmissbrauchsverbot insbesondere als Abhilfe beim Auftauchen ungewollter Lücken in einer Rechtsordnung diene, so erscheint die Schlussfolgerung, dass diese Funktion in – so der Generalanwalt wörtlich – „fest etablierten Rechtsordnungen“ wichtiger sein sollte als im horizontal fragmentarischen und vertikal nicht immer endgültig abgestimmten Unionsrecht doch sehr fraglich. Gerade hier ist ja die Funktion solcher Auffangklauseln, die dann auch einer einheitlichen Anwendung bedürfen, besonders wichtig. Als Definitionselemente eines allgemeinen Rechtsmissbrauchsverbots bleiben hier also insbesondere der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit – gerade im Hinblick auf durch die Rechtsausübung entstehende, schwere Schäden597 – sowie die offensichtliche Zweckwidrigkeit der Rechtsausübung festzuhalten.598 f)
Zwischenergebnis
Die angeklungene, dogmatische Unterscheidung zwischen Innen- und Außentheorie bzw. zwischen separatem, externen Rechtsmissbrauchsverbot oder dem Rechtsmissbrauch als Facette der teleologischen Auslegung zur Bestimmung des Umfangs eines Rechts selbst nach seinem Sinn und Zweck soll hier nicht weiter verfolgt werden, weil sie für die Zwecke dieser Untersuchung nicht zielführend ist. Gerade das immer wiederkehrende Merkmal der Zweckwidrigkeit der Rechtsausübung zeigt nämlich, dass auch ein etwaiges „äußeres“ staaten „bei weitem nicht die Bedeutung eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes erlangt“ so nicht zutrifft und jedenfalls sehr unzureichend begründet ist. An anderer Stelle bemängelt ders. im Hinblick auf Schlussanträge und Urteil in der Rs. C-367/96 Kefalas daher, es sei „ […] die Chance verpasst worden, einen zentralen Rechtsgedanken des Europäischen Privatrechts in der Judikatur des Gerichtshofs zu verankern.“ – siehe Ranieri, in: ders., Die Europäisierung der Rechtswissenschaft, S. 129, 142. Schön, in: Wank, Festschrift für H. Wiedemann, S. 1271, 1282 f. ist der Auffassung, der Generalanwalt habe erkannt, dass sich in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten keine hinreichenden Elemente fänden, um das Verbot des Rechtsmissbrauchs oder der Umgehung als allgemeine Rechtsgrundsätze im Sinne von Art. 340 Abs. 2 AEUV zu qualifizieren. Daher sei er von der entsprechenden Bezeichnung wieder abgerückt. 596 Rn. 23 der Schlussanträge in der Rs. C-367/96 Kefalas. 597 Rn. 43 des Urteils in der Rs. C-373/97 Diamantis. 598 Rn. 28 des Urteils C-367/96 Kefalas.
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Kapitel 2 – Bestandsaufnahme und Analyse
Rechtsmissbrauchsverbot nicht abstrakt zu definieren ist, sondern sich notwendigerweise an Zweck und Umfang der jeweils in Rede stehenden Rechtsposition zu orientieren hat. Damit ist der Unterschied zwischen „normimmanenter Begrenzung“ und einem allgemeinem Rechtsmissbrauchsverbot für die Praxis wenig relevant. Letzteres hat nur den zusätzlichen Nutzen, dass es durch den einheitlichen Referenzpunkt „Rechtsmissbrauch“ die Analyse vereinfacht, indem es den Rechtsanwendern die Herstellung von Querverbindungen zwischen den Einzelfällen und den verschiedenen Rechtsgebieten ermöglicht und dadurch vielleicht mittelbar zu kohärenteren Ergebnissen führt. Fraglich ist im Hinblick auf die Fälle aus Griechenland zu Aktionärsrechten aus der Zweiten Richtlinie auch, ob es wirklich einen qualitativen Unterschied zwischen der Zulässigkeit der Anwendung eines nationalen Rechtsmissbrauchsverbots auf das Unionsrecht – die dann aber die vom Effektivitätsgrundsatz vorgegebenen Schranken einhalten muss – und einem autonomeuropäischem Rechtsmissbrauchsverbot – das dann aber gerade im Bereich des Richtlinienrechts den Mitgliedstaaten gewisse Spielräume einräumt – gibt.599 Möglicherweise handelt es sich de facto eher um ein mindestharmonisiertes, autonom-europäisches Rechtsmissbrauchsverbot im nationalen Gewand als wirklich um die Zulassung der Anwendung nationaler Rechtsmissbrauchsverbote auf das durch Richtlinien harmonisierte Recht.600 2. Internationales Zuständigkeitsrecht Im internationalen Zuständigkeitsrecht haben dem EuGH im Zusammenhang mit der EuGVO601 bzw. dem GVÜ602 bereits mehrfach Konstellationen vorge599 Einen qualitativen Unterschied sieht etwa Schillig, Konkretisierungskompetenz und Konkretisierungsmethoden im Europäischen Privatrecht, S. 347 f., der der Ansicht ist, ein verallgemeinerbares Rechtsmissbrauchsverbot lasse sich aus den hier untersuchten Entscheidungen nicht herleiten, da es ja lediglich um die unionsrechtliche Zulässigkeit nationaler Missbrauchsverbote gegangen sei. 600 So auch Schmidt-Kessel, in: Jud / Bachner u. a., Jahrbuch junger Zivilrechtswissenschaftler 2000, S. 61, 76: „Die Konzession an das mitgliedstaatliche Recht ist mehr Schein als Sein.“ Ähnlich Jung, GPR 2004, 233, 237: „Damit wird die formale Anwendung des Art. 281 GrZGB durch die vorlegenden Gerichte inhaltlich durch das allerdings noch lückenhafte gemeinschaftsrechtliche Rechtsmißbrauchsverbot bzw. die allgemeinen und fallbezogenen Auslegungsrichtlinien des EuGH dominiert und auf diese Weise der Vorrang des Gemeinschaftsrechts gewahrt.“ 601 Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivilund Handelssachen (kurz EuGVO, EuGVVO oder Brüssel-I-VO genannt); die zitierten Entscheidungen sind zum Vorgänger dieser Verordnung ergangen, nämlich dem GVÜ (oben Kapitel 1 Fn. 73). 602 Übereinkommen von Brüssel über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen von 1968 (konsolidierte Fassung), ABl. 1998 C 27/1.
B. Schranke der Rechtsausübung
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legen, in denen es um ein mutmaßlich missbräuchliches, prozessuales Verhalten einer Partei ging. Diese sind im Rahmen der vorliegenden Untersuchung einerseits besonders interessant, weil dort teils der Einwand eines Verstoßes gegen Treu und Glauben, teils der der missbräuchlichen Geltendmachung einer Zuständigkeit vorgebracht wurde, so dass untersucht werden kann, inwieweit zwischen diesen Kategorien rechtlich ein Unterschied besteht. Andererseits hat der EuGH in einer Kategorie von Fällen dem Einwand des Verstoßes gegen Treu und Glauben gegenüber dem Wortlaut des Übereinkommens den Vorzug gegeben, in anderen Fällen dagegen den Missbrauchseinwand mit dem Argument der überragenden Wichtigkeit von Rechtssicherheit im Bereich des internationalen Zuständigkeitsrechts abgeschnitten. Ob dies insofern kohärent ist, dass es zwischen den verschiedenen Konstellationen qualitative Unterschiede gibt, die die Differenzierung rechtfertigen, wird zu untersuchen sein. a) Schriftform von Gerichtsstandsvereinbarungen Die EuGVO bzw. als Vorgänger das GVÜ haben sehr früh zu Entscheidungen geführt, in denen sich der EuGH zum Grundsatz von Treu und Glauben im Privatrecht bekannt hat. Er hat diesen auf das Schriftformerfordernis von Gerichtsstandsvereinbarungen nach Art. 17 GVÜ angewandt, das durch eine einseitige schriftliche Erklärung seinem Wortlaut nach nicht erfüllt werden kann. Nach der Rechtsprechung des EuGH kann sich der Empfänger einer solchen Erklärung aber nach Treu und Glauben auf die fehlende Schriftform nicht berufen, wenn ein mündlich geschlossener Vertrag sich in laufende Geschäftsbeziehungen einfügt603 oder wenn eine Partei gegen eine schriftliche Bestätigung der Vereinbarung keine Einwendungen erhoben hat.604 Man darf hieraus zunächst also folgern, dass der EuGH den Grundsatz von Treu und Glauben prinzipiell auch im Rahmen der Vertragsauslegung für anwendbar hält.605 In der Sache wird hier eine zwingende Bestimmung der EuGVO durch die Anwendung von Treu und Glauben relativiert. Die Einschränkung der Vertragsfreiheit bzw. ihrer Ausprägung in der Formfreiheit besitzt bei Gerichtsstandsvereinbarungen vor allem eine Klarstellungsfunktion, weil solche Vereinbarungen die Position der Parteien bei einem drohenden Rechtsstreit ganz wesentlich modifizieren und eine Klage aus rechtlichen oder wirtschaftlichen Gründen aussichtslos machen können. Wo diese Funktion aus den genannten Gründen offensichtlich nicht zum Zug kommen kann, weil es einer solchen Klarstellung für die Parteien im konkreten Fall nicht bedarf, EuGH, 14.12.1976, Rs. 25/76 Galeries Segoura ./. Société Rahim, Slg. 1976, S. 01851, Rn. 11; EuGH, 19.6.1984, Rs. 71/83 Tilly Russ, Slg. 1984, S. 02417, Rn. 18. 604 EuGH, 11.7.1985, Rs. 221/84 Berghoeffer GmbH ./. Firma ASA SA, Slg. 1985, S. 02699. 605 Basedow, in: MüKo-BGB (4. A. 2003), § 307 Rn. 27. 603
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kann es gegen Treu und Glauben verstoßen, sich auf die Formvorschrift zu berufen. Der Treueverstoß dürfte hier vor allem darin bestehen, dass die jeweilige Partei, die der Gerichtsstandsvereinbarung in laufenden Geschäftsbeziehungen mehrfach nicht widersprochen, ihr mündlich ausdrücklich zugestimmt oder aber einer schriftlichen Bestätigung nicht widersprochen hat, sich in Widerspruch zum eigenen Vorverhalten setzt und sich für die Gegenpartei, die auf diese Zustimmung vertraut, nicht in berechenbarer Weise verhält. Auf die Klarstellungsfunktion des Schriftformerfordernisses kann in solchen Fällen verzichtet werden, weil die andere Partei aufgrund der ständigen Übung bzw. der schriftlichen Bestätigung der Gerichtsstandsklausel an einer solchen Klarstellung kein schutzwürdiges Interesse mehr haben kann. In der Rs. Gravières Rhénanes606 hat der Gerichtshof allerdings einer Vereinbarung über den Erfüllungsort – die nicht für Gerichtsstandsvereinbarungen vorgesehenen Formerfordernisse erfüllte – die Anerkennung versagt. Eine solche Vereinbarung sei „fiktiv“, wenn sie „keinen Zusammenhang mit dem wirklichen Vertragsgegenstand aufweist“. Es liege damit eine „Umgehung“ der Formvorschriften über Gerichtsstandsvereinbarungen vor.607 Eine solche Vereinbarung falle daher nicht unter die Vorschrift, die eine Zuständigkeit am Erfüllungsort vorsieht, sondern unter die Vorschrift über Gerichtsstandsvereinbarungen; damit war die Vereinbarung mangels Einhaltung der Form unwirksam. Bereits das Instanzgericht hatte ausgeführt, dass die Erfüllungsortvereinbarung die „Gefahr eines Mißbrauchs“608 berge, da mit ihr die für Gerichtsstandsvereinbarungen vorgesehenen Formvorschriften umgangen werden könnten. b) Torpedoklagen Dagegen zeigt sich der EuGH sehr zurückhaltend, wenn es um die – vorgeblich – missbräuchliche Geltendmachung einer Zuständigkeit geht. Selbst bei offensichtlich missbräuchlichem forum shopping609 will er Rechtssicherheit und Vorhersehbarkeit den Vorrang geben und verzichtet daher weitgehend darauf, die nach der EuGVO gegebenen Zuständigkeiten über den Grundsatz von Treu und Glauben einzuschränken. So muss ein später angerufenes Gericht das Verfahren auch dann aussetzen, wenn das erste Gericht mit einer 606 EuGH, 20.2.1997, Rs. C-106/95 Mainschiffahrts-Genossenschaft eG (MSG) ./. Les Gravières Rhénanes SARL, Slg. 1997 I-00911. 607 Rn. 33 f. des Urteils in der Rs. C-106/95 Gravières Rhénanes. 608 Rn. 10 des Urteils in der Rs. C-106/95 Gravières Rhénanes. 609 Der Begriff forum shopping wird teilweise grundsätzlich negativ besetzt, obwohl er eigentlich auch die zulässige und nicht zu beanstandende Wahl des günstigsten unter mehreren ihm offenstehenden Gerichtsständen durch einen Kläger bezeichnet. Die sog. Torpedoklagen stellen dagegen ein missbräuchliches forum shopping dar, weil sie nicht darauf abzielen, dem Kläger einen möglichst effektiven Rechtsschutz zu verschaffen, sondern allein darauf, den Rechtschutz des Beklagten (und im Fall der negativen Feststellungsklage des eigentlichen Klägers) zu vereiteln, vgl. hierzu McGuire, ZfRV 2005, 83, 87.
B. Schranke der Rechtsausübung
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sog. „Torpedoklage“ nur zur Verfahrensverzögerung angerufen wurde.610 Der Gerichtshof hat hier zum Einwand der missbräuchlichen Klageerhebung apodiktisch ausgeführt: „Schließlich können Schwierigkeiten wie diejenigen, auf die das Vereinigte Königreich hinweist, die sich daraus ergeben, dass Parteien in dem Wunsch, die Sachentscheidung zu verzögern, Klage bei einem Gericht erheben, dessen Unzuständigkeit ihnen wegen des Vorliegens einer Gerichtsstandsvereinbarung bekannt ist, die Auslegung einer Bestimmung des Brüsseler Übereinkommens, die sich aus deren Wortlaut und Ziel ergibt, nicht in Frage stellen.“611
Es ist Gerichten anderer Mitgliedstaaten auch untersagt, durch Prozessführungsverbote, sog. anti-suit injunctions, die rechtsmissbräuchliche Anrufung unzuständiger Gerichte zu unterbinden, und zwar ausdrücklich auch dann, „wenn diese Partei wider Treu und Glauben zu dem Zweck handelt, das bereits anhängige Verfahren zu behindern“.612 Dies gilt entsprechend bei Bestehen einer Schiedsvereinbarung.613 Ebenso wenig darf ein nach der EuGVO formell zuständiges Gericht seine Zuständigkeit aufgrund von Zweckmäßigkeitserwägungen in Form der forum non conveniens-Doktrin ablehnen.614 Dies vermag zu verwundern.615 Die zentrale Rolle, die die vom Gerichtshof ins Feld geführten Gesichtspunkte – Vorhersehbarkeit, Rechssicherheit und die Vermeidung sich widersprechender Entscheidungen – spielen, ergibt sich zwar bereits aus den Erwägungsgründen der Verordnung.616 Diese Überlegung müsste dann allerdings genauso etwa im Rahmen der vorstehend besprochenen Rechtsprechung zum Schriftformerfordernis von Gerichtsstandsvereinbarungen gelten. Der Europäische Gerichtshof erhält seine Rechtsprechung aber weiter aufrecht, zuletzt in der Rs. Weber.617 Dort hatte das OberEuGH, 9.12.2003, Rs. C-116/02 Erich Gasser GmbH ./. MISAT, Slg. 2003 I-14693. Rn. 53 des Urteils in der Rs. C-116/02 Gasser. Siehe zum Begriff und zur prozesstaktischen Nutzung des „Torpedo“ auch Leitzen, GRUR Int 2004, 1010, 1011 ff. 612 EuGH, 27.4.2004, Rs. C-159/02 Turner ./. Grovit, Slg. 2004 I-03565, siehe insbesondere Rn. 31 des Urteils. 613 EuGH, 10.2.2009, Rs. C-185/07 Allianz SpA ./. West Tankers, Slg. 2009 I-00663. 614 EuGH, 1.3.2005, Rs. C-281/02 Owusu ./. Jackson, Slg. 2005 I-01383. 615 Kritisch z. B. Fentiman, CMLR 42 (2005), 241, 259, der die Entscheidung zwar als „[maybe] faultless as an application of the internal logic of the Brussels Convention“ bezeichnet, dann aber einen Eingriff des Gesetzgebers fordert, um missbräuchliches forum shopping zu verhindern. Thole, ZZP 2009, 423, 433 ff., weist darauf hin, dass das Verbot des Rechtsmissbrauchs sowohl im Europäischen Privatrecht als auch im sonstigen Gemeinschaftsrecht anerkannt sei und folgert, dieses Verbot müsse auch auf die EuGVO stärkere Anwendung finden. 616 Vgl. Erwägungsgrund 11 der EuGVO; noch nicht ausdrücklich enthalten in den Erwägungsgründen des GVÜ. 617 EuGH, 3.4.2014, Rs. C-438/12 Irmengard Weber ./. Mechthilde Weber, ECLI:EU: C:2014:212; siehe auch die Schlussanträge des Generalanwalts Niilo Jääskinen vom 30.1.2014. 610 611
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Kapitel 2 – Bestandsaufnahme und Analyse
landesgericht München u. a. ausdrücklich danach gefragt, ob das später angerufene Gericht bei der Frage, ob es das Verfahren nach Art. 27 EuGVO aussetzt, berücksichtigen darf, dass die Anrufung des zuerst angerufenen Gerichts rechtsmissbräuchlich erfolgt ist. Generalanwalt Jääskinen hielt Art. 27 im konkreten Verfahren für nicht anwendbar und die Vorlagefrage daher für hypothetisch. Er führte aber hilfsweise aus, dass bei einem Ausschluss des Missbrauchseinwands „[…] die Gefahr ‚torpedierender‘ Klagen besteht, mit denen unredliche Parteien ihre Klagebefugnis so schnell wie möglich mit dem einzigen Ziel ausüben, die normalen Zuständigkeitsregeln, insbesondere diejenigen der Gerichte am Wohnsitz des Beklagten, zu umgehen, oder nur eine Verzögerungstaktik verfolgen […]“.618
Er plädiert dennoch dafür, bei der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu bleiben und diese auf sämtliche Vorwürfe missbräuchlichen Klägerverhaltens im Rahmen von Art. 27 EuGVO zu verallgemeinern. Der Generalanwalt stützt sich dabei auf den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten619 und fügt den bekannten Argumenten keine neuen hinzu. Der Gerichtshof selbst brauchte sich zu diesen Fragen nicht zu äußern. Der Gesetzgeber hat die Problematik nun bei der Neufassung der EuGVO620 berücksichtigt und zumindest insoweit zu lösen versucht, wie es um Fälle der missbräuchlichen Missachtung einer Gerichtsstandsvereinbarung geht: Dann muss nach Art. 31 Abs. 2 der Neufassung der EuGVO das zuerst angerufene Gericht das Verfahren aussetzen, bis das nach der Gerichtsstandsvereinbarung zuständige Gericht über seine Zuständigkeit geurteilt bzw. diese ggf. verneint hat. Allerdings wird das Problem missbräuchlicher Klagen damit nur teilweise gelöst; insbesondere bleiben damit „Torpedoklagen“ gegen andere ausschließliche Zuständigkeiten, die nicht auf einer Gerichtsstandsvereinbarung beruhen, möglich. c) Dual Use-Verträge In der Rechtssache Gruber621 hatte der EuGH über die Einordnung von sog. Dual Use-Verträgen für die Zwecke des GVÜ zu entscheiden. Es ging darum, ob ein Vertrag, der sowohl gewerblichen wie auch nicht gewerblichen Zwecken dient, einen Verbrauchervertrag im Sinne von Art. 13 des Übereinkommens darstellt. Der EuGH verneint diese Vorlagefrage und entscheidet, dass die verRn. 79 der Schlussanträge in der Rs. C-438/12 Irmengard Weber. Eingehend zum Konzept des gegenseitigen Vertrauens Blobeland / Spath, ELR 2005, 528, 529 ff. 620 Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (Neufassung), ABl. 2012 L 351/1. Siehe für die hier erläuterte Problematik insbesondere Erwägungsgrund 22. 621 EuGH, 20.1.2005, Rs. C-464/01 Johann Gruber ./. Bay Wa AG, Slg. 2005 I-00439. 618 619
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braucherschützenden Vorschriften des Übereinkommens in Dual Use-Fällen nur dann ausnahmsweise anwendbar seien, wenn der „beruflich-gewerbliche Zweck […] derart nebensächlich [ist], dass er im Gesamtzusammenhang des betreffenden Geschäftes nur eine ganz untergeordnete Rolle spielt“.622 In diesem Zusammenhang führt der Gerichtshof aus, dass bei der Prüfung dieses Kriteriums durch das nationale Gericht auch darauf zu achten ist, „[…] ob die andere Vertragspartei den nicht beruflich-gewerblichen Zweck des Geschäftes zu Recht deswegen nicht zu kennen brauchte, weil der vermeintliche Verbraucher in Wirklichkeit durch sein eigenes Verhalten gegenüber seinem zukünftigen Vertragspartner bei diesem den Eindruck erweckt hat, dass er zu beruflich-gewerblichen Zwecken handelte. […] In einem solchen Fall wären die speziellen Zuständigkeitsvorschriften der Artikel 13 bis 15 EuGVÜ für Verbrauchersachen selbst dann nicht anwendbar, wenn mit dem Vertrag als solchem ein ganz untergeordneter beruflich-gewerblicher Zweck verfolgt wird, da angesichts des Eindrucks, den die Privatperson bei ihrem gutgläubigen Vertragspartner erweckt hat, anzunehmen ist, dass sie auf den in diesen Artikeln vorgesehenen Schutz verzichtet hat.“623
Hier bestätigt der EuGH also, dass die Anwendung verbraucherschützender Vorschriften bei einem entgegenstehenden Verhalten des Verbrauchers ausgeschlossen sein kann. Wer als Verbraucher beim Vertragspartner den Eindruck erweckt, Unternehmer zu sein, verzichtet also auf den Schutz der verbraucherschützenden Vorschriften des GVÜ bzw. der EuGVO; in der Sache wäre dem Verbraucher die Berufung auf die entsprechenden Vorschriften also über das Verbot des venire contra factum proprium – also eine Fallgruppe von Treu und Glauben – abgeschnitten. Ob dies über das GVÜ hinaus gilt, lässt sich der Entscheidung nicht unmittelbar entnehmen. Es liegt jedoch wegen der festgestellten, grundsätzlichen Zurückhaltung des Gerichtshofs bei der Zulassung von Missbrauchseinwänden im Bereich des internationalen Zuständigkeitsrechts nahe, dass dieser Einwand dann im Zusammenhang mit anderen verbraucherschützenden Vorschriften erst recht erhoben werden kann. Dies würde auch der Rechtsprechung des deutschen Bundesgerichtshofs entsprechen, der im Bereich der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie eine vergleichbare Aussage getroffen hat.624 Festzuhalten bleibt jedenfalls, dass sich eine verbraucherschützende Zielrichtung unionsrechtlicher Vorschriften nicht ausnahmslos und starr gegen Treu und Glauben und ähnliche Grundsätze durchsetzt.625
622 Eingehend zu dieser Formel und zum Bruch mit dem in Erwägungsgrund 17 der Richtlinie 2011/83/EU verfolgten Schwerpunktmodell Loacker, JZ 2013, 234, 238. 623 Rn. 51 ff. des Urteils in der Rs. C-464/01 Gruber. 624 BGH, Urteil vom 22. 12. 2004, VIII ZR 91/04, NJW 2005, 1045. 625 Siehe auch Sokya, Der Verbrauchsgüterkauf, S. 41. Vgl. auch unten die Ausführungen insbesondere zur Rs. C-489/07 Messner, S. 264 ff.
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Kapitel 2 – Bestandsaufnahme und Analyse
d) Zuständigkeitserschleichung Beizeiten wird der Europäische Gerichtshof auch darüber zu entscheiden haben, unter welchen Voraussetzungen die Schaffung bestimmter Anknüpfungstatsachen als Zuständigkeitserschleichung anzusehen sein wird, die eine ansonsten bestehende Zuständigkeit beseitigt oder sperrt. Die Diskussion findet vor allem anhand von Art. 6 Nr. 1 EuGVO statt, der es dem Kläger erlaubt, mehrere Personen am Sitz einer von ihnen zusammen zu verklagen. Ein ausdrückliches Missbrauchsverbot kennt Nr. 2 der Vorschrift, der eine entsprechende Zuständigkeit für Garantie- und Interventionsklagen gegen einen Dritten vor dem Gericht des Hauptprozesses vorsieht. Danach ist die Zuständigkeit ausnahmsweise dann nicht gegeben, wenn die Klage im Hauptprozess nur erhoben wurde, um den Dritten – also die Person mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat – dem für ihn zuständigen Gericht zu entziehen. Eine solche Regel enthält Nr. 1 nicht. Auch hier sind aber Fälle denkbar, in denen der sog. Ankerbeklagte mit Sitz im betreffenden Mitgliedstaat nur mitverklagt wird, um die übrigen Beklagten vor die Gerichte dieses Mitgliedstaats ziehen zu können. In objektiver Hinsicht könnte sich eine solche Missbrauchsabsicht beispielsweise dadurch zeigen, dass die Klage gegen den Ankerbeklagten zu einem frühen Zeitpunkt des Verfahrens zurückgenommen wird. Mit dieser Frage hatte sich der Europäische Gerichtshof in der Rs. Cartel Damage Claims626 auseinanderzusetzen, die ein Verfahren der privaten Kartellrechtsdurchsetzung betraf, bei dem ein auf die Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen der Abnehmerseite spezialisiertes Unternehmen gegen eine Vielzahl von Kartellanten klagt, die in unterschiedlichen Mitgliedstaaten ansässig sind. Dabei wurde die Klage gegen den Ankerbeklagten mit Sitz in Deutschland bereits vor der ersten mündlichen Verhandlung im Anschluss an einen Vergleich wieder zurückgenommen. Dies warf die Frage auf, ob die Klage ursprünglich überhaupt ernsthaft erhoben wurde oder ob dies ausschließlich zu dem Zweck erfolgte, für die anderen Beklagten eine Zuständigkeit der deutschen Gerichte nach Art. 6 Nr. 1 EuGVO zu schaffen.627 Der EuGH hat hier sehr hohe Anforderungen für das Durchgreifen eines Missbrauchseinwands aufgestellt. So soll es nicht ausreichen, wenn bereits Vergleichsverhandlungen geführt und erst nach Klageerhebung zum Abschluss gebracht wurden. Vielmehr seien EuGH, 21.5.2015, Rs. C-352/13 Cartel Damage Claims (CDC) Hydrogen Peroxide SA ./. Akzo Nobel NVC u. a. (insgesamt 7 Beteiligte auf Beklagtenseite), ECLI:EU:C:2015: 335. 627 Ob eine solche Zuständigkeit nach Art. 6 Abs. 1 bei privaten Schadensersatzklagen gegen Kartellanten mit Sitz in unterschiedlichen Mitgliedstaaten überhaupt besteht, war ebenfalls eine offene Rechtsfrage, die der Gerichtshof nun bejaht hat. Siehe zur zuvor geführten Diskussion etwa Basedow / Heinze, in: Bechthold / Jickeli / Rohe, Festschrift für W. Möschel, S. 63, 69 ff. 626
B. Schranke der Rechtsausübung
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„[…] beweiskräftige Indizien für das Bestehen eines kollusiven Zusammenwirkens der betreffenden Parteien zu dem Zweck, die Voraussetzungen für die Anwendung dieser Bestimmung im Zeitpunkt der Klageerhebung künstlich herbeizuführen oder aufrechtzuerhalten […]“
darzulegen. Hierfür sei etwa erforderlich, dass ein Vergleich tatsächlich bereits vor Klageerhebung geschlossen, jedoch „verschleiert“ worden sei. Damit wäre noch nicht einmal der Fall eines endverhandelten Vergleichs, dessen Abschluss bis nach Klageerhebung verzögert wird, vom Missbrauchseinwand umfasst. Dieser ist damit von einem Betrug praktisch nicht zu unterscheiden. Der Gerichtshof hatte die allgemeine Missbrauchsgefahr bei Art. 6 Nr. 1 allerdings durchaus bereits in früheren Fällen gesehen und die Vorgängervorschrift aus dem GVÜ – die nur verlangte, dass „mehrere Personen zusammen verklagt werden“ – in der Rs. Kalfelis628 einschränkend ausgelegt. Er wies darauf hin, dass die Zuständigkeit am Wohnsitz des Beklagten die Regel bleiben müsse und von der Ausnahme in Art. 6 Nr. 1 nicht grundsätzlich in Frage gestellt werden dürfe. Dies wäre etwa dann gegeben, wenn ein Kläger die Vorschrift dafür verwenden könnte, den Beklagten den eigentlich zuständigen Gerichten an dessen Sitz zu entziehen: „Wie in dem [Jenard-Bericht] hervorgehoben wird, muß eine solche Möglichkeit ausgeschlossen werden. Es ist deshalb erforderlich, daß zwischen den Klagen gegen die einzelnen Beklagten ein Zusammenhang besteht.“
Der zwischen den unterschiedlichen Klagen bestehende Zusammenhang ist also ein zusätzliches Tatbestandsmerkmal, das in die Norm hineingelesen wurde und das in der EuGVO dann in Gestalt der „engen Beziehung“ zwischen den Klagen in den Gesetzestext aufgenommen worden ist. Insoweit ist die Norm mit Hilfe der Rechtsprechung also bereits um ein inhärentes Missbrauchsverbot erweitert worden. Die weitere Rechtsprechung zur Frage des Missbrauchs von Art. 6 EuGVO ergibt dann allerdings kein klares Bild. Die Rs. Réunion Européenne629 betraf Art. 6 Nr. 2 GVÜ, der es gestattet, Klagen auf Gewährleistung vor dem Gericht des Hauptprozesses zu erheben, sofern diese nicht dem einzigen Zweck dienen, den Beklagten dem an sich zuständigen Gericht zu entziehen. Hierzu angerufen führte der Gerichtshof aus, dass über den einer Gewährleistungsklage immanenten Zusammenhang zwischen den beiden Verfahren hinaus kein zusätzlicher Zusammenhang zwischen den Klagen festgestellt werden müssen. Ob ein Gerichtsstandsmissbrauch vorliegt, habe aber das nationale
EuGH, 27.9.1988, Rs. 189/87 Athanasios Kalfelis ./. Bankhaus Schröder u. a., Slg. 1988, S. 05565. 629 EuGH, 26.5.2005, Rs. C-77/04 Groupement d’intérêt économique (GIE) Réunion européenne u. a. ./. Zurich España, Société pyrénéenne de transit d’automobiles (Soptrans), Slg. 2005 I-04509. 628
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Kapitel 2 – Bestandsaufnahme und Analyse
Gericht zu beurteilen.630 Dabei deutet der Gerichtshof an, dass diese Frage gar nicht in den Anwendungsbereich der Verordnung falle, weil diese nur die Zuständigkeit, nicht aber die Zulässigkeit eines Verfahrens im allgemeinen regele, die dem nationalen Recht unterliege, dem insoweit nur vom Effektivitätsgrundsatz Grenzen gezogen würden.631 Dies vermag insofern zu verwundern, als die Frage des Gerichtsstandsmissbrauchs mit der Formulierung, wonach die Klage nicht lediglich erhoben worden sein darf, um den Beklagten dem zuständigen Gericht zu entziehen, ja Tatbestandsmerkmal der unionsrechtlichen Zuständigkeitsnorm selbst ist. Zusätzliche Unklarheit brachte insofern die Rs. Freeport.632 Dort hatte sich der EuGH u. a. mit der Frage zu befassen, ob die zuletzt genannte Voraussetzung, die sich in Art. 6 Nr. 2 EuGVO wiederfindet, auch im Rahmen von Art. 6 Nr. 1 gilt. Freeport hatte insoweit vorgetragen, „die Voraussetzung, wonach die Zuständigkeitsvorschriften der Verordnung nicht missbraucht werden dürften, sei ein allgemeiner Grundsatz“. Der Gerichtshof führt dazu aus, dass er selbst in der Entscheidung Kalfelis bereits das Erfordernis eines zwischen den Klagen bestehenden Zusammenhangs in die Vorgängervorschrift hineingelesen hatte, um gerade solchen Missbrauch zu verhindern, was nun vom Gesetzgeber durch die Aufnahme in die Verordnung ausdrückliche Bestätigung erfahren habe.633 Eine zusätzliche Voraussetzung wie in Nr. 2 sei daher nicht erforderlich. Damit ergibt sich hinsichtlich der Frage der Voraussetzungen an die Geltendmachung von Art. 6 Nr. 1 EuGVO kein einheitliches Bild. Ob es über den Zusammenhang zwischen den Klagen hinaus erforderlich ist, dass die Wahl des Gerichtsstands nicht missbräuchlich ist bzw. wann dies der Fall wäre, bleibt weitgehend offen und dem nationalen Gericht überlassen.634 Abermals tritt hier – ähnlich wie im Bereich der Grundfreiheiten – die besondere Schwierigkeit der Abgrenzung zwischen Gebrauchmachen und Missbrauch unionsrechtlicher Rechtspositionen deutlich hervor. Rn. 31 ff. des Urteils in der Rs. C-77/04 Réunion Européenne. Rn. 34 f. des Urteils in der Rs. C-77/04 Réunion Européenne. 632 EuGH, 11.10.2007, Rs. C-98/06 Freeport plc ./. Olle Arnoldsson, Slg. 2007 I-8319. 633 Rn. 52 f. des Urteils in der Rs. C-98/06 Freeport. 634 Siehe auch noch die Schlussanträge von Generalanwalt Paolo Mengozzi vom 24.5.2007 in der Rs. C-98/06 Freeport plc ./. Olle Arnoldsson, Slg. 2007 I-08319, der in Rn. 35 mit Hinweis auf die Rs. Reisch Montage ausführt, dass der Gerichtshof sehr wohl angedeutet habe, dass das Vorliegen eines Zusammenhangs zwischen den Klagen nur eine Vermutung dahingehend beinhalte, dass kein Missbrauch vorliege, die aber widerleglich sei. Fraglich sei hingegen, ob es tatsächlich ein „allgemeines Verbot einer missbräuchlichen Ausübung des Rechts der Gerichtsstandswahl“ gebe und falls ja, wie sich dieses auszuwirken habe. In diesem Zusammenhang ist allerdings darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof den Einwand eines „offenkundigen Verfahrensmissbrauchs“ auch gegenüber Zuständigkeiten aus dem GVÜ grundsätzlich zugelassen hat, siehe EuGH, 4.7.1985, Rs. 220/84 AS-Autoteile Service GmbH ./. Pierre Malhé, Slg. 1985, S. 02267, Rn. 18. 630 631
B. Schranke der Rechtsausübung
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e) Herbeiführung eines Vorabentscheidungsverfahrens Nur der Vollständigkeit halber soll hier erwähnt werden, dass dem Gerichtshof auch bereits die Frage der missbräuchlichen Ingangsetzung eines Vorabentscheidungsverfahrens beim EuGH selbst vorgelegen hat. Nachdem dieses kein abstraktes, sondern ein rein anlassbezogenes Verfahren zur Klärung von Zweifeln bei der Auslegung des Unionsrechts darstellt, liegt der Gedanke nicht fern, dass die künstliche Herbeiführung eines Falles und einer Klage, die dann eine Vorlageentscheidung des nationalen Gerichts herbeiführen, missbräuchlich sein könnten. Der so konstruierte Fall dient dann nämlich der Klärung einer Rechtsfrage, die als solche nur abstrakt gewollt ist; der Fall ist damit „fiktiv“, um in der vom Gerichtshof verwendeten Terminologie zu bleiben. Der EuGH hat diesen Einwand in der Rs. Mangold 635 aber zurückgewiesen. Dort hatten die Parteien des Ausgangsverfahrens – Werner Mangold und Rüdiger Helm, einen Rechtsstreit um eine Vorschrift aus dem deutschen Arbeitsrecht konstruiert, die ab einem bestimmten Alter des Arbeitnehmers eine sachgrundlose Befristung des Arbeitsvertrags uneingeschränkt zuließ. Der Gerichtshof stellte fest, dass das Verbot der Diskriminierung wegen des Alters als allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts solche Regelungen verbiete. Zur künstlichen Herbeiführung des zugrundeliegenden Rechtsstreits erklärte der Gerichtshof zwar, es sei nicht seine Aufgabe, „Gutachten zu allgemeinen oder hypothetischen Fragen abzugeben“. Jedoch sei der streitige Vertrag tatsächlich durchgeführt worden und die übereinstimmende Auffassung der Parteien über die Europarechtswidrigkeit der deutschen Vorschrift ändere nichts daran, dass der „Rechtsstreit tatsächlich besteht“.636 Die Argumentation des EuGH ist an dieser Stelle sehr dünn, was möglicherweise auch schlicht darauf zurückzuführen sein könnte, dass er die Vorlagefrage gerne in der Sache beantworten wollte. Dennoch ist es trotz der sehr knappen Ausführungen bemerkenswert, dass der Gerichtshof hier die sonst vertretene Linie verlässt, wonach von einer Missbräuchlichkeit auszugehen ist, wenn ein Sachverhalt zwar formal die Voraussetzungen einer bestimmten Vorschrift erfüllt, er aber mit dem alleinigen Zweck herbeigeführt worden ist, von dieser Vorschrift in zweckwidriger Weise Gebrauch zu machen. Gerade dies war ersichtlich der Fall, wenn auch mit dem zusätzlichen Schritt der Erhebung einer Klage vor dem nationalen Gericht, das die Vorlagefrage dann gestellt hat. Hinter seinem sonst angelegten Maßstab bleibt der EuGH hier aber zurück und scheint es bei Vorabentscheidungsersuchen genügen lassen zu wollen, dass der zugrundeliegende Sachverhalt tatsächlich existiert, dass also – in der Terminologie des Gerichtshofs – kein Betrug vorliegt.
635 636
EuGH, 22.11.2005, C-144/04 Mangold ./. Helm, Slg. 2005 I-09981. Rn. 36 und 38 des Urteils in der Rs. C-144/04 Mangold.
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Kapitel 2 – Bestandsaufnahme und Analyse
V. Ergebnis: Das Rechtsmissbrauchsverbot Das Rechtsmissbrauchsverbot hat sich im Unionsrecht – anders als im Recht der Mitgliedstaaten637 – nicht zuerst im Privatrecht entwickelt. Der Grund hierfür liegt schlicht darin, dass die Europäische Union auf dem Gebiet des Privatrechts später tätig geworden ist, als in anderen Bereichen. Während die Existenz eines allgemeinen Verbots der missbräuchlichen Berufung auf Unionsrecht auch wegen der uneinheitlichen Äußerungen seitens des Gerichtshofs und seiner Generalanwälte umstritten war,638 darf sie heute als gesichert gelten.639 Als entscheidendes Element des unionalen Rechtsmissbrauchs lässt sich über die unterschiedlichen Rechtsbereiche hinweg der Gedanke der Zweckwidrigkeit der jeweiligen Rechtsausübung bzw. der Schaffung von Anknüpfungstatsachen festhalten.640 Rechtsmissbrauch und Gesetzesumgehung können im Lichte dieses gemeinsamen Grundgedankens in gewisser Weise zusammengefasst werden. Der Missbrauch im engeren Sinne bezieht sich hierbei auf bereits entstandene Rechte, während die Umgehung die Schaffung von Anknüpfungstatsachen mit dem Ziel der missbräuchlichen Berufung auf das Unionsrecht zur Umgehung zwingender Vorschriften des nationalen Rechts bezeichnet.641 Beide sind aber durch die (exklusive) Zweckwidrigkeit der jeweiligen Rechtsausübung bzw. -schaffung gekennzeichnet. Vogenauer hat aus der Rechtsprechung des EuGH die folgende Definition eines Rechtsmissbrauchsverbots entwickelt.642 Demnach sei eine gegebene rechtliche Regel dann nicht anzuwenden, wenn (1) bestimmte Tatsachen klar und unzweideutig vom Wortlaut der Regel umfasst sind, aber (2) das Ergebnis einer Anwendung dieser Regel ihrem Zweck zuwiderlaufen würde und (3) die Berufung auf die Regel als missbräuchlich zu qualifizieren ist. Allerdings Lenaerts, ERPL 2010, 1121 f. Schmidt-Kessel, in: Jud / Bachner u. a., Jahrbuch junger Zivilrechtswissenschaftler 2000, S. 61, 70 f. 639 Basedow, in: Festschrift für M. P. Stathopoulos, S. 159, 171 f., der besonders auf die Notwendigkeit einer Unterscheidung zwischen Rechtsmissbrauch und Gesetzesumgehung hinweist, diese aber zusammen als allgemeinen Rechtsgrundsatz anerkennt. 640 So Basedow, in: Festschrift für M. P. Stathopoulos, S. 159, 171; Schmidt-Kessel, in: Jud / Bachner u. a., Jahrbuch junger Zivilrechtswissenschaftler 2000, S. 68, 79 f.: „Das Rechtsmißbrauchsverbot […] hat […] keinen eigenen materialen Gehalt […]. Rechtsmißbräuchlichkeit […] ist Zweckwidrigkeit.“ Siehe auch die Definition von Vogenauer, in: de la Feria / Vogenauer, Prohibition of abuse of law, S. 521, 571. 641 Basedow, in: Festschrift für M. P. Stathopoulos, S. 159, 170 f. will nur von einem umfassenden Missbrauchs- und Umgehungsverbot sprechen, weil es bisher an einer genaueren Abgrenzung in der Rechtsprechung des Gerichtshofs fehle. Unter Rechtsmissbrauch müsse man dabei die zweckwidrige Ausübung vorhandener Rechte verstehen, unter Gesetzeserschleichung oder -umgehung dagegen die Schaffung oder Beseitigung von Anknüpfungstatsachen entgegen dem Zweck des betreffenden Gesetzes. 642 Vogenauer, in: de la Feria / Vogenauer, Prohibition of abuse of law, S. 521, 530 und 571. 637 638
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führt Vogenauer sodann aus, dass die missbräuchliche Berufung auf die Regel dadurch gekennzeichnet sei, dass die betreffende Person ihre Angelegenheiten in künstlicher Weise gestaltet habe. Dies deutet auf eine Beschränkung der Definition auf den Bereich der Gesetzesumgehung hin, während Rechtsmissbrauch im engeren Sinne die missbräuchliche Berufung auf ein tatsächlich und nicht durch künstliche Gestaltung erworbenes Recht bezeichnet.643 Zu unterscheiden ist der Rechtsmissbrauch dagegen vom in der Terminologie des Unionsrechts und insbesondere der des Europäischen Gerichtshofs sogenannten „Betrug“, also der Vortäuschung tatsächlich nicht vorhandener Rechtspositionen. Bei diesem, vom Missbrauch grundlegend verschiedenen Problem wäre es wünschenswert, wenn der EuGH beide Kategorien klarer trennen würde. Das Rechtsmissbrauchsverbot wird auch im Unionsrecht häufig, wenn auch nicht durchgehend, als ein Anwendungsfall des Grundsatzes von Treu und Glauben verstanden bzw. benannt. So hat etwa Generalanwältin Trstenjak „[…] den Rechtsmissbrauch als zweckwidrige Inanspruchnahme einer Rechtsposition definiert, welche die Möglichkeit, ein bestehendes Recht auszuüben, begrenzt. Dies bedeutet, dass die Inanspruchnahme eines formal gegebenen Rechtsanspruchs durch den Grundsatz von Treu und Glauben beschränkt ist.“644
Rechtsmissbrauch und Treu und Glauben erscheinen im Unionsrecht als zwei Seiten einer selben Medaille,645 wie eine negative und eine positive Dimension von Pflichten. Jedenfalls gibt es keine strikte Trennung etwa dergestalt, dass ein Rechtsinstitut nur im Vertragsrecht und das andere nur außerhalb desselben gelten würde. Soweit sich jedoch nicht zwei Private begegnen, sondern ein Privater dem Staat gegenübersteht, scheint das Verbot des Rechtsmissbrauchs unabhängig von Treu und Glauben zur Anwendung zu kommen. Im Privatrecht dagegen ist Treu und Glauben als der entscheidende Oberbegriff, also als ein Grundsatz, aus dem sich wiederum andere Ge- und Verbote wie dasjenige missbräuchlicher Verhaltensweisen ableiten. So wird als Beispiel für die Anwendung des Rechtsmissbrauchsverbots im Privatrecht gerne eine missbräuchliche Annahmeverweigerung von Waren durch den Gläubiger genannt, die nach der Zahlungsverzugsrichtlinie dazu führen würde, dass die Zahlungsfrist nicht läuft.646
Basedow, in: Festschrift für M. P. Stathopoulos, S. 159, 161 hat allerdings darauf hingewiesen, dass die Unterscheidung zwischen Rechtsmissbrauch und Gesetzesumgehung im Unionsrecht nicht immer klar hervortritt. Baudenbacher, ZfRV 2008, 205, 216 sieht die Gesetzesumgehung in der Rechtsprechung des EuGH als Unterfall des Rechtsmissbrauchs an. 644 Schlussanträge der Generalanwältin Verica Trstenjak vom 2.6.2010 in der Rs. C-118/09 Mag. Lic. Robert Koller, Slg. 2011 I-13627, dort Fn. 36. 645 Lenaerts, ERPL 2010, 1121, 1145 f. 646 Vgl. Heiderhoff, Europäisches Privatrecht, S. 122. 643
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Kapitel 2 – Bestandsaufnahme und Analyse
Ob der Ursprung eines im Anwendungsbereich des Unionsrechts zur Geltung gebrachten Rechtsmissbrauchsverbots im nationalen Recht oder im Unionsrecht selbst liegt, ist bei funktional-normativer Betrachtung unerheblich. Dies gilt jedenfalls für den Bereich des mindestharmoniserten Richtlinienrechts. Dort besteht zwischen einem unionsrechtlichen Missbrauchsverbot, das dem Umsetzungsgesetzgeber und dem nationalen Richter aber Spielräume eröffnet, einerseits und der Anwendung nationaler Rechtsmissbrauchsverbote, denen dann aber durch Sinn und Zweck des jeweiligen Rechtsakts sowie durch den Effektivitätsgrundsatz strenge Vorgaben gemacht werden andererseits, in der Sache kein Unterschied. In beiden Fällen wird der Rahmen europäisch-autonom vorgegeben.647 Dementsprechend weist Grundmann im Rahmen des Gebots der autonomen Auslegung des Unionsprivatrechts darauf hin, dass auch Regeln der „allgemeinen Normenlehre“ einheitlich auszulegen seien. Dazu zählt er als „immanente Schranken von Rechten“ ausdrücklich auch „[…] das Gebot, nach den Rechtsgrundsätzen von Treu und Glauben zu handeln, das Institut der Verwirkung und das Rechtsmißbrauchsverbot (venire contra factum proprium und dolo petit).“648
Um eine Kanalisierung der zu diesen Fragen geführten Debatten zu ermöglichen, ist es aber – um so mehr dann in vollharmonisierten Bereichen – wünschenswert, die entsprechenden Einzelfälle unter dem Oberbegriff eines unionalen Rechtsmissbrauchsverbots bzw. von Treu und Glauben zu diskutieren, wie dies ja auch geschieht.
C. Begründung von Treuepflichten in Sonderverbindungen C. Begründung von Treuepflichten in Sonderverbindungen
I.
Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit im Primärrecht
Art. 4 Abs. 3 EUV legt den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit fest, wonach Union und Mitgliedstaaten sich „gegenseitig bei der Erfüllung der Aufgaben, die sich aus den Verträgen ergeben“, „achten und unterstützen“. Dieser Grundsatz geht auf den Grundsatz der Gemeinschaftstreue im ehemaligen Art. 10 EGV zurück; der EuGH spricht hier in einer englischen Urteilsfassung ausdrücklich von „the principle of good faith enshrined in the first subparagraph of Article 4(3) TEU“.649 Zur Auslegung der Vorschrift hat der GerichtsSo indirekt auch Schürnbrand, JZ 2009, 133, 134, der von einer „im Ergebnis doch nur formalen Anknüpfung an die nationalen Rechtsmissbrauchsverbote“ spricht. 648 Grundmann, Europäisches Schuldvertragsrecht, S. 139. 649 EuGH, 18.7.2013, Rs. C‑313/11 Europäische Kommission ./. Republik Polen, ECLI: EU:C:2013:481, Rn. 51. In der deutschen Fassung ist von einer „sich aus dem Loyalitätsprinzip […] ergebende[n] Verpflichtung“ die Rede, in der französischen Fassung ebenfalls von „principe de loyauté“; Constantinesco, L’article 5 CEE, de la bonne foi à la loyauté communautaire, in : Capotori u. a., Liber Amicorum Pierre Pescatore, S. 100 f., der die 647
C. Begründung von Treuepflichten in Sonderverbindungen
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hof in der Rs. Deutsche Grammophon650 festgestellt, dass die Verpflichtung, alle Maßnahmen zu unterlassen, welche die Verwirklichung der Ziele des Vertrages gefährden könnten eine „allgemeine Verpflichtung der Mitgliedstaaten [begründet], deren konkreter Inhalt im Einzelfall von den Vertragsvorschriften oder den sich aus dem allgemeinen System des Vertrages ergebenden Rechtsnormen abhängt.“ Diese Formulierung ist weitgehend inhaltslos; interessant ist allein die Öffnung hin zu solchen Rechtsnormen, die der Vertrag nicht ausdrücklich selbst enthält, die sich aber aus seiner Systematik ergeben sollen. Dies kann zudem nicht abstrakt, sondern erst ad hoc im jeweiligen Einzelfall geschehen. In der Rs. AETR651 hat der Gerichtshof zudem die Funktion dieser Vorschrift als Grenze der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten betont, die „[…] keine Verpflichtungen eingehen können, welche Gemeinschaftsrechtsnormen, die zur Verwirklichung der Vertragsziele ergangen sind, beeinträchtigen oder in ihrer Tragweite ändern können.“
Festzuhalten bleibt, dass die Verpflichtung zur Unionstreue, die keine unmittelbare Verbindung zu Treu und Glauben im Privatrecht aufweist, die Funktion eines wertungsoffenen, unbestimmten Rechtsbegriffs erfüllt, der im Einzelfall auch für die Aufladung mit Maßstäben offen ist, die sich sowohl ungeschrieben aus dem System des EUV, aber auch aus anderen Unionsrechtsakten – also auch aus dem Sekundärrecht – ergeben können. II. Handelsvertreterrichtlinie: Pflichten der Parteien Die Handelsvertreterrichtlinie652 ist einer der ältesten Rechtsakte der Union auf dem Gebiet des Privatrechts. Selbständige Handelsvertreter können im Rechtsverkehr zwingender Schutzvorschriften bedürfen, weil sie durch ihre wirtschaftliche Abhängigkeit vom Unternehmer eine arbeitnehmerähnliche Stellung haben, ohne dass aber das Arbeitsrecht und insbesondere der entsprechende Kündigungsschutz auf sie Anwendung fände. Da viele Handelsvertreter zudem grenzüberschreitend tätig sind, hat der europäische Gesetzgeber sich entschlossen, den Mitgliedstaaten durch eine Richtlinie die Einführung einheitlicher Mindeststandards für ihren Schutz aufzugeben. Handelsvertreter ist nach Art. 1 Abs. 2, Unionsrechtsordnung zwischen einem völkerrechtlichen und einem föderalen System sieht, zieht dementsprechend Parallelen zum Grundsatz von Treu und Glauben im Völkerrecht und zur deutschen Bundestreue. 650 EuGH, 8.6.1971, Rs. 78/70 Deutsche Grammophon Gesellschaft mbH ./. Metro-SBGroßmärkte GmbH & Co. KG, Slg. 1971, S. 00487, Rn. 5. 651 EuGH, 31.3.1971, Rs. 22/70 Kommission der Europäischen Gemeinschaften ./. Rat der Europäischen Gemeinschaften, Slg. 1971, S. 00263, Rn. 20 und 22. 652 Richtlinie 86/653/EWG des Rates vom 18. Dezember 1986 zur Koordinierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten betreffend die selbständigen Handelsvertreter, ABl. 1986 L 382/17.
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Kapitel 2 – Bestandsaufnahme und Analyse
„wer als selbständiger Gewerbetreibender ständig damit betraut ist, für eine andere Person (im folgenden Unternehmer genannt) den Verkauf oder den Ankauf von Waren zu vermitteln oder diese Geschäfte im Namen und für Rechnung des Unternehmers abzuschließen.“
Der Handelsvertreter vermittelt also als Makler Geschäfte oder schließt diese als klassischer rechtsgeschäftlicher Vertreter namens und mit Vertretungsmacht für den Unternehmer ab. Gleichzeitig wird der Handelsvertreter regelmäßig nur für einen Unternehmer gleichzeitig tätig, so dass er wirtschaftlich von diesem abhängig ist. Dabei kann er aber, anders als ein Arbeitnehmer, bei unbefristeten Verträgen jederzeit mit einer Frist von einem bis drei Monaten gekündigt werden, Art. 15 Abs. 1 und 2. Die Handelsvertreterrichtlinie verwendet Treu und Glauben in Art. 3 Abs. 1 und Art. 4 Abs. 1 bei der Formulierung von Vertragspflichten beider Parteien. Danach hat der Handelsvertreter nach Art. 3 Abs. 1 „[b]ei der Ausübung seiner Tätigkeit […] die Interessen des Unternehmers wahrzunehmen und sich nach den Geboten von Treu und Glauben zu verhalten“653
und muss nach Abs. 2 insbesondere „a) sich in angemessener Weise für die Vermittlung und gegebenenfalls den Abschluß der ihm anvertrauten Geschäfte einsetzen; b) dem Unternehmer die erforderlichen ihm zur Verfügung stehenden Informationen übermitteln; c) den vom Unternehmer erteilten angemessenen Weisungen nachkommen.“
Der Unternehmer hat sich nach Art. 4 Abs. 1 „[…] gegenüber dem Handelsvertreter nach den Geboten von Treu und Glauben zu verhalten.“
und hat dem Handelsvertreter nach Abs. 2 insbesondere „a) die erforderlichen Unterlagen zur Verfügung zu stellen, die sich auf die betreffenden Waren beziehen; b) die für die Ausführung des Handelsvertretervertrages erforderlichen Informationen zu geben und ihn insbesondere binnen angemessener Frist zu benachrichtigen, sobald er absieht, daß der Umfang der Geschäfte erheblich geringer sein wird, als der Handelsvertreter normalerweise hätte erwarten können.“
Nach Art. 4 Abs. 3 muss im Übrigen „[…] der Unternehmer dem Handelsvertreter binnen angemessener Frist von der Annahme oder Ablehnung und der Nichtausführung der vom Handelsvertreter vermittelten Geschäfte Kenntnis geben.“ 653 In der englischen und der französischen Fassung wird „nach den Geboten von Treu und Glauben“ mit „dutifully and in good faith“ bzw. „loyalement et de bonne foi“ übersetzt. Watts / Reynolds, Bowstead and Reynolds on Agency, S. 695 bezeichnen den Begriff „dutifully“ als für die englische Rechtsterminologie unüblich. Interessant ist hier jedenfalls, dass good faith bzw. la bonne foi dem Gesetzgeber offenbar als nicht ausreichend erschienen, um den Gehalt des deutschen „Treu und Glauben“ vollumfänglich abzubilden.
C. Begründung von Treuepflichten in Sonderverbindungen
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Diese Pflichten sind – wie Art. 5 Handelsvertreterrichtlinie ausdrücklich klarstellt – jeweils unabdingbar und zwingend. Zur Auslegung des Begriffs von Treu und Glauben enthält die Richtlinie keine Konkretisierung, die über die im jeweils zweiten Absatz von Art. 3 bzw. 4 zur Verfügung gestellten Beispiele hinausgehen würde. Diese enthalten Pflichten zur Förderung des Vertragszwecks (Art. 3 Abs. 2 lit. a) – insbesondere durch Zurverfügungstellung hierfür erforderlicher Informationen (Art. 3 Abs. 2 lit. b sowie Art. 4 Abs. 2 lit. a) und zur Rücksichtnahme auf die Interessen des anderen Teils (Art. 4 Abs. 2 lit. b und Abs. 3). Nicht unbesehen verallgemeinerbar dürfte die Pflicht zur Befolgung von Weisungen des Unternehmers sein, die ein Spezifikum des dem Handelsvertretervertrags eigenen Über- und Unterordnungsverhältnisses ist. Dem Rechtsanwender fällt zunächst auf, dass die Verpflichtungen der beiden Parteien auf Treu und Glauben in voneinander getrennten Vorschriften niedergelegt sind. Sie werden dabei nicht nur in Abs. 2 der jeweiligen Vorschrift unterschiedlich konkretisiert; vielmehr ist auch die allgemeine Verpflichtung zum Handeln nach Treu und Glauben jeweils unterschiedlich formuliert. Es fällt insbesondere auf, dass den Unternehmer eine allgemeine Pflicht zum Handeln nach Treu und Glauben trifft, während sich die entsprechende Pflicht des Handelsvertreters auf „die Ausübung seiner Tätigkeit bezieht“. Unklar ist, inwieweit hierin eine Verengung der Verpflichtung des Handelsvertreters auf Treu und Glauben gesehen werden kann.654 Zwischen der bei Ausübung der Tätigkeit des Handelsvertreters bestehenden Pflicht zur Wahrnehmung der Interessen des Unternehmers einerseits und dem Verhalten nach den Geboten von Treu und Glauben andererseits wird man dagegen keine allzu strenge Grenze ziehen können und müssen.655
654 Randolph / Davey, The European Law of Commercial Agency, S. 58 vermuten, dass sich hieraus ergibt, dass die entsprechende Verpflichtung des Unternehmers deutlich strenger sei als die des Handelsvertreters, jedenfalls was ihre zeitliche Ausdehnung angehe. Saintier, Commercial Agency Law, S. 129, weist darauf hin, dass sich aus der Formulierung etwa ergeben könne, dass den Unternehmer auch vorvertragliche Pflichten treffen könnten, etwa ein Übervorteilungsverbot bei Vertragsverhandlungen in Anlehnung an die Klauselrichtlinie. Allerdings räumt Saintier auch ein, dass eigentlich auch den Handelsvertreter das Gebot von Treu und Glauben in dieser Phase binden sollte, bei ihm etwa in Gestalt einer Pflicht zur Verschwiegenheit. 655 Siehe aber Fock, Die Europäische Handelsvertreter-Richtlinie, S. 116, 120 ff. Fock schließt aus der zweiteiligen Formulierung in Art. 3 Abs. 1, dass der Unionsgesetzgeber einen Unterschied „zwischen der spezifischen Interessenwahrungspflicht des Handelsvertreters und seinen sonstigen Treuepflichten gegenüber dem Unternehmer“ beabsichtigt haben müsse. Nur letztere, allgemeine Treuepflicht, auf die auch in Art. 4 Abs. 1 Bezug genommen werde, sei für das Europäische Vertragsrecht insgesamt verallgemeinerbar. Allerdings lässt Fock das tatsächliche Bestehen eines solchen allgemeinen Grundsatzes später offen, weil die Pflicht in Art. 4 Abs. 1 nur für die besonderen Pflichten des Geschäfts-
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Kapitel 2 – Bestandsaufnahme und Analyse
Auch für die Handelsvertreterrichtlinie ist diskutiert worden, inwieweit der dort verwendete Grundsatz von Treu und Glauben ein autonom-unionsprivatrechtlicher sein kann und inwieweit der EuGH zu seiner Auslegung berufen ist.656 Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs unmittelbar zur Auslegung des Grundsatzes von Treu und Glauben in der Handelsvertreterrichtlinie existiert bisher nicht.657 Der Gerichtshof hat allerdings in der Rs. Poseidon658 das Erfordernis von Treu und Glauben aus Art. 3 und 4 der Richtlinie als Auslegungshilfe bei der Frage herangezogen, ob ein Gewerbetreibender Handelsvertreter im Sinne der Richtlinie sein kann, wenn er nur mit dem Abschluss eines einzigen Schiffschartervertrags betraut ist, der aber über mehrere Jahre immer wieder verlängert wird. Der EuGH argumentiert hier mit dem ständigen Vermittlungsauftrag als gemäß Art. 1 Abs. 2 charakteristischem Vertragsmerkmal und sieht diese Einschätzung u. a. durch Art. 3 und 4 „über die Erfordernisse von Treu und Glauben zwischen den Vertragsparteien“ bestätigt. Damit ist über den Begriff und die Auslegung von Treu und Glauben im Rahmen der Handelsvertreterrichtlinie freilich nicht viel gesagt, außer dass diese als allgemeine Verpflichtungen der Parteien offenbar dann besonders wichtig sind, wenn der betreffende Vertrag ein langfristiger ist. Außerdem nennt der EuGH die Verpflichtungen beider Parteien auf Treu und Glauben in einem Atemzug und ohne zwischen ihnen zu differenzieren, was dafür spricht, dass ihnen jeweils ein vergleichbarer Pflichtenkatalog zugrunde liegt und es sich jedenfalls nicht um fundamental verschiedene Pflichten handelt.659 herrn im Rahmen der Handelsvertreterbeziehung stehen soll und dementsprechend nicht verallgemeinerbar sei (S. 123 f.). Daneben sei für eine allgemeine Pflicht „kein Raum mehr“. 656 Dafür Grundmann, Europäisches Schuldvertragsrecht, S. 567: „Die ausdrückliche Festschreibung als Grundsatz wird den EuGH […] ermutigen, einen autonomen europaprivatrechtlichen Begriff von Treu und Glauben zu entwickeln.“ Ebenso Steindorff, EGVertrag und Privatrecht, S. 454: „Solche Wertbegriffe sind als Begriffe des Gemeinschaftsrechts zu entfalten […].“ Zweifelnd, aber im Ergebnis für eine unionsrechtliche Entfaltung des Begriffs auch Remien, RabelsZ 66 (2002), 503, 524; gegenteiliger Ansicht Fischer, ZVglRWiss 101 (2002), 143, 153 f.; Franzen, Privatrechtsangleichung durch die Europäische Gemeinschaft, S. 544, 546 f. schließt aus der Tatsache, dass die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen jedenfalls in der Sache alle bereits einen Grundsatz von Treu und Glauben enthielten, dass der Unionsgesetzgeber keine einheitliche Konkretisierung auf europäischer Ebene beabsichtigt haben könne. 657 Basedow, AcP 210 (2010), 157, 173 f. 658 EuGH, 16.3.2006, Rs. C-3/04 Poseidon Chartering v. Marianne Zeeschi, Slg. 2006 I-02505, dort Rn. 24. 659 Randolph / Davey, The European Law of Commercial Agency, S. 58 verstehen den EuGH so, dass sich die Verpflichtungen in Art. 3 und 4 „spiegeln“, was sie aber selbst mit Hinweis darauf ablehnen, dass die jeweiligen Verpflichtungen zwar einen sehr ähnlichen Inhalt hätten, dass sich ihr Anwendungsbereich aber unterscheide, wie in Art. 3 und 4 selbst ja konkretisiert werde.
C. Begründung von Treuepflichten in Sonderverbindungen
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In der Gesetzesbegründung gibt die Europäische Kommission an, der Grundsatz von Treu und Glauben bedürfe der ausdrücklichen Verankerung in der Richtlinie, da er „anscheinend nicht in allen Mitgliedstaaten bei Handelsvertreterverträgen einstimmig anerkannt“ sei.660 Die Pflicht zum Handeln nach Treu und Glauben soll dabei vor allem in gegenseitiger Unterstützung „bei der Verfolgung der Vertragsziele“ und aus Rücksicht „auf die Interessen der anderen“ Partei bestehen; dies hat sich wie festgestellt ja auch in den im Gesetzestext aufgeführten Beispielen niedergeschlagen: In der Richtlinie selbst wird die Pflicht zum Handeln nach Treu und Glauben im jeweiligen Abs. 2 von Art. 3 und 4 in nicht abschließender Weise („insbesondere“)661 konkretisiert. Der Handelsvertreter muss danach das Vertragsziel – in Gestalt von Geschäftsabschlüssen – fördern, dem Unternehmer erforderliche Informationen übermitteln und dessen angemessenen Weisungen nachkommen. Gewissermaßen als Kehrseite der Informationspflicht hat Generalanwalt Bot zudem vorgeschlagen, dass sich aus der Treuepflicht des Handelsvertreters auch eine Pflicht zur Vertraulichkeit ergebe.662 Danach muss er „[…] die Informationen bezüglich der Geschäftsstrategie des Unternehmers vertraulich behandeln, und er darf die Vertretung eines Konkurrenzunternehmens des Unternehmers nur mit Zustimmung des Unternehmers übernehmen.“
Der Gerichtshof hat sich zu dieser Frage allerdings nicht geäußert. Die Treuepflicht des Unternehmers ist ebenfalls durch mehrere Informationspflichten konkretisiert, die die Zurverfügungstellung von Unterlagen zu den Waren 660 Bulletin der Europäischen Gemeinschaften, Beilage 1/77 Gleiche Rechte für Handelsvertreter, Vorschlag einer Richtlinie des Rates zur Koordinierung der Rechte der Mitgliedstaaten die (selbständigen) Handelsvertreter betreffend, Vorlage der Kommission an den Rat vom 17. Dezember 1976, S. 18. 661 Teilweise wird in der Literatur vertreten, „insbesondere“ bedeute nicht, dass das jeweilige Beispiel nicht abschließend sei; vielmehr sei damit der unionale Mindeststandard der jeweiligen Richtlinie erschöpfend dargestellt und die Festlegung weiterer der Anwendung der betreffenden Vorschrift im Übrigen falle in den Umsetzungsspielraum der Mitgliedstaaten, vgl. Wolff, Die Verteilung der Konkretisierungskompetenz für Generalklauseln in privatrechtsgestaltenden Richtlinien, S. 106. Tatsächlich verhält es sich so, dass im Gesetzgebungsverfahren der ursprüngliche Vorschlag der Kommission (Vorschlag einer Richtlinie des Rates zur Koordinierung der Rechte der Mitgliedstaaten die [selbständigen] Handelsvertreter betreffend, ABl. 1977 C 13/2) hier statt des Begriffs „insbesondere“ den Begriff „unbeschadet“ (frz. „sans préjudice“) verwendet hatte, der sich eher so liest, dass die aufgeführten Pflichte nicht unbedingt Beispiele für den Grundsatz von Treu und Glauben sein müssen. Die von Wolff vertretene Auslegung lässt sich gerade vor dem Hintergrund dieser Änderung in der Entstehungsgeschichte der Richtlinie nicht entnehmen; der EU-Gesetzgeber wollte hier Regelbeispiele festlegen und es leuchtet nicht ein, warum damit ein Verzicht auf eine unionsautonome Auslegung der Generalklausel im Übrigen verbunden sein soll. 662 Schlussanträge des Generalanwalts Yves Bot vom 3.6.2010 in der Rs. C-203/09 Volvo Car Germany GmbH ./. Autohof Weidensdorf GmbH, Slg. 2010 I-10721, dort Rn. 44.
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Kapitel 2 – Bestandsaufnahme und Analyse
einerseits sowie die Auskunft über Annahme oder Ablehnung und den Umfang der vom Handelsvertreter vermittelten Geschäfte andererseits betreffen. Letztere Pflicht soll insbesondere den Provisionsanspruch des Handelsvertreters sichern,663 weil dieser sich ja in der ungünstigen Lage befindet, das einmal abgeschlossene Geschäft bei der Durchführung ggf. nicht mehr zu begleiten. Es handelt sich also um eine Informationspflicht des Unternehmers, die diesen daran hindern soll, die Erfüllung seiner Hauptpflicht aus dem Vertrag durch Nichterteilung entsprechender Informationen bzw. durch falsche Informationen zu vereiteln. Die Frage, ob dem Vertreter auch dann ein Provisionsanspruch zustehen muss, wenn er an einem Geschäftsabschluss nicht beteiligt war, hat der Gerichtshof in Danone664 verneint. Allerdings sei es Sache des nationalen Gerichts, festzustellen, ob nicht „bei Würdigung unter Berücksichtigung des Anliegens des Schutzes des Handelsvertreters, der eines der Hauptziele der Richtlinie darstellt […] und der dem Unternehmer nach Art. 4 der Richtlinie obliegenden Verpflichtung, nach Treu und Glauben zu handeln“665
der ihm vorliegende Sachverhalt die Feststellung einer Beteiligung des Handelsvertreters am jeweiligen Geschäft doch zulasse. Offenbar soll hier also ein Verstoß des Unternehmers gegen das Gebot von Treu und Glauben in der Weise sanktioniert werden, dass eine „Beteiligung“ des Handelsvertreters am jeweiligen Geschäft, auch wenn dieser unmittelbar weder als Stellvertreter, noch als Makler mitgewirkt hat, aus wertenden Gesichtspunkten doch zu bejahen sein kann. Teilweise wird auch argumentiert, Treu und Glauben beziehe sich hier nicht nur auf die Berücksichtigung der Interessen des anderen Teils, sondern stelle auch eine Verpflichtung zum Schutz der gemeinsamen Interessen beider Parteien dar. Das ergebe sich daraus, dass in der Handelsvertreterrichtlinie sowohl der Handelsvertreter wie auch der Unternehmer an Treu und Glauben gebunden seien. Damit sei es dem Handelsvertreter etwa auch erlaubt, für andere Unternehmer tätig zu werden, solange dies nicht die gemeinsamen Interessen beider Parteien aufs Spiel setze.666 Was die in der Richtlinie genannten Beispiele angeht, so weist Riesenhuber zurecht darauf hin, dass es sich etwa bei der Pflicht zum Einsatz des Handelsvertreters für Vermittlung und Vertragsabschlüsse nicht um Beispiele für sich aus Treu und Glauben ergebende Pflichten, sondern um für diesen Vertrags geradezu typische Haut663 Siehe auch Kommissionsbegründung zum ersten Richtlinienvorschlag (oben Fn. 660) S. 19. 664 EuGH, 17.1.2008, Rs. C-19/07 Paul Chevassus-Marche ./. Groupe Danone, Société Kro beer brands SA (BKSA) und Société Évian eaux minérales d’Évian SA (SAEME), Slg. 2008 I-00159. Allerdings war der zugrundeliegende Sachverhalt recht atypisch. 665 Rn. 22 des Urteils in der Rs. C-19/07 Danone. 666 Randolph / Davey, The European Law of Commercial Agency, S. 56 f.
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pflichten handelt.667 Grundmann668 überträgt seine zum Treuhandvertrag entwickelte Differenzierung zwischen einer allgemeinen Verpflichtung zum Handeln nach Treu und Glauben und einer besonderen Interessenwahrungspflicht669 auf die Handelsvertreterrichtlinie. Danach verbiete letztere Pflicht es dem Handelsvertreter, bei von ihm geführten Vertragsverhandlungen eigene Interessen zu berücksichtigen, etwa an einer möglichst hohen Provision statt an einem für den Geschäftsherrn möglichst günstigen Abschluss. Dies begründet Grundmann damit, dass der Handelsvertreter ohne Gegenleistung eine Einflussposition erhalten habe. Die allgemeine Pflicht zum Handeln nach Treu und Glauben verbiete die Berücksichtigung von Eigeninteressen dagegen nicht und verpflichte nur zur Mitberücksichtigung der Interessen des anderen Teils.670 In der Literatur ist häufig bezweifelt worden, ob der mit der Richtlinie beabsichtigte Harmonisierungserfolg erreicht werden könne, insbesondere da die nationalen Rechtstraditionen im Hinblick auf den Inhalt des Grundsatzes von Treu und Glauben sehr heterogen seien.671 Dies kann für die Handelsvertreterrichtlinie auf Basis der dem Gerichtshof bisher gestellten Vorlagefragen hier nicht abschließend beantwortet werden. Als Ergebnis ist jedoch festzustellen, dass die Handelsvertreterrichtlinie das Verhältnis der beiden Vertragsparteien umfassend regelt und dass die Tatsache, dass das Unionsrecht hier sehr früh eine weitgehende Verpflichtung der Parteien auf Treu und Glauben eingeführt hat, bemerkenswert ist. Es darf nämlich insbesondere gefolgert werden, dass der Unionsgesetzgeber nach Erlass der HandelsvertreRiesenhuber, Europäisches Vertragsrecht, S. 231. Grundmann, Europäisches Schuldvertragsrecht, S. 567 ff. 669 Grundmann, Der Treuhandvertrag, S. 169, 192 ff. 670 Siehe Grundmann, Der Treuhandvertrag, S. 166 ff. Den Unternehmer soll danach nur die allgemeine Pflicht zum Handeln nach Treu und Glauben treffen. Das überzeugt nicht unbedingt, da dieser ja auch spezifische Verpflichtungen aus der Richtlinie hat. Daher sieht etwa Fock, Die europäische Handelsvertreter-Richtlinie, S. 123 f., auch beim Unternehmer eine besondere Treuepflicht aus der Handelsvertreterrichtlinie selbst. 671 Vgl. etwa Saintier, Commercial Agency Law, S. 118 f., die das Fehlen einer Präzisierung kritisiert; Fock, Die europäische Handelsvertreter-Richtlinie, S. 115, der auf eine fehlende „konzeptionelle Übereinstimmung“ in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen verweist; Basedow, in: Pfeiffer / Kummer / Scheuch, Festschrift für H. E. Brandner, S. 651, 675 weist ausdrücklich darauf hin, dass auch unbestimmte Rechtsbegriffe wie Treu und Glauben in der Handelsvertreterrichtlinie durch den Europäischen Gerichtshof ausgelegt werden müssen, weil andernfalls „[…] ein erheblicher Teil des Richtlinienrechts […] völlig überflüssig [wäre], weil niemand erwarten könnte, daß solche unbestimmten Rechtsbegriffe ohne eine autoritative Interpretation durch den Gerichtshof in verschiedenen Mitgliedstaaten einheitlich ausgelegt würden.“ Den Mitgliedstaaten dürfe daher auch bei der Auslegung solcher Begriffe kein Beurteilungsspielraum zukommen. Die Gegenansicht vertritt – entsprechend der Paralleldiskussion im Bereich der Klauselrichtlinie – Franzen, Privatrechtsangleichung durch die Europäische Gemeinschaft, S. 546 und 552. 667 668
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Kapitel 2 – Bestandsaufnahme und Analyse
terrichtlinie im Jahr 1986 den Grundsatz von Treu und Glauben mit den damit verbundenen Schwierigkeiten und Chancen im Blick hatte und ihn nicht etwa unreflektiert in weitere Rechtsakte aufgenommen hat, wie auch die entsprechenden Ausführungen der Kommission zum Richtlinienvorschlag, wonach man sich der unterschiedlichen Vorstellungen von Treu und Glauben unter den Mitgliedstaaten bewusst war, gezeigt haben.672 Der Inhalt der Treuepflicht bezieht sich bei der Handelsvertreterrichtlinie möglicherweise zum Teil auch auf den vorvertraglichen Bereich, vor allem aber auf die Durchführung des Vertrags selbst und auf die nachvertragliche Phase. Sie dient der Förderung der Vertragsziele selbst, insbesondere durch Informationsaustausch (vgl. Art. 3 Abs. 2 a, b, Art. 4 Abs. 2 a) sowie Rücksichtnahme auf die Interessen des anderen Teils (Art. 3 Abs. 2 c, Art. 4 Abs. 2 b, Abs. 3), also der Erreichung des Vertragszwecks.673 Anlass für die Verwendung von Treu und Glauben dürfte hier auch die in längerfristigen Vertragsverhältnissen, wie sie mit Handelsvertretern typischerweise geschlossen werden, in besonderem Maße bestehenden Schwierigkeiten sein, das vertragliche Pflichtenprogramm von Beginn an abschließend zu formulieren.674 III. Richtlinie über Märkte für Finanzinstrumente Art. 11 Abs. 1 der Wertpapierdienstleistungsrichtlinie675 enthielt eine Verpflichtung der Wertpapierfirmen, „bei der Ausübung ihrer Tätigkeit recht und billig im bestmöglichen Interesse ihrer Kunden und der Integrität des Marktes“ zu handeln.
Der Nachfolger dieser Richtlinie, die Richtlinie über Märkte für Finanzinstrumente (MiFiD)676 sieht in Art. 19 vor, dass die Mitgliedstaaten vorschreiben, „dass eine Wertpapierfirma bei der Erbringung von Wertpapierdienstleistungen und/oder gegebenenfalls Nebendienstleistungen für ihre Kunden ehrlich, redlich und professionell im bestmöglichen Interesse ihrer Kunden handelt […]“.677
Siehe oben Kapitel 2 Fn. 660. Auf die zusätzliche, nachvertragliche Komponente des Ausgleichsanspruchs des Handelsvertreters und seine mögliche Verwirkung nach Treu und Glauben wird wegen der unterschiedlichen Funktion des untersuchten Grundsatzes in diesem Zusammenhang an anderer Stelle eingegangen (unten S. 279 ff.). 674 Grundmann, in: Grundmann / Mazeaud, General clauses and standards in European contract law, S. 151. 675 Richtlinie 93/22/EWG des Rates vom 10. Mai 1993 über Wertpapierdienstleistungen, ABl. 1993 L 141/27. 676 Richtlinie 2004/39/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. April 2004 über Märkte für Finanzinstrumente, zur Änderung der Richtlinien 85/611/EWG und 93/6/EWG des Rates und der Richtlinie 2000/12/EG des Europäischen Parlaments und des Rates und zur Aufhebung der Richtlinie 93/22/EWG des Rates. 672 673
D. Lauterkeit beruflichen Handelns
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Hier kann man wiederum die auch in der Handelsvertreterrichtlinie getroffene Unterscheidung zwischen allgemeinen Treuepflichten und einer besonderen Treuepflicht erkennen.678 Diese verpflichtet die Wertpapierfirma dazu, sich allein an den Interessen des Kunden zu orientieren, wenn sie etwa Anlageratschläge erteilt und verbietet es bspw., dass sie sich hierbei an eigenen Provisionsinteressen orientiert.679 Konkretisierungen in Form von Regelbeispielen zu dieser Pflicht enthalten Abs. 2 bis 8 von Art. 19 der MiFiD-Richtlinie. Dort sind insbesondere die Zurverfügungstellung umfassender, verständlicher und redlicher Informationen über das betreffende Finanzprodukt, die Berücksichtigung der individuellen Präferenzen, Vorkenntnisse und finanziellen Verhältnisse des Kunden – verbunden mit Warnpflichten bei ungeeigneten Produkten – sowie Dokumentationspflichten normiert. Art. 21 MiFiD-Richtlinie sieht zudem bestimmte Standards für die Auftragsausführung vor, die möglichst kundengünstig zu erfolgen hat. Umfangreiche Konkretisierungen von Art. 19 Abs. 2 bis 8 sind zudem in Art. 26 ff. der Durchführungsrichtlinie zur MiFiD-Richtlinie680 enthalten. Zudem wird der Grundsatz von Treu und Glauben in Art. 55 Abs. 2 der MiFiD-Richtlinie verwendet. Danach ist eine Meldung bestimmter Sachverhalte an die Behörden durch Wirtschaftsprüfer, die „nach Treu und Glauben“ erfolgt, geboten und zulässig. Dies ist allerdings eine Verwendung von Treu und Glauben, die derjenigen in der Datenschutzrichtlinie ähnelt und mit dem vertragsrechtlichen Begriff keine direkte Verbindung aufweist.681
D. Lauterkeit beruflichen Handelns D. Lauterkeit beruflichen Handelns
I.
Die UGP-Richtlinie
Das europäische Recht erkennt das Ziel eines funktionierenden Wettbewerbs als zentralen Bestandteil des marktwirtschaftlichen Wirtschaftssystems an und stellt dabei insbesondere den freien Verkehr von Waren und DienstleisEngl. Fassung: „[…] act honestly, fairly and professionally in accordance with the best interests of its clients […]“; frz. Fassung: „[…] agissent d’une manière honnête, équitable et professionnelle qui serve au mieux les intérêts desdits clients […]“. 678 Vgl. Grundmann, in: Grundmann / Mazeaud, General clauses and standards in European contract law, S. 149 f.; ders., Europäisches Schuldvertragsrecht, S. 727 ff. 679 Vgl. Grundmann, in: Grundmann / Mazeaud, General clauses and standards in European contract law, S. 150. 680 Richtlinie 2006/73/EG der Kommission vom 10. August 2006 zur Durchführung der Richtlinie 2004/39/EG des Europäischen Parlaments und des Rates in Bezug auf die organisatorischen Anforderungen an Wertpapierfirmen und die Bedingungen für die Ausübung ihrer Tätigkeit sowie in Bezug auf die Definition bestimmter Begriffe für die Zwecke der genannten Richtlinie, ABl. 2006 L 241/26. 681 Zum Begriff von Treu und Glauben in der Datenschutzrichtlinie siehe unten S. 300 ff. 677
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Kapitel 2 – Bestandsaufnahme und Analyse
tungen zwischen den Mitgliedstaaten in den Mittelpunkt. Freiheitliche Grundsätze wie die Parteiautonomie sind dabei aber anerkanntermaßen im Hinblick auf bestimmte, schädliche Verhaltensweisen einzuschränken. Dies geschieht sowohl in den kartellrechtlichen Vorschriften des Primärrechts682 wie auch im sekundärrechtlichen Wettbewerbsrecht, das in besonderer Weise durch Generalklauseln und unbestimmte Rechtsbegriffe geprägt ist. Die Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken683 hat einen sehr weiten Anwendungsbereich, indem sie praktisch alle Handlungen, Unterlassungen und sonstige Verhaltensweisen von Gewerbetreibenden gegenüber Verbrauchern umfasst684 und einer Überprüfung auf ihre Lauterkeit unterwirft, die u. a. mittels einer Generalklausel erfolgt und bei der Bewertung der beurteilten Geschäftspraktik letztlich auf den Grundsatz von Treu und Glauben zurückgreift.685 Die Richtlinie ist vollharmonisierend, sie lässt also den Mitgliedstaaten bei der Beurteilung der Unlauterkeit auch keinen Spielraum nach oben, erlaubt also weder einen laxeren, noch einen strengeren Maßstab als denjenigen der Richtlinie selbst.686 Allerdings hat die Richtlinie nach Art. 3 Abs. 2 keine unmittelbaren vertragsrechtlichen Auswirkungen. Die Richtlinie verfolgt aber als Ziele vor allem die Stärkung des Verbraucherschutzes und die Vollendung des Binnenmarkes in der Union, was sich aus dem 23. Erwägungsgrund ergibt und eine klare Parallele zur Klauselrichtlinie darstellt.687 Die Richtlinie dient also sowohl dem Schutz des Wettbewerbs wie auch dem Verbraucherschutz.688 1. Die Begriffe in der Generalklausel Nach Art. 5 Abs. 2 der UGP-Richtlinie ist Voraussetzung für das Vorliegen einer unlauteren Geschäftspraktik, dass Siehe dazu S. 198 ff. Richtlinie 2005/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Mai 2005 über unlautere Geschäftspraktiken im binnenmarktinternen Geschäftsverkehr zwischen Unternehmen und Verbrauchern und zur Änderung der Richtlinie 84/450/EWG des Rates, der Richtlinien 97/7/EG, 98/27/EG und 2002/65/EG des Europäischen Parlaments und des Rates sowie der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates (Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken), ABl. 2005 L 149/22. 684 Vgl. Art. 3 Abs. 1 i. V. m. Art. 2 lit. d) der UGP-Richtlinie. 685 Vgl. Art. 5 Abs. 2 i. V. m. Art. 2 lit. h) der UGP-Richtlinie. 686 Dies ergibt sich etwa aus dem Umkehrschluss der Übergangsfrist für strengere nationale Vorschriften in Art. 3 Abs. 5 der Richtlinie. Siehe außerdem Alexander, WRP 2012, 515, 516 mit Nachweisen aus der EuGH-Rechtsprechung; Glöckner / Henning-Bodewig, WRP 2005, 1311, 1320; Collins, MLR 2010, 89, 91; Büllesbach, Auslegung der irreführenden Geschäftspraktiken des Anhangs I der Richtlinie 2005/29/EG über unlautere Geschäftspraktiken, S. 13. 687 Siehe oben S. 83. 688 Siehe dazu Wunderle, Verbraucherschutz im Europäischen Lauterkeitsrecht, S. 196 ff. 682 683
D. Lauterkeit beruflichen Handelns
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„a) sie den Erfordernissen der beruflichen Sorgfaltspflicht widerspricht und b) sie in Bezug auf das jeweilige Produkt das wirtschaftliche Verhalten des Durchschnittsverbrauchers, den sie erreicht oder an den sie sich richtet oder des durchschnittlichen Mitglieds einer Gruppe von Verbrauchern, wenn sich eine Geschäftspraxis an eine bestimmte Gruppe von Verbrauchern wendet, wesentlich beeinflusst oder dazu geeignet ist, es wesentlich zu beeinflussen.“
Der Europäische Gerichtshof hat in der Rs. Mediaprint689 bestätigt, dass diese beiden Kriterien kumulativ zu verstehen sind. So könne aus dem Umstand, dass eine Geschäftspraxis die Voraussetzungen von Art. 5 Abs. 2 lit. b) erfüllt, „allein keineswegs“ geschlossen werden, dass sie auch den Erfordernissen der beruflichen Sorgfaltspflicht im Sinne von lit. a) der Vorschrift widerspricht und somit insgesamt als unlautere Geschäftspraxis zu qualifizieren sei. Der Begriff der beruflichen Sorgfalt, den man als solchen ursprünglich eher im Deliktsrecht verorten würde,690 geht wohl auf die italienische correttezza professionale zurück691 und war ein im Wettbewerbsrecht der meisten Mitgliedstaaten bis dahin unbekanntes Konzept.692 Die berufliche Sorgfalt ist nach Art. 2 lit. h) der Richtlinie 2005/29 definiert als „der Standard an Fachkenntnissen und Sorgfalt […], bei denen billigerweise davon ausgegangen werden kann, dass der Gewerbetreibende sie gegenüber dem Verbraucher gemäß den anständigen Marktgepflogenheiten und/oder dem allgemeinen Grundsatz von Treu und Glauben in seinem Tätigkeitsbereich anwendet.“ 689 Rs. C-540/08, Urteil 9.11.2010, Mediaprint Zeitungs- und Zeitschriftenverlag GmbH & Co. KG ./. „Österreich“-Zeitungsverlag GmbH, Slg. 2010 I-10909, Rn. 45 f. 690 Henning-Bodewig, Unfair Competition Law – European Union and Member States, S. 9. 691 Glöckner, WRP 2004, 936, 940; Koch, Die Richtlinie gegen unlautere Geschäftspraktiken – Aggressives Geschäftsgebaren in Deutschland und England und die Auswirkungen der Richtlinie, S. 33. Mit Zweifeln hinsichtlich der Vergleichbarkeit beider Begriffe Dohrn, Die Generalklausel der Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken – ihre Interpretation und Umsetzung, S. 132 f. Dohrn weist insbesondere darauf hin, dass der Begriff der „correttezza“ schlicht ein richtiges, lauteres Verhalten bezeichne und damit hinter dem Begriff der Sorgfalt zurückbliebe. So sei auch in der italienischen Fassung der UGP-RL in Art. 2 lit. h) und Art. 5 Abs. 2 lit. a) nicht der Begriff der „correttezza“, sondern der „diligenza professionale“ verwendet worden. 692 Vgl. Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Richtlinienvorschlag der Kommission für die UGP-RL, ABl. 2004 C 108 S. 81, 84, Rn. 3.8.1, der darauf hinweist, dass „Konzepte eingeführt [werden], die in vielen mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen unbekannt sind“ und im Hinblick auf die „berufliche Sorgfaltspflicht“ und auf „Treu und Glauben“ die EU-Kommission auffordert, „den Inhalt dieses Konzepts in der Begründung des Richtlinienvorschlags klar darzulegen“; Keirsbilck, The New European Law of Unfair Commercial Practices and Competition Law, S. 273. Eingehend zum Vorverständnis hinsichtlich des Begriffs „Sorgfalt“ im vorhandenen Unionsrecht Dohrn, Die Generalklausel der Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken – ihre Interpretation und Umsetzung, S. 81 ff.
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Kapitel 2 – Bestandsaufnahme und Analyse
Die berufliche Sorgfalt wird also wiederum auf zwei unbestimmte Rechtsbegriffe zurückgeführt. Diese Definition der unlauteren Geschäftspraktik über eine Kaskade auslegungsbedürftiger Blankettnormen hilft dem Rechtsanwender bei der Auslegung nicht unmittelbar weiter.693 Bei Untersuchung der Definition der beruflichen Sorgfalt fällt zunächst auf, dass das Verhältnis zwischen den beiden Kriterien – anständige Marktgepflogenheiten einerseits und Treu und Glauben andererseits – erläuterungsbedürftig ist. Mit der Formulierung „und/oder“ ist offenbar gemeint, dass es ausreicht, wenn eines der Kriterien erfüllt ist, wobei es aber unschädlich ist, wenn beide erfüllt sind.694 Das wirft im Rahmen dieser Untersuchung insbesondere die Frage auf, inwieweit sich Treu und Glauben von den anständigen Marktgepflogenheiten denn unterscheidet bzw. welche Bedeutung die jeweiligen Begriffe haben sollen.695 Offenbar verwendeten einige Mitgliedstaaten in ihrem nationalen Wettbewerbsrecht bislang wahlweise den einen oder den anderen dieser beiden Standards, so dass teilweise in Frage gestellt wurde, inwieweit sich ein autonomes, europäisches Konzept der beruflichen Sorgfalt wird herausbilden können.696 Die anständigen Marktgepflogenheiten697 gehen wohl u. a. auf den Begriff der honest practices in industrial or commercial matters in Art. 10bis Abs. 2 der Pariser Verbandsübereinkunft zum Schutz des gewerblichen Eigentums698 zurück.699 Naheliegend erscheint es, dass der europäische Gesetz693 Glöckner, WRP 2004, 936, 940 kritisiert dies als „begriffliche[s] Mimikri“, das lediglich „ein[en] Blankettbegriff durch andere ersetzt“, obwohl er grundsätzlich die Aufnahme „generalklauselartige[r] Tatbestände“ in die UGP-RL für einen „methodischen Quantensprung“ des Unionsrechts hält, siehe ders., GRUR 2013, 224. 694 Die Umsetzung in den Mitgliedstaaten ist z. T. nur mit einem der beiden Kriterien erfolgt, siehe dazu Keirsbilck, The New European Law of Unfair Commercial Practices and Competition Law, S. 275 f. Manche Mitgliedstaaten haben andere Begriffe wie „bewährtes Verfahren“ oder „bewährte Marktpraxis“ beibehalten, siehe dazu Bericht der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat und den Europäischen Wirtschaftsund Sozialausschuss – Erster Bericht über die Anwendung der Richtlinie 2005/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Mai 2005 über unlautere Geschäftspraktiken im binnenmarktinternen Geschäftsverkehr zwischen Unternehmen und Verbrauchern und zur Änderung der Richtlinie 84/450/EWG des Rates, der Richtlinien 97/7/EG, 98/27/EG und 2002/65/EG des Europäischen Parlaments und des Rates sowie der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates („Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken“), Brüssel, den 14.3.2013, COM (2013) 139 final, S. 14. 695 Der deutsche Gesetzgeber macht aus beiden Kriterien eines, indem er auf „Treu und Glauben unter Berücksichtigung der Marktgepflogenheiten“ abstellt, vgl. § 2 Abs. 1 Nr. 7 UWG. 696 Keirsbilck, The New European Law of Unfair Commercial Practices and Competition Law, S. 275 f. 697 Engl. Fassung „honest market practice“, frz. Fassung „pratiques de marché honnêtes“. 698 Paris Convention for the Protection of Industrial Property of March 20, 1883, as revised at Brussels on December 14, 1900, at Washington on June 2, 1911, at The Hague on
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geber den Mitgliedstaaten hier – bemerkenswerterweise trotz des vollharmonisierenden Ansatzes der Richtlinie – eine Gelegenheit eröffnen wollte, ihre vorhandene Gesetzgebung bzw. die dazu ergangene Rechtsprechung in das europäische Lauterkeitsrecht zu integrieren. Dann hätte es aber nahegelegen, den Mitgliedstaaten eine mit der CLAB-Datenbank vergleichbare Plattform zur Verfügung zu stellen, um zumindest im Laufe der Zeit eine einheitliche Entscheidungspraxis und damit die Herausbildung eines autonom-europäischen Begriffs der beruflichen Sorgfalt zu ermöglichen. Daneben ist Treu und Glauben wohl auch zum dem Zweck in die Bestimmung aufgenommen worden, klarzustellen, dass nicht etwa allein – möglicherweise fragwürdige – Usancen der entsprechenden Kreise von Marktteilnehmern, sondern zusätzlich ein objektiver, unabhängiger Maßstab besteht.700 So hat Generalanwältin Trstenjak darauf hingewiesen, dass ein Gesetzesverstoß wohl immer zugleich einen Verstoß gegen die berufliche Sorgfalt darstellen soll.701 Der Begriff der beruflichen Sorgfalt stellt also – was bei Lektüre der deutschen Sprachfassung einfältig klingen mag – eine Sorgfaltspflicht auf.702 Das rückt auch den Grundsatz von Treu und Glauben in die Nähe eines objektivierbaren Sorgfaltsmaßstabs. Was die Richtlinie unter Treu und Glauben versteht, wird nicht weiter definiert,703 obwohl es sich um ein zentrales Kriterium der Unlauterkeit handelt.704 In den lauterkeitsrechtlichen Generalklauseln der Mitgliedstaaten war
November 6, 1925, at London on June 2, 1934, at Lisbon on October 31, 1958, and at Stockholm on July 14, 1967, and as amended on September 28, 1979. 699 So Henning-Bodewig, Unfair Competition Law – European Union and Member States, S. 9. 700 Koch, Die Richtlinie gegen unlautere Geschäftspraktiken, S. 34: „Nicht die tatsächliche Übung der in Rede stehenden Geschäftskreise, sondern vom Richter nach Billigkeit und den Grundsätzen von Treu und Glauben zu ermittelnde Maßstäbe […].“ 701 Schlussanträge der Generalanwältin Verica Trstenjak vom 29.11.2011, Rs. C-453/ 10 Jana Pereničová und Vladislav Perenič ./. SOS financ spol. s r. o., ECLI:EU: C:2011:788, Rn. 106: „Lediglich vorsorglich weise ich darauf hin, dass falsche Angaben in Bezug auf den effektiven Jahreszins durch dessen fehlerhafte Berechnung kaum den Anforderungen der beruflichen Sorgfalt genügen dürften. Von einem Gewerbetreibenden ist nämlich zu erwarten, dass er seine geschäftliche Tätigkeit im Einklang mit der relevanten Gesetzgebung ausübt und besondere Sorgfalt im Umgang mit einem Verbraucher an den Tag legt, zumal Letzterer auf das fachmännische Können des Gewerbetreibenden angewiesen ist.“ 702 Vgl. für die englische Sprachfassung Abbamonte, in: Weatherill / Bernitz, The Regulation of Unfair Commercial Practices under EC Directive 2005/29 S. 11, 22: „Professional diligence is broadly equivalent to the common law concept of duty of care.“ 703 Collins, ERCL 2005, 417, 419; Collins, MLR 2010, 89, 98. 704 Collins, ERCL 2005, 417, 450: „At the heart of the Directive lies the good faith standard.“
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Kapitel 2 – Bestandsaufnahme und Analyse
Treu und Glauben bis dahin nur vereinzelt vertreten.705 Die UGP-Richtlinie verfolgt aber nach ihrem 13. Erwägungsgrund ausdrücklich das Ziel, „die in den Mitgliedstaaten existierenden unterschiedlichen Generalklauseln und Rechtsgrundsätze zu ersetzen“. Dabei weichen die in den Mitgliedstaaten für die Generalklausel verwendeten Formulierungen durchaus – auch weiterhin – voneinander ab.706 Möglicherweise ist hier der Begriff selbst für die Frage, wie die Generalklausel mit Inhalt gefüllt wird, aber gar nicht von entscheidender Bedeutung.707 Dennoch wäre es natürlich wünschenswert, wenn die Mitgliedstaaten sich eines einheitlichen Begriffes bedienen würden, um die Vereinheitlichung des dahinterstehenden materiellen Standards zu erleichtern. So lässt sich auch in den nationalen Rechtsordnungen eine Verbindung zwischen dem Begriff der Lauterkeit und dem Grundsatz von Treu und Glauben herstellen.708 Nach der Realisierbarkeit und dem möglichen Inhalt einer Generalklausel für eine Richtlinie im Bereich des unlauteren Wettbewerbs hatte die Europäische Kommission bereits im Grünbuch Verbraucherschutz von 2001 gefragt.709 Damals präferierte die Kommission offenbar noch (bereits vorhandene) Begriffe wie „Lauterkeit des Handelsverkehrs“ oder „korrektes Marktverhalten“ als Kriterien für die Generalklausel.710 Dementsprechend war im ersten Vorschlag der Kommission711 die berufliche Sorgfalt noch als „das
Siehe die detaillierte Aufstellung der Generalklauseln aller Mitgliedstaaten bei van Dam / Budaite, The Statutory Frameworks and General Rules on Unfair Commercial Practices in the 25 EU Member States on the Eve of Harmonization, S. 133–136. Danach sind Begriffe wie „gute Sitten“ bzw. „gute Handelsbräuche“ oder schlicht „Fairness“ am Häufigsten anzutreffen. Den Begriff „good faith“ findet man nur bei der Übersetzung der polnischen und der spanischen Generalklausel. 706 Vgl. etwa zur italienischen Umsetzung Alvisi, in: Bongiovanni / Sartor / Valentini, Reasonableness and Law, S. 283 f., die besonders darauf abstellt, aus wessen Sicht zu beurteilen ist, welcher Sorgfaltsstandard „billigerweise“ erwartet werden kann. Alsivi argumentiert, dass hier nicht nur Marktgepflogenheiten, sondern auch berechtigte Verbrauchererwartungen zu berücksichtigen seien, wie dies die italienische Umsetzungsbestimmung auch tue. 707 So auch Henning-Bodewig, Unfair Competition Law – European Union and Member States, S. 9. 708 Vgl. etwa für das französische Recht Touchent, Petites Affiches 2006 N° 153, S. 11 f., der eine Verbindung zwischen dem Begriff der Lauterkeit („loyauté“) und dem Grundsatz von Treu und Glauben („bonne foi“) in Art. 1134 Abs. 3 Code Civil herstellt. 709 Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Grünbuch zum Verbraucherschutz in der Europäischen Union, Brüssel, den 2.10.2001, KOM (2001) 531 endg. 710 Grünbuch zum Verbraucherschutz in der Europäischen Union (oben Kapitel 2 Fn. 709), S. 15. 711 Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über unlautere Geschäftspraktiken im binnenmarktinternen Geschäftsverkehr zwischen Unternehmen und Verbrauchern und zur Änderung der Richtlinien 84/450/EWG, 97/7/EG and 705
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Maß an Fachkenntnissen und Sorgfalt, das den Erfordernissen der im Binnenmarkt im Tätigkeitsbereich des Gewerbetreibenden üblichen Handelspraxis entspricht.“ definiert. Die Kommission war im Gesetzgebungsverfahren zudem davon ausgegangen, dass die lauterkeitsrechtliche Generalklausel in der Praxis ohnehin nicht häufig zur Anwendung käme, da die beiden „kleinen Generalklauseln“ (irreführende und aggressive Geschäftspraktiken, Art. 6–9) in Verbindung mit der schwarzen Liste im Anhang der Richtlinie die allermeisten Fälle abdecken würde. Allerdings wurde die „große Generalklausel“ für notwendig gehalten, insbesondere um den Gerichten eine Möglichkeit zu geben, auf sich neu entwickelnde Geschäftspraktiken zu reagieren, die zum Zeitpunkt des Erlasses der Richtlinie nicht absehbar waren. Die Einführung des Maßstabs Treu und Glauben in die Legaldefinition der beruflichen Sorgfalt geht ohnehin erst auf einen später im Gesetzgebungsverfahren gemachten Vorschlag des Europäischen Parlaments zurück.712 Das Parlament hatte die Einführung dieses zusätzlichen Maßstabs etwas kursorisch damit begründet, er sei notwendig, „um rechtliche Klarheit zu erreichen, überflüssige Rechtsstreitigkeiten zu vermeiden und die Rechtssicherheit aufrechtzuerhalten“. Dies ergibt angesichts des prima facie sehr geringen normativen Gehalts von Treu und Glauben nur dann Sinn, wenn es möglich ist, auf vorhandene Wertungen, die diesen Grundsatz ausfüllen können, zurückzugreifen. Konkretere Aussagen zum Gehalt von Treu und Glauben hatte während des Gesetzgebungsverfahrens der Ausschuss für Umweltfragen, Volksgesundheit und Verbraucherpolitik vorgeschlagen.713 Danach sollte ein ausdrücklicher Verweis auf den gleichnamigen Grundsatz in der Klauselrichtlinie aufgenommen werden und damit im Gesetzestext eine eindeutige Verbindung zwischen beiden Rechtsakten verankert werden, aus der sich auch die Vorgabe für eine rechtsaktübergreifende, einheitliche Auslegung des hier untersuchen Begriffs ergeben hätte. Dem folgend hätte die Definition der beruflichen Sorgfalt gelautet714:
98/27/EG (Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken) (SEC (2003) 724) /* KOM/2003/ 0356 endg. – COD 2003/0134 */. 712 Siehe Europäisches Parlament, Ausschuss für Recht und Binnenmarkt, Bericht über den Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über unlautere Geschäftspraktiken im binnenmarktinternen Geschäftsverkehr zwischen Unternehmen und Verbrauchern und zur Änderung der Richtlinien 84/450/EWG, 97/7/EG und 98/27/EG (Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken) (KOM (2003) 356 – C5-0288/2003–2003/ 0134(COD)), 18.3.2004, dort Änderungsantrag 29 auf S. 20 f. 713 Siehe Stellungnahme des Ausschusses für Umweltfragen, Volksgesundheit und Verbraucherpolitik, in: EP, Bericht über den Vorschlag zur UGP-RL (oben Kapitel 2 Fn. 712), dort S. 49 ff. 714 Stellungnahme des Ausschusses für Umweltfragen, Volksgesundheut und Verbraucherpolitik (oben Kapitel 2 Fn. 713), S. 67.
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Kapitel 2 – Bestandsaufnahme und Analyse
„ ‚berufliche Sorgfalt‘ [ist] das Maß an Fachkenntnissen und Sorgfalt und die Redlichkeit, die den Erfordernissen der im Binnenmarkt im Tätigkeitsbereich des Gewerbetreibenden üblichen Handelspraxis und dem Gebot von Treu und Glauben im Einklang mit den Bestimmungen der Richtlinie des Rates 93/13/EWG vom 5. April 1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen entspricht.“
Darauf aufbauend hatte das Europäische Parlament vorgeschlagen, die berufliche Sorgfalt wie folgt zu definieren: „[…] der Standard an Kenntnissen und Sorgfalt, der von einem Gewerbetreibenden unter Berücksichtigung etwaiger besonderer Anforderungen der Handelspraxis in seinem Tätigkeitsbereich in dem Mitgliedstaat, in dem er niedergelassen ist, vernünftigerweise erwartet werden kann, und dem Gebot von Treu und Glauben entspricht, wie dies in der Richtlinie 93/13/EWG des Rates vom 5. April 1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen (1) gefordert wird“.715
Zudem hatte das Europäische Parlament den Grundsatz von Treu und Glauben allerdings direkt in die allgemeine Definition der Unlauterkeit einer Geschäftspraxis aufgenommen, wonach diese u. a. „den Geboten der beruflichen Sorgfaltspflicht und von Treu und Glauben“ widersprechen musste. Dies ist vom Rat nicht übernommen worden, der gleichwohl davon ausgeht, er habe den Vorschlag mit der Aufnahme in Art. 2 lit. h) „sinngemäß […] berücksichtigt“.716 Mit dem tatsächlich verabschiedeten Text stuft der Rat Treu und Glauben allerdings nicht nur um eine Definitionsebene als Hilfskriterium herunter; offen bleibt insbesondere auch, warum der ausdrückliche Verweis auf die RL 93/13 gestrichen wurde, der für die Erzielung begrifflicher Kohärenz innerhalb des Sekundärrechts äußerst hilfreich gewesen wäre. Dennoch ist festzuhalten, dass der Rat den Vorschlag des Parlaments offenbar nicht inhaltlich abgelehnt hat und ihm vor allem die begriffliche Identität der jeweiligen Generalklauseln in UGP-Richtlinie und Klauselrichtlinie bewusst war. Damit kann davon ausgegangen werden, dass der Gesetzgeber den Grundsatz von Treu und Glauben nicht in die Richtlinie aufgenommen hätte, 715 Standpunkt des Europäischen Parlaments festgelegt in erster Lesung am 20. April 2004 im Hinblick auf den Erlass der Richtlinie 2004/…/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über unlautere Geschäftspraktiken im binnenmarktinternen Geschäftsverkehr zwischen Unternehmen und Verbrauchern und zur Änderung der Richtlinien 84/450/EWG, 97/7/EG und 98/27/EG (Richtlinien über unlautere Geschäftspraktiken), ABl. C104E/261, Dokumenten-Nr. P5_TC1-COD(2003)0134, S. 265. 716 Gemeinsamer Standpunkt (EG) Nr. 6/2005 vom Rat festgelegt am 15. November 2004 im Hinblick auf den Erlass der Richtlinie 2005/…/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom … über unlautere Geschäftspraktiken im binnenmarktinternen Geschäftsverkehr zwischen Unternehmen und Verbrauchern und zur Änderung der Richtlinie 84/450/EWG des Rates, der Richtlinien 97/7/EG, 98/27/EG und 2002/65/EG des Europäischen Parlaments und des Rates sowie der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates (Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken), ABl. 2005/C 38 E/01, S. 18.
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wenn er Bezugnahmen auf denselben Grundsatz in der Klauselrichtlinie bei der Auslegung hätte vermeiden wollen.717 Bemerkenswert ist zudem, dass hier nun sogar von einem allgemeinen Grundsatz von Treu und Glauben die Rede ist.718 Dies spricht zusätzlich dafür, dass der europäische Gesetzgeber hier rechtsaktübergreifend von einem im Ausgangspunkt identischen und einheitlichen Grundsatz ausgeht. Diese Formulierung ist in der Literatur kaum wahrgenommen worden, die sich im Übrigen auch nur in Ausnahmefällen überhaupt die Frage stellt, woraus sich der Grundsatz von Treu und Glauben im Sinne der UGP-Richtlinie denn eigentlich speist – aus einer autonom-europäischen Auslegung oder aus den Vorgaben der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen.719 Das zweite Kriterium in Gestalt der Eignung zur wesentlichen Beeinflussung des Durchschnittsverbrauchers ist für die hier durchgeführte Untersuchung weniger relevant. Da aber auch dieser Begriff das Thema der horizontalen Systematisierung des Unionsprivatrechts insgesamt betrifft, sei darauf hingewiesen, dass der europäische Gesetzgeber hier im Hinblick auf sein Verbraucherleitbild ausdrücklich auf das vom Gerichtshof entwickelte Bild des „fiktiven typischen Verbraucher[s]“ oder des Durchschnittsverbrauchers abstellt. Dies entspreche dem Verhältnismäßigkeitsprinzip, wobei auch auf bestimmte, besonders anfällige Gruppen abgestellt werden könne, wenn sich eine Geschäftspraxis gezielt an diese richtet (18. Erwägungsgrund). Dabei stellte die Kommission auch die Verbindung zur Klauselrichtlinie her, die einen ähnlichen Ansatz verfolge.720 Ausdrücklich sollte die Verwendung allgemeiner Grundsätze es danach auch erlauben, auf Wertungen aus der EuGH-Rechtsprechung und dem vorhandenen EU-Recht zurückzugreifen, wobei hier nochmals ausdrücklich die Klauselrichtlinie erwähnt wird. Ebenfalls fand sich auch hier bereits die Möglichkeit einer Nutzung von Konzepten aus den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen Erwähnung, darunter auch „Vorschriften […] zur Billigkeit von Geschäften und zum guten Glauben.“721 717 Hinzuweisen auch hier wieder darauf, dass sich die Nähe zwischen beiden Rechtsakten in anderen Sprachfassungen schon dem Namen nach viel deutlicher aufdrängt: Während zwischen missbräuchlichen Klauseln und unlauteren Geschäftspraktiken im Wortlaut keine Verbindung besteht, ist diese zwischen „Unfair commercial practices“ und „Unfair contract terms“ sehr wohl gegeben. 718 Collins, ERCL 2005, 417, 426 weist zudem darauf hin, dass die Richtlinie mit der Bezugnahme auf den Grundsatz von Treu und Glauben offenbar davon ausgeht, dass dieser Grundsatz bereits Teil des Acquis ist. 719 Poillot, Petites Affiches 2011, N° 234, S. 34 f. tendiert zu der Ansicht, es müsse sich um nationale allgemeine Grundsätze von Treu und Glauben handelt, da der Grundsatz im europäischen Recht nicht definiert sei. Dem ist natürlich entgegenzuhalten, dass gerade die Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken ihre Generalklausel durch eine Vielzahl von Beispielen autonom-europäisch konkretisiert. 720 Grünbuch Verbraucherschutz (oben Kapitel 2 Fn. 709), S. 15. 721 Grünbuch Verbraucherschutz (oben Kapitel 2 Fn. 709), S. 15.
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Kapitel 2 – Bestandsaufnahme und Analyse
2. Verhältnis zu schwarzer Liste und kleinen Generalklauseln Die im Anhang der UGP-RL enthaltene schwarze Liste bewertet bestimmte Geschäftspraktiken verbindlich und ausnahmslos als unlauter und ist die erste ihrer Art im Unionsrecht.722 Hier stellt sich für diese Untersuchung die Frage, inwieweit die vom Unionsgesetzgeber getroffene Wertung, dass diese Geschäftspraktiken gegen Treu und Glauben verstoßen, jeweils verallgemeinerbar ist und ggf. einen Induktionsschluss auf den Gehalt dieses Grundsatzes auch außerhalb der UGP-RL zulässt. Hierfür spricht jedenfalls der Hinweis im 13. Erwägungsgrund der Richtlinie, wonach das generelle Verbot durch die Regeln über irreführende und aggressive Geschäftspraktiken konkretisiert wird.723 Zur schwarzen Liste gehören die Verbotstatbestände der Nrn. 1–23, die allesamt irreführende Geschäftspraktiken darstellen. Hier lassen sich u. a. falsche Behauptungen über Qualitäten des Gewerbetreibenden (Nrn. 1–4), über seine Fähigkeit zur tatsächlichen Lieferung der angepriesenen Sache (Nrn. 5– 7), über Qualitäten des angebotenen Produkts oder der Dienstleistung selbst (Nrn. 8–10; 12; 13; 17) finden; die übrigen Verbote beziehen sich meist unmittelbar auf eine als unlauter erachtete Art und Weise der Werbung. Interessant ist hier, dass es in den genannten Kategorien Überschneidungen mit dem Vertragsrecht gibt, insbesondere mit den Vorgaben der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie. Auch wenn die Verbote in der UGP-Richtlinie nicht im umfassenden Sinne auf die Vertragsmäßigkeit der Ware abstellen, wie dies etwa in Art. 2 der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie getan wird, so wird dennoch hinreichend klar, dass die Zusicherung bestimmter Eigenschaften eines Produkts, das diese Eigenschaften in Wahrheit nicht aufweist, nicht nur unter vertragsrechtlichen Gesichtspunkten unzulässig ist, sondern als unlautere Geschäftspraxis auch gegen Treu und Glauben verstößt. Hier wird besonders die Verbindung von Treu und Glauben mit Informationspflichten im Sinne eines „fair and open dealing“ erkennbar. Der sog. großen Generalklausel der UGP-Richtlinie darüber hinaus im Rahmen dieser Untersuchung einen Gehalt zuzuweisen, wie dies mittlerweile jedenfalls in Ansätzen bei der Klauselrichtlinie möglich war,724 ist wegen ihrer geringen Anwendungshäufigkeit in der Praxis nicht ganz einfach. Die Generalklausel kommt nämlich recht selten zum Einsatz bzw. als Gegenstand eines
722 Büllesbach, Auslegung der irreführenden Geschäftspraktiken des Anhangs I der Richtlinie 2005/29/EG über unlautere Geschäftspraktiken, S. 30. 723 Im Ergebnis genauso Dohrn, Die Generalklausel der Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken – ihre Interpretation und Umsetzung, S. 65 f., der argumentiert, die in Art. 5 Abs. 2 der UGP-RL aufgestellten Voraussetzungen fänden sich auch in Art. 6–9 wieder, die deshalb „spezielle Fälle unlauterer Praktiken nach Art. 5 Abs. 2“ darstellten. 724 Siehe oben S. 180 ff.
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Vorabentscheidungsverfahrens zum Europäischen Gerichtshof, da die schwarze Liste und die kleinen Generalklauseln bereits fast alle Fälle abfangen.725 Dementsprechend ist hier vor allem auch auf das Verhältnis zwischen schwarzer Liste, kleinen und großer Generalklausel einzugehen. Die Kommission hatte die Auffassung vertreten, die große Generalklausel finde sich zwar in den konkreteren Bestimmungen wieder, sei aber für deren Anwendung nicht heranzuziehen, vielmehr funktionierten diese unabhängig. Auch nach dieser Auslegung ist es aber nicht ausgeschlossen, aus dem Speziellen auf das Allgemeinere zu folgern und umgekehrt die kleinen Generalklauseln und insbesondere die schwarze Liste für Induktionsschlüsse heranzuziehen, so dass diese ihrerseits das Verständnis der großen Generalklausel erleichtern können.726 Anwendungsvorrang soll zwar die schwarze Liste vor den kleinen vor der großen Generalklausel genießen,727 was sich wegen des Vorrangs des Spezielleren vor dem Allgemeineren eigentlich von selbst ergibt. Umgekehrt können die spezielleren Unlauterkeitstatbestände aber durchaus als Ausdruck des Grundsatzes von Treu und Glauben gesehen werden und taugen daher für entsprechende Induktionsschlüsse, auch wenn die im Anhang aufgeführten Fälle selbständige Verstöße darstellen.728 Denkbar sind insbesondere Analogieschlüsse. Darüber hinaus kann der Anhang bei anderen Fällen, wo unklar ist ob diese von der Generalklausel umfasst sind, oder nicht, wohl nicht viel weiterhelfen.729 Zudem muss darauf hingewiesen werden, dass es auch innerhalb der spezielleren Verbotstatbestände des Anhangs immer wieder weiche Kriterien in Gestalt unbestimmter Rechtsbegriffe wie etwa der Angemessenheit gibt.730 Die kleinen Generalklauseln unterteilen sich in die irreführenden Handlungen nach Art 6 f. und die unzulässigen Beeinflussungen nach Art. 8 f. der Richtlinie. Erstere stehen dem Transparenzgedanken von Treu und Glauben nahe,
Zu beachten ist hierbei allerdings auch, dass Art. 3 Abs. 5 der UGP-RL es den Mitgliedstaaten noch bis Juni 2013 erlaubt hat, unter bestimmten Umständen strengere nationale Regeln aufrecht zu erhalten, so dass die Richtlinie bis dahin de facto teilweise nur mindestharmonisierend war. Es ist also damit zu rechnen, dass die Zahl der Vorabentscheidungsersuchen in den kommenden Jahren ansteigt. 726 So wohl auch Köhler, in: Köhler / Bornkamm, Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb, § 3 Rn. 37, der dies aus § 5 Abs. 4 der UGP-RL ableitet, wonach insbesondere irreführende und aggressive Geschäftspraktiken unlauter sind. 727 Vgl. Europäische Kommission, Arbeitspapier der Kommissionsdienststellen – Leitlinien zur Umsetzung/Anwendung der Richtlinie 2005/29/EG über unlautere Geschäftspraktiken, Brüssel, den 3.12.2009, SEK(2009) 1666, Anhang I, S. 74. 728 Collins, MLR 2010, 89, 97. 729 So Collins, ERCL 2005, 417, 421 f. 730 Büllesbach, Auslegung der irreführenden Geschäftspraktiken des Anhangs I der Richtlinie 2005/29/EG über unlautere Geschäftspraktiken, S. 34, nennt etwa Nr. 5, wo der Begriff der Angemessenheit verwendet wird und weitere Beispiele. 725
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wie er auch in der Klauselrichtlinie eine ganz entscheidende Rolle spielt.731 In der Literatur ist insoweit darauf hingewiesen worden, dass der Grundsatz von Treu und Glauben auch bei der Auslegung von (Willens-)Erklärungen zum Zuge kommt. Hier bestehe insofern eine Nähe etwa zu Werbeaussagen, als dass auch diese mit dem Inhalt zutreffend sein müssen, wie sie nach Treu und Glauben verstanden werden.732 Damit könnte Treu und Glauben hier auch dazu dienen, den Gewerbetreibenden gewisse Spitzfindigkeiten im Sinne von optisch oder inhaltlich versteckten Aussagen, die die Unlauterkeit einer Geschäftshandlung beseitigen könnten, abzuschneiden. Das Verbot unzulässiger Beeinflussungen zielt dagegen noch unmittelbarer auf den Willensbildungsprozess des Verbrauchers ab. Der den Art. 8 und 9 zugrundeliegende Gedanke des Verbots der Nötigung stellt sicher eine besonders krasse Form des Verstoßes gegen Treu und Glauben dar. Auch diese Fallgruppe lässt sich in ihrem Grundgedanken aber an anderer Stelle wiederfinden, so etwa beim (Ausbeutungs-)Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung733 oder in der klassischen Begründung der Notwendigkeit einer Klauselkontrolle, nämlich der missbräuchlichen Ausnutzung wirtschaftlicher Macht.734 Der deutsche UWG-Gesetzgeber hat in § 2 Abs. 1 Nr. 7 UWG die Definition der beruflichen Sorgfalt (in der Umsetzung: fachliche Sorgfalt) wie in Art. 2 lit. h) der UGP-RL umgesetzt, allerdings mit dem Unterschied, dass dort auf „Treu und Glauben unter Berücksichtigung der Marktgepflogenheiten“ abgestellt wird. Aus zwei Kriterien wird also eines gemacht und der Inhalt von Treu und Glauben mittels der (tatsächlichen – nicht der anständigen!) Marktgepflogenheiten feinjustiert. Inwieweit hiermit eine inhaltliche Änderung gegenüber der Richtlinie verbunden ist, ist bisher unklar.735 Es erscheint jedoch gut vertretbar, dass Treu und Glauben den Begriff der Anständigkeit eben enthält, wobei es trotzdem unglücklich ist, wenn bei einer Blankettnorm, die der Rechtsvereinheitlichung dient, bei der Umsetzung die Terminologie geändert wird. 3. Konkretisierung und Auslegung Auch für die UGP-Richtlinie stellt sich wieder die bei Untersuchung der Klauselrichtlinie intensiv diskutierte Frage,736 wer letztverbindlich zur KonSiehe oben S. 128 ff. Dohrn, Die Generalklausel der Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken – ihre Interpretation und Umsetzung, S. 196. 733 Siehe oben S. 198 ff. 734 Siehe oben S. 83 ff. 735 Köhler, in: Köhler/Bornkamm, Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb, § 3 Rn. 44 geht davon aus, die deutsche Umsetzungsvorschrift bedürfe insoweit einer richtlinienkonformen Auslegung; es sei immer auf die „anständigen Marktgepflogenheiten“ abzustellen. 736 Siehe oben S. 89 ff. 731 732
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kretisierung der Generalklausel – Anwendung oder Auslegung? – berufen ist.737 Dabei fragt sich insbesondere, ob die Freiburger Kommunalbauten-Rechtsprechung auf die Generalklausel der UGP-RL übertragbar ist, weil diese sich von der Klauselrichtlinie ja hinsichtlich des Harmonisierungsgrads und der Verbindlichkeit des Anhangs deutlich unterscheidet.738 Außerdem sind Geschäftspraktiken zwar auch vor dem Hintergrund einer (nationalen) Rechtsordnung zu sehen, können aber als tatsächliche Handlungen oder sonstige Verhaltensweisen mehr vor dem Hintergrund der jeweiligen praktischen Marktbedingungen als vor demjenigen des anwendbaren Rechts bewertet werden.739 Zur Aufteilung der Konkretisierungsbefugnis hat der deutsche Bundesgerichtshof folgendes Kriterium entwickelt740: Wenn sich Zweifel, die sich hinsichtlich des Wortlauts einer sekundärrechtlichen Regelung zunächst ergeben, „durch eine sorgfältige, am Sinn und Zweck der Regelung orientierte Auslegung vollständig ausräumen lassen“, so sei eine Vorlage zur Vorabentscheidung an den EuGH entbehrlich. Anzumerken ist allerdings, dass es sich hierbei zwar um eine Entscheidung zum die UGP-RL umsetzenden Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG) handelt, dass aber die Auslegungsfrage nicht die Generalklausel des UWG, sondern eine auf die Verbrauchsgüterkaufrichtlinie zurückgehende Bestimmung des BGB, konkret die Auslegung des Begriffs „Garantie“ betraf.741 Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zum Begriff der beruflichen Sorgfalt existiert bisher nur wenig. In der Rs. CHS Tour Services ging es um eine Konkretisierung dieses Begriffs; auf den Grundsatz von Treu und Glauben sind dabei aber weder der EuGH, noch der Generalanwalt eingegangen.742 Der Gerichtshof hat nur entschieden, dass ein Verstoß gegen die Erfordernisse der beruflichen Sorgfalt nicht mehr geprüft werden muss, wenn eine Geschäftspraxis die Voraussetzungen von Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie erfüllt und dementsprechend als irreführend anzusehen ist. Für die Konkretisierung erscheint zunächst folgende Aufteilung denkbar: Treu und Glauben stellt einen Mindeststandard dar, wonach Geschäftspraktiken immer unlauter sind, wenn sie gegen diesen abstrakt vom Marktgesche737 Auch hier muss die Konkretisierungsbefugnis beim EuGH liegen; so auch Glöckner, WRP 2004, 936, 943; Glöckner / Henning-Bodewig, WRP 2005, 1311, 1322 f.; a. A. Apostolopoulos, WRP 2005, 152, 154 f. 738 Siehe hierzu Eriksson / Öberg, in: Weatherill / Bernitz, The Regulation of Unfair Commercial Practices under EC Directive 2005/29, S. 91, 100 f. 739 Schillig, Konkretisierungskompetenz und Konkretisierungsmethoden im Europäischen Privatrecht, S. 254 f. 740 BGH, 14.4.2001, Az. I ZR 133/09, NJW 2011, 2653, Rn. 31. 741 Siehe auch Köhler, WRP 2012, 22, 25 ff. 742 EuGH, 19.9.2013, Rs. C-435/11 CHS Tour Services GmbH ./. Team4 Travel GmbH, ECLI:EU:C:2013:574 sowie die Schlussanträge des Generalanwalts Nils Wahl vom 13.6.2013 in derselben Rechtssache, ECLI:EU:C:2013:403.
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hen existierenden Maßstab verstoßen. Die anständigen Marktgepflogenheiten orientieren sich dagegen mehr am tatsächlichen Geschäftsgebaren auf dem jeweiligen Markt,743 auch wenn durch die Beschränkung auf „anständige“ Praktiken auch hier eine gewisse Objektivierung stattfindet.744 Die letztverbindliche Festlegung des Inhalts des Begriffs der beruflichen Sorgfalt einschließlich des Grundsatzes von Treu und Glauben muss auch hier – um so mehr im Hinblick auf den vollharmonisierenden Charakter der Richtlinie – dem Europäischen Gerichtshof obliegen.745 Zwar stellt auch die UGPRichtlinie nach ihrem 7. Erwägungsgrund darauf ab, dass „[b]ei der Anwendung dieser Richtlinie, insbesondere der Generalklauseln […] die Umstände des Einzelfalls umfassend gewürdigt werden“. Die Einzelfallumstände haben auch im Fall der Klauselrichtlinie eine wichtige Rolle als Argument in der Debatte um die Konkretisierungskompetenzen gespielt. In der tatsächlichen Auslegung der Generalklauseln gerade in den jüngeren Vorabentscheidungen, in denen der Gerichtshof seine Aufgabe der „Auslegung der allgemeinen Kriterien“ ernster genommen hat, spielen die Einzelfallumstände aber immer nur in Gestalt typisierter Umstände eine Rolle. Eine wirkliche Berücksichtigung der Einzelfallumstände würde es im Übrigen auch ausschließen, dass höchste nationale Gerichte überhaupt allgemeingültige Grenzen für vorformulierte Geschäftsbedingungen festlegen können. Hierin müsste dann sogar ein Verstoß gegen die Richtlinie gesehen werden, weil die Einzelfallumstände als eines der von ihr vorgegebenen Kriterien ja praktisch keine Berücksichtigung fände, wenn bestimmte Klauseln ab einer festen Schwelle – mit dem Umkehrschluss, dass sie bis dahin grundsätzlich in Ordnung sind – für unwirksam erklärt würden. Hieran haben – vielleicht auch im Interesse des Gelingens der Vereinheitlichung des AGB-Rechts – aber bisher weder die Europäische Kommission noch der Gerichtshof Kritik geäußert. Gleiches muss grundsätzlich im Bereich der UGP-Richtlinie gelten. Der Einsatz einer Generalklausel ist auch für die UGP-Richtlinie kontrovers diskutiert worden. Gegen Befürchtungen der Rechtsunsicherheit und 743 Vgl. Riesenhuber, Europäisches Vertragsrecht, S. 233: „Der allgemeine Grundsatz von Treu und Glauben wird vorausgesetzt und als normative Ergänzung des – nur tatsächlichen – Maßstabs der anständigen Marktgepflogenheiten als Bewertungskriterium für ein redliches Unternehmerverhalten verwendet.“ 744 Vgl. Wunderle, Verbraucherschutz im Europäischen Lauterkeitsrecht, S. 219, der einerseits von einer Auslegung „an den tatsächlich praktizierten Geschäftspraktiken“ spricht, andererseits aber davon ausgeht, es handele sich „nicht um ein faktisches, sondern um ein wertendes Element“. 745 Schmidt, Martin, Konkretisierung von Generalklauseln im europäischen Privatrecht, S. 135; Keller, in: Harte-Bavendamm / Henning-Bodewig UWG, § 2 Rn. 184. Dohrn, Die Generalklausel der Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken – ihre Interpretation und Umsetzung, S. 201 fordert, der Gerichtshof müsse sich hier angesichts des vollharmonisierenden Charakters der UGP-RL „bei der Ausfüllung des Prinzips von Treu und Glauben […] weniger Zurückhaltung auferlegen […]“ als bei der Klauselrichtlinie.
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Gefährdung des Harmonisierungszwecks hat sich aber schließlich die Ansicht durchgesetzt, dass eine Generalklausel notwendig ist, damit der Gesetzgeber neuen Formen unlauteren Wettbewerbs nicht mit nachträglichen Einzellösungen hinterherlaufen muss und die Gesetzgebung somit zukunftssicher ist.746 Die Generalklausel soll als „Sicherheitsnetz“ dienen.747 Der Grundsatz von Treu und Glauben soll vor allem dann zum Zuge kommen, wenn neue Geschäftsmodelle entstehen und es keine (anständigen) Marktgepflogenheiten gibt, auf die die Bewertung der Lauterkeit einer Geschäftshandlung sich stützen könnte. In einem solchen Fall erlaubt Treu und Glauben als offene Norm eine Beurteilung anhand der Interessen aller Beteiligten sowie der im Unionsrecht vorhandenen Wertungen einschließlich des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes.748 Treu und Glauben dient zudem einer Betonung der Verbraucherinteressen im Recht des unlauteren Wettbewerbs749 und impliziert insbesondere auch eine Pflicht zur Rücksichtnahme auf die schutzwürdigen Interessen der Verbraucher.750 Dementsprechend hat die Generalklausel der UGP-RL – ebenso wie die der Klauselrichtlinie – eine Benachteiligung des Verbrauchers zum Tatbestandsmerkmal.751 Möglicherweise soll die Kombination von „anständigen Marktgepflogenheiten“ und „dem allgeneinen Grundsatz von Treu und Glauben“ auch sicherstellen, dass der subjektivere Standard allgemeiner Marktgepflogenheiten zwar die Verbrauchererwartungen und damit die Anforderungen an lauteren Wettbewerb erhöhen kann, wenn etwa ein Händler über besondere Fachkunde verfügt. Andererseits würde der objektivere Standard von Treu und Glauben Collins, MLR 2010, 89, 97. Vgl. Bericht der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat und den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss – Erster Bericht über die Anwendung der Richtlinie 2005/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Mai 2005 über unlautere Geschäftspraktiken im binnenmarktinternen Geschäftsverkehr zwischen Unternehmen und Verbrauchern und zur Änderung der Richtlinie 84/450/EWG des Rates, der Richtlinien 97/7/EG, 98/27/EG und 2002/65/EG des Europäischen Parlaments und des Rates sowie der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates („Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken“), Brüssel, den 14.3.2013, COM (2013) 139 final, S. 14. 748 Köhler, in: Köhler / Bornkamm, Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb, § 3 Rn. 43. 749 Schmidt, Martin, Konkretisierung von Generalklauseln im europäischen Privatrecht, S. 139 f. 750 Keller, in: Harte-Bavendamm / Henning-Bodewig, UWG, § 2 Rn. 184. 751 Diese findet in Art. 5 Abs. 2 lit. b) ihren Ausdruck im Tatbestandsmerkmal der wesentlichen Beeinflussung des Durchschnittsverbrauchers durch die jeweilige Geschäftspraxis. Dieses geht aber zurück auf den Gedanken der „Verbraucher-Benachteiligungsprüfung“, vgl. Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Mitteilung: Folgemaßnahmen zum Grünbuch über Verbraucherschutz in der EU, Brüssel, den 11.6.2002, KOM (2002) 289 endgültig, S. 10. 746 747
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aber dafür sorgen, dass weniger fachkundige oder unseriöse Händler sich hierauf nicht auch noch berufen können, sondern vielmehr das von Treu und Glauben vorgegebene Mindestmaß einhalten müssen.752 Schmidt kritisiert hier das Abstellen auf die „anständigen Marktgepflogenheiten“, die vom Gebaren der Anbieter selbst mitbestimmt würden und ist der Auffassung, in der Sache werde vor allem eine Verhältnismäßigkeitsprüfung durchzuführen sein, die er am Tatbestandsmerkmal des Durchschnittsverbrauchers festmacht.753 II. Fernabsatzrichtlinien Nach Art. 4 der Fernabsatzrichtlinie754 sind bei der Erfüllung bestimmter Informationspflichten bei Fernabsatzverträgen „insbesondere die Grundsätze der Lauterkeit bei Handelsgeschäften […] zu beachten.“ Die englische Fassung der Richtlinie spricht insoweit von „the principles of good faith in commercial transactions“, die französische Fassung von „principes de loyauté en matière de transactions commerciales“. Die Richtlinie über den Fernabsatz von Finanzdienstleistungen755 enthält mit der Fernabsatzrichtlinie vergleichbare Unterrichtungspflichten. Hier wird in Art. 3 Abs. 2 auch in der deutschen Fassung auf den „Grundsatz von Treu und Glauben im Geschäftsverkehr“ abgestellt, die englische Fassung bezieht sich wiederum auf „principles of good faith in commercial transactions“, die französische auf „principes de la bonne foi dans les transactions commerciales“. Diese Diskrepanz der sprachlichen Fassungen zwischen der Fernabsatzrichtlinie und der Richtlinie über den Fernabsatz von Finanzdienstleistungen beruht wohl auf einem Übersetzungsfehler bzw. Redaktionsversehen.756 Für Haustürsituationen hat der Gerichtshof anerkannt, dass die Nichtbelehrung über das Widerrufsrecht „[…] ein positives Eingreifen des nationalen Gerichts rechtfertigen [könne], um bei außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen dem Ungleichgewicht zwischen dem Verbraucher und dem Gewerbetreibenden abzuhelfen.“757
In diesem Sinne wohl Collins, MLR 2010, 89, 98. Schmidt, Martin, Konkretisierung von Generalklauseln im europäischen Privatrecht, S. 140 f., 149. 754 Richtlinie 97/7/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Mai 1997 über den Verbraucherschutz bei Vertragsabschlüssen im Fernabsatz, ABl. 1997 L 144/19. 755 Richtlinie 2002/65/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. September 2002 über den Fernabsatz von Finanzdienstleistungen an Verbraucher und zur Änderung der Richtlinie 90/619/EWG des Rates und der Richtlinien 97/7/EG und 98/27/EG, ABl. 2002 L 271/16. 756 Vgl. dazu Busch, Informationspflichten im Wettbewerbs- und Vertragsrecht, S. 37. 757 EuGH, 17.12.2009, Rs. C‑227/08 Eva Martín Martín ./. EDP Editores SL, Slg. 2009 I-11939, Rn. 28. 752 753
E. Bindung an eigenes Vorverhalten und Verwirkung
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Daher sei eine amtswegige Berücksichtigung der Nichtbelehrung zulässig, wobei im Übrigen auch einer anschließenden Nichtigerklärung des ganzen Vertrages nach nationalem Recht aus Sicht des europäischen Rechts nichts im Wege steht. Diese (Wieder-)Herstellung des vertraglichen Gleichgewichts kann ebenfalls auf den Grundsatz von Treu und Glauben zurückgeführt werden, insbesondere wenn man die Situation mit der Klauselrichtlinie und der Rechtsprechung zum Erfordernis des positiven Eingreifens durch Gerichte zur Wiederherstellung des durch die missbräuchliche Klausel gestörten Gleichgewichts vergleicht.
E. Bindung an eigenes Vorverhalten und Verwirkung E. Bindung an eigenes Vorverhalten und Verwirkung
I.
Rechtsprechung des EuGH zum Verwaltungsrecht
Die erste Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs, in der der Grundsatz von Treu und Glauben eine Rolle spielte, stammt aus dem Bereich des öffentlichen Dienstes der Union selbst. In der Rs. Lachmüller758 ging es um die Wirksamkeit von Entlassungsverfügungen und eine sich aus diesen ergebende Schadensersatzpflicht der Union. Hierzu führte der Gerichtshof folgendes aus: „Alle Maßnahmen öffentlicher Behörden, ob sie sich auf rein administrativem Gebiet bewegen oder im Rahmen der Ausführung eines Vertrages getroffen werden, stehen unter dem Grundsatz von Treu und Glauben.“
Aus diesem Erfordernis leitete er für den zur Entscheidung stehenden Fall insbesondere ab, dass eine Entlassungsverfügung auf dienstlichen Gründen beruhen und mithin frei von Willkür sein müsse. Diese Gründe seien zudem in einer Weise mitzuteilen, die ggf. ihre gerichtliche Überprüfung ermögliche. Treu und Glauben besteht hier also aus einem Willkürverbot und damit verbunden aus einem Motivationszwang für behördliche Entscheidungen. Die Rs. Fiddelaar759 betraf einen vergleichbaren Sachverhalt wie in der Rs. Lachmüller. Hier wiederholt der Gerichtshof die soeben zitierte Formel aus Lachmüller in sehr ähnlicher Weise. Funktional zeigt sich schon hier, dass die Abgrenzung zwischen der Begrenzung eines Rechts (hier: des Kündigungsrechts) und der Schaffung einer zusätzlichen Pflicht (hier: einer Begründungspflicht für den Fall der Kündigung) nicht einfach ist.760 758 EuGH, 15.7.1960, Verb. Rs. 43/59, 45/59 und 48/59 Eva von Lachmüller u. a. ./. Kommission der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, Slg. 1960, 00967. 759 EuGH, 16.12.1960, Rs. 44/59 Rudolf Pieter Maria Fiddelaar ./. Kommission der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, Slg. 1960, 01117. 760 So ist etwa Grundmann, in: Grundmann / Mazeaud, General clauses and standards in European contract law, S. 141, 147, der Auffassung, es handele sich hier nicht um eine Ausprägung des Grundsatzes von Treu und Glauben, sondern um ein Rechtsmissbrauchs-
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Kapitel 2 – Bestandsaufnahme und Analyse
Im Urteil in der Rs. Hoogovens761 schnitt der Gerichtshof der Klägerin, die gegen die Rücknahme einer Entscheidung der Hohen Behörde der EGKS vorging, ein Argument mit folgender Begründung ab, ohne dabei jedoch auf den Ursprung oder die Konturen des in Bezug genommenen Grundsatzes einzugehen: „Die Klägerin kann sich freilich nicht auf dieses Argument berufen, da dies ein ‚venire contra factum proprium‘ darstellen würde.“
In den einen Tag später ergangenen Entscheidungen in den Rs. Klöckner762 und Mannesmann763 wird dieser Grundsatz jedoch einseitig eingeschränkt und ausgeführt, es sei „[…] eine Verwaltungsbehörde, wenn sie hoheitlich tätig wird, nicht immer durch ihr früheres Handeln gebunden, dergestalt, daß sich die Regel anwenden ließe, wonach im Rahmen der Rechtsbeziehungen zwischen den gleichen Beteiligten ein „venire contra factum proprium“ unzulässig ist.“
In der Rs. Lemmerz764 wurde neben dem venire contra factum proprium zusätzlich mit dem verwandten Rechtsinstitut der Verwirkung argumentiert. Der Gerichtshof nimmt dies auf und prüft die Verwirkung anhand des Maßstabs, ob „[…] die Beklagte oder die in ihrem Auftrag handelnden Stellen einen Mangel an Sorgfalt oder Klarheit an den Tag gelegt haben, der der Rücknahme entgegenstünde.“
Als Fazit ist hier also eine sehr frühe, grundsätzliche Anerkennung des Grundsatzes von Treu und Glauben, des Verbots widersprüchlichen Verhaltens und der Verwirkung festzustellen.765 Eine eingehendere dogmatische Befassung mit Ursprung und Inhalt dieser Grundsätze im Einzelnen hat in diesen Entscheidungen aber nicht stattgefunden. Anzumerken ist außerdem, dass eine mögliche Verletzung von Treu und Glauben bzw. ein Eingreifen der Verwirkung durch die Verfahrensbeteiligten ins Spiel gebracht worden waren, so dass diesen Urteilen nicht unbedingt ein Wille zur planvollen, systematischen Einführung der vorbenannten Grundsätze ins Unionsrecht unterverbot, das an dieser Stelle – aber nicht durchgehend im Unionsprivatrecht – unter dem Grundsatz von Treu und Glauben benutzt würde. 761 EuGH, 12.7.1962, Rs. 14/61 Koninklijke Nederlandsche Hoogovens ./. Hohe Behörde, Slg. 1962, S. 00513. 762 EuGH, 13.7.1962, Verb. Rs. 17/61 und 20/61 Klöckner-Werke AG und Hoesch AG ./. Hohe Behörde der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, Slg. 1962, S. 00615. 763 EuGH, 13.7.1962, Rs. 19/61 Mannesmann AG ./. Hohe Behörde der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, Slg. 1962, S. 00719. 764 EuGH, 13.7.1965, Rs. 111-63 Lemmerz-Werke GmbH ./. Hohe Behörde der EGKS, Slg. 1963, S. 00894. 765 Siehe dazu auch Lecheler, Der Europäische Gerichtshof und die allgemeinen Rechtsgrundsätze, S. 100 ff., der die Verwirkung als Unterfall des Verbots widersprüchlichen Verhaltens und dieses wiederum als Fallgruppe von Treu und Glauben einordnet.
E. Bindung an eigenes Vorverhalten und Verwirkung
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stellt werden kann. Hinzu kommt, dass sich die hier zitierten insgesamt sechs Verfahren nur auf zwei Gruppen von recht speziellen Lebenssachverhalten beziehen: Entscheidungen der Europäischen Kommission bzw. ihrer Vorgängerbehörden zur Beendigung von Beschäftigungsverhältnissen (Lachmüller und Fiddelaar) sowie zu einer sog. Ausgleichseinrichtung im Bereich der Stahlschrottpreise. In der Rs. Alcan766 ging es unter anderem darum, ob nationale Behörden auch dann zur Rückforderung unionsrechtswidrig gewährter Beihilfen verpflichtet sind, wenn die Behörde deren Rechtswidrigkeit zu vertreten hat und daher „die Rücknahme dem Begünstigten gegenüber als Verstoß gegen Treu und Glauben erscheint.“ Dies scheint der EuGH zwar grundsätzlich für einen denkbaren Einwand zu halten, lässt diesen aber im vorliegenden Fall nicht gelten, weil er dem Effektivitätsgrundsatz insoweit Vorrang gewährt und dem Beihilfeempfänger eine Pflicht auferlegt, selbst zu prüfen, ob eine Beihilfe ordnungsgemäß bei der Kommission angemeldet wurde, andernfalls ihm eine Berufung auf Vertrauensschutz verwehrt sein soll. Hier steht Treu und Glauben also ausdrücklich unter dem Vorbehalt, dass das Vertrauen des anderen Teils auch berechtigt bzw. schützenswert sein muss, was bei einem eigenen Sorgfaltsverstoß ausgeschlossen sein kann. Die Rs. Huber767 betraf abermals Fragen des Vertrauensschutzes bei der Rückforderung unionsrechtswidriger Beihilfen. Hier entschied der EuGH, dass zwar „die Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes“ berücksichtigt werden dürften, dass aber eine Gutgläubigkeit des Beihilfeempfängers hinsichtlich ihrer Rechtmäßigkeit nur dann gegeben sein könne, wenn ihm u. a. keine Fahrlässigkeit vorgeworfen werden kann. Dies ist insofern bemerkenswert, als die „Gutgläubigkeit“ grundsätzlich auf einen subjektiven Maßstab hindeutet, der Gerichtshof bei der Fahrlässigkeit aber den Vergleich mit einem „durchschnittlich sorgfältige[n] Landwirt“ heranzieht, der möglicherweise auch eigene Erkundigungen gegenüber den Behörden hätte einholen müssen; insofern wird also ein demjenigen in der Rs. Alcan verwendeten ähnlicher, objektivierter Maßstab angelegt. Im Hinblick auf das Rechtsinstitut der Verwirkung ist auch auf die Rechtsprechung des EuGH zu Ausschlussfristen für die Durchsetzung von Ansprüchen gegenüber dem Staat bei ausbleibender oder fehlerhafter Umsetzung von Richtlinien hinzuweisen. Danach sind Ausschlussfristen für die dem Bürger aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte grundsätzlich in den Grenzen des Äquivalenz- und Effektivitätsgrundsatzes zulässig. Allerdings hatte der Gerichtshof zunächst entschieden, dass im Falle nicht ordnungsge766 EuGH, 20.3.1997, Rs. C-24/95 Land Rheinland-Pfalz ./. Alcan Deutschland GmbH, Slg. 1997 I-01591. 767 EuGH, 19.9.2002, Rs. C-336/00 Republik Österreich ./. Martin Huber, Slg. 2002 I-07699.
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Kapitel 2 – Bestandsaufnahme und Analyse
mäßer Umsetzung von Richtlinien durch die Mitgliedstaaten der Einzelne gar keine hinreichende Möglichkeit habe, die sich für ihn aus dieser Richtlinie gegenüber dem Staat ergebenden Rechte geltend zu machen. Daher dürften die entsprechenden Fristen erst mit der ordnungsgemäßen Umsetzung beginnen.768 Dies hat der Gerichtshof mittlerweile relativiert und die Anforderungen an den Bürger, der seine sich aus dem Unionsrecht ergebenden Recht geltend machen möchte, erhöht, so dass eine Verwirkung nun unter erleichterten Voraussetzungen zulässig ist.769 II. Rechtsprechung des EuGH zum Abbruch von Vertragsverhandlungen Im Urteil des Gerichts in der Sache Citymo770 ging es um die gescheiterte Anmietung eines der Klägerin gehörenden Gebäudes durch die Europäische Kommission. Dieser warf die Klägerin vor, entgegen Treu und Glauben die Vertragsverhandlungen missbräuchlich abgebrochen zu haben und verlangte Schadensersatz. Das Gericht entschied u. a., dass eine verspätete Mitteilung über die Abstandnahme vom Vertragsschluss – also das Fortsetzen von Verhandlungen, die die Beklagte für aussichtslos halten musste – unter Umständen771 einen Verstoß „[…] gegen den Grundsatz von Treu und Glauben und […] einen Missbrauch ihres Rechts auf Verzicht auf den Vertragsschluss […]“ darstellen könne. Zwar handelt es sich hier nicht um eine unionsprivatrechtliche Entscheidung, da die außervertragliche Haftung der Union für ihre Organe betroffen ist. Jedoch ist Nähe zum Privatrecht – statt der Kommission hätte auch ein privates Unternehmen als Mietinteressent auftreten können, es handelte sich gewissermaßen um ein reines Fiskalgeschäft – nicht zu verkennen. III. Rechtsprechung des EuGH zur Verwirkung von Verbraucherrechten „Of course, Europeanists welcome the Court’s recent discovery of ‘general principles of civil law’ as a European model of justice between private parties. If one regards all private law in the European Union as one single, gradually integrating system and strives for 768 EuGH, 25.7.1991, Rs. C-208/90 Theresa Emmott ./. Minister for Social Welfare und Attorney General, Slg. 1991 I-04269, Rn. 16–23. 769 Vgl. EuGH, 8.9.2011, Verb. Rs. C-89/10 und C-96/10 Q-Beef NV ./. Belgische Staat und Frans Bosschaert ./. Belgische Staat u. a., Slg. 2010 I-07819, mit klarer Abwendung von der Rs. Emmott in den Rn. 49 und 50 und folgendem Ergebnis (Rn. 51): „Der Gerichtshof hat dazu ausgeführt, dass das Unionsrecht es einer nationalen Behörde nur dann verwehrt, sich auf den Ablauf einer angemessenen Verjährungsfrist zu berufen, wenn ihr Verhalten in Verbindung mit einer Ausschlussfrist dem Betroffenen jede Möglichkeit genommen hat, seine Rechte vor den nationalen Gerichten geltend zu machen […].“ 770 EuG, 8.5.2007, Rs. T-271/04, Citymo SA ./. Kommission der Europäischen Gemeinschaften, 2007 II-01375. 771 Im zugrundeliegenden Fall verhandelte die Beklagte ausschließlich mit der Klägerin und nicht mit dritten Vermietern. Zudem konnte die Klägerin während der Verhandlungen nicht über den Vertragsgegenstand verfügen.
E. Bindung an eigenes Vorverhalten und Verwirkung
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coherence and convergence, then the idea of general principles does not represent a problem but rather a welcome solution.“772
Treu und Glauben spielt auch im Rahmen einer Reihe von Entscheidungen eine Rolle, in denen der Europäische Gerichtshof auf „(allgemeine) Grundsätze des Zivilrechts“ bzw. „des bürgerlichen Rechts“773 Bezug genommen hat. Diese Entwicklung hat nur ein recht kleines Echo gefunden, ist aber sehr kontrovers diskutiert worden.774 Allerdings hat der Gerichtshof diese Bezugnahme auf allgemeine, zivilrechtliche Grundsätze seit dem Jahr 2011 nicht fortgesetzt und insbesondere in keiner Entscheidung systematisierend erläutert, woraus er diese Grundsätze herleitet und welchen Stellenwert sie haben. Der Gerichtshof hat sich auf die „Grundsätze des bürgerlichen Rechts“775 in seiner jüngeren Rechtsprechung in insgesamt vier Fällen berufen: Die Rs. Société thermale776 betraf die Frage, ob gemäß der Sechsten Umsatzsteuerrichtlinie777 eine für den Fall des Nichtantritts eines Hotelaufenthalts als Entschädigung einbehaltene Anzahlung mehrwertsteuerpflichtig ist, weil sie etwa als Vergütung der Reservierungsleistung und damit als Dienstleitung anzusehen ist. Der EuGH entschied sich für eine Einordnung als pauschalierte Entschädigung, die keine Dienstleistung im Sinne der Richtlinie darstelle und damit mehrwertsteuerfrei sei. Dabei verwarf er die Einordnung als Reservierungsvergütung und damit als Dienstleistung mit dem Argument, die Verpflichtung zu dessen Einhaltung und zur Erbringung der geschuldeten Leistung folge schon aus dem Vertrag selbst: „Nach den allgemeinen Grundsätzen des Zivilrechts hat nämlich jede Vertragspartei den Vertrag einzuhalten und die vertraglich bedungene Leistung zu erbringen.“778
Hesselink, in: Niglia, Pluralism and European Private Law, S. 199, 217. Die Differenzierung zwischen „zivilrechtlichen“ und „bürgerlichrechtlichen“ Grundsätzen kommt nur in der deutschen Sprachfassungen vor und dürfte ein reines Übersetzungsproblem darstellen. 774 Hartkamp, RabelsZ 75 (2011), 241 ff.; Hesselink, in: Leczykiewicz / Weatherill, The Involvement of EU Law in Private Law Relationships, S. 131 ff.; Purnhagen, European Law Journal 18 (2012), 844 ff.; Stempel, ZEuP 2010, 925 ff. 775 Der Gerichtshof fasst seine Urteile bekanntlich auch dann in der internen Arbeitssprache, dem Französischen, ab, wenn dies nicht Verfahrenssprache und damit verbindliche Fassung des Urteils wird. Hier ist in der Rs. C-489/07 Messner von „principes de droit civil“ die Rede, in den drei weiteren Fällen jeweils von den „principes généraux du droit civil.“ 776 EuGH, 18.7.2007, Rs. C-277/05, Société thermale d’Eugénie-les-Bains ./. Ministère de l’Économie, des Finances et de l’Industrie, Slg. 2007 I-06415. 777 Sechste Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage, ABl. 1977 L 145/1. 778 Rn. 24 des Urteils in der Rs. C-277/05 Société thermale. 772 773
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Kapitel 2 – Bestandsaufnahme und Analyse
Auch wenn es sich hier um eine Entscheidung aus dem Bereich des Steuerrechts handelt und der Gerichtshof zu den „Grundsätzen des Zivilrechts“ keine weiteren Ausführungen macht, so darf man die Entscheidung doch so lesen, dass der Grundsatz pacta sunt servanda auch im Unionsprivatrecht zu den allgemeinen zivilrechtlichen Grundsätzen gehört.779 Die Erwähnung dieses Grundsatzes ist für diese Untersuchung auch deshalb von Belang, weil pacta sunt servanda in Gestalt der Leistungstreue als Ausprägung des allgemeinen Grundsatzes780 von Treu und Glauben angesehen wird.781 Ein zweiter Fall, die Rs. Hamilton,782 betraf die Frage, ob es mit der Haustürgeschäfterichtlinie783 vereinbar ist, wenn das dort geregelte Widerrufsrecht nach nationalem Recht einen Monat nach vollständiger Erbringung der Leistungen aus dem Vertrag erlischt, obwohl die nach der Richtlinie vorgesehene Belehrung des Verbrauchers nicht erfolgt ist und die Richtlinie für diesen Fall vorsieht, dass das nationale Recht „geeignete Maßnahmen zum Schutz des Verbrauchers“ vorzusehen hat. In der Rechtssache Heininger784 hatte der Gerichtshof in einem vergleichbaren Fall entschieden, dass bei unzureichender Belehrung eine Begrenzung des Widerrufsrechts auf eine Dauer von einem Jahr nach Vertragsabschluss mit der Richtlinie unvereinbar ist. Die Befürchtung des vorlegenden Gerichts in Hamilton, dies gelte auch für die Begrenzung auf „einen Monat nach beiderseits vollständiger Erbringung der Leistung“, kommt auch darin zum Ausdruck, dass es in einer zweiten – vom Siehe auch: Schlussanträge der Generalanwältin Verica Trstenjak vom 15.11.2007, Rs. C-404/06, Quelle AG ./. Bundesverband der Verbraucherzentralen und Verbraucherverbände, Slg. 2008 I-02685, Rn. 64. 780 Was einen allgemeinen Grundsatz ausmacht, ist ohnehin nicht abschließend geklärt. Riesenhuber, Europäisches Vertragsrecht, S. 259 f. geht davon aus, Treu und Glauben sei dann als allgemeines Rechtsprinzip anzusehen, „wenn der Grundsatz, wie beispielsweise im deutschen Recht und in den European Principles, das Recht so weitgehend durchdringt, daß er an ganz verschiedenen Stellen zum Tragen kommt.“ 781 So der EuGH selbst – allerdings mit Fokus auf dem Völkerrecht – in einem Urteil vom 16.6.1998, Rs. C-162/96, A. Racke GmbH & Co. ./. Hauptzollamt Mainz, Slg. 1998 I-03655, Rn. 8: „Ausserdem sind diese Regeln eine Ausnahme vom Grundsatz "pacta sunt servanda", der einen tragenden Grundsatz jeder Rechtsordnung und insbesondere der Völkerrechtsordnung darstellt. Im Völkerrecht besagt er, daß jeder Vertrag die Vertragsparteien bindet und von ihnen nach Treu und Glauben zu erfuellen ist.“ Zum Zivilrecht siehe vor allem Weller, Die Vertragstreue, S. 39 f., 302 ff., der auf die Leistungstreue als einen Teilaspekt der Vertragstreue abstellt, wobei erstere in Gestalt der vertraglichen Nebenpflichten auf dem Grundsatz von Treu und Glauben fuße. 782 EuGH, 10.4.2008, Rs. C-412/06 Annelore Hamilton ./. Volksbank Filder eG, Slg. 2008 I-02383. 783 Richtlinie 85/577/EWG des Rates vom 20. Dezember 1985 betreffend den Verbraucherschutz im Falle von außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen, ABl. 1985 L 372/31. 784 EuGH, 13.12.2001, Rs. C-481/99, Georg Heininger und Helga Heininger ./. Bayerische Hypo- und Vereinsbank AG, Slg. 2001 I-09945. 779
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EuGH nicht beantworteten – Vorlagefrage noch wissen wollte, ob in diesem Fall denn zumindest das Rechtsinstitut der Verwirkung zur Anwendung kommen könne. Etwas überraschend785 hält der Gerichtshof aber bereits die Begrenzung auf einen Monat nach vollständiger Leistungserbringung für mit der Richtlinie vereinbar. Dies bewerkstelligt er argumentativ, indem er den Begriff der „Verpflichtung“ in Art. 5 Abs. 1 Haustürgeschäfterichtlinie, von der der Verbraucher zurücktreten kann, dahingehend auslegt, dass das Widerrufsrecht erlösche, wenn die Verpflichtung nicht mehr bestehe, weil sie erfüllt worden ist. Diese „Logik“ – so der EuGH – entspreche „einem der allgemeinen Grundsätze des Zivilrechts, nämlich dem, dass sich die vollständige Durchführung eines Vertrags in der Regel aus der Erbringung der gegenseitigen Leistungen der Vertragsparteien und der Beendigung des entsprechenden Vertrags ergibt“.786 Die Entscheidung ist für dieses Argument zurecht kritisiert worden,787 weil ein erfüllter Vertrag sich nämlich eben gerade nicht vollständig auflöst, sondern weiter Wirkungen zeitigt, indem er etwa einen Rechtsgrund für das Behaltendürfen der jeweiligen Leistung darstellt, und auch Gewährleistungs- oder Nebenpflichten weiter bestehen. Auch leuchtet nicht ein, warum nach Abschluss des Leistungsaustauschs die Ausübung eines Widerrufsrechts und damit die Rückabwicklung des Vertrages ausgeschlossen sein sollten. Hierfür mag es andere gute Argumente geben, mit denen der Gerichthof sich dann aber hätte auseinandersetzen sollen, statt apodiktisch eine so nicht existente „Logik“ zu bemühen. Von besonderem Interesse für die vorliegende Untersuchung ist vielmehr, was der Gerichtshof im Hinblick auf zivilrechtliche Grundsätze, wie sie sich insbesondere aus Treu und Glauben ergeben, nicht gesagt hat und was als Lösung gerade bei Ablauf langer Zeitspannen nach Vertragsschluss nahegelegen hätte: Das vorlegende Gericht und auch der Generalanwalt in seinen Schlussanträgen788 hatten vorgeschlagen, den zugrundeliegenden Konflikt zwischen umfassendem Verbraucherschutz einerseits und Rechtssicherheit bzw. Rechtsfrieden andererseits789 über das Rechtsinstitut der Verwirkung bzw. der Verjährung zu
785 Mankowski, JZ 2008, 1141, 1144, bezeichnet die Entscheidung als inkonsequentes Zurückrudern des EuGH nach der als zu verbraucherfreundlich empfundenen Entscheidung Heininger. 786 Rn. 45 des Urteils in der Rs. C-412/06 Hamilton. 787 Hesselink, in: Leczykiewicz / Weatherill, The Involvement of EU Law in Private Law Relationships, S. 131, 135 „not convincing“. 788 Schlussanträge des Generalanwalts Miguel Poiares Maduro vom 21.11.2007 in der Rs. C-412/06 Annelore Hamilton ./. Volksbank Filder eG, Slg. 2008 I-02383. Danach sollte eine Begrenzung des Widerrufsrechts nur zulässig sein, sobald der Verbraucher von seinem Widerrufsrecht Kenntnis hatte oder haben konnte. 789 Vgl. Kroll, NJW 2008, 1999, 2001.
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lösen.790 Der Generalanwalt hatte dabei „die zeitliche Begrenzung der Rechtsausübung“ als „allgemeinen Grundsatz“ der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen bezeichnet und gemutmaßt, dieser könnte in Gestalt eines gemeinsamen Referenzrahmens Bestätigung auf Ebene des Unionsprivatrechts erfahren.791 Des Weiteren hatte er sich auf einen „den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsame[n] Grundsatz“ bezogen, wonach „die Lauterkeit des Handelsverkehrs und die Stabilität der Rechtsbeziehungen implizieren“, dass der Ausübung des Widerrufsrechts eine zeitliche Grenze gesetzt werden darf. Dem ist der Gerichtshof jedoch nicht gefolgt und hat damit in der Entscheidung Hamilton auch auf eine Differenzierung danach verzichtet, ob der Verbraucher sein Widerrufsrecht kannte bzw. zumindest kennen musste. Im Ergebnis dienen die „allgemeinen [sic!] Grundsätze des Zivilrechts“ also nur der Stützung einer Lösung, die zwar eine zeitliche Begrenzung des nach Heininger scheinbar unendlichen Widerrufsrechts zulässt, dabei aber an sich recht starr ist. Letzteres ändert sich dann mit dem Urteil in der Rs. Messner,792 das für die Entwicklung des Grundsatzes von Treu und Glauben im Unionsprivatrecht große Bedeutung hat. In diesem Fall hat der EuGH seine Auslegung von Art. 6 der Fernabsatzrichtlinie,793 wonach der Verbraucher nach einem Widerruf nicht generell zum Wertersatz verpflichtet sein darf, wie folgt eingeschränkt: „Diese Bestimmungen stehen jedoch nicht einer Verpflichtung des Verbrauchers entgegen, für die Benutzung der Ware Wertersatz zu leisten, wenn er diese auf eine mit den Grundsätzen des bürgerlichen Rechts wie denen von Treu und Glauben oder der ungerechtfertigten Bereicherung unvereinbare Art und Weise benutzt hat, sofern die Zielsetzung dieser Richtlinie und insbesondere die Wirksamkeit und die Effektivität des Rechts auf Widerruf nicht beeinträchtigt werden; dies zu beurteilen ist Sache des nationalen Gerichts.“
Die Verwendung dieser Formel durch den EuGH ist überraschend. Die Existenz von „allgemeinen Grundsätzen des Zivilrechts über die Rückforderung zuviel gezahlter Beträge“ hatte zwar bereits Generalanwalt Mancini in Schlussanträgen in einem beamten- bzw. dienstrechtlichen Verfahren aus dem Jahre 1983 vorausgesetzt.794 Dies ist aber eine Ausnahme geblieben.
Eine Verwirkbarkeit des Widerrufsrechts war auch in der Literatur vorgeschlagen worden, siehe etwa Sauer/Wittemann, BKR 2008, 1, 3; Franck, Europäisches Absatzrecht, S. 17 und 297. 791 Rn. 24 der Schlussanträge in der Rs. C-412/06 Hamilton. 792 EuGH, 3.9.2009, Rs. C-489/07 Pia Messner ./. Firma Stefan Krüger, Slg. 2009 I-07315. 793 Richtlinie 97/7/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Mai 1997 über den Verbraucherschutz bei Vertragsabschlüssen im Fernabsatz, ABl. 1997 L 144/19. 794 EuGH, 20.10.1983, Rs. 92/82 Gutmann ./. Kommission, Slg. 1983, S. 03127; dazu die Schlussanträge des Generalanwalts Giuseppe Federico Mancini vom 6.10.1983. 790
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Hier war die Frage, ob es mit Art. 6 der Fernabsatzrichtlinie vereinbar ist, wenn das nationale Recht einem Verbraucher nach dem Widerruf eines Fernabsatzkaufs einen Nutzungswertersatzanspruch auferlegt. Dies hat der Gerichtshof grundsätzlich verneint, um dieses Verbot dann aber mit Hilfe der eingangs zitierten Formel von den „Grundsätzen des bürgerlichen Rechts wie denen von Treu und Glauben oder der ungerechtfertigten Bereicherung“ wieder zu relativieren. Aus den Entscheidungsgründen ergibt sich, dass das Vorliegen eines Verstoßes des Verbrauchers gegen diese Grundsätze auch danach beurteilt werden soll, wie viel Zeit bis zur Ausübung des Widerrufsrechts durch den Verbraucher vergangen ist. Außerdem darf der Verbraucher die erhaltene Ware nicht in einer Weise gebrauchen, die „über das hinausgeht, was zur zweckdienlichen Ausübung seines Widerrufsrechts erforderlich ist“.795 Man kann in diesen beiden Aspekten das Zeitmoment und das Umstandsmoment erkennen, auf die das Rechtsinstitut der Verwirkung üblicherweise gestützt wird. Dies würde auch den Hinweis des EuGH auf den Grundsatz von Treu und Glauben erklären. Dabei ist allerdings zu bemerken, dass der Verbraucher hier – anders als dies in der Rs. Hamilton vorgeschlagen worden war – nicht sein Widerrufsrecht selbst verwirkt, sondern nur dessen kostenfreie Ausübung.796 Siehe Rn. 25 und 28 des Urteils in der Rs. C-489/07 Messner. Allerdings kann dies je nach Fall einer Verwirkung des Widerrufsrechts selbst aus wirtschaftlicher Sicht gleichkommen, wenn nämlich die betreffende Ware durch den Erstgebrauch praktisch wertlos wird. Hier wird ein Verkäufer allerdings nicht den von der Entscheidung unmittelbar betroffenen Nutzungswertersatzanspruch geltend machen, sondern einen Anspruch wegen Verschlechterung der Ware. Für solche Ansprüche gilt die Messner-Entscheidung aber entsprechend, vgl. auch die Ausführungen in den Schlussanträgen der Generalanwältin zu dieser Frage (Rn. 91, 96). Anschaulich wird dies etwa anhand einer Entscheidung des deutschen Bundesgerichtshofs (BGH, Urteil vom 3.11.2010, Az. VIII ZR 337/09 – zitiert nach juris). Dort ging es um die Wertersatzpflicht eines Verbrauchers für das Befüllen und die Inbetriebnahme eines Wasserbetts, das anschließend im Rahmen des Widerrufsrechts an den Verkäufer zurückgeschickt wurde. Das Befüllen des Bettes mit Wasser lässt sich hierbei nicht mehr vollständig rückgängig machen mit der Folge, dass das Bett nicht mehr als neu zu verkaufen ist und damit einen Großteil seines Wertes verliert, weil es offenbar keine nennenswerte Nachfrage nach gebrauchten Wasserbetten gibt. Der BGH hielt das Befüllen mit Wasser jedoch für zulässig, weil der Verbraucher das Bett sonst nicht in gleicher Weise wie im Ladengeschäft ausprobieren könne. Insofern soll offenbar darauf abzustellen sein, ob im Ladengeschäft üblicherweise entsprechende Vorführwaren vorgehalten werden. Die mit diesem Kriterium verbundenen Schwierigkeiten zeigen sich schon daran, dass dieselben Waren in sehr unterschiedlichen Ladengeschäften mit sehr unterschiedlichen Servicekonzepten angeboten werden, so dass sich die Frage stellt, mit welchem Ladengeschäft man den Onlinehändler denn vergleichen soll. Außerdem erscheint es gerade unter dem Gesichtspunkt von Treu und Glauben fraglich, wenn stationäre Händler aus wirtschaftlich vernünftigen Erwägungen heraus ein einziges Exemplar eines Artikels als Vorführware nutzen, während der Onlinehändler damit rechnen muss, dass praktisch jedes versendete Exemplar als „Vorführexemplar“ genutzt und 795 796
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Die Bezugnahme auf die ungerechtfertigte Bereicherung dürfte ihren Ursprung in den Schlussanträgen der Generalanwältin797 haben. Im Verfahren war die Sorge geäußert worden, bei einer Europarechtswidrigkeit (und entsprechendem Wegfall) des im BGB vorgesehenen Wertersatzanspruchs könne das Widerrufsrecht missbraucht werden.798 Die Generalanwältin hatte argumentiert, solche Fälle seien „vom Kostenbegriff der Richtlinie nicht umfasst“ und daher über „allgemeine zivilrechtliche Regelungen“ zu lösen. Aus den Schlussanträgen geht eindeutig hervor, dass damit das nationale Zivilrecht gemeint ist, wobei insbesondere das „jeweilige nationale Bereicherungsrecht“ und „die allgemeinen Regelungen des jeweiligen Mitgliedstaats zum Schadensersatz“ genannt werden.799 Der Gerichtshof übernimmt in seinem Urteil die von der Generalanwältin vorgeschlagene Lösung hinsichtlich der Richtlinienwidrigkeit einer generellen Verpflichtung des Verbrauchers zum Wertersatz. Allerdings wählt er mit der oben zitierten Formel eine andere Lösung für Fälle eines etwaigen Missbrauchs des Widerrufsrechts. Dabei fallen folgende Aspekte besonders auf: Erstens lässt der Gerichtshof – während die Schlussanträge ja ausdrücklich ins nationale Recht verwiesen hatten – die Quelle der „Grundsätze des bürgerlichen Rechts“ offen.800 Insbesondere ist zunächst unklar, ob es sich dabei um autonome Grundsätze des Unionsprivatrechts oder um einen Verweis ins nationale Recht handeln soll.801 dann zurückgeschickt werden kann. Dies kann bei Waren, die einen hohen bis vollständigen Wertverlust durch die erste Inbetriebnahme erleiden, praktisch dazu führen, dass diese im Onlinehandel nicht mehr wirtschaftlich vertretbar angeboten werden können. 797 Schlussanträge der Generalanwältin Verica Trstenjak vom 18.2.2009 in der Rs. C-489/07 Pia Messner ./. Firma Stefan Krüger, Slg. 2009 I-07315. 798 Siehe Rn. 88 ff. der Schlussanträge in der Rs. C-489/07 Messner. 799 Siehe Rn. 91 und 96 der Schlussanträge in der Rs. C-489/07 Messner. 800 Dies wird u. a. von Miller, The emergence of EU contract law, S. 43 „particularly worrying“ mit Verweis darauf kritisiert, dass der EuGH nicht nur die Quelle dieser Grundsätze offen lasse, sondern dass überhaupt nicht klar sei, ob es die Grundsätze als solche tatsächlich gebe. 801 Vgl. Hesselink, in: Niglia, Pluralism and European Private Law, S. 199, 227: „Think also of the general principles of civil law that the CJEU has recently started referring to. From the dualist perspective the question where these principles are located is crucial. If they are principles of national law they cannot be at the same time also principles of EU law and vice versa.“ Eingehend Stempel, ZEuP 2010, 925, 933 ff. Faust, Jus 2009, 1049, 1052 geht davon aus, dass es sich um autonom-unionsrechtliche Kriterien handeln müsse. Miller, The Emergence of EU Contract Law, S. 43 f. hält neben der Quelle bereits die Tatsache für beunruhigend, dass der EuGH derartige, allgemeine Grundsätze überhaupt „aufdeckt“. Stürner, Das Verhältnis des Gemeinsamen Europäischen Kaufrechts zum Richtlinienrecht, S. 81 f., ist der Auffassung, in der Berufung auf Treu und Glauben in der Rs. C-489/07 Messner liege „[…] selbstverständlich kein europäisches Konzept von Treu und Glauben.“ Ein solches könne sich aber bei Heranziehung des CESL als europäischer Standard durch den EuGH entwickeln.
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Zweitens wird Treu und Glauben hier in einer neuen, viel breiteren Funktion verwendet, die es – jedenfalls als allgemeiner Grundsatz und nicht als Generalklausel in bestimmten Richtlinien – bis dato fast nur im nationalen Recht eingenommen hatte. Treu und Glauben ist hier nicht Begründungselement eines vom Gerichtshof gefundenen Ergebnisses, sondern Bestandteil dieses Ergebnisses selbst. Vielleicht kann man sogar sagen, dass der Gerichtshof sich hier einer induktiven Methode bedient und seine einzelnen, konkreteren Überlegungen dazu, was ein zulässiges, wertersatzfreies Verhalten des Verbrauchers darstellt, in der Antwortformel unter dem Grundsatz von Treu und Glauben zusammenfasst. Die konkreten Überlegungen betreffen dabei verschiedene Aspekte, die sich klassischen Fallgruppen von Treu und Glauben zuordnen lassen. Hierzu gehört die Bestellung der Ware in der Absicht, diese für ein bestimmtes Ereignis zu nutzen und dann auf jeden Fall zurückzuschicken (Missbrauch des Widerrufsrechts), das Verbot der Nutzung der Ware wie ein Eigentümer über das zur Prüfung erforderliche Maß hinaus, wenn anschließend trotzdem noch das Widerrufsrecht ausgeübt wird (venire contra factum proprium)802 sowie der Rechtsgedanke der Verwirkung, wenn trotz Kenntnis des Widerrufsrechts dieses in bestimmten Fällen, in denen die Widerrufsfrist nicht wirksam in Gang gesetzt wurde, hinausgezögert wird und zwischen Erhalt der Ware und Ausübung des Widerrufsrechts eine sehr lange Zeit vergeht. Cauffman 803 sieht in Messner insgesamt eine Anwendung des aus dem Primärrecht stammenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes auf das Privatrecht. So sei das grundsätzlich wertersatzfreie Widerrufsrecht zur Sicherstellung eines effektiven Verbraucherschutzes geeignet; es sei dabei aber auf das notwendige Maß zu begrenzen, indem dem Verbraucher nicht gestattet werde, die Grenzen des erforderlichen Widerrufsrechts zu überschreiten. Andersherum sei schließlich bei Überschreitung dieser Grenzen der ggf. geschuldete Wertersatz wiederum auf ein angemessenes Maß begrenzt. Dieser Analyse kann man zustimmen, wenn sie auch zwei Ebenen vermischt, nämlich die Rechtfertigung des grundsätzlich wertersatzfreien Widerrufsrechts zulasten des Unternehmers und die Rechtfertigung des den Verbraucher belastenden, ausnahmsweise doch zulässigen Wertersatzanspruchs. Richtig ist aber die Feststellung, dass das Verhältnismäßigkeitsprinzip als Grundsatz des Primärrechts auch ins Privatrecht hinein wirkt und schon deshalb notwendigerweise eine wichtige Komponente des Grundsatzes von Treu und Glauben darstellt. Dies zeigt sich besonders am Hinweis des EuGH in Rn. 27 des Urteils in der Rs. Messner, dass der Spielraum der Mitgliedstaaten bei der Festlegung der 802 So auch Stempel, ZEuP 2010, 925, 936; Lakkis, in: Müller-Graff / Schmahl / Skouris, Europäisches Recht zwischen Bewährung und Wandel – Festschrift für D. H. Scheuing, S. 574, 580. 803 Cauffman, M-EPLI Working Paper No. 2013/5, S. 14 f.
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Höhe des Wertersatzes nicht „außer Verhältnis zum Kaufpreis der fraglichen Ware“ stehen dürfe. Man wird jedenfalls nicht davon ausgehen können, dass gerade ein Begriff wie Treu und Glauben dem Gerichtshof gewissermaßen zufällig herausrutscht – seine Verwendung kann gerade angesichts der kontroversen Diskussion um diesen Grundsatz nur absichtlich-planvoll erfolgen.804 Interessant ist dabei auch, dass die im Unionsprivatrecht zu findenden Widerrufsrechte dem Vertragsrecht eigentlich fremde Elemente sind, die ihre Existenz rechtspolitischen Überlegungen und insbesondere dem Gedanken der Fairness verdanken.805 Das Widerrufsrecht selbst beruht also genauso auf einem mit Treu und Glauben zumindest verwandten Gedanken wie seine Einschränkung. Es findet seine Begründung in der bei Vertragsschluss herrschenden Informationsasymmetrie: Der Verbraucher kann die Ware nur sehr eingeschränkt über eine bebilderte Beschreibung durch den Unternehmer begutachten. Um der Gefahr zu begegnen, dass dies zu einer Störung der Vertragsäquivalenz führt, wird dem Verbraucher ein Widerrufsrecht eingeräumt.806 Dabei sind Widerrufsrechte, da sie mit Ausnahme der zu wahrenden Frist weitgehend voraussetzungslos sind807 und insbesondere ohne Begründung ausgeübt werden können, für etwaigen Missbrauch besonders anfällig. Gleichzeitig ist ein solcher schwer nachweisbar, weil er sich zu einem großen Teil im subjektiven Bereich abspielt und die Motivation des widerrufenden Verbrauchers auch mangels Begründungspflicht kaum zu überprüfen ist. Es ist daher nur folgerichtig, dass das auf dem Fairnessgedanken beruhende Widerrufsrecht seinerseits die Grenze seiner (wertersatzfreien) Ausübung im Grundsatz von Treu und Glauben und damit ebenfalls im Fairnessgedanken findet. Damit ist allerdings noch nicht geklärt, warum der Gerichtshof den Induktionsschluss von den anhand von Beispielen erläuterten Grenzen des wertersatzfreien Widerrufs auf den Grundsatz von Treu und Glauben überhaupt vollzieht808 und diese Verallgemeinerung dann noch einmal erweitert, indem er das Widerrufsrecht zudem unter den Vorbehalt der „Grundsätze des bürSo auch Hesselink, Private Law Principles, Pluralism and Perfectionism, Amsterdam Law School Research Paper No. 2013-06, S. 2. 805 Vgl. Stempel, ZEuP 2010, 925, 928; Rösler, Europäisches Konsumentenvertragsrecht, S. 172 f. 806 Vgl. Basedow, AcP 200 (2000), 445, 486 f. (zum Widerrufsrecht bei Haustürgeschäften). 807 Rösler, RabelsZ 73 (2009), 889, 898 bezeichnet das Widerrufsrecht daher als „in vielerlei Hinsicht eine vertragsrechtliche Ausnahme“. Eine kritische Auseinandersetzung mit Sinn und Zweck von Widerrufsrechten findet sich bei Eidenmüller, AcP 210 (2010), S. 67 ff. 808 Dies ist naheliegender Weise vor allem im Vereinigten Königreich auf Verwunderung gestoßen, siehe etwa Miller, The emergence of EU Contract law, S. 44: „Indeed, the Court could not have chosen a more vexed principle of law.“ 804
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gerlichen Rechts“ (oder des Zivilrechts) stellt, für die Treu und Glauben nur ein Beispiel sei. Wenn teilweise vertreten worden ist, der Gerichtshof wolle sich hiermit im Hinblick auf die an den DCFR möglicherweise anschließenden Gesetzgebungsprojekte die Auslegungshoheit über die dort enthaltenen allgemeinen Grundsätze sichern, so erscheint dies möglich, lässt sich jedoch schwierig nachprüfen. Festzustellen ist jedenfalls, dass die Formel von den „Grundsätzen des Zivilrechts“ seit dem Jahr 2011 nicht mehr zu Anwendung gekommen ist, nachdem der Gerichtshof sie vorher innerhalb weniger Jahre vier Mal verwendet hatte. Zudem ist darauf hinzuweisen, dass der EuGH in der Rs. Messner die Beurteilung eines Verstoßes des Verbrauchers gegen die „Grundsätze“ ja gerade den nationalen Gerichten überlassen will. Diese Wendung erinnert eher an die Rechtsprechung des Gerichtshofs zum Maßstab von Treu und Glauben in der Klauselrichtlinie, dessen Auslegung er ja auch nur zu einem sehr geringen Teil wahrgenommen bzw. das Hauptaugenmerk lange darauf gelegt hat, dass überhaupt eine Klauselkontrolle stattfindet.809 Schlussendlich ist noch folgendes anzumerken: Die Rechtssachen Société thermale, Hamilton und Messner sind allesamt Entscheidungen der Ersten Kammer des Gerichtshofs, deren Kammerpräsident bis zu seinem Weggang vom Gerichtshof im Oktober 2009810 der Österreicher Peter Jann war. Anschließend ist die Formel von den zivilrechtlichen bzw. bürgerlichrechtlichen „Grundsätzen“ nur noch ein weiteres Mal verwendet worden, und zwar ebenfalls von der Ersten Kammer. Der vierte und bisher letzte Fall ist die Entscheidung in der Rs. E. Friz GmbH.811 Hier lässt der Gerichtshof eine materielle Begrenzung des Verbraucherschutzes nach Art. 5 Abs. 2 der Haustürgeschäfterichtlinie812 zu. Nach dieser Vorschrift bewirkt die Anzeige des Widerrufs durch den Verbraucher, dass dieser „aus allen aus dem widerrufenen Vertrag erwachsenden Verpflichtungen entlassen ist.“ Der EuGH entscheidet, dass die (deutschen) Grundsätze der fehlerhaften Gesellschaft, die dazu führen, dass beim Austritt aus einer Gesellschaft – auch eines Verbrauchers aus einem Immobilienfonds – die Befreiung von den eingegangenen Verpflichtungen nur ex nunc eintritt, mit der Richtlinie vereinbar sind, da „diese Regel entsprechend den allgemeinen Grundsätzen des Zivilrechts für einen vernünftigen Ausgleich und eine gerechte Risikoverteilung zwischen den einzelnen Beteiligten sorgen“ soll. Der Fall ist vor allem auch deshalb von Interesse, weil der Gerichtshof hier in Abkehr von allzu starren Entscheidungen eine Siehe oben S. 114 ff. Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, Pressemitteilung Nr. 88/09. 811 EuGH, 15.4.2010, Rs. C-215/08, E. Friz GmbH ./. Carsten von der Heyden, Slg. 2010 I-02947. 812 Richtlinie 85/577/EWG des Rates vom 20. Dezember 1985 betreffend den Verbraucherschutz im Falle von außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen, ABl. 1985 L 372/31. 809 810
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echte Abwägung durchführt und diese zudem auch zulasten des Verbraucherschutzes ausfällt.813 Dies hat der EuGH zuletzt in der Rs. González Alonso814 bestätigt, ohne jedoch erneut die „bürgerlichrechtlichen Grundsätze“ zu bemühen. Dort ging es um die Einordnung sog. unit-linked, d. h. fondsgebundener Lebensversicherungen als „Versicherungsverträge“ im Sinne von Art. 3 Abs. 2 lit. d) der Haustürgeschäfterichtlinie, was sie den verbraucherschützenden Vorschriften dieses Rechtsakts entzieht. Der EuGH hat auch unit-linked-Verträge als Versicherungsverträge eingeordnet und damit dem Anwendungsbereich der Haustürgeschäfterichtlinie entzogen. Dabei hat er wiederholt, „dass der mit der Richtlinie 85/577 angestrebte Verbraucherschutz nicht absolut ist und dass für ihn bestimmte Grenzen bestehen“.815 Eine übergreifende Analyse dieser vier Entscheidungen, in denen der Gerichtshof jeweils die „Grundsätze des Zivilrechts“ bemüht hat, fällt nicht leicht.816 Die Rs. Société thermale als Entscheidung aus dem Umsatzsteuerrecht spielt für die Zwecke dieser Untersuchung keine zentrale Rolle. Die drei übrigen Entscheidungen betreffen alle das Widerrufsrecht des Verbrauchers, und zwar die Voraussetzungen (Rs. Hamilton) und die Rechtsfolgen (Rs. E. Friz GmbH) des Widerrufsrechts nach der Haustürgeschäfterichtlinie sowie die Rechtsfolgen des Widerrufsrechts nach der Fernabsatzrichtlinie (Rs. Messner). Positivrechtlich stellt sich zunächst die Frage, ob die verwendeten „Grundsätze“ für alle Widerrufsrechte gleichermaßen gelten und ggf. auch darüber hinaus. Das Unionsprivatrecht sieht Widerrufsrechte nicht nur in den bereits erwähnten Richtlinien, nämlich der Haustürgeschäfterichtlinie und der Fernabsatzrichtlinie, sondern in einer Vielzahl weiterer Rechtsakte vor. Das Widerrufsrecht bei Fernabsatz- und Haustürgeschäften wird zudem in der
Hesselink, in: Leczykiewicz / Weatherill, The Involvement of EU Law in Private Law Relationships, S. 131, 139. 814 EuGH, 1.3.2012, Rs. C-166/11 Ángel Lorenzo González Alonso ./. Nationale Nederlanden Vida Cía. des Seguros y Reaseguros, S. A. E., ECLI:EU:C:2012:119. 815 Rn. 27 des Urteils in der Rs. C-166/11 González Alonso. Zur Tendenz einer Einschränkung des zwingenden EU-Verbrauchervertragsrechts durch den EuGH siehe auch Weatherill, ERCL 2012, 221, 223 f., 231 f., der allerdings die vom Gerichtshof bemühte Formel, wonach „[…] Verbraucherschutz nicht absolut ist und […] für ihn bestimmte Grenzen bestehen“ und daher die „in Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 85/577 enthaltenen Ausschlüsse“ nicht zu eng ausgelegt werden dürften, als zu weitgehend und mögliche „Falle“ für künftige Entscheidungen kritisiert. 816 Hesselink, in: Leczykiewicz / Weatherill, The Involvement of EU Law in Private Law Relationships, S. 131, 135 ist der Ansicht, der EuGH habe auf solche Grundsätze zurückgegriffen, weil er das Richtlinienrecht nicht auf Grundlage einer Argumentation aus dem nationalen Recht auslegen wollte. Den Schluss, dass es sich deshalb um Grundsätze unionsrechtlicher Natur halten muss, zieht Hesselink aber gerade nicht. 813
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Richtlinie über die Rechte der Verbraucher aus dem Jahr 2011,817 die auf nach dem 13. Juni 2014 geschlossene Verträge anwendbar ist und die Richtlinien 85/577/EWG und 97/7/EWG aufhebt, neu geregelt: Die Richtlinie sieht in Art. 9 ein einheitliches Widerrufsrecht vor, das bei Kaufverträgen 14 Tage ab Ablieferung der Waren beträgt. Bei fehlender oder mangelhafter Belehrung verlängert sich die Widerrufsfrist gemäß Art. 10 Abs. 1 um maximal 12 Monate, wobei sie bei Nachholung der Belehrung 14 Tage ab Erhalt der Informationen beträgt. Wertersatzansprüche sind nur zulässig, soweit der Verbraucher mit den Waren in einer Weise umgegangen ist, die über das „zur Prüfung der Beschaffenheit, Eigenschaften und Funktionsweise der Waren“ erforderliche Maß hinausgeht (Art. 14 Abs. 2). Diese Regelung ist nach Art. 14 Abs. 5 abschließend. Die Richtlinie ist nach ihrem Art. 4 ohnehin vollharmonisierend, so dass die Mitgliedstaaten an die genannten Fristen auch zugunsten des Verbrauchers gebunden sind. „Ewige“ Widerrufsrechte können in diesem Bereich nun nicht mehr entstehen. Dennoch stellen sich etliche Fragen zur Anwendung der vorhandenen Rechtsprechung auf das neue Instrument: Aus der VerbraucherrechteRichtlinie ergibt sich, dass der Verbraucher bei fehlerhafter Belehrung die Ware im Extremfall 12 Monate lang nutzen und sodann wertersatzfrei zurückschicken kann. Es fragt sich, ob das in jedem Fall gilt – etwa auch dann, wenn der Verbraucher sehr wohl Kenntnis von seinem Widerrufsrecht hatte und die Tatsache der mangelhaften Belehrung planvoll ausnutzt. Hier verstößt der Verbraucher mit seinem Verhalten zweifellos gegen die MessnerGrundsätze. Denkbar ist aber, dass aufgrund des abschließenden Charakters der in der Richtlinie geregelten Widerrufsfolgen für eine Berücksichtigung eines solchen missbräuchlichen Verhaltens kein Raum ist. Das wird auch davon abhängen, ob der Hauptzweck der genannten Regelungen in einem Schutz des Verbrauchers im Einzelfall besteht oder ob darüber hinaus der generalpräventive Zweck, also der Sanktionscharakter gegenüber dem nicht ordnungsgemäß belehrenden Unternehmer, im Vordergrund steht. In diesem Fall wäre ein „missbräuchliches“ Verbraucherverhalten ja gewissenmaßen erwünscht und vom Normzweck umfasst. Außerdem ist unklar, ob die Richtlinie die Folgen unzureichender Belehrungen über das Widerrufsrecht insgesamt regelt. Anders gesagt: Ist es mit der Richtlinie vereinbar, wenn Verbraucher wegen der Nichterfüllung der Informationspflicht nach Art. 6 Abs. 1 lit. h) gemäß nationalem Recht Schadensersatz verlangen können? Dies war die vom EuGH in den EntscheidunRichtlinie 2011/83/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Oktober 2011 über die Rechte der Verbraucher, zur Abänderung der Richtlinie 93/13/EWG des Rates und der Richtlinie 1999/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates sowie zur Aufhebung der Richtlinie 85/577/EWG des Rates und der Richtlinie 97/7/EG des Europäischen Parlaments und des Rates, ABl. 2011 L 304/64. 817
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gen Schulte und Crailsheimer Volksbank818 angedeutete Lösung. Es kann nicht zulässig sein, wenn Mitgliedstaaten durch solche Ansprüche auch nach Ablauf der 12-Monats-Frist gemäß Art. 10 Abs. 1 VerbraucherrechteRichtlinie den Verbraucher so stellen, wie er im Fall eines Widerrufs stehen würde, weil hierdurch die einheitliche Auslegung des Unionsrechts unterlaufen würde. Was aber ist mit Schadensersatzansprüchen, die funktional neben einer Herstellung der Widerrufsfolgen stehen, die also etwa Zinsen oder insbesondere die Rechtsfolgen verbundener Verträge betreffen? Daneben bleibt auch die Frage, wie allgemein die „Grundsätze des bürgerlichen Rechts denn nun gelten sollen“. Gelten etwa die Hamilton- bzw. Messner-Grundsätze auch für andere Widerrufsrechte? Gilt der Grundsatz von Treu und Glauben darüber hinaus auch in anderen Fällen? Das wird auch die vorliegende Untersuchung nicht abschließend sagen können. Derzeit kann insoweit nur festgestellt werden: Eine flächendeckende Geltung allgemeiner zivilrechtlicher Grundsätze, insbesondere von Treu und Glauben, im Unionsprivatrecht hat der Gerichtshof jedenfalls nicht ausgeschlossen und hinsichtlich der Formulierung von der Allgemeinheit dieses Grundsatzes liegt sie auch nahe. Der Gerichtshof selbst ist aber von einer einheitlichen Herangehensweise noch ein ganzes Stück entfernt. Es ist daher Aufgabe der nationalen Gerichte, weitere Vorabentscheidungsersuchen in diesem Bereich zu formulieren; dies gilt bereits deshalb, weil Treu und Glauben ja oft eine Abwägung zwischen verschiedenen Rechtsgütern bzw. Interessen erfordert, die im Anwendungsbereich des Unionsrechts im Ausgangspunkt nur der EuGH vornehmen kann. Die Feinabstimmung im Einzelfall darf, wenn die allgemeinen Leitlinien feststehen, dem nationalen Tatrichter überlassen bleiben. Alternativ denkbar wäre noch eine detaillierte, allgemeingültige Definition von Treu und Glauben durch den europäischen Gesetzgeber, die über die Aufstellung schwarzer und grauer Listen in einzelnen Rechtsakten hinausgehen würde. Auch allgemeine Rechtsgrundsätze müssen nicht zwingend ungeschrieben sein, nur weil dies in der Vergangenheit wegen ihrer Entwicklung durch die Rechtsprechung anhand konkreter Probleme regelmäßig der Fall war.819 Im Bereich des Gemeinsamen Kaufrechts geht der Unionsgesetzgeber – möglicherweise auch aus politischen Zwängen – eher den umgekehrten Weg und verwendet Treu und Glauben flächendeckend, ohne entsprechende Konkretisierungshilfen zur Verfügung zu stellen. Der Gerichtshof hat allerdings in einer steuerrechtlichen Frage bereits einmal verlautbaren lassen, dass er bei bestimmten Grundsätzen eine gesetzgeberische Ausgestaltung bzw. Klarstellung fordert. In der Rs. NCC Construction ging es u. a. um den Grund818 EuGH, 25.10.2005, Rs. C-350/03 Elisabeth Schulte und Wolfgang Schulte ./. Deutsche Bausparkasse Badenia AG, Slg. 2005 I-9215; EuGH, 25.10.2005, Rs. C-229/04 Crailsheimer Volksbank eG ./. Klaus Conrads u. a., Slg. 2005 I-09273. 819 Semmelmann, M-EPLI Working Paper No. 2012/7, S. 11 „mostly unwritten“.
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satz der Neutralität der Mehrwertsteuer. Während die steuerrechtlichen Einzelheiten für die hier behandelte Fragestellung nicht von Interesse sind, ist es die Einordnung des Grundsatzes der Neutralität der Mehrwertsteuer durch den EuGH sehr wohl. Dieser führt nämlich aus: „Nach ständiger Rechtsprechung ist der Grundsatz der steuerlichen Neutralität und insbesondere das Recht auf Vorsteuerabzug als integrierender Bestandteil des Mechanismus der Mehrwertsteuer ein grundlegendes Prinzip des durch das Gemeinschaftsrecht eingeführten Mehrwertsteuersystems […]. In diesem Grundsatz der steuerlichen Neutralität hat der Gemeinschaftsgesetzgeber den Grundsatz der Gleichbehandlung im Mehrwertsteuerbereich zum Ausdruck gebracht […]. Während jedoch der letztgenannte Grundsatz wie andere allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts Verfassungsrang hat, bedarf der Grundsatz der steuerlichen Neutralität einer gesetzgeberischen Ausarbeitung, die nur durch einen Rechtsakt des abgeleiteten Gemeinschaftsrechts erfolgen kann […]. Der Grundsatz der steuerlichen Neutralität kann daher in einem solchen Rechtsetzungsakt Gegenstand von Klarstellungen sein […].“
Man darf sich fragen, ob diese Klassifizierung nicht auch auf den Grundsatz von Treu und Glauben zutreffen könnte. Wenn dieser Rechte und Pflichten von privatrechtlichen Parteien konkretisiert, ergänzt und ggf. auch missbräuchliche vertragliche Bestimmungen verdrängt, so bedeutet dies andererseits, dass er sich grundsätzlich nicht gegenüber ausdrücklichen gesetzgeberischen Wertungen durchsetzt. Er hat also gewissermaßen – analog zum Grundsatz der steuerlichen Neutralität – keinen Verfassungsrang. Gegenüber dem Sekundärrecht kann sich der Grundsatz von Treu und Glauben also allenfalls durchsetzen, soweit hinter ihm andere Grundsätze stehen, die ihrerseits Verfassungsrang haben.820 Denkbar wäre die Anwendung eines allgemeinen Grundsatzes von Treu und Glauben etwa in der Rs. Quelle gewesen, deren Folgen – Erhalt neuer für die mangelhafte gebrauchte Ware innerhalb der Gewährleistungsfrist – teilweise als unbillig zu Lasten des Unternehmers empfunden worden sind.821 In den Rechtssachen Weber und Putz822 hat der EuGH ein vergleichbares Problem erkannt. Er hat dort das Risiko des Verkäufers, der bei der Nachlieferung auch den Ausbau der defekten Kaufsache sowie den Einbau der neuen zu bezahlen hat, auf den Wert der Kaufsache selbst beschränkt bzw. eine solche Beschränkung durch nationale Gerichte zugelassen. Dabei hat sich der Ge820 A. A. wohl Purnhagen, RabelsZ 77 (2013), 592, 610, der den Grundsatz von Treu und Glauben zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen mit Verfassungsrang zu zählen scheint. 821 EuGH, 17.4.2008, Rs. C-404/06 Quelle AG ./. Bundesverband der Verbraucherzentralen, Slg. 2008 I-02685. Sehr ausführlich zu möglichen Lösungsansätzen für den ggf. als ungerechtfertigt empfundenen Vorteil des Verbrauchers Rybarz, Billigkeitserwägungen im Kontext des Europäischen Privatrechts, S. 56–109. 822 EuGH, 16.6.2011, Verbundene Rs. C-65/09 Gebr. Weber GmbH ./. Jürgen Wittmer und C-87/09 Ingrid Putz ./. Medianess Electronics GmbH, Slg. 2011 I-05257.
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Kapitel 2 – Bestandsaufnahme und Analyse
richtshof der Maßstäbe der Verhältnismäßigkeit und der Angemessenheit bedient, die er der Richtlinie selbst entnehmen konnte (vgl. etwa Art. 3 Abs. 3). Zu beachten sind bei der Analyse eines unionsrechtlichen Grundsatzes von Treu und Glauben außerdem auch die funktionell diesem Grundsatz ähnlichen Wertungen in der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie823 selbst, nach deren Art. 3 i. V. m. Erwägungsgrund 12 der Verkäufer die gewählte Form der Nacherfüllung wegen Unzumutbarkeit ablehnen kann. Diese Lösung beruht also ebenfalls auf dem Grundsatz von Treu und Glauben, auch wenn sie ihn hier nicht ausdrücklich nennt. Jedenfalls spricht viel dafür, dass die Messner-Grundsätze auf Ebene des Unionsrechts angesiedelt sind. Wenn der Gerichtshof in anderen Fällen auf mitgliedstaatliche Grundsätze verweisen wollte, so hat er dies ausdrücklich getan. Auch außerhalb der allgemeinen Rechtsgrundsätze im Sinne von Art. 340 Abs. 2 AEUV hat der Gerichtshof bspw. in der Rs. Courage824 darauf hingewiesen, dass „[n]ach einem in den meisten Rechtssystemen der Mitgliedstaaten anerkannten Grundsatz, den der Gerichtshof bereits angewandt hat (siehe Urteil vom 7. Februar 1973 in der Rechtssache 39/72, Kommission/Italien, Slg. 1973, 101, Randnr. 10), […] ein Einzelner nämlich nicht aus seinem eigenen rechtswidrigen Verhalten Nutzen ziehen [darf].“
Hesselink hat dagegen argumentiert, dass die „Grundsätze des Zivilrechts“ ihre Quelle nicht im Acquis Communautaire haben könnten, weil dieser im Bereich des allgemeinen Zivilrechts schlicht nicht existiere.825 Den im Acquis vorhandenen Regeln könne man schon aus kompetenziellen Gründen keine allgemeinen zivilrechtlichen Grundsätze entnehmen. Er ist daher der Ansicht, dass die Messner-Grundsätze nur den gemeinsamen Privatrechtstraditionen der Mitgliedstaaten entspringen können.826 Die entscheidende Frage ist aber eigentlich nicht die nach der Quelle von Grundsätzen im Sinne ihrer begrifflichen oder funktionalen Inspiration. Das Unionsrecht ist nun einmal erst einige Jahrzehnte alt, so dass gezwungenermaßen alle seine Begriffe und Konzepte – soweit sie nicht ausnahmsweise originär unionsrechtliche Neuentwicklungen darstellen – in irgendeiner Form an andere Rechtsquellen, regelmäßig also an die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen, angelehnt sind. Dies zeigen ja auch regelmäßig die hier etwa bei der Klauselrichtlinie, der Han823 Richtlinie 1999/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Mai 1999 zu bestimmten Aspekten des Verbrauchsgüterkaufs und der Garantien für Verbrauchsgüter, ABl. 1999 L 171-12. 824 EuGH, 20.9.2001, Rs. C-453/99 Courage Ltd ./. Bernard Crehan, Slg. 2001 I-06297, Rn. 31. 825 Hesselink, in: Leczykiewicz / Weatherill, The Involvement of EU Law in Private Law Relationships, S. 131, 169 f. 826 Hesselink, in: Leczykiewicz / Weatherill, The Involvement of EU Law in Private Law Relationships, S. 131, 171.
E. Bindung an eigenes Vorverhalten und Verwirkung
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delsvertreterrichtlinie und der UGP-Richtlinie untersuchten Gesetzgebungsmaterialien. Entscheidender ist doch, auf welcher Ebene der jeweilige Grundsatz heute angesiedelt ist, ob also der Verweis auf Treu und Glauben ins nationale Recht geht oder ob damit ein eigener, autonom auszulegender europäischer Grundsatz von Treu und Glauben gemeint ist. Wenn man den Harmonisierungszweck des Unionsrechts im Hinblick auf die Vollendung des Binnenmarktes ernst nimmt, so kann regelmäßig nur Letzteres der Fall sein. IV. Verwirkung des Ausgleichsanspruchs nach der Handelsvertreterrichtlinie Eine weitere Vorschrift, die als Ausprägung von Treu und Glauben verstanden werden kann, findet sich direkt im Anschluss an die Regelung des Ausgleichs- oder Schadensersatzanspruchs nach Art. 17 der Handelsvertreterrichtlinie.827 Dieser kann nämlich gemäß Art. 18 ausgeschlossen sein, „a) wenn der Unternehmer den Vertrag wegen eines schuldhaften Verhaltens des Handelsvertreters beendet hat, das aufgrund der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften eine fristlose Beendigung des Vertrages rechtfertigt; b) wenn der Handelsvertreter das Vertragsverhältnis beendet hat, es sei denn, diese Beendigung ist aus Umständen, die dem Unternehmer zuzurechnen sind, oder durch Alter, Gebrechen oder Krankheit des Handelsvertreters, derentwegen ihm eine Fortsetzung seiner Tätigkeit billigerweise nicht zugemutet werden kann, gerechtfertigt; […].“
Der Anspruch besteht also nicht, wenn die Beendigung des Vertrages dem Handelsvertreter vorwerfbar zuzurechnen ist. Guski sieht hierin einen „gesetzlich geregelte[n] Fall der Verwirkung durch Treuwidrigkeit“.828 Aus der Rs. Volvo Car Germany829 ergibt sich, dass ein schuldhaftes Verhalten zu einer „Verwirkung“ des Ausgleichsanspruchs nach Art. 18 lit. a) der Richtlinie nur dann führen darf, wenn es auch kausal für die Beendigung des Vertragsverhältnisses war; es muss dem Unternehmer also vorher bekannt gewesen sein. Allerdings lässt der Gerichtshof die Berücksichtigung einer schuldhaften Vertragsverletzung „im Rahmen der Prüfung der Billigkeit des Ausgleichs“ zu und setzt ihr auch keine ausdrücklichen Grenzen.830 Eine solche wird man wohl dort ziehen müssen, wo der Ausgleich durch die Billigkeit auf null reduziert wird, weil dann eine Umgehung des Art. 18 lit. a) vorläge. Auch diese Entscheidung zeigt aber, dass der Begriff der Billigkeit weniger kontrolliert wird und weitaus einzelfallbezogener ist als der Grundsatz von Treu und Glauben. Siehe hierzu sogleich S. 290 ff. Guski, GPR 2009, 286, 292; im Nomos-Handbuch des Europäischen Rechts ist die Vorschrift bspw. ohne weitere Erläuterung mit der Überschrift „Verwirkung“ versehen worden. 829 EuGH, 28.10.2010, Rs. C-203/09 Volvo Car Germany GmbH ./. Autohof Weidensdorf GmbH, Slg. 2010 I-10721. 830 Rn. 44 des Urteils in der Rs. C-203/09 Volvo Car Germany. 827 828
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Kapitel 2 – Bestandsaufnahme und Analyse
In der Sache Rosetti Marketing831 hatten der englische Court of Appeal und als Vorinstanz der High Court u. a. zu entscheiden, ob ein Handelsvertreter gegen seine Pflicht aus Art. 3 Abs. 1 der Handelsvertreterrichtlinie bzw. die wortlautgleiche englische Umsetzungsbestimmung832 verstößt, wenn er für mehrere Geschäftsherren tätig ist, die zueinander in Konkurrenz stehen und die Parteien hierzu keine Vereinbarung getroffen haben.833 Der Court Appeal hat der Vorschrift ein grundsätzliches Konkurrenzverbot entnommen. Eine Ausnahme hierzu soll – neben dem einleuchtenden Fall einer entsprechenden Vereinbarung der Parteien – nur dann bestehen, wenn dem Geschäftsherrn klar sein musste, dass der Handelsvertreter dem „Wesen seiner Tätigkeit nach“ („the nature of the agent’s business“) für mehrere Geschäftsherrn tätig ist. Dies soll etwa dann der Fall sein, wenn der Handelsvertreter ein in einem bestimmten örtlichen Bereich agierender Immobilienmakler („residential estate agent“) ist.834 Unmittelbar mit dem Wortlaut der Richtlinie und insbesondere mit dem Grundsatz von Treu und Glauben hatte nur der High Court835 als Vorinstanz argumentiert, dessen Urteil der Court of Appeal allerdings aufrechterhalten hat. Treu und Glauben tauche infolge europäischer Rechtsvereinheitlichung als Konzept immer häufiger im englischen Recht auf. Für die Ausfüllung des Begriffs bezieht sich der High Court ausführlich auf die Ausführungen des House of Lords in Person von Lord Bingham in First National Bank.836 Jedenfalls reflektierten die Verpflichtungen zum Handeln nach Treu und Glauben und zur Wahrnehmung der Interessen des Unternehmers die im Common Law enthalte treuhänderische Pflicht (fidiucary duty) des Vertreters. Es hat sich gezeigt, dass der Begriff der Billigkeit hier eine spezifische Bedeutung im Bereich der Handelsvertreterrichtlinie hat. Verallgemeinerungsfähig ist vielleicht der Gedanke der Verwirkung, wie er sich in dem vom EuGH in Tamoil in Bezug genommenen Kommissionsbericht wiederfindet.837
831 Court of Appeal, Rossetti Marketing Ltd und Solutions Marketing Ltd ./. Diamond Sofa Company Ltd, [2012] EWCA Civ 1021. 832 Ausführlich zur Umsetzung im Vereinigten Königreich und der zu diesen Bestimmungen ergangenen nationalen Rechtsprechung Randolph / Davey, The European Law of Commercial Agency, S. 63 ff. 833 Siehe Rn. 7 und 19 ff. der Entscheidung Rosetti Marketing, [2012] EWCA Civ 1021. 834 Rn. 23 der Entscheidung Rosetti Marketing, [2012] EWCA Civ 1021. 835 High Court, Rossetti Marketing Ltd und Solutions Marketing Ltd ./. Diamond Sofa Company Ltd, [2011] EWHC 2482 (QB). 836 Rn. 40 ff. des Urteils des High Court in der Sache Rosetti Marketing [2011] EWHC 2482 (QB). Zu First National Bank siehe oben die an Kapitel 1 Fn. 142 anschließenden Ausführungen. 837 Siehe unten S. 290 ff.
E. Bindung an eigenes Vorverhalten und Verwirkung
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V. Ergebnis: Bindung an eigenes Vorverhaltens und Verbot der Berufung auf eigenes rechtswidriges Verhalten Das Verbot widersprüchlichen Verhaltens ist in der Rechtsprechung des EuGH838 anerkannt. Daneben findet es eine Stütze in zahlreichen Bestimmungen des Sekundärrechts, ohne dass dieses Verbot oder der Grundsatz von Treu und Glauben dort stets ausdrücklich genannt wären. So sieht etwa Art. 3 Abs. 6 der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie839 vor, dass der Verbraucher bei einer geringfügigen Vertragswidrigkeit keinen Anspruch auf Vertragsauflösung hat. Guski840 will daher insoweit nur von unionsrechtlichen „Spurenelementen“ der Verwirkung in verschiedenen Rechtsakten sprechen, zu denen sich aber „anerkannte Tatbestandsvoraussetzungen (noch) nicht gewohnheitsrechtlich entwickelt haben.“ Auf Ebene der Mitgliedstaaten hat etwa der deutsche Bundesgerichtshof – ohne Vorlage an den EuGH – entschieden, dass der Verbraucher, der bei Abschluss eines Kaufvertrages einen gewerblichen Verwendungszweck vortäuscht, sich nicht auf §§ 474 ff. BGB berufen kann, in denen die zwingenden, verbraucherschützenden Vorschriften der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie umgesetzt sind.841 Schürnbrand842 sieht die Entscheidung kritisch und zieht eine Parallele zum Minderjährigenrecht. Wie jenes sei „das Verbrauchervertragsrecht auch im Falle der arglistigen Vortäuschung einer unternehmerischen Verwendungsabsicht anzuwenden“. Jedenfalls aber – und insoweit ist Schürnbrand zuzustimmen – hätte die Beantwortung der Frage, ob hier dem Grundsatz von Treu und Glauben oder dem paternalistischen Schutz des Verbrauchers auch vor sich selbst der Vorrang zu geben ist, eigentlich eine Klärung im Vorabentscheidungsverfahren erfordert. Dennoch sind die vom BGH vorgebrachten Argumente valide, und die Entscheidung ist insbesondere auch auf Ebene des europäischen Rechts gut begründet. Welches Verhalten des Verbrauchers im Einzelfall nun ein Vorverhalten darstellt, das ihm die spätere Berufung auf die Verbrauchereigenschaft verwehrt, bedarf aber noch weiterer Konkretisierung.843 Auch hält der Bundesgerichtshof eine VerwirZuerst durch EuGH, 12.7.1962, Rs. 14/61 Koninklijke Nederlandsche Hoogovens ./. Hohe Behörde, Slg. 1962, S. 00513. 839 Siehe oben Kapitel 2 Fn. 823. 840 Guski, GPR 2009, 286, 290. 841 BGH, 22. 12. 2004, VIII ZR 91/04, NJW 2005, 1045; zustimmend unter Verweis auf die Rechtsprechung des EuGH zur Geltung von Treu und Glauben bei Gerichtsstandsvereinbarungen in den Rs. 25/76 Segoura und 71/83 Tilly Russ (oben Kapitel 2 Fn. 603) Basedow, in: MüKo-BGB, 6. A. 2012, § 310 Rn. 54. 842 Schürnbrand, JZ 2009, 133, 137. 843 So erscheint etwa die Entscheidung des OLG Hamm vom 29.3.2012, Az. 28 U 147/11 (bei juris), die zwar dem Verkäufer die Beweislast für das Vortäuschen der Unternehmereigenschaft durch den Verbraucher auferlegt, diese aber für erfüllt ansieht, wenn der Käufer den Vertragspassus „Käufer ist Gewerbetreibender, somit keine Gewähr auf 838
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Kapitel 2 – Bestandsaufnahme und Analyse
kung von Widerrufsrechten grundsätzlich für möglich.844 Dabei ist abermals festzustellen, dass das Verbot widersprüchlichen Verhaltens, das Verbot der Berufung auf eigenes rechtswidriges Verhalten und die Verwirkung sowie der dem englischen Recht entstammende „estoppel“-Grundsatz im Unionsprivatrecht kaum zu trennen sind.845 Eine verwandte Kategorie ist das Verbot der Berufung auf eigenes rechtswidriges Verhalten. Der Grundsatz nemo auditur turpitudinem propiam allegans ist bisher allerdings nur in der Rs. Courage angeklungen.846
F. Begründung sonstiger Pflichten F. Begründung sonstiger Pflichten
Bei der Begründung zusätzlicher Pflichten außerhalb von Sonderverbindungen bzw. im Zusammenhang mit einem selbstbindenden oder anspruchsausschließenden Vorverhalten ist der unionsprivatrechtliche Befund eher dünn. Dennoch sind einige Fragmente zu finden, die sich insbesondere den Kategorien Rücksichtnahmepflichten, Verhandlungspflichten und Aufklärungspflichten zuordnen lassen. Sie sollen an dieser Stelle zumindest Erwähnung Sachmängel …“ unterschreibt und außerdem rote Überführungskennzeichen mit sich führt, zu weitgehend. Hier wäre eine Abgrenzung zum Umgehungsgeschäft wünschenswert gewesen. Es kann nämlich nicht ausreichen, wenn die Parteien sich einig sind, dass der Käufer als Unternehmer handeln soll; vielmehr muss der Käufer einseitig handeln und bei dem Verkäufer ein berechtigtes Vertrauen auf seine Unternehmereigenschaft hervorrufen. 844 Im Urteil vom 17.10.2006 Az. XI ZR 205/05 (bei juris), Rn. 26 hält der BGH eine Verwirkung des Widerrufsrechts bei Haustürgeschäften, das im Einklang mit der Entscheidung des Gerichtshofs in der Rs. C-481/99 Heininger (oben Kapitel 2 Fn. 784) bei fehlerhafter Belehrung nicht abläuft, grundsätzlich für möglich, allerdings im konkreten Fall für nicht gegeben. In BGH, 18.10.2004, Az. II ZR 352/02, Rn. 22 ff. prüft er, ob ein Widerruf eines Haustürgeschäfts das Verbot der unzulässigen Rechtsausübung verstößt und insbesondere verwirkt ist. Dabei stellt er wie üblich auf ein Zeit- und ein Umstandsmoment ab, die hier in der Nichtgeltendmachung des Widerrufsrechts trotz Möglichkeit und in einer Weise, die den anderen Teil vertrauen lassen durfte, dass dies auch in Zukunft nicht geschehen werde, besteht. Dabei seien „im Anwendungsbereich des Haustürwiderrufsgesetzes […] strenge Anforderungen zu stellen.“ 845 Vgl. etwa die Schlussanträge des Generalanwalts Jean Mischo vom 8.10.1987 in der Rs. 80/86 Strafverfahren gegen Kolpinghuis Nijmegen BV, Slg. 1987, S. 03969 mit einem Aufsatzzitat des Richters Pierre Pescatore: „Letztlich ist die Rechtsprechung des Gerichtshofes zu dieser Frage nur eine Ausprägung des Grundsatzes, der mit dem englischen Rechtsbegriff ‚estoppel‘, in einem weiten Sinn verstanden, bezeichnet zu werden pflegt und den Juristen mit lateinischer Tradition mit dem Rechtsspruch ‚venire contra factum proprium‘ oder auch ‚nemo auditur‘ umschreiben […].“ 846 Vgl. EuGH, 20.9.2001, Rs. C-453/99 Courage Ltd ./. Bernard Crehan, Slg. 2001 I-06297, Rn. 17 ff. Basedow, in: Festschrift für M. P. Stathopoulos, S. 159, 187 hält den Grundsatz nemo auditur turpitudinem propiam allegans aufgrunddessen für im Unionsrecht anerkannt.
F. Begründung sonstiger Pflichten
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finden, auch wenn sie jeweils nicht den Grad an Verallgemeinerbarkeit erreicht haben dürften, der es erlauben würde, von einer unionsprivatrechtlichen Fallgruppe von Treu und Glauben zu sprechen. Der Acquis communautaire enthält zunächst an unterschiedlichen Stellen Pflichten zur Berücksichtigung der Interessen der anderen Partei sowie zur Aufnahme von Verhandlungen. So sieht etwa Riesenhuber847 in den Leistungsstörungsregeln der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie Ausprägungen des Grundsatzes von Treu und Glauben. Dies sei insbesondere daran festzumachen, dass eine besondere gegenseitige Rücksichtnahme und ein Zusammenwirken bei der Behebung von Leistungsstörungen gefordert würden. Auch Art. 3 Abs. 6 der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie, wonach der Verbraucher bei einer nur geringfügigen Vertragswidrigkeit keine Auflösung des Kaufvertrages verlangen kann, darf als Ausprägung des Grundsatzes von Treu und Glauben verstanden werden. Zu dieser Bestimmung konnte sich der Gerichtshof – auch wenn das nationale Gericht hiernach nicht unmittelbar gefragt hatte – in der Rs. Automóviles Citroen España SA848 äußern. Dort hatte ein spanisches Gericht die Frage vorgelegt, ob es mit der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie vereinbar ist, wenn einem Verbraucher sein Recht auf Minderung prozessual abgeschnitten wird, weil er in seinem ursprünglichen Antrag eine Vertragsauflösung beantragt hatte.849 Der Gerichtshof verneinte dies. Dem Problem lag eine Konstellation zugrunde, in der eine Kaufsache zwar vertragswidrig – sprich: mangelhaft – war, das spanische Gericht jedoch davon ausging, dass es sich um eine geringfügige Vertragswidrigkeit im Sinne des Art. 3 Abs. 6 der Richtlinie handelte. Allerdings ist auch der Begriff der geringfügigen Vertragswidrigkeit selbstverständlich ein unionsrechtlicher Begriff, zu dessen Auslegung letztlich nach Art. 267 AEUV der Europäische Gerichtshof berufen ist. Das spanische Gericht hielt es jedoch offenbar für acte clair, dass eine mit mehreren Reparaturversuchen nicht zu beseitigende Undichtigkeit am Dach eines Neuwagens unter den Begriff der geringfügigen Vertragswidrigkeit falle, obwohl dies dazu führte, dass bei Regen Wasser ins Fahrzeuginnere eindrang.850 Auch wenn die Regenhäufigkeit unter den Mitgliedstaaten variieren mag, so dürfte dies mutmaßlich auch in Spanien dazu führen, dass durch die eindringende Feuchtigkeit entsprechende Flecken, ein modriger Geruch und ggf. Schimmel oder Folgeschäden an der Elektrik des Fahrzeugs zu erwarten sind. Ob es sich hierbei tatsächlich um Aspekte handelt, die der Käufer eines Neuwagens nach Treu und Glauben hinzunehmen hat, ohne den Vertrag insgesamt rückabwickeln zu können und damit eine Riesenhuber, Europäisches Vertragsrecht, S. 233. EuGH, 3.10.2013, Rs. C-32/12 Soledad Duarte Hueros ./. Autociba SA und Automóviles Citroen España SA, ECLI:EU:C:2013:637. 849 Die Vertragsauflösung im Sinne der Richtlinie entspricht in den deutschen Umsetzungsbestimmungen dem Rücktritt nach §§ 323 ff. BGB. 850 Rn. 18 des Urteils in der Rs. C-32/12 Duarte Hueros. 847 848
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Kapitel 2 – Bestandsaufnahme und Analyse
Chance auf ein im Inneren trockenes Fahrzeug zu erhalten, wäre eine Frage gewesen, die zu entscheiden wohl dem EuGH zugestanden hätte. Das sah auch die Generalanwältin so, die zwar einerseits andeutet, die Geringfügigkeit der Vertragswidrigkeit sei Tatfrage,851 womit sie als Frage der Anwendung und nicht der Auslegung des Unionsrechts der Zuständigkeit des Gerichtshofs entzogen wäre. Allerdings dürfte dies nur für die Feststellung des tatsächlichen Umfangs des Mangels gelten – hier also etwa für die Größe der Undichtigkeit bzw. die Menge des eindringenden Wassers. Die Definition des Begriffs der Geringfügigkeit ist dagegen eine Frage der Auslegung des Rechts, was auch die Generalanwältin so sieht, wenn sie ausdrücklich anmerkt, dass eine Vorlage auch zur Frage der Auslegung des Begriffs der Geringfügigkeit wünschenswert gewesen wäre.852 Der Gerichtshof selbst äußert sich hierzu nicht, so dass es an einer Definition des Begriffs der Geringfügigkeit bislang fehlt. Allerdings erscheint es nach dem Gesagten naheliegend, dass Geringfügigkeit hier dahingehend zu verstehen ist, ob einem typischen Verbraucher das Behalten der Kaufsache – bei einer entsprechenden Minderung des Kaufpreises – nach Treu und Glauben zumutbar ist. Dass Treu und Glauben eng mit dem Begriff der Zumutbarkeit verbunden ist, zeigt sich auch an weiteren Stellen des Unionsrechts. Abschließend soll für das Vertragsrecht noch ein weiterer Fund erwähnt werden, weil dieser anschaulich illustriert, dass das Unionsrecht mit dem Grundsatz von Treu und Glauben nicht nur abstrakte Blankettnormen, sondern auch ganz konkrete Fallgestaltungen verbindet: Eine Kommissionsempfehlung über den Euro als gesetzliches Zahlungsmittel853 sieht vor, dass dieser bei Einzelhandelstransaktionen in der Regel anzunehmen ist (Nr. 2) und zwar auch bei Zahlung in hoher Stückelung (Nr. 3), wobei jeweils festgelegt wird: „Eine Ausnahme davon ist nur aus Gründen im Zusammenhang mit dem Grundsatz von Treu und Glauben möglich.“ Dies soll etwa der Fall sein, „wenn der Einzelhändler über kein Wechselgeld verfügt“ bzw. „wenn der Nennwert der angebotenen Banknote im Vergleich zu dem Betrag, der dem Zahlungsempfänger geschuldet wird, unverhältnismäßig ist.“ Hier ist also zu beobachten, dass auch die Europäische Kommission dem Grundsatz von Treu und Glauben insbesondere eine Pflicht zur Rücksichtnahme auf die Interessen des anderen Teils entnimmt, dem eine bestimmte Art der Rechtsausübung zumutbar sein muss, was wiederum über den Begriff der Verhältnismäßigkeit konkretisiert wird. Schlussanträge der Generalanwältin Juliane Kokott vom 28.2.3013 in der Rs. C-32/12 Soledad Duarte Hueros ./. Autociba SA und Automóviles Citroen España SA, ECLI:EU:C:2013:128, Rn. 36. 852 Rn. 55–57 der Schlussanträge in der Rs. C-32/12 Duarte Hueros; siehe insbesondere auch Fn. 33 der Schlussanträge. 853 Empfehlung der Kommission vom 22. März 2010 über den Geltungsbereich und die Auswirkungen des Status der Euro-Banknoten und -Münzen als gesetzliches Zahlungsmittel (2010/191/EU), ABl. 2010 L 83/70. 851
F. Begründung sonstiger Pflichten
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Ein zweiter Aspekt, der eng mit dem auf Treu und Glauben zurückgehenden Begriffspaar Rücksichtnahme und Zumutbarkeit verbunden ist, sind Verhandlungspflichten. Solche sieht etwa die Zugangsrichtlinie854 vor, die das Recht des Zugangs zu elektronischen Kommunikationsnetzen regelt. Sie erlegt Netzbetreibern eine Pflicht auf, mit antragsberechtigten Unternehmen über die Gewährung von Zugang zu den Netzen zu verhandeln (Art. 4 Abs. 1), sieht damit aber keinen Kontrahierungszwang vor.855 Die Richtlinie sieht außerdem vor, dass nationale Regulierungsbehörden das Recht haben müssen, Netzbetreiber dazu zu verpflichten, unter bestimmten Umständen Zugang zu gewähren. In Art. 12 Abs. 1 wird dabei u. a. die Möglichkeit aufgeführt, Betreibern aufzuerlegen, „mit Unternehmen, die einen Antrag auf Zugang stellen, nach Treu und Glauben zu verhandeln“ (lit. b). Dies wirft einige Fragen auf. Zum einen scheint damit die allgemeine Verhandlungspflicht des Art. 4 Abs. 1 eine Verpflichtung zur Verhandlung nach Treu und Glauben im Umkehrschluss nicht zu enthalten. Allerdings sieht Erwägungsgrund 5 vor, dass „Unternehmen, die Anträge auf Zugang oder Zusammenschaltung erhalten, derartige Vereinbarungen grundsätzlich auf gewerblicher Grundlage abschließen und nach Treu und Glauben aushandeln [sollen].“ Hier besteht also gerade keine Beschränkung der Geltung von Treu und Glauben auf den Fall der Auferlegung einer Verpflichtung nach Art. 12, so dass davon ausgegangen werden muss, dass die Nennung des Grundsatzes von Treu und Glauben im letztgenannten Fall nur eine besondere Betonung darstellt, die Geltung des Grundsatzes im Anwendungsbereich der Richtlinie im Übrigen aber nicht ausschließen soll. Von Interesse ist im Rahmen dieser Untersuchung auch, welchen Inhalt bzw. welche Zielrichtung Treu und Glauben hier eigentlich hat. Im ersten Zugriff drängt sich der Eindruck auf, es sei vor allem die Art und Weise der Verhandlung gemeint – insbesondere was die Ernsthaftigkeit der Verhandlung mit Blick auf einen möglichen Vertragsabschluss und nicht bloße Scheinverhandlungen angeht. Bei genauerer Lektüre der Vorschrift ist jedoch festzustellen, dass hier auch das inhaltliche Ergebnis der Verhandlungen gemeint sein kann. Art. 12 Abs. 1 erwähnt nämlich auch, dass die nationalen Regulierungsbehörden es verhindern können sollen, dass die Netzbetreiber „unangemessene Bedingungen“ anbieten, die in ihrer Wirkung einer Verweigerung des Zugangs ähnlich sind. Damit rückt die Verwendung von Treu und Glauben hier in die Nähe der Klauselrichtlinie und des kartellrechtlichen Preis- oder Konditionenmissbrauchs nach Art. 102
Richtlinie 2002/19/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 7. März 2002 über den Zugang zu elektronischen Kommunikationsnetzen und zugehörigen Einrichtungen sowie deren Zusammenschaltung (Zugangsrichtlinie), ABl. 2002 L 108/7. 855 Grussmann / Honekamp, in: Geppert/Schütz, Beck’scher TKG-Kommentar, Einleitung B. – Europarechtliche Grundlagen, Rn. 129. 854
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Kapitel 2 – Bestandsaufnahme und Analyse
lit. a) AEUV. Zusätzlich ist nach Art. 12 Abs. 2 bei der Auferlegung der Verpflichtungen nach Abs. 1 eine Verhältnismäßigkeitsprüfung durchzuführen. Drittens ist noch darauf hinzuweisen, dass der Europäische Gerichtshof den Grundsatz von Treu und Glauben im Sinne einer „best efforts“-Verpflichtung auch dann verwendet, wenn es darum geht, Sorgfaltspflichten für nationale Gerichte oder Behörden zu formulieren. Die Rechtssache Lindner856 betraf verschiedene Fragen aus dem Bereich des internationalen Zuständigkeitsrechts in einem Fall, in dem der Wohnsitz des Beklagten nicht festgestellt werden kann und dieser von einem Prozesspfleger vertreten werden soll. Herr Lindner, ein deutscher Staatsbürger, hatte in der Tschechischen Republik einen Darlehensvertrag abgeschlossen, während er dort wohnhaft war. Der Vertrag enthielt eine Gerichtsstandsvereinbarung zugunsten der Gerichte am Sitz der Bank. Als die Bank Ansprüche aus dem Vertrag geltend machen wollte, war Herr Lindner unbekannt verzogen. Zur Zulässigkeit eines Verfahrens gegen Personen, deren Aufenthalt nicht ermittelt werden kann, führt der Gerichtshof aus: Komme das nationale Gericht nach sorgfältiger Prüfung zu dem Schluss, dass ein Wohnsitz des Verbrauchers weder in diesem noch in einem anderen Mitgliedstaat, noch in einem Drittstaat festzustellen sei, so könne im Rahmen von Art. 16 Abs. 2 EuGVO ausnahmsweise auf den letzten bekannten Wohnsitz des Verbrauchers abgestellt werden.857 Zur Wahrung der Verteidigungsrechte des Beklagten sei es allerdings erforderlich, dass sich das angerufene Gericht vergewissert, „dass alle Nachforschungen, die der Sorgfaltsgrundsatz und der Grundsatz von Treu und Glauben gebieten, vorgenommen worden sind, um den Beklagten ausfindig zu machen.“858 Treu und Glauben steht hier also einem Sorgfaltsmaßstab nahe, ist aber andererseits offenbar mit dem „Sorgfaltsgrundsatz“ nicht deckungsgleich, da die Begriffe sonst wohl nicht nebeneinander stehen würden. Weitere Ausführungen dazu, was mit diesen Begriffen genau gemeint ist, macht der Gerichtshof hier nicht. Denkbar wäre es, dass mit dem „Sorgfaltsgrundsatz“ eher bestimmte Mindestanforderungen im Sinne der Nachforschungen in einschlägigen Melderegistern o. ä. gemeint sind, während die zusätzliche Erwähnung von Treu und Glauben vor allem darauf abzielen könnte, dass naheliegende weitere Nachforschungen, die sich aus den Umständen des Einzelfalles ergeben könnten, ebenfalls vorgenommen werden müssen. Zu denken wäre hier etwa an das Vorhandensein anderer Kontaktdaten als der Anschrift des Beklagten in der Akte – beispielsweise Telefonnummer oder E-Mailadresse. Diese Überlegungen können mangels genauerer Vorgaben des Gerichtshofs aber nur auf den bisherigen Erkenntnissen über Treu und Glauben basieren. 856 EuGH, 17.11.2011, Rs. C-327/10 Hypoteční banka a.s. ./. Udo Mike Lindner, Slg. 2011 I-11543. 857 Rn. 40–47 des Urteils in der Rs. C-327/10 Lindner. 858 Rn. 52 des Urteils in der Rs. C-327/10 Lindner.
F. Begründung sonstiger Pflichten
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Im Zusammenhang mit der Frage nach der Zulässigkeit eines Versäumnisurteils gegen einen Beklagten, der zwar eine Anschrift in einem Mitgliedstaat angibt, dort oder anderswo aber nicht zu ermitteln ist, mit dem Recht auf ein faires Verfahren, hat der Gerichtshof die Formel, wonach „alle Nachforschungen, die der Sorgfaltsgrundsatz und der Grundsatz von Treu und Glauben gebieten“ vorgenommen worden sein müssen, in der Rs. de Visser wortlautgleich bestätigt.859 Generalanwalt Bot hat in einem anderen Verfahren u. a. aus dieser Formel den Schluss gezogen, dass Zustellungsfiktionen jedenfalls dann nicht mit der EU-Zustellungsverordnung860 vereinbar seien, wenn die tatsächliche Anschrift des Empfängers (in einem anderen Mitgliedstaat) bekannt sei.861 Dies entspricht einem Konzept von Treu und Glauben, das es insbesondere verbietet, wider besseres Wissen der Gegenseite belastende Maßnahmen auferlegen zu lassen bzw. dieser die Verfolgung ihrer Rechte mutwillig zu erschweren, wenn es eine weniger belastende und ohne Weiteres zu ergreifende Abhilfe gibt. Der europäische Gesetzgeber verwendet den Grundsatz von Treu und Glauben als Maßstab für eine „sorgfältige Suche“ interessanterweise ebenfalls, und zwar in der Richtlinie zur Nutzung verwaister Werke.862 Deren Art. 3 Abs. 1 sieht nämlich vor, dass – bevor ein Werk oder Tonträger als verwaistes Werk gelten kann – nach Treu und Glauben eine sorgfältige Suche nach den Inhabern der Rechte an dem Werk oder Tonträger stattfinden soll. Dabei wird in den Erwägungsgründen 14 bis 16 näher ausgeführt, was zu solch einer Suche gehört. Unter anderem wird festgelegt, dass bestimmte Quellen zu konsultieren sind, in welchen Mitgliedstaaten die Suche mindestens durchzuführen ist und unter welchen Umständen auch Informationsquellen in anderen Ländern konsultiert werden sollen. Letzteres ist – wenig überraschend – dann der Fall, wenn Hinweise darauf vorliegen, dass dort Informationen zu den Rechteinhabern gefunden werden können. Trotz der scheinbaren Selbstverständlichkeit kann dieser Vorgabe entnommen werden, dass Treu und Glauben es gebietet, sich über die vorgegebenen Standardprozeduren hinaus nicht zum Nachteil der Gegenseite naheliegenden Überlegungen zu verschließen. Der Gedanke entspricht also demjenigen von Generalanwalt 859 EuGH, 15.3.2012, Rs. C-292/10 G ./. Cornelius de Visser, ECLI:EU:C:2012:142, Rn. 59. 860 Verordnung (EG) Nr. 1393/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. November 2007 über die Zustellung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke in Zivil- oder Handelssachen in den Mitgliedstaaten („Zustellung von Schriftstücken“) und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1348/2000 des Rates, ABl. 2007 L 324/79. 861 Schlussanträge des Generalanwalts Yves Bot vom 20.9.2012 in der Rs. C-325/11 Krystyna Alder und Ewald Alder ./. Sabina Orłowska und Czeslaw Orłowski, ECLI:EU:C: 2012:824, Rn. 38. 862 Richtlinie 2012/28/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Oktober 2012 über bestimmte zulässige Formen der Nutzung verwaister Werke, ABl. 2012 L 299/5.
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Kapitel 2 – Bestandsaufnahme und Analyse
Bot, wenn er ausführt, dass eine öffentliche Zustellung nicht in Betracht kommen könne, wenn die tatsächliche Anschrift des Beklagten in einem anderen Mitgliedstaat dem Gericht bekannt ist.
G. Berechtigte Erwartungen G. Berechtigte Erwartungen
Der Begriff der berechtigten Erwartungen ist bereits über die englische Formel von „good faith and legitimate expectations“ eng mit dem Grundsatz von Treu und Glauben verbunden. I.
Produkthaftungsrichtlinie
Die vollharmonisierende863 Produktshaftungsrichtlinie864 verwendet den Begriff der berechtigten Erwartungen für die im Zentrum der Richtlinie stehende Definition der Fehlerhaftigkeit von Produkten in Art. 6. Danach muss ein Produkt diejenige Sicherheit bieten, „die man unter Berücksichtigung aller Umstände […] zu erwarten berechtigt ist.“ Dabei ergibt sich auch aus dem 6. Erwägungsgrund der Richtlinie ausdrücklich, dass mit „man“ hier die Allgemeinheit gemeint ist, also nicht etwa nur der Verbraucher und insbesondere nicht der Käufer des Produkts. Zusätzlich für die Untersuchung von Interesse ist dabei, dass die Richtlinie die Art und Weise des Gebrauchs, bei dem das Produkt sicher sein muss, mittels zweier Begriffe definiert, die ebenfalls als Unterfälle des Grundsatzes von Treu und Glauben gelten dürfen. So wird im 6. Erwägungsgrund erläutert: „Bei der Beurteilung dieser Sicherheit wird von jedem mißbräuchlichen Gebrauch des Produkts abgesehen, der unter den betreffenden Umständen als unvernünftig gelten muß.“
Und Art. 6 Abs. 1 lit. b) führt dazu aus, zu berücksichtigen sei derjenige Gebrauch des Produkts, „mit dem billigerweise gerechnet werden kann“. II. Verbrauchsgüterkaufrichtlinie Auch die Verbrauchsgüterkaufrichtlinie865 benutzt Treu und Glauben nicht wortwörtlich, enthält aber an verschiedenen Stellen Ausprägungen des Grundsatzes.866 So wird in Erwägungsgrund 8 Satz 4 und Art. 2 Abs. 2 lit. d) auf die EuGH, 25.4.2002, Rs. C-183/00 María Victoria González Sánchez ./. Medicina Asturiana SA, Slg. 2002 I-03901, Rn. 23–30. 864 S. o. Kapitel 2 Fn. 222. 865 Richtlinie 1999/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Mai 1999 zu bestimmten Aspekten des Verbrauchsgüterkaufs und der Garantien für Verbrauchsgüter, ABl. 1999 L 171/12. 866 Martínez Sanz, in: Schulte-Nölke/Schulze, Europäisches Vertragsrecht im Gemeinschaftsrecht, S. 127, 135 f. 863
H. Verhältnismäßigkeit, Gerechtigkeit und Fairness
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„Qualität und die Leistung, die der Verbraucher vernünftigerweise erwarten kann“ abgestellt. Die vernünftigen Verbrauchererwartungen stellen hier einen objektiven Maßstab dar – der Verbraucher verstößt gegen Treu und Glauben, wenn er Rechtsbehelfe geltend macht, obwohl er dasjenige erhalten hat, was er vernünftigerweise erwarten durfte. Dann sind ihm die Rechtsbehelfe also abgeschnitten, wenn er nicht umgekehrt nachweist, dass er bei Vertragsschluss darauf hingewiesen hatte, dass er eine höhere Qualität erwartet und dahingehend eine Einigung erzielt hat. Art. 2 Abs. 3 schließt das Vorliegen einer Vertragswidrigkeit aus, wenn der Verbraucher diese bei Vertragsschluss kannte oder „vernünftigerweise nicht in Unkenntnis darüber sein konnte“. Umgekehrt ist der Verkäufer an Werbeaussagen Dritter nach Art. 3 Abs. 4 ausnahmsweise nicht gebunden, wenn er diese „nicht kannte und vernünftigerweise nicht davon Kenntnis haben konnte“. Abs. 3 und Abs. 4 sind indes eher in der Nähe des subjektiven guten Glaubens anzusiedeln. Es geht hier jeweils um die individuelle Kenntnis des Verbrauchers oder des Unternehmers von bestimmten Umständen. Allerdings wird diese um die Möglichkeit der fahrlässigen Unkenntnis erweitert, wobei hier der Verschuldensmaßstab durch den Begriff der „Vernünftigkeit“ objektiviert wird.867 Des Weiteren begrenzt die Verbrauchsgüterkaufrichtlinie in Art. 3 Abs. 3 die Abhilfe in Gestalt der unentgeltlichen Nachbesserung oder Ersatzlieferung mit dem Begriff der Unverhältnismäßigkeit der dem Verkäufer entstehenden Kosten. Dabei sollen drei Aspekte in die Abwägung eingestellt werden, nämlich der Wert des einwandfreien Verbrauchsguts, die Bedeutung der Vertragswidrigkeit und die Möglichkeit des Rückgriffs auf andere Abhilfemöglichkeiten und Unannehmlichkeiten für den Verbraucher. Hier findet also eine recht umfangreiche Interessenabwägung statt. Dabei ergeben sich der Vergleich der Abhilfekosten mit dem Wert der Ware und dem Ausmaß des Mangels gewissermaßen dadurch von selbst, dass die Vorschrift ja Verhältnismäßigkeitserwägungen anordnet. Der letzte Aspekt – mögliche Unannehmlichkeiten für den Verbraucher bei Rückgriff auf eine andere Art der Nacherfüllung – kann dagegen noch näher am eigentlichen Kern von Treu und Glauben verortet werden, weil er zusätzlich die Rücksichtnahme auf die Interessen des anderen Teils anordnet.
H. Verhältnismäßigkeit, Gerechtigkeit und Fairness H. Verhältnismäßigkeit, Gerechtigkeit und Fairness
Weitere Teilaspekte von Treu und Glauben sind die Maßstäbe der Verhältnismäßigkeit, der Gerechtigkeit und der Fairness. Diese sind wiederum unterVgl. Martínez Sanz, in: Schulte-Nölke/Schulze, Europäisches Vertragsrecht im Gemeinschaftsrecht, S. 127, 135 f. 867
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Kapitel 2 – Bestandsaufnahme und Analyse
einander besonders eng verwoben und sollen daher im Folgenden gemeinsam behandelt werden. I.
Handelsvertreterrichtlinie: Ausgleichsanspruch nach Billigkeit
Neben der Verpflichtung der Parteien auf Treu und Glauben868 selbst enthält die Handelsvertreterrichtlinie im Rahmen des Ausgleichsanspruchs nach Art. 17 Abs. 2 lit. a) ein Funktionsäquivalent von Treu und Glauben. Diese Vorschrift gewährt dem Handelsvertreter nach Beendigung des Vertragsverhältnisses einen Ausgleichsanspruch für Provisionsverluste nach folgender Maßgabe: „Der Handelsvertreter hat Anspruch auf einen Ausgleich, wenn und soweit – er für den Unternehmer neue Kunden geworben oder die Geschäftsverbindungen mit vorhandenen Kunden wesentlich erweitert hat und der Unternehmer aus den Geschäften mit diesen Kunden noch erhebliche Vorteile zieht und – die Zahlung eines solchen Ausgleichs unter Berücksichtigung aller Umstände, insbesondere der dem Handelsvertreter aus Geschäften mit diesen Kunden entgehenden Provisionen, der Billigkeit entspricht. Die Mitgliedstaaten können vorsehen, daß zu diesen Umständen auch die Anwendung oder Nichtanwendung einer Wettbewerbsabrede im Sinne des Artikels 20 gehört.“
Der Anspruch ist – was sich auch aus einem Umkehrschluss aus Abs. 3 ergibt – grundsätzlich nicht davon abhängig, auf welche Weise das Vertragsverhältnis beendet wurde.869 Er stellt einen Ausgleich dafür dar, dass der Handelsvertreter Geschäftsverbindungen geschaffen oder erweitert hat,870 von denen der Unternehmer nun weiter profitiert. Im Rahmen dieser Untersuchung interessiert vor allem die zusätzliche Voraussetzung, dass die Gewährung des Anspruch der Billigkeit entsprechen muss (engl.: „is equitable“, frz.: „est équitable“). Wie ist nun der Begriff der Billigkeit bei der Berechnung des Ausgleichsanspruchs auszulegen und anzuwenden? Art. 17 Abs. 2 lit. b) begrenzt den Anspruch auf die Höhe des Jahresdurchschnittsbetrags der Vergütungen, die der Handelsvertreter in den letzten fünf Jahren erhalten hat. Hierin dürfte aber eher eine Konkretisierung des ersten Spiegelstriches im Sinne einer unwiderleglichen Vermutung liegen, dass der Unternehmer keine über diesen Betrag hinausgehenden Vorteile aus den vom Handelsvertreter geschaffenen Geschäftsverbindungen zieht. Wann und vor allem inwieweit die Gewährung des Ausgleichsanspruchs dagegen „der Billigkeit entspricht“ oder eben auch Siehe oben S. 237. So auch Fock, Die europäische Handelsvertreter-Richtlinie, S. 220 f. Allerdings kann der Anspruch nach Art. 18 ausgeschlossen sein (siehe unten). 870 Dabei soll grundsätzlich wohl auch keine Saldierung mit einem etwaigen Verlust von Kunden aus einem zu Vertragsbeginn übernommenen Altkundenstamm erfolgen, vgl. Fock, Die europäische Handelsvertreter-Richtlinie, S. 225 ff. 868 869
H. Verhältnismäßigkeit, Gerechtigkeit und Fairness
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nicht, darüber sagt die Richtlinie nichts weiter. Anerkannt ist aber, dass der Ausgleichsanspruch grundsätzlich besteht und lediglich bei Vorliegen besonderer Umstände als unbillig ausgeschlossen oder begrenzt, andererseits aber auch aus Billigkeitsgründen erhöht werden kann.871 Zu berücksichtigen ist auch, dass die Richtlinie den Mitgliedstaaten wahlweise die Einführung des beschriebenen Ausgleichsanspruchs oder aber eines Schadensersatzanspruchs zugunsten des Handelsvertreters vorschreibt.872 Auf den ersten Blick mag dies gegen eine unionsautonome Auslegung des Begriffes der Billigkeit sprechen.873 Ein eingehenderer Blick auf die Regelungsstruktur zeigt jedoch, dass die Wahl zwischen Ausgleichs- und Schadensersatzanspruch wohl nicht zwei wesentlich verschiedene materielle Regime erlaubt, sondern hauptsächlich auf Regelungstechniken des nationalen Rechts Rücksicht nehmen und eine einfachere Implementierung der Richtlinie ermöglichen sollte.874 Die erste Auslegung von § 17 Handelsvertreterrichtlinie durch den EuGH dürfte die Entscheidung in der Rs. Ingmar875 darstellen, die vor allem für das 871 So hat der EuGH, 26.3.2009, Rs. C-348/07 Turgay Semen ./. Deutsche Tamoil GmbH, Slg. 2009 I-02341, Rn. 24, entschieden, dass das Billigkeitskriterium auch zu einer Anpassung des Anspruchs nach oben hin führen können muss, wenn die verbliebenen Unternehmervorteile die Provisionsverluste überschreiten. 872 Vgl. Art. 17 Abs. 1 und Abs. 3 der Richtlinie. 873 So Franzen, Privatrechtsangleichung durch die Europäische Gemeinschaft, S. 551, der aus der Wahlmöglichkeit der Mitgliedstaaten zwischen den beiden Ansprüchen den Schluss zieht, dass der Rechtsangleichungszweck der Richtlinie in den Hintergrund treten müsse, da eine einheitliche Regelung ja ohnehin nicht denkbar sei. 874 Vgl. etwa: European Parliament, Report drawn up on behalf of the Legal Affairs Committee on the proposal from the Commission of the European Communities to the Council (Doc. 514/76) for a directive to coordinate the laws of the Member States relating to (self-employed) commercial agents, 27 July 1978, Document 222/78, Rn. 94 ff. Der Ausschuss erkennt, dass die Einführung der dort sogenannten „goodwill indemnity“ in solchen Mitgliedstaaten, die einen derartigen Anspruch bis dahin nicht kannten, Schwierigkeiten aufwerfen würde (Rn. 97). Wie genau die Wahlmöglichkeit zwischen Ausgleichs- und Schadensersatzanspruch in den Rechtsakt Einzug gefunden hat, ist nicht dokumentiert. Der ursprüngliche Vorschlag einer Richtlinie des Rates zur Koordinierung der Rechte der Mitgliedstaaten die [selbständigen] Handelsvertreter betreffend, ABl. 1977 Nr. C 13/2 v. 18.1.1977, enthielt nur den Ausgleichsanspruch, ebenso der Geänderte Vorschlag der Kommission, ABl. 1979 Nr. C 56/5 v. 2.3.1979. Nachdem sieben Jahre lang nichts geschah, fand sich der Richtlinienvorschlag dann am 3.11.1986 als B-Punkt auf der Tagesordnung des Rates, dessen Erwägungen zu diesem Zeitpunkt bedauerlicherweise nicht dokumentiert sind, so dass über die Gründe des den Mitgliedstaaten eingeräumten Wahlrechts hier nur gemutmaßt werden kann. 875 EuGH, 9.11.2000, Rs. C-381/98 Ingmar GB Ltd ./. Eaton Leonard Technologies Inc., Slg. 2000 I-09305. Der BGH hat dies mit (Nichtannahme-)Beschluss vom 5.9.2012, Az. VII ZR 25/12, IHR 2013, 35, auf Gerichtsstandsvereinbarungen zugunsten der Gerichte eines Drittstaates erweitert, die aufgrund des dort anwendbaren Rechts dem Handelsvertreter seinen unionsrechtlichen zwingend vorgesehenen Ausgleichsanspruch entziehen
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Internationale Privatrecht bedeutsam ist. Dort hat der Gerichtshof nämlich entschieden, dass einem Handelsvertreter, der seine Tätigkeit innerhalb der EU ausübt, der Schutz der Richtlinie auch dann nicht durch Rechtswahl entzogen werden kann, wenn der Unternehmer seinen Sitz in einem Drittstaat hat und damit gewissermaßen ein internationalprivatrechtliches Umgehungsverbot für die Richtlinie aufgestellt. In Bezug auf Art. 17 der Richtlinie hat der Gerichtshof ausgeführt, dass diese Bestimmung zwingend sei und den Rahmen festlege, „innerhalb dessen die Mitgliedstaaten einen Gestaltungsspielraum bei der Wahl der Methoden zur Berechnung des zu leistenden Ausgleichs oder Schadensersatzes haben.“876 Es kann also festgehalten werden, dass der Begriff der Billigkeit hier einerseits als Öffnungsklausel hin zu den nationalen Rechtordnungen der Mitgliedstaaten fungiert, andererseits aber zugleich einen autonom-europäischen Mindestgehalt haben muss, den die Mitgliedstaaten nicht unterschreiten dürfen. Dies vermag insofern zu verwundern, als die Handelsvertreterrichtlinie vollharmonisierend ist.877 Bei der Auslegung der Begriffs „Billigkeit“ soll offenbar einerseits den Mitgliedstaaten ein gewisser Spielraum gewährt werden, der sich aber wiederum innerhalb eines unionsautonom festgelegten Rahmens bewegen muss878: „Obwohl mit Art. 17 ein Mindestschutzniveau für Handelsvertreter festgelegt werden soll, sieht die Richtlinie also offenbar vor, dass der Umfang dieses Schutzes von Staat zu Staat variieren kann, je nachdem, wie die einzelnen Mitgliedstaaten den Begriff der Billigkeit in diesem Zusammenhang auslegen. Nichstdestoweniger kann dieser Gestaltungsspielraum nicht unbegrenzt sein, weil dies den grundlegenden Zielen der Richtlinie zuwiderliefe, nämlich der Harmonisierung der Praktiken der Mitgliedstaaten in Bezug auf Handelsvertreter und der Festlegung eines Mindestschutzniveaus für diese.“
In der Rs. Honyvem879 hat der Gerichtshof auf die Frage, wie bei der Berechnung des Ausgleichsanspruchs des Handelsvertreters genau vorzugehen sei, diese Rechtsprechung bestätigt. Die Mitgliedstaaten hätten insoweit mangels detaillierter Angaben zur Berechnungsmethode in der Richtlinie selbst einen Gestaltungsspielraum,880 den sie „insbesondere nach Maßgabe des Kriteriums würden. Der BGH hält die Bestimmungen der Handelsvertreterrichtlinie in Verbindung mit dem o. g. Urteil des EuGH insoweit für acte clair. 876 Rn. 21 des Urteils in der Rs. C-381/98 Ingmar. 877 Dazu Riehm, in: Jahrbuch Junger Zivilrechtswissenschaftler 2009 – Europäische Methodik: Konvergenz und Diskrepanz europäischen und nationalen Privatrechts, S. 159, 175 f., 184. 878 Schlussanträge des Generalanwalts Miguel Poiares Maduro vom 19.11.2008 in der Rs. C-348/07 Turgay Semen ./. Deutsche Tamoil GmbH, Slg. 2009 I-02341, Rn. 16. 879 EuGH, 23.3.2006, Rs. C-465/04 Honyvem Informazioni Commerciali Srl ./. Mariella De Zotti, Slg. 2006 I-02879. 880 Randolph / Davey, The European law of commercial agency, S. 55 f. legen diese Aussage des Gerichtshof so aus, dass er den Mitgliedstaaten im Zusammenhang mit den in Art. 3 und 4 der Handelsvertreterrichtlinie enthaltenen Pflichten der Parteien insgesamt
H. Verhältnismäßigkeit, Gerechtigkeit und Fairness
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der Billigkeit nutzen könnten“.881 Generalanwalt Poiares Maduro hatte in seinen Schlussanträgen in dieser Sache die Billigkeit in Art. 17 Abs. 2 sogar als ein „eine untergeordnete Rolle“ spielendes „Sicherheitsventil“ bezeichnet, das aufgrund des „kasuistische[n] Charakter[s] jeder Billigkeitsentscheidung“ der Auslegung durch den Gerichtshof nicht zugänglich sei.882 In der Rs. Tamoil 883 hat der Gerichtshof diesen Rahmen bzw. den Begriff der Billigkeit dahingehend weiter konkretisiert, dass er nicht so verstanden werden darf, dass er ausschließlich zu einer Anpassung des Ausgleichsanspruchs des Handelsvertreters nach unten führen kann (Rn. 23). Der Gerichtshof verweist außerdem, wie schon in Honyvem, für die weitere Auslegung des Begriffs auf einen Bericht der Kommission zur Anwendung von Art. 17 der Handelsvertreterrichtlinie.884 Dort wird eine Vielzahl von Kriterien genannt, nach denen die Billigkeit im Einzelfall zu beurteilen sein soll. Unter diesen Kriterien findet sich u. a. auch ein Verschulden des Handelsvertreters. Man kann daher auch hier eine Verbindung zum Rechtsinstitut der Verwirkung sehen.885 Eine etwaige Deckelung durch hypothetische Provisionsverluste, wie sie etwa im deutschen Recht886 vorgesehen war, findet sich im Wortlaut von Art. 17 Abs. 2 Handelsvertreter-RL nicht unmittelbar wieder. Allerdings sind die dem Vertreter entgehenden Provisionen ja im Rahmen der Billigkeitsprüfung zu berücksichtigen. Eine absolute Begrenzung dergestalt, dass die Provisionsverluste den Ausgleichsanspruch definitiv nach oben hin deckeln, ist dagegen nicht zulässig. Das deutsche Recht, dass sich vor einer Neufassung so lesen lassen musste, dass Unternehmervorteile, Provisionsverluste und Bileinen großen Beurteilungsspielraum zugestanden habe, der auch für den Grundsatz von Treu und Glauben gelte, und führen hierauf die Zurückhaltung nationaler Gerichte in Bezug auf entsprechende Vorlageverfahren zurück. Dies erklärt aber jedenfalls nicht die entsprechende Zurückhaltung in den ersten 20 Jahren der Handelsvertreterrichtlinie. 881 Rn. 36 des Urteils in der Rs. C-465/04 Honyvem. 882 Schlussanträge des Generalanwalts Miguel Poiares Maduro, 25.10.2005, Rn. 47. 883 EuGH, 26.3.2009, Rs. C-348/07 Turgay Semen ./. Deutsche Tamoil GmbH, Slg. 2009 I-02341. 884 Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Bericht über die Anwendung von Artikel 17 der Richtlinie des Rates zur Koordinierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten betreffend die selbständigen Handelsvertreter (86/653/EWG), Brüssel 23.7.1996, KOM (96) 364 endg.; siehe insbesondere S. 5 des Berichts. 885 Vgl. Guski, GPR 2009, 286, 290 ff. Siehe auch oben S. 279 ff. 886 § 89 b Abs. 1 S. 1 Nr. 2 a. F. HGB; Hopt, HGB, § 89b Rn. 32 (4. A. 2009) war hierzu bereits der Auffassung, die Vorschrift sei richtlinienkonform dahingehend auszulegen, dass die Gewährung des Ausgleichs in der Regel nicht der Billigkeit entspreche, wenn keine Provisionsverluste entstanden seien. Fock, Die europäische Handelsvertreter-Richtlinie, S. 236 f., hielt die Provisionsverluste im Ergebnis für deckungsgleich mit den Unternehmervorteilen, so dass sie keine eigenständige Bedeutung hätten und die deutsche Umsetzungsbestimmung damit richtlinienkonform sei.
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ligkeit kumulativ vorliegen mussten und nur der „kleinste gemeinsame Nenner“ aus diesen drei Kriterien den möglichen Höchstbetrag des Ausgleichsanspruchs bestimmen durfte, war richtlinienwidrig.887 Die Frage, ob die Deckelung des Ausgleichsanspruchs durch die dem Handelsvertreter entgehenden Provisionen zulässig ist, war Gegenstand des Vorabentscheidungsverfahrens in der Rs. Tamoil. Der Kläger, ein Tankstellenpächter, machte im Streit um die Höhe des ihm zustehenden Ausgleichs nämlich geltend, die beim Unternehmer verbliebenen Vorteile seien höher und sein Anspruch habe sich nach diesen zu berechnen. In Deutschland wurde in der Folge des Urteils Tamoil § 89b Abs. 1 HGB neu gefasst. Während Nr. 1 (Unternehmervorteile) gleich blieb, wurde das Erfordernis der entgangenen Provision in Nr. 2 gestrichen und zusammen mit der vorherigen Nr. 3 als neue Nr. 2 wörtlich dem zweiten Spiegelstrich von Art. 17 Abs. 2 lit. a) der Handelsvertreter-RL angepasst. Damit sind die Provisionsverluste nun wieder ausschließlich im Rahmen der Beurteilung der Billigkeit zu berücksichtigen. Dennoch erscheint die Bemessung des Ausgleichsanspruchs anhand der hypothetischen Provisionsverluste grundsätzlich naheliegend – stellen sie doch dasjenige dar, was der Handelsvertreter durch die Beendigung des Vertrages verliert, obwohl er zumindest einen Teil dieses Anspruchs durch die selbständige Schaffung oder Erweiterung von Geschäftsverbindungen gewissermaßen schon erworben hatte. Hier zeigt sich aber auch: Die genaue Bemessung muss weitaus differenzierter sein: Sie muss berücksichtigen, dass der Handelsvertreter sich bis dahin nur eine Chance erarbeitet hatte – auch wenn im Nachhinein festgestellt werden kann, welche Geschäftsverbindungen das Unternehmen nun vorteilhaft weiternutzen konnte, so steht damit nicht fest, ob der konkrete Handelsvertreter dies ebenfalls getan hätte. Zweitens muss man sich fragen, über welchen Zeitraum die Billigkeit die Gewährung des Ausgleichsanspruchs gebietet. Und schließlich ist auch zu berücksichtigen, dass der Handelsvertreter nun nicht mehr tätig werden muss, er spart also Arbeitszeit und Kosten, die man ihm ebenfalls bei der Berechnung des konkreten Ausgleichsanspruchs wird in Abzug bringen müssen.888 Die Vertreterverluste dürften daher in der Tat in die Billigkeitsprüfung einzubeziehen sein;889 die grundsätzliche Zulässigkeit einer Orientierung auch des Gesamtausgleichsbetrags hieran zeigt sich auch in Art. 17 Abs. 2 lit. b), der diesen auf den durchschnittlichen Vergütungsbetrag der letzten 5 Jahre deckelt. Grundmann sieht die Norm als reine Kompensationsregel in Gestalt einer „Verlängerung des Provisionsanspruchs“ und schließt daraus, dass die ZahEuGH, 26.3.2009, Rs. C-348/07 Turgay Semen ./. Deutsche Tamoil GmbH, Slg. 2009 I-02341, Rn. 9. 888 Zum Verbot der ungerechtfertigten Bereicherung siehe auch die Ausführungen zur Rs. C-489/07 Messner, oben S. 264 ff. 889 Fock, Die europäische Handelsvertreter-Richtlinie, S. 234. 887
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lung des Ausgleichsanspruchs nur dann nicht der Billigkeit entspricht, wenn der Handelsvertreter in sonstiger Weise eine Kompensation erhalten hat.890 Der Begriff der Billigkeit weist mit Treu und Glauben insoweit gewisse Parallelen auf, als es sich in beiden Fällen um sehr auslegungsbedürftige Begriffe handelt, die zudem für eine Aufladung auch mit solchen Wertungen offen erscheinen, die nicht rein rechtlicher Natur sind. Dennoch sind Billigkeit und Treu und Glauben voneinander zu trennen, da die Billigkeit mehr die Einzelfallgerechtigkeit zum Ziel hat und damit auf ihrer Basis getroffene Entscheidungen nur eingeschränkt rechtlich überprüfbar sind. Der Billigkeit fehlt es damit am objektiven Charakter von Treu und Glauben, der die „Verrechtlichung“ bzw. Ableitbarkeit von Grundsätzen geringeren Abstraktionsgrades möglich macht.891 II. Urheberrechtsrichtlinie Die Urheberrechtsrichtlinie892 verwendet die Begriffe des gerechten Ausgleichs893 und der angemessenen Vergütung für Rechtsinhaber (Erwägungsgründe 35–38; Art. 5 Abs. 2 lit. a), b) und e)). Es handelt sich hierbei um Ansprüche, die das europäische Recht zugunsten des Rechteinhabers zwingend oder fakultativ für bestimmte Fälle anordnet, in denen der vom Rechteinhaber gehaltene Schutzgegenstand ohne sein Einverständnis zulässigerweise vervielfältigt wird, etwa durch Fotokopien. Die Richtlinie hat insgesamt das Ziel, einen „angemessenen Rechts- und Interessenausgleich“ zwischen „Rechtsinhabern und Nutzern von Schutzgegenständen“ sicherzustellen (31. Erwägungsgrund). Der Begriff des gerechten Ausgleichs war dem Urheberrecht vorher fremd.894 Der Europäische Gerichtshof hat in der Rs. Padawan895 entschieden, dass „gerechter Ausgleich“ ein autonomer Begriff des Unionsrechts ist. In dem zugrundeliegenden Fall ging es um spanische Regeln zu einer Abgabe für Tonträger und vergleichbare Datenträger, die Padawan als Verkäufer digitaGrundmann, Europäisches Schuldvertragsrecht, S. 569 f. Vgl. von Hoyningen-Huene, in: MüKo-HGB 3. A. 2010 § 89b Rn. 88: „Ein System von Billigkeitsgrundsätzen existiert deshalb nicht.“ Sehr kritisch im Hinblick auf eine Konkretisierung des Begriffs der Billigkeit durch den EuGH Canaris, EuZW 1994, 417. 892 Richtlinie 2001/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2001 zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte in der Informationsgesellschaft, ABl. 2001 L 167/10. 893 In der englischen (fair compensation) und der französischen Fassung (compensation équitable) tritt die begriffliche Nähe in Form eines Gegenbegriffs zur Missbräuchlichkeit und damit zu Treu und Glauben deutlicher hervor. 894 Reinbothe, in: Riesenhuber, Die „Angemessenheit“ im Urheberrecht – Prozedurale und materielle Wege zu ihrer Bestimmung, S. 141. 895 EuGH, 21.10.2010, Rs. C-467/08 Padawan SL ./. Sociedad General de Autores y Editores de España (SGAE), Slg. 2010 I-10055. 890 891
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Kapitel 2 – Bestandsaufnahme und Analyse
ler Datenträger an eine Verwertungsgesellschaft zahlen sollte. Der spanische Gesetzgeber hatte insoweit Gebrauch von Art. 5 Abs. 2 lit. b) der Urheberrechtsrichtlinie gemacht und einen gerechten Ausgleich in Gestalt einer pauschalen „Leerkassettenvergütung“ angeordnet. Das vorlegende Gericht wollte nun u. a. wissen, ob mit dem Begriff des „gerechten Ausgleichs“ überhaupt eine Harmonisierung beabsichtigt sei und ob es dann mit diesem Begriff vereinbar sei, wenn eine solche Abgabe für bestimmte Datenträger unabhängig davon verlangt werde, ob diese bspw. an Unternehmen oder Freiberufler verkauft werden, die diese nicht zum Zweck der Fertigung von Privatkopien einsetzen, sondern etwa zur Datensicherung oder anderen Zwecken. Dabei ließ das spanische Gericht durchaus anklingen, dass es Zweifel daran hegte, ob die unterschiedslose spanische Regelung, die nicht an den mutmaßlichen Gebrauch des Datenträgers durch den Erwerber anknüpft, als gerecht angesehen werden könne. Der Gerichtshof bejaht erwartungsgemäß die erste Vorlagefrage und weist zur Auslegung des Begriffs „gerechter Ausgleich“ darauf hin, dass dieser nach den Erwägungsgründen 35 und 38 im Sinne einer „angemessenen Vergütung“ zu verstehen sei, wobei der dem Urheber entstehende Schaden als „brauchbares Kriterium“ bezeichnet werde. Daraus ergebe sich, dass „der gerechte Ausgleich zwingend auf der Grundlage des Kriteriums des Schadens berechnet werden [muss]“.896 Vor diesem Hintergrund hält der Gerichtshof die typisierende Betrachtungsweise des nationalen Gesetzgebers, der diesen Ausgleich nicht an die tatsächliche Fertigung von Privatkopien, sondern an den Vertrieb der hierfür verwendeten Geräte und Medien koppelt, für zulässig. Zum einen sei nämlich der Vertrieb dieser Medien und Gerätschaften notwendige Voraussetzung für die Erstellung von Privatkopien, und zum anderen sei davon auszugehen, dass die Abgabe über den Preis an die Endkunden weitergegeben werde.897 Die Frage, ob auch die unterschiedslose Anwendung der Abgabe im Fall des Vertriebs an solche Kunden, die die betroffenen Geräte und Medien voraussichtlich nicht für Privatkopien nutzen, zulässig ist, beantwortet der EuGH wie folgt: Bei einem Vertrieb an natürliche Personen zur privaten Nutzung sei eine pauschale Abgabe zulässig, weil es eine „rechtmäßige Vermutung“ gebe, dass diese die Produkte zur Anfertigung von Privatkopien nutzten. Dies wird damit begründet, dass der 35. Erwägungsgrund der Richtlinie nicht an einen Schaden, sondern an einen „etwaigen Schaden“ anknüpft. Dagegen sei – und dies wird bedauerlicherweise nur sehr kurz erörtert bzw. 896 Rn. 43 des Urteils in der Rs. C-467/08 Padawan; kritisch Reinbothe, in: Riesenhuber, Die „Angemessenheit“ im Urheberrecht – Prozedurale und materielle Wege zu ihrer Bestimmung, S. 141, 154 f. der darauf hinweist, dass die Richtlinie in den unterschiedlichen Sprachfassungen von Erwägungsgrund 35 ausdrücklich von einem etwaigen Schaden spricht und diesen (in der englischen und französischen Fassung) auch nur als ein brauchbares Kriterium zur Bemessung des gerechten Ausgleichs bezeichnet. 897 Rn. 48 des Urteils in der Rs. C-467/08 Padawan.
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schlicht festgestellt – die unterschiedslose Anwendung der Abgabe auch auf nicht private Nutzer, die die Produkte eindeutig nicht zur Herstellung von Privatkopien verwendeten, richtlinienwidrig.898 Als Schlussfolgerungen für die hier durchgeführte Untersuchung ergibt sich Folgendes: Die Begriffe „angemessen“ und „gerecht“ werden praktisch als Synonyme verwendet. In beiden Fällen findet keine ausführliche Erläuterung des Inhalts dieser Begriffe statt und insbesondere werden auch keine Querverbindungen zur Anwendung dieser Begriffe in anderen Bereichen hergestellt. Festzuhalten ist jedoch, dass „gerechter Ausgleich“ hier bedeutet, dass dieser in der Höhe einem – wenn auch hypothetischen und stark pauschalierten – Schaden des Urhebers entsprechen soll. Etwas vereinfachend könnte man dies auf die Formel bringen, dass ein gerechter und angemessener Ausgleich grundsätzlich eine Totalrestitution gebietet. Der Ausgleich beinhaltet also umgekehrt ersichtlich keine Strafschadensersatzkomponente, er bleibt aber auch nicht hinter dem entstehenden Schaden zurück, was angesichts der Geringfügigkeit des einzelnen Eingriffs nicht von vornherein ausgeschlossen gewesen wäre. In der Rs. Thuiskopie899 hat der Gerichtshof bekräftigt, dass „[…] die Konzeption und die Höhe des gerechten Ausgleichs mit dem Schaden im Zusammenhang stehen, der sich für den Urheber aus der Vervielfältigung seines geschützten Werks ergibt, wenn sie ohne seine Genehmigung für den privaten Gebrauch erfolgt. Unter diesem Blickwinkel ist der gerechte Ausgleich als eine Gegenleistung für den dem Urheber entstandenen Schaden zu sehen.“
Mittlerweile hat der EuGH diese Auslegung in weiteren Entscheidungen bestätigt, so dass man insoweit von einer ständigen Praxis wird ausgehen dürfen.900 III. Richtlinie zum Vermiet- und Verleihrecht Die Richtlinie 2006/115/EG901 regelt die Vermietung und Verleihung urheberrechtlich geschützter Werke im Binnenmarkt. Sie enthält an zwei Stellen den Begriff der „angemessenen Vergütung“, der der objektiven Bestimmung bedarf, wenn für bestimmte Nutzungsarten gesetzliche Lizenzen bestehen und Rn. 57 und 59 des Urteils in der Rs. C-467/08 Padawan. EuGH, 16.6.2011, Rs. C-462/09, Stichting de Thuiskopie ./. Opus Supplies Deutschland GmbH u. a., Slg. 2011 I-05331. 900 Siehe etwa EuGH, 27.6.2013, verb. Rs. C-457/11 bis C-460/11, Verwertungsgesellschaft Wort (VG Wort) ./. Kyocera sowie Epson Deutschland GmbH u. a. ./. VG Wort, ECLI:EU:C:2013:426, Rn. 75 ff. sowie EuGH, 10.4.2014, C-435/12 ACI Adam BV u. a. ./. Stichting de Thuiskopie u. a., Rn. 50 ff. 901 Richtlinie 2006/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 zum Vermietrecht und Verleihrecht sowie zu bestimmten dem Urheberrecht verwandten Schutzrechten im Bereich des geistigen Eigentums, ABl. 2006 L 376/28. 898 899
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Kapitel 2 – Bestandsaufnahme und Analyse
sich somit am Markt kein Preis bildet.902 Die Richtlinie hat das Ziel, den Urhebern ein angemessenes Einkommen zu sichern, sie vor Piraterie zu schützen und so auch die kulturelle Entwicklung in der Europäischen Union insgesamt zu fördern. Sie sieht daher in ihrem Art. 5 die Gewährung einer angemessenen Vergütung für die Vermietung vor, wobei die Wahrnehmung dieses Anspruchs auf Verwertungsgesellschaften übertragen werden kann. Auch bei Rundfunkübertragungen oder öffentlicher Wiedergabe ist die Zahlung einer solchen angemessenen Vergütung vorgesehen, Art. 8 Abs. 2. Dort ist zudem festgelegt, dass „die Bedingungen, nach denen die Vergütung […] aufzuteilen ist, von den Mitgliedstaaten festgelegt werden“ können, wenn darüber zwischen Künstlern und Tonträgerherstellern kein Einvernehmen besteht. Für die Zwecke dieser Untersuchung ist hier nur von Interesse, dass das Unionsrecht abermals den Begriff der Angemessenheit als entscheidendes Kriterium in einer Regelung verwendet. Dieser weist zum Einen eine große inhaltliche Nähe zu Treu und Glauben auf und führt außerdem zu ähnlichen Konkretisierungsproblemen wie etwa im Bereich der Klauselkontrolle. Der Europäische Gerichtshof hatte im Urteil SENA903 über den Begriff der angemessenen Vergütung im Sinne der Richtlinie zum Vermiet- und Verleihrecht zu entscheiden. Die niederländische Verwertungsgesellschaft konnte hier mit einer Rundfunkanstalt keine Einigkeit hinsichtlich der Höhe der angemessenen Vergütung herstellen. Der EuGH bejaht zwar die Frage, ob der Begriff der angemessenen Vergütung unionsautonom auszulegen ist.904 Er führt dann aber aus: „34. In Ermangelung einer Gemeinschaftsdefinition der angemessenen Vergütung gibt es keine objektive Rechtfertigung dafür, dass der Gerichtshof die Festsetzung einer einheitlichen angemessenen Vergütung im Einzelnen regeln sollte, womit er sich zwangsläufig an die Stelle der Mitgliedstaaten setzen würde, denen die Richtlinie 92/100 kein bestimmtes Kriterium vorgibt […]. Daher ist es allein Sache der Mitgliedstaaten, in ihrem Hoheitsgebiet die sachnahen Kriterien festzulegen, um innerhalb der vom Gemeinschaftsrecht, insbesondere der Richtlinie 92/100 gezogenen Grenzen die Beachtung dieses Gemeinschaftsbegriffs zu gewährleisten. […]
Heinemann, JZ 2003, 678. EuGH, 6.2.2003, Rs. C-245/00, Stichting ter Exploitatie van Naburige Rechten (SENA) ./. Nederlandse Omroep Stichting (NOS), Slg. 2003 I-01251. Das Urteil erging zur Vorgängerrichtlinie (Richtlinie 92/100/EWG des Rates vom 19. November 1992 zum Vermietrecht und Verleihrecht sowie zu bestimmten dem Urheberrecht verwandten Schutzrechten im Bereich des geistigen Eigentums, ABl. 1992 L 346/61), zu der die Richtlinie 2006/115/EG hinsichtlich der angemessenen Vergütung aber keine wesentlichen Änderungen enthält. 904 Rn. 23 f. des Urteils in der Rs. C-245/00 SENA. 902 903
H. Verhältnismäßigkeit, Gerechtigkeit und Fairness
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36. Die Rolle des Gerichtshofes im Rahmen eines ihm vorgelegten Rechtsstreits muss sich daher darauf beschränken, die Mitgliedstaaten aufzufordern, anhand der Ziele der Richtlinie 92/100, wie sie insbesondere in den Begründungserwägungen dargelegt werden, innerhalb der Gemeinschaft den Begriff der angemessenen Vergütung möglichst einheitlich zu beachten. Dieser Begriff muss es erlauben, zwischen dem Interesse der ausübenden Künstler und der Hersteller von Tonträgern, eine Vergütung für die Sendung eines bestimmten Tonträgers zu erhalten, und dem Interesse Dritter, diese Tonträger unter angemessenen Bedingungen senden zu können, ein angemessenes Gleichgewicht herzustellen.“
Damit verliert sich der Gerichtshof in Allgemeinplätze und überlässt die Auslegung der Richtlinie in der Sache den mitgliedstaatlichen Gerichten.905 Deren Koordination bei der „möglichst einheitlichen Beachtung“ des Begriffs der angemessenen Vergütung wäre ja gerade seine Aufgabe gewesen. Die Formulierung erinnert an die Rs. Freiburger Kommunalbauten, wo der Gerichtshof seine Aufgabe auf die „Auslegung der allgemeinen Kriterien“ beschränkt und damit lange Zeit de facto die Auslegung der Generalklausel der RL 93/13 vollständig verweigert hatte.906 In der Rs. SENA geht der Gerichtshof hierüber noch hinaus, wenn er nun sogar ausdrücklich darauf hinweist, dass er „[…] nicht dafür zuständig [ist], selbst die Kriterien einer angemessenen Vergütung festzulegen oder im Voraus allgemeine Grenzen der Festlegung derartiger Kriterien zu ziehen. Er kann es dem vorlegenden Gericht nur ermöglichen, selbst zu beurteilen, ob die nationalen Kriterien, nach denen die Vergütung der ausübenden Künstler und der Hersteller von Tonträgern festgelegt werden, unter Beachtung des Gemeinschaftsrechts eine angemessene Vergütung zu gewährleisten geeignet sind.“
Auch wenn der Gerichtshof anschließend die niederländische Lösung pauschal gutheißt,907 so fügt sich diese Rechtsprechung doch sehr gut in die Freiburger Kommunalbauten-Rechtsprechung ein.908 Man wird sie aber angesichts der neueren Entwicklungen im Bereich der Klauselrichtlinie einerseits909 und der jüngeren Rechtsprechung zum Begriff des gerechten Ausgleichs im Sinne der Urheberrechtsrichtlinie andererseits910 als überholt ansehen dürfen. 905 Heinemann, JZ 2003, 678, 679 hält die Differenzierung zwischen der Auslegung des Begriffs der angemessenen Vergütung und den Kriterien zu seiner Ausfüllung für „methodisch nicht haltbar“; die vom EuGH vorgenommene Delegation an die Mitgliedstaaten habe „unabsehbare Einbrüche in die Einheitlichkeit der Geltung [des Gemeinschaftsrechts] zur Folge“ und sei nicht verallgemeinerbar. 906 Siehe oben S. 114 ff. 907 Rn. 41 ff. des Urteils in der Rs. C-245/00 SENA. 908 Heinemann, JZ 2003, 678, 680 vermutet, dem Gerichtshof sei es in Wahrheit darum gegangen, „sich nicht in die Niederungen der Berechnung leistungsschutzrechtlicher Vergütungsansprüche hinabziehen zu lassen.“ 909 Dazu oben S. 124 ff. 910 Dazu oben S. 295 ff.
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Kapitel 2 – Bestandsaufnahme und Analyse
IV. Datenschutzrichtlinie Nach Art. 6 Abs. 1 lit. a) der Datenschutzrichtlinie911 sehen die Mitgliedstaaten vor, dass „personenbezogene Daten nach Treu und Glauben und auf rechtmäßige Weise verarbeitet werden“. Aus Erwägungsgrund 28 ergibt sich, dass die Verpflichtung zur Verarbeitung nach Treu und Glauben gegenüber „den betroffenen Personen“, deren persönliche Daten Gegenstand der Verarbeitung sind, geschuldet ist. Die Verpflichtung ist Art. 5 lit. a des Übereinkommens Nr. 108 des Europarats912 nachgebildet.913 Treu und Glauben soll in diesem Kontext vor allem bedeuten, dass Daten nicht heimlich erhoben oder verarbeitet werden dürfen, so dass die Vorschrift insbesondere ein Abhören oder ähnliche Maßnahmen durch Private verhindern soll.914 Außerdem soll Treu und Glauben insgesamt für eine rechtmäßige Datenerhebung stehen und stellt damit gewissermaßen einen Auffangtatbestand im Hinblick auf die konkreteren Vorgaben von Art. 6 Abs. 1 lit. b)–e) dar.915 Diese können daher umgekehrt als Exemplifizierungen von Treu und Glauben im Bereich der Datenverarbeitung angesehen werden. Hierzu gehört insbesondere das Vorhandensein eines konkreten und rechtmäßigen Zwecks für die Datenverarbeitung, für den die Maßnahme erheblich sein muss und über den sie nicht hinausgehen darf.916 Hier wird also einmal mehr deutlich, dass das Unionsrecht den Grundsatz von Treu und Glauben auch zwischen Privaten u. a. über den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz definiert. Als Ausdruck von Treu und Glauben werden zudem die in Art. 10 und 11 der Datenschutzrichtlinie enthaltenen Verpflichtungen gesehen, die von der Erhebung personenbezogener Daten betroffene Person u. a. über die Identität des Verantwortlichen und den Zweck der Datenverarbeitung zu informieren.917 Unter anderem ist über Auskunfts- und Berichtigungsrechte gemäß Art. 10 bzw. 11 lit. c) 3. Spiegelstrich zu informieren,
911 Richtlinie 95/46/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. Oktober 1995 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr, ABl. 1995 L 281/31. 912 Übereinkommen zum Schutz des Menschen bei der automatischen Verarbeitung personenbezogener Daten, Strasbourg, 28.1.1981. 913 Brühann, in: Grabitz / Hilf, Das Recht der Europäischen Union, A 30. Richtlinie 95/46/EG zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr, Vorbemerkung Art. 6 Rn. 62 sowie Art. 6 Rn. 31 ff. 914 Brühann, in: Grabitz / Hilf, Das Recht der Europäischen Union, A 30. Richtlinie 95/46/EG zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr, Art. 6 Rn. 8. 915 Dammann / Simitis, EG-Datenschutzrichtlinie – Kommentar, Artikel 6 Rn. 3. 916 Vgl. Art. 6 lit. b), c) und e) sowie Erwägungsgrund 28. 917 Siehe Erwägungsgrund 38; so auch Ehmann / Helfrich, EG-Datenschutzrichtlinie – Kurzkommentar, Vorbemerkung zu Art. 10, Rn. 6.
H. Verhältnismäßigkeit, Gerechtigkeit und Fairness
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„sofern sie unter Berücksichtigung der spezifischen Umstände, unter denen die Daten erhoben werden, notwendig sind, um gegenüber der betroffenen Person eine Verarbeitung nach Treu und Glauben zu gewährleisten.“
Hier steht also ersichtlich die Transparenz als Komponente von Treu und Glauben im Vordergrund, die es dem von der Verarbeitung seiner persönlichen Daten Betroffenen ggf. überhaupt erst ermöglichen soll, weitergehende Rechte geltend zu machen. Treu und Glauben steht hier also für Rechtmäßigkeit, Verhältnismäßigkeit und Transparenz sowie effektiven Rechtschutz. Darüber hinaus lässt sich der Datenschutzrichtlinie für die Zwecke dieser Untersuchung nichts entnehmen, und es ist auch keine Rechtsprechung des Gerichtshofs bekannt, die diese Begriffe innerhalb der Datenschutzrichtlinie weiter konkretisieren würde. Zwar wird der Grundsatz der Datenverarbeitung nach Treu und Glauben in einer sehr großen Zahl von Verfahren vor dem EuGH zitiert, spielt dabei aber in aller Regel in der Sache keine entscheidende Rolle. V. Richtlinie über alternative Streitbeilegung in Verbraucherangelegenheiten Die Richtlinie über alternative Streitbeilegung in Verbraucherangelegenheiten918 legt großen Wert darauf, dass Verfahren der alternativen Streitbeilegung (AS) fair verlaufen. Bereits Art. 1 erwähnt einleitend, dass Verbrauchern „unabhängige, unparteiische, transparente, effektive, schnelle und faire AS-Verfahren“ angeboten werden sollten. Art. 2 Abs. 3 geht genauer auf die Qualitätsanforderungen an AS-Verfahren ein und betont, Verbraucher müssten Zugang zu „hochwertigen, transparenten, effektiven und fairen außergerichtlichen Rechtsbehelfsverfahren“ haben. Dabei bezieht sich dieser Begriff der Fairness offenbar sowohl auf den Ablauf des Verfahrens als solches – „in fairer, praktischer und verhältnismäßiger Art und Weise“ (Erwägungsgrund 31) – wobei Transparenz eine besondere Rolle spielt – „AS-Verfahren sollten fair sein, sodass die Parteien einer Streitigkeit in vollem Umfang über ihre Rechte und die Folgen von Entscheidungen, die sie im Rahmen eines ASVerfahrens treffen, informiert sind.“ (Erwägungsgrund 42) – als auch auf das materielle Resultat („ein faires und unabhängiges Ergebnis“, Erwägungsgrund 32). Art. 9 führt dann unter der Überschrift „Fairness“ im Einzelnen aus, welche Teilaspekte dieses Grundsatzes die Mitgliedstaaten konkret umzusetzen haben. Hierzu gehören insbesondere prozedurale Aspekte, die dem
918 Richtlinie 2013/11/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. Mai 2013 über die alternative Beilegung verbraucherrechtlicher Streitigkeiten und zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 und der Richtlinie 2009/22/EG (Richtlinie über alternative Streitbeilegung in Verbraucherangelegenheiten), ABl. 2013 L 165/63.
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Kapitel 2 – Bestandsaufnahme und Analyse
Recht auf rechtliches Gehör919 nahekommen (Abs. 1) sowie die Information des Verbrauchers über die Unverbindlichkeit des Verfahrens und seines materiellen Ergebnisses vor Zustimmung (Abs. 2). Festzuhalten werden kann hier also vor allem, dass der Begriff der Fairness offenbar wie Treu und Glauben selbst eine prozessuale und eine materielle Komponente besitzt.
I. Bösgläubigkeit I. Bösgläubigkeit
I.
Gemeinschaftsmarkenverordnung und Markenrichtlinie
Gemäß Art. 7 Abs. 1 lit. f) Gemeinschaftsmarkenverordnung920 besteht ein absolutes Eintragungshindernis für Gemeinschaftsmarken u. a. dann, wenn Marken „gegen die öffentliche Ordnung oder gegen die guten Sitten verstoßen“ (englische Fassung: „accepted principles of morality“ französische Fassung: „bonnes moeurs“). Der Begriff ist vom Gericht erster Instanz ausgelegt worden.921 Außerdem gibt es Rechtsprechung des EuGH zu Art. 51 Abs. 1 lit. b) der Verordnung, wonach eine Gemeinschaftsmarke auf Antrag für nichtig erklärt wird, wenn der Anmelder bei der Anmeldung der Marke bösgläubig war. In Chocoladefabriken Lindt & Sprüngli 922 ging es darum, ob es bösgläubig im Sinne dieser Vorschrift ist, eine Marke (hier: Schokoladenosterhasen) anzumelden, wenn vorher über 30 Jahre lang zwei Wettbewerber solche Hasen produziert haben. Konkret war Lindt so vorgegangen, den bekannten „Lindt Goldhasen“ als dreidimensionale Marke eintragen zu lassen, um anschließend gegen die Firma Hauswirth vorzugehen, die seit 1962 einen ähnlichen Schokoladenhasen vertrieb. Der EuGH entschied, dass „[d]ie Absicht, einen Dritten an der Vermarktung einer Ware zu hindern, […] unter bestimmten Umständen für die Bösgläubigkeit des Antragstellers kennzeichnend sein [kann]“. Dies sei jedoch vor allem dann der Fall, wenn der Anmelder das zur Marke eingetragene Zeichen gar nicht nutzen, sondern nur den Markteintritt des Dritten verhin919 Vgl. Art. 6 Abs. 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention sowie Art. 47 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, ABl. 2010 C 83/389. 920 Verordnung (EG) Nr. 40/94 des Rates vom 20. Dezember 1993 über die Gemeinschaftsmarke, ABl. 1994 L 11/1. 921 EuG, 9.4.2003, Rs. T-224/01 Durferrit GmbH ./. Harmonisierungsamt für den Binnenmarkt, Slg. 2003 II-01589, dort Rn. 76 (Verstoß gegen die guten Sitten und Bösgläubigkeit bei Anmeldung sind unterschiedliche Tatbestände – ersterer bezieht sich auf die Marke selbst, letztere auf das Verhalten des Anmelders); EuG, 13.9.2005, Rs. T-140/02 Sportwetten GmbH Gera ./. Harmonisierungsamt für den Binnenmarkt, Slg. 2005 II-03247, dort Rn. 26–29. 922 EuGH, 11.6.2009, Rs. C-529/07 Chocoladefabriken Lindt & Sprüngli AG ./. Franz Hauswirth GmbH, Slg. 2009 I-04893.
I. Bösgläubigkeit
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dern wollte.923 Sei der Dritte seit Langem mit einem Zeichen im Markt, so könne die Eintragung dem Ziel dienen, dem Dritten gegenüber unlauteren Wettbewerb zu betreiben. Dies soll nach dem Gerichtshof jedoch nicht automatisch der Fall sein, sondern bedarf wohl einer Beurteilung der Einzelfallumstände, die insbesondere der Zeit, seit der sich der Dritte bereits mit dem ähnlichen Produkt im Markt befindet, Rechnung trägt. Ebenfalls soll die Art der angemeldeten Marke eine Rolle spielen – je eher diese die Mitbewerber nicht nur an der Verwendung gleicher oder ähnlicher Zeichen, sondern an der Vermarktung vergleichbarer Waren insgesamt hindere, desto eher sei auch eine Bösgläubigkeit des Antragstellers anzunehmen.924 Die Entscheidung gibt zur Auslegung des Begriffs der Bösgläubigkeit im Sinne des Markenrechts nicht allzu viel her.925 Klar wird nur, dass die Absicht des Antragsstellers, die Marke überhaupt nicht selbst zu nutzen, sondern ausschließlich Wettbewerber zu behindern, nicht zwingend erforderlich ist, d. h. dass die Schwelle der Bösgläubigkeit des Antragsstellers tiefer liegt als bei diesem doch recht offensichtlich unlauteren Verhalten.926 Andererseits reicht aber das Wissen des Antragstellers darum, dass ein ähnliches Zeichen von einem Dritten im Markt verwendet wird, als solches wohl nicht aus. Der Fall zeigt auch, dass die Trennung zwischen subjektivem und objektivem guten Glauben – in deutschen Kategorien zwischen Gutgläubigkeit und Treu und Glauben – nicht immer unproblematisch ist.927 Zwar scheint es hier auf den ersten Blick eher um einen subjektiven Maßstab zu gehen. Andererseits könnte man auch nicht nur an das Wissen zum Zeitpunkt der Eintragung, sondern an das dieses Wissen schaffende Vorverhalten – sprich die Duldung des Konkurrenten über 30 Jahre – anknüpfen. Dann wäre man wieder eher bei einem objektiven Treu und Glauben-Verstoß, etwa in der Ausprägung des venire contra factum proprium. In diesem Zusammenhang regelt Art. 9 der Markenrichtlinie928 unter der Überschrift „Verwirkung durch Duldung“,929 dass der Inhaber einer älteren Marke nicht die Ungültigerklärung einer jüngeren Marke verlangen kann, Rn. 43 ff. des Urteils in der Rs. C-529/07 Lindt & Sprüngli. Rn. 49 f. des Urteils in der Rs. C-529/07 Lindt & Sprüngli. 925 Kritisch auch Moscona, EIPR 2010, 48, 49. 926 Allerdings wird auch nicht klar, ob es bereits Bösgläubigkeit begründet, wenn der Antragssteller z. B. die eingetragene Marke nicht für alle beantragten Güter und Dienstleistungen nutzen will; vgl. Moscona, EIPR 2010, 48, 50. 927 Der Gerichtshof selbst ordnet die Bösgläubigkeit bei Eintragung als „subjektives Tatbestandsmerkmal, das anhand der objektiven Fallumstände bestimmt werden muss“ ein, siehe Rn. 42 des Urteils in der Rs. C-529/07 Lindt & Sprüngli. 928 Richtlinie 2008/95/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Oktober 2008 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Marken, ABl. 2008 L 299-25. 929 Engl. Fassung: „Limitation in consequence of acquiescence“; frz. Fassung „Forclusion par tolérance“. 923 924
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Kapitel 2 – Bestandsaufnahme und Analyse
wenn er deren Benutzung fünf Jahre seit ihrer Eintragung geduldet hat. Der Gesetzgeber verfolgt mit dieser Regelung das Ziel der Rechtssicherheit (12. Erwägungsgrund). Art. 12 kennt außerdem „Verfallsgründe“ für eine Marke, die dann gegeben sind, wenn diese ohne berechtige Gründe fünf Jahre lang nicht ernsthaft benutzt worden ist. Beide Fälle sind – unabhängig von ihrer Benennung – unionsrechtliche Verwirkungstatbestände und bestehen jeweils aus einem Zeit- und aus einem Umstandsmoment. II. Die „.eu“-Domain-Verordnung Dem Markenrecht nahestehend ist die spezielle Verordnung über die Registrierung von „.eu“-Domains.930 Diese regelt die Einführung sogenannter Top Level Domains (Internetadressen) mit der Endung „.eu“ in zwei zeitlich gestaffelten Phasen. Die Vergabe der Domains erfolgt dabei grundsätzlich nach dem „Windhundprinzip“, also in Reihenfolge des Antragseingangs (Art. 2 Abs. 2). In der ersten Phase konnten dabei nur Inhaber früherer Rechte eine Registrierung beantragen; erst in der zweiten Phase war die Registrierung dann für alle offen. Unter „früheren Rechten“ wurden dabei u. a. bereits registrierte nationale und Gemeinschaftsmarken verstanden, Art. 10 Abs. 1. Eine an der Internetadresse „reifen.eu“ interessierte Antragstellerin machte sich eine Regelung in Art. 11 der Verordnung zunutze, wonach Sonderzeichen bei der Übertragung früherer Rechte in den Domainnamen entfernt werden können, und registrierte beim schwedischen Markenamt (neben 32 weiteren Begriffen) die Wortmarke „&R&E&I&F&E&N&“ für die Waren „Sicherheitsgurte“.931 Damit registrierte sie sodann die Domain „reifen.eu“ in der ersten Phase. Die Verordnung 874/2004 enthält in Art. 21 ein ausführliches Verbot der „spekulativen und missbräuchlichen Registrierung“. Die Vorschrift erlaubt den Widerruf eines Domänennamens u. a. unter der Voraussetzung, dass er „in böser Absicht“932 registriert wurde. Wann Bösgläubigkeit in diesem Sinne vorliegt, wird in Abs. 3 der Vorschrift in fünf Beispielen ausgeführt. Hierzu gehört etwa der Fall, dass der Domänenname hauptsächlich deshalb erworben wurde, um ihn an einen berechtigten Namensinhaber zu verkaufen (lit. a) oder der Fall, dass verhindert werden soll, dass der legitime Namensinhaber den Domänennamen verwenden kann (lit. b). Die Regel in Art. 21 Abs. 3 ist für die vorliegende Untersuchung zudem deshalb interessant, weil sie einerseits klar auf die Absichten des Antragsstellers und damit 930 Verordnung (EG) Nr. 874/2004 der Kommission vom 28. April 2004 zur Festlegung von allgemeinen Regeln für die Durchführung und die Funktionen der Domäne oberster Stufe „.eu“ und der allgemeinen Grundregeln für die Registrierung, ABl. 2004 L 162/40. 931 EuGH, 3.10.2010, Rs. C-569/08 Internetportal und Marketing GmbH ./. Richard Schlicht, Slg. 2010 I-04871. „Reifen“ allein wäre als Gattungsbegriff markenrechtlich nicht eintragungsfähig gewesen. 932 Engl. Fassung: „in bad faith“; frz. Fassung: „de mauvaise foi“.
I. Bösgläubigkeit
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auf eine subjektive Bösgläubigkeit abstellt. Andererseits kann diese Bösgläubigkeit aber alternativ dem Domäneninhaber tatsächlich nachgewiesen werden (lit. a) oder sie wird bei zweijähriger Nichtnutzung der Domäne (offenbar unwiderleglich) vermutet. Der Gerichtshof hatte im reifen.eu-Fall nun u. a. zu entscheiden, ob die in Art. 21 Abs. 3 genannten Fälle der Bösgläubigkeit abschließend sind – was er mit Blick auf die anderen Sprachfassungen und den Zweck der Verordnung zurecht verneint933 – und wie der Begriff der Bösgläubigkeit sonst auszulegen ist.934 Der Gerichtshof orientiert sich hier zunächst an der in der Rs. Chocoladefabriken Lindt & Sprüngli935 entwickelten, nicht sonderlich hilfreichen Formel, wonach die Bösgläubigkeit „unter Berücksichtigung aller im Einzelfall erheblichen Faktoren umfassend zu beurteilen“ ist. Allerdings wird der EuGH dann im Hinblick auf den der Vorlage zugrundeliegenden Fall konkreter. So könne erstens die Anmeldung einer Marke, ohne die Absicht, sie als solche zu benutzen, sondern nur, um auf ihrer Grundlage eine „.eu“-Domäne in der ersten Phase eintragen zu lassen, ein bösgläubiges Verhalten auch im Hinblick auf die Domänenregistrierung bedeuten. Außerdem sei auch die Gestaltung der Marke selbst – hier „&R&E&I&F&E&N&“ – für die Beurteilung der Bösgläubigkeit relevant. Der Gerichtshof weist hier darauf hin, dass die Gestaltung „jedes semantischen Gehalts“ ermangle und „das Sonderzeichen nur eingefügt wurde, um den hinter der Marke verborgenen Gattungsbegriff zu kaschieren.“ Auch der Wiederholungscharakter – die 33 weiteren Eintragungen – und der zeitliche Ablauf – Markeneintragung erst kurz vor Beginn der ersten Phase für die Domainregistrierungen – gehörten zu den berücksichtigungsfähigen Umständen. Zusammenfassend stellt der Gerichtshof fest, dass ein Domänenname mit einer Gattungsbezeichnung wie „Reifen“ in der ersten Registrierungsphase nur „infolge des Kunstgriffs“ registriert werden konnte.936 Dieses Verhalten ziele „offenkundig“ auf eine Umgehung des gestaffelten Registrierungsverfahrens ab, was bei der Beurteilung bösgläubigen Verhaltens im Sinne von Art. 21 Abs. 1 lit. b) „zu berücksichtigen“ sei. Interessant ist hieran, dass der Gerichtshof das von der Verordnung selbst verwendete Kriterium der Bösgläubigkeit, das erkennbar an dasjenige des Markenrechts anknüpft, auf einen Fall anwendet, der eigentlich eine klassische Missbrauchskonstellation betrifft, die hier sogar an der Grenze zum Betrug liegen dürfte. Insofern hätte die Lösung über das allgemeine Verbot des Rechtsmissbrauchs vielleicht näher gelegen.
Rn. 31–39 des Urteils in der Rs. C-569/08 Schlicht. Ausführlich zu den Einzelheiten des Verfahrens, dem ein Schiedsverfahren vorgeschaltet war, etwa Anderl, ELR 2010, 250 ff. 935 Oben Kapitel 2 Fn. 922. 936 Rn. 68 des Urteils in der Rs. C-569/08 Schlicht. 933 934
Kapitel 3
Ergebnisse Kapitel 3 – Ergebnisse „Andererseits erlaubt aber die Verdichtung des Gemeinschaftsprivatrechts die Frage, ob nicht hinter den punktuellen Richtlinien Rechtsgrundsätze stehen, die sich für eine verbindende Sinngebung eignen und eine gewisse Verallgemeinerung gestatten.“1
Treu und Glauben ist ein Spiegelbild des Unionsrechts und seiner Entwicklung insgesamt. Ursprünglich nur als Lösung für bestimmte Einzelfragen verwendet, entstehen allmählich Querverbindungen und es beginnt die Herausbildung über den Einzelfall hinausgehender, wiederkehrender Argumentationsstrukturen. Die Untersuchung hat gezeigt, dass das Gebot von Treu und Glauben das Unionsprivatrecht flächendeckend durchdringt. Dabei ist es in der europäischen Gesetzgebung und Rechtsprechung sowohl als allgemeiner Grundsatz, als unbestimmter Rechtsbegriff wie auch als zugrundeliegendes Prinzip speziellerer Regeln nachgewiesen worden. Welche Facetten oder Fallgruppen dabei mit welchem konkreten Maßstab zur Anwendung auf welches Teilgebiet und welche konkrete Rechtsfrage des Unionsrechts kommen, lässt sich nicht im Vorhinein umfassend beantworten. Das liegt aber in der Natur eines solchen unbestimmten Grundsatzes und ist in den nationalen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten nicht anders.2 Die häufig vertretene Ansicht, es gebe „noch keinen allgemeinen Grundsatz von Treu und Glauben“ im Unionsprivatrecht3 suggeriert zu Unrecht, dass selbiger Grundsatz in den nationalen Rechtsordnungen eine Gestalt hätte, in der auch bei neuen Fallkonstellationen das Ergebnis seiner Anwendung von vornherein feststünde. Wenn zudem der Befund zu Treu und Glauben im Unionsprivatrecht Basedow, AcP 200 (2000), 445, 453. Wenn etwa Müller-Graff, in: Baldus / Müller-Graff, Die Generalklausel im Europäischen Privatrecht, S. 131 ff. vorträgt, der Grundsatz von Treu und Glauben habe im Unionsprivatrecht „noch kein[en] ähnliche[n] Verdichtungsgrad“ erreicht wie im nationalen Recht, so trifft dies zwar zu. Der Grund hierfür liegt aber nicht etwa in einer geringeren Bedeutung von Treu und Glauben im Unionsprivatrecht, sondern in einem geringeren „Verdichtungsgrad“ des Unionsprivatrechts insgesamt, insbesondere seiner allgemeinen zivilrechtlichen Regeln, im Verhältnis zu den nationalen Rechtsordnungen. 3 So etwa Schmidt, Martin, Konkretisierung von Generalklauseln im europäischen Privatrecht, S. 122: „Nach hier vertretener Ansicht gibt es auf der Ebene des europäischen Privatrechts noch keinen allgemeinen Grundsatz von Treu und Glauben. Die Bedeutung von Treu und Glauben in den einzelnen Richtlinien ist daher jeweils für den Einzelfall zu bestimmen.“ 1 2
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Kapitel 3 – Ergebnisse
dünner erscheint als etwa im deutschen Recht, so liegt dies ebenfalls nicht an einer etwaigen schwächeren Geltungsmacht des Grundsatzes, sondern an der noch jungen Geschichte des Unionsprivatrechts einerseits und am Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung andererseits. Ein unionsprivatrechtlicher Grundsatz von Treu und Glauben kann seine allgemeine Geltung nur innerhalb des Anwendungsbereichs dieses Rechtsgebiets entfalten. Sobald dieser sich verbreitert – etwa mit einem möglichen Inkrafttreten des CESL – wird sich auch Treu und Glauben entsprechend mit ausdehnen. Ein wichtiger Befund der Untersuchung de lege lata ist vielmehr, dass umgekehrt die Geltung des Grundsatzes von Treu und Glauben in keiner Konstellation durch den Europäischen Gerichtshof oder durch den Gesetzgeber grundsätzlich ausgeschlossen worden ist. Eine häufige Anwendung von Treu und Glauben als allgemeinem Grundsatz deutet immer auch auf Schwächen und Unzulänglichkeiten eines Rechtssystems hin.4 Solche Schwächen sind im Fall des Unionsprivatrechts zweifelsohne vorhanden und erklären sich insbesondere durch seinen fragmentarischen und von den verschiedenen Politikbereichen und Kompetenztiteln bestimmten Charakter sowie durch die Besonderheiten, die sich im Mehrebenensystem im Zusammenspiel mit den nationalen Rechtsordnungen ergeben. An den sich dabei zwangsläufig ergebenden Bruchstellen kann Treu und Glauben Abhilfe schaffen. Dabei spielt die konkrete Bezeichnung des jeweils angewandten Grundsatzes im Ausgangspunkt keine Rolle. Die Wahl eines gemeinsamen Oberbegriffes für die verschiedenen Fairnessgebote und Missbrauchsverbote erscheint aber wünschenswert, um die nach identischen oder ähnlichen Kriterien behandelten Fälle nach außen hin einheitlich zu kennzeichnen und die Aufarbeitung des Fallrechts durch Rechtsprechung und Rechtswissenschaft zu vereinfachen. Dabei scheinen sich die europäische Legislative und Judikative weitgehend auf den Begriff von Treu und Glauben festgelegt zu haben, der als denkbar weitester Oberbegriff zahlreiche andere Grundsätze und Fallgruppen in sich aufnehmen kann.
A. Die wissenschaftliche Debatte um Treu und Glauben im Europäischen Privatrecht A. Paralleldebatten im wissenschaftlichen Diskurs
Die vorliegende Untersuchung hat einen umfassenden, aber pragmatischen Ansatz verfolgt. Sie hatte zum Ziel, normative Aussagen über den Grundsatz Vgl. die insoweit berechtigte Kritik von Hesselink (oben S. 24 f.). Ebenfalls in diesem Sinne Zimmermann / Whittaker, in: dies., Good faith in European contract law, S. 677 f.: „[…] a legal system which is generally at ease with its own legal rules for the creation and regulation of contracts will have very much less of a need to have recourse to a general legal principle such as good faith […].“ 4
A. Paralleldebatten im wissenschaftlichen Diskurs
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von Treu und Glauben im Unionsprivatrecht zu treffen. Dieses Feld war bislang, jedenfalls als Ganzes, weitgehend unbeleuchtet. Die zu Treu und Glauben im Europäischen Privatrecht vorhandene, akademische Debatte ist nicht in aller Tiefe nachvollzogen worden, sondern nur insoweit dies dem eigentlichen Ziel der Untersuchung zuträglich war. Dennoch konnte festgestellt werden, dass die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Treu und Glauben im Europäischen Privatrecht sich in unterschiedliche Zweige aufteilt, die sich nur in Ausnahmefällen gegenseitig wahrnehmen. Es werden im Wesentlichen drei Paralleldebatten geführt. Die klassischrechtsvergleichende Diskussion zu Stellenwert und Funktion von Treu und Glauben in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen kommt zu dem Ergebnis, dass die Mitgliedstaaten diesen Grundsatz zwar sehr unterschiedlich verwenden, dabei aber typischerweise in vergleichbaren Fällen – wenn auch über unterschiedliche Rechtsinstitute, die aber ggf. als Funktionsäquivalente von Treu und Glauben angesehen werden können – weitgehend vergleichbare oder gar identische Ergebnisse erzielen.5 Zweitens wird, teils auf sehr abstrakter Ebene, eine Debatte zu der Frage geführt, inwieweit die Festschreibung bzw. Anwendung allgemeiner Grundsätze des Zivilrechts und insbesondere von Treu und Glauben im Europäischen Privatrecht überhaupt wünschenswert ist. Diese Diskussion hat ihren Dreh- und Angelpunkt teils in der einmaligen Benennung von Treu und Glauben als „Grundsatz des bürgerlichen Rechts“ durch den Europäischen Gerichtshof,6 teils in der recht ausgiebigen Verwendung von Treu und Glauben in den PECL, im DCFR und schließlich im CESL. Eine umfängliche Aufarbeitung des vorhandenen Unionsprivatrechts findet aber auch hier nicht statt. Letzteres wäre insbesondere von Untersuchungen zu erwarten, die – drittens – das Unionsprivatrecht als Ganzes bzw. seine allgemeinen Strukturen und Grundsätze in den Blick nehmen. Dort findet in der Tat eine spezifisch auf das Unionsprivatrecht fokussierte Befassung mit Treu und Glauben statt.7 Allerdings gehen diese Überlegungen selten in die Tiefe und konzentrieren sich mehr auf die Erfassung solcher Regeln, die leichter zu identifizieren und gegeneinander abzugrenzen sind als Treu und Glauben.
Exemplarisch hierfür Zimmermann / Whittaker, in: dies., Good faith in European contract law, S. 653 ff. 6 Siehe hierzu insbesondere die um die Rs. C-489/07 Messner geführte Debatte, dazu oben S. 264 ff. 7 Vgl. etwa die Ausführungen bei Riesenhuber, System und Prinzipien des Europäischen Vertragsrechts, S. 398 ff.; Grundmann, in: Grundmann / Mazeaud, General clauses and standards in European contract law, S. 141 ff.; Heiderhoff, Europäisches Privatrecht, S. 94 ff. (122 f.); Hartkamp, European Law and National Private Law, S. 114 f. 5
310
Kapitel 3 – Ergebnisse
B. Allgemeiner Grundsatz, zugrundeliegendes Prinzip oder unbestimmter Rechtsbegriff B. Allgemeiner Grundsatz, zugrundeliegendes Prinzip oder unbestimmter Rechtsbegriff
Es war festzustellen, dass Treu und Glauben im Unionsprivatrecht in verschiedenen Funktionsweisen vorkommt, die sich insbesondere in der Einbettung des Grundsatzes in das übrige Normgefüge ganz grundlegend unterscheiden. Treu und Glauben kommt zunächst als allgemeiner Grundsatz8 des Unionsprivatrechts in Gestalt einer Verhaltensnorm vor. Diese misst das Verhalten der Normadressaten an den Wertungen von Treu und Glauben und sieht bei Nichtbeachtung des Grundsatzes eigene Rechtsfolgen vor. Dabei kann sich die Geltungsanordnung von Treu und Glauben im Rechtsakt selbst befinden – so etwa im Fall der Handelsvertreterrichtlinie9 – oder sich davon unabhängig aus der Eigenschaft als allgemeiner Grundsatz ergeben, wie es etwa in der Rs. Messner10 der Fall war. Nach dieser Entscheidung ist eine Ausnahme vom Grundsatz der Wertersatzfreiheit der Ausübung des Widerrufsrechts nach der Fernabsatzrichtlinie zulässig, wenn der Verbraucher gegen Treu und Glauben verstößt. Hier kann Treu und Glauben also vom Tatrichter unmittelbar als rechtliche Regel angewandt werden: Wer gegen Treu und Glauben verstößt, dem sind gewisse Ansprüche oder Einwände gegen Ansprüche abgeschnitten, er wird mit der den Verstoß begründenden Handlung im Rechtsverkehr nicht gehört oder macht sich ggf. schadensersatzpflichtig. Dabei ist letztere Facette nicht unumstritten;11 das Gericht hat in der Sache Citymo aber eine Haftung der Europäischen Kommission wegen des schuldhaften Abbruchs von Vertragsverhandlungen nach Treu und Glauben bejaht.12 Für das Privatrecht hat der Gerichtshof in den Rs. Schulte und Crailsheimer Volksbank13 jedenfalls zu erkennen gegeben, dass ihm die Idee einer Folgenbeseitigung von Informationspflichtverletzungen über das Rechtsinstitut der culpa in contrahendo und damit letztlich über Treu und Glauben jedenfalls nicht fremd ist, wobei der jeweilige Anspruch sich hier allerdings aus dem nationalen Recht ergab.
8 Dabei ist Treu und Glauben aber wohl kein allgemeiner Rechtsgrundsatz, weil der Grundsatz dem Sekundärrecht nicht vorgeht, sondern mit diesem auf einer Stufe steht, ihm eher eine Ergänzungsfunktion zukommt und der Gesetzgeber mittels speziellerer Regeln von Treu und Glauben abweichen kann. Vgl. dazu Hesselink, Amsterdam Law School Research Paper No. 2013-06, S. 15. Zur Subsidiarität des Grundsatzes im deutschen Recht Heinrich, Formale Freiheit und materiale Gerechtigkeit, S. 412 f. 9 Siehe oben S. 237 ff. 10 Siehe oben Kapitel 2 Fn. 792. 11 Siehe hierzu insbesondere die Ausführungen oben Kapitel 1 ab Fn. 184 zu der um die Rechtsfolgen von Verstößen gegen Treu und Glauben nach dem CESL geführten Debatte. 12 Siehe oben S. 264 f. 13 Siehe oben Kapitel 1 Fn. 187.
C. Quellen und Anwendungsbereich
311
Zweitens ist Treu und Glauben vom Europäischen Gerichtshof häufig als Prinzip zur Begründung bestimmter Entscheidungen herangezogen worden. Hier fungiert Treu und Glauben als Rechtfertigung bzw. Hilfserwägung14 für ein bestimmtes Ergebnis bzw. eine bestimmte Auslegung der vorhandenen rechtlichen Regeln. Besonders anschaulich ist dies etwa in der verwaltungsrechtlichen Rechtsprechung des EuGH als dem ersten Gebiet, in dem er den Grundsatz von Treu und Glauben verwendet hat, wenn auch regelmäßig auf entsprechenden Vortrag der Parteien hin.15 Auch wenn es Zweifelsfälle bei der Abgrenzung zur ersten Funktionsweise geben mag, so unterscheidet sich die Funktion als zugrundeliegendes Prinzip von derjenigen als allgemeiner Grundsatz dadurch, dass Treu und Glauben hier als Argument für eine bestimmte Auslegung des Unionsrechts losgelöst vom Einzelfall dient. Zu dieser Kategorie gehören außerdem Regeln, denen der Gesetzgeber den Rechtsgedanken von Treu und Glauben zugrunde gelegt hat, ohne dass diese den Grundsatz ausdrücklich enthalten. Als Beispiel sei hier die Einschränkung von Mängelrechten bei Geringfügigkeit nach der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie genannt.16 Schließlich wird Treu und Glauben vom Gesetzgeber im Sekundärrecht sehr häufig als unbestimmter Rechtsbegriff – also als Tatbestandsmerkmal einer anderen rechtlichen Regel – verwendet. Exemplarisch sei hier nur auf die Generalklausel der Richtlinie 93/13 verwiesen, die den Kern dieser Untersuchung dargestellt hat.17 Von den vorgenannten Kategorien unterscheidet sich die Funktionsweise als unbestimmter Rechtsbegriff dadurch, dass Treu und Glauben zwar wie in der Funktion als allgemeiner Grundsatz durch den Tatrichter im Einzelfall zur Anwendung gebracht wird, dass der Begriff aber nur als Tatbestandsmerkmal fungiert und in eine andere rechtliche Regel eingebettet ist, die insbesondere die Rechtsfolgen des Verstoßes gegen Treu und Glauben festlegt.
C. Quellen und Anwendungsbereich C. Quellen und Anwendungsbereich
Der unionsprivatrechtliche Grundsatz von Treu und Glauben kann nicht weiter reichen als der Anwendungsbereich des Unionsrechts selbst. Innerhalb dieses Anwendungsbereiches handelt es sich um einen eigenständigen Grundsatz des Unionsrechts, der autonom-europäisch auszulegen ist. Dass es sich bei dem Begriff Treu und Glauben nicht um eine originär unionsrechtliche Vgl. zum deutschen Recht Franzen, Privatrechtsangleichung durch die Europäische Gemeinschaft, S. 249 und Fn. 32. 15 Siehe oben S. 261 ff. 16 Siehe oben S. 282 ff. 17 Siehe oben S. 85 ff. 14
312
Kapitel 3 – Ergebnisse
Erfindung handelt, sondern er – wie die meisten anderen Begriffe des Unionsrechts auch – seine Ursprünge notwendig in den deutlich älteren, nationalen Rechtsordnungen bzw. im römischen Recht hat, ändert hieran nichts. Allerdings ist je nach Vereinheitlichungsgrad der betroffenen Rechtsmaterie bzw. Anwendungsbereich des jeweiligen Rechtsakts auch ein halbautonomer Grundsatz von Treu und Glauben denkbar, der dann nur insoweit autonomeuropäischen Vorgaben folgt, wie dies etwa durch den Effektivitätsgrundsatz geboten ist. Dies gilt insbesondere im Anwendungsbereich mindestharmonisierender Richtlinien. Der Grundsatz von Treu und Glauben spiegelt insoweit den Entwicklungsstand des Europäischen Privatrechts insgesamt wider. Soweit man es mit einem halbautonomen Grundsatz von Treu und Glauben zu tun hat, macht es im Ergebnis keinen Unterschied, von welcher Seite man sich ihm nähert. Ob man von einem unionsrechtlichen Grundsatz ausgeht, der bestimmte Vorgaben macht und darüber hinaus den nationalen Gesetzgebern und Rechtsanwendern einen Spielraum einräumt oder ob nationale Grundsätze von Treu und Glauben oder des Rechtsmissbrauchs auf das Unionsrecht angewendet werden, die sich dann aber an einen insbesondere vom Effektivitätsgrundsatz vorgegebenen Rahmen halten müssen, spielt in der Sache keine Rolle.18 Die Grenze zwischen den beiden beschriebenen Herangehensweisen ist zudem teilweise fließend.19 Dieser Befund betont die funktionale Ausrichtung des Grundsatzes von Treu und Glauben im Unionsprivatrecht, erschwert aber seine Systematisierung. Der Grundsatz von Treu und Glauben durchzieht insbesondere das Verbrauchervertragsrecht der EU. Ein entsprechender Bogen spannt sich über die Vertragsanbahnung in Gestalt des Lauterkeitsrechts, die bei Vertragsschluss bestehenden Informationspflichten – insbesondere die Sanktionierung ihrer Nichterteilung und andererseits die Begrenzung von Widerrufsrechten als ihrer Kehrseite in Missbrauchsfällen – den zulässigen Vertragsinhalt in Gestalt des AGB-Rechts, die Vertragsdurchführung – etwa durch die Einschränkung von Gewährleistungsrechten bei geringfügigen Mängeln – sowie die Begrenzung von Kosten der Nacherfüllung über die Grundsätze der Angemessenheit und Verhältnismäßigkeit. Treu und Glauben ist aber keineswegs auf das Verbrauchervertragsrecht beschränkt. Vielmehr ist der Grundsatz im Unionsrecht zunächst außerhalb
18 Vgl. zur grundsätzlichen Unerheblichkeit mitgliedstaatlicher Dogmatik bei der Umsetzung von Richtlinien aus Sicht des Unionsrechts Riehm, JZ 2006, 1035, 1037; Schmidt, Marlene, JZ 2007, 78, 79. 19 Vgl. etwa die Schlussanträge des Generalanwalts Giuseppe Tesauro vom 4. Februar 1998, Rs. C-367/96 Alexandros Kefalas u. a. ./. Elliniko Dimosio, Organismos Oikonomikis Anasygkrotisis Epicheiriseon AE (OAE), Slg. 1998 I-02843, Rn. 27.
D. Horizontale und vertikale Dimension
313
des Privatrechts20 verwendet worden, was sich allerdings durch die Entwicklung des Unionsrechts selbst erklärt. Er bindet insbesondere auch die Institutionen der EU selbst21 sowie die mitgliedstaatlichen Gerichte.22 Treu und Glauben kann im Unionsrecht sowohl innerhalb als auch außerhalb bestehender Schuldverhältnisse sowie innerhalb wie außerhalb von Verbraucherverträgen Anwendung finden. Dort kann der Grundsatz nicht nur einseitig zugunsten des Verbrauchers, sondern auch zugunsten des Unternehmers zur Anwendung kommen.
D. Horizontale und vertikale Dimension D. Horizontale und vertikale Dimension
Besonderheiten im Umgang mit dem Grundsatz von Treu und Glauben ergeben sich im Unionsprivatrecht nicht nur aus seiner relativ jungen Geschichte und seinem fragmentarischen Charakter. Sie beruhen insbesondere darauf, dass es sich um ein Mehrebenensystem handelt, bei dem sich bestimmte Fragen – etwa die Abgrenzung von Auslegung und Anwendung des Grundsatzes – überhaupt erst stellen. Das Unionsprivatrecht hat aus verschiedenen Gründen ein besonderes Bedürfnis nach einem Grundsatz wie Treu und Glauben; andererseits stößt es bei seiner Verwendung auch auf Schwierigkeiten, die sich innerhalb einer nationalen Rechtsordnung so nicht stellen. I.
Ein besonderes Bedürfnis für Treu und Glauben
Treu und Glauben und verwandte Grundsätze sind für das Unionsprivatrecht noch wichtiger als für das nationale Privatrecht. Sie übernehmen nämlich nicht nur die Funktion einer Generalklausel innerhalb des Unionsprivatrechts selbst (vergleichbar mit der Funktion im nationalen Privatrecht), sondern fungieren zusätzlich als Scharnier an der Schnittstelle zwischen europäischem und nationalem Privatrecht: Das Unionsprivatrecht braucht in der vertikalen Dimension Korrektive wie Treu und Glauben oder das Rechtsmissbrauchsverbot, um sich selbst zu legitimieren, indem die Friktionen dieses relativ starren Rechtssystems mit den nationalen Rechtsordnungen überwunden werden, und so zu mehr Kohärenz und gerechten Entscheidungen zu gelangen. 23 In horizontaler Hinsicht ergibt sich deshalb ein besonderes Bedürfnis Dabei ist der Grundsatz, der als Konzept den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten entstammt, aber ursprünglich ein genuin privatrechtlicher, vgl. Metzger, Extra legem, intra ius: Allgemeine Rechtsgrundsätze im Europäischen Privatrecht, S. 348 f. 21 Siehe oben S. 261 ff. 22 Siehe oben S. 282 ff. 23 Siehe etwa Hesselink, in: Leczykiewicz, The Involvement of EU Law in Private Law Relationships, S. 131, 164 ff., der diesen Befund sowohl für die einzelnen Ebenen des nationalen und des Unionsprivatrechts (vertikal) als auch innerhalb der unterschiedlichen 20
314
Kapitel 3 – Ergebnisse
für Treu und Glauben, weil das Unionsprivatrecht sonst sehr detaillierte, bereichsspezifische Regelungen enthält, die durch die unterschiedlichen Politiken und die darauf gründenden Kompetenztitel bestimmt werden und nicht immer vom unbedingten Willen getragen sind, ein dogmatisch kohärentes, zivilrechtliches System zu erschaffen. II. Besondere Schwierigkeiten im Umgang mit Treu und Glauben Andererseits wirft der Grundsatz von Treu und Glauben im Unionsprivatrecht besondere Schwierigkeiten auf. Seine Auslegung wird nur teilweise durch den EuGH sichergestellt, der gerade in Bereichen mit einer zu befürchtenden, hohen Vorlagehäufigkeit die Tendenz entwickelt hat, nur grobe Kriterien vorzugeben und die eigentliche Auslegung dann den nationalen Gerichten zu überlassen. Dies ist angesichts der Arbeitsbelastung des Gerichtshofs nachvollziehbar. Methodisch und im Hinblick auf eine einheitliche Auslegung des Unionsrechts ist diese Tendenz aber bedauerlich. Eine Gefahr besteht stets darin, dass nationale Gerichte den Grundsatz von Treu und Glauben anwenden und Zweifelsfragen grundsätzlicher Natur, die seine Auslegung betreffen, nicht zur Vorabentscheidung vorlegen, weil sie den unionalen Ursprung und Inhalt der Generalklausel verkennen. Wenn ein vom Unionsrecht verliehenes Recht eingesetzt wird, um zwingendem nationalen Recht auszuweichen, so stellt sich die im ersten Zugriff nicht immer leicht zu beantwortende Frage, ob ein zulässiges Gebrauchmachen oder ein verbotener Missbrauch unionaler Rechte vorliegen. Beispiele hierfür sind insbesondere die Grundfreiheiten, aber auch etwa das internationale Zuständigkeitsrecht, etwa in Gestalt von Art. 6 EuGVO. Die unionsrechtliche Vorschrift – etwa die Niederlassungsfreiheit – und die zwingende nationale Vorschrift – etwa Mindestkapitalanforderungen bei haftungsbeschränkten Gesellschaftsformen – haben aber oft ganz unterschiedliche Zielrichtungen, die nicht einfach miteinander in Einklang zu bringen sind. Letztlich muss die Frage auch hier einheitlich und auf Unionsebene entschieden werden; ihre Beantwortung richtet sich entscheidend nach Reichweite und Ratio der vom Unionsrecht verliehenen Rechte.
Rechtsakte des Unionsprivatrechts selbst bestätigt (horizontal); ebenso Schmidt-Kessel, in: Jud / Bachner u. a., Jahrbuch junger Zivilrechtswissenschaftler 2000, S. 61, 72 ff. Mit einer entsprechenden Analyse für den Grundsatz der berechtigten Erwartungen Roth, WulfHenning, in: Schulte-Nölke / Schulze, Europäische Rechtsangleichung und nationale Privatrechte, S. 45, 61.
E. Treu und Glauben und guter Glaube
315
E. Treu und Glauben und guter Glaube E. Treu und Glauben und guter Glaube
Hier sollen die Ergebnisse zu zwei Aspekten zusammengefasst werden, die sich ebenfalls wie ein roter Faden durch die Untersuchung gezogen haben und eng miteinander verbunden sind. Der erste Aspekt ist die Frage der Unterscheidung zwischen dem objektiven Maßstab von Treu und Glauben und dem subjektiven guten Glauben. Es hat sich gezeigt, dass die Unterscheidung zwischen beiden Kategorien nicht durchgehend so einfach zu treffen ist, wie es zunächst schien. Zurückzuführen ist dies u. a. auf einen zweiten Aspekt, nämlich die unterschiedlichen Sprachfassungen des Unionsrechts. Diese sind im Bereich des geschriebenen Unionsrechts alle in gleicher Weise – also in allen derzeit 24 Amtssprachen – verbindlich. Bei der Rechtsprechung des EuGH ist dagegen auf die Fassung in der jeweiligen Verfahrenssprache abzustellen, die alleine Gültigkeit beansprucht; dass dies nicht immer sinnvoll ist, weil die Urteile in aller Regel in französischer Sprache abgefasst und anschließend in die Verfahrenssprache (und alle anderen Amtssprachen) übersetzt werden, leuchtet unmittelbar ein und hat sich in dieser Untersuchung auch verschiedentlich gezeigt.24 Treu und Glauben und der subjektive gute Glaube oder die Gutgläubigkeit sind dennoch zu trennen. Der gute Glaube bezeichnet das Kennen oder ggf. das Kennenmüssen bestimmter Tatsachen. Die Trennung dieser Begriffe stammt aus dem deutschen Recht.25 Sie ist im Unionsprivatrecht im Prinzip übernommen worden, findet sich aber in anderen Sprachfassungen von Rechtsakten so nicht wieder, da im Englischen und Französischen regelmäßig in beiden Fällen von good faith oder la bonne foi die Rede ist. In wenigen Fällen hat dies zu fehlerhaften Übersetzungen der deutschen Fassung geführt. An manchen Stellen ist die Trennung zwischen dem subjektiven und dem objektiven Maßstab auch in der Sache nicht eindeutig. Hiermit eng verbunden ist im Übrigen die sich in den Gesetzgebungsverfahren vor allem seitens der Common Law-Mitgliedstaaten regelmäßig zeigende Skepsis gegenüber Treu und Glauben. Hier gilt es stets klar herauszustellen, dass es sich um einen vollständig objektiven Grundsatz handelt.
24 Siehe nur die Auseinandersetzung mit den Rs. Messner und Hamilton, wo aus den „principes de droit civil“ teils „Grundsätze des bürgerlichen Rechts“, teils „Grundsätze des Zivilrechts“ geworden sind (oben S. 264 ff.). 25 Hesselink, in: ders., The New European Private Law. Essays on the Future of Private Law in Europe, S. 195 weist darauf hin, dass auch andere Rechtsordnungen für den objektiven Maßstab von Treu und Glauben einen eigenen Begriff verwenden, so etwa die Niederlande (redelijkheid en billijkheid) und Italien (correttezza).
316
Kapitel 3 – Ergebnisse
F. Verwandtschaften und Definitionselemente F. Verwandtschaften und Definitionselemente
Ein besonders wichtiger Befund der vorliegenden Untersuchung dürfte sein, dass im Unionsprivatrecht eine große, nicht immer sachlich begründete oder planvoll-kohärente Auswahl unbestimmter Rechtsbegriffe oder Generalklauseln im Bereich der Missbrauchsverbote oder Fairnessgebote herrscht. Die im Unionsprivatrecht verwendeten Konzepte sind nicht in derselben Weise untereinander dogmatisch ausdifferenziert, wie dies teilweise in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten der Fall ist bzw. sich dort im Zusammenspiel von Rechtsprechung und Rechtswissenschaft über mehrere Jahrhunderte entwickeln konnte. Die Auswahl eines bestimmten Konzepts – sowohl durch den Gesetzgeber wie durch den europäischen Richter – ist manchmal auch etwas beliebig.26 Das rechtfertigt im Nachhinein den weiten Zuschnitt der Arbeit, die zumindest in Kerngebieten des Verbraucherprivatrechts Konzepte wie Fairness und Angemessenheit mit in die Untersuchung einbezogen hat. Der Versuch einer umfassenden und abschließenden Definition des Grundsatzes von Treu und Glauben muss zwingend scheitern. Wäre eine solche möglich, wäre die Verwendung eines so unbestimmten Begriffs durch den Gesetzgeber und die Rechtsprechung ohnehin unzulässig. Denkbar ist nur eine Umschreibung anhand der zugrundeliegenden sittlich-moralischen Standards, der identifizierbaren Fallgruppen und letztlich von Einzelbeispielen. Der Begriff Treu und Glauben ist ein unbestimmter Rechtsbegriff, ob er nun als solcher Teil eines allgemeinen, privatrechtlichen Grundsatzes von Treu und Glauben, eines anderen Regeln zugrundeliegenden Rechtsprinzips oder einer speziellen Rechtsnorm ist.27 Treu und Glauben und andere Verbote des Missbrauchs vertraglicher und sonstiger Rechte sind objektive Schranken der Rechtsausübung, deren Beurteilung im Einzelfall insbesondere auf der Grundlage des Maßstabs der Verhältnismäßigkeit vorzunehmen ist.28 Die Definitionselemente dieses allgemeinen, objektiven Verhaltensmaßstabs sind eng mit den weiteren, begrifflich oder funktional verwandten Maßstäben verbunden, die als gemeinsames Ziel sicherstellen sollen, dass die Ausübung von Rechten fair, verhältnismäßig und ohne Verursachung unnötiger Nachteile für die Gegenseite erfolgt. Viele dieser Begriffe enthalten neben der graduellen Vgl. Alpa, EBLR 2004, 1123, 1130, der vorbringt, Italien habe auf die Einführung ihm fremder Begriffe wie resonableness in Richtlinien nicht annährend so kritisch reagiert wie England bei der Einführung von good faith über die Klauselrichtlinie. Außerdem ders., a. a. O., S. 1132 „ ‚good faith‘ and ‚fairness‘ are used indifferently“ (allerdings wohl hauptsächlich mit Augenmerk auf dem italienischen Recht). 27 Zu dieser Unterteilung siehe oben S. 310 ff. 28 Cauffman, M-EPLI Working Paper No. 2013/5, S. 21 propagiert eine Vermutung der Treuwidrigkeit unverhältnismäßigen Verhaltens und weist darauf hin, dass eine solche Definition den Grundsatz von Treu und Glauben auch für aus dem Common Law kommende Juristen zugänglicher und besser akzeptabel machen könnte. 26
F. Verwandtschaften und Definitionselemente
317
Komponente in Gestalt einer Art Übermaßverbots zusätzlich gewisse sittlichmoralische Standards und überschreiten gerade deshalb die Grenzen rechtlicher Definierbarkeit. Bei der folgenden Aufstellung ist darauf hinzuweisen, dass es sich um Beispiele handelt und die jeweilige begriffliche Verknüpfung mit Treu und Glauben nicht notwendigerweise durchgehend im gesamten Unionsprivatrecht so verwendet wird: I.
Verbot des Rechtsmissbrauchs
– „Rechtsmissbrauch [wird] als die zweckwidrige Inanspruchnahme einer Rechtsposition definiert, welche die Möglichkeit, ein bestehendes Recht auszuüben, begrenzt. Dies bedeutet, dass die Inanspruchnahme eines formal gegebenen Rechtsanspruchs durch den Grundsatz von Treu und Glauben beschränkt ist.“29 – Treu und Glauben ist ein zentrales Definitionselement bei der Bewertung missbräuchlicher Vertragsklauseln.30 II. Angemessenheit und Verhältnismäßigkeit; Vernünftigkeit – Angemessen bzw. vernünftig ist das, was eine nach Treu und Glauben handelnde Person dafür halten würde, Art. 1:302 PECL. – Die Untersuchung der Klauselrichtlinie hat ergeben, dass Treu und Glauben insbesondere mit einem Gebot verhältnismäßigen Handelns korrespondiert.31 – Der Verstoß gegen Treu und Glauben richtet sich im Fall der Generalklausel der RL 93/13 danach, ob der Unternehmer vernünftigerweise erwarten durfte, dass sich der Verbraucher in einer Individualvereinbarung auf eine solche Klausel einlässt.32 III. Anständigkeit und Fairness – Art. 2 lit. b) des CESL-Vorschlags enthält folgende Definition von Treu und Glauben: „Für die Zwecke dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck […] (b) ‚Treu und Glauben und redlicher Geschäftsverkehr‘ ein[en] Verhaltensmaßstab, der durch Redlichkeit, Offenheit und Rücksicht auf die Interessen der anderen Partei in Bezug auf das fragliche Geschäft oder Rechtsverhältnis gekennzeichnet ist“. 29 So die Generalanwältin Verica Trstenjak in ihren Schlussanträgen vom 2.6.2010 in der Rs. C-18/09 Mag. Lic. Robert Koller, Slg. 2011 I-13627, dort Fn. 36 (siehe oben Kapitel 2 Fn. 644). 30 Siehe oben S. 85 ff. 31 Siehe oben S. 189 ff. 32 EuGH, 14.3.2013, Rs. C-415/11 Mohamed Aziz ./. Caixa d´Estalvis de Catalunya, Tarragona i Manresa, ECLI:EU:C:2013:164, Rn. 68 f. (siehe oben S. 86 ff.).
318
Kapitel 3 – Ergebnisse
– Der Kommentar zu Treu und Glauben in den PECL weist darauf hin, dass der Grundsatz über seine einzelnen Anwendungen hinaus greife und „die Durchsetzung allgemein anerkannter Standards der Anständigkeit, Fairness und Vernünftigkeit in den Geschäftsbeziehungen“ zum Ziel habe.33 – Die 2011 neu gefasste Zahlungsverzugsrichtlinie verweist als Prüfungsmaßstab der groben Nachteiligkeit nunmehr auf grobe Abweichungen von der guten Handelspraxis, die gegen den „Grundsatz des guten Glaubens und der Redlichkeit“ verstoßen.34 – Loyalität und Billigkeit sowie Förderung des Vertragsziels: – Loyalität und Billigkeit sind Definitionselemente für Treu und Glauben im 16. Erwägungsgrund der Klauselrichtlinie. – Die Förderung des Vertragszwecks durch Kooperation mit der anderen Partei konnte als Hauptgegenstand der Verpflichtung auf Treu und Glauben in Art. 3 und 4 der Handelsvertreterrichtlinie identifiziert werden.35 IV. Sorgfaltsmaßstab und Sorgfaltspflichten – Treu und Glauben ist in der Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken ein zentrales Kriterium dafür, ob ein Gewerbetreibender die berufliche Sorgfalt beachtet (die wiederum ein notwendiges Kriterium für die Bejahung einer unlauteren Geschäftspraxis nach der Generalklausel des Art. 5 Abs. 2 darstellt).36 – Auch bei der Suche nach Beklagten mit unbekanntem Wohnsitz durch Gerichte sowie bei der Suche nach den Rechtsinhabern mutmaßlich verwaister Werke ist Treu und Glauben der entscheidende Sorgfaltsmaßstab.37 V. Willkürverbot und Motivationszwang sowie Verhandlungspflichten – Die Anfänge der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zu Treu und Glauben haben in weiten Teilen die Bindung der Verwaltung an das eigene Vorverhalten zum Gegenstand.38 – Das Unionsrecht kennt mittlerweile auch Verhandlungspflichten, die am Grundsatz von Treu und Glauben orientiert sind.39
33 34 35 36 37 38 39
Kommentar zu den PECL, siehe oben Kapitel 1 Fn. 168. Siehe oben S. 194 ff. Siehe oben S. 237 ff. Siehe oben S. 246 ff. Siehe oben S. 282 ff. Siehe oben S. 261 ff. Siehe oben S. 282 ff.
G. Standardhöhe
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G. Standardhöhe G. Standardhöhe
Ebensowenig wie eine abschließende Definition von Treu und Glauben kann hier eine bestimmte Höhe des Prüfungsstandards angegeben werden. Der Standard von Treu und Glauben richtet sich nämlich nach den jeweiligen Begleitumständen. Er ist etwa in Verbraucherverträgen ein anderer als in b2bVerträgen, und er fällt bei vorformulierten Vertragsbedingungen strenger aus als in Individualverträgen. Im Bereich der Klauselrichtlinie bedeutet Treu und Glauben Transparenz auf der einen und Wahrung der Vertragsparität auf der anderen Seite.40 Das heißt, dass es nicht über die allgemeinen Geschäftsbedingungen zu einer massiven Verschiebung des vertraglichen Gleichgewichts kommen darf, das durch die Hauptleistungspflichten der Parteien festgelegt worden ist. So wäre etwa eine Klausel, die dem Verbraucher bestimmte, vertraglich eingeräumte Rechte entzieht, dann eher missbräuchlich, wenn der entsprechende wirtschaftliche Vorteil schlicht dem Unternehmer zufließt. Hat der Unternehmer dagegen ein berechtigtes Interesse an einer solchen Regelung, etwa weil der entstehende Vorteil die dem Verbraucher zusätzlich aufgebürdeten Pflichten überwiegt und somit Effizienzgewinne entstehen, so liegt die Schwelle für eine Missbräuchlichkeit höher. Im Hinblick auf das Kriterium der Transparenz gilt außerdem, dass der Verbraucher den Inhalt der Klauseln selbst ohne Zuhilfenahme zusätzlicher Quellen nachvollziehen können muss. Neben der Standardbildung aus der jeweiligen Bestimmung bzw. dem jeweiligen Fall selbst heraus ist dann auch zu beachten, dass es grundsätzlich zulässig ist, nach Querverbindungen zwischen verschiedenen Anwendungsfällen von Treu und Glauben im Unionsprivatrecht zu suchen und diese insbesondere zwischen solchen Rechtsakten herzustellen, die identische oder ähnliche Ziele verfolgen. Dies gilt etwa für die Verbindung von Lauterkeitsrecht und Vertragsrecht, die beide das Ziel einer Sicherstellung informierter Entscheidungen von Marktteilnehmern, insbesondere von Verbrauchern verfolgen.41 Ohnehin zeigt ein Vergleich der unterschiedlichen Sprachfassungen 40 Vgl. auch Micklitz / Reich, EuZW 2012, 126, 128, die die Forderung erheben, dass Vertragsparität als Kriterium bei der AGB-Kontrolle in Verbindung gesetzt werden solle mit den „Grundsätzen des bürgerlichen Rechts“, die der EuGH in einigen Entscheidungen als Argumentationshilfe benutzt hatte (s. o. S. 264 ff.). Allerdings hat der EuGH den Begriff der „Vertragsparität“ bis heute nicht in den Mund genommen – anders als von Micklitz / Reich, a. a. O., zumindest für die Schlussanträge in der Rs. Pereničová (s. o. Kapitel 1 Fn. 91) behauptet. Die Generalanwältin spricht dort vielmehr von der „Herstellung der Ausgewogenheit“ des Vertrags durch „korrigierende[s] Eingreifen“ und die Äußerung fällt zudem im Kontext der ersten Vorlagefrage, bei der es um die unionsrechtliche Zulässigkeit einer Gesamtnichtigkeit des Vertrages ging. 41 Siehe Busch, in: Ajani/Ebers, Uniform terminology for European contract law, S. 219, 220.
320
Kapitel 3 – Ergebnisse
etwa von Art. 4 Abs. 2 der Fernabsatzrichtlinie, dass im Unionsprivatrecht zwischen Lauterkeit und Treu und Glauben keineswegs sauber unterschieden wird.42
H. (Fehl-)Entwicklungen H. (Fehl-)Entwicklungen
Seine Aufgabe der Auslegung der Generalklausel der Richtlinie 93/13 hat der Europäische Gerichtshof nach langem Zögern jüngst langsam anzunehmen begonnen.43 Diese Entwicklung ist sehr zu begrüßen. Allerdings hat der Gerichtshof in der Rs. Aziz44 sehr zweifelhafte Andeutungen dahingehend gemacht, dass der Standard bei der Klauselkontrolle auch davon abhängen könnte, ob ein funktionierendes (nationales) Prozessrecht zur Beseitigung missbräuchlicher Klauseln bereitstehe. Wenn es in diesem Sinne auf mitgliedstaatlicher Ebene einen effektiven Rechtschutz gibt, so kann dies offenbar indiziell gegen die Missbräuchlichkeit von Klauseln sprechen, weil der Verbraucher sich leichter gegen diese verteidigen kann. Zu Ende gedacht führte dies dazu, dass sich wiederum kein einheitlicher Standard der Klauselkontrolle unter den Mitgliedstaaten herausbilden könnte. Die etwas zynische Überlegung, dass dies zu einer Gleichbehandlung der Verbraucher führen würde, die in einem Mitgliedstaat die dort als missbräuchlich geltende Klausel wegen fehlender prozessualer Durchsetzungsmöglichkeiten nicht bekämpfen können, während dieselbe Klausel in einem anderen Mitgliedstaat wegen des dort vorhandenen, effektiveren Rechtschutzes nicht als missbräuchlich gelten würde, wird man dem Gerichtshof nicht unterstellen dürfen. Vielmehr ist zu hoffen, dass die Ausführungen des EuGH insoweit auf einem Missverständnis beruhen und eine Ausnahme bleiben. Was den unionsprivatrechtlichen Gesetzgeber angeht, so ist festzustellen, dass Treu und Glauben, Fairness und ähnliche, ausfüllungsbedürftige Begriffe immer häufiger Verwendung finden. Dies kann im Einzelfall begrüßenswert sein, darf aber nicht dazu führen, dass inflationär auch dort von solchen Begriffen Gebrauch gemacht wird, wo dies gar nicht zwingend erforderlich ist, sondern wo schlicht der politische Wille für eine konkretere Regelung fehlt. Zudem birgt die Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe wie festgestellt immer die Gefahr einer Verfehlung des Harmonisierungsziels. Daher ist es zu empfehlen, dass zumindest ein autonomer Mindeststandard bei der Ausfüllung solcher Begriffe auf europäischer Ebene sichergestellt wird. Dies kann insbesondere dadurch bewirkt werden, dass bei wichtigen Generalklau42 Poillot, Petites Affiches 2011, N° 234, S. 34 f. schreibt hierzu, die Begriffe „loyauté“ und „bonne foi“ würden vom Unionsrecht ohne Zweifel gleichgesetzt. 43 Siehe oben S. 124 ff. 44 Siehe oben Kapitel 2 Fn. 47.
I. Schlussfolgerungen
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seln den Rechtsakten Listen mit Regelbeispielen hinzugefügt werden, die nicht nur eine Vielzahl von Fällen bereits abdecken, sondern auch eine gute Orientierungshilfe für die Einordnung vergleichbarer Fälle anhand der Generalklausel darstellen können.45 Zur Sprache zu bringen ist hier insbesondere noch einmal die sehr häufige Verwendung von Treu und Glauben im CESL. Dieses hat ja gerade den Anspruch, den Vertrag von Anfang bis Ende umfassend und weitgehend ohne Rückgriff auf das nationale Recht zu regeln. Dann sollte seine flächendeckende Durchdringung mit Treu und Glauben aber nicht erforderlich sein. Das bedeutet nicht, dass ein allgemeiner Grundsatz von Treu und Glauben dort nicht gelten sollte oder dass nicht auch etwa die Klauselkontrolle im CESL weiter auf Treu und Glauben als Kriterium abstellen sollte, gerade um hierdurch die langsam entstehende Rechtsprechung zur Klauselrichtlinie zu integrieren. Im Übrigen sollte der Gesetzgeber aber darauf verzichten, den Grundsatz in jedem Kapitel oder Abschnitt stets aufs Neue zu nennen. Dies würde den Eindruck eines größeren Vertrauens in die Funktionsfähigkeit der eigenen, gerade neu vorgeschlagenen Regeln vermitteln.
I. Schlussfolgerungen I. Schlussfolgerungen
Die vorliegende Untersuchung kann nicht mehr sein als eine ausführliche Skizze, die den derzeitigen Zustand von Treu und Glauben im Unionsprivatrecht darstellt, untersucht und systematisiert. Die wachsende Rolle des Grundsatzes in diesem noch jungen Rechtsgebiet stellt eine neue Entwicklung dar, von der hier nur eine Momentaufnahme hergestellt werden konnte. Treu und Glauben hält das Recht flexibel, um auf unvorhergesehene Lücken, missbräuchliche Angriffe und neue technische oder gesellschaftliche Entwicklungen zu reagieren. Der Funktionszusammenhang zwischen den unterschiedlichen Einsatzzwecken von Treu und Glauben ist dabei nicht zwingend durchgehend gegeben. Der Gesetzgeber bedient sich des Maßstabs Treu und Glauben insbesondere dann gerne, wenn er einen gerichtlich nachprüfbaren Mindestverhaltensstandard setzen will, der über eine reine Billigkeitsprüfung hinausgeht, dessen Anforderungen er aber nicht konkret festlegen kann. Treu und Glauben wird im Unionsprivatrecht vor allem auch dafür verwendet, Grundsätze wie Angemessenheit und Verhältnismäßigkeit in das Privatrecht zu übertragen. Treu und Glauben ist als unbestimmter Rechtsbegriff, der einen objektiven Maßstab der Fairness, der Offenheit und des verhältnismäßigen Verhaltens bezeichnet, im Unionsprivatrecht eindeutig auf dem Vormarsch. Damit ist Siehe auch Grundmann, in: Grundmann / Mazeaud, General clauses and standards in European contract law, S. 18. 45
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Kapitel 3 – Ergebnisse
aber keineswegs eine Präferenz für eines der nationalen Modelle verbunden. Es gibt schlicht ein Bedürfnis, einen bestimmten Begriff zu etablieren, um es den Rechtsanwendern in der Diskussion zu ermöglichen, bei der Herausbildung einheitlicher Maßstäbe miteinander zu kommunizieren. Dass dieser Begriff Treu und Glauben sein soll, mag in gewisser Weise dem Zufall geschuldet sein; mit Blick auf die sehr unterschiedliche Tradition des Grundsatzes in den kontinentaleuropäischen Rechtsordnung und dem Common Law erscheint diese Wahl sogar überraschend. Das Europäische Recht hat es jedoch geschafft, diesen Begriff weitegehend zu objektivieren. Darüber hinaus wird Vorbehalten dadurch begegnet, dass Treu und Glauben mit dem Begriff der reasonableness eng verknüpft wird, der dem englischen Recht entstammt. Die im Umgang mit Treu und Glauben vorhandenen Schwierigkeiten zeigen auch die strukturellen Schwächen des Unionsprivatrechts insgesamt auf. Wünschenswert wäre einerseits eine Stärkung des Europäischen Gerichtshofs, ggf. durch Schaffung beigeordneter Fachgerichte für das Zivilrecht, wie dies durch Art. 257 AEUV vorgesehen ist. Andererseits bedürfte es auch einer Vertiefung der Zusammenarbeit der nationalen Gerichte untereinander. Dies sollte in institutionalisierter Form geschehen, etwa im Rahmen des Europäischen Justiziellen Netzes.46 Es ist insofern sehr bedauerlich, dass die CLABDatenbank – soweit ersichtlich schlicht wegen des Ablaufs der zunächst festgelegten Projektdauer – nicht nur nicht mehr weiter mit neuen Entscheidungen ergänzt wurde, sondern die vorhandenen Daten nun auch nicht mehr abrufbar sind. Solche Projekte bieten dem grenzüberschreitenden Rechtsanwender einen großen Mehrwert und sollten nicht an den vergleichsweise wohl nicht übermäßig hohen Kosten scheitern. In der Sache sollte dort eine systematisierte, nach Möglichkeit in mehreren Sprachen verfügbare Bereitstellung der Entscheidungen nationaler Gerichte zum europäischen Grundsatz von Treu und Glauben und anderen unbestimmten Rechtsbegriffen erfolgen. Neben dem Text der Entscheidung selbst, der in Art und Umfang unter den Mitgliedstaaten ja sehr stark variiert, wäre eine Art Fallbericht hilfreich, der kurz darstellt, in welchem normativen Zusammenhang Treu und Glauben oder ein anderer Begriff zur Anwendung kam und wie das nationale Gericht den Begriff in diesem Zusammenhang ausgelegt hat. Unionsrechtliche Grundsätze von Treu und Glauben, Vernünftigkeit (reasonableness) und andere könnten dann in einem späteren Stadium vielleicht auch dazu beitragen, dass sich die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen selbst langfristig in ihren Grundvorstellungen angleichen.47 Vgl. hierzu etwa Fornasier, ZEuP 2010, 477, 490 ff. Collins, ERPL 2013, 907 fordert zu diesem Zweck die Einführung eines „Europäischen Zivilgesetzbuchs der Rechtsgrundsätze“, das – vergleichbar mit der Entwicklung der Europäischen Menschenrechtskonvention – eine graduelle Angleichung der nationalen Rechtsordnungen bewirken und die Bildung einer grenzüberschreitenden Zivilgesellschaft fördern solle. 46 47
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Rechtsprechungsverzeichnis Europäischer Gerichtshof EuGH, 15.7.1960, Verb. Rs. 43/59, 45/59 und 48/59 Eva von Lachmüller u. a. ./. Kommission der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, Slg. 1960, 00967 EuGH, 16.12.1960, Rs. 44/59 Rudolf Pieter Maria Fiddelaar ./. Kommission der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, Slg. 1960, 01117 EuGH, 12.7.1962, Rs. 14/61 Koninklijke Nederlandsche Hoogovens ./. Hohe Behörde, Slg. 1962, S. 00513 EuGH, 13.7.1962, Verb. Rs. 17/61 und 20/61 Klöckner-Werke AG und Hoesch AG ./. Hohe Behörde der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, Slg. 1962, S. 00615 EuGH, 13.7.1962, Rs. 19/61 Mannesmann AG ./. Hohe Behörde der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, Slg. 1962, S. 00719 EuGH, 15.7.1964, Rs. 6/64 Costa ./. E.N.E.L, Slg. 1964, S. 01141 EuGH, 13.7.1965, Rs. 111-63 Lemmerz-Werke GmbH ./. Hohe Behörde der EGKS, Slg. 1963, S. 00894 EuGH, 31.3.1971, Rs. 22/70 Kommission der Europäischen Gemeinschaften ./. Rat der Europäischen Gemeinschaften, Slg. 1971, S. 00263 EuGH, 8.6.1971, Rs. 78/70 Deutsche Grammophon Gesellschaft mbH ./. Metro-SB-Großmärkte GmbH & Co. KG, Slg. 1971, S. 00487 EuGH, 21.2.1973, Rs. 6/72 Europemballage Corporation und Continental Can Company Inc. ./. Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Slg. 1973, S. 00215 EuGH, 3.12.1974, Rs. 33/74 Johannes Henricus Maria van Binsbergen ./. Bestuur van de Bedrijfsvereniging voor de Metaalnijverheid, Slg. 1974, S. 01299 EuGH, 30.11.1976, Rs. 21/76 Handelskwekerij G. J. Bier BV ./. Mines de potasse d'Alsace SA, Slg. 1976, S. 01735 EuGH, 14.12.1976, Rs. 25/76 Galeries Segoura ./. Société Rahim, Slg. 1976, S. 01851 EuGH, 1.2.1977, Rs. 51/76 Verbond van Nederlandse Ondernemingen ./. Inspecteur der Invoerrechten en Accijnzen, Slg. 1977, S. 00113 EuGH, 7.2.1979, Rs. 115/78 J. Knoors ./. Staatssecretaris van Economische Zaken, Slg. 1979, S. 00399 EuGH, 13.2.1979, Rs. 85/76 Hoffmann-La Roche & Co. AG ./. Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Slg. 1979, S. 00461
261, 263 261, 263 262, 281 262 262 18 262 237 237 201 208 173 225, 281 178 209 200
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Rechtsprechungsverzeichnis
EuGH, 28.3.1979, Rs. 222/78 ICAP ./. Walter Beneventi, Slg. 1979, S. 01163 EuGH, 6.10.1982, Rs. 283/81 Srl CILFIT und Lanificio di Gavardo SpA ./. Ministero della Sanità, Slg. 1982, S. 03415 EuGH, 20.10.1983, Rs. 92/82 Gutmann ./. Kommission, Slg. 1983, S. 03127 EuGH, 10.4.1984, Rs. 14/83 Sabine von Colson und Elisabeth Kamann ./. Land Nordrhein-Westfalen, Slg. 1984, S. 01891 EuGH, 19.6.1984, Rs. 71/83 Tilly Russ, Slg. 198,4 S. 02417 EuGH, 10.1.1985, Rs. 229/83 Association des Centres distributeurs Édouard Leclerc u. a. ./. SARL "Au blé vert" u. a., Slg. 1985, S. 00001 EuGH, 4.7.1985, Rs. 220/84 AS-Autoteile Service GmbH ./. Pierre Malhé, Slg. 1985, S. 02267 EuGH, 11.7.1985, Rs. 221/84 Berghoeffer GmbH ./. Firma ASA SA, Slg. 1985, S. 02699 EuGH, 27.9.1988, Rs. 81/87 The Queen ./. H. M. Treasury and Commissioners of Inland Revenue, ex parte Daily Mail and General Trust plc., Slg. 1988, S. 05483 EuGH, 27.9.1988, Rs. 189/87 Athanasios Kalfelis ./. Bankhaus Schröder u. a., Slg. 1988, S. 05565 EuGH, 13.11.1990 Rs. C-106/89 Marleasing SA ./. La Comercial Internacional de Alimentacion SA, Slg. 1990 I-04135 EuGH, 30.5.1991, Verb. Rs. C-19/90 und C-20/90 Marina Karella und Nicolas Karellas ./. Ypourgio Viomichanias u. a., Slg. 1991 I-02691 EuGH, 25.7.1991, Rs. C-208/90 Theresa Emmott ./. Minister for Social Welfare und Attorney General, Slg. 1991 I-04269 EuGH, 3.3.1993, Rs. 8/92 General Milk Products GmbH ./. Hauptzollamt Hamburg-Jonas, Slg. 1993 I-00779 EuGH, 14.12.1995, Verb. Rs. C-430/93 und C-431/93 Jeroen van Schijndel und Johannes Nicolaas Cornelis van Veen ./. Stichting Pensioenfonds voor Fysiotherapeuten, Slg. 1995 I-04705 EuGH, 5.3.1996, Verb. Rs. C-46/93 und C-48/93 Brasserie du Pêcheur SA ./. Bundesrepublik Deutschland und The Queen ./. Secretary of State for Transport, Slg. 1996 I-01029 EuGH, 12.3.1996, Rs. C-441/93 Panagis Pafitis u. a. ./. Trapeza Kentrikis Ellados A.E. u. a., Slg. 1996 I-01347 EuGH, 20.2.1997, Rs. C-106/95 Mainschiffahrts-Genossenschaft eG (MSG) ./. Les Gravières Rhénanes SARL, Slg. 1997 I-00911 EuGH, 20.3.1997, Rs. C-24/95 Land Rheinland-Pfalz ./. Alcan Deutschland GmbH, Slg. 1997 I-01591 EuGH, 12.5.1998, Rs. C-367/96 Alexandros Kefalas u. a. ./. Elliniko Dimosio, Organismos Oikonomikis Anasygkrotisis Epicheiriseon AE (OAE), Slg. 1998 I-02843 EuGH, 9.3.1999, Rs. C-212/97 Centros Ltd. ./. Erhvervs- og Selskabsstyrelsen, Slg. 1999 I-01459 EuGH, 22.6.1999, Rs. C-342/97 Lloyd Schuhfabrik Meyer & Co. GmbH ./. Klijsen Handel BV, Slg. 1999 I-03819
110 9, 19 268 11 225, 281 209 232 225 214 231 11 221 264 209–210 146 2 221–222 226 263 20, 221–223, 312 72, 207, 213, 215 123–124
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EuGH, 23.3.2000, Rs. C-373/97 Dionysios Diamantis ./. Elliniko Dimosio, 20, 221–223 Organismos Oikonomikis Anasygkrotisis Epicheiriseon AE (OAE), Slg. 2000 I-01705 EuGH, 27.6.2000, Rs. C-240/98 Océano Grupo, Slg. 2000 I-04941 79–80, 86, 109–113, 123, 127, 147 EuGH, 9.11.2000, Rs. C-381/98 Ingmar GB Ltd ./. Eaton Leonard 79, 291–292 Technologies Inc., Slg. 2000 I-09305 EuGH, 14.12.2000, Rs. C-110/99 Emsland-Stärke GmbH ./. Hauptzollamt 210–212 Hamburg-Jonas, Slg. 2000 I-11569 EuGH, 20.9.2001, Rs. C-453/99 Courage Ltd ./. Bernard Crehan, 278, 282, Slg. 2001 I-06297 EuGH, 13.12.2001, Rs. C-481/99, Georg Heininger und Helga Heininger 266, 282 ./. Bayerische Hypo- und Vereinsbank AG, Slg. 2001 I-09945 EuGH, 25.4.2002, Rs. C-183/00 María Victoria González Sánchez ./. 288 Medicina Asturiana SA, Slg. 2002 I-03901 EuGH, 7.5.2002, Rs. C-478/99 Kommission der Europäischen 102, 114–116 Gemeinschaften ./. Königreich Schweden, Slg. 2002 I-04147 EuGH, 17.9.2002, Rs. C-334/00 Fonderie Officine Meccaniche Tacconi 9, 34 SpA ./. Heinrich Wagner Sinto Maschinenfabrik GmbH (HWS), Slg. 2002 I-07357 EuGH, 19.9.2002, Rs. C-336/00 Republik Österreich ./. Martin Huber, 263 Slg. 2002 I-07699 EuGH, 1.10.2002, Rs. C-167/00 Verein für Konsumenteninformation ./. 189 Karl Heinz Henkel, Slg. 2002 I-08111 EuGH, 5.11.2002, Rs. C-208/00 Überseering ./. Nordic Construction 207, 215 Company Baumanagement GmbH, Slg. 2002 I-09919 EuGH, 21.11.2002, Rs. C-473/00 Cofidis SA ./. Jean-Louis Fredout, 113 Slg. 2002 I-10875 EuGH, 6.2.2003, Rs. C-245/00, Stichting ter Exploitatie van Naburige 298–299 Rechten (SENA) ./. Nederlandse Omroep Stichting (NOS), Slg. 2003 I-01251 EuGH, 30.9.2003, Rs. C-167/01 Kamer van Koophandel en Fabrieken 207, 215–217 voor Amsterdam ./. Inspire Art Ltd., Slg. 2003 I-10155 EuGH, 30.09.2003, Rs. C-224/01 Gerhard Köbler ./. Republik Österreich, 119, 302 Slg. 2003 I-10239 EuGH, 9.12.2003, Rs. C-116/02 Erich Gasser GmbH ./. MISAT, 227 Slg. 2003 I-14693 EuGH, 1.4.2004, Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten ./. Hofstetter, 80, 109, 113– Slg. 2004 I-03403 120, 128, 165 EuGH, 27.4.2004, Rs. C-159/02 Turner ./. Grovit, Slg. 2004 I-03565 227 EuGH, 9.9.2004, Rs. C-70/03 Kommission der Europäischen 169 Gemeinschaften ./. Königreich Spanien, Slg. 2004 I-07999 EuGH, 20.1.2005, Rs. C-464/01 Johann Gruber ./. Bay Wa AG, 228–229 Slg. 2005 I-00439 EuGH, 1.3.2005, Rs. C-281/02 Owusu ./. Jackson, Slg. 2005 I-01383 227 EuGH, 26.5.2005, Rs. C-77/04 Groupement d’intérêt économique (GIE) 231–232 Réunion européenne u. a. ./. Zurich España, Société pyrénéenne de transit d’automobiles (Soptrans), Slg. 2005 I-04509
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Rechtsprechungsverzeichnis
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65, 276 65, 276 4, 81, 233 219 211–213 240 292–293 207, 219–220 121–122, 146–147 211 265 232 242 9 20, 175, 266– 268 175, 266, 277 14 202 14 227 291–294 105
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Rechtsprechungsverzeichnis EuGH, 4.6.2009, Rs. C-243/08 Pannon GSM, Slg. 2009 I-04713 EuGH, 11.6.2009, Rs. C-529/07 Chocoladefabriken Lindt & Sprüngli AG ./. Franz Hauswirth GmbH, Slg. 2009 I-04893 EuGH, 16.7.2009, Rs. C-385/07 P Der Grüne Punkt - Duales System Deutschland GmbH ./. Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Slg. 2009 I-06155 EuGH, 3.9.2009, Rs. C-489/07 Pia Messner ./. Firma Stefan Krüger, Slg. 2009 I-07315 EuGH, 6.10.2009, Rs. C-40/08 Asturcom Telecomunicaciones SL ./. Cristina Rodríguez Nogueira, Slg. 2009 I-09579 EuGH, 15.10.2009, Rs. C-101/08 Audiolux SA e.a ./. Groupe Bruxelles Lambert SA (GBL) u. a. und Bertelsmann AG u. a., Slg. 2009 I-09823 EuGH, 19.11.2009, Verb. Rs. C-402/07 und C-432/07 Christopher Sturgeon u. a. ./. Condor Flugdienst GmbH und Stefan Böck und Cornelia Lepuschitz ./. Air France SA, Slg. 2009 I-10923 EuGH, 17.12.2009, Rs. C‑227/08 Eva Martín Martín ./. EDP Editores SL, Slg. 2009 I-11939 EuGH, 14.1.2010, Rs. C-304/08 Zentrale zur Bekämpfung unlauteren Wettbewerbs eV ./. Plus Warenhandelsgesellschaft mbH, Slg. 2010 I-00217 EuGH, 20.01.2010, C-555/07 Seda ./. Kücükdeveci, Slg. 2010 I-00365 EuGH, 3.10.2010, Rs. C-569/08 Internetportal und Marketing GmbH ./. Richard Schlicht, Slg. 2010 I-04871 EuGH, 15.4.2010, Rs. C-215/08, E. Friz GmbH ./. Carsten von der Heyden, Slg. 2010 I-02947 EuGH, 21.10.2010, Rs. C-467/08 Padawan SL ./. Sociedad General de Autores y Editores de España (SGAE), Slg. 2010 I-10055 EuGH, 28.10.2010, Rs. C-203/09 Volvo Car Germany GmbH ./. Autohof Weidensdorf GmbH, Slg. 2010 I-10721 EuGH, 9.11.2010, Rs. C-137/08 VB Pénzügyi Lízing Zrt. ./. Ferenc Schneider, Slg. 2010 I-10847 EuGH, 16.11.2010, Beschluss, Rs. C-76/10 Pohotovosť s.r.o. ./. Iveta Korčkovská, Slg. 2010 I-11557 EuGH, 17.2.2011, Rs. C-52/09 Konkurrensverket ./. TeliaSonera Sverige AB, Slg. 2011 I-00527 EuGH, 1.3.2011, Rs. C-236/09 Association belge des Consommateurs Test-Achats ASBL u. a. ./. Conseil des ministres, Slg. 2011 I-00773 EuGH, 16.6.2011, Verbundene Rs. C-65/09 Gebr. Weber GmbH ./. Jürgen Wittmer und C-87/09 Ingrid Putz ./. Medianess Electronics GmbH, Slg. 2011 I-05257 EuGH, 16.6.2011, Rs. C-462/09, Stichting de Thuiskopie ./. Opus Supplies Deutschland GmbH u. a., Slg. 2011 I-05331 EuGH, 8.9.2011, Verb. Rs. C-89/10 und C-96/10 Q-Beef NV ./. Belgische Staat und Frans Bosschaert ./. Belgische Staat u. a., Slg. 2010 I-07819 EuGH, 4.10.2011, verb. Rs. C-403/08 und C-429/08, Football Association Premier League Ltd u. a. ./. QC Leisure u. a. sowie Karen Murphy ./. Media Protection Services Ltd, Slg. 2011 I-09083
80, 122–124, 147–148 302–303 200 20, 229, 265– 270, 309 151, 247 28–29 81 260 105 81 304–305 273 295–297 241, 279 80, 123–128, 148–149, 173 128–129 199–201 5 20, 277 297 264 9
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Rechtsprechungsverzeichnis
EuGH, 17.11.2011, Rs. C-327/10 Hypoteční banka a.s. ./. Udo Mike Lindner, Slg. 2011 I-11543 EuGH, 16.2.2012, Rs. C-134/11 Jürgen Blödel-Pawlik ./. Hanse Merkur Reiseversicherung AG, ECLI:EU:C:2012:98 EuGH, 1.3.2012, Rs. C-166/11 Ángel Lorenzo González Alonso ./. Nationale Nederlanden Vida Cía. des Seguros y Reaseguros, S. A. E., ECLI:EU:C:2012:119 EuGH, 13.3.2012, Rs. C-380/09 P Melli Bank plc ./. Rat der Europäischen Union, ECLI:EU:C:2012:137 EuGH, 15.3.2012, Rs. C-292/10 G ./. Cornelius de Visser, ECLI:EU:C:2012:142 EuGH, 15.3.2012, Rs. C-453/10 Jana Pereničová und Vladislav Perenič ./. SOS financ spol. s r. o., ECLI:EU:C:2012:144 EuGH, 26.4.2012, Rs. C-472/10 Nemzeti Fogyasztóvédelmi Hatóság ./.Invitel Távközlési Zrt, ECLI:EU:C:2012:242 EuGH, 14.6.2012, Rs. C-618/10 Banco Español de Crédito SA ./. Joaquín Calderón Camino, ECLI:EU:C:2012:349 EuGH, 6.9.2012, Rs. C-619/10 Trade Agency Ltd ./. Seramico Investments Ltd., ECLI:EU:C:2012:531 EuGH, 22.1.2013, Rs. C-283/11 Sky Österreich GmbH ./. Österreichischer Rundfunk, ECLI:EU:C:2013:28 EuGH, 21.2.2013, Rs. C-472/11 Banif Plus Bank Zrt ./. Csaba Csipai, Viktória Csipai, ECLI:EU:C:2013:88 EuGH, 14.3.2013, Rs. C-415/11 Mohamed Aziz ./. Caixa d´Estalvis de Catalunya, Tarragona i Manresa, ECLI:EU:C:2013:164 EuGH, 21.3.2013, Rs. C-92/11 RWE Vertrieb AG ./. Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen e.V., ECLI:EU:C:2013:180 EuGH, 30.5.2013, Rs. C-397/11 Erika Jőrös./. Aegon Magyarország Hitel Zrt, ECLI:EU:C:2013:340 EuGH, 30.5.2013, Rs. C-488/11 Dirk Frederik Asbeek Brusse und Katarina de Man Garabito ./. Jahani BV, ECLI:EU:C:2013:341 EuGH, 31.5.2013 (Beschluss), Rs. C-373/12, GIC Cash a.s. ./. Marián Gunčaga, ECLI:EU:C:2013:362 EuGH, 27.6.2013, verb. Rs. C-457/11 bis C-460/11, Verwertungsgesellschaft Wort (VG Wort) ./. Kyocera sowie Epson Deutschland GmbH u. a. ./. VG Wort, ECLI:EU:C:2013:426 EuGH, 18.7.2013, Rs. C-313/11 Europäische Kommission ./. Republik Polen, ECLI:EU:C:2013:481 EuGH, 19.9.2013, Rs. C-435/11 CHS Tour Services GmbH ./. Team4 Travel GmbH, ECLI:EU:C:2013:574 EuGH, 3.10.2013, Rs. C-32/12 Soledad Duarte Hueros ./. Autociba SA und Automóviles Citroen España SA, ECLI:EU:C:2013:637 EuGH, 16.1.2014, Rs. C-226/12 Constructora Principado SA ./. José Ignacio Menéndez Álvarez, ECLI:EU:C:2014:10 EuGH, 3.4.2014, Rs. C-438/12 Irmengard Weber ./. Mechthilde Weber, ECLI:EU:C:2014:212 EuGH, 21.5.2015, Rs. C-352/13 Cartel Damage Claims (CDC) Hydrogen Peroxide SA ./. Akzo Nobel NVC u. a., ECLI:EU:C:2015:335
123, 153, 286 182 274 73 287 37, 105–107, 249 101, 129–131, 138–141 148–153, 189 188 81, 171 132, 148 2, 74, 88, 132– 136, 143, 151– 152, 189, 317 97, 136–142, 188–191 147–148 8, 131, 147, 153 176 297 236 257 90, 189, 283– 284 134, 142–144 227–228 230
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Rechtsprechungsverzeichnis
Gericht der Europäischen Union (vormals Gericht Erster Instanz) EuG, 9.4.2003, Rs. T-224/01 Durferrit GmbH ./. Harmonisierungsamt für den Binnenmarkt, Slg. 2003 II-01589 EuG, 24.5.2004, Rs. T-154/01 Distilleria F. Palma SpA ./. Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Slg. 2004 II-01493 EuG, 13.9.2005, Rs. T-140/02 Sportwetten GmbH Gera ./. Harmonisierungsamt für den Binnenmarkt, Slg. 2005 II-03247 EuG, 8.5.2007, Rs. T-271/04, Citymo SA ./. Kommission der Europäischen Gemeinschaften, 2007 II-01375
302 73 302 68, 264
Bundesgerichtshof (Deutschland) BGH, 25.11.1958, Az. VIII ZR 151/57, NJW 1959, 380 BGH, 2.12.1982, Az. III ZR 90/81 (juris) BGH, 2.5.2002, Az. VII ZR 178/01 (juris) BGH 18.10.2004, Az. II ZR 352/02 (juris) BGH, 22.12.2004, Az. VIII ZR 91/04, NJW 2005, 1045 BGH, 17.10.2006 Az. XI ZR 205/05 (juris) BGH, 29.4.2010, Az. Xa ZR 101/09, RRa 2010, 191 BGH 4.3.2010, Az. III ZR 79/09 (juris) BGH, 3.11.2010, Az. VIII ZR 337/09 (juris) BGH, 9.2.2011, Az. VIII ZR 162/09 (juris) BGH, 14.4.2011, Az. I ZR 133/09, NJW 2011, 2653 BGH, 5.9.2012, Az. VII ZR 25/12, IHR 2013, 35 BGH, 7.3.2013, Az. VII ZR 162/12 (juris)
36 156 114 282 20, 35, 229, 281 282 159–160, 179 119 269 137 257 291 119, 167
Oberlandesgerichte (Deutschland) OLG Karlsruhe, 19.4.2001, Az. 4 U 83/00 (juris) OLG Dresden, 29.9.2011, Az. 8 U 562/11 und 8 U 0562/11 (juris) OLG Hamm, 29.3.2012, Az. 28 U 147/11 (bei juris) OLG Frankfurt, 28.2.2013, Az. 16 U 86/12, NJW-RR 2013, 829
114 184 281 160
Cour de Cassation (Frankreich) Cour de Cassation, 6.3.1876, zitiert nach: Terré/Lequette, Les grands arrêts de la jurisprudence civile – Canal de Craponne, S. 409 f. Cour de Cassation, 3.8.1915, N° de pourvoi 00-02378 () Cour de Cassation, 16.3.2004, N° de pourvoi: 01-15804 () Cour de Cassation, 29.6.2010, N° de pourvoi 09-67.369, Dalloz 2010, 2481
41 40 42 42
346
Rechtsprechungsverzeichnis
Cours d’Appel (Frankreich) Cour d’Appel d’Aix-en-Provence, 20.11.2008, N° 2008/418 () Cour d’Appel de Paris, 10.12.2010, N° 08/14529 ()
162 162
Oberster Gerichtshof (Österreich) OGH, 17.12.2012, 4 Ob 164/12i ()
161
Supreme Court (vormals House of Lords; Vereinigtes Königreich) House of Lords, Carter v. Boehm [1766] 97 ER 1162, 1164 House of Lords, Walford v. Miles [1992] 1 All ER 453, 460 House of Lords, Manifest Shipping Co Ltd v. Uni-Polaris Shipping Co Ltd, [2001] UKHL 1 House of Lords, Director General of Fair Trading v. First National Bank, [2001] UKHL 52
43 45 44 48
Court of Appeal (Vereinigtes Königreich) Court of Appeal, Chapman v. Honig [1963] 2 Q.B. 502, 520 Court of Appeal, Rossetti Marketing Ltd und Solutions Marketing Ltd ./. Diamond Sofa Company Ltd, [2012] EWCA Civ 1021
44 280
High Court (Vereinigtes Königreich) High Court, Rossetti Marketing Ltd und Solutions Marketing Ltd ./. Diamond Sofa Company Ltd, [2011] EWHC 2482 High Court of Justice, Yam Seng Pte Limited, [2013] WL 128777
280 46
Sachverzeichnis Abbruch von Vertragsverhandlungen 45– 47, 56, 60, 202, 264 abus de droit 40, 53 Acquis communautaire – als Maßstab der Klauselkontrolle 59, 71, 171–173 Acquis-Principles 54, 59–61 Angemessenheit 58, 72–75, 255, 298, 317 Äquivalenzgrundsatz 21, 148, 151–152 Bauträgervertrag 114, 142 Beibringungsgrundsatz 148–150 Belgien 51, 53 berechtigte Erwartungen 31, 41, 60, 70– 71 – Produkthaftungsrichtlinie 288 – Verbrauchsgüterkaufrichtlinie 288– 289 Berufliche Sorgfalt – Gesetzesverstoß 107, 247–248, 252, 318 Billigkeit 72, 290–295 Bösgläubigkeit – eu-Domain-Verordnung 304–305 – Markenrecht 302–304 Bulgarien 51 Canal de Craponne-Entscheidung 41–42 CLAB-Datenbank 72, 180, 322 Common European Sales Law siehe Gemeinsames Europäisches Kaufrecht culpa in contrahendo 56, 64–65 Dänemark 51 Darlehensvertrag 125, 128–129, 132 Datenschutzrichtlinie 300–301 Draft Common Frame of Reference 126– 127 Dual Use-Verträge 228–229
Durchschnittsverbraucher 71, 253, 260 Durchsetzungsrichtlinie 204 Effektivitätsgrundsatz 2, 21, 133, 140, 148, 151, 187 Estland 51 Europäisches Privatrecht 12–13 fair and open dealing 49–50, 190, 254 Fairness 70, 142, 317–318 Fallgruppen – Auswahl 31–33 Fernabsatzverträge 181, 260–261 Finnland 51 First National Bank 48–50, 280 fraude à la loi siehe Gesetzesumgehung Freiburger KommunalbautenRechtsprechung 114–124, 191 Gemeinsames Europäisches Kaufrecht – Definition von Treu und Glauben 62 – Gesetzgebungsverfahren 61, 63–64 – Klauselkontrolle 197–198 – Schadensersatzanspruch 63 Gemeinschaftsprivatrecht siehe Unionsprivatrecht Gemeinschaftsrecht siehe Unionsrecht Gemeinschaftstreue siehe Unionstreue Gerichtsstandsklausel 111, 122–125, 226 Gesetzesumgehung 67–68, 78–79, 208– 209 gesunder Menschenverstand 66, 75 Griechenland 52 Grundfreiheiten – Export und Reimport 209–213 – Sitztheorie 216 – Steuervermeidung 218–220 – Umgehung nationalen Rechts 208–209 – Wegzugsfälle 214–218
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Sachverzeichnis
– Zuzugsfälle 207, 214–218 Grundrechtecharta 136, 203 Grundsätze des bürgerlichen Rechts 20, 265, 270, 276 Grundsätze des Zivilrechts siehe Grundsätze des bürgerlichen Rechts Handelsvertreterrichtlinie – Ausgleichsanspruch nach Billigkeit 290–295 – besondere Interessenwahrungspflicht 243 – Provisionsanspruch 242 – Vertragszielförderung 241 Hinzurechnungsbesteuerung 219 Individualvereinbarung – hypothetische 132–136, 145, 167, 217 Induktionsschluss – Zulässigkeit 32, 76, 254–255, 272 Insidergeschäfte 206–207 Internationales Zuständigkeitsrecht – anti-suit injunctions 227–228 – forum non conveniens 227–228 – Schriftform von Gerichtsstandsvereinbarungen 225–226 – Torpedoklagen 226–228 – Zuständigkeitserschleichung 230–232 Irland 52 Italien 52 Kartellrecht – Behinderungsmissbrauch 201–202 – Koppelungsgeschäfte 199 – Preis- und Konditionenmissbrauch 199 Klauselrichtlinie – Anwendungsbereich 83–85 – einseitige Klauseln 170 – erhebliches Missverhältnis 86–89 – Erwägungsgründe 97–100 – Individualklauseln 94–95 – Informationsgefälle 84 – Kompensationseffekt 95, 141, 145 – Konkretisierungsmaßstab 93–104 – Konkretisierungszuständigkeit 89–93, 166–170 – prozessuale Gewährleistung
– amtswegige Tatsachenermittlung 148–150 – Verbot geltungserhaltender Reduktion 152–153, 155 – Zwangsvollstreckung 151–152 – Richtlinienanhang – Bindungswirkung 100–102 – Gehalt 102–104 – Summierungseffekt 95 – Transparenzgebot 81, 96, 128–131, 139–145, 182–184 – und Wettbewerbsrecht 104–109 konzerninterne Verlustverrechnung 219 Kroatien 52 Lettland 52 Litauen 52 Luxemburg 52 Malta 52 Marktmanipulation 206 Marktmissbrauch 206–207 Mobilfunkvertrag 121–122 Niederlande 52 Österreich 52 pacta sunt servanda 47, 102–104, 184– 187 Pauschalreiserichtlinie 164, 184, 193 PECL siehe Principles of European Contract Law Polen 52 Portugal 52 Preisänderungsklauseln 136–142 Principles of European Contract Law 49, 54, 56–59, 74 Principles of Existing EC Contract Law siehe Acquis-Principles Produkthaftungsrichtlinie 71, 288 reasonableness 47, 75, 322 Rechte von Minderheitsaktionären 220– 223 Rechtsmissbrauch 66–69, 204–207, 234– 236, 317 – Außen- und Innentheorie 213, 223– 224
Sachverzeichnis
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– und Betrug 235 – in Frankreich 40 Rechtsvergleichung 37–53, 55–56 – als Maßstab der Klauselkontrolle 173– 180 Richtlinie über Märkte für Finanzinstrumente (MiFiD) 244–245 Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken – berufliche Sorgfalt 246–249, 318 – Generalklausel 246–253 – schwarze Liste 254–256 Rumänien 53
– Entwicklung 5 – fragmentarischer Charakter 3 – und nationales Recht 7 – übergreifende Prinzipien 26–28 Unionsrecht – Begriff 12–13 Unionstreue 236–237 Unterhaltsverordnung – missbräuchliche Beantragung von Prozesskostenhilfe 204–205 Urheberrrechtsrichtlinie – angemessene Vergütung 295, 297–299 – gerechter Ausgleich 295–297
Schweden 53 Sorgfaltspflichten von Behörden 286–288 Spanien 53
venire contra factum proprium 41, 229, 236, 262, 271, 281 Verbraucherkreditrichtlinie 192–193 Verfallsklauseln bei Flugreisen 156–165 – Deutschland 159–161 – Frankreich 162–163 – Österreich 161–162 – Spanien 163 Verhältnismäßigkeit 72–75, 134–135, 190, 193, 317 Verhandlungspflichten 42, 285, 318 Vernünftigkeit 58, 75, 322 Vertragsfreiheit 9–10, 78, 80–81, 171 Vertragstreue 41, 103–104, 135 Verwirkung 69 – des Ausgleichsanspruchs des Handelsvertreters 279–280 – Bindung des Staates 262–264 – von Verbraucherrechten 264–278 Vorverständnis 31, 33–35
Transparenzgebot 81, 139–145, 182–184 Treu und Glauben – als allgemeiner Grundsatz des Unionsprivatrechts 24, 28–31 – Auslegung und Anwendung 21–23, 120 – als Billigkeitsnorm 24–26 – in Deutschland 38–40 – in Frankreich 40–43 – funktionale Äquivalente 9, 21, 77, 290 – Generalklausel 14–17 – im Vereinigten Königreich 43–50 – verwandte Maßstäbe 65–75 – im Völkerrecht 13–14 – im Vorabentscheidungsverfahren 18– 23 – Wortlaut 33–35 – als zugrundeliegendes Prinzip 8, 17– 18 Tschechien 53 Umgehungsverbote 78–79 Umkehrung der gesetzlichen Leistungsreihenfolge 119 Unionsprivatrecht – allgemeiner Teil 1–3 – Anwendungsbereich 5
Wegfall der Geschäftsgrundlage – in Deutschland 39 – in Frankreich 41–42 Wertpapierdienstleistungsrichtlinie 244– 245 Widerrufsrechte 29–30, 266–272 Wieacker, Franz 27–28, 39 Zahlungsverzugsrichtlinie 194–196