Zwischen Philosophie und Kunstgeschichte: Beiträge zur Begründung der Kunstgeschichtsforschung bei Hegel und im Hegelianismus 9783846743492, 9783770543496, 3770543491

Bislang wurde die durch Hegels Ästhetik angeregte Kunstgeschichtsschreibung global als eine in sich ungeschichtliche Übe

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Zwischen Philosophie und Kunstgeschichte: Beiträge zur Begründung der Kunstgeschichtsforschung bei Hegel und im Hegelianismus
 9783846743492, 9783770543496, 3770543491

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Annemarie Gethmann-Siefert . Bemadette Collenberg-Plotnikov (Hrsg.) Zwischen Philosophie und Kunstgeschichte

Bernadette Collenberg-Plotnikov and Annemarie Gethmann-Siefert 978-3-8467-4349-2

HEGELFORUM

herausgegeben von

ANNEMARIE GETHMANN-SIEFERT MICHAEL QUANTE ELISABETH WEISSER-LOHMANN

Bernadette Collenberg-Plotnikov and Annemarie Gethmann-Siefert 978-3-8467-4349-2

Annemarie Gethmann-Siefert . Bemadette Collenberg-Plotnikov (Hrsg.)

Zwischen Philosophie und Kunstgeschichte Beitdige ZUf Begriindung def Kunstgeschichtsfofschung bei Hegel und im Hegelianismus

Wilhelm Fink Bernadette Collenberg-Plotnikov and Annemarie Gethmann-Siefert 978-3-8467-4349-2

Bibliografische Infonnation der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet die se Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet iiber http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Ubersetzung, vorbehalten. Dies betriffi auch die Vervielfaltigung und Ubertragung einzelner Textabschnitte, Zeichnungen oder Bilder durch alle Verfahren wie Speicherung und Ubertragung aufPapier, Transparente, Filme, Bander, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdriicklich gestatten.

© 2008 Wilhelm Fink Verlag, Miinchen (Wilhelm Fink GmbH & Co. Verlags-KG, JUhenplatz 1, D-33098 Paderborn) Internet: www.fink.de Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, Miinchen Lektorat und Druckvorlagenerstellung: Gerd Harrie Herstellung: Ferdinand Schoningh GmbH & Co. KG, Paderborn ISBN 978-3-7705-4349-6 Bernadette Collenberg-Plotnikov and Annemarie Gethmann-Siefert 978-3-8467-4349-2

Vorwort Die Beitrage des vorliegenden Bandes entstanden im Rahmen des im forum philosophicum der FemUniversitat in Hagen durchgefiihrten wissenschaftlichen Kolloquiums Zwischen Philosophie und Kunstgeschichte, das durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft gefOrdert wurde. Durch die Beitrage dieser Forschungstagung, die zum Teil im vorliegenden Band, zu einem weiteren Teil in einer derzeit vorbereiteten dreiMndigen Studie zu Kunst als Kulturgut publiziert werden, gelingt es, die Forschungsergebnisse, die im Rahmen unseres Forschungsschwerpunktes zur Asthetik des Deutschen Idealismus an der FemUniversitat in Hagen erarbeitet wurden, in eine neue Richtung und durch die Integration bislang ausgeblendeter Aspekte zu erweitem. Auch im Namen der Teilnehmer des Kolloquiums danken wir der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der FemUniversitat in Hagen fUr die Ermoglichung dieser Diskussionen und die Unterstiitzung unserer Forschung.

Hagen im November 2007 A. Gethmann-Siefert

B. Collenberg-Plotnikov

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Inhaltsverzeichnis

Einleitung............................................................................................ .........

1.

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DIE KULTURELLE FUNKTION DER KUNST

Elisabeth Weisser-Lohmann Der Staat und die Kunst. Zur öffentlichen Funktion der Kunst bei Hegei................................

19

Giuseppe Cantillo Hegel: Die Kunst als ,lebendiges Wissen' in der Jenaer Philosophie des Geistes und in den Vorlesungen über die Asthetik.........................................

35

Jean-Louis Vieillard-Baron Kunstreligion und Geschichte zwischen der Phänomenologie des Geistes und der Enzyklopädie von 1817 ..... ..... ........ .................... ..................

51

Erzsebet Rozsa Versöhnung in und durch Kunst? Die Grenzen der Versöhnung in Hegels Kunstphilosophie von 1823 ................................ ..............

67

H.

HISTORISCHE QUELLEN ZUM VERHÄLTNIS VON ÄSTHETIK UND KUNSTGESCHICHTE

Sandor Radnoti Schellings Kunstphilosophie und das Winckelmannsche Erbe.........

99

Irmgard Siebert Jacob Burckhardts Konzeption einer historisch fundierten Kunstgeschichtsschreibung .................... 107 Bemadette Collenberg-Plotnikov Philosophische Grundlagen der Kunstgeschichte als historischer Wissenschaft im Hegelianismus. Zu Hothos Vorlesung über die Ästhetik von 1833 ............................ 121

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INHALTSVERZEI CHNIS

Francesca Iannelli (Hrsg.) Zwei Briefe Heinrich Gustav Hothos an Friedrich Theodor Vischer (1845 und 1855) sowie ein Brief F. Th. Vischers an Kuno Fischer (1849) aus der Universitätsbibliothek Tübingen .......................................... 149 Jeong-Im Kwon Nachwirkungen der Hegeischen Ästhetik im Kunstverständnis und in der Methodik der Kunstgeschichte ............................ ..... ....... 167

III.

HISTORlZIT Ä T VERSUS KONSTRUKTIVIT Ä T: "SPEKULATIVE KUNSTGESCHICHTE" UND KUNSTKRITIK

Lu Oe Vos Von der spekulativen Logik des Ideals zu Hothos Schematismus der Triplizität. Erläutert anhand der Skulptur in Hegels Vorlesungen über Kunstphilosophie, Hothos Ästhetik (1833) und ,Hegels' Ästhetik ................................. 191 Francesca Iannelli Das Hässliche: ein Lapsus oder das Ferment der Differenzierung? Zu F.Th. Vischers Diskussion mit H.G. Hotho ................................. 205 Takako Shikaya Hegels Konzeption der Architektur in der Ästhetik-Vorlesung von 1823 im Vergleich mit den späteren Vorlesungen und der Rezeption im Hegelianismus ... ................. ........................... 229 Karsten Berr Carus und Hegel über Landschaftsmalerei. Landschaftsästhetik nach dem ,Ende' der Landschaftsmalerei ........ 243 Alain Patrick Olivier L'aporie de Don Juan. Notes sur Hegel, Hotho et Kierkegaard ............................................ 257 Claudia Melica Der Begriff der Liebe in Hegels Bestimmung der romantischen Kunst............. .................. 269

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INHALTSVERZEICHNIS

IV.

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ANHANG

Die Autoren ................................................................................................. 283

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Einleitung Die Forschungen zu Hegels Berliner Asthetik-Vorlesungen konnten in den letzten Jahren nicht nur ein neues Licht auf Hegels eigene Philosophie der Kunst werfen, sie motivierten zugleich dazu, die umstrittenen Einfliisse Hegels und der Hegel-Schiiler auf die Entwicklung der Kunstgeschichte naher zu untersuchen. Hegels Anspruch, mit der philosophischen Bestimmung der Kunst zugleich die Theorie der Kiinste, eine fundierte Kunstkritik und vor allem eine Geschichte der Kiinste vorzulegen, fiihrt bei seinen Schiilem zunachst zum Versuch, eine "spekulative Kunstgeschichte" zu entwickeln, die der in den Anfangen steckenden historischen Betrachtung der Kunst entgegengesetzt, ja auf Grund ihres iiberzogenen Anspruchs unterlegen zu se in scheint. Jedenfalls wird - folgt man der gangigen Einschatzung - dann diese Art der Kunsthistorie im Laufe der Zeit untergehen und ihre Bedeutung allenfalls noch im historischen Riickblick auf verfehlte und langst verbesserte Anfange haben. Diese Betrachtung verliert allerdings eine ganze Reihe interessanter Facetten aus dem Blick, die erst in der aktuellen theoretischen Debatte urn Ansatze und Ausrichtungen der Kunstgeschichte - als Kiinstler-, als Werk- oder als Bildgeschichte - wieder aufleben. Eine Integration solcher unterschiedlicher Facetten scheint hi er und heute kaum erreichbar, war aber auf dem Hintergrund der anfanglichen philosophischen Fundierung der Kunstgeschichte - trotz all er Sonderlichkeiten - zumindest nicht ausgeschlossen. Ursache und Grundlage der Diskussion urn Bedeutung und Gestaltung der Kunstgeschichte war insbesondere im Umkreis und in den Weiterfiihrungen der Hegelschen Asthetik die Bestimmung der kulturellen Funktion der Kunst. Diese Grundlage wurde bei den unmittelbaren und mittelbaren Hegel-Schiilem zu einem methodischen Konzept der Kunstgeschichte fortentwickelt, das zumindest dem Anspruch nach die unterschiedlichen Facetten der aktuellen Debatten aus einer einheitlichen Wurzel herzuleiten verrnochten. Hegel erlautert diese gemeinsame Wurzel, das "Bediirfnis nach Kunst", in seinen Berliner Asthetik-Vorlesungen durch den - fiir heutige Ohren provokanten - Hinweis, Kunst konne dem Menschen sein geschichtliches Selbstbewusstsein durch die Erfahrung seiner ureigenen Moglichkeiten als vemiinftiges und freies Wesen verrnitteln und zwar durch "reflektierten Genuss". Diese vorderhand unscheinbare Bemerkung hat - setzt man sie in den Kontext sowohl der Hegelschen Philosophie der Kunst als auch der Hinweise, die Hegel selbst, seine Zeitgenossen und insbesondere die Hegelianer aus diesen Uberlegungen entnehmen, erstaunliche Weiterungen. So geht es nicht nur darum, die Kunst vergangener Zeiten durch diesen systematischen Schliissel zuganglich zu machen und der historischen Betrachtung einen systematischen Leitfaden zu geben, zugleich fiihrt diese These dazu, der Kunst im offentlichen Raum ihren Ort zu sichem. Eine Erschlief3ung der zeitgenossischen Kunst durch eigene Bernadette Collenberg-Plotnikov and Annemarie Gethmann-Siefert 978-3-8467-4349-2

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EINLEITUNG

Institutionen des Ausstellungswesens, die Prasentation vergangener Kunste in Museen und nicht zuletzt die historisch-wissenschaftliche Erschliel3ung der Kiinste spielen in einem solchen reflektierten Genuss zusammen. Mit dem Erwachen des historischen Bewusstseins wird der namliche "reflektierte Genuss" quasi automatisch zum Anknupfungspunkt fur eine weitergehende, differenzierte Reflexion, sc. die historische Selbstvergewisserung durch Sammlung von Exempeln, Anhaufung aller nur erreichbaren Kenntnisse uber Kunst sowie eine damit notwendig werdende Strukturierung dieser Kenntnisse. Hegel selbst nimmt diese Strukturierung durch eine grundlegende Bestimmung der kulturellen Funktion der Kunste im Blick auf Vergangenheit wie Gegenwart vor, seine SchUler, aber auch entfemter stehende Rezipienten seiner Gedanken nutzen sie fur die Ausbildung einer Kunstgeschichte. Durch diesen allgemeinen Rahmen, die Analyse der Offentlichen Funktion der Kunst, die E. Weisser-Lohmann in ihren Uberlegungen Der Staat und die Kunst naher analysiert, lasst sich von philosophischen Reflexionen eine Brucke zur realen kulturpolitischen Einbettung der Kiinste in das offentliche Leben schlagen. Grundlage dieser Uberlegungen ist - so Guiseppe Cantillo Hegels Annahme, die Kunst sei "Lebendiges", iiber die Anschauung vermittelt jedermann zugangliches Wissen, wie Hegel es seit seiner Jenaer Philosophie des Geistes bis in die V orlesungen zur Asthetik entwickelt hat. Die zunachst scheinbar unlosbare Verkniipfung von Kunst, Religion und Geschichte analysiert Jean-Louis Vieillard-Baron in seinem Beitrag Religion und Geschichte ausgehend vom Abschluss der Jenaer Reflexionen Hegels in der Phiinomenologie des Geistes bis zur systematischen Grundkonzeption nicht nur seiner gesamten Philosophie, sondem ebenfalls der Asthetik in der Enzyklopiidie. Erzsebet Rozsa geht auf die spezifische Bedeutung der Kunst in der Modeme, des in ihr vermittelten "lebendigen Wissens" fur den Burger eines modemen Staates ein, indem sie den fur Hegel zentralen Begriff philosophischer Leistungsfahigkeit, namlich den der "Versohnung", auf die Kunst anwendet und sowohl Chancen als auch "Grenzen der Versohnung" aufdeckt, wie Hegel sie in seiner Philosophie der Kunst fur die spezifische gesellschaftliche Rolle der Kiinste festgelegt hat. Insgesamt urnreil3en die Uberlegungen im ersten Teil dieses Bandes das gesamte Spektrum kultureller Moglichkeiten der Kunst, wie es Hegel in seiner Philosophie der Kunst erOffnet. Zugleich zeigt sich die Verwiesenheit, die Herausforderung zu weitergehenden Uberlegungen uber die Kunst, deren ein "reflektierter Genuss" in der modemen aufgeklarten Welt bedarf - mit Hegel: jener Welt, die seither durch das "Bediirfnis nach Vemunft" gepragt ist. Die grundlegende Bestimmung der kulturellen Rolle der Kunste motiviert und fordert geradezu ihre historische Erschliel3ung als ein Element eines zureichenden Kunstvollzuges. Dieser Aufgabe widmen sich die Beitrage im zweiten Teil des vorliegenden Bandes durch eine Analyse der "historischen Quellen zum Verhaltnis von Asthetik und Kunstgeschichte". Diese Quellen der historischen Erschliel3ung Bernadette Collenberg-Plotnikov and Annemarie Gethmann-Siefert 978-3-8467-4349-2

EINLEITUNG

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der Ktinste liegen zunachst nicht allein in der Hegelschen Philosophie der Kunst, sondern vorbereitend - wie Sandor Radn6ti zeigt - in Schellings Versuch, die Winkelmannschen Kunstcharakteristiken als Vorstufe historischer Analyse fUr die Kunstphilosophie fruchtbar zu machen. Der in der Entwicklung der Kunstgeschichtsschreibung nachste Schritt, namlich der Versuch der historischen Fundierung der Kunstgeschichtsschreibung, den Irmgard Siebert an Jacob Burckhardts Konzeption der Kunstgeschichte erortert, stellt jene Alternative zur hegelianisierenden "spekulativen Kunstgeschichte" dar, die bis in die Gegenwart als Irrweg und Irrtum abgetan wird. Bernadette CollenbergPlotnikov hat in einer Reihe historischer Arbeiten und Studien gerade fUr dieses Konzept der spekulativen Kunstgeschichte nicht nur die kritikbedtirftigen Aspekte, sondern zugleich die Moglichkeiten herausgearbeitet, die der an Hegel orientierte Ansatz fUr eine Integration unterschiedlicher Ansatze und Konzepte der Kunstgeschichte erOffnet. In ihrem Beitrag zu Hothos V orlesung zur Asthetik aus dem Jahre 1833, in der dieser das kunstphilosophische Konzept seines Lehrers Hegel fortsetzt und zugleich in Richtung auf die Kunstgeschichte erweitert, gibt sie sowohl einen Hinweis zu den philosophischen Grundlagen, als auch zu den Moglichkeiten, die Kunstgeschichte als historische Wissenschaft zu konzipieren. Die Debatte um diese Moglichkeiten dokumentieren die Diskussionen zwischen Heinrich Gustav Hotho und Friedrich Theodor Vischer sowie zwischen Vischer und Kuno Fischer, die Francesca Iannelli durch die Edition und Analyse herausgegriffener Beispiele des Briefwechsels beider vorstellt. Die Nachwirkungen der Hegelschen Asthetik "im Kunstverstandnis und in der Methodik der Kunstgeschichte" stellt Jeong-Im Kwon heraus mit dem Interesse, die vorderhand kritische Einstellung zur Hegelschen Tradition differenzierter zu erschlieBen. Sowohl fUr das Kunstverstandnis als auch fUr die Methodik der Kunstgeschichte lassen sich in der gegenwartigen Diskussion (oft nicht eigens thematisierte) Anleihen bei der Hegelschen Asthetik feststellen, die fUr die historischen und kunstkritischen Analysen selbst der zeitgenossischen Moderne maBgeblich bleiben. Eine nahere Analyse dieser Anleihen, die Frage nach ihrer Fruchtbarkeit und Grenze wird in den Beitragen im dritten Teil des Bandes durch die Diskussion unterschiedlicher Aspekte des Verhaltnisses der "spekulativen", an der Hegelschen Asthetik orientierten Kunstgeschichte zur Kritik der Ktinste erarbeitet. Auch hi er bleibt es nicht bei einer Konzentration auf Hegels Asthetikvorlesungen, sondern es wird wiederum der Ausblick einmal auf die We iterfUhrungen der Hegel-Schtiler, zum anderen aber auch auf interne Korrekturen der Einschatzung der Ktinste und der Kunstgestaltung versucht. In seinen Uberlegungen zur Skulptur analysiert Lu De Vos sowohl Hegels Vorlesungen tiber die Philosophie der Kunst als auch die von Heinrich Gustav Hotho 1833 nach Hegels Tod tibernommene und weitergefUhrte Vorlesungsreihe im Blick auf die nach 1835 durch Hotho fertig gestellte Druckfassung der Hegelschen Asthetik. Im Mittelpunkt steht hi er die kritische Absetzung der Hegelschen Bestimmung des "Ideals" von der durch seinen Schtiler Hotho Bernadette Collenberg-Plotnikov and Annemarie Gethmann-Siefert 978-3-8467-4349-2

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EINLEITUNG

vorgenommenen Systematisierung im Sinne eines dialektischen Schematismus. Hothos Integration seiner eigenen schematischen Konzeption in die Druckfassung der Asthetik erschwert die gegenwartige philosophische Auseinandersetzung mit Hegel erheblich. Ein wesentlicher inhaltlicher GesichtspUnkt ist die Pravalenz der schOnen Kunst, von der Hotho weder in seiner eigenen Vorlesung zur Asthetik (I833) noch in seinen sonstigen Publikationen, aber auch nicht in der Druckfassung der Hegelschen Asthetik abweichen mag. Francesca Iannelli stellt dagegen heraus, dass einerseits in Hegels Asthetik systematisch gerechtfertigt durch die Uberlegungen der Enzyklopadie aus den Jahren 1827 und 1830 - dem Hasslichen eine wesentliche Bedeutung fur die Kunst der Gegenwart zuerkannt wird. Die Abschattung und Verringerung der Bedeutung des Hasslichen in der nach-hegelschen Diskussion lasst sich an der Auseinandersetzung des Enkel-Schiilers Hegels, Friedrich Theodor Vischer, mit seinem unmittelbaren Lehrer Hotho dokumentieren. Wahrend selbst die Hegelianischen Konzepte einer "Asthetik des Hasslichen" dieses nur als Gegenpol zur Schonheit begreifen konnen (wie z.B. Karl Rosenkranz in seiner Asthetik des Hasslichen) fordert Vischer in direkter Auseinandersetzung mit Hotho zunachst, man miisse dem Hasslichen einen eigenen Stellenwert einraumen, gibt dieses Konzept aber im Laufe der Entwicklung seiner eigenen Asthetik auf. Anders als in der Entwicklung der Hegelschen Asthetik-Vorlesungen in den Jahren zwischen 1820121 und 1828/29 herrscht hier eher die Diskontinuitat zur Kunstphilosophie Hegels vor, wahrend dieser selbst seine Uberlegungen in standiger Auseinandersetzung mit der Kunst seiner Zeit fortentwickelt hat. Dadurch gewinnen in der Hegelschen Asthetik insbesondere die Kiinste der Erhabenheit und damit vorbereitend auch die nicht-mehr-schonen Kiinste in der modernen Welt dieselbe Relevanz wie sie die schonen Kiinste fur die Welt der griechischen Antike hatten. Takako Shikaya dokumentiert dies an Hegels Konzeption der Architektur, Karsten Berr durch eine Analyse der Landschaftsmalerei, einer im zeitgenossischen Hegelschen Kunstbetrieb vorderhand nicht sonderlich geschiitzten Sparte der Malerei. Diskrepanzen in der Einschiitzung der Kiinste, die Hegel unter den Blick der Ermoglichung eines "reflektierten Genusses", damit der Bildung eines geschichtlichen Selbstbewusstseins analysiert zu nachfolgenden Einschatzungen weist Alain Patrick Olivier an der Rezeption des Don Juan bei Hegel, Hotho und Kierkegaard nach, Claudia Melica an der Einschiitzung der Bedeutung der Liebe in der romantischen Kunst. Insgesamt gehen die Uberlegungen, die der vorliegende Band als Beitrage zur Begriindung der Kunstgeschichtsforschung bei Hegel und im Hegelianismus zusammenfasst, nicht nur davon aus, dass man mit dies en Uberlegungen einem historischen, also eher wissenschaftsgeschichtlichen Anspruch geniigen konne. Zugleich wird der Versuch unternommen, diese philosophisch motivierten und fundierten Versuche zur Konzeption der Kunstgeschichte nicht nur - wie iiblich - in ihren Schwachen, sondern auch hinsichtlich vergessener Chancen der historisch-kritischen Selbstbesinnung einer rein positivistisch Bernadette Collenberg-Plotnikov and Annemarie Gethmann-Siefert 978-3-8467-4349-2

EINLEITUNG

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vorgehenden Geschichte der Kiinste einzuschatzen. Unter dieser Perspektive erweist si ch die haufig geschmahte "spekulative Kunstgeschichte" - projiziert man sie auf ihre Hegelschen Grundlagen zurUck - als die in der gegenwartigen Diskussion gesuchte und vermisste Integration der unterschiedlichen Facetten der Kunstgeschichtsschreibung. Hagen, den 14. November 2007 Annemarie Gethmann-Siefert

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I. DIE KULTURELLE FUNKTION DER KUNST

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ELISABETH WEISSER-LoHMANN

Der Staat und die Kunst. Zur offentlichen Funktion der Kunst bei Hegel' Platons These, die Anderung der "Gesetze der Musik" komme einer Anderung der "burgerlichen Ordnung" gleich, hat Konsequenzen fur die Stellung der Kunst in Platons Staats, insbesondere fur die Funktion der Kunst im Erziehungsprogramm der Wachter: Die in der Kunst erOffnete Welterfahrung ist auf die vom Staat gewtinschte Charakterbildung zu verpflichten. Platons systematische Einheit von Ethik, Politik und Asthetik wird zwar bereits von Aristoteles aufgegeben, Nachklange finden sich bei den Nachfolgern aber auch dort, wo der Kunst eine zwar systematisch eigenstandige Erkenntnisleistung zugesprochen wird, diese aber als erzieherisches Potential fur das Allgemeine fruchtbar gemacht wird. Unter dem Einfluss der Querelle reflektiert Hegel die fur das antike Gemeinwesen konstitutive Funktion der Kunst vor dem Hintergrund der modernen sich ,autonom' begreifenden Kunst. Widerspruchlich sind Hegels fruhe Aussagen zum Verhaltnis von Kunst, Religion und Sittlichkeit. Im Brief an Schelling klagt Hegel 1795 etwa 1: "Religion und Politik haben unter einer Decke gespielt, jene hat gelehrt was der Despotismus wollte". Neben der Forderung nach politischer Entmachtung von Kirche und Religion findet sich schon fruh die Einsicht der Unverzichtbarkeit der "Poesie als Lehrerin der [ ... ] Menschheit" und der "sinnlichen Religion"2: "N icht nur der groBe Haufen auch der Phil[ osoph] bedarf ihrer. Monotheismus der Vern[nunft] u[nd] des Herzens, Polytheismus d[e]r Einbildungskraft u[nd] der Kunst, dis ists, was wir bedurfen!" In seinem Systementwurf des Jahres 1805/6 bindet Hegel die Darstellung von Kunst, Religion und Spekulation zuruck an die Entwicklung der "Constitution".' Es ist der Versuch Hege\s die platonische Einheit fur den eigenen Ansatz zuruckzugewinnen. Auch die Phdnomen%gie des Geistes teilt dieses Anliegen, wenn Hege\ die Gestalten der sich politisch-gesellschaftlich artikulierenden Sittlichkeit als "Geist" fasst. 4 Uber die Jenaer Vorlesung "Natur-

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Der Beitrag wurde bereits veriiffentlicht in: Kulturpolitik und Kunstgeschichte. Perspektiven der Hegelschen Asthetik. Hrsg. von U. Franke und A. Gethmann-Siefert. Hamburg 2005 (Zeitschrift fur Asthetik und Allgemeine Kunstwissenschaft. Sonderheft), S. 23-36. Briefe von und an Hegel. 4 Bde. Hrsg. von 1. Hoffmeister und F. Nicolin. Hamburg 3 19691981.Bd.I,S.11. Mythologie der Vernunji. Hege1s ,aitestes Systemprogramm' des deutschen Idealismus. Hrsg. von Chr. Jamme und H. Schneider. Frankfurt a.M. 1984, S. 13. Vg!. L. Siep: Praktische Philosophie im deutschen ldealismus. Frankfurt a.M. 1992, S. 15lf. Das Ziel einer wissenschaftIichen Erkenntnis der Wahrheit realisiert Hegel keineswegs exklusiv in der enzyklopadischen Darstellung des Systems. Diese ist erst in der Niirnberger Zeit entstanden und geht was den Aufbau betrifft auf das gymnasiale Curriculum zuriick. Zur Entstehungsgeschichte vg!. H. Schniidelbach: Philosophie als spekulative Wissenschafl. In: Bernadette Collenberg-Plotnikov and Annemarie Gethmann-Siefert 978-3-8467-4349-2

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ELISABETH WElSSER-LOHMANN

recht" berichtet Rosenkranz, dass dort die Darstellung der Philosophie des Geistes insgesamt auf die Frage nach der "Nothwendigkeit der Philosophie in einem Volke" bezogen bleibt, und damit am Dasein in einem Yolk orientiert b1eibt5 • Diese Perspektive ist auch fur die Ausarbeitungen zum Begriff des religiosen Cu1tus bestimrnend: Die Frage der Wirkung in einem Vo1ke bi1det den Orientierungspunkt der Darstellung. 6 1817 trennt Hege1 im Rahmen der enzyk10padischen Systemdarstellung die abso1uten Gestalten des Geistes (Kunst, Religion und Wissenschaft) von der Sphare des objektiven Geistes, so dass von einer "systematischen Uberordnung" dieser Gestalten gesprochen worden ist.' Etwa zeitg1eich erk1art Hege1 in seiner Heidelberger Vorlesung iiber Naturrecht und Staatswissenschaft (WS 1817/18)8: "Die Anschauung des Wesens des Staates, seines frei herausgehobenen Geistes, diese Anschauung, das Intellektuelle der Wirklichkeit, wird durch Religion, Kunst und Wissenschaft." Diese Anschauung rechtfertige den Staat und miisse daher vom ihm a1s "Zweck an und fur sich se1bst betrachtet" werden. Der Staat miisse diese Spharen zu seiner abso1uten Ange1egenheit machen. Die zeitliche Nahe dieser Ausfuhrungen zur Erstauflage der Enzyklopadie 1assen den Verweis auf "Religion, Kunst und Wissenschaft" wie ein Hinweis auf die Gestalten des abso1uten Geistes verstehen. So entsteht der Eindruck, Hegel bringe hi er "Kunst", "Religion" und "Wissenschaft" a1s absolute Wissensgestalten des enzyk10padischen Systems mit der Rechtfertigung, ja mit der Konstitution des Staates in Zusamrnenhang. Letztlich ist es die Konsequenz dieser Lesart, dass Hege1 die Rechtfertigung des Staates von der Sphare des

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Hegels ,Enzyklopiidie der philosophischen Wissenschajten' (1830). Ein Kommentar zum SystemgrundriJ3 von Hermann Driie, Annemarie Gethmann-Siefert, Christa Hackenesch, Waiter laeschke, Wolfgang Neuser und Herbert Schnadelbach. Frankfurt a.M. 2000 (Hegels Philosophie. Kommentare zu den Hauptwerken hrsg. von H. Schnadelbach. 3), S. 21-86. G.W.F. Hegel: Schrifien und Entwiirfe 1799-1808. Hrsg. von M. Baum und K.R. Meist. Hamburg (Gesammelte Werke. In Verbindung mit der deutschen Forschungsgemeinschaft hrsg. von der Rheinisch-Westfalischen Akademie der Wissenschaften [im Folgenden: GW]. Bd. 5), S.459. R. Haym bestatigt diese Einschatzung des Manuskriptes: "Allein das Charakteristische des gegenwartigen Stadiums besteht in dem Versuch, die se Idee [des G6ttlichen] immer wieder in die Objektivitat des sittlichen Geistes zuriickzubiegen." (A.a.O., S. 465.) G.W.F. Hegel: Enzyklopiidie der philosophischen Wissenschajten im Grundrisse (1817). Hrsg. von W. Bonsiepen und K. Grotseh. Hamburg 2000 (Gw. Bd. 13). W. laeschke sprieht von einer "systematisehen Uberordnung der Religion ilber den objektiven Geist. Manifest wird diese Uberordnung in Hegels Bestimmung der besonderen politisehen Funktion des Protestantismus, namlieh "in einer selbst noeh theologiseh begriindeten Freisetzung von Weltliehkeit und in der Selbstbesehrankung der Theologie, ilber die Gestaltung dies er Weltliehkeit kraft einer speziellen religi6sen Kompentenz befinden zu k6nnen." Waiter laesehke: Kap. ,IV. 4.2.4 Religion und Staat (§ 552)'. In: Hegels ,Enzyklopiidie der philosophischen Wissenschajten' (1830) (Anm. 4), S. 458-466, hier: S. 465. G.W.F. Hegel: Vorlesungen iiber Naturrecht und Staatswissenschajt (1817118). Naehschrift P. Wannenmann. Hrsg. von C. Beeker u.a. Hamburg 1983 (G.W.F. Hegel: Vorlesungen. Ausgewahlte Naehsehriften und Manuskripte. Bd. I), S. 245 (im Folgenden: Wannenmann). Bernadette Collenberg-Plotnikov and Annemarie Gethmann-Siefert 978-3-8467-4349-2

DER STAA T UND DIE KUNST

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objektiven Geistes in die Sphare des absoluten Geistes verlagert. Fragwiirdig ware ein solches Vorgehen vor dem Hintergrund, dass Hegel zum einen in den Grundlinien antritt, die eigenstandige SteUung der Sittlichkeit zu erweisen/ zum anderen in den Vorlesungen zur Asthetik, die Kunst als eigenstandige Wissensform 10sgelOst von der DarsteUung des objektiven Geistes entwickelt. Gegen die hier vorgenommene Verkniipfung des Paragraphen 158 mit dem enzyklopadischen Programm k6nnte man anfuhren, dass es in dem zitierten Paragraphen nur urn die Anschauung des Wesens des Staates gehe, die eigentlichen Ausfuhrungen zum Staatszweck dagegen im Inneren Staatsrecht abgehandelt werden. Dort unterscheidet Hegel zwischen einer durch die natiirlichen Bediirfnisse bestimmten Vereinigung als GeseUschaft und einer durch freie Selbstbestimmung hervorgebrachten Vereinigung im Staat. Ungel6st bleibt gleichwohl die Frage nach dem Verhaltnis von Staatszweck und Wesen des Staates. In den Grundlinien korrigiert Hegel die Vorlesung dahingehend, dass er die eigentiimliche von der des Staates verschiedene Form von ,,Religion [... ] wie Erkenntnis und Wissenschaft" hervorhebt. Deutlich trennt Hegel zwischen den Prinzipien des Staates und den Prinzipien von Wissenschaft, Religion und Kunst. Im Rahmen der Philosophie des Rechts gehe es urn das Prinzip des Staates, erst "in einer voUstandig konkreten Abhandlung vom Staate miissen jene Spharen, sowie die Kunst, die bloB natiirlichen Verhaltnisse u.s.f. gleichfaUs in der Beziehung und SteUung, die sie im Staate haben, betrachtet werden"'o. Hegels Formulierungen - "konkrete Abhandlung", "Prinzip des Staates", "Wesen" bzw. "Anschauung" des Staates - verweisen auf ein Grundproblem der Sittlichkeitskonzeption: welche RoUe haben Philosophie, Kunst und Religion fur Konstitution, Bestimmung und Geltung der Sittlichkeit der Modeme, die Hegel als Rechtsgestalt entwickelt? Die hier liegende Probleme verdeutlicht Paragraph 170 der Grundlinien, wenn Hegel auf das Verhaltnis von Religion und Staat eingehend bestimmt: die Religion sei zwar die Grundlage des Staates, zugleich aber "nur Grundlage"". Die bis heute kontrovers diskutierte Frage - die RoUe der Gestalten des absoluten Geistes fur Genese und Geltung der Sittlichkeit als Rechtsgestalt - so11 hier in den Kontext der Hegelschen Staatszwecklehre zUrUckgesteUt werden. Mit der Jenaer Konzeption (Verkniipfung der Darstellung von Kunst, Religion und Wissenschaft mit der Darste11ung der Verfassung eines Gemeinwesens) und der Heidelberger Konzeption der enzyklopadischen Systematik (Oberordnung der Spharen des absoluten Geistes iiber die Darste11ung der Dieses Anliegen wird insbesondere dort deutlich, wo Hegel die zeitgenossischen Rechtskonzeptionen kritisiert. Vg!. etwa die Kritik an Hugos rechtsgeschichtlichem Standpunkt sowie die Kritik an der von Kant ausgehenden Rechtslehre bei Fichte, G.W.F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts. In der Textedition von J. Hoffmeister. Hamburg 1995 (im Folgenden: Grundlinien), S. 8ff. 10 A.a.O., § 270, S. 222. " Ebd.

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Formen des Zusammenlebens) stehen zwei alternative Deutungen fur die Bestimmung des Verhaltnisses von Kunst, Religion, Wissenschaft und Sittlichkeit zur Verfugung. Hegels Formulierung "die Anschauung des Wesens des Staates wird durch Religion, Kunst und Wissenschaft" bleibt vor diesem Hintergrund zweideutig. Eine eindeutige Zuordnung zu einer der beiden Konzeptionen gestatten Hegels Ausfuhrungen im Paragraphen 158 der V orlesung nicht. Eine Vorklarung des Problemzusammenhangs solI zunachst im Rtickgriff auf die Hegelsche Staatszwecklehre versucht werden (I). Vor diesem Hintergrund kann dann nach der Funktion und Aufgabe von "Kunst", "Religion" und "Wissenschaft" im Rahmen der Staatszwecklehre gefragt werden (11). Auf dieser Grundlage ist dann auch die Frage zu klaren, inwiefern die Hegelsche Staatkonzeption eine kulturpolitische Perspektive einschlieBt (Ill). I. Rechtsphilosophie und Staatszweck Die dem Staatskapitel der Grundlinien vorausgehenden Gestalten des Rechts thematisiert Hegel bereits im Horizont der Frage nach der Tauglichkeit dieser Rechtsbestimmungen fur die Geltung des Rechts als Allgemeinheit. Das Recht, tiber eine Sache zu verfugen, schlieBt fur die feudalistische Patrimonialtheorie zwar Gewalt tiber ein bestimmtes Territorium und seine Bewohner ein. Gleichwohl zeigt das Verbrechen, dass dieser Rechtsbegriff das Recht nicht als Recht herstellendes Instrument zu erfassen vermag. Das bloBe Verfugungsrecht tiber eine Sache entspricht nicht dem allgemeinen, u. U. auch gegen das einzelne Individuum geltenden Recht. Die im "Abstrakten Recht" auftretenden Eigentumskonflikte fordern zwar die Anerkennung eines allgemein anerkannten und geltenden Rechts. Das bloB abstrakte Rechtsprinzip, das die Individuen als gleiche Personen bestimmt, erfullt aber die hier geforderten Kriterien nicht. Geht do ch die hier geforderte Anerkennung eines unabhangig von der Person bestehenden Allgemeinen tiber die bloBe Anerkennung des Anderen als Person und tiber die Anerkennung des Verfugungsrechts der Person tiber eine Sache hinaus. Die Anerkennung eines nicht sachlichen Allgemeinen als Wirklichkeit ist auf der Basis des abstrakten Rechtsprinzips nicht zu erfassen. Mit dem Gewissen hat Hegel im Moralitatskapitel im Subjekt eine Gestalt des Willens aufgewiesen, die zur Einsicht und zum W ollen eines als allgemein Anerkannten fahig ist. "Recht" sind die vom Subjekt gewollten WillensauBerungen, insofern sie auf die Allgemeinheit des Personseins zurUckgehen. AIlerdings verfugt das Gewissen nicht tiber das Vermogen, dieses Gute als Wirklichkeit hervorzubringen. Eine Rechtfertigung der Geltung eines Allgemeinen im Rtickgriff auf den bloBen Willen eines einzelnen Individuums, das Gute zu verwirklichen, scheitert - und dies unterscheidet die Moderne vom Heroenzeitalter - an der Pluralitat des jeweils als Gut gesetzten Allgemeinen. Bernadette Collenberg-Plotnikov and Annemarie Gethmann-Siefert 978-3-8467-4349-2

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Fur die Staatszwecklehre zeigt das Moralitatskapitel, dass das im Gewissen gesetzte Recht nicht als Allgemeinheit wirklich ist. Fur die Rechtfertigung des Staates als Rechtsgestalt bedeutet dies, dass der Staat nicht als jene Instanz zu rechtfertigen ist, die ein allgemein anerkanntes Gutes mit geeigneten Mitteln durchzusetzen befugt ist. Der durch das Recht des Gewissens und das Wollen des Guten gerechtfertigte Staat ist vielmehr der Staat des "terreurs"12. Fur die Begmndung des Staatszweckes erweisen sich die beiden ersten Abschnitte der Grundlinien als rein negativ. Weder das "Abstrakte Recht" noch die "Moralitat" vermag einen Rechtsbegriff zu entwickeln, der den Staat als Rechtsgestalt hinreichend rechtfertigt. Die beiden ersten Teile der Grundlinien formulieren allerdings die Bedingungen, denen der Staat der Modeme als Rechtsstaat zu genugen hat: das Recht muss allgemeingultig, dj. fur jedermann gleiche Gultigkeit haben, jeder Mensch hat aber auch das Recht, nur das als gultig anzuerkennen, was "von ihm als gut eingesehen werde" (Grundlinien, § 132, S. 117). Diesen beiden formalen Rechtsprinzipien genugen das "Abstrakte Recht" und die "Moralitat" nur zum Teil. Fur die Gestalten der Sittlichkeit, und zu ihnen gehort der Staat, lautet daher die Forderung: Wirklichkeit und Allgemeinheit dieser Rechtsformen mussen hi er vereinigt sein. Die "Sittlichkeit" als eine Gestalt des Rechts hat fur Hegel die Wirklichkeit des Eigentumsrechts der Person in der Sache mit dem Recht der handelnden Subjekte, ihren Willen zu verwirklichen, zu vereinigen. Als Rechtsgestalt ist Sittlichkeit damit aus einem notwendig von allen und fur alle Handelnden gesetzten Zweck zu verwirklichen und zu rechtfertigen. Dieser Zweck ist fur die Moderne das Dasein der Freiheit. Hegel entwickelt diesen Staatszweck allerdings nicht - wie die zeitgenossische Vertragslehre - ausgehend vom Willen der Einzelnen, sondern allein aus der Beziehung des Staates "auf sich selbst" (Grundlinien, § 126). Die Differenzierung innerhalb der Sittlichkeit zwischen Familie, burgerlicher Gesellschaft und Staat verdeutlicht damber hinaus, dass fur Hegels Staatszwecklehre staatliche Herrschaft weder aus dem Willen "eine Person auszumachen" no ch aus der Vereinigung zum Zwecke der Bedurfnisbefriedigung abzuleiten ist. Die Realisierung des Staatszwecks vollzieht sich in spezifischen Praxisformen. Diese Praxisformen werden durch die Verfassung des Staates eroffnet und gesichert. Vor diesem Hintergrund bestimmt Hegel den Staatszwecks als Ermoglichung von Handlungen, deren Zweck Selbstbestimmung und Allgemeinheit ist. Die Rechtsformigkeit des Ordnungsgefuges sichert die Erfullung dieses Zwecks. Familie, burgerliche Gesellschaft und Staat sind Handlung ermoglichende Ordnungsgefuge, die den Vollzug von Praxis im hochsten Sinn ermoglichen. Mit diesem Staatszweck, der im Staat als Rechtsgestalt seinen

12 G.W.F. Hegel: Phiinomenologie des Geistes. Hrsg. von W. Bonsiepen und R. Heede. Hamburg 1980 (Gw. Bd. 9). Kapitei VI, B, Ill: ,Die absolute Freiheit und der Schrecken', S. 316ff. Bernadette Collenberg-Plotnikov and Annemarie Gethmann-Siefert 978-3-8467-4349-2

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adaquaten Ausdruck findet, konstituiert Hegel eine eigenstandige unabhangige Sphare geltender Verpflichtung. Diese Bestimmung stellt die Philosophie des Rechts vor die Aufgabe, die uberlieferten Praxisformen auf ihre Rechtsformigkeit hin zu prtifen. Nur als Rechtsgestalt kann diese oder jene Handlung Pflicht sein, d.h. fUr das sich als freie Person und als Subjekt begreifende Individuum Geltung haben. "Abstraktes Recht" und "Moralitat" erweisen sich als blo13e Moglichkeiten, denen Wirklichkeit allein in den sittlichen Gestalten, Ehe, Familie, burgerliche Gesellschaft und Staat zukommt. Die tradierten und bewahrten Gestalten der Sittlichkeit mussen von der Philosophie als Realisationen der abstrakten Rechte rekonstruiert werden, wenn deren Geltung nicht im Herkommen sondem in der Selbstbestimmung des Menschen als Person und SUbjekt grtinden soli. Wenn Hegel Sittlichkeit hi er als Gestalt des Rechts entwickeltll , so stellt sich die Frage nach der Rolle von Religion und Kunst fUr die Sittlichkeit. Vor dem Hintergrund dies er Staatszwecklehre wird deutlich, dass die oben zitierten AusfUhrungen der Vorlesung zunachst als die Beschreibung einer vergangenen Form des Praktischen zu begreifen sind. Die These, die Formen von Kunst, Religion und Philosophie bestimmen die Anschauung des Staates, kann nur dort gelten, wo die sittliche Praxis in diesen Formen aufgeht, von ihnen gar nicht unterscheidbar ist. Dies entspricht nicht der Situation der Modeme, wie sie fUr die Philosophie des Rechts der Ausgangspunkt ist. Dort, wo es Hegel urn die Begrtindung eigenstandiger Praxisformen geht, muss das Wesen der sittlichen Formen in Abgrenzung von diesen Anschauungsformen gewonnen werden. Aus der Perspektive der Staatszwecklehre der Rechtsphilosophie benennt Hegel mit der Formulierung der VOrlesung zunachst eine historische Position. Die These, Kunst, Religion und Wissenschaft stifteten die Anschauung und Rechtfertigung des Staates, hat zur Voraussetzung, dass in der Gegenwart "S taat" als Verwirklichung selbstbestimmter Praxis fassbar wird. Erst im Anschluss an diese Staatszwecklehre werden die Geltungsbedingungen vergangener Praxen deutlich. Insofem stehen die AusfUhrungen der Vorlesungen am richtigen , Ort', wenn Hegel sie im Anschluss an die eigentliche Staatszwecklehre vortragt. Die Frage ist allerdings, ob die sittliche Funktion von Kunst und Religion auf die Vergangenheit beschrankt bleibt - oder ob diese Gestalten auch im modemen Staat eine Aufgabe haben? 11. Staatszweck und Kunst, Religion, Wissenschaft Hegel beschlie13t die Darstellung des Staatszweckes in den Grundlinien mit der Lehre van der Offentlichen Meinung. Fur die Philosophie des Rechts ist es die Aufgabe der Wissenschaft, das wahre Wesen des Staatszwecks zu erkenII

Die enzyklopadische Darstellung nimmt einen allgemeineren Ausgangspunkt ein, wenn dort die allgemeinsten Prinzipien der Sittlichkeit entwickelt werden. Bernadette Collenberg-Plotnikov and Annemarie Gethmann-Siefert 978-3-8467-4349-2

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nen und Fehlformen als das Produkt bloBer "Meinung" zu entlarven. Damit nimmt die Wissenschaft jene SteUe ein, die einst Kunst und Religion fur die Anschauung des Staates hatten. Die Offentliche Meinung enthalt zwar in sich "in Form des gesunden Menschenverstandes [ ... ] die ewigen substantieUen Prinzipien der Gerechtigkeit, den wahrhaften Inhalt und das Resultat der ganzen Verfassung, Gesetzgebung und des aUgemeinen Zustands"14. Aber weder verfUgt der gesunde Menschenverstand uber einen MaBstab zur Beurteilung der verschiedenen Meinungen no ch vermag er aus sich heraus - trotz der substantieUen Grundlage - zum bestimmten Wissen vorzudringen. 15 Wenn das Wesen des Staates in der Modeme von den Wissenschaften erkannt wird, so scheint den Sphiiren "Religion, Kunst" in der Gegenwart weder fur die Anschauung no ch fur die Konstitution der Sittlichkeit eine besondere Aufgabe zuzukommen. Im Moralitatskapitel macht Hegel deutlich, wie der in der religi6sen Anschauung gegrundete griechische Handlungsbegriff in der Trag6die anschaulich zur Darstellung kommt. Kunst und Religion ubemehmen hi er fur das Handlungsverstandnis und damit das Ethos dies er Gemeinschaft eine konstituierende, rechtfertigende wie auch verpflichtende Funktion. Fur das Sittlichkeitskapitel der Grundlinien steht die Rekonstruktion der Bedingungen freier Handlungsformen als Recht im Vordergrund. Die Frage nach den Bedingungen unter denen Kunst und Religion zu konstitutiven Prinzipien des Praktischen werden, ruckt damit zwanglaufig in den Hintergrund. Die entwicklungsgeschichtliche These von Kunst, Religion und Wissenschaft als sich ab16sende Gestalten der Anschauung des Staates impliziert die konstitutive Wirksamkeit dieser Gestalten. Im Rahmen einer historischen Darstellung musste Hegel deutlich machen, wie die Prinzipien des Praktischen in der Vergangenheit diese Gestalten aufnahmen und wie diese Gestalten das Gemeinwesen und seine politische Verfassung zu bestimmen vermochten. Fur die Philosophie des Rechts erweist sich dagegen Wissenschaft und Philosophie als fur die Sittlichkeit konstitutiv. Die Ausgangsthese, das Wesen des Staates werde gegenwartig durch die Wissenschaft erkannt, entwertet die Bedeutung von Kunst und Religion als Anschauungsformen der Sittlichkeit, insofem diese das Wesen der Sittlichkeit nur unzulanglich darsteUen. Ihre Formen erreichen die Wirklichkeit nicht, Verehrung und Anschauung bestimmen deren Praxis. Auf welcher Grundlage kann diesen Formen im modemen Staat gleichwohl eine spezifische RoUe zugeschrieben werden? Klarungsbedurftig ist in diesem Zusammenhang - was hi er nur thesenartig geschehen kann - die RoUe der Philosophie bzw. Wissenschaft fur die Sittlichkeit als einer Gestalt des Rechts. Zwei Gesichtspunkte sind fur diesen Zusammenhang entscheidend. Einmal muss, damit Sittlichkeit Gegenstand der Wissenschaft zu werden vermag, diese Praxis des Handelns eine bestimmte 14 15

G.W.F. Hegel: Grundlinien, § 317. A.a.O., § 318, S. 274. Bernadette Collenberg-Plotnikov and Annemarie Gethmann-Siefert 978-3-8467-4349-2

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Gestalt erreicht haben: Die Handelnden miissen sich als Person und Subjekt begreifen. An den iiberlieferten Praxisformen ist von der Wissenschaft zu zeigen, wie diese Selbstbestimmung in den tradierten Formen ihre ErfUUung zu finden vermag. Damit konstituiert die Wissenschaft eine fUr "Person" und "Subjekt" adaquate Praxis als Wirklichkeit und macht deren Verpflichtung fUr jedermann verbindlich. Diese Wissenschaft kommt nun zum zweiten nicht von auBen an ihren Gegenstand. Vielmehr will Hegel zeigen, dass zwischen der vorgangigen sittlichen Praxis, der explizierenden und konstituierenden Wissenschaft ein unlOsbarer Zusammenhang besteht. Diesen Zusammenhang will Hegel am Leitfaden des Willens, als Wissen und Selbstbestimmung zum Handeln, entwickeln. "Sittlichkeit" als Gestalt des Rechts ist bewusste Handlung, ist "Wissen", das durch den Willen als Wirklichkeit gesetzt ist. Die skizzierte "RoUe" der Philosophie stellt die Konzeption der Sittlichkeit als einer Gestalt des Rechts in den Kontext des Jenaer Anliegens, wo Hegel, urn mit Haym zu sprechen, Religion, Kunst und Philosophie "in die Objektivitat des sittlichen Geistes zuriickbiegt". Wie Kunst und Religion so geht allerdings auch die Wissenschaft aus dieser Praxis hervor - Praxis, Anschauungsform und Wissen bedingen sich gegenseitig. Nicht nur die Wissenschaft ist in die sittliche Praxis eingebunden und geht aus ihr hervor. Am Leitfaden des Willens lassen sich fUr Religion und Kunst vergleichbare Strukturen aufweisen. Hegel zeigt, wie in der Vergangenheit Religion und Kunst als spezifisches Handlungsverstandnis das Zusammenleben normierten. Fiir die Gegenwart macht Hegel die Wirksamkeit dieses Handlungsverstandnisses an "Ehe" und "Staat" deutlich. Fiir die Sittlichkeit als Rechtsgestalt ist die Ehe die "Identifizierung der Personlichkeiten, wodurch die Familie eine Person ist", dieser sittliche Geist ist "als die Penaten" verehrt worden. Es fallt auf, dass Hegel hier wie in der Phanomen%gie erst dort, wo sich der Wille politisch-geseUschaftlich artikuliert, von "sittlichem Geist" spricht. Dieser sittliche Geist mache iiberhaupt das aus, "worin der religiose Charakter der Ehe und Familie, die Pietat, liegt. "16 Der Zusammenhang zwischen tradierten Anschauungsformen und dem Wesen einer sittlichen Gestalt lasst sich folgendermaBen fassen: Erst dann, wenn das Wesen einer Praxisform als wirkliches selbstbestimmtes Handeln fassbar wird, erweist sich die ,religiose' oder die ,asthetische' Bestimmung dieses Handelns als eine mogliche Anschauungsform, die zwar nicht zur Wirklichkeit des Angeschauten als selbstbestimmtes Handeln gelangt, die aber gleichwohl zentrale Bestimmungsmomente dieser sittlichen Gestalt konstituiert. In der Ehe etwa ist es die "unendliche Wichtigkeit", die aus der friiheren Anschauungsform in die gegenwartige wirkliche Gestalt eingeht. Die Ehe als Dasein des Rechts nimmt friihere Bestimmungsmomente dieser Praxisform etwa die Verehrung des "unendlich Wichtigen" in den Penaten - auf und 16

A.a.O., § 163, S. 152. Bernadette Collenberg-Plotnikov and Annemarie Gethmann-Siefert 978-3-8467-4349-2

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bringt sie in die fOr den sittlichen Geist angemessene Gestalt, insofern sie als Rechtsgestalt nicht mehr Gegenstand der Verehrung sondern Wirklichkeit ist. Damit hat sie als Praxisfarm die ihr angemessene Gestalt erlangt. AIs Handlungsvollzug ist sie jetzt "natiirlicher Lebensvollzug mit unendlicher Wichtigkeit". Letzteres, die "unendliche Wichtigkeit", geht aus der religiosen Gestalt in diese Praxisform ein, deren Wirklichkeit als natiirlicher Lebensvollzug ist durch das Dasein als Gestalt des Rechts moglich geworden. Analog zur Konstitution der Familie als Rechtsgestalt rekonstruiert Hegel die Einheit eines Volkes. ,Einheit' ist der moderne Staat durch das vemlinftige gemeinsame Handeln. In der Vergangenheit waren es religiose Anschauung, natlirliche und geistige Mythologie, die die Einheit und Verfassung des Staates hervorbrachten. 17 Die vormoderne - durch Religion und Kunst konstituierte - Sittlichkeit wird in der Moderne durch die Reflexionsform der Wissenschaft als Rechtsgestalt neu konstituiert: der als Wesen dieser Praxisform bestehende Anschauungsgehalt wird in eine Reflexionsgestalt transformiert. Hegel begreift diese Transformation als Realisierung der Praxis. Die Wesensmomente der asthetischen oder religiosen Anschauung - die po lis als Kunstwerk, der Staat als Gemeinde - sind in der Sittlichkeit als Rechtsgestalt realisiert. Damit realisieren die Handlungsformen des Staates die Forderung nach "politischer Tugend"18. Indem die Normen, die das Zusammenleben regeln dem SUbjekt nicht "ein Fremdes" sind, das verehrt und angeschaut wird, sondern die als der Ausdruck seines eigenen Wesens gewusst werden, ermoglicht diese Gestalt der Sittlichkeit eine Rekonstruktion der Sittlichkeit als Rechtsgestalt. Damit sind die vergangenen inhaltlichen Bestimmungen des Sittlichen fur das Recht als Sittlichkeit aber unverzichtbar. Gegenwartig ist dieser Inhalt des Sittlichen im "Selbstgefuhl" des Subjekts, dieses bildet das durchgangige Prinzip der Sittlichkeit. Hegel charakterisiert dieses Verhaltnis als "noch identischer als ... Glaube und Zutrauen"19. Diese Identitat kann "in ein Verhaltnis des Glaubens und der Uberzeugung" aber auch in "Einsicht durch Grlinde" iibergehen. Entscheidend ist, dass dieses "Selbstgefuhl" als vargiingige und bewiihrte Handlungsform aller Anschauung und aller wissenschaftlichen Einsicht vorausliegt. Anschauung und Erkenntnis stiften in Deutungsformen eine Praxis und stellen das Bewahrte auf Dauer. Hegel hat diese Entwicklung vom durch das Selbstgefuhl getragenen Tatigsein hin zur bewussten, selbstbestimmten Handlung im Moralitatskapitel dargestellt. Was aus dem vorgangigen Selbstgefuhl in die reflektierte Praxisform 17

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Die Vorlesung des Wintersemesters 1817118 entwickelt die Verfassungslehre auf der Basis dies er unterschiedlichen religi6sen Bedingungen, vg!. G.W.F. Hegel: Wannenmann, § 135, S. 192ff. Zu diesem Zusammenhang vg!. A. Gethmann-Siefert: Die Funktion der Kunst in der Geschichte. Untersuchungen zu Hegels Asthetik. Bonn 1984 (Hege1-Studien. Beiheft 25), S. 215ff. G.W.F. Hegel: Grundlinien, § 257, S. 208. A.a.O., § 147, S. 143. Bernadette Collenberg-Plotnikov and Annemarie Gethmann-Siefert 978-3-8467-4349-2

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eingeht, liegt in der Selbstdeutung der Handelnden. In der Gegenwart wird die se Wirklichkeit von der Philosophie des Rechts aus dem geltenden SelbstversUindnis, Person und Subjekt mit spezifischen Rechten zu sein, rekonstruiert: Sittlichkeit wird Dasein, Wirklichkeit dieser Rechte. Fur die hi er verfolgte Frage ist es entscheidend, wie diese vorgangige sittliche Einheit sich mit den bloB abstrakten Rechtsformen zu verbinden vermag im Dasein als Recht. Dabei muss die Doppelsinnigkeit im Rechtsbegriff beachtet werden. "Recht" ist einmal das abstrakte alIgemeine Recht, das alIe Menschen zu Personen macht. "Recht" als Dasein der Idee ist fiir Hegel aber auch die Vereinigung dieses formalen Rechtsprinzips mit den substantielIen Bestimmungen einer Praxis form. Wenn Hegel das "Selbstgefiihl" als den Ort der inhaltlichen Bestimmtheit der Sittlichkeit erklart, so stelIt sich die Frage, wo dieses "Selbstgefiihl" in der Rechtsphilosophie seinen Ort hat? Weder als Person no ch als Subjekt erreicht das Individuum eine Wirklichkeit, die diese Einheit zwischen Selbst und Welt realisiert. Der Inhalt des "Selbstgefiihls" ist weder "Sache" noch "Wohl". Erst dort wo der Mensch als Mensch, als Bedurfniswesen gegenstandlich wird, wird diese Wirklichkeit erreicht: Erst in der burgerlichen GeselIschaft wird dieses "Selbstgefiihl" gegenstandlich. Und hi er lasst sich auch die RolIe von Kunst und Religion fiir die Sittlichkeit als "Selbstgefiihl" we iter bestimmen. Die StelIung von Kunst, Religion und Philosophie ist fiir die Sittlichkeit als Rechtsgestalt nicht nur mit Blick auf deren StelIung als rechtsformige Gestalten zu klaren, wie im Paragraph 270. Daruber hinaus ist ihre "Beziehung und StelIung im Staate" zu entwickelt. Hegel verweist darauf, dass diese Aufgabe in einer "konkreten Abhandlung" zu lOsen sei, fiir die das Eingehen dieser Gestalten in die daseienden Rechtsgestalten von Interesse ist. Was Hegel in der geplanten Staatspadagogik zu diesen Problemen beitragen wo lIte, muss offen bleiben. Allerdings finden sich auch in den Grundlinien entscheidende Hinweise zu diesem Problem. Im "Abstrakten Recht" entwickelt Hegel ausgehend vom Personenbegriff das Eigentums- und Vertragsrecht. Die VerauBerung setzt die Bestimmung des quantitativen Wertes einer Sache voraus. So werden auch Wissenschaften, Kunst und religiose Objekte zu anerkannten Sachen in Weise des Kaufens, Verkaufens U.S.f."20. Der Widerspruch, den diese Behandlung auslOst, dies seien doch keine Sachen, sondern dem "freien Geist eigen und Innerliches", kann auf dem rein rechtlichen Standpunkt eines abstrakten Rechtsbegriffs nicht ge16st werden. Setzt diese Frage do ch Kriterien voraus, die eine Unterscheidung zwischen Sache und Nicht-Sache erlauben. Ob eine Sache aber ihrer Natur nach ein Innerliches, ein Gut ist, vermag erst dann bestimmt werden, wenn Einsicht in jene Bestimmung gewonnen wird, die aus der Sache ein Gut mit allgemeinem Wert macht. Das Gutsein, die Werthaftigkeit einer Sache, erweist sich in dem sie durch die Arbeit zu einem Vermogen wird. Geistige 20

A.a.O., § 43, S. 56. Bernadette Collenberg-Plotnikov and Annemarie Gethmann-Siefert 978-3-8467-4349-2

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Produktionen eines Schriftstellers oder Erfinders etc. konnen durch den Verkauf zu auBerlichen Sachen werden, so dass der neue Besitzer nicht nur diese einzelne Sache erwirbt sondem dariiber hinaus die Moglichkeit "solche Produkte [... ] als Sac hen gleichfalls hervorzubringen".21 Eine Sache ist somit nicht nur Besitzung sondem auch Vermogen. AIs "Vermogen" aber ist es zunachst - etwa in der Familie - bleibender und sicherer Besitz. Das jeweils besondere Vermogen, seine Bildung und Geschicklichkeit befahigt das Individuum fur seine Subsistenz zu sorgen. 22 Dieses Vermogen ist Teil des allgemein bleibenden Vermogens der biirgerlichen Gesellschaft. Dieses Vermogen bildet die Basis fur das Selbstgefuhl des Individuums, das "Selbstgefuhl" gehOrt somit auch in den Zusammenhang von Bediirfnis, Arbeit und Vermogen. Besondere Individualitat, Vermogen und Se1bstgefuhl stehen im Gegensatz zu der formal rechtlichen Allgemeinheit und Gleichheit, denn das Aufgehen des rein quantitativen Sachwerts in der formal abstrakten Rechtsform widerspricht der qualitativen Werthaftigkeit, dem Gut-Sein einer Sache insofem sie besonderes Vermogen ist. Daseiendes Recht wird die abstrakte Rechtsform nur dort, wo sie aus dies em besonderen Vermogen hervorgeht, und in eine Wirklichkeit als Allgemeinheit einzugehen vermag. Diese Handlungsoption erOffnen fur Hegel die Institutionen "Ehe" und "Staat". Ein spezifischer Inhalt, ein aus dem Vermogen hervorgegangenes Gut geht in die abstrakte allgemeine Rechtsform ein, und verleiht dieser als daseiendes Recht Bedeutung und Existenz.23 Sich zum Menschen bestimmen und als Mensch ge1ten kann der Einze1ne nur als besonderes Individuum mit spezifischem Vermogen. In der biirgerlichen Gesellschaft bleibt diese Spannung zwischen Besonderheit und Allgemeinheit der Rechtsformen bestehen, hier ist die Allgemeinheit der Freiheit nur abstrakt als Recht des Eigentums in der Rechtspflege etc. verwirklicht. Entscheidend ist, dass erst die Besonderheit als Vermogen diese Daseinsformen des Rechts hervorbringt. "Es ist aber diese Sphare des Re1ativen, als Eildung, se1bst, welche dem Rechte das Dasein gibt, als allgemein Anerkanntes, GewujJtes und Gewolltes zu sein, und vermittelt durch dies GewuBt- und Gewolltsein Gelten und objektive Wirklichkeit zu haben."24 Es ist das jeweils besondere Vermogen im umfassenden Sinne, das bestimmt durch Herkunft, individuelle Geschicklichkeit, die jeweilige intellektuelle und moralische Bildung, unsere Identitat bestimmt. Gegeniiber der rechtlichen Bindung und Verpflichtung ist dies der Ort unserer menschlichen Existenz. Die sittlichen Gestalten, Ehe und Familie, Rechtspflege, Polizei und Korporation gehen als Handlungsformen auf dieses Vermogen zuriick. In der "Biirgerlichen Gesellschaft" rekonstruiert Hegel die Wurzel der Sittlichkeit als Recht in Bediirfnis, 21 22 23 24

A.a.O., § 69, S. 75. Vg!. a.a.O., § 199, S. 174. Vg!. a.a.O., § 209, S. 180. Ebd. Bernadette Collenberg-Plotnikov and Annemarie Gethmann-Siefert 978-3-8467-4349-2

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Arbeit und Vermogen, die ,,Rechte der Besonderheit"25 gehoren somit unaufloslich zur Sittlichkeit. Das besondere Individuum indem es die Bedingtheit seiner Besonderheit reflektiert, d.h. uber Bildung verfugt, bringt das Dasein des Rechts als alIgemeines Anerkanntsein hervor. Dieses Vermogen, das die individuelIe Besonderheit ausmacht, konstituiert alIererst das Dasein des Rechts. Gegenuber diesem reflektierten Handeln stehen "Familie" und "Staat" fur eine differenzlose Einheit zwischen der Besonderheit der Einzelnen und den abstrakten Rechtsformen. Fur den hi er betrachteten Zusamrnenhang ist entscheidend, dass alIe drei Gestalten der Sittlichkeit (Familien, Burgerliche GeselIschaft und Staat) aus der Arbeit und dem Vermogen der burgerlichen GeselIschaft hervorgehen und auf dem Selbstgefuhl der Individuen gronden. Wirklichkeit und Dauer erhalt dieses Selbstgefuhl als rechtlich gesicherte Handlungsformen. Es ist dieser Zusamrnenhang, der den Staat verpflichtet, jene Vermogen und hierzu gehOren Kunst, Religion und Wissenschaft unter besonderen Schutz zu stellen und zu befordem. "Froher", so Hegel in der Vorlesung 1817/18, "sorgten fur Religion die Gottesfurcht und fur Kunst und die Wissenschaften die Fursten". Die Sorge fur diese Spharen war damit zufallig. Erst die Einsicht, in das das sittliche Handeln ermoglichende "Vermogen", begrondet den besonderen Schutz und die Pflege, die der Staat diesen Spharen zukommen lasst. Begrenzt wird die Wirksamkeit dieser Spharen durch das konstitutive Prinzip der Sittlichkeit. So durfen etwa die Personen, "die si ch diesen Spharen widmen", sich "nicht so tief darin verlieren, daB sie sich selbst verlieren"26 - ihre Arbeit muss vi elmehr auf die Wirklichkeit gerichtet sein. Den hier geltenden Ptlichten sind somit auch die Gestalten des absoluten Geistes unterworfen. Welchen Zielsetzungen staatliches Handelns zu folgen hat, solI abschlieBend gefragt werden. Beschranken mochte ich mich auf die RolIe der Kunst in der "Kulturpolitik" des Hegelschen Staates. 27 Mit Blick auf die Frage, inwiewe it die Hegelsche Konzeption Kunst als Gegenstand politischen Handelns vorsieht und die Ablosung des traditionelIen ModelIS der "Kultusministerien" hin zur modemen Kulturpolitik vorwegnimmt, konnen hi er nur einige Gesichtspunkte diskutiert werden. 28 25

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So geht die Differenzierung des Vennogens nicht aus dem Allgemeinen hervor, sondem es ist "die im System menschlicher Bediirfnisse immanente Vemunft, we1che dasse1be zu einem organisch Ganzen von Unterschieden gliedert." (A.a.O., § 200, 175.) G.W.F. Hege1: Wannenmann, S. 245. Fur die Phi1osophie ist die Konzeption, die - von Kant herkommend - fur die preufiische "Ku1turpolitik" bis 1818 entscheidend war, durch H. Lubbe aufgearbeitet worden. Vg!. H. Lubbe: Deutscher Idealismus als Philosophie preuJ3ischer Kulturpolitik. In: Kunsterfahrung und Kulturpolitik im Berlin Hegels. Hrsg. von O. Pogge1er und A. Gethmann-Siefert. Bonn 1983 (Hege1-Studien. Beiheft 22), S. 3-27. Beziig1ich der Zustandigkeit der offiziellen Amter in Preufien hat W. laeschke bereits deutlich gemacht, dass die Po1itik des Ministeriums Altenstein si ch nicht a1s "Ku1tur"-Po1itik versteht. Dieses Ministerium "verwa1tet ein Aggregat dreier Bereiche, deren dritter, die Medizina1po1itik, sich ohnehin wieder von den Bereichen "Bi1dung" und "Religion" getrennt hat". "Erst Bernadette Collenberg-Plotnikov and Annemarie Gethmann-Siefert 978-3-8467-4349-2

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Ill. Rechtsphilosophie und Kulturpolitik Die in der Nachschrift Wannenmann uberlieferte Formulierung29 : "Kunst, Religion und Wissenschaft bringen die Anschauung des Wesens des Staates hervor", und dies sei vom Staat als Zweck an sich zu betrachten, da er gerade "durch diese Anschauung gerechtfertigt wird", ist von Hegel in korrigierter Form in die Druckfassung ubernommen worden. Die Korrekturen machen deutlich, dass mit dies er Aussage ein spezifisch historischer Standpunkt eingenommen wird, der die Aussage der Vorlesung dahingehend relativiert, dass diese Formen in der Vergangenheit das Wesen des Staates bestimmt haben. Heute aber ist das Selbstverstandnis der Handelnden entscheidend. Den Zusammenhang zwischen Selbstverstandnis, individueller Besonderheit und allgemeinen Rechtsformen entwickelt Hegel im Abschnitt Biirgerliche Gesellschaft, wenn er die Wechselbeziehung von allgemeinen Rechtform und besonderer Individualitat herausarbeitet. Die "Sittlichkeit" als Rechtsgestalt ist als das Dasein des Rechts nicht ohne jene individuelle Besonderheit zu verwirklichen: wird die individuelle Besonderheit do ch erst durch Bildung, und d.h. durch Reflexion auf die allgemeinen Bedingungen der jeweiligen Besonderheit. Das Dasein des Rechts ~ als von den bloB abstrakten Rechtsformen unterschieden ~ verwirklicht die Einheit von individueller Bestimmtheit und allgemeiner Geltung. Erst diese Formen daseienden Rechts vermogen das gegenuber der individuellen Besonderheit restriktive Vorgehen des Rechts im Gesetz zu legitimieren. Zwei kulturpolitische Konsequenzen sind aus dieser Bestimmung der Sittlichkeit als daseiender Rechtsgestalt zu ziehen. Zur Sicherung der rechtlichen Gestalt der Sittlichkeit muss es dem Staat einmal darum gehen, durch Einsicht und Bildung die Bedingungen der Freiheit fUr jedermann durchsichtig zu machen. Diese Aufgabe ubernehmen die Wissenschaften, aber auch das Museum, als der Ort geschichtlichen Lernens. Hegel hat die Grundung des Berliner Museums mit Interesse verfolgt. 30 Die Absicht allerdings, hier durch eine Kunstreligion die Einsicht in die Bedingung der Freiheit verzichtbar zu machen, musste Hegels Konzeption strikt zuwiderlaufen. Das Museum ist ihm ein Ort der Bildung, mit Rotunde und Fassade verfolgt Schinkels Bau aber eine weitere Zwecksetzung31 : "Die Rotunde zielt auf eine Erhebung des Subjekts, bevor es sich in den Salen der Betrachtung der Kunst widmete". Hegel ging es urn das Studium der Geschichte der Kunst. In dieser Bildungsfunktion bleibt

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das Zusammentreten der Bereiche "Bi1dung" und "Kunst definiert den Gegenstand der modemen Ku1turpo1itik". W. laeschke: Politik, Kultur und Philosophie in PreuJ3en. In: Kunsterfahrung und Kulturpolitik im Berlin Hegels (Anm. 27), S. 29-48, hier: S. 30. G.W.F. Hege1: Wannenmann, S. 245. Vg!. Otto Pi:igge1er: PreuJ3ische Kulturpolitik im Spiegel von Hegels Asthetik. In: Jahrbuch PreuJ3ischer Kulturbesitz. 18 (1981), S. 355-376. H. Liibbe: Wilhelm von Humboldt und die Berliner Museumsgriindung 1830. In: Ders.: Die Aufdringlichkeit der Geschichte. GrazIWienlKi:i1n 1989, S. 187-206, hier: S. 197. Bernadette Collenberg-Plotnikov and Annemarie Gethmann-Siefert 978-3-8467-4349-2

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das Museum streng von der Religion getrennt, und kann diese auch nicht ersetzen. Die Sittlichkeit geht zum anderen auch als Gestalt des Rechts auf jene Gestalten zUrUck, die unser menschliches SelbstversUindnis bestimmen, und hierzu gehoren fUr ihn die Religion wie auch die Kunst. l2 Auch die Praxisformen der Modeme gehen aus diesen Vermogen hervor. Bei der Vermittlung zwischen den individuellen Besonderheiten und den abstrakten Rechtsformen misst Hegel der Kunst eine besondere Funktion bei, wie die V orlesungen zur Philosophie der Kunst, etwa in der Schiller-Kritik, zeigen. 33 Fur Hegel bleibt die modeme Dichtung zum einen auf eine partielle Rolle beschrankt, insofem sie in der Gegenwart eine allgemein verbindliche Handlungsorientierung nicht zu stiften vermag. Als vergangene Kunst vermag sie uns uber die Bedingungen der Gegenwart zu belehren. Als Gestalt der Gegenwart aber hat die Kunst die Moglichkeiten, unser Selbstverstandnis als reflektierende, Rechtfertigung fordemde Individuen zu bestimmen. Trotz ihrer Partialitat kommt der Kunst eine herausgehobene Rolle zu, insofem sie neben Bildung auch als Vermogen der Individuen wirksam ist. Nach der politischen Entmachtung von Kirche und Fursten ubemimmt der Staat die Verantwortung, so Hegel in Paragraph 158 der Vorlesung, fUr Institutionen und Werke aus Religion, Kunst und Wissenschaft. Hegel fordert von der inneren Verwaltung des Staates (dj. Polizei) diese Sphiiren zu schutzen. "Die bloB negative, aber allererste Beforderung der Wissenschaft und Kunste ist, diejenigen, die darin arbeiten, gegen Diebstahl zu sichem und ihnen den Schutz ihres Eigentums angedeihen zu lassen"34. Eine Forderung, die Kulturpolitik auf rechtliche MaBnahmen beschrankt. Werden Werke als "lebendige und selbstandige Zwecke", als offentliche Denkrnale preisgegeben, werden sie wie die Kirchenguter in der franzosischen Revolution zu herrenlosem und zufalligem Privatbesitz, so liegt es im staatlichen Entscheidungsspielraum diese Guter als allgemeines Vermogen sicherzustellen und im Museum als allgemeines Bildungsgut zu bewahren. Diese Aufgabe rechtfertigt sich fUr Hegel, aus den notwendigen Bedingungen jeder rechtlichen Ordnung: das einzelne Individuum muss in dieser Ordnung Sphiiren der Einheit zwischen der indivi32

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Fiir die Religion erklart Hegel es zu einem Recht des Staates, "von allen seinen AngehOrigen zu fordem, daB sie sich zu einer Kirchengemeinde halten - iibrigens zu irgendeiner" (Grundlinien, § 270, S. 225). Kirchenpolitisch impliziert die se Forderung eine Absage an eine staatskirchlich verfasste Religiositat zugunsten einer Starkung der Autonomie der Kirche. Inwiefern Hegel hier die Linie der Kantischen Religionsphilosophie - Religion als Medium der MoralitatsbefOrderung fortsetzt, ware im Einzelnen zu prtifen. Vg!. zu dieser Frage insgesamt H. Liibbe: Deutscher Idealismus als Philosophie preuj3ischer Kulturpolitik (Anm. 27), S. 18ff. Zu Hegels Schiller-Kritik vg!. G.W.F. Hege\: Vorlesungen iiber die Philosophie der Kunst. Berlin 1823. Nachgeschrieben von Heinrich Gustav Hotho. Hrsg. von A. Gethmann-Siefert. Hamburg 1998 (G.W.F. Hegel: Vorlesungen. Ausgewahlte Nachschriften und Manuskripte. Bd. 2), S. CXCV. Ders.: Grundlinien, § 69, S. 76. Bernadette Collenberg-Plotnikov and Annemarie Gethmann-Siefert 978-3-8467-4349-2

DER STAA T UND DIE KUNST

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duellen Besonderheit und der geltenden Allgemeinheit finden. Mit der Sicherstellung dieser Spharen greift Hegels Staatskonzeption iiber eine bloBe Kulturverwaltung hinaus und fordert vom Staat kulturpolitische Zielsetzungen.

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Hegel: Die Kunst als ,lebendiges Wissen' in der Jenaer Philosophie des Geistes und in den Vorlesungen iiber die Asthetik 1. In den Anfangen des Hegelschen Denkens - in seinen sogenannten theologischen lugendschriften - fehlt es gewiss nicht an Elementen einer moglichen vorsystematischen Asthetik. Auf sie hat Annemarie Gethmann-Siefert in einer reich gegliederten entwicklungsgeschichtlichen Rekonstruktion der Hegelschen Asthetik in ihrem Buch "Die Funktion der Kunst in der Geschichte" mit Nachdruck aufmerksam gemacht. t Zu einer wirklichen Asthetik oder einer Philosophie der Kunst als Form des Selbstverstandnisses des Geistes lassen sich diese Analysen und Reflexionen uber Schonheit, Sinnlichkeit, die kunstlerische und sinnliche Religion der Antike in ihrem Unterschied zur christlichen Religion der Modeme, uber die Verbindung von Asthetik, Rationalitat, Moralitat und Religion, dennoch schwerlich "systematisieren". Dies gilt insbesondere fur die unterschiedlichen Konfigurationen des "Ideals des ltinglingsalters", das in den lahren zwischen Tubingen und Frankfurt entstand, bevor es mit Hegels Wechsel nach lena zum Systementwurf fortentwickelt wurde. Damit solI jedoch weder die Bedeutung von Hegels Beitrag zum sogenannten A'ltesten Systemprogramm des Deutschen Idealismus - zwischen Kant und den Griechen schwankend - fur die Entwicklung seines Denkens unterschatzt werden, zumal dieses Systemprogramm der Schonheit eine allerhochste Funktion zuschreibt, noch die RoUe, die der "Ontologie der Liebe und der SchOnheit" - platonisch inspiriert - in Frankfurt zukam. Denn diese Ontologie hat nicht nur dem kritischen Verstandnis des Christentums und seines Schicksals die Richtung gewiesen, sondem sie ist bedeutsam auch und vor allem fur die Entstehung des Hegelschen Denkens als einem Denken, welches das Leben denkt und die ungelOsten Widerspruche und Widerstande der Re-

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Vg!. A. Gethmann-Siefert: Die Funktion der Kunst in der Geschichte. Untersuchungen zu Hegels Asthetik. Bonn 1984 (Hegel-Studien. Beiheft 25), S. I. Dabei geht es urn die RoUe, we1che die Kunst zur "Se1bstverstandigung des Menschen, in der Orientierung seines Handelns und der Auslegung der Welt" gehabt hat, unabhangig davon, wie das Kunstwerkjeweils verstanden worden ist: ob als "ein rationales, die Vemunft oder den Verstand ansprechendes Objekt" oder "ein irrationales Stirnulans des Gefiihls und der Ernpfindung". Vg!. auch A. Gethrnann-Siefert: Hegels Asthetik. Stationen der Transformation der Berliner Vorlesungen zur Asthetik. In: Zeitschriftfor philosophische Forschung. 56.2 (2002), S. 274-292. Bernadette Collenberg-Plotnikov and Annemarie Gethmann-Siefert 978-3-8467-4349-2

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flexionsphilosophie zu uberwinden sucht. 2 Die uneigennutzige Liebe, die Liebe zur SchOnheit, von der Hegel in Der Geist des Christentums spricht, muss jedem zur Innerlichkeit und zugleich zu der reinen Art und Weise werden, mit dem Anderen in Beziehung zu treten, d.h. als sich in einem anderen Geist wiedererkennender Geist. Dabei handelt es sich urn eine Tat authentischen Glaubens, der namlich "eine Erkenntnis des Geistes durch Geist" ist. Denn "nur gleiche Geister konnen sich erkennen und verstehen", so wie dies im Glauben an Christus geschieht. Der Glaubige liebt "in einem andem die Schonheit", kann dies aber nur tun, weil er bereits in sich, wenn auch nur unentwickelt, die Schonheit besitzt. Durch den Glauben an das "Licht", wie dies Christus lehrt, wird er selbst zu einem der "Sohne des Lichts".3 Mehr als ein Ansatz zu einer Theorie oder Philosophie der Kunst ist diese Einfiihrung aber - man konnte auch sagen: diese Anrufung der Liebe und der Schonheit als Erscheinen des Seins im Seienden, als Erscheinen des unendlichen Lebens im endlichen - vielmehr die Angabe einer Form der geistigen Erfahrung, in der das Absolute anzutreffen ist und in der man sich aus dem endlichen in das unendliche Leben erheben kann. Im Systemfragment vom September 1800 macht Hegel diese Form in der Religion aus.

2. Wie insbesondere Otto Poggeler gezeigt hat, ist die Entstehung der Hegelschen Asthetik' im Sinne der Kunst als Form des Wissens des Geistes von sich bereits in der Jenaer Periode anzusetzen. Diese Arbeiten zeichnen sich schon in der DifJerenzschrijt von 1801 ab. Hegel versteht hier das Wissen des Absoluten als eine gegliederte, Kunst, Religion und Philosophie in sich enthaltende Region des Geistes, wobei Kunst und Religion in einem sehr engen Verhaltnis zueinander stehen. Durch sie wird auf die gleiche Art und Weise das Absolute angeschaut, in ihnen tritt das Absolute als objektive Totalitat auf: entweder als absolutes Sein, als Werk (in der Kunst) oder als absolute, das Bewusstsein des Glaubigen beschaftigende und bewegende Objektivitat. In jedem Falle handelt es sich urn eine Anschauung ohne "das Tun der subjektiven Vemunft" bzw. - mit dem spateren Hegel- urn ein Wissen, das Anschauung, Gefiihl und Vorstellung ist, nicht aber Begriff.

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"lm Reiche Gottes", schreibt Hegel in Der Geist des Christentums, "kann es keine Beziehung geben, als die aus der riicksichtslosesten Liebe und damit der hOchsten Freiheit hervorgeht, die von der SchOnheit allein die Gestalt ihrer Erscheinung, und ihr Verhaltnis zu der Welt erhalt" (vg!. G.W.F. Hegel: Thealagische Jugendschrifien. Hrsg. von H. Noh!. Tiibingen 1907, S.328). Vg!. a.a.O., S. 289. Vg!. O. P6ggeler: Die Entstehung van Hegels Asthetik in Jena. In: Hegel in Jena. Hrsg. von D. Henrich und K. Diising. Bonn 1980 (Hegel-Studien. Beiheft 20), S. 249ff. Bernadette Collenberg-Plotnikov and Annemarie Gethmann-Siefert 978-3-8467-4349-2

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Sowohl die inhaltliche Verbindung von Kunst, Religion und Philosophie, als auch das besondere, die Kunst und die Religion einende Band bleiben in den folgenden Schriften Hegels erhalten, und zwar als Bewegung der formalen Veranderung und der inhaltlichen Vertiefung und Entwicklung. Wenn in der Phiinomenologie des Geistes (1807) die Kunst in der Religion mit enthalten ist, als eine zwischen der natiirlichen und der offenbaren oder absoluten Religion vermittelnde "Kunstreligion", so bilden hingegen in der Philosophischen Enzyklopadie der lahre 1808ff. Kunst, Religion und Wissenschaft (Philosophie) die Momente des "Geistes in seiner reinen Vorstellung". Darin kiindigt sich bereits die Sphare des "absoluten Geistes" an, die in der ersten Auflage der Enzyklopadie der philosophischen Wissenschaften erscheint, wo die Kunst jedoch wieder ~ als "Kunstreligion" ~ unter die Form der Religion gesetzt wird. Der vollstandig entwickelte absolute Geist in seiner endgiiltigen Kategorisierung erscheint in den folgenden Auflagen der Enzyklopadie von 1827 und 1830 und in den Vorlesungen iiber die Asthetik. Dennoch findet sich die Bestimmung der Kunst als erster Form des Wissens des Geistes 5 von sich schon vor der Philosophischen Enzyklopadie der Niimberger lahre und der Phanomenologie des Geistes vorgezeichnet, namlich in der Philosophie des Geistes von lena, im Wintersemester 180511806. Der in dieser Philosophie des Geistes den Begriffen der Kunst, der Religion und der Wissenschaft (Philosophie) gewidmete Abschnitt beginnt mit folgender Aussage: Der in der Realitat des Staates absolut frei gewordene Geist ist unmittelbar Tatigkeit, er ist die Tatigkeit des Erzeugens, des Hervorbringens einer Welt, die er nicht a1s etwas von ihm Verschiedenes vorfindet, sondem in der er unmittelbar seine eigene Form wiedererkennt und in der er sich selbst anschaut. So ist der Geist ~ schreibt Hegel ~ "unmittelbar die Kunst. Das unendliche Wissen, das unmittelbar lebendig, seine eigene Erfiillung ist, das alle Bediirftigkeit der Natur und der au/3eren Notwendigkeit, der Entzweiung des Wissen von sich und seiner Wahrheit ~ in sich zurUckgenommen".6 Mit dieser intimen Bindung der Kunst an Religion und Philosophie kommt hi er ein fester Grundsatz der Hegelschen Philosophie der Kunst zum Ausdruck: Die Kunst ist sowohl ein Tun als auch ein Wissen, sie ist die Tatigkeit des freien Geistes, der eine Welt herstellt, welche die Gestalt seiner selbst besitzt, und der damit sich selbst anschaut.' 5

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Eine Bestimmung, wie D'Angelo bemerkt hat, in der "der systematische Ort der Kunst" "durch die Anerkennung der sinnlichen Natur als unterscheidendem Charakter der Kunst" festgelegt wird (vg!. P. D' Angelo: Simbolo e arte in Hegel. Roma-Bari 1989, S. 60). G.W.F. Hegel: Jenaer Systementwiirfe. Bd. 3: Naturphilosophie und Philosophie des Geistes. Hrsg. von R.P. Horstmann unter Mitarbeit von J.H. Trede. Hamburg 1987 (Gesammelte Werke. Bd. 8), S. 253. In dies em Sinne k6nnte hier fur Hegel auch Martin Heideggers Definition der Kunst als einem Tun Anwendung finden, das ein "Hervorgehenlassen" von etwas als ein "Hervorgebrachtes" ist, nicht im Hinblick auf eine m6g1iche Nutzung, sondern auf die Einrichtung der "Wahrheit" im Seienden, d.h. im "Werk". Siehe hier auch die in Holzwege (Gesamtausgabe. 1. Abt.: VerOffentlichte Schriften 1914-1970. Bd. 5. Frankfurt a.M. 1977, S. 48) enthaltenen Bernadette Collenberg-Plotnikov and Annemarie Gethmann-Siefert 978-3-8467-4349-2

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Das Ideal des "KunstschOnen" ist deshalb diejenige Realitat, deren Gestalt dem Begriff gemaB ist. Es ist die individuelle, konkrete Form, die von sich aus nur die allgemeine Bedeutung, die Idee, hervorgehen lasst. Auf dieses Ideal kann man die Definition des Jenaer Textes zuriickfUhren: Die Kunst "ist unmittelbar die Form", die ,jedes als Unendliches zur Anschauung bringen kann; sein inneres Leben oder seinen Geist hervortreten lasst ~ es als Geist zum Gegenstande macht".' Im "schonen" Kunstwerk, in dem die Form der SchOnheit ausgemacht und realisiert ist, verlieren der besondere (reale und imaginare) Inhalt und das sinnliche Material, aus dem die Gestalt besteht, sofern sie die im Sinnlichen und Objektiven existierende Form ist, ihr Bestehen als unmittelbares, endliches Sein und stellen sich in der flieBenden Einheit der Gestalt als Momente des Ganzen auf. Sie sind lediglich das Mittel, mit dem der wahre Inhalt der Kunst sich eine Existenz gibt, d.h. der einzige Inhalt, der sich angemessen in der Form der SchOnheit auszudriicken vermag, namlich die Idee. Diese Prazisierung erlaubt es, die Bedeutung dessen zu verstehen, was Hegel im Jenaer Text uber die Beziehung von Form und Inhalt erklart: Die Kunst "ist unmittelbar die Form, der der Inhalt gleichgultig ist, und die sich in jedem herumwerfen konnte ~ jedes als Unendliches zur Anschauung bringen kann".9 Welcher Inhalt und in welchem MaBe ist er der Kunst als Form indifferent? Wie bereits angedeutet ist die sogenannte "Materie" des Kunstwerks der Inhalt, auf den Hegel sich hier bezieht: GefUhle, Einbildungen, Vorstellungen des Kunstlers, in ihnen gemeinte naturliche, geschichtliche und mythische Ereignisse, sowie ~ untergeordnet ~ das Material, in dem die Form raumliche Starke und zeitliche Objektivitat erlangt, mit anderen Worten: die Ausdrucksmittel. Auch der unbedeutendste Inhalt des tag lichen Lebens oder der Umwelt kann von der Kunst verklart werden. Diese hat fur Hegel, wie Valerio Verra beobachtete, notwendigerweise sowohl mit dem narurlichen als auch mit dem taglichen Leben zu tun. Dabei handelt es sich urn eine ambivalente Beziehung, denn wahrend es unhintergehbare Bedingung fur die Erscheinung der Idee im Sinnlichen und im Objektiven ist, stellt dieses Verhiiltnis doch auch eine "ewige Bedrohung" von Zerstorung, Verformung und Abnutzung des Erscheinens der Idee dar. 10

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Bemerkungen Martin Heideggers zu der Verbindung von Wahrheit und Werk, zu dem kiinstlerischen Tun, zur Kunst als techne. Zu der Beziehung von Hervorbringen und Wissen siehe besonders ebd., S. 70: "hervorbringen" bedeutet hier ,,Her- ins Unverborgene, vor- in das Anwesende bringen". Das kiinstlerische Tun, das Hervorbringen, ist ein Modus des Erscheinens der Wahrheit, ihrer Entschleierung, ihres Sich-einrichten-lassens inmitten des Seienden; in Hegels Ausdrucksweise ist es eine Modalitat, eine Form des Wissens des Geistes von sich im Endlichen, im Sinnlichen und im Objektiven. G.W.F. Hegel: Jenaer Systementwurfe. Bd. 3 (Anm. 6), S. 253. Ebd. Vg!. V. Verra: L'arte e la vita nell'estetica hegeliana (privates Manuskript), Ms. 34. Bernadette Collenberg-Plotnikov and Annemarie Gethmann-Siefert 978-3-8467-4349-2

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Der Inhalt selbst kann dabei, wie Hegel in den Vorlesungen iiber die A"sthetik erkliirt, auBerhalb seiner kunstlerischen Verkliirung "ganz gleichgultig sein" oder er kann "im tiiglichen Leben" nur "augenblicklich interessieren"ll. Es kehrt so das Form-Sein der Kunst emeut in den Vordergrund. Dieses Mal jedoch nicht unter dem Gesichtspunkt des Kunstwerkes, sondem unter dem des Herstellens, unter dem subjektiven Gesichtspunkt des plastischen, anschauend-herstellenden Geistes, weshalb die Kunst reine Form im Sinne der Gestaltung ist. "Der Mensch aber", so liest man in Hegels oben erwahnten Vorlesungen, "als kunstlerisch schaffend ist eine ganze Welt von Inhalt, den er der Natur entwendet und in dem umfassenden Bereich der Vorstellung und Anschauung zu einem Schatze zusammengehiiuft hat, welchen er nun auf einfache Weise ohne die weitlaufigen Bedingungen und Veranstaltungen der Realitat frei aus sich herausgibt".12 Die Formativitat der Kunst ist die Modalitat des unmittelbaren Wissens des absoluten Geistes, der eine Welt herstellt und anschaut, die in der Gestalt sich selbst als eine Form reflektiert. Zwischen wahrem Inhalt und Form der Kunst besteht also eine weder zufallige no ch auBerliche, sondem vielmehr eine notwendige und innerliche Beziehung - und zwar in dem Sinne, dass die schone Kunst sich nur realisiert, wenn eine gegenseitige Konversion von Inhalt und Form stattfindet. Zu diesem "Ereignis", so Hegel, ist es in der klassischen Kunst und besonders in der griechischen Skulptur gekommen. Von dieser V oraussetzung ausgehend, der zufolge das Ideal der Kunst sich in einem Moment der klassischen Kunst verkorpert hat, lasst Hegel den kunstlerischen Geist nicht einen Weg des Fortschritts, sondem der Dekadenz folgen. In dem Jenaer Text, in dem ausdrucklich noch nicht die symbolische Form der Kunst erscheint, sondem nur die klassische und die romantische, ist das noch offensichtlicher. Wiihrend der hOchste Grad der Offenbarung des Geistes in der Art und Weise des Herstellens und Anschauens in der klassischen Kunstform anzutreffen ist, also im Beginn der Kunst, spaltet sich in der romantischen Kunstform der Inhalt von der Form, und die unmittelbare Einheit des Geistes mit seiner sinnlichen Erscheinung lOst sich auf, weil die Subjektivitat des Geistes mittlerweile die Vg!. G.W.F. Hegel: Vorlesungen uber die Asthetik. 3 Bde. Frankfurt a.M. 1986 (Werke. Auf der Grundlage der Werke von 1832-45 neu edierte Ausgabe. Redaktion E. Moldenhauer und K.M. Michel rim Folgenden: Werke]. Bd. 13-15), hier: Bd. 1 (Werke. Bd. 13), S. 214-216. Dies ist nach Hegel zum Beispiel in der hollandischen Malerei zu beobachten: "Samt, Metallglanz, Licht, Pferde, Knechte, alte Weiber, Bauem, aus Pfeifenstummeln den Rauch herausblasend, das Blinken des Weins im durchsichtigen Glase, Kerle in schmutzigen Jacken, mit alten Karten spielend": All die se Dinge ziehen uns an, weil sie das Produkt der Tatigkeit des Geistes werden, der sie in Farben, Flachen und ihr Verhaltnis verwandelt (vg!. ebd.). 12 A.a.O., S. 215. In unbewusster Fonn zeichnet diese Kreativitat auch den "Sprung" der Subjektivitat in der spezifisch menschlichen Sphare aus, wie Hegel gerade in der Philosophie des subjektiven Geistes von 1805/06 zeigt, wenn er von der "Nacht" der Aufbewahrung des "reinen Se1bst" spricht, in dem ein "Schatz" von noch nicht vergegenstandlichten Bildem und Vorstellungen angehauft wird, der im Folgenden durch die Erinnerung, die Sprache und das Gedachtnis objektiv als ein Reich von Namen und als eine Welt gesetzt wird (ders.: Jenaer Systementwurfe. Bd. 3 [Anm. 6], S. 172ff.). II

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sinnliche ObjektiviUit iiberragt und iiberschreitet. Wenn der Geist das Selbst als in sich selbst reflektierendes erkennen will, als ein allgemeiner selbstbewusster Geist, so bemiiht er sich als kiinstlerischer Geist im Sinnlichen und Objektiven nicht mehr darum, seine in einer Gestalt reflektierte Form zum Ausdruck zu bringen, sondem eben sich selbst als reine Form, als Bedeutung, als Idee. Dabei macht er jedoch die Erfahrung der Unfahigkeit der Anschauungsform, den Geist als wahren Inhalt, als unendlichen und selbstbewussten Geist auszudrucken. Die Anschauung hat namlich immer ein endliches Sein zum Ende. Ihr Wesen besteht darin, schreibt Hegel in der Philosophie des subjektiven Geistes von 1805/1806, unmittelbares "Wissen eines Seienden" zu sein lJ , im Falle der Kunst das Wissen eines Werk-Seienden, eines Gegenwartig-Seienden, als ein Produkt des Geistes und als etwas, das in sich die Form des Geistes mit si ch fiihrt. Aber der Geist kann nicht bei der Anschauung seiner selbst stehen bleiben, beim Wissen von sich als Seiendem, weil er im wesentlichen Bewegung ist, Vermittlung seiner selbst mit sich. 14 Deshalb ist die Kunst, sofem sie Anschauung ist, nur die erste Form, in der der Geist sich selbst erkennt, und darin liegt ihre Grenze, ihre Endlichkeit, namlich dazu ausersehen zu sein, als hochste Form des Selbstverstandnisses des Geistes zu enden. Hegel verweilt im Text bei der Bestimmung des Kunstbegriffs unter dem Aspekt seiner Endlichkeit, bei dieser Unfahigkeit der Kunst, bei ihrer dialektischen Natur. Diese erlaubt es ihr nicht, das Unendliche zu erfassen, den wahren und unendlichen Inhalt, sondem die Kunst kann "ihren Gestalten nur einen beschrankten Geist geben", d.h. den absoluten Geist nur in einer Selbstbestimmung als konkreter Individualitat. 15 Der wahre Inhalt der Kunst, und zwar sowohl auf der Seite des Kiinstlers als auf der des Kunstwerkes, ist ein endlicher Inhalt, ist der Volksgeist. Das Kunstwerk ist nur eine endliche Vorstellung des Unendlichen: Es wird als Unendlichkeit aufgenommen und verehrt, aber als solche ist diese Unendlichkeit nur Gegenstand des Glaubens, nicht wahre Vorstellung. 16 Die Gottheit wird durch das Glanzen der schonen Form erfasst, und die Kunst glaubt, sich selbst genug zu se in und die gesamte Wahr-

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Vg!. a.a.O., S. 17l. Vg!. ebd. "Die Kunst", schreibt Hegel, "erzeugt die Welt als geistige und flir die Anschauung - sie ist der indische Bacchus, der nicht der klare sich wissende Geist ist, sondern der begeisterte Geist - der sich in Empfindung und Bild einhi.illende, worunter das Furchtbare verborgen ist. - Sein Element ist die Anschauung - aber sie ist die Unmittelbarkeit, welche nicht vermittelt ist - dem Geiste ist dies Element daher unangemessen. [ ... ] Dies Medium der Endlichkeit; die Ansehauung kann nicht das Unendliehe fassen" (vg!. a.a.O., S. 254). "Dieser Gott als Bildsaule, diese Welt des Gesanges, welche den Himmel und die Erde, die allgemeinen Wesen in mythischer individueller Form, und die einzelnen Wesen, das SelbstbewujJtsein umschliefit; - es ist gemeinte, nicht wahre Vorstellung" (vg!. a.a.O., S. 254f.). Bernadette Collenberg-Plotnikov and Annemarie Gethmann-Siefert 978-3-8467-4349-2

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heit des Geistes ganzlich auszudrucken,17 In Wahrheit ist ihr VoIlzug und ihre Perfektion das aus seiner Einheit mit dem Sinnlichen, aus der Gestalt heraus getragene Unendliche und Ideale, und zwar in der Reinheit der VorsteIlung und des Gedankens, wo der absolute Geist sich als Einheit und Ganzes vorsteIlt und denkt, nicht mehr in einer Pluralitat einzelner Geister unterschieden, die die Schonheit als absolute "Lebendigkeit", als "freies eigenes Leben" erscheinen lasst. Deshalb ist "die Kunst in ihrer Wahrheit vielmehr Religion", 18 Wahrend "in der Kunstwelt [, .. ] jedes Einzelne durch die SchOnheit freies eigenes Leben" gewinnt, erscheint in der Religion - die hi er die christliche als absolute Religion ist - der absolute Geist, der sich als absoluter und als "das Selbst aIler weiB".19 In diesem Sinne ist die KunstschOnheit zwar ein erstes Hervorkommen der Wahrheit, zugleich aber auch der sie verhiiIlende Schleier, sofem sie eine sinnliche, bildhafte und phantastische Konfiguration ist, in welcher diese eingehiiIlt bleibt,2° In der geistigen Emanzipation des Menschen, d.h. im VoIlzug seiner Freiheit, wenn er sich dem AuBeren der Natur und der Begrenztheit des Endlichen entzieht, ist die Kunst nur ein Moment, aber nicht die VoIlendung. Die asthetische Perspektive" I der Aus16sung, der Riickgabe des Menschen an sich selbst, bleibt bei Hegel eine kategorial und historisch durch die philosophische Perspektive iiberwundene Sichtweise, wie in der Anmerkung zu § 562 der Enzyklopadie ausdrucklich gesagt ist: "Die schone Kunst hat von ihrer Seite dasselbe geleistet, was die Philosophie, - die Reinigung des Geistes von der Unfreiheit. [ ... ] Aber die schOne Kunst ist nur eine Befreiungsstufe, nicht die hochste Befreiung selbst. - Die wahrhafte Objektivitat, welche nur im Elemente des Gedankens ist, dem Elemente, in welchem aIlein der reine Geist fUr den Geist, die Befreiung zugleich mit der Ehrfurcht ist, mangelt auch in dem Sinnlich-Schonen des Kunstwerks".22 Was schlieBlich die romantische asthetische Perspektive anbetrifft, so entsteht sie nach Hegel aus der Illusion des Kiinstlers, die allgemeine Subjektivitat des Geistes, die Freiheit aIlein durch die "Form der Lebendigkeit" oder die Schonheit aussagen zu konnen: So zieht sich der Geist in die rein innerliche Bewegung der Gestaltung zuruck, trennt die Form vom Inhalt und fliIlt in den Formalismus, der zum Ideal der Kunst selbst in einem Widerspruch steht. "Der Kiinstler", erklart Hegel im Jenaer Text, "fordert daher haufig, dass das Verhaltnis zur 17 "Die Schonheit ist Form, sie ist die Tiiuschung der absoluten Lebendigkeit, die sich selbst genugt, und [glaubt, dass sie] in sich geschlossen und vollendet sei" (vg!. a.a.O., S. 254; in eckigen Klammem: meine Erganzung). 18 Vg!. a.a.O., S. 254f. 19 Vg!. ebd. 20 "Die Schonheit", beobachtet Hegel im Jenaer Text, "ist vielmehr der Schleier, der die Wahrhe it bedeckt, als die Darstellung derselben" (vg!. a.a.O., S. 255). 21 Fur die Bedeutung der "asthetischen Perspektive" vg!. F. Menna: Projezia di una societa estetica. Roma 1968, S. 11ff. und S. 24ff. (zur asthetischen Perspektive bei Schiller und in der Romantik). 22 G.W.F. Hegel: Enzyklopiidie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. Frankfurt a.M. 1970 (Werke. Bd. 10), § 562 Anm., S. 372. Bernadette Collenberg-Plotnikov and Annemarie Gethmann-Siefert 978-3-8467-4349-2

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Kunst nur Verhaltnis zur Form sei, und von dem Inhalt zu abstrahieren sei; aber diesen Inhalt lassen sich die Menschen nicht nehmen - Sie verlangen Wesen - nicht bloBe Form".23

3. Dieser Verlauf der Subjektivierung der Kunst, der ihr Ende als hochste Form des Selbstverstandnisses des Geistes anklindigt, spiegelt sich in der Hegelschen Unterteilung der Formen der Kunst und der Kiinste wider. In den Vorlesungen iiber Asthetik sind die Formen der Kunst, d.h. die Momente, in die das kiinstlerische Ideal sich aufgliedert, die symbolische, die klassische und die romantische Form. Im Jenaer Text ist nur von zwei Formen die Rede: von der klassischen und der romantischen, auf die im Laufe der Untersuchung des Systems der Kiinste, und zwar insbesondere im Hinblick auf die Poesie Bezug genommen wird. In der nicht empirischen, sondem vom Begriff der Kunst selbst abgeleiteten Klassifizierung der Kiinste in den Vorlesungen sind diese in drei Spharen unterteilt: in die in der Architektur realisierte Sphare der auBeren Kiinste, die einfache "Einzaunung" des Gottes, in die in der Skulptur verwirklichte Sphiire der objektiven Kunst und in die schrittweise von der Malerei, der Musik und der Poesie realisierte subjektive Kunst. In der Architektur verwirklicht si ch vollstandig die symbolische Form, in der Skulptur die klassische Form und in der Malerei, der Musik und der Poesie die romantische Form. In den Jenaer V Orlesungen tritt diese Klassifizierung anders auf. Dort erscheint sie als ein Schwanken der Kunst zwischen zwei Extremen: zwischen "plastischer und musikalischer Kunst", und "zwischen beide fallt die Malerei [ ... ] [und] die Poesie".24 Schon hi er ist die Klassifizierung nicht empirischer Art, sondem wird vom Begriff der Kunst abgeleitet. AIs Wissen des Geistes von sich, der sich von seiner natiirlichen Existenz und seinem unbewussten Leben befreit hat, indem er sich in der Form der Anschauung und Herstellung seiner selbst als Werk setzt, ist die Kunst namlich aufgrund ihres eigenen Begriffes dazu bestimmt, "zwischen der Gestalt und dem reinen Ich derselben" zu schwanken, d.h. zwischen der bestimmten Form als individueller Totalitat und "schoner" Individualitat, in der die Idee im Objektiven und Sinnlichen zur Erscheinung kommt, einerseits und der Idee als allgemeiner und unendlicher Subjektivitat, als Tatigkeit des Geistes, der von der aus der Gestalt herauskommenden und in der Gestalt sich ausdruckenden Natur frei ist, andererseits. Aus diesem Grund "schwankt" die Kunst in der ihr wesentlichen sinnlichen, objektiyen und inhaltlichen Bestimmung zwischen dem AuBeren der raumlichen Gestalt und dem Inneren der zeitlichen Bewegung, d.h. zwischen der Skulptur 23 Vg!. G.W.F. Hegel: Jenaer Systementwiirfe. Bd. 3 (Anm. 6), S. 255. 24

A.a.O., S. 253.

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und der Musik. "Die Plastik", schreibt Hegel im Jenaer Text, "ist die ruhende Darstellung des Gottlichen". Durch sie geschieht es, dass der Begriff, die geistige Innerlichkeit, wie es in den Vorlesungen heiBt, "sich in die sinnliche Gestalt und deren auBeres Material hineinwohnt und beide Seiten sich in der Weise ineinanderbilden, daB keine iiberwiegt".25 Die gegenseitige Durchdringung des Allgemeinen und Individuellen, des Idealen und Realen, bewahrheitet sich in der Bildsaule als Kunstwerk, einer konkreten, durch den Geist, durch den Kiinstler hergestellten Individualitat. Der Kiinstler lost sich jedoch unmittelbar vom Werk ab, da er in ihm nichts von seinem besonderen Selbst, von seiner Subjektivitat gesetzt hat: "Das Allgemeine des Inhalts ist vom Kiinstler unerschaffen; es ist ihm durch die Mythologie und Sage" gegeben, in denen sich die gemeinsame Substanz ausdriickt, der Volksgeist, und genauso sind ihm auch "das Allgemeine und die Einzelheiten der menschlichen Gestalt" schon gegeben.26 Wenn die Skulptur die objektive Seite der Kunst ausdriickt, in der die Subjektivitat des Geistes sich in der Gestalt umgesetzt und vereinigt hat, sich aber nicht als Subjektivitat zeigt, so driickt die Musik hingegen die subjektive Seite der Kunst aus, in der die Subjektivitat sich als solche zeigt, als Tatigkeit, Bewegung und Zeitlichkeit. In der Musik lost sich das sinnliche raumliche Material in die reine Bewegung der vibrierenden raumlichen Punkte auf, in die zeitliche Bewegung27, in der die Subjektivitat des Geistes sich als "reines Ich" gegenwartig macht, d.h. als absolute Negativitat, die sich durch das Verschwinden des Tonens als solchem und durch die Harmonie, in deren Vereinigung die besonderen Klange und Tone vemeint werden, anschaubar macht.28 Die Musik ist wesentlich die Kunst der Innerlichkeit - das Horen, nicht das Sehen -, ihr Element ist das Gefuhl ohne auBerlich objektive Form, dessen Form aber das Formen selbst ist, das sich innerlich objektiviert und sich nur durch die AuBerlichkeit gegenwartig macht, die in sich selbst sich vemeint und auflost. Hegel schreibt in den Vorlesungen: "Ihren Gehalt [der Musik] macht deshalb die geistige Subjektivitat in ihrer unmitte1baren, subjektiven Einheit in sich, das menschliche Gemiit, die Empfindung als solche aus, ihr Material der Ton, ihre Gestaltung die Figuration, das Zusammenstimmen, sich Trennen, Verbinden, Entgegensetzen, Widersprechen und Auflosen der Tone nach ihren quantitativen Unterschieden voneinander und ihrem kiinstlerisch verarbeiteten ZeitmaB".29 25 26 27

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Vg!. ders.: Vorlesungen uber die A"sthetik. Bd. I (Anm. 11), S. 118. Vg!. a.a.O., S. 380. Es sind hier Hegels Uberlegungen iiber Raum und Zeit und ihr Verhaltnis zueinander zu vergegenwartigen, wie sie in der Naturphilosophie von 180511806 ausgefuhrt sind, sowie in ihren weiteren Uberarbeitungen in der Enzyklopiidie. Die Musik, schreibt Hegel im Jenaer Text, "ist das reine Horen, worin die Gestaltung nur das verschwindende Tonen zum Dasein {bringt}, und die Melodic dcr Bewegung unter der Harmonie, dem in sich selbst zuriickgekehrten Dreiklang sich bewegt - sie ist gestaltlose Bewegung" (vg!. dcrs.: Jenaer Systementwurfe. Bd. 3 (Anm. 6), S. 253). Vg!. ders.: Vorlesungen uber die A"sthetik. Bd. 2 (Werke. Bd. 14), S. 261. Bernadette Collenberg-Plotnikov and Annemarie Gethmann-Siefert 978-3-8467-4349-2

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Zwischen den Extremen der Skulptur und der Musik befindet sich jene Sphare der Kunst, die zwischen der objektiven Form und der Innerlichkeit vermittelt, namlich die Malerei und die Poesie. In der Malerei bleibt das gestaltende Element als Raumlichkeit erhalten, jedoch reduziert auf die alleinige Dimension der vom Licht getroffenen Flachen, und diese Raumlichkeit, die die Bestimmung der Sichtbarkeit als Farbe erlaubt, ist allein das Mittel, in dem sich die Innerlichkeit des Subjekts, die Welt des reinen Ichs, ausdriickt. Die Malerei, beobachtet Hegel in den Vorlesungen, vemeint die Autonomie der auBerlichen Gestalt und wendet sie "ganz zum Ausdruck des Innern". Diese Hegelsche Charakterisierung der Malerei durch die Besonderheit des Ausdrucksmittels der sichtbaren, durch die Farbe bestimmten Flache ist ausgesprochen interessant. "Die Oberflache", wie Filiberto Menna in seinem Kommentar zu den der Malerei gewidmeten Seiten der Vorlesungen scharfsinnig beobachtet hat, "ist [von Hegel] bereits erfasst worden als bestimmender Faktor der Sprache der Malerei, so dass auf entscheidende Weise die Vorstellung beeinflusst und im Bereich eines antinaturalistischen Systems zu einem ,Schein' der Malerei zUriickgefiihrt wird".30 In der Malerei, wie Hegel in den Vorlesungen darlegt, ist die Form die Erscheinung des Innem auf der bunten, durch die Farbenverteilung selbst definierten Flache. Im Jenaer Text finden sich diese Elemente kurz angedeutet: Dernzufolge ist die Malerei "das Plastische, welche die Farbe in sich, das Selbstische in der Form der Empfindung an sich nimmt"31, wobei es vor all em Hegels Absicht ist, den Wert der Malerei als Vermittlungskunst zwischen Skulptur und Musik hervorzuheben, zwischen dem Uberwiegen des Objektiven und dem des Subjektiven. Auch die Poesie ist nach dem Jenaer Text Kunst der Vermittlung. In ihr durchdringt das plastische, figurative, durch die innerliche Objektivitat der Vorstellung konstituierte Element sich gegenseitig mit dem musikalischen, mit dem als Wort und Sprache entwickelten Klang, der in sich selbst seinen Inhalt hat, d.h. der in sich selbst seine Bedeutung verkorpert.32 Diese V ermittlerfunktion der Poesie wird von Hegel auch in seinen Vorlesungen wieder aufgenommen. Die Poesie vereinigt in sich "die Extreme der bildenden Kunste und der Musik".33 In ihr bestimmt und konsolidiert sich die Formgebung in Formen und Gestalten der Vorstellung, die sich in der Sprache herausstellen. Der Klang wird zum Kommunikationszeichen herabgesetzt, der Wert des W ortes 30 Vg\. F. Menna: La Linea analitica dell'arte moderna. Le figure e le icone. Torino 1975, S.

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21; vg\. aber auch a.a.O., S. 20-24. Menna rechnet ausdriicklich Hegel das Verdienst zu, die selbsUindige und konventionelle Bedeutung der Sprache der Malerei verstanden und geltend gemacht zu haben, und zwar in einer Perspektive, die sich sowohl dem spekulativen und naturalistischen als auch dem transzendentalistischen Modell entzieht und so "die Theorie und Praxis der modernen Kunst" vorwegnimmt (vg\. a.a.O., S. 23f.). Vg!. G.W.F. Hegel: Jenaer Systementwiirfe. Bd. 3 (Anm. 6), S. 253f. Vg!. ebd.; zwischen beide Extreme "fallt die Malerei" und ,.die Poesie, das Plastische als Vorstellung der Gestalt in das Musikalische, dessen Tiinen zur Sprache erweitert - einen Inhalt in si ch hat". Vg!. ders.: Vorlesungen iiber die Asthetik. Bd. 3 (Werke. Bd. 15), S. 224. Bernadette Collenberg-Plotnikov and Annemarie Gethmann-Siefert 978-3-8467-4349-2

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ist nicht durch seine Klangfulle gegeben, sondem durch die in ihr verk6rperte und kommunizierbar gemachte Bedeutung, Damit wird der geistige Inhalt vom sinnlichen Material befreit und die Poesie tritt als eine vollstandig geistige und subjektive Kunst auf, deren Objektivitat in dieselben Formen des innerlichen V orstellens und Anschauens gesetzt ist. "Der Geist", schreibt Hegel in den Vorlesungen, "wird so auf seinem eigenen Boden sich gegenstandlich und hat das sprachliche Element nur als Mittel, teils der Mitteilung, teils der unmittelbaren AuBerlichkeit, aus welcher er als aus einem bloBen Zeichen von Hause aus in sich zuriickgegangen ist".34 Der gesamte Bereich der geistigen Erfahrung kann durch die kiinstlerische Sprache ausgedriickt werden, womit sich das Bediirfnis stellt, die Grenzen zwischen Poesie- und Prosaausdruck zu bestimmen. Diese Frage stellt Hegel sich schon im Jenaer Text, wo er erklart: "Die absolute Kunst ist die, deren Inhalt der Form gleich ist", und dies genau geschieht in der Poesie, wo die Gestalt Vorstellung und innerliche Anschauung und daher dem geistigen Inhalt gleich ist. Sodann fugt Hegel hinzu: "Es kann alles in die Kunst erhoben werden", d.h. alles, was mit dem Geist in Beziehung steht - natiirliche Welt, insofem sie durch den Geist dargestellt und gedacht ist, Ereignisse und Handlungen der geschichtlichen Welt, Gedanken, Vorstellungen, Leidenschaften, Gefuhle und subjektive Handlungen - kann durch die Kunst ausgedriickt werden und insbesondere durch die Poesie, welche die Kunst der Sprache ist. Und dennoch ist dieser Anspruch der modemen Kunst und besonders der modemen Poesie, jeglichen Inhalt zu einem Kunstinhalt erheben zu k6nnen, nach dem Jenaer Text "eine fremde Einbildung". In der Tat ist das Element der Angemessenheit der Form und des Inhalts, welcher in der Sprache gegeben ist, nicht ausreichend, urn den Ausdruck der Prosa von dem der Poesie zu unterscheiden. 35 Nicht jeder dargestellte und angeschaute Inhalt kann, nur weil er dargestellt und angeschaut ist, Inhalt und Gegenstand der Poesie werden, sondem dies gilt nur fur jenen allgemeinen Inhalt, dem es gelingt, sich als individuelle und selbstandige Form der Vorstellung und der durch das Wort geauBerten und mitgeteilten Anschauung zu bestimmen. 36 Die Dichtung erfasst, k6nnte man mit Vi co sagen, die pra-kategoriale, phantastische Einheit des Allgemeinen und des Individuellen, des Unendlichen und des Endlichen, des Idealen und des Realen. Sie unterscheidet sich deshalb sowohl von der Prosa der gemeinen Erfahrung und des Verstandes, der hartnackig bei der Entzweiung stehen bleibt, als auch von der spekulativen Prosa, welche die 34 Vg!. A.a.O., S. 229. 35

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Es muss, schreibt Hegel, "als seiender Inhalt - der prosaischen Anschauung nach - selbst der Form gleich sein - dies ist der Geist selbst" (vg!. ders.: Jenaer Systementwiirfe. Bd. 3 [Anm. 6), S. 254). Die Poesie, schreibt Hegel in den Vorlesungen, ist "ein Wissen, welches das Allgemeine noch nicht von seiner lebendigen Existenz im einzelnen trennt, Gesetz und Erscheinung, Zweck und Mittel einander noch nicht gegeniiberstellt und aufeinander dann wieder rasonierend bezieht, sondem das eine nur im anderen und durch das andere faBt" (vg!. ders.: Vorlesungen iiberdieAsthetik. Bd. 3 [Werke. Bd. 15), S. 240). Bernadette Collenberg-Plotnikov and Annemarie Gethmann-Siefert 978-3-8467-4349-2

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Versohnung im Denken und fur das Denken vollbringt. Gewiss, der Poesie, wie auch allgemein der Kunst, fehlt die wahre Objektivitat und Notwendigkeit des Denkens, und deshalb ist sie, wie auch allgemein die Kunst, fur Hegel dazu bestimmt, als hochste Form der Herausstellung der Wahrheit iiberwunden zu werden. Und dennoch fehlt es gegeniiber Hegels scheinbar endgiiltiger Zuordnung der Poesie innerhalb des Lebens des Geistes nicht an bedeutungsvollen Hinweisen darauf, wie die Beziehung von Poesie und Philosophie auch anders zu bestimmen ware. So hebt Hegel beispielsweise in den Vorlesungen gewisse Gemeinsamkeiten von spekulativer Prosa und Dichtung hervor, indem er beobachtet, dass weder die eine noch die andere es mit der "zufalligen Einzelheit zu tun" hat no ch sie bei den "Trennungen und bloBen Beziehungen" der Vorstellung und des Verstandes stehen bleiben, sondem dass sie beide zur Vereinigung der Identitat und der Differenzen, der Einheit und der Nicht-Einheit in der "freien Totalitat" fortschreiten. Das sich in der spekulativen Prosa ausdriickende Denken "verfliichtigt die Form der Realitat zur Form des reinen Begriffs, und wenn es auch die wirklichen Dinge in ihrer wesentlichen Besonderheit und ihrem wirklichen Dasein faBt und erkennt, so erhebt es dennoch auch dies Besondere in das allgemeine ideelle Element, in welchem allein das Denken bei sich selber ist". Es erfasst also die objektive und notwendige Wahrheit des Realen, aber als eine Wahrheit, "die nicht wieder im Wirklichen selbst als gestaltende Macht und eigene Seele desselben offenbar wird".l7 Von daher besteht der grundlegende Unterschied zwischen Spekulation und Dichtung, der auch auf eine groBere veritative Kraft der Dichtung anspielen konnte: "Das Denken", schreibt Hegel hier, "ist nur eine Versohnung des Wahren und der Realitat im Denken, das poetische Schaffen und Bilden aber eine Versohnung in der wenn auch nur geistig vorgestellten Form rea/er Erscheinung selber".38 Es scheint, als ob die Versohnung im Denken und fur das Denken etwas vom Leben des Geistes aufopfert, da es ihr nicht gelingt, die wahre Realitat wieder in sich zu enthalten, jene Realitat, die in sich, in ihrem Unmittelbar-Sein (die Vemunft, die ist), in ihrem Erscheinen als Realitat vemiinftig ist, wahrend es der Poesie gelingt, wenn auch in der Form der Unmittelbarkeit, das ganze Leben des Geistes zu erfassen, indem sie die Wahrheit (die Identitat des Idealen, des Rationalen und des Realen) in der durch die reale Erscheinung reprasentierten Form offenbaren lasst. Dieser Eindruck Hegels kann als die Riickwirkung seines scharfsichtigen Bewusstseins der Schwierigkeit angesehen werden, welcher die dichterische Phantasie in der modemen Welt begegnet, einer Welt, in der sie bei der Schaffung von sowohl individuellen als auch allgemeinen organischen Formen, den "freien Totalitaten", mit der Welt des prosai-

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Vg!. a.a.O., S. 243f. Vg!. a.a.O., S. 244. Zur Philosophie als "Versohnung" im Denken vg!. G.W.F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts. Frankfurt a.M. 1968 (G.W.F. Hegel: Studien-Ausgaben. Hrsg. von K. Lowith und M. Riede!. Bd. 2), Vorrede, S. 41. Bernadette Collenberg-Plotnikov and Annemarie Gethmann-Siefert 978-3-8467-4349-2

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schen Ausdrucks des gemeinen Bewusstseins, der verstandesmaBigen Uberlegung, mit der Getrenntheit und Uneinigkeit der wirtschaftlichen und sozialen Beziehungen kollidiert oder die Zersetzung und die Spezialisiertheit der empirischen Wissenschaften oder die rein begriffliche Sprache der philosophischen Wahrheit, der im Denken vollzogenen Versohnung, zusammen in sich verschmelzen muss und in dieser ihrer Arbeit unvermeidlich die Spontaneitat, Urspriinglichkeit und Unmittelbarkeit des Ausdrucks verliert, die sie als Kunst schlieBlich besitzen sollte. Der Mythos der klassischen Kunst erscheint auch hi er wieder wie ein nostalgisches Streben nach einer symbolischen Form, die der christlichen und modemen Entdeckung des hOheren Prinzips der Subjektivitat angemessen und dennoch in der Lage ist, im Rea/en (phanomenal, sinnlich, partikular) - in der Anschauung des Konkreten, des Lebendigen, und nicht in der Vorstellung, die sich im rein geistigen Element bewegt oder im allgemeinen und rein begrifflichen Wissen - die Versohnung des Realen und des Idealen, des Endlichen und des Unendlichen, des Subjektiven und des Objektiven, des Besonderen und des Allgemeinen zu verwirklichen. Fest steht ab er, dass es sich urn nichts als eine nostalgische Anziehung handelt, weil die Kraft des Subjektivitatsprinzips, das den Zauber der nattirlichen Sittlichkeit der griechischen Welt zerstort hat, indem es deren unmittelbare Einheit verneinte, die gleiche Kraft des Negativen ist, die dem Verstand angehOrt und grundlegend fur das Leben des Geistes ist, der an und fur sich als Idee und Gedanke, als "absolut freier Geist" ist. Aus dem bisher Ausgefuhrten folgt, dass nicht jeder geistige Inhalt sich in der dichterischen Form ausdriicken lasst, sondem nur das, was an sich allgeme in ist und sich selbst dazu bestimmt, als an sich unendlich und selbstandig vorgestellte Form zu existieren (die "freie Totalitat"). Hat die Dichtung die Natur zu ihrem Gegenstand (z.B. die Landschaftsdichtung), so handelt es sich, nach Hegel, nicht urn wahre Poesie, weil in ihr der geistige Inhalt - bestehend aus Vorstellungen oder aus Verstandesbegriffen, die ihre AuBerlichkeit und einheitslose Beziehung nicht aufheben konnen (die Natur ist in der Tat selbst das Element des AuBeren und des Getrennten) - der dichterischen Form nicht angemessen ist: ,,Naturpoesie", schreibt Hegel im Jenaer Text, ist "daher die schlechteste - Landschaftliche u.s.f. weil ihre Belebung, der Gestalt in der sie unmittelbar ist, widerspricht".39

4. Das Nachdenken tiber die Poesie und insbesondere tiber die modeme Poesie fuhrt Hegel zu zwei weiteren Uberlegungen. Die erste betrifft die Tatsache der Entzweiung von Inhalt und Form, welche den modemen Dichter, und allgemeiner den modemen Ktinstler, dazu bringt, sich auf die Seite der Form zu39

Vg!. ders.: Jenaer Systementwiirfe. Bd. 3 (Anm. 6), S. 254. Bernadette Collenberg-Plotnikov and Annemarie Gethmann-Siefert 978-3-8467-4349-2

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riickzuziehen, in der Annahme, dass jedweder Inhalt des Lebens und des Gedankens als Inhalt der dichterischen Phantasie angenommen und in die Form der Dichtung ubertragen werden konne. Das ist, so Hegel, der "modeme Formalismus der Kunst - Poesie aller Dinge". Der Kunstler und Dichter glaubt alles in der phantastischen Form der Poesie ausdriicken zu konnen, aber sodann ist sein Dichten kein poiein mehr, ein Tun und Herstellen von objektiven Formen, bestimmten und individuellen Gestalten, in denen der geistige Gehalt zur Existenz kommt, sondem die Unmoglichkeit, alles zu objektivem Ausdruck bringen zu konnen, verwandelt das Dichten in den Ausdruck eines "Sehnen[s] aller", verurteilt die Kunst und die Dichtung zur rein innerlichen geistigen Bewegung, der es nicht gelingt, sich als eine "auBere Gewalt" zu setzen, als kreative und bildende Kraft einer objektiven, durch Anmut und Schonheit gekennzeichneten Welt:o Der Anspruch des Subjekts ist sicherlich insofem verstandlich, als es sich zu der Erkenntnis erhoben hat, dass alle Dinge an sich, d.h. nach ihrem Begriff, eine Erscheinung der Idee sind, nur dass sie als solche, als Begriffe, als Gedanken, als vemunftige Gesetze, gar nicht existieren, nicht tatsachlich erscheinen. Daher konnen die Dinge so, wie sie an sich sind, d.h. als Begriffe, Wesen, Gesetze, gar nicht den Inhalt der dichterischen Form darstellen, welche gerade dieses "Schleiers" der "realen Erscheinung" bedarf, urn in ihr die Idee zu manifestieren, das Wesen und die Existenz, den Begriff und das Phanomen vereinigend. 41 An diese erste Reihe von Uberlegungen knilpft eine zweite an, die den Gegensatz betrifft zwischen der antiken "homerischen" Poesie, welche objektive und "plastische" Dichtung ist, und der modemen "romantischen" Poesie, welche subjektive und "musikalische" Dichtung ist. Dieser Gegensatz liefert Hegel die Verifizierung der inneren Dialektik der Kunst. Die Kunst ist Form, welche sich in der Anschauung bewahrheitet und den Inhalt in einer individuellen Totalitat hinaustragt und herstellt, die in der wenn auch innerlichen Sinnlichkeit als in Sprache ausgedriicktes Bild und phantastische Vorstellung gesetzt ist. Als Poesie aber, als der Kunst, in welcher der von der natilrlichen AuBerlichkeit und "realen Sinnlichkeit" fortschreitend sich befreiende Geist sich ausdriickt, neigt sie dazu, das allgemeine und ideale Element des Lebens des Geistes zu bekunden, der sich in sich selbst zuriicknimmt - und das gilt umso mehr, sofem es sich urn modeme Dichtung handelt. 42 Von diesem Gesichtpunkt aus hat die romantische Poesie, als "rein intellektuelle SchOnheit - [ ... ] Musik der

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Vg!. ebd. Vg!. ebd. "Die Dinge", schreibt Hegel im zitierten Textabschnitt, "sind so an sich, in der g6ttlichen Anschauung - aber dieses Ansich ist das abstracte, das ihrem Daseyn ungleich ist". Die Herleitung der einzelnen Ktinste bringt eine schrittweise Befreiung der Kunst von der Sinnlichkeit ans Licht: Die Poesie, schreibt Hegel in den Vorlesungen, stellt diesen Charakter "am scharfsten heraus, insofem sie in ihrer Kunstverk6rperung wesentlich als ein Herausgehen aus der realen Sinnlichkeit und Herabsetzen derselben, nicht aber als ein Produzieren zu fassen ist, das in die Verleiblichung und Bewegung im AuBerlichen noch nicht einzugehen wagt" (vg!. ders.: Vorlesungen uber die Asthetik. Bd. 2 [Werke. Bd. 14], S. 234). Bernadette Collenberg-Plotnikov and Annemarie Gethmann-Siefert 978-3-8467-4349-2

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Dinge", "das homerisch Plastische zu seinem Gegensatze - jenes unsinnlich, dies sinnliche Anschauung":3 In der homerischen und - allgemeiner - in der antiken Dichtung bestimmt sich der wahre Gehalt der Kunst, der Volksgeist, die substantielle Sittlichkeit in den Gestalten der G6tter und der Helden und kommt so plastisch zur Anschauung. In der romantischen und der modernen Poesie hat hingegen die Gestalt, die festgesetzte Form, in der die Bedeutung und der Inhalt leben, nicht mehr das iiberragende Gewicht, das die Kunst, insofern sie lebendige Durchdringung von Form und Inhalt ist, fur sich beansprucht. In der romantischen Poesie miisste die gleiche Bedeutung oder der gleiche geistige Inhalt als solcher herauskommen, als allgemein und unendlich, als ideal und subjektiv, als der gleiche Akt der Formativitat. Auf diese Weise wird jedoch die konkrete Form, die objektive Gestaltung der Vorstellung, indifferent und bleibt unvermittelt in ihrer Partikularitat und Isoliertheit, so wie sie im alltaglichen Dasein ist, so dass sie sich als dichterische und allgemein - als kiinstlerische Form verliert. Die Dichtung wird so "zur Allegorie": jene Vorstellungsart namlich, in der die Bedeutung iiber die auBerliche Form herrscht, indem sie unabhiingig von dieser zum Ausdruck gelangt. Im Jenaer Text beobachtet Hegel, indem er die Gegeniiberstellung von homerischer Poesie (antiker Kunst) und romantischer Poesie (moderner Kunst) weiterfuhrt, dass in der ersteren nicht die "Form des Symbols, der Bedeutung" herrscht, sondern, was letztere betrifft, "nur leise, fern daran angeschlagen" wird, wahrend er von der zweiten aussagt: "hier solI die Bedeutung selbst hervortreten - aber die Gestalt ist verloren". Nun ist es jedoch so, dass die Kunst, gerade weil sie sich selbstandig und "unabhiingig" gegeniiber der realen Sinnlichkeit macht, "zur Allegorie ausgedehnt werden" muss, man aber in diesem Falle einerseits eben den Charakter der "Individualitat" der Kunst verliert, also die Gestalt, die reale Erscheinung, durchdrungen von allgemeiner Bedeutung, andererseits aber die von all er Objektivitat entblOBte "Bedeutung herabgesetzt in die Individualitat" ist, d.h. in die einzelne Subjektivitat, ihre Vorstellungen und ihre allgemeinen, abstrakten Begriffe, so dass die wahre Bedeutung, die Idee, der Geist nicht manifestiert wird. 44 5. Sowohl in den Vorlesungen als auch in den kurzen Ausfuhrungen des Jenaer Textes zeigt sich, dass Hegel ein Bewusstsein entwickelt hat von der problematischen Situation der Kunst in der Moderne sowie von der Tatsache, dass diese Problematik mittlerweile direkt auf die kiinstlerische Tiitigkeit Einfluss

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Vgl. ders.: Jenaer Systementwurfe. Bd. 3 (Anm. 6), S. 254. "Die Kunst ist in dies em Widerspruche mit sich selbst - wenn sie selbstandig ist, zur Allegorie ausgedehnt werden zu miissen, und dann ist sie als Individualitat verschwunden, und die Bedeutung herabgesetzt in die Individualitat, so ist jene nicht ausgedruckt" (ebd.). Bernadette Collenberg-Plotnikov and Annemarie Gethmann-Siefert 978-3-8467-4349-2

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nimmt, sozusagenJiir sich geworden ist. Die Kunst ist nach Hegel niemals auf das "Angenehme" und das "Niitzliche" reduzierbar, sondem sie hat immer einen Willen zur Wahrheit, einen Willen zur "Befreiung des Geistes vom Gehalt und den Formen der Endlichkeit", zur Pdisenz "des Absoluten im Sinnlichen". Dieser Status der Kunst soUte auch fur die Modeme Geltung haben. Nun treten jedoch in der modemen Kunst und auf evidenteste Weise im modemen Lustspie1 "die Gegenwart und Wirksamkeit des Absoluten nicht mehr in po sitiver Einigung mit den Charakteren und Zwecken des realen Daseins" hervor, sondem vielmehr als eine Kritik an der real en Existenz, als eine Kritik des Endlichen, daher "in der negativen Form [ ... ], daB alles ihm nicht Entsprechende sich aufhebt und nur die Subjektivitat als solche sich zugleich in dieser Auflosung als ihrer selbst gewiB und in sich gesichert zeigt".45 Die Kunst vermag das Gottliche nicht mehr in der Form des Seienden, im Horizont des Unmitte1baren und des Mythologischen ans Licht zu bring en, weil der Geist nunmehr sich seiner selbst als selbstbewusster Subjektivitat bewusst geworden ist. Der Kiinstler ist nicht mehr das Selbst, durch welches das Gottliche sich entschleiert, das er den anderen in Form der SchOnheit'6 mitteilt, sondem er erhalt "seinen Inhalt an ihm selber und ist der wirklich sich se1bst bestimmende, die Unendlichkeit seiner Gefuhle und Situationen betrachtende, ersinnende und ausdriickende Menschengeist, dem nichts mehr fremd ist, was in der Menschenbrust lebendig werden kann".47 Dies will sagen - wie bereits Antonio Banfi richtig gesehen hat -, dass das, was endet, fur Hegel nicht die Kunst, sondem nur eine Form von ihr ist, wenn auch diejenige, welche fur die perfekteste gehalten wird, d.h. "die ,schone Kunst', die nach Winckelmann die antike Kultur charakterisierte".48 So wird die Kunst zur Suche nach neuen Ausdrucks- und Kommunikationsformen, nach neuen Erfahrungen und Sprachen, durch die die Wahmehmung und Erkenntnis des Menschen von sich und seiner Welt erweitert und bereichert werden sollen. Eine problematische und weiterhin offene Suche: Von ihr legen die Geschichte der kiinstlerischen Avantgarden von der zweiten Halfte des 19. lahrhunderts bis zum heutigen Tage sowie die widerspriichlichen, aber dennoch an neuen Entwicklungsmoglichkeiten reichen Resultate des "modemen Entwurfs der Kunst''49 das wohllebendigste Zeugnis ab. (IThersetzung: Steffen Wagner)

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Vg\. ders.: Vorlesungen uber die Asthetik. Bd. 3 (Werke. Bd. 15), S. 572. Vg!. ders.: Jenaer Systementwiirfe. Bd. 3 (Anm. 6), S. 254f. Vg\. ders.: Vorlesungen iiber die Asthetik. Bd. 2 (Werke. Bd. 14), S. 238. Vg\. A. Banfi: Motivi dell"estetica contemporanea. In: Vita dell"arte. Mi1ano 1947, S. 94f. Zu dem Bediirfuis eines kritischen Neudenkens und einer Wiederlancierung des Erbes des "modemen Entwurfs" aus Sicht der Kunst b1eiben die Hinweise von Filiberto Menna erhe1lend (11 progetto moderno dell'arte. Mi1ano 1988). Bernadette Collenberg-Plotnikov and Annemarie Gethmann-Siefert 978-3-8467-4349-2

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Kunstfeligion und Geschichte zwischen def Phiinomenologie des Geistes und def Enzyklopiidie von 1817 Die Frage nach dem Verhaltnis von Kunst und Religion bei Hegel ist insofem wesentlich, als zwischen beiden Bereichen sowohl ein intemes als auch ein extemes Band behauptet wird.! Wenn man das vollendete System betrachtet und von der letzten Ausgabe der Enzyklopadie (1830) ausgeht, urn die Stellung der Kunst darin zu verstehen, findet man in der Theorie des absoluten Geistes die Antwort darauf, inwiefem die Kunst das erste Element eben dieses absoluten Geistes darstellt im Verhaltnis zu Religion und Philosophie. Was zudem in den Vorlesungen tiber die Asthetik in ihrer wahrheitsgetreuesten Fassung, namlich der Nachschrift von Heinrich Gustav Hotho aus dem lahre 1823, erstaunt, ist das gleich bleibende Verhaltnis zwischen Kunst und Religion. Die Kunst gewahrt unter der Form der Anschauung, was die Religion unter der Form der Vorstellung und die Philosophie unter der Form des Begriffes gewahren. Diese Weise, die Kunst zu situieren, wurde haufig diskutiert. Den einen erscheint es zu vorteilhaft, den anderen ungentigend. Das Problem liegt eindeutig in der Konzeption der Kunst als unabhangige Realitat oder Sphare. Wir haben uns so sehr daran gew6hnt, die Kunst in ihrer Autonomie zu verstehen, dass wir dazu neigen, diesen Vorbegriff auf den Hegelschen Text zu proj izieren. Andre Malraux hat diesem Vorurteil Gerechtigkeit widerfahren lassen, indem er zeigte, wie sehr unser Kunstbegriff zeitabhangig sei, und zwar in dem Sinne, dass er aus der Romantik entstammt und daher weder ohne Fehleinschatzung auf frtihere Epochen unserer Zivilisation no ch auf andere Zivilisationen tibertragen werden k6nne. 1. Kunst und Religion in den lahren 1805-1806 Es scheint jedoch, dass Hegel zunachst die Kunst unter den Begriff der Religion subsumierte, bevor er zur Kunsttheorie der Enzyklopadie gelangte, die sie als ersten Begriff (Stufe) in der Triade bestimmt, aus der der absolute Geist besteht. Der erste Text, in dem die Idee des absolut freien Geistes erscheint, der seine Bestimmungen in sich zurtickgefiihrt hat und eine andere Welt erschafft, befindet sich am Ende des Systementwurfes von 1805-1806 (Naturphilosophie und Philosophie des Geistes). Hegel schreibt dort: !

Vg!. w. laeschke: Kunst und Religion. In: Die Flucht in den BegrifJ. Materialien zu Hegels Religionsphilosophie. Hrsg. von F.W. Grafund F. Wagner. Stuttgart 1982. Bernadette Collenberg-Plotnikov and Annemarie Gethmann-Siefert 978-3-8467-4349-2

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Die Kunst ist in ihrer Wahrheit vielmehr Religion. Erhebung der Kunstwelt in die Einheit des absoluten Geistes; - in jener gewinnt jedes Einzelne durch die Schonheit freyes eignes Leben - aber die Wahrheit der einzelnen Geister ist, Moment in der Bewegung des Ganzen zu seyn - Wissen des absoluten Geistes von sich als absoluten Geiste; er selbst ist der Inhalt der Kunst, die nur die Selbstproduction seiner, als in sich reflectirten selbstbewuBten Lebens uberhaupt ist _2 "Die Kunst ist in ihrer Wahrheit vielmehr Religion"J, so Hegel. Es ist die Religion, die die Kunstwelt in die Einheit des absoluten Geistes erhebt. Denn die Kunstwelt besteht aus einzelnen Werken. Dank seiner Schonheit gelangt jedes dieser Einzelnen zum freien Leben, das ihm eigen ist. Die Wahrheit der einzelnen Geister ist, Moment in der Bewegung des Ganzen zu sein. Dadurch also weiB der absolute Geist von sich als absoluten Geist. Er ist namlich selbst der Inhalt der Kunst, die nur die Selbstproduktion seiner als in sich reflektierten, selbstbewussten Lebens ist. In ihrer unmittelbaren Gegenwart ist die Kunst der absolute Geist in der der Anschauung gegebenen Unmittelbarkeit. Sie zeigt das Gottliche in Gestalten wie Bacchus - der Geist, der dem Enthusiasmus preisgegeben ist - oder den Statuen. Die Wahrheit der Kunst ist also die Religion, insofem diese das Gottliche fur sich selbst darstellt, namlich Gott als Tiefe des Geistes, der sich selbst weiB. Aber auch die Religion selbst stellt das Gottliche nicht auf adaquate Weise dar, bevor sie zur absoluten Religion wird. Wie kommt Hegel dazu, die Autonomie der Kunst im Verhaltnis zur Religion zu entdecken und die Kunst als eine Welt, eine "Kunstwelt" zu denken, die uber eine eigene Geschichte verfugt? Urn diese Frage zu beantworten, muss man sich, gemaB einer genetischen Methode, auf die ersten Texte smtzen, worin Hegel von der Kunst handelt, namlich die Phanomen%gie des Geistes und die Heidelberger Enzyk/opadie, also den Zeitraum von 1807 bis 1817.

2. Die Kunstreligion in der Phiinomenologie des Geistes Untersucht werden muss der zweite Abschnitt des Kapitels VII (Die Religion), mit dem Titel "Die Kunstreligion". Dieser Begriffbildet das Gegensmck zum Begriff der Naturreligion, Titel des ersten Abschnitts dieses Kapitels. Es han2

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G.W.F. Hegel: Jenaer Systementwurfe. Bd. 3. Hrsg. von R.P. Horstmann unter Mitarbeit von J.H. Trede. Mit einem Beitrag "Die Chronologie der Manuskripte Hegels in den Banden 4 bis 9" von H. Kimmerle. Hamburg 1976 (Gesammelte Werke. In Verbindung mit der deutschen Forschungsgemeinschaft hrsg. von der Rheinisch-Westfalischen Akademie der Wissenschaften rim Folgenden: GW]. Bd. 8), S. 280, Z. 7-12. Vg!. W. laeschke: Die Vernunft in der Religion. Stuttgart-Bad Cannstatt 1986, S. 157-198, tiber das Verhaltnis der Religionsphilosophie zur Asthetik und zur Sittlichkeit in der Jenaer Zeit und vor allem im dritten Systementwurf (1805-1806; G.W.F. Hegel: Jenaer Systementwurfe. Bd. 3 [Anrn. 2]). Bernadette Collenberg-Plotnikov and Annemarie Gethmann-Siefert 978-3-8467-4349-2

KUNSTRELIGION UNO GESCHICHTE

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delt sich nicht um eine "Religion der Kunst" in dem Sinne, dass die Kunst den Gegenstand des religiosen Kultes darstellte: Hegel schreibt bezeichnenderweise Kunstreligion in einem einzigen Wort (und ohne Bindestrich, auBer im Untertitel). Den Gegenstand des siebten Kapitels bildet die Selbstoffenbarung Gottes oder des absoluten Geistes in der Religion. In einer langen Einleitung legt Hegel den Sachverhalt dar, dass "der sich selbst wissende Geist [ ... ] in der Religion unmittelbar sein eignes reines SelbstbewuBtsein" ist. s So ist die Religion Erscheinung nicht des Bewusstseins, sondem des Geistes; sie ist das Zeugnis der Gegenwart des Gottes, oder des absoluten Geistes, in der Gemeinschaft der Selbstbewusstseine; sie setzt die sittliche Gemeinschaft voraus, die in der Gestalt des Eingestandnisses des Bosen und seiner Verzeihung, namlich in der Transparenz der Bewusstseine, die sich gegenseitig anerkennen, konstituiert wird. Der Begriff der Religion ist nichts anderes als die Weise, wie der Geist seiner selbst bewusst wird, indem er sich in der Religion offenbart. Der Begriff der Kunstreligion wirft die Frage nach Hegels AusfUhrungen tiber die griechische Kunst auf.6 Die Begeisterung Hegels fUr Griechenland im Allgemeinen und fUr seine Kultur im Besonderen ist bekannt. Bei ihm ist es zum einen sein philosophisches Interesse, das ihn nach Griechenland fUhrt. Bereits vor 1805 hat Hegel tiber die antike Philosophie nachgedacht, gemaB dem Grundsatz, der in der DifJerenzschrijt von 1801 ausgefUhrt ist, dass einzig der Philosoph, d.h. derjenige, der eine Idee von der Philosophie besitzt, in den vergangenen Philosophien die lebendige Philosophie wieder finden kann. Und in dieser Hinsicht sind die griechische Philosophie wie die griechische Tragodie bevorzugte Gegenstande. Im System der Sittlichkeit (vollstandig verfasst, aber nicht verOffentlicht) gilt die griechische Stadt (Po lis) , bekannt aus den Tragodien und von Platon, als die "schOne Totalitat", wahrend sie sich nach der Phiinomenologie in der romischen Welt zugunsten einer rechtlichen Einheitlichkeit der Herrschaft der Person auflost. Die schone Sittlichkeit existiert nur noch in der sittlichen Gemeinschaft. Man darf jedoch nicht glauben, dass Hegel bei seiner Untersuchung der Kunstreligion explizit von der griechischen Kunst handelt. Ebenso, wie er niemals den Namen Aischylos oder Sophokles erwahnt, wenn er den wahren Geist und die Welt der Sittlichkeit beschreibt, ist auch die griechische Kunst als solche nicht erwahnt. Allein in den Berliner Vorlesungen tiber die Asthetik werden die genauen Beztige herausgestellt. Wie dem auch sei, die Hegelsche Untersuchung stellt zunachst eine Unterscheidung heraus, die im 18. Jh. no ch nicht klar war: diejenige zwischen Handwerk und Kunstwerk. Das Handwerk unterliegt no ch der Namrlichkeit, wahrend in der Kunstreligion der Geist von der instinktartigen Arbeit Abstand nimmt und die Natur verlasst, um sein wahres Wesen von sich aus zu schaf4

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So ist die beste franziisische Dbersetzung von Kunstreligion "religion artistique", wie Naturreligion korrekt mit "religion nature lie" iibersetzt wird. G.W.F. Hegel: Phiinomeno!ogie des Geistes. Hrsg. von W. Bonsiepen und R. Heede. Hamburg 1980 (Gw. Bd. 9) (im Folgenden: Phiinomeno!ogie), S. 364. Vgl. R. Leuze: Die auJ3erchristlichen Religionen bei Hege!. Giittingen 1975, S. 189-203. Bernadette Collenberg-Plotnikov and Annemarie Gethmann-Siefert 978-3-8467-4349-2

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fen. Neben dieser Unterscheidung wird Hegel haufig auf der Tatsache bestehen, dass die Kunst Produkt einer Arbeit sei. Die Statue ist von Menschenhand gemacht, und dies ist keineswegs kontingent, sondem gehOrt zu ihrem Wesen. Man muss deshalb den Text genauer betrachten und das begriffliche Schwanken Hegels zwischen demjenigen ausfindig machen, was im eigentlichen Sinne die Kunst und demjenigen, was die Religion betrifft, zwischen demjenigen, was der Kunst die Dimension des Absoluten verleiht und was sie ihr abspricht, zwischen demjenigen, was unmittelbar von seinem Freund, dem groBen genial en Dichter und wahrhaft religiosen Geist, Holderlin, und was von ihm selbst kommt. Den Zusammenhang von Kunst und Religion bei den Griechen hatte schon Herder in seinen Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784-1791), deutlich hervorgehoben, indem er die Bedeutung der Dichter Homer, Hesiod und Pindar fur die griechische Bildhauerkunst sowie die padagogische Funktion der Mythologie aufgewiesen hatte. Es wird sich zeigen, dass Hegel nur dann, wenn er auf die geoffenbarte oder offenbare Religion zu sprechen kommt, einen rein asthetischen Blick auf die griechische Statue wirft, so in dem wunderbaren Abschnitt uber die junge Kanephore, einem Abschnitt, der glanzend kommentiert ist von Jacques D'Hondt' im Hinblick auf das Thema der Nostalgie gegenuber einer nicht wiederkehrenden Vergangenheit und von Xavier Tilliette im Hinblick auf das Thema des Todes der antiken Gotter: Indes wird dieser Abschnitt in der Regel von den Hegel-Interpreten vernachlassigt. Jedoch besteht genau darin, dass wir nicht mehr vor den griechischen Statuen das Knie beugen, dass der Tisch der Gotter abgeraumt ist und dass man dem harten Wort uber den Tod Gottes zustimmen muss, unsere Fahigkeit, diese Statuen als Kunstwerke und als das sChOnste Geschenk zu betrachten, das uns das Schicksal je gemacht hat. Auch ist dieses Geschenk, wie es Plutarch in seinem Leben des Perikles gefasst hat, "das einzige Zeugnis, das uns heute beweist, daB die beriihmte Macht und der uralte Glanz Griechenlands keine Erfindungen sind"lo.

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1.0. Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Hrsg. yon O. Schmidt. Darmstadt 1966, S. 338-339. J. D'Hondt: Hegel philosophe de l'histoire vivante. Paris 1966, S. 352-354. X. Tilliette: La semaine sainte des philosophes. Paris 1992, S. 72: "La desertion de I'Esprit dans ces necropoles de marbre, ces mausolees de la memoire, s'eclaire aussit6t apres du sourire et du regard limpide de la jeune canephore."; Xayier Tilliette bezeichnet das Buch yon Oaston Fessard (La dialectique des exercices spirituels de s. Ignace de Loyola. Bd. 2. Paris 1966, S. 255f.), wo die junge Kanephore die Idee der Menschheit als Frau ist. Das Leben des Perikles, XII. Bernadette Collenberg-Plotnikov and Annemarie Gethmann-Siefert 978-3-8467-4349-2

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3. Die absolute Kunst und ihre epochale Situation Die Kunstreligion hat zwei Voraussetzungen: Die erste ist die Naturreligion, die zu der Figur des Werkmeisters fUhrt; darunter versteht Hegel die Architektur und die Hieroglyphe, mit anderen Worten: eine menschliche Produktion, die ihrer Bedeutung nicht bewusst ist, aber nichtsdestoweniger in Abhangigkeit zur Religion steht (eine deutliche Anspielung auf die agyptische Religion). Die zweite Voraussetzung besteht im sittlichen oder wahren Geist, was uns zurUckverweist auf die griechische Polis und das Verhaltnis von menschlichem und gottlichem Gesetz. Der wahre oder sittliche Geist (den die griechische Tragodie ins Werk gesetzt hat) ist der wirkliche Geist der Kunstreligion. Der Unterschied zwischen dieser und dem schlechthin sittlichen Geist besteht darin, dass in der Kunstreligion der sittliche Geist sich seines absoluten Wesens bewusst ist, jedoch auf eine solche Weise, dass die Individualitat seine Substanz charakterisiert. Der absolute Geist weiB sich namlich nicht selbst als absoluten ohne die einzelnen Individuen, die von ihrer absoluten Substanz als von ihrem eigenen Wesen, aber ebenso als von ihrem eigenen Werk, ein Bewusstsein haben. Allein, diese Situation ist weder einfach noch ruhig. Die Wahrheit des sittlichen Geistes weiB sich nicht als freie Einzelheit. Indem das Selbst frei wird, richtet es sie zugrunde. Damit die Kunstreligion entsteht, muss die Sittlichkeit verschwinden, und zwar aus dem Grunde, weil in ihr das Selbst sich nicht als freie Einzelheit weiB. Nur wenn die Substanz des Volkes in sich geknickt und das Vertrauen gebrochen ist (anders gesagt: wenn die Polis nicht mehr die schOne sittliche Totalitat ist), dann kann der seiner selbst gewisse Geist sein Wesen iiber die Wirklichkeit erheben. In dies em Zusammenhang gebraucht Hegel einen starken Ausdruck: die absolute Kunst. "In solcher Epoche tritt die absolute Kunst hervor".11 Was bedeutet der Ausdruck "solche Epoche"? Es handelt sich urn diejenige Epoche, in der die einzelne Individualitat zwar ihre Freiheit ausreichend behauptet hat, urn die substantielle Einheit der Gemeinschaft aufzulosen, ohne jedoch zur gesamten Allgemeinheit iiberzugehen. Das Leben des sittlichen Geistes ist destabilisiert durch das freie Selbst, das das negative Wesen des Geistes zum Ausdruck bringt. "Aber jenes ruhige unmittelbare Vertrauen zur Substanz geht in das Vertrauen zu sich und in die GewiBheit seiner selbst zurUck".12 Josef Schmidt halt diese Epoche fUr eine Ubergangsepoche, deren Bestimmung die ErfUllung der Sittlichkeit, mit anderen Worten: ihre Vemichtung ist. Der Ubergang vom Vertrauen zum Selbstvertrauen ist jedoch ein Fortschritt in der moralischen Gewissheit des Ich, das nun auf souverane Weise besitzt, was ihm zuvor gegeben worden war. Die Bewegung der Reflexion des Ich jedoch kann nicht den Verfall der Sittlichkeit und des sittlichen Geistes ausgleichen. 11 G.W.F. Hegel: Phiinomenologie, S. 377, Z. 22. Der ganze Paragraph ist wesentlich. 12 A.a.O., S. 376f.: "Aber jenes ruhige unmittelbare Vertrauen zur Substanz geht in das Vertrauen I zu sich und in die Gewif3heit seiner selbst zurUck". Bernadette Collenberg-Plotnikov and Annemarie Gethmann-Siefert 978-3-8467-4349-2

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Die absolute Kunst erscheint in der Kunstreligion, obwohl sie diese bestimmten geschichtlichen Bedingungen voraussetzt. Dieser Begriff einer absoluten Kunst erinnert sehr stark an die poetologischen Versuche Holderlins Das untergehende Vaterland und Wenn der Dichter einmal des Geistes miichtig. Die beiden Hauptthemen Holderlins sind die Zeitlichkeit der Kunst, im Sinne eines innigen Bandes zwischen der Kunst und ihrer Zeit (allgemeinhistorisch oder fOr die Person des Dichters), sowie die Absolutheit der Kunst als Ausdruck der hOchsten Anspruche des Geistes, die selbst hOher steht als die Philosophie, da sie unmittelbar mit dem Leben verbunden ist. Die Vorstellung, dass das Wesen der Kunst der Ubergang ist, bringt Holderlin zum Ausdruck, wenn er sagt, dass der schOpferische Akt des Geistes in der Anamnesis und Idealisierung der Auflosung bestehe. Den Ubergang zugunsten der Ruhe aufzuheben, ist Eigenart des Mythos. Das Wesen der Kunst aber ist das Tragische, worin Ruhe und Unruhe aufrechterhalten sind in einer "Einheit, in der die Gegensatze ubereinstimmen"J3. Es geht also nicht allein darum, die Epochen in der Kunstgeschichte zu unterscheiden - was Winckelmann bereits im Hinblick auf die antike Kunst getan hatte -, selbst wenn Holderlin dazu neigt, ausgehend vom Verhiiltnis des Endlichen und Unendlichen ein derartiges Untemehmen anzudeuten; es geht darum, tiefgreifender die Kunst in ihrem Wesen als Ubergang zu betrachten. Zu sagen, die Kunst sei Ubergang und tragisch, nimmt fOr Holderlin nichts von ihrer Uberlegenheit uber jeden anderen Akt des Geistes. Sondem es bedeutet, dass die Kunst par excellence das prekare Wesen des Menschen zum Ausdruck bringt, der seinerseits Ubergang ist. Worin besteht der Unterschied gegenuber Hegel? Es ist zunachst zu bemerken, dass Hegel auf das Ideal einer Harmonie, das bei H6lderlin im Jahre 1799 prasent ist, zugunsten eines Schemas einer dialektischen V crsohnung der Gegensatze Verzicht geleistet hat. Des Weiteren ist die spekulative Situation der Kunst in der Phiinomenologie des Geistes vollig verschieden. Die absolute Kunst bezeichnet die Kunst als absolute. Allein diese Kunst und nicht etwa jede kunstlerische Tatigkeit ist Ubergang zwischen zwei spekulativen Stufen. Aber gerade da, wo Holderlin die Kunst unter der Form des zuhochst Tragischen als die Einheit von Ruhe und Unruhe beschwort, weist Hegel in der Kunstreligion ein Ubergangsphiinomen auf. Die absolute Kunst ist nur ein Ubergang zwischen der Kunst des Handwerkers, einer kunstlerischen Produktion ohne Tiefe, ohne Selbstbewusstsein, und der Selbstgewissheit des Geistes, die in Gestalt eines einzelnen Selbst als phiinomenale Offenbarung des Absoluten erscheint. Zwischen Handwerk und offenbarer Religion liegt also die absolute Kunst oder anders gesagt die Kunst als absolute. Der genaue Unterschied zwischen Holderlin und Hegel besteht darin, dass der Poet der Poesie diejenige RoBe zuschreibt, die der Philosoph der Philosophie zuschreibt, namlich die ideelle Erinnerung, die die Zukunft erOffnet. Die Betrachtung der 13

F. Holderlin: Siimtliche Werke (Frankfurter Historisch-kritische Ausgabe). Hrsg. von D.E. Sattler. Frankfurt a.M 1975ff. Bd. 14: Entwurfe zur Poetik, S. 176-177. Bernadette Collenberg-Plotnikov and Annemarie Gethmann-Siefert 978-3-8467-4349-2

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Kunst in der Phanomenologie des Geistes begriindet folglich keine spekulative Asthetik, no ch ein System der schonen Kiinste. Hegel beschrankt sich darauf, den dialektischen Fortgang der Kunst zu analysieren, insofem sie absoluter Ausdruck des Gottlichen innerhalb der Sphare der Religion ist als Erscheinung des seiner selbst bewussten Geistes. In diesem Sinne ist man noch weit entfemt von den Berliner Vorlesungen iiber die Asthetik, nachdem die Kunst eine zunehmend wichtigere Position in der Hegelschen Philosophie eingenommen hat. Die Frage nach der Entstehung der absoluten Kunst ist eine historische Frage; sie unterliegt der Geschichte des Geistes. Die Situation des Zeitalters verweist auf eine geschichtlich-systematische Zeiteinteilung, die sie zwischen einer Praxis der handwerklichen Herstellung (ohne welche die Kunst nicht hatte existieren konnen, die aber nicht ihrer selbst bewusst ist) und einer offenbaren Religion, worin sich der absolute Geist in der Einzelheit eines Gottmenschen offenbart, ansiedelt. Darin widersetzt sich Hegel der Schlussthese Schellings in dessen System des transzendentalen Idealismus von 1800, dass die Kunst Organon der Philosophie und definitive Uberbietung der SubjektObjekt-Trennung sei. Als Ausdruck des absoluten Geistes ist die Kunst lediglich Moment der Religion, die ihrerseits im absoluten Wissen, das philosophisches Wissen ist, gedacht werden muss. Die Kunst kann daher nicht die hOchste Darstellungsform des Absoluten sein. Auf der anderen Seite werden die Kunstepochen von Hegel no ch nicht thematisiert. Was er fest behauptet, ist der beschrankte Charakter der Konzeption der Kunst als absoluter. Dass die Kunst als absolute erscheint, d.h. in Gestalt einer Kunstreligion, kann in seinen Augen nur in einer Epoche vorkommen, da die lebendige Harmonie der Polis als schone Totalitat verschwindet. Die Tatsache, dass Hegel die Kunst lediglich als Kunstreligion in Betracht zieht, zeigt sich klarerweise im ersten Teil des Kapitels iiber die Kunstreligion, iiberschrieben "Das abstrakte Kunstwerk" (im Sinne eines isolierten, abgetrennten Kunstwerkes), das von der Gotterstatue, von der Sprache (und im besonderen von der Hymne und dem Orakel) und vom Kult handelt. Es kame freilich nicht der Kult zur Sprache, wenn es hi er nur urn Kunst ginge, in der Kunstreligion aber hat der Kult seinen legitimen Platz. Des Weiteren darfman nicht vergessen, dass Schiller von einem asthetischen Standpunkt aus in der Theosophie des Julius seiner Philosophischen Briefe vom Opfer gehandelt hatte. Was uns heute iiberrascht, konnte wohl diejenigen Zeitgenossen Hegels, die zu sehr geringer Zahl sein gutes Buch lasen, nicht im gleichen MaBe iiberraschen.

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4. Das dialektische Werden der absoluten Kunst Da die Religion das Selbstbewusstsein des absoluten Geistes ist, wird die Kunstreligion notwendigerweise die zweite Gestalt eben dieses Selbstbewusstseins ausmachen. Infolgedessen kann Hegel sagen, dass der Geist seinen Begriff selbst zur Gestalt hat, so daB der Begriff und das erzeugte Kunstwerk sich gegenseitig als ein und dasselbe wissen. (G.W.F. Hegel: Phiinomenologie, S. 377, Z. 29f.)

Die vollkommene Identitat von subjektiver Dimension (der Kreativitat des Geistes) und objektiver Dimension (des Kunstwerkes) riihrt daher, dass die Kunstwerke nur die mannigfaltigen Gestalten der Selbstbewusstwerdung des Geistes in der Religion sind. Die Tatsache, dass das Kunstwerk eins ist mit seinem Begriff, impliziert, dass es durch sich selbst eine philosophisch-religiOse Bedeutung hat. Wir haben gesehen, dass Religion als solche die sittliche Gemeinschaft voraussetzt. Die Kunstreligion verlasst folglich nicht den sittlichen Geist zugunsten der SchOnheit. Die Sittlichkeit wird hierin "reine Form" in dem Sinne, dass die Befreiung von der sittlichen Substanz vergleichbar mit der N atiirlichkeit, die in der N aturreligion prasent ist, eine Verfliissigung aller substantieller Bestimmtheiten und den Weg durch die Nacht voraussetzt. Die Nacht ist hier Symbol des Negativen, und wir wissen, dass das Wesen des Geistes die Negativitat ist. Die substantiellen Bestimmtheiten miissen von der Nacht vemeint werden, damit die Kunstreligion ihre gcistige Dimension erOffnen kann. Mit der absoluten Kunst ist die Sittlichkeit nicht beseitigt, sondem die Substanz dieser Sittlichkeit wird Subjekt. Damit der sittliche Geist zur griechischen Statue und jeder anderen Gestalt der Kunstreligion werden kann, muss er sich von der Natur befreien und zu dieser Form werden, zur "Nacht, worin die Substanz verraten ward und sich zum Subjekte machte". Die drei Bestandteile der Kunstreligion, namlich das abstrakte oder isolierte Kunstwerk, das lebendige Kunstwerk oder die religiose Feier und das geistige Kunstwerk (Epos, Tragodie und Komodie), sind nur die Art und Weise, wie die absolute Kunst den Ubergang des absoluten Geistes von der Naturreligion zur offenbaren Religion ausdriickt. Damit das Kunstwerk zur Statue eines olympischen Gottes wird, muss die Natur zugunsten der subjektiven Individualitat besiegt werden. Den Hohepunkt aber der Subjektivierung in der Kunst wird das einzelne Selbst der Komodie darstellen, das mit seiner Rolle in eins fallt und die auBerste Negativitat des freien Selbst offenbart, d.h. den Tod der Kunst als absoluter. Die Offenbarung des Gottlichen in der Kunst muss zunachst das Ding entfemen, den toten Kristall und die Pflanze, die lediglich dem Verstand unterstehen. Die Gestalt des Gottes lasst das Aussehen des schwarzen Steines oder der Tierheit hinter sich, urn die menschliche Gestalt der ruhigen Individualitat anzunehmen. Das Gottliche besitzt zunachst eine wilde, natiirliche Gestalt, eine Existenz, die seinem Wesen widerspricht: der Titan, den der Gott besieBernadette Collenberg-Plotnikov and Annemarie Gethmann-Siefert 978-3-8467-4349-2

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gen muss. Die Statue hat die Form der ruhigen IndividualiUit des Gottlichen; sie bewahrt demnach keine Spur von Unruhe, die die Tatigkeit des Kiinstlers bei der Arbeit bestimmt. Der Kiinstler tritt ganzlich hinter seinem Werk zuruck, so dass die Statue wahrhaftig das Bild des Gottes ist und nicht mehr Ausdruck des Schmerzes der Arbeit des Kiinstlers. Indes, ein zweites Element der Offenbarung erscheint notwendig, namlich die Sprache. An dieser Stelle nimmt Hegel auf seine Weise eine Analyse Holderlins aus seinem langen Essay iiber den poetischen Geist (Wenn der Dichter einmal des Geistes machtig ... ) wieder auf. Ware die Statue ohne Sprache von einer Seele bewohnt? Nein, denn der Gott existiert in der Sprache dank der Andacht. Die religiose Hymne bringt die Andacht zum Ausdruck. Sie ist die allgemeine Einzelheit, Werk des Geistes als allgemeines Selbstbewusstsein aller. Der Hymne stellt sich eine andere Ausdrucksform des Gottlichen gegeniiber, das Orakel. Es driickt aber die geschichtliche Kontingenz aus, indem es sich als reine Freiheit ohne Gestalt der Dinglichkeit der Statue entgegensetzt. Der Kult vereinigt die zwei kiinstlerischen Ausdrucke des Gottlichen, indem er der Andacht eine Stabilitat verleiht und den Bau einer Wohnung fur den Gott notwendig macht. Hegel hat sehr wo hi verstanden, dass der griechische Tempel die Wohnung des Gottes und nicht ein Ort des Kultes ist; aber er weiB ebenso, dass der Gott, der im Tempel wohnt, Gegenstand des Kultes auBerhalb des Tempels ist. Der Tempel erscheint folglich als Kunstwerk, das des Gottlichen wiirdig ist. Die Tempel werden nicht nur deshalb errichtet, weil sie dem Kult niitzlich sind, sondem damit der Mensch in der Gottesverehrung und bei der Tempelausschmuckung sich selbst ehrt. Hegels Reflexion iiber den Kult erfahrt eine Vertiefung. Der Opferritus ist die erste und wesentliche Gestalt des Kultes. Der wirkliche Geist eines Volkes offenbart sich in den Festlichkeiten des Kultes. Der Kult vereinigt und vermittelt das gottliche Sein mit dem menschlichen Selbst. Mit den Mysterienkulten verliert die Natur ihre unmittelbare Wildheit und geht in den Geist iiber. Das Lichtwesen wird Subjekt, indem es im Subjekt enthiillt wird. Das Mysterium ist nicht der Sturz der Religion in die Nacht des Unbewusstseins, sondem im Gegenteil die Vergeistigung der Natur. Die Darstellung des Gottlichen im Kult bewahrt jedoch eine Zweideutigkeit, die Hegel zum Ausdruck bringt, indem er hervorhebt, dass im bacchantischen Tanz das Gottliche zugunsten des Menschlichen verschwindet. Im Kult kehrt der Mensch zu sich selbst. Infolgedessen ersetzt der Mensch wohl die Statue, aber das Leben des absoluten Geistes ist noch das "Mysterium des Brotes und des Weines, der Ceres und des Bacchus", aber no ch nicht "das Mysterium des Fleisches und des Blutes"l., weil der Geist sich no ch nicht als selbstbewusster Geist geopfert hat. ls 14

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G.W.F. Hegel: Phiinomenologie, S. 387: ,,Noch hat sich ihm also der Geist als selbstbewul3ter Geist nicht geopfert, und das Mysterium des Brads und Weins ist noch nicht Mysterium des Fleisches und Blutes." Der heutige Leser denkt augenscheinlich an die grol3e Ode Hiilderlins Brad und Wein, verfasst urn 1800 (Hamburger Folioheft), worin Brot und Wein, Bacchus und Ceres, das Opfer Bernadette Collenberg-Plotnikov and Annemarie Gethmann-Siefert 978-3-8467-4349-2

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Mit dem geistigen Kunstwerk findet Hegel emeut die Dimension der Sittlichkeit des Volkes in einer Kollektivitat, die die Individualitaten wieder vereinigt. Das wirkliche Tun des Kultes iiberlasst der Allgemeinheit der Sprache auf der Stufe der Vorstellung den Platz. Wir haben bereits gesehen, dass die Sprache der Vermittler des Geistes ist. Sie nimmt jedoch nun eine bestimmte Kunstform an, sie ist die Sprache des Epos. Die epische Dichtung war schon Gegenstand der spekulativen Uberlegungen der Tiibinger Gefahrten unter dem Einfluss Schillers und Goethes. Nach Kroner gibt Hegel hier "eine Phanomenologie der Homerischen Welt", "er iibersetzt die Sprache des Dichters in die des Denkers"16. Es ist jedoch anzumerken, dass die Hegelsche Analyse in kritischer Absicht geschieht. 17 Die epische Welt ist Gottem und Menschen gemeinsam, wobei der Unterschied allein in der gottlichen Unsterblichkeit besteht. Im Epos findet sich ein Yolk wieder, darin macht sich die sittliche Einheit des Volkes zum Kunstwerk. Der Sanger verliert sein Selbst in seinem Gesang. Der epische Syllogismus geht von der Einzelheit des Sangers aus, die durch das Yolk in seinen Helden (endliche und natiirliche Gotter) vermittelt ist, um zum freien Extrem der Allgemeinheit zu gelangen, namlich den Gottem. \8 Aber die epischen Gotter offenbaren schnell ihre Inkonsistenz. Hegel bemerkt zuerst ihren lacherlichen Uberfluss, dann ihre Unverantwortlichkeit, ihre Unseriositat, die Abwesenheit des Emstes, die aus der Abwesenheit des Negativen herkommt. Sie kennen nicht den tOdlichen Emst des Konfliktes: Sie sind die ewigen schonen Individuen, die in ihrem eignen Daseyn ruhend, der Verganglichkeit und fremder Gewa1t enthoben sind. (G.W.F. Begel: Phiinomen%gie, S. 391)

Bei Holderlin sind die Gotter ebenso ohne Schicksal, ohne Leiden, so dass ihr Handeln kein Ziel hat. Hoher steht die Sprache der Tragodie. Wir werden nicht auf die Bedeutung des Tragischen fiir Hegel eingehen. Es moge ausreichen hervorzuheben, dass das Gottliche sich hier in der Theatervorstellung in aufgeloster Form unter den Helden der Tragodie, die individuelle Personen von allgemeiner Bedeutung sind, und der unbestimmten Masse der Zuschauer darstellt. Was Hegel hier anfiihrt, ist, dass die TragOdie nicht ohne Schauspieler besteht, die eins mit ihrer Maske sind. Die Komodie aber ist genau gesehen als die Wahrheit der Tragodie in dem Sinne, dass der Schauspieler darin seine Maske abwirft und in der Nacktheit seines Selbst erscheint. So bedeutet die Vollendung der Kunstreli-

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Jesus Christi erahnen lassen. Dieses lange Gedicht jedoch wurde von seinem Autor nicht veroffentlicht. Man muss daher vielmehr davon ausgehen, dass der Dichter und der Philosoph aus einer gemeinsamen QueUe schopfen und miihelos Bibel und Griechenland zusammennehmen. Wahrscheinlich ist es der Geist Heinses (Autor des Ardinghello, dem das Gedicht gewidmet ist), dem sich Hegel entgegensetzt. R. Kroner: Von Kant bis Hegel. Tiibingen 2 196 1. Bd. 2, S. 408. In dieser Hinsicht hat Richard Leuze Recht, die Hegelsche Analyse als eine Kritik des homerischen Epos zu betrachten. G.W.F. Hegel: Phiinomenologie, S. 390, Z. 5-8. Bernadette Collenberg-Plotnikov and Annemarie Gethmann-Siefert 978-3-8467-4349-2

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gion den ganzlichen Verlust des Gottlichen zugunsten des menschlichen Selbst des KomOdienschauspielers. Die ganze Inszenierung war letztlich nur Theater. Der Dbergang zur offenbaren Religion geschieht folglich in einer sublimen Untersuchung, auf welche Weise der Tisch der Gotter abgeraumt wird. Der Polytheismus der absoluten Kunst, der die Kunstreligion charakterisiert, muss aufge16st werden, damit der wahre und einzige Gott sich offenbaren kann. Dies aber bedeutet nicht das Ende der Kunst, im Gegenteil. Die asthetische Betrachtung der Kunst kommt erst dann auf, wenn die religiose Dimension verschwunden ist. Einerseits sind die griechischen Gotterstatuen fur uns nur noch Leichname ohne Leben, denn wir beugen nicht mehr das Knie vor ihnen. Andererseits jedoch ist das Friichte darreichende junge Madchen, die Kanephore, die die Griechen uns gelassen haben, mehr als die ganze Natur der lebendigen Friichte; sie ist selbst mehr als die Sittlichkeit des griechischen Volkes. Denn sie ist, mit dem Geist des Schicksals, das sie uns gibt, die Erinnerung dieses Geistes in einem einzigen Pantheon, namlich "in den seiner als Geist selbstbewuBten Geist"19. Man wird nebenbei die groBe griechische Bildung Hegels bewundem, der die Plastik der Kanephore kannte, eines jungen Madchen, das auf dem Kopf einen Opferkorb tragt bei den Prozessionen, worin die griechische, besonders die athenische Stadt ihre Gotter feiert. Bislang wurde noch keine genaue QueUe uber diese Information gefunden. Mit der Kanephore (auf die Aristophanes in einer KomOdie anspielt) hat man bei Hegel das Gegenteil der Bacchanten (Heldinnen einer Tragodie des Euripides mit gleichem Namen). Der Tanz der Bacchanten, mitsamt der Betrunkenheit und der Trance, von der sie zeugen, ist fur Hegel charakteristisch fur das lebendige Kunstwerk, d.h. fur die religiose Feier. Aber diese Feier, worin sich Unordnung und Irrationalitat in voUen Zugen zeigen, ist das negative Moment der Kunstreligion. Im Gegensatz dazu offenbart die Kanephore die Uberlegenheit der Kunst uber die Sittlichkeit, also uber die Gewohnheiten des Volkes, das seine Existenz durch ritueUe Prozessionen rechtfertigte. Die Uberlegenheit der Kunst ist erwiesen und doch zugleich begleitet von einer Sehnsucht. Wir werden nicht mehr die Frommigkeit, die Kanephore umgab, wieder finden, sondem fur uns ist sie ein wunderbares Zeugnis des absoluten Geistes. Man konnte sogar behaupten, dass Hegel daraus ein Symbol fur die sehnsuchtige Rationalitat der philosophischen Haltung angesichts der Kunst gemacht hat. Angesichts der Kunst ahnelt der Philosoph der nachdenklichen Athene der Griechen. Die junge Kanephore ist namlich eine Dienerin der Athene, deren Urnzuge zur Feier der Gottin sie begleitet. Am Ende dieser Untersuchung scheint es, dass die Kunstauffassung Hegels im zweifachen Sinne von der historischen Zeitlichkeit beeinflusst ist. Zum einen bewahrt Hegel von Holderlin die Idee, dass die Kunst Dbergang und daher vOriibergehend (verganglich) ist, gebunden an eine Epoche des Wandels. Zum 19 A.a.O., S. 402, Z. 24-33. Bernadette Collenberg-Plotnikov and Annemarie Gethmann-Siefert 978-3-8467-4349-2

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anderen jedoch muss die Kunst als absolute der offenbaren Religion den Platz iiberlassen, urn Kunst im eigentlichen Sinne zu werden, urn nicht mehr als Kunst und daher ewige oder zumindest fortbestehende Offenbarung des absoluten Geistes zu sein. Diese erste Antinomie der Kunst konnte man folgendermaBen ausdrucken: Verganglichkeit der Kunst und Unverganglichkeit der Kunst. Eine zweite Antinomie der Kunst ist diejenige der Bildhauerei und der Tragodie. Wenn die Kunst Ubergang und wenn der Ubergang tragisch ist, dann ist es die Tragodie, die das Wesen der Kunst zum Ausdruck bringt, oder, wenn man so will, die die absolute Kunst in ihrer adaquaten Form darstellt. Hegel verdeutlicht dies nicht. Man darf ihn sicherlich nicht zu sehr von Holderlin her verstehen. Aber wenn nach dem Ubergang zur offenbaren Religion dasjenige, was von den Gottem nach Vemichtung des Polytheismus und nach dem Abraumen des Tisches der Gotter bleibt, die symbolische Statue der Kanephore ist, also die Bildhauerkunst, dann ist die plastische Kunst der Tragodie iiberlegen. Auch fur diese Antinomie gibt uns Hegel keine Losung. Was jedoch sicher ist, ist, dass die Kunst fur uns eine Bedeutung behiilt als Erscheinung des absoluten Geistes, selbst wenn das sittliche Leben des Volkes, das diese Kunst erschaffen hat, verschwunden ist. Die Beeinflussung Hegels durch die asthetische Kultur Griechenlands ist allgegenwartig. 5. Die Kunst in der Heidelberger Enzyklopadie20 Die endgiiltige Theorie des absoluten Geistes aus der Enzyklopadie der philosophischen Wissenschaften von 1827 und 1830 mit dem Syllogismus Kunst, Religion und Philosophie ist entschieden unhistorisch. Im J ahre 1817 differenziert sich der absolute Geist noch in Kunstreligion, offenbare Religion und Philosophie. Gibt es hi er noch eine historische Dimension, die bliebe, wahrend sie in der Folge verschwande? Dies ist gewissermaBen die Meinung Bemard Bourgeois, wenn er schreibt, dass noch 1817 "die Kunst privilegierter Ausdruck der ,bestimmten' Religion ist als substantielles Selbstbewusstsein eines besonderen Volkes", und hervorhebt, dass Hegel, indem er denselben Abschnitt schlicht und einfach "Kunst" nennt, im Folgenden die sittliche und die religiose Dimension der Kunst einschrankt. In der Tat liegt hier eine Authebung des Volksgeistes im absoluten Geist vor (§ 545). Wenn Bourgeois Recht hiitte, gehorte die Religion zum Volksgeist und wiirde ihn nicht autheben. Es gabe folglich keine Kunst mehr fur uns von dem Moment an, da die Kunst20

Wir folgen dem Text des 13. Bandes der Gesammelten Werke: Enzyklopiidie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1817). Unter Mitarbeit von H.-Chr. Lucas und U. Rameil hrsg. von W. Bonsiepen und K. Grotsch. Hamburg 2000 (im Folgenden: Enzyklopiidie [1817]). Die Nummerierung der Abschnitte ist in der Ubersetzung von Bourgeois korrigiert mit einer oberen Nummer. Die Originalnummerierung ist in eckigen Klammem oben links bei jedem Abschnitt ubemommen. Bernadette Collenberg-Plotnikov and Annemarie Gethmann-Siefert 978-3-8467-4349-2

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werke nicht mehr im Geist einer Gemeinschaft integriert waren, der sie hervorgerufen hatte. Wir haben aber gesehen, dass dies schon von der Phanomenologie des Geistes an nicht der Fall ist; denn wir erfreuen uns an den antiken Statuen, die rur uns nicht mehr iiber einen religiosen Wert verrugen, wie an einem Geschenk des Schicksals. Wie ist also die Situation im lahre 1817? Zum einen richtet die Geschichte, als Weltgericht, iiber die Volksgeister als verschiedene und einzelne Gestalten des objektiven Geistes. Der Geschichtsbegriff hat sich also bei Hegel verfeinert (§ 448). Soweit der Volksgeist eine wirkliche Existenz hat, hat seine Freiheit als (zweite) Natur oder Recht Bestand und besitzt der Volksgeist eine Entwicklung, also eine Geschichte. In dem MaBe, wie die Ereignisse der allgemeinen Weltgeschichte einen Sinn haben, begriinden sie die Dialektik der besonderen Volksgeister. Der absolute Geist jedoch unterliegt nicht der Rechtsprechung dieses Weltgerichts. Dies eroffnet kraftvoll der § 454: Indem sich die subjektive Einzelnheit in ihrer freyen Entausserung, [ ... ] alles Oaseyn einer Welt als ein Nichtiges und Aufzuopfemdes betrachtet, hat die sittliche Substanz die Bedeutung der absoluten Macht und absoluten Seeie, und des Wesens der Natur ebensowohl als des Geistes erhalten. (G.W.F. Hegel: Enzyklopadie [1817], S. 240)

Man darf die Bedeutung dieses Systembruches nicht unterschatzen. Der absolute Geist als absolute Macht und Seele ist das Wesen der Natur und des Geistes; er ist die sittliche Substanz, die die Volksgeister und die Existenz einer Welt opfert. Hegel sagt femer, dass "der Geist durch seine Tatigkeit seine Subjektivitat im absoluten Geist aufgehoben hat" (§ 457). So erhebt sich der absolute Geist iiber den Gegensatz von Natur und Geist. Er erscheint folglich als absolut Erstes oder als Gott. Diese Position hatte Hegel noch nicht im System der Sittlichkeit (18021803) eingenommen, wo das Leben des Volkes noch die Vollendung des Lebens des Geistes war. Da Kunst, Religion und Philosophie unmittelbare Ausdrucksweisen des Volksgeistes waren, brachte die Religion lediglich den Gott des Volkes zum Ausdruck. Der offensichtliche Beitrag der Heidelberger Enzyklopddie besteht darin, dass der absolute Geist die Volksgeister in der Geschichte ab16st. Man hat selbst behaupten konnen, dass "es keinen Obergang vom objektiven zum absoluten Geist gibt"'I. Gewiss ist, dass eine Verdoppelung des absoluten Geistes in sich selbst und in ein philosophisches Wissen von sich selbst, rur das er ist, vorliegt. Die handschriftlichen Notizen Hegels bestehen auf der Tatsache: "als absoluter Geist, heiBt; rein sich wissender Geist, - er 1ST nur als Kunst Religion und Wissenschaft"22. Und im Zusatz zu § 459 rugt er hinzu, dass die

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R. Bodei: "La transition de l'esprit objectiUl l'esprit absolu". In: Hegel. L'esprit absolu, the Absolute Spirit. Sous la direction de Th.F. Geraets. Ottawa 1984, S. 46. G.W.F. Hegel: Enzyklopiidie (1817), S. 503 (Z. 15f.). Bernadette Collenberg-Plotnikov and Annemarie Gethmann-Siefert 978-3-8467-4349-2

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Epoche worin die Kunst in einem sittlichen Volke hervortritt, das uber den Untergang seiner wirklichen Welt trauert, und sein Wesen uber die Wirklichkeit erhoben, nun aus der Reinheit des Selbsts hervorbringt. 23

diejenige ist, in der die Kunst betrachtet wird als Darstellung des Gottlichen. Dies entspricht genau der Untersuchung aus der Phanomenologie, stellt jedoch die Frage nach der Geschichtlichkeit der Kunst. Das Wissen des absoluten Geistes von sich ist in seiner unmittelbaren Form Anschauung und Vorstellung. Man konnte meinen, dass die Religion der Kunst der Anschauung und die geoffenbarte Religion der Vorstellung entsprechen. Tatsachlich stimmt nichts davon. Der Unterschied zwischen Anschauung und V orstellung besteht darin, dass die erstere die direkte Erfassung ist, wahrend letztere durch Bilder vermittelt ist. Beide sind in der Religion der Kunst dargestellt. In dieser Unmittelbarkeit hat dieses Wissen konkrete Gestalt, vom Geiste geboren, Gestalt der SchOnheit, die die Durchdringung der Anschauung und des Bildes durch den Gedanken ist. Die SchOnheit ist der Ausdruck der Idee, sie unterliegt dem Gedanken, ihr wiederum unterliegt die Natur und ahmt sie nach. Die Bilder sind die Gestalten der SchOnheit, sie zeigen sich auf unterschiedlichste Weise (§ 460). Besonders auffallend ist, dass Hegel, urn die gegenseitige Durchdringung von Bild und Idee sowie das Kunstwerk als einen vorbildlichen Gedanken zu erklaren, den Satz aus der Phanomen%gie wortlich iibemimmt, den wir bereits zitiert haben, und der dazu bestimmt ist zu erklaren, wie die absolute Kunst dem absoluten Geist im Christentum Platz macht, namlich: nicht nur aus seinem Begriffe sich zu erzeugen, sondem seinen Begriff selbst zur Gestalt zu haben, so daB der Begriff und das erzeugte Kunstwerk sich gegenseitig als ein und dasselbe wissen. 24

Solange das Werk nicht eins ist mit dem Begriff, solange sie sich nicht als eins wissen, bleibt ein formales Element in der SchOnheit zuruck, eine AuBerlichkeit und Endlichkeit in der Kunstgestalt. Eben dadurch wird die Religion der Kunst mit der Geschichte und der Besonderheit in Verbindung gebracht und ihr Mangel im Vergleich mit der christlichen Offenbarung als universeller Religion begrundet. Hegel erklart die Beschranktheit des Materials, woraus die schOne Gestalt gemacht ist (§ 462), indem er in seinen handschriftlichen Notizen daran erinnert, dass "die Kunst ihre Epochen und ihre bestimmten Volker" hat, dass die Gotter und die Tragodie von Menschenhand gemacht sind und dass darin ihre GroBe besteht. In den antiken Religionen gibt sich der Mensch die hOchste Erziehung, erhebt sich iiber die subjektive Besonderheit, jedoch erscheint allein im Mysterium die spekulative Idee. Und die Idee vereinigt Gott. Die Vielheit der Gotter der Religion der Kunst vereinigt sich in einem

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A.a.O., S. 507, Z. 24-26. A.a.O., S. 511. Bernadette Collenberg-Plotnikov and Annemarie Gethmann-Siefert 978-3-8467-4349-2

KUNSTRELIGION UND GESCHICHTE

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einzigen Gott. Die Offenbarung wird die Manifestation der Allgemeinheit der Idee iiber die unmittelbare Anschauung hinaus. Die Religion der Kunst so, wie sie Hegel 1807 und 1817 behandelt, zeigt, dass der Begriff des absoluten Geistes noch nicht wohl bestimmt ist und erst in Berlin die Kunst ihren richtigen Platz gefunden haben wird. Sicherlich wird gerade die Untersuchung der romantischen Kunst eine strengere Abgrenzung der Kunst von der Religion erlauben. Aber selbst so wird die Kunst immer, wenigstens in ihren beeindruckendsten Gestalten, mit der Religion verbunden sein. Die Idee einer rein profanen Kunst ist fUr Hegel etwas schwer zu Akzeptierendes, insofem die Kunst die Darstellung des Gottlichen ist. Eine Behauptung bleibt konstant, namlich dass die absolute Kunst die Sittlichkeit eines Volkes zum Inhalt hat, selbst wenn sie diese Sittlichkeit in ihrem objektiven Aspekt aufhebt. In der Kunst ist die Sittlichkeit verklart. Damit das Kunstwerk seine Fiille findet, muss es die Besonderheit seines Inhalts als Besonderheit eines bestimmten Volkes verleugnen, ebenso muss es jedwede Spur der Subjektivitat des Kiinstlers, der es unter Schmerzen und der Kontingenz erschaffen hat, verwischen. Aber soba1d die End1ichkeit und Besonderheit aufgehoben sind, weii3 sich der absolute Geist selbst in der geoffenbarten Religion, und wir betreten folglich eine andere Sphare des absoluten Geistes. Denn allein die Handlung des Offenbarens erlaubt dem Wissen, sich zu vermitteln und in ein anderes Dasein iiberzugehen, das seinerseits Wissen ist. Die Kunstreligion bringt in ihrer aufgehobenen Form die Tatsache zum Ausdruck, dass die Kunst nur in Griechenland im vollen Sinne Ausdruck des Gottlichen ist, wenn sie eins mit der Religion ist. Die Berliner Vorlesungen werden alle anderen Aspekte der Kunst breit auslegen: die Bedeutung des Kiinstlers, das Dasein der profanen Kunst (im Besonderen in der hollandischen Malerei), das Dasein der Kunst vor der griechischen Welt. (Ubersetzung: Christoph Binkelmann)

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Versohnung in und durch Kunst? Die Grenzen der Versohnung in Hegels Kunstphilosophie von 1823 Im Folgenden werde ich mich mit dem Problem auseinandersetzen, dass die Versohnung in den Vorlesungen iiber die Philosophie der Kunst von 1823, strikt abweichend von anderen Fassungen der Asthetik bzw. der Kunstphilosophie Hegels, unthematisch bleibt. Dennoch hat sie in dem vorliegenden Text eine fur die Funktion der Kunst in der Modeme erhellende Bedeutung. 1 Statt einer Theorie der Versohnung, die vor all em in der gedruckten Asthetik, in der Vorlesung iiber Asthetik von 1820121 und auch in der Enzyklopadie vorliegt, findet man hi er eine Stellungnahme, die eine schwache Deutung zu nennen unzutreffend ware, weil es 1823 urn eine vie I geringere Bedeutung der Versohnung geht. Dennoch ist es der Muhe wert, der Frage nachzugehen, welche Bedeutung diese "negative" Stellungnahme fur Hegels Gesamtkonzept uber den Status und die Bedeutung der dramatischen Kunst in der Modeme gewonnen hat. Im ersten Schritt wird der Topos der Versohnung als kunstphilosophisches Projekt im Ausblick auf andere Texte der Kunstphilosophie und der Asthetik bzw. im Kontext der praktischen Philosophie angegeben werden. Eben die Einbeziehung der Perspektive der praktischen Philosophie ermoglicht, die unthematisch gebliebene Versohnung im Blick auf die Funktion der Kunst in der Modeme zu erklaren. In dem nachsten Schritt werden die 1823 thematisierten Momente der Versohnung untersucht und im Horizont der Funktion der Kunst in der Modeme ausgelegt. In dem letzten Schritt wird aufgezeigt, Hegel hat durch die letztlich unthematische Versohnung die Grenzen der modemen Kunst exemplifiziert.

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G.W.F. Hegel: Vorlesungen uber die Philosophie der Kunst. Berlin 1823. Nachgeschrieben von Heinrich Gustav Hotho. Hrsg. von A. Gethmann-Siefert. Hamburg 1998 (G.W.F. Hegel: Vorlesungen. Ausgewahlte Nachschriften und Manuskripte. Bd. 2) (im Folgenden: VK). Zum besonderen Status dieser Fassung vg!. A. Gethmann-Siefert: Gestalt und Wirkung von Hegels Asthetik [Einleitung]. In: A.a.O., S. XV-CCXXIV. Es wird hi er aufgezeigt: das bis heute ungebrochene Vertrauen in die Authentizitat und Urspriinglichkeit der gedruckten Asthetik hat "kein fundamentum in re". (A.a.O., S. XXIX.) Es wird auch daraufhingewiesen: 1. die Vorlesungen von 1823 sind viel eher als authentische Fassung anzunehmen als die gedruckte Asthetik; 2. der "Work in Progress"-Charakter der Hegelschen Kunstphilosophie erlaubt nicht, eine einzige Fassung als die authentische zu interpretieren. Diese Uberlegungen werden im Folgenden beriicksichtigt. Bernadette Collenberg-Plotnikov and Annemarie Gethmann-Siefert 978-3-8467-4349-2

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1. Topos des kunstphilosophischen Versohnungsprojekts im Horizont yon Hegels praktischer Philosophie Wenn man die entsprechenden Textstellen fiir Hegels Deutung der Versohnung als "kunstphilosophisches Projekt" angeben mochte, fiihlt man sich zuerst in Verwirrung geraten.' Das Erste, was auffallt, ist, dass der Status und die Bedeutung der Versohnung in den Hegelschen Texten sehr unterschiedlich sind. Ein ausgezeichneter Stellenwert wurde der Versohnung in der Asthetik zugeschrieben. 3 Hier findet man eine differenzierte Ausfiihrung mit feinen Analysen yon einzelnen Kunstwerken und yon modemen Phanomenen der Kunst, in deren Hintergrund sowohl ein starker systematisierender Anspruch und eine markante spekulatiye Position wie auch das Thematisieren yon Phanomenen der Verhaltensprobleme und Charakterstorungen des modemen Menschen zu erkennen sind. Demgegeniiber sind die Vorlesungen iiber die Kunstphilosophie yon 1823 in dieser Frage im Vergleich mit der Asthetik auf den ersten Blick sehr diirftig. In der enzyklopadischen Fassung der Kunst (1830) hat Hegel der Versohnung innerhalb des absoluten Geistes eine starke logisch-erkenntnistheoretische bzw. logisch-metaphysische Bedeutung zugeschrieben, die sich yon der auch phiinomenal exemplifizierten Stellungnahme der Asthetik unterscheidet. Hier stehen die symbolische Kunst und die romantische Kunst im engeren Zusammenhang, weil beide eine Art von einer Unangemessenheit, so auch Unversohntheit der Form und des Inhalts kennzeichnet. Demgegeniiber findet man in der Asthetik eine engere Beziehung zwischen der klassischen und der romantischen Kunst, obwohl Hegel in dieser Fassung sowohl die Moglichkeit der Versohnung als kunstphilosophische Komponente in den Varianten des yersohnenden Verhaltens im Rahmen der modemen dramatischen Poesie als auch das Unyersohnte in der romantischen Kunst akzentuiert hat: In der Vorlesung iiber Asthetik yon 1820/21 findet man eine zweideutige Stellungnahme.' Der Ausdruck hat hi er insgesamt eine geringere Bedeutung im Vergleich mit der Asthetik, aber insbesondere im letzten Kapitel hat Hegel der Versohnung einen starken Stellenwert zugeordnet, der mit dem systematischen Anspruch eng yerbunden ist. Man fiihlt sich ratlos, wenn man diese Lage iiberblicken und erklaren mochte. Dennoch ergibt sich einen Ausweg. Hegel hat die Versohnung als kunstphilosophische Komponente im brei ten Horizont seiner praktischen Philoso2

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Hardimon hat die Versohnung als sozialphilosophisches Projekt erortert. Vg!. M. Hardimon: Hege/'s Social Philosophy. The Project of Reconciliation. Cambridge 1994. G.W.F. Hegel: Vorlesungen iiber die Asthetik. 3 Bde. Frankfurt a.M. 1986 (Werke. Auf der Grundlage der Werke von 1832-45 neu edierte Ausgabe. Redaktion E. Moldenhauer und K.M. Michel rim Folgenden: Werke]. Bd. 13-15). Ders.: Enzyklopiidie der philosophischen Wissenschaften. 3 Bde. Frankfurt a.M. 1986 (Werke. Bd. 8-10) Ders.: Vorlesungen iiber Asthetik. Berlin 1820121. Eine Nachschrift. Hrsg. von H. Schneider. Frankfurt a.M.lBerlinIBern/New YorklParisfWien 1995. Bernadette Collenberg-Plotnikov and Annemarie Gethmann-Siefert 978-3-8467-4349-2

YERSOHNUNG IN UND DURCH KUNST?

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phie behandelt, die eine koharente Grundlage fUr die Deutung der Versohnung auch in den yerschiedenen Fassungen der Kunstphilosophie anbietet. Dementsprechend sind die jeweiligen Perspektiven der Kunstphilosophie, so auch die Frage nach der Funktion der Kunst am Beispiel der Versohnung von seiner praktischen Philosophie nicht zu trennen. Diese strukturelle und inhaltliche Verbindung zeigt sich deutlich im geschichtlichem Prinzip der "unendlich freien SubjektiviHit" der "neueren Zeit" und dessen Folgen fUr die Kunst. Sodann steht die romantische Kunst in enger Verbindung mit Hegels Auffassung der Modeme, die eine der zentralen Fragen seiner praktischen Philosophie darstellt. Aus diesem Grund ist nun nicht nur der absolute Geist, sondem auch der objektive Geist in die kunstphilosophische Deutung der Versohnungsproblematik mit einzubeziehen: die in der Rechtsphilosophie vorgelegte Stellungnahme in der Frage der Versohnung ist eine relevante auch fUr die Kunstphilosophie. 6 Darum sind der Stellenwert und die Bedeutungsebenen der Versohnung auch in der Kunstphilosophie im komplexen Umfeld yon Grundmotiyen und Perspektiyen der praktischen Philosophie zu erkennen.' Dementsprechend ist die Versohnung in den zwei Perspektiven der praktischen Philosophie zu betrachten. Sie ist einerseits in Bezug auf den wissen6

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Es ist kein Zufall, dass Hegel auch in der Rechtsphilosophie, d.h. an dem zentralen Ort seiner praktischen Philosophie die dramatische Kunst thematisiert. Im Kontext der Handlung und des Rechts des Wissens fiihrt er das Problem des modernen Dramas ein. Insbesondere die eigenhandigen Notizen liefern reichlich Bemerkungen dazu. Vg!. ders.: Grundlinien der Philosophie des Rechts. Frankfurt a.M. 1986 (Werke. Bd. 7) (im Folgenden: R). - Vg!. R § 118, S. 218-222. Nicht nur die Aufteilung, sondern auch die Verbindung der Strukturen des subjektiven, objektiven und absoluten Geistes ist vor Augen zu halten, urn die Leitmotive von Hegels praktischer Philosophie zu verstehen. Sodann sind die Stufen und Gestalten des absoluten Geistes, auch die Kunst von den Strukturen des objektiven Geistes bzw. des subjektiv-praktischen Geistes nicht abzuschneiden. Diese inhaltlichen und strukturellen Verbindungen werden durch die Doppelperspektive der praktischen Philosophie erlautert, in deren Hintergrund Hegels friih eingefiihrte und andauernde Motiven zu erkennen sind. Vg!. von Verf.: Einfiihrung in die Versohnungsproblematik bei Hegel. In: Dies.: Versohnung und System. Zu Grundmotiven von Hegels praktischer Philosophie. Mtinchen 2005 (jena-sophia. n.7). Im Erscheinen beim Fink Verlag. - Diese Deutung kann zur Modifikation der tiblichen Auffassung tiber das abgeschlossene System beitragen. Die Abgeschlossenheit des Systems hat Kimmerle in den lenaer lahren untersucht, die mittlerweile auf das ganze Werk ausgedehnt wurde. Kimmerle hat aber bei Hegel durch "die Miiglichkeit eines weitergefaBten Begriffs der Philosophie" auch eine Alternative aufgezeigt, die m. E. eben in der "exoterischer" Perspektive der praktischen Philosophie und im Kontext ihrer kulturell-sozial-geschichtlich bedingten Funktion lebenslang bewahrt wurde. Sodann liegt auf der Hand einzusehen, dass Hegel die praktische Philosophie einerseits als Wissenschaft in deren Systematik, andererseits aber auch als Kultur in ihrer Funktion in der modemen Gesellschaft aufgefasst hat; eben darin entfaltet sich der "weitergefaBte Begriff der Philosophie". Diese Doppelperspektive kennt die Bedeutung der Systematik an, ohne aber die friihen Motiven auBer Kraft zu setzen. Diese Motive sind sowohl im System als auch in der "exoterischen" Perspektive immer anwesend. Vg!. H. Kimmerle: Das Problem der Abgeschlossenheit des Denkens. Hegels "System der Philosophie" in den lahren 1800-1804. Bonn 1970 (Hegel-Studien. Beiheft 8), S. 6. Vg!. noch von Verf.: Versohnung in "exoterischer" und "esoterischer" Perspektive der Philosophie: Wirklichkeit als Prosa der modern en Freiheit. In: Versohnung und System. Bernadette Collenberg-Plotnikov and Annemarie Gethmann-Siefert 978-3-8467-4349-2

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schaftlichen Systemanspruch als Strukturierungsprinzip der divergierenden und kollidierenden Elemente des Geistes zu verstehen, was auch auf die Kunstphilosophie (und die Religionsphilosophie) zu erweitem ist. Der Status der Versohnung wird in und durch die Entfaltung des friihen Motivs aus Jena in den Hegelschen Systemen mit der Funktion der "Aufhebung" der Gegensiitze und der dritten, "positiven", "affirmativen" Strukturebene der Systematik im Feld des Geistes verkniipft.' Diese grundlegende Bedeutungsebene der Versohnung steht im Zusammenhang mit der spekulativen Positionierung der Vemunft! Zugleich ist Hegels Deutung der affirmativen Vemunft von seinen Uberlegungen iiber die Grundstrukturen der modemen Welt schon seit den friihen Jahren nicht zu trennen.1O Bei dem reifen Hegel stellen die Freiheit von 8

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Das Motiv, die Philosophie als wissenschaftliches System in Bezug auf die Versohnung aufzufassen, findet man zuerst in der Jenaer Philosophie des Geistes. Hegel schreibt nun der Philosophie einen doppelten Stellenwert zu: Die Philosophie fugt sich noch nicht in die versohnte Beziehung von Staat und Religion. Sie bezieht sich unmittelbar auf die Welt und den Menschen, wobei sie auch schon mit dem wissenschaftlichen Anspruch (durch Begriff und Vermittlung) verbunden wird. Vgl. G.W.F. HegeJ: Philosophie des Geistes. In: Ders.: Jenaer Systementwurfe. Bd. 3: Naturphilosophie und Philosophie des Geistes. Neu hrsg. von R.P. Horstmann. Hamburg 1987, S. 259-262. Die spekulative Positionierung der Vemunft bedeutet iiber die "negative Dialektik" der Vernunft hinaus, die Adomo in den Vordergrund gestellt hat, auch eine "positive Dia1ektik" und Affirmation bei Hege!. Die Affirmation wurde haufig mit seiner politischen Stellungnahme identifiziert und als Rechtfertigung des Bestehenden missdeutet. In diesem Kontext hat Adorno den Begriff der Versohnung aufgegriffen. Seiner Deutung der Versohnung fehlt der Ausblick auf die Herkunft dieses Begriffes aus der Friihzeit des Deutschen Idealismus. Er hat die Versohnung mit dem Defizit der Hegelschen Phi1osophie in Verbindung gesetzt, als er sie im Umfe1d der Identitat, der Forma1isierung, der Affirmation a1s Kemgedanken der "Urform der Ideologie" und "Instanz eine Anpassungslehre" gedeutet hat. Vg!.: Th.W. Adomo: Negative Dialektik. Frankfurt a.M. 1998, S. 145-163. - Nicht nur Adomo, sondem auch Lukacs haben im 20. Jahrhundert die Rezeption von Hegels Werk eben in diese Richtung beeinflusst. Vg!. G. Lukacs: Der junge Hegel. Berlin 1954. - Der Anspruch aufRehabilitierung der Versohnung ist auch ein Anspruch auf die Rehabi1itierung einer korrekten Deutung der Affirmation in ihrer Beziehung auf die Negativitat. Nun sei es nur an die geschichtlichen Quellen der speku1ativen Dialektik erinnert: H.G. Gadamer: Hegel und die antike Dialektik. In: Ders.: Hegels Dialektik. Fiinf hermeneutische Studien. Tiibingen 1971, S. 7-30, bzw. M. Riedel (Hrsg.): Hegel und die antike Dialektik. Frankfurt a.M. 1990. Die vorliegenden Motive sind schon in dem Friihwerk aufzufinden, als Hegel noch keine praktische Philosophie ausgearbeitet hatte. Der breite Deutungshorizont der Versohnung liegt vor, als der Student Hegel in einer Tubinger Predigt von 1793 im Kantischen Ton nach dem "Muster" des "Verhaltens" im moralisch-religiosen Feld nachfragt. Er versteht die "Versohnlichkeit" auch als moralisch-religioses Kennzeichen der christlich-europaischen Kultur im Vergleich mit der "Entgegensetzung" und "Unversohnlichkeit" der jiidischen Religion und Kultur. Vg!. 1. Hoffmeister: Dokumente zu Hegels Entwicklung. Stuttgart 1936, S. 184-185. Die Trennung dieser Religionen und Kulturen verscharft sich vor allem in den Frankfurter Jahren. Danach ist aber die Auskristallisierung von Hegels Stellungnahme zu erkennen: er fasst die Versohnungskultur der Modeme a1s eine gemeinsame geschichtliche Leistung von Volkem, Religionen und Kulturen auf. Dieser Gedanke kommt in der Rechtsphilosophie exemplarisch zum Ausdruck, als Hegel hier, im Zentrum seiner praktischen Philosophie, seine Uberlegungen iiber die Strukturen der Modeme im Kontext der geschichtlich verstandenen Versohnungskultur ausfuhrt. lm Rahmen der geschichtlichen Stufe des objektiven Geistes hat er der Versohnung einen besonderen Stellenwert zugeschrieben. Hegels letztes Wort in den Bernadette Collenberg-Plotnikov and Annemarie Gethmann-Siefert 978-3-8467-4349-2

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Subjekten als Individuen, die einem jeden zukommt und die "objektive Ordnung" von "Gesetzten und Einrichtungen" die fundamentale Spannungsstruktur der Modeme dar, die von beiden Seiten her ausgeglichen werden muss, und die im Hintergrund der Versohnung steht. ll Vor diesem Hintergrund sind bei Hegel nicht nur die sozial-okonomischen und politischen Extreme der modemen Gesellschaft zu verhindem, sondem auch die "schwankende" Haltung als grundlegendes Kennzeichen des modemen Menschen und deren zerstorerische Auswirkungen. Somit wird die Versohnung sowohl als Strukturierungsund Ordnungsprinzip der "mannigfachen" und "verschiedenartigen" Kollisionen im Geist als auch als Verhaltensmuster in Hegels praktischer Philosophie im Kontext der Modeme aufgefasst. Dieses in der zweiten Perspektive der praktischen Philosophie sich ergebende Muster kann und sogar solI in den hoheren Formen der Kultur, so auch in der Kunst aufgezeigt und durch ihre Bildungsfunktion den Einzelnen vermittelt werden. Sodann ist die Versohnung nicht nur ein spezifisches kunstphilosophisches Thema bei Hegel, was in der "tragischen Versohnung" der Asthetik exemplarisch zum Ausdruck kommt. 12 Dartiber hinaus geht es Hegel urn Verhaltensprobleme des modemen Menschen, die die Kunst veranschaulicht und durch ihre Bildungsfunktion den Einzelnen vermitteln kann. Im Hintergrund des Gesamtkonzepts ist auch das frtihe Motiv der Vereinigung zu erkennen. 13

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Fragen der Versohnung ist zwar die Hervorhebung der Versohnung von Staat, Religion und Philosophie. (Die Kunst kommt gar nicht in Frage.) Zugleich bekommt aber die Versohnung an derselben Stelle eine spannende und hOchst aktuelle Bedeutung, insofem Hegel nun die Geschichte der Volker mit ihren Religionen und Kulturen als eine Art Entfaltung der Versohnungskultur interpretiert. Die Versohnungskultur als zentrale Komponente der Modeme wird hier als ein Gemeingut von Volkem, Religionen und Kulturen aufgefasst, wozu vor allem das Judentum und das Christentum beigetragen haben. Die Strukturierung des Geistes und ihre Verknupfung mit dem zentralen Thema der Modeme ist eine grundlegende Kennzeichnung von Hegels praktischer Philosophie. Poggeler betont: Hegel gab dem Terminus "burgerliche Gesellschaft" einen neuen Sinn und er wandelte die uberlieferte praktische Philosophie zu einem Begreifen der Modeme. Vg!. Hegel. Einfiihrung in seine Philosophie. Hrsg. von O. Poggeler. Freiburg/MUnchen 1977, S. 9. In der "tragischen Versohnung" findet die Umdeutung der Aristotelischen Katharsis statt. Im Hintergrund stehen das modeme Prinzip der subjektiven Freiheit und dessen Entfaltung in der Innerlichkeit. Vg!. den Abschnitt Van "Furcht" und "Mitleid" zu der "tragischen Versohnung" und dem "Gefiihl der Versohnung" in: Verf.: Versohnung und System (Anm. 7). Hinter und in der spekulativen Position der Idee und der "positiven Dialektik" des Geistes, bzw. der Umdeutung der tradierten praktischen Philosophie ist die Eingebundenheit der Versohnung in die "Vereinigung" als Leitmotiv des Gesamtwerkes zu erkennen. Wie die Liebe bei dem fruhen Hegel, so gewinnt die Versohnung bei dem spaten die Bedeutung, als angemessene Manifestation der Vereinigung im Umfeld des zersplitterten Lebens zu dienen. Zum Thema Vereinigung als ein Leitmotiv des Gesamtwerkes Hegels vg!. den entwicklungsgeschichtlichen Uberblick von Chr. Jamme: "Ein ungelehrtes Buch ". Die philosophische Gemeinschaft zwischen Holderlin und Hegel in Frankfurt 1797-1800. Bonn 1983 (Hegel-Studien. Beiheft 23). - Jamme hat aufgezeigt: "daB, was Holderlin unter dem Namen "Poesie" diskutiert und was Hegel als religioses Problem faBt, von vergleichbarer Struktur ist und dass Hegels "religiose Erhebung" Holderlins poetischer Religion entspricht." Er hat darauf hingewiesen, "wie das in jenen Jahren entworfene Konzept in sich nicht einheitlich ist, sondem, etwa vom Jahre 1799 an, sich grundlegend wandelt: stand am Anfang die Idee der Liebe und Bernadette Collenberg-Plotnikov and Annemarie Gethmann-Siefert 978-3-8467-4349-2

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Diese Bildungsfunktion in Bezug auf die Versohnung wird auf die Einsicht der praktischen Philosophie basiert, dass die Identitat der Individuen mit sich und mit dem Sittlichen in der Moderne nicht mehr vorzufinden ist; sie stellt eine standige Herausforderung dar. Eine "feste Grundlage im Leben" ist fur Hegel erforderlich und auch moglich. Der Mensch als denkendes Wesen verfugt iiber ein natiirliches Bewusstsein als ein unmittelbares, spontanes Bewusstsein, worauf "theoretische" und "praktische" Elemente des Denkens, so etwa die Reflexion, das Freiheitsbewusstsein und der Anspruch auf die Selbstbestimrnung der eigenen Lebenswelt aufgebaut werden konnen. 14 Hegel hat

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Schonheit als Prinzip der Vereinigung von Gegensatzen, so steht am Ende die Idee einer Einheit, die Vereinigung und Gegensatz noch umfasst." (A.a.O., S. 19.) - Es scheint ein schwieriges Problem zu sein, Holderlins Einfluss aufHegels Versohnungsdeutung in den Details zu rekonstruieren. Die Versohnung taucht schon in der Tiibinger Zeit bei Hegel aufund darin erkennt man einige markante Elemente der spateren Deutung. (Vg!. Anm. 10.) - Eine der wichtigsten entwicklungsgeschichtlichen Fragen von Hegels Asthetik und Kunstphilosophie besteht darin, wie sich die Versohnung als kunstphilosophische Komponente zum dem Vereinigungsanspruch und zu dem "Bediirfuis der Vereinigung" verhalt. Die Idee der Schonheit als "Ganzheitserfahrung" hat bei dem friihen Hegel seit Tiibingen eine vereinigende Funktion auch im Sinne der platonischen Tradition (Vereinigung des Wahren und des Guten). In Frankfurt wird die Reflexionsphilosophie durch und in der Idee der SchOnheit und der religiosen Versohnung iiberwunden; in dies er Relation schreibt er der Kunst und der Religion eine vereinigende Funktion zu. Auch die "Mythologie der Vernunft" hat diese vereinigende Aufgabe. Das Programm einer "Mythologie der Vernunft" iiberwindet den Rationalismus der Aufklarung und schafft gleichwohl einen umfassenden Ansatz zur Verwirklichung einer "allgemeinen Freiheit und Gleichheit der Geister" in einer Verbindung von Poesie und Politik (d.h.: im sittlichen Leben der griechischen Polis). Er tritt auch mit der "Positivitlit des Christentums" gegen die Zerrissenheit und Zersplittertheit der Gemeinschaft und des Einzelnen auf. Vg!. dazu: A. Gethmann-Siefert: Die Asthetik in Hegels System der Philosophie. In: Hegel (Anm. 5), S. 135. - Unlangst hat M. Bondeli darauf hingewiesen, dass Hege1 sich schon in Bern der spekulativen Systemphilosophie annahert. In: M. Bondeli: Hegels philosophische Entwicklung in der Berner Periode. In: H. Schneider und N. Waszek (Hrsg.): Hegel in der Schweiz (1793-1796). Frankfurt a.M. 1997, S. 107-108. - In der vorliegenden Arbeit wird dagegen die Kontinuitat der When Motiven in Hegels praktischer Philosophie und seiner Kunstphilosophie akzentuiert. Das natiirliche Bewusstsein hat Hegel in seiner engen Verbindung mit dem religiosen Bewusstsein im Manuskript iiber die Religionsphilosophie von 1821 eingehend problematisiert. Vg!. G.W.F. Hegel: Vorlesungen uber die Philosophie der Religion. Teil I: Der BegrifJ der Religion. Hrsg. von W. Jaeschke. Hamburg 2 1996 C1983) (G.W.F. Hegel: Vorlesungen. Ausgewahlte Nachschriften und Manuskripte. Bd. 3). - Das reflexive Verhalten vom "Sonntag" als religioses Verhalten ist die erste, elementare Vorbedingung fur die Ausbildung des Freiheitsbewusstseins, das durch Bildung ausgepragt werden kann. Hier hat Hegel das moderne religiose Bewusstsein in seiner Verbindung mit dem natiirlichen Bewusstsein und den "modernen Voraussetzungen" iiberhaupt problematisiert. Damit wird das religiose Bewusstsein in seiner Verwurzelung in dem Weltlichen aufgezeigt In dieser Fassung der Religionsphilosophie hat er die Versohnung als praktische Haltung im Umfeld der ewigen Geschichte und deren Wiederholbarkeit durch Individuen erortert. Hege1 thematisiert nun die epistemologischen und existentiellen Dimensionen der Wiederholbarkeit der ewigen Geschichte der Versohnung Gottes mit der Welt und des Menschen mit Gott mit dem Anspruch, "Diese Geschichte" als symbolische auf "diese Geschichte" auszudehnen. Dadurch geht die Versohnung im modernen Bewusstsein iiber die Grenzen der Religion als Teil des absoluten Geistes hinaus und kann einen jeden ansprechen. Zugleich verweist Hegel auf das Problematische in dieser ErBernadette Collenberg-Plotnikov and Annemarie Gethmann-Siefert 978-3-8467-4349-2

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unter anderem in der Vorrede der Rechtsphilosophie an dem "einfachen Verhalten des unbefangenen Gemtites" gezeigt, dass das Identitatsproblem durch die Kluft zwischen dem subjektiven Bewusstsein und dem Bewusstsein des Sittlich-Substantiellen entsteht, die sich auf die Haltung und die Handlungen der Individuen auswirkt. Diese Kluft ist aber s.E. durch Vermittlungsformen zu tiberbrucken, die die Philosophie und die Kunst aufzeigen. Diesen Formen wird die Bildungsfunktion zugeschrieben, die zur Identitat des modemen Selbst durch die Pragung des modemen Freiheitsbewusstseins beitragen kann. 15 Diese Identitat ist aber keine endgtiltige, im Gegenteil: die Vorstellung und die Verwirklichung dieser Identitat stellen eine standige Herausforderung fur die Einzelnen in der Modeme dar. 16 Die modeme Identitat drtickt eben das

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weiterung, was in dem Verhalten vom "Sonntag" und von den "Werktagen" bzw. in der "bald versohnten", "bald getrennten" Haltung als "schwankender" zum Ausdruck kommt. Dieses Problematische wurzelt in der ambivalenten Natur der modemen Freiheit. Vg!. den Abschnitt uber Versohnung und die Metapher von "Werktagen" und "Sonntag" in: Verf.: Versohnung und System (Anm. 7). Nun sei daran erinnert: Hegel hat die formelle Seite der modemen Freiheit einerseits akzeptiert, andererseits aber kritisiert. Auch die Bildung hat wie die Rechte in der Modeme sowohl eine positive als auch eine negative, defizirnre Seite. Hegel hat zwar nicht in Frage gestellt, dass in dem abstrakten Recht das Rechtsangebot von Kant gilt: "sei eine Person und respektiere die anderen als Personen." (R, § 36, S. 95.) In der Niimberger Rechtslehre von 1810 erweitert Hegel aber dieses abstrakte, formale Recht auf das "besondere Dasein" und die "einzelne Wirklichkeit" als Lebenswelt eines jeden. Damit hat er inhaltliche, "positive" Bestimmungen in die Formen der subjektiven, "negativen" Freiheit der Modeme eingebracht. In Numberg driickt er es so aus: "Die moralische Handlungsweise bezieht sich auf den Menschen nicht als abstrakte Person, sondem auf ihn nach den allgemeinen und notwendigen Bestimmungen seines besonderen Daseins. Sie ist daher nicht bloB verbietend, wie eigentlich das Rechtsgebot, welches nur gebietet, die Freiheit des anderen ungetastet zu lassen, sondem gebietet, dem anderen auch Positives zu erweisen. Die Vorschriften der Moral gehen auf die einzelne Wirklichkeit". (G.W.F. Hegel: Rechts-, Pflichten- und Religionslehre for die Unterklasse [1810 ff.] In: Ders.: Nurnberger und Heidelberger Schriften 1808-1817. Frankfurt a.M. 1986 [Werke. Bd. 4], § 35, S. 253; Hervorh. v. Verf.). - In den Vorlesungen uber die Philosophie der Weltgeschichte betont Hegel einen anderen Aspekt der modemen Freiheit und deren Einbettung in die besondere Lebenswelt eines jeden. Er formuliert so: die "einfache Region des Rechts der subjektiven Freiheit" ist und "b1eibt ungetastet", was nicht nur in einer gebildeten Lebenswelt, sondem mit derselben Gerechtigkeit in einer einfachen Lebenswelt "eines Hirten, eines Bauem" gultig ist. Diese "ganz einfachen Verhaltnisse des Lebens" haben "unendlichen Wert und denselben Wert" wie eine ausgebildete Lebenswelt. Hier redet er uber das "besondere Dasein der Menschen." Hegel betont damit die Normative und das Positive in dieser Freiheit und Welt: die modeme Freiheit eines jeden, die sich in einer "ganz einfachen" Lebenswelt ebenso manifestieren kann wie in einer gebildeten, ist ein "Wert": Sie soli nicht nur "verbietend" se in und "ungetastet" bleiben, sondem auch als "Positives" dem Anderen erwiesen werden. Die modeme Freiheit soli als Gebot (Negatives) respektiert, als Wert (Positives) anerkannt und in der besonderen Lebenswelt eines jeden verwirklicht werden. Vg!. Ders.: Vorlesungen uber die Philosophie der Weltgeschichte. Bd. 1: Vernunft in der Geschichte. Hrsg. von 1. Hoffmeister. 6. Auflage, mit neuen Literaturhinweisen. Hamburg 1994, S.109. Die Identitat als Problem der modemen Individuen hat unlangst Ch. Taylor thematisiert. Mit dem Ausdruck der "neuzeitlichen Identitat" des Selbst stellt er die Frage: "was es heiBt, ein handelndes menschliches Wesen zu sein, also die im neuzeitlichen Abendland beheimateten Empfindungen der lnnerlichkeit, der Freiheit, der Individualitat und des Eingebettetseins in Bernadette Collenberg-Plotnikov and Annemarie Gethmann-Siefert 978-3-8467-4349-2

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zum Problem gewordene Verhaltnis der Einze1nen zu sich, den Anderen, den mannigfachen und verschiedenartigen Wirklichkeitsspharen als dem sittlichen Leben bzw. zu Gott in ihrem Selbst- und Weltverstandnis aus. Dieses zum Problem gewordene Verhaltnis manifestiert sich nicht nur in der von Regel immer kritisierten Zufalligkeit und Be1iebigkeit der subjektiven Besonderheit des Denkens, sondern auch in der praktischen Raltung, die Rege1 als "schwankende" kennzeichnet. In diesem Kontext hat die Versohnung eine identitatsstiftende Funktion fur die modernen Individuen erhalten. Somit wird sie ein Thema der praktischen Philosophie von Rege1, welches nicht nur auf den spekulativen Systemanspruch zUrUckzufuhren ist, sondern ebenso auf seine Bestrebung, ein den "modernen Voraussetzungen" angemessenes Muster fur die Individuen mit mannigfachen, zersplitterten, instabilen Aktivitaten aufzuzeigen, worauf ein angemessenes Identitatsbewusstsein aufgebaut und so eine "feste Grundlage im Leben" angegeben werden kann. Die Bildung des Bewusstseins der Einzelnen und die Ausbildung ihrer praktischen Motiven und Aktivitaten werden zu Elementen dieser Aufgabe, die durch die Formen der Kultur in ihren institutionellen Rahmen erfullt werden kann. In diesem kulturellen Kontext des "gewohnlichen Bewusstseins" der Einzelnen, welches einem jeden vemlinftigen Wesen in der Form und auf der Stufe des "denkenden Geistes" zukommt, ergibt sich der unmittelbare Boden der "Formierung zur Freiheit" der Individuen. Die (theoretische und praktische) Bildung dient der Funktion, die Individuen zu hoheren reflexiven Formen des Bewusstseins zu fuhren und sie zu motivieren, eine vernunftige praktische Raltung als Fundament ihrer Aktivitaten und Lebenswelt auszugestalten. 17

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die Natur"? VgL Ch. Taylor: Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identitat. Dbersetzt von Joachim Schulte. Frankfurt a.M. 1996, S. 7. - Taylor hat das Problem des "Innerlichen des Selbst" eingehend behandelt, ohne aber sich auf Hegel zu berufen. In der Tat hat Hegel groJ3es Gewicht auf die Innerlichkeit als zentralen Ort der Identitat in der Modeme auch in seiner Kunstphilosophie gelegt. Er hat die Identitat in breiten praktisch-philosophischer Dimension als Problem des modemen Selbst er6rtert. In diesem Kontext hat er dem "Recht der Besonderheit" als Recht der Selbstbestimmung der modemen Individuen einen zentralen Status zugeschrieben, ohne zu leugnen, dass diese Freiheit ambivalente Folgen nach si ch zieht: in der schwankenden Grundhaltung kommt eben zum Ausdruck, dass die Identitat nicht vorgegeben, sondem aufgegeben wird. Durch die erweiterte Perspektive der Vers6hnungsproblematik in der praktischen Philosophie wird die kulturell-geschichtliche Funktion der Kunst erhellt, die aber auch "individualisiert" wird: die "Formierung zur Freiheit" wird als allgemeine Forderung durch die Bildung an einen jeden adressiert. - Zur geschichtlichen Funktion der Kunst vgl. A. Gethmann-Siefert: Die Funktion der Kunst in der Moderne: AuJlosung oder Konkretion? In: Dies.: Die Funktion der Kunst in der Geschichte. Untersuchungen zu Hegels A.sthetik. Bonn 1984 (Hegel-Studien. Beiheft 25), bes. S. 317-319. - Das Kunstwerk als Kulturphiinomen soli den einzelnen Menschen, prinzipiell sogar einen jeden, der das eine Zentrum dieser neuen Welt ist, ansprechen k6nnen. In diesem Zusammenhang geht es urn das modeme Freiheitsbewusstsein, dessen Ausgangspunkt das narurliche Bewusstsein eben in seiner Verbindung mit dem religi6sen Bewusstsein und mit den Formen der weltlichen Bildung ist: das Bewusstsein eines jeden soli aufgeklart, d.h. gebildet werden. Bernadette Collenberg-Plotnikov and Annemarie Gethmann-Siefert 978-3-8467-4349-2

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Die Kunst kann sich auf die "vemiinftige Einsicht" (vgl. Vorrede der Rechtsphilosophie) und die anderen Komponenten des Denkens als "praktische GefUhle", die sowohl fUr die Religion als auch fUr die Kunst von besonderer Bedeutung sind, stiitzen. Durch ihre Bildungsfunktion und im Feld der GefUhle bzw. der Gedanken konnen sie eine Wirkung auf das "gewohnliche Bewusstsein" eines jeden ausiiben. Die Bildung als Form verkniipft sich mit dem hochsten Prinzip und Inhalt der Modeme, mit der Freiheit. In diesem weiten und differenzierten Kontext wird die Bildung das Medium der "Formierung zur Freiheit" der Denk- und GefUhlswelt von Subjekten als Individuen und Gemeinschaften. Der Religion, der Kunst und der Philosophie wird die Aufgabe der "Formierung zur Freiheit" von Subjekten zugeschrieben, denen die modemen Rechte der Freiheit zukommen, die sich aber fUr die Verwirklichung der Idee der Freiheit vorbereiten sollen. Das hat Hegel in der Rechtsphilosophie systematisch dargestellt. 1R Darum sollen in die modeme Freiheit nicht nur die "Rechte" der subjektiven Freiheit als Wert und Orientierungspunkt eingebracht werden, sondem auch die praktischen Mechanismen bzw. die objektiv-institutionellen Bedingungen, durch welche und in denen diese Rechte verwirklicht werden konnen. Darin besteht eine grundlegende Beziehung zwischen der MoraliHit als Theorie der Aktivitaten und deren Strukturen bzw. der Sittlichkeit als Theorie der "objektiven Ordnung". Uber diese strukturelle Differenzierung hinaus geht es in der ersten um Rechte als normative Komponenten der subjektiven Freiheit, in der zweiten um institutionellen Mechanismen und Garantien der Freiheit. Das so aufgebaute Freiheitsbewusstsein dient der Stabilitat sowohl der Lebenswelt, des "besonderen Daseins" der Individuen als auch der Gemeinschaften bzw. des sittlichen Lebens iiberhaupt. 19 Die "objektive Ordnung" von Institutionen ist sodann kein I' Das System der "Rechte" der Freiheit der modernen Individuen hat Hegel im Kapitel iiber die

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Moralitat ausgefiihrt. Die Verwirklichung des "Prinzips" und der "Idee" der Freiheit als Entfaltung dies er Rechte findet im Spannungsfeld der subjektiven und objektiv-institutionellen Strukturen, so in dem modernen Rechtssystem, der biirgerlichen Gesellschaft und dem modernen Rechtsstaat statt. Die Stabilisierung der modernen Gesellschaft ist eine standige Herausforderung, die durch Institutionen und praktische Haltungen und Aktivitaten erreicht werden kann. In dieser Hinsicht akzentuiert Hegel die negativen Konsequenzen der Moderne, die seiner Ansicht nach vermindert und begrenzt werden konnen und sogar miissen, urn die Extreme der Individualisierung (Kontingenz der "bloJ3en Besonderheit", Atomisierung), und die der "Oberinstitutionalisierung" (A. Honneth) und der "Entindividualisierung" (M. Frank) zu vermeiden. Vg!. A. Honneth: Leiden an Unbestimmtheit. Eine Reaktualisierung der Hegelschen Rechtsphilosophie. Stuttgart 2001, S. 102; M. Frank: Selbstbewuj3tsein und Selbsterkenntnis. Essays zur analytischen Philosophie der Subjektivitat. Stuttgart 1991, S. 457-470. - Beide Philosophen haben das Ungeniigende in Hegels Individualitatstheorie im Kontext der Intersubjektivitat problematisiert. In der Tat war Hegel selbst gegen die Extreme sowohl der SUbjektivitat als auch der Institutionen aufgetreten. Sein Gedanke iiber die Vermittlung und den Ausgleich der Pole der Strukturen der modernen Gesellschaft, d.h. der institutionellen und lebensweItlichen Komponenten ("besondere Existenz"), der die Grundlage auch seiner Versohnungskonzeption ist, stellt das Fundament einer sinnvollen Haltung gegen die "Oberinstitutionalisierung" und "Entindividualisierung" als realistische Extremisierung in der Moderne dar. Diese Extreme Bernadette Collenberg-Plotnikov and Annemarie Gethmann-Siefert 978-3-8467-4349-2

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Selbstzweck, sie ist mit der Sittlichkeit der Alten nicht identisch: die modeme objektive Ordnung stellt den einen Pol der fundamentalen Spannungsstruktur der modemen Gesellschaft dar. Somit dient sie auch als Mittel der andauemden Giiltigkeit der modemen Freiheit, in der die Stabilitat der "Einrichtungen und Gesetzen" aus strukturellen Griinden nicht gegeben, sondem aufgegeben werden. In diesem Kontext wird die Versohnung als Thema einer im Hegelschen Sinne modemen praktischen Philosophie verstanden: die Versohnung als Muster des praktischen Verhaltens wird mit der Forderung der Verwirklichung der Freiheit der modemen Individuen verbunden, die den anderen Pol der fundamental en Spannungsstruktur der Modeme ausmacht. Sie zeigt sich in der "vemiinftigen Einsicht" und praktischen Stellung der Individuen und wird in einer Sprache ausgedriickt, die ein jeder kennt und durch die ein jeder angesprochen werden kann, wie es Hegel in und durch die Metapher "Versohnung mit der Wirklichkeit" bzw. Versohnung als "Rose im Kreuze der Gegenwart" in der Vorrede der Rechtsphilosophie erhellUo Durch diese Elemente und Mechanismen kann die Versohnung als Verhaltensmuster der "F ormierung zur Freiheit" eines jeden dienen. Im Rahmen der dramatischen Poesie thematisiert Hegel die Auswirkungen der Spannungen und Kollisionen der modemen Welt auf die Charaktere, Konflikte und den Ausgang in den modemen Dramen. 2I Zugleich sucht er einen

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hat er im sozial-okonomischen Feld an der Armut und dem Reichtum und auch am religiosen und politischen Fanatismus des Terrors der lakobinischen Diktatur exemplifiziert und scharf kritisiert. Das bedeutet auch: die intersubjektiven Konstellationen, die in den heutigen Interpretationen akzentuiert werden, sind zwar fur Hegels Vorschlag von besonderer Bedeutung, aber an si ch nicht hinreichend, urn die Extreme, die die modeme Gesellschaft gefahrden, zu vermeiden. Eben darum sollen subjektive Garantien in die institutionellen Spharen wie biirgerliche Gesellschaft und Staat, zugleich auch objektive Garantien in die eigenen Welten der besonderen Individuen (z.B. in die Ehe als Lebenswelt und Institution) eingebaut werden. Vg!. den Abschnitt Versohnung - in der Sprache der Philosophie und in der der .. iibertatigen Menschen" in: Verf.: Versohnung und System (Anm. 7). In der lebensweltlichen Dimension der Entgegensetzung und der Versohnung bzw. deren Auswirkung auf die Kunst ist eine Parallelitat zwischen Goethe und Hegel festzustellen. Wild sieht das Entscheidende bei Goethe darin, dass Goethe in seiner "asthetischen Antwort" auf die "theoretische Unversohnlichkeit" der Modeme auf der Notwendigkeit beharrte, "mit sich selbst, mit anderen und der moralischen Weltordnung im Gleichgewicht zu bleiben". Die Versohnung als "real scheitemdes Projekt" wird nun zum Thema. Die "unversohnbare Entzweiung des Individuums" macht aber nicht nur die "humane Selbstbehauptung" zum Problem, sondem auch das "poetische Bewusstsein". Vg!. G. Wild: Goethes Versohnungsbilder. Eine geschichtsphilosophische Untersuchung zu Goethes spaten Werken. Stuttgart 1991, S. 47. - Es sei bemerkt: In Hegels Diagnose wird die Versohnung nicht als "real scheitemdes Projekt" aufgefasst, wie Wild behauptet. Er sucht eben die Vermittelbarkeit der Gegensatze. Fiir die Vermittlung zwischen den Polen der modemen Gesellschaft hat er institutionelle Losungen im Rahmen der modemen sozialen, okonomischen und politischen Strukturen vorgeschlagen, die die Gestalten des Freiheitsbewusstsein der modemen Subjekte, die auch verstarkt werden miissen, erganzen und kontrapunktieren; all das soll bei Hegel eben gegen das "real scheitemde Projekt" der Versohnung wirken. Bei Hegel wird klargestellt: der Erfolg der Versohnung hangt in groJ3em MaJ3 eben von den "vemunftigen", sinnvollen Vermittlungsformen und -Mechanismen ab, die die modeme Gesellschaft ins Leben rufen und am Leben halten kann. Die Versohnung wird bei ihm femer nicht so sehr aus der Perspektive der Poesie Bernadette Collenberg-Plotnikov and Annemarie Gethmann-Siefert 978-3-8467-4349-2

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auch kunstphilosophisch und nicht nur sozialphilosophisch relevanten Ausweg. "Kollisionen" und "Charaktere" der dramatischen Kunst stellen die begrifflich-inhaltlichen Stiitzpunkte fUr die kunstphilosophische Erlauterung des Problems des modemen Menschseins dar, der sich als frei versteht, bestimmt und verbalt. Eben darum ist er nicht mehr in der Lage, eine "feste Grundlegung" fUr seine Handlungen und seine Lebenswelt vorzufinden. Insofem er das "Recht der Selbstbestimmung" zur Geltung zu bring en hat, wirkt es sich auf die ganze Weite und Breite seiner Lebensflihrung, Lebens- und Verhaltensweise aus. Die Versohnung wird im diesem Umfeld der modemen subjektiven Freiheit thematisiert, die bei Hegel einen angemessenen Umgang mit den neuartigen Kollisionen und deren Auswirkung auf die Charaktere bietet. Hegel hat dieses Problem in den verschiedenen Fassungen der Kunstphilosophie anders akzentuiert und darum der Versohnung ganz unterschiedlichen Stellenwert zugeschrieben. 1823 sucht er einen vor all em kunstphilosophisch und nicht nur sozialphilosophisch relevanten Ausweg. Das sozialphilosophische Modell der Versohnung als "vemiinftige Einsicht" und als Muster der angemessenen praktischen Haltung fur einen jeden hat Hegel in der Rechtsphilosophie in den Vordergrund gestellt, deren Relevanz er auch im Feld der Kunst bzw. der Kunstphilosophie in Bezug auf die Kollisionen und Charaktere der dramatischen Kunst spezifiziert dargestellt und auch uberprtift. 1823 sind eben die Merkmale der Oberprtifung und des Abstandes dominant. Nun zogert sich Hegel, dieses sozialphilosophische Muster auch als kunstphilosophisches Thema und als Problem des modemen Dramas anzunehmen. Es wird sich zeigen: Die "Profanisierung der Kultur" und der Kunst liegt im Hintergrund von Hegels Zogem. 22 Die Erfullung der Bildungsfunktion der Kunst durch "Formierung zur Freiheit" hat auch ambivalente Zuge: die GroBe der Charaktere wie die Tiefe der Kollisionen, die fUr die dramatische Kunst unausweichlich sind, verlieren allmahlich an Bedeutung, was eine weitgehende Folge der Profanisierung der Kultur darstellt. Auch die Umdeutung der Aristotelischen Katharsis durch die "tragische Versohnung" als modemes Prinzip in der Asthetik bringt auch diese ambivalente Natur der modemen Freiheit zum Ausdruck. 1823 wird es aber noch deutlicher, dass Hegel eben die negativen Folgen der modemen Freiheit akzentuiert. Er weist zwar Pbanomene auf, die das "Bedurfnis der Versohnung" erwachen, und zwar in einer Welt, die nicht angemessen ist, dieses Bedurfnis in der Tat befriedigen zu konnen. Die Befriedigung des Bedurfuisses nach Versohnung, d.h. auch, nach Identitat und Stabilitat der Individuen, ist

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der Kunst, sondem vielmehr aus der der Prosa der Wirklichkeit der Modeme thematisiert. Vg!. den Abschnitt Grenzen der Versohnung in und durch Kunst in diesem Beitrag. Die Profanisierung der Kultur bringt eines der entscheidenden Kennzeichen der Modeme zum Ausdruck, was Habermas in seiner Konzeption der Modeme als "unvollendetes Projekt" problematisiert hat. Er redet iiber die "Profanisierung der westlichen Kultur", womit er eine Affinitlit zu dem Entzauberungsprozess bezeichnet, den M. Weber beschrieb. Vg!. 1. Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne. Frankfurt a.M. 1986, S. 7-9. Bernadette Collenberg-Plotnikov and Annemarie Gethmann-Siefert 978-3-8467-4349-2

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fur die modeme Kunst zum un16sbaren Problem geworden. Sodann findet man in der Kunstphilosophie von 1823 eine skeptische StelIungnahme zur Versohnung in und durch Kunst. Nun sind die Probleme und nicht die Losungen von besonderer Bedeutung: die Versohnung bleibt zwar in dieser Fassung fast unthematisch, dennoch hat dieser Text auch fur sie eben durch die thematisierten Probleme der modemen dramatischen Kunst einen ausgezeichneten StelIenwert gewonnen. Diese StelIungnahme weist eine ParalIe1iHit mit der Religionsphilosophie von 1821 auf, insofem die Versohnung auch 1821 als Problem der "bald versohnten", "bald getrennten" Haltung im Umfeld der Schwankungen des Charakters, keinesfalIs aber als Losung von Problemen und Auflosung von Gegensatzen thematisiert wurde.23 Es ist auch viel sagend: abweichend von der Asthetik, der Vorlesung uber Asthetik und der Enzyklopiidie wird die Versohnung 1823 nicht einmal als Strukturierungsprinzip der Kunst verstanden: in diesem Text kann eine solche Deutung gar nicht in Frage kommen. Das ist eine klare Abweichung auch von der Rechtsphilosophie, in deren letzten Paragraphen Hege1 die Versohnung als Strukturierungsprinzip des Geistes im Schnitt der subjektiven und objektiven Versohnung gedeutet hat. Das letztere ist aber doch verstandlich: die Versohnung wird als sozialphilosophisches ModelI in der Rechtsphilosophie aufgefasst, dessen kunstphilosophische Relevanz aber gar nicht selbstverstandlich, sondem vie1mehr fraglich ist, wie es 1823 akzentuiert wurde. Damit hat aber Hege1 seine StelIungnahme in der Rechtsphilosophie keinesfalIs zuriickgenommen, sondem er hat die Unterschiede der Perspektiven der praktischen Philosophie im engeren Sinne und der Kunstphilosophie in den Vordergrund gestelIt. 2. Einige Elemente der Versohnung bezuglich def unthematischen Versohnung in den Vorlesungen uber die Philosophie der Kunst von 1823 Die geschichtliche Grundlage der nun am Rand problematisierten Versohnung stelIt die romantische Kunst dar, die in alIen Fassungen den Bezugspunkt im Blick auf die klassische Kunst und deren Ubergang zur modemen Kunst bzw. beziiglich der eigenen Perspektive der Kunst der Modeme bildet. Der Geist ist der spekulativ-systematische Deutungshorizont, der auch ein gemeinsames Moment in alIen Fassungen ist. In diesem Sinne beruft si ch Hegel 1823 auf die Versohnung als "Befriedigung des Geistes", die "das Letzte" sein muss. (VK, S. 306/Ms. 282.) Diese Forderung manifestiert sich in der subjektiven Versohnung, was Hegel hi er als Verzeihung bestimmt. Diese subjektive VerSOhnung wird erst in der christlich-modemen dramatischen Kunst moglich: "Im Odipus zu Kolonos ist eine Versohnung, die an das Christliche hinstreift." 23

Vg!. den Abschnitt "Jch bin das Feuer und das Wasser", "bald Getrennter, Entzweiter, bald Versohnter, Einiger" in: Verf.: Versohnung und System (Anm. 7). Bernadette Collenberg-Plotnikov and Annemarie Gethmann-Siefert 978-3-8467-4349-2

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(Ebd., S. 307IMs. 184.»4 In dieser Hinsicht wird die objektive Versohnung in der Antigone exemplifiziert. (Ebd.IMs. 283) Aber Hegels Verfahren in den Vorlesungen von 1823 unterscheidet sich dennoch in grundlegenden Fragen von anderen Fassungen. Strikt abweichend von seiner Position in anderen Texten, hat er hi er, ausgenommen einige Randbemerkungen, eigentlich nur den (geschichtlichen und systematischen) Interpretationsrahmen fur die Versohnungsproblematik bzw. einige subjektive Elemente der Versohnung (das Bediirfnis der Versohnung und das Gemiit als "wahrhaften Boden" der Versohnung) vorgelegt. Ohne aber vorzuhaben, die Versohnung als Problem der modernen Kunst auszufuhren und in diese ganze Problematik iiberhaupt einzugehen. Als seine Ausfuhrung den Punkt erreicht, wo das Problem des Bediirfnisses der Versohnung, bzw. das Problem ihres "wahrhaften Bodens" auftritt, wird die Erorterung einfach unterbrochen. Um dieses merkwiirdige Verfahren zu erkliiren, soil zuniichst der Deutungsrahmen erliiutert werden, in den diese Elemente der Versohnung eingebracht werden. Hegel ist selbst behilflich: fur das Fehlen der Versohnung in den Vorlesungen von 1823 findet man iiberzeugende und auch mit der Position der Rechtsphilosophie von 1820 als authentischem Text der vorliegenden Periode letztlich in Einlang stehende Erkliirung. 2.1. Versohnung im Blick auf das "Menschsein" vor dem Hintergrund der griechischen Kultur und der christlich-romantischen Kunst Die Versohnung thematisiert Hegel 1823 zuerst im Horizont der griechischen Kunst und in deren Verbindung mit der Religion. Das "Anthropomorphische" (oder das "Anthropomorphistische") der griechischen Kunst bildet den BeZUgSPUnkt, wo der Mangel an Versohnung auf dieser geschichtlichen Stufe zum Ausdruck kommt. Das "Anthropomorphische" stellt im Vergleich mit den anderen Texten einen neuen Aspekt fur die Kennzeichnung der griechischen Kultur dar, insofern er weder mit der Forderung der Ubereinstimmung von Inhalt und Form noch mit dem spekulativen Geist bzw. mit der darin begriindeten Einheit in Verbindung steht. Das "Anthropomorphische" bedeutet eben eine Sphiire, worin sich eben das spezifisch Griechische im Spannungsfeld zwischen Kunst und Religion manifestiert. Dabei hat diese Sphiire auch eine indirekte Beziehung zum Christentum und dessen Verbindung mit der romantischen Kunst; das spezifisch Griechische wird in dieser umfassenden und gegliederten kulturell-geschichtlichen Dimension des Geistes betrachtet. Zuniichst setzt sich Hegel mit dem Vorwurf auseinander, dass die Mythologie "anthropomorphisch" sei, wogegen schon Xenophanes aufgetreten war. Er 24

Bei Odipus ist die "subjektive Art" der Versohnung, die an das Christliche hinstreift, ist ebenso wichtig wie das Nicht-Wissen. Im modemen Bewusstsein erortert HegeJ das "modeme Recht des Wissen" im Blick auf die Tragodien der Alten. Vg!. R, § 118 Anm., S. 219. Bernadette Collenberg-Plotnikov and Annemarie Gethmann-Siefert 978-3-8467-4349-2

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fligt eine prinzipielle Bemerkung iiber die Bedeutung des "Anthropomorphistischen" flir die Kunst hinzu, was auch darum interessant ist, weil Hegel flir die mangelnde Versohnung eine Erklarung liefert. Sie lautet: Das Anthropomorphistische ist also ein wesentliches Moment im wahrhaften Begriff der gottlichen Natur. Flir die Religion ist der griechische Gott nicht menschlich genug; die griechische Religion geht nur bis zur ersten Geistigkeit fort, nicht bis zur unendlichen Geistigkeit, denn dazu gehOrt, daB das Geistige selbst seine Geistigkeit gereinigt. vermittelt habe, wahrend das Griechische eine unmittelbare Geistigkeit ist und so ein Mittel ist zwischen dem absoluten Freien und bloB Namrlichen. Zur absoluten Geistigkeit gehOrt der ganz vollkommene Gegensatz. Zu diesem ist notig, daB die Seite der Einzelheit der Subjektivitat fortgegangen sei bis zur zeitlichen, ganzlichen AuBerlichkeit des Daseins, daB Gott als Mensch seiend vorgestellt werde; aber nicht als bloB ideales Menschsein, sondem es gehOrt dazu, daB die Seite der Subjektivitat unmittelbar natlirliche Existenz sei, urn aus diesem Extrem des Gegensatzes sich zuriickzunehmen. Bei den Griechen ist die Sinnlichkeit nicht gestorben und getotet, sondem ist geblieben, denn sie sind nicht bis zur freien Geistigkeit fortgegangen, haben den Gegensatz nicht bis zur Tiefe fortgetrieben und ausgesohnt. Der Anthropomorphismus ist also kein Zufalliges. (VK, S. 158f./Ms. 145f.; Hervorh. v. Verf.)

Die Erklarung flir den Mangel an Versohnung bei den Griechen liegt darin, dass ihr Gott "nicht menschlich genug" war. D.h. bei ihnen wurde der Gegensatz zwischen dem Namrlichen und dem Geistigen, zwischen der Subjektivitat als "unmittelbar natiirliche Existenz" und der "Geistigkeit" nicht bis zur Tiefe und bis zu seinen Extremen fortgetrieben. Dieser grundlegende Mangel an der griechischen Kultur verscharft sich darin, dass die Sinnlichkeit bei den Griechen "nicht gestorben", "nicht getotet" ist. (Darum geht es bei ihnen auch um den Mangel an Reinigung und Vermittlung.)25 Eben diese Grundhaltung der 25

Zwei Elemente der mangelnden, unthematisierten Versohnung sind die Reinigung und die Vennittlung, die eine spekulativ-systematische Bedeutung im Kontext der zwei Fonnen der Geistigkeit gewinnen. Die erste Geistigkeit stellt das Griechische dar, das nicht menschlich genug, insofern es nicht geistig genug ist; darum kann die Reinigung hier noch nicht eintreten. Die "unendliche", "absolute" Geistigkeit als zweite, "wahrhafte" Stufe steht iiber der ersten eben durch die Verarbeitung als Reinigung der ersten Geistigkeit: das Geistige selbst habe seine Geistigkeit, deren niedrigere Gestalt gereinigt - und somit auch vennittelt. Die Reinigung wird namlich mit der anderen Funktion des Geistes, der "Vennittlung" verkniipft. Durch die Erfiillung dieser Funktionen kann sich der Geist zu seiner Tiefe, zu dem Tod der Sinnlichkeit steigern, dann iiber das Leben des Geistes zu dem Zurucknehmen dieses Gegensatzes und somit zu seiner Aussohnung erheben. - Die Reinigung hat bei Hegel iiber die Aristotelische Katharsis hinaus, die in der Asthetik akzentuiert wird, auch andere Quellen. Zu diesen Quellen geh6ren Hegels neoplatonisch getonte Christentumsdeutung bzw. die ideengeschichtliche Auswirkung des Protestantismus. Fiir Hegels Deutung der Reinigung waren die Tiibinger lahre und die mit Holderlin verbrachte Frankfurter Zeit von besonderer Bedeutung. Der Glaube an eine neue Religion war ein Fundament ihrer gemeinsamen Position; mit dieser Grundidee haben sie den griechischen Geist und die christliche Reinigung verkniipft. Sie haben bereits in Tiibingen den Kern ihrer neuen Religion gefunden: "es ist der revolutionare, spater noch spinozistisch untennauerte, aber auch in Frankfurt nicht mehr grundsatzlich modifizierte Gedanke der Einheit von Gott und Mensch. Wichtig fur die Freunde wurde die Bernadette Collenberg-Plotnikov and Annemarie Gethmann-Siefert 978-3-8467-4349-2

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Griechen hat nach sich gezogen, dass die "unreife", "unentwickelte" Art von Gegensatz, der das Fundament des "Menschseins" bei ihnen uberhaupt ist, auch nicht versohnt und ausgesohnt werden kann. 26 Hegel hat also den Mangel an Versohnung in der spezifisch griechischen anthropomorphischen Religion bzw. Kultur nicht im Kontext der kunstphilosophischen Forderung der Ubereinstimmung von Inhalt und Form erklart. Das Anthropomorphische wird mit der Art und Weise der Geistigkeit der Griechen verknupft, die in der Art ihres Menschseins liegt und die die letzte Grundlage dieser Kultur ist. Es geht hier eben urn die Art des Menschseins der Griechen und nicht nur urn ihre Kunst oder ihre Religion; im Anthropomorphischen integrieren sich Religion, Kunst und Philosophie wie auch die Grundhaltung der Griechen.

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Stelle Lukas 17,21: "Das Reich Gottes ist (inwendig) in euch." Diese Idee brauchten sie nur noch mit dem griechischen Geist-Begriff zu verbinden, um eine tragf