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German Pages 344 Year 2015
Julia Catherine Sander Zuschauer des Lebens
Lettre
Bleib erschütterbar – und widersteh. (Peter Rühmkorf) Mit großem Dank an meine Eltern und Wolfgang
Julia Sander (Dr. phil.) studierte Germanistik und Politikwissenschaft an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für deutsche Literatur und ihre Didaktik der Johann Wolfgang GoetheUniversität Frankfurt am Main.
Julia Catherine Sander
Zuschauer des Lebens Subjektivitätsentwürfe in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur
Die vorliegende Arbeit wurde vom Fachbereich 05 – Philosophie und Philologie der Johannes Gutenberg-Universität Mainz im Jahr 2014 als Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades eines Doktors der Philosophie (Dr. phil.) angenommen. Gefördert wurde sie durch das Evangelische Studienwerk e. V. Villigst.
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Inhalt
Leben auf Distanz Literarische Selbst- und Weltverhältnisse im deutschsprachigen Erzählen der Gegenwart I 9 Einordnung in den Forschungsstand I 21 Die Kategorie der Distanz Schlaglichter auf die Literaturgeschichte: Distanzierte Figuren – Figurationen der Distanz I 41 Aspekte des Distanzbegriffs I 52 Distanz ohne Ausweg: Judith Hermann und Christian Kracht „Ein offenes Ende? Für immer?“ – Selbst- und Weltverhältnisse zwischen Ratlosigkeit und Sehnsucht in Judith Hermanns Sommerhaus, später (1998) und Nichts als Gespenster (2003) I 69 Leben auf Standby I 69 Verfangen im Mini-Kosmos I 77 Verloren zwischen Mangel und Sehnsucht I 87 Gewalt und Erschrecken I 98 „[E]s ist irgendwie körperlich unerträglich geworden.“ – Selbst- und Weltverhältnisse zwischen Abscheu und Suche in Christian Krachts Faserland (1995) I 103 Zuschauer im Faserland I 103 Distanz als misslingende Pose I 111 Haltlos im indifferenten Raum I 119 Auswege ausweglos I 128
„Aber was hast Du dann am Ende gehabt?“ – Selbst- und Weltverhältnisse zwischen Abwehr und Affizierbarkeit in Katharina Hackers Die Habenichtse (2006) Leiden als Signatur der Gegenwart I 137 Unbeteiligte Zuschauer I 146 Strategien der Defensive I 149 Isabelles Unberührbarkeit I 149 Jakobs Unabhängigkeit I 156 Verwicklungen I 163 Jakobs Verunsicherung I 163 Isabelles Berührung I 175 Ethik der Affizierbarkeit I 184 Bedrohung und Misslingen I 184 Gegenentwürfe im negativen Modus I 190 Miniaturen gelingenderen Lebens I 199 „Es geht darum, über Verbindungslinien nachzudenken […].“ – Selbst- und Weltverhältnisse zwischen Rückzug und Widerstand in Ulrich Peltzers Teil der Lösung (2007) Zeit-Bilder I 217 Berlin 2003: Bilder der Kontrolle I 217 Italien 1978: Bilder des Aufruhrs I 223 Suchbewegungen I 226 Christians Verweigerung: Rückzug und Recherche I 226 Jakobs Spagat: Anpassung und Eigensinn I 239 Carls Rückzug: Karriere und Ausstieg I 246 Die Rituale der Untergetauchten: Erstarrung und Leerlauf I 252 Neles Aktion: Gegenwehr und Affizierbarkeit I 257 Ethik der Verbindung I 269 Liebe als Ereignis I 269 Verbindungslinien I 276 Subjektivitätsentwürfe zwischen Entfremdung und Verantwortung Distanz als Beziehung im defizienten Modus I 291
Subjektivitätsentwürfe zwischen Entfremdung und Verantwortung Distanz als Beziehung im defizienten Modus I 291 Literarische Perspektiven ethischer Subjektivität I 305 Literatur I 319
Leben auf Distanz
L ITERARISCHE S ELBST - UND W ELTVERHÄLTNISSE IM DEUTSCHSPRACHIGEN E RZÄHLEN DER G EGENWART „[I]ch sitze in der Ecke und beobachte die Menschen“, stellt quasi programmatisch der Ich-Erzähler in Christian Krachts Roman Faserland (1995) fest.1 In Judith Hermanns Erzählband Nichts als Gespenster (2003) wird konstatiert: „Sie kann […] nicht teilnehmen. […]. Sie kann sich nicht ergreifen lassen“.2 Ulrich Peltzers Protagonist Christian in dem Roman Teil der Lösung (2007) lebt weitgehend bindungslos, nach dem Motto: „Sich zu entziehen, war Programm und Verpflichtung, nichts und niemandem Macht über sich zu gestatten“, und fühlt sich zugleich, als sei er „aus der Welt gefallen“.3 Das Leben Isabelles und Jakobs, der Protagonisten aus Katharina Hackers Roman Die Habenichtse (2006), kommentiert Isabelles Vater: „Ich meine, sogar, wenn ihr heiratet, sogar wenn ihr umzieht in ein anderes Land, hat es keine allzu große Bedeutung.“4 Alles bleibt „seltsam matt“, heißt es an anderer Stelle.5 Jakobs Chef Bentham spricht Isabelles und Jakobs Zuschauerposition an, wenn er sie als „Leute“ bezeichnet, die „bloß zugucken“.6 Teilnahmslosigkeit, Passivität, Gleichgültigkeit, eine umfassende Bezugs- und Beziehungslosigkeit prägen die Selbst- und Weltverhältnisse, von denen viele Texte der jüngeren deutschsprachigen Literatur ab Mitte der 1990er Jahre erzählen. Die vielfältige Annäherung an literarisch konstruierte Lebenswelten des „Hier
1
Kracht, Christian: Faserland. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1995, S. 95.
2
Hermann, Judith: Nichts als Gespenster. Frankfurt am Main: S. Fischer 2003, S. 89.
3
Peltzer, Ulrich: Teil der Lösung. Zürich: Ammann 2007, S. 206, 48.
4
Hacker, Katharina: Die Habenichtse. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006, S. 144.
5
Ebd., S. 149, 45.
6
Ebd., S. 258.
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und Heute“,7 die diese Texte kennzeichnet und der das große Interesse der Forschung gilt,8 verbindet sich mit einer auffälligen Distanz der Protagonistinnen und Protagonisten gegenüber diesen Lebenswelten. Als Zuschauer gehen sie durch ihr Leben und das der Anderen. Sie sind eingebettet in Lebenswelten der Gegenwart und wirken doch weniger wie involvierte Akteure ihres Lebens als vielmehr wie außerhalb stehende, unverbundene Betrachter. In Texten, die der als kanonisiert geltenden Strömung der Neuen deutschsprachigen Popliteratur zugeordnet werden, wirken die Protagonisten ihrer Umwelt und sich selbst gegenüber distanziert, eine Distanz, die sich mit der Fokussierung der Oberfläche verbindet, unter der die Popliteratur in Feuilleton und literaturwissenschaftlicher Diskussion zunächst vor allem diskutiert wurde.9 So lässt Benjamin von Stuckrad-Barre in Soloalbum (1998) einen „gestörte[n] Einzelkämpfer,
7
Kämmerlings, Richard: Das kurze Glück der Gegenwart. Deutschsprachige Literatur seit '89. Stuttgart: Klett-Cotta 2011, S. 28.
8
Vgl. u. a. Schumacher, Eckhard: Gerade Eben Jetzt. Schreibweisen der Gegenwart. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003; Lützeler, Paul Michael / Schindler, Stephan K. (Hg.): Gegenwartsliteratur. Ein germanistisches Jahrbuch. Band 1. Tübingen: Stauffenburg 2002; Barner, Wilfried (Hg.): Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart. 2. akt. und erw. Aufl. München: Beck 2006; Briegleb, Klaus / Weigel, Sigrid (Hg.): Gegenwartsliteratur seit 1968. Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Hg. v. Rolf Grimminger. Band 12. München u.a.: Hanser 1992; Kammler, Clemens: Deutschsprachige Literatur seit 1989/90. Ein Rückblick. In: Ders. / Pflugmacher, Torsten (Hg.): Deutschsprachige Gegenwartsliteratur seit 1989. Zwischenbilanzen – Analysen – Vermittlungsperspektiven. Heidelberg: Synchron 2004, S. 13-35; Winkels, Hubert: Gute Zeichen. Deutsche Literatur 1995-2005. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2005; Wittstock, Uwe: Nach der Moderne. Essay zur deutschen Gegenwartsliteratur in zwölf Kapiteln über elf Autoren. Göttingen: Wallstein 2009; Hage, Volker: Letzte Tänze, erste Schritte. Deutsche Literatur der Gegenwart. München: DVA 2007; Böttiger, Helmut: Nach den Utopien. Eine Geschichte der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Wien: Zsolnay 2004. Auffällig ist, dass zahlreiche Untersuchungen zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur von Literaturkritikern stammen. „An wissenschaftlichen Monographien über die Gegenwart herrscht nach wie vor Mangel“ (Braun, Michael: Die deutsche Gegenwartsliteratur. Eine Einführung. Köln u.a.: Böhlau 2010, S. 19).
9
So auch Degler, Frank / Paulokat, Ute: Neue deutsche Popliteratur. Paderborn u.a.: Wilhelm Fink 2008, S. 13; zur Pop-Literatur siehe Ernst, Thomas: Popliteratur. Hamburg: Rotbuch 2001; Ullmaier, Johannes: Von Acid nach Adlon und zurück. Eine Reise durch die deutschsprachige Popliteratur. Mainz: Ventil 2001; Baßler, Moritz: Der
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was jetzt natürlich viel heroischer und glamouröser klingt, als es ist“, die deutsche Party- und Markenwelt betrachten und alles archivieren, was ihm begegnet.10 In dem Text Tristesse Royale (1999) ziehen sich fünf junge Autoren, das „popkulturelle Quintett“, in den vierten Stock des Berliner Hotels Adlon zurück, um in einer ironischen Selbstinszenierung ihren distanzierten Überdruss angesichts einer verkommenen Konsumwelt zu pflegen, auf die sie ein „kollektives Fernrohr, in das wir ganz viele Münzen eingeworfen haben“, richten.11 An dieser Welt teilzunehmen, erscheint ihnen gänzlich unmöglich – eine Schleife aus Problematisierung und ironischer Relativierung, der nicht zu entkommen ist und der sie auch nicht entkommen wollen. Die Protagonisten werden in der Forschung als „[d]epressive Dandys“12 mit einem „zynische[n] Blick auf die zeitgenössische Wirklichkeit“13 beschrieben. Die Literaturkritik spricht von einer neuen Generation der „Dandys
deutsche Pop-Roman. Die neuen Archivisten. München: Beck 2002; Frank, Dirk (Hg.): Popliteratur. Arbeitstexte für den Unterricht. Stuttgart: Reclam 2003; Frank, Dirk: „Literatur aus den reichen Ländern.“ Ein Rückblick auf die Popliteratur der 1990er Jahre. In: Grabienski, Olaf / Huber, Till / Thon, Jan-Noël (Hg.): Poetik der Oberfläche. Die deutschsprachige Popliteratur der 1990er Jahre. Berlin u.a.: de Gruyter 2011, S. 27-52; Mehrfort, Sandra: Popliteratur: Zum literarischen Stellenwert eines Phänomens der 1990er Jahre. Karlsruhe: Info-Verlag 2008. Klaus Vondung weist darauf hin, dass der Begriff der Popmoderne in der Nachfolge des PostmoderneBegriffs zum „neuen Epochenbegriff erhoben“ worden sei (Facetten der Popmoderne. In: Binczek, Natalie / Glaubitz, Nicola / Vondung, Klaus (Hg.): Anfang offen. Literarische Übergänge ins 21. Jahrhundert. Heidelberg: Winter 2002, S. 15-50, hier S. 16). 10
Stuckrad-Barre, Benjamin von: Soloalbum. 4. Aufl. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2006, S. 38; vgl. Baßler: Der deutsche Pop-Roman; Winkels, Hubert: Grenzgänger. Neue deutsche Pop-Literatur. In: Sinn und Form 51 (1999), H. 4, S. 581-610, hier S. 607.
11
Bessing, Joachim: Tristesse Royale. Das popkulturelle Quintett. Berlin: Ullstein 1999, S. 54.
12
So der Titel des Sammelbandes von Tacke, Alexandra / Weyand, Björn (Hg.): Depressive Dandys. Spielformen der Dekadenz in der Pop-Moderne. Köln u.a.: Böhlau 2009.
13
Frank, Dirk: Die Nachfahren der ‚Gegengegenkultur‘. Die Geburt der ‚Tristesse Royale‘ aus dem Geiste der achtziger Jahre. In: Arnold, Heinz Ludwig / Schäfer, Jörgen (Hg.): Pop-Literatur. Text + Kritik Sonderband. München: Edition Text + Kritik 10 (2003), S. 218-233, hier S. 226.
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der Postmoderne“, „die am Leben vorbeifahren, Passagiere, Passanten des Augenblicks, Zuschauer für ein paar Einschaltminuten“.14 Andere Texte inszenieren mit größerer Ernsthaftigkeit die Distanz der Figuren zu sich und ihren Lebenswelten als Ziel- und Ratlosigkeit, müde Mattigkeit, ein diffuses Unbehagen. Die Erzählungen aus Peter Stamms Band Blitzeis (1999) thematisieren Figuren, die sich, Andere und ihre Lebenswelt passiv aneinander vorbeiziehen lassen.15 So fühlt sich in der Erzählung Das reine Land ein Mann während seines Aufenthalts in New York am Fenster seines Zimmers, aus der Ferne, angezogen von einer Frau hinter dem Fenster auf der anderen Straßenseite, ohne die Möglichkeit der Begegnung zu suchen. Aus einer nicht zu überbrückenden Distanz betrachtet der Ich-Erzähler in Stamms Debütroman Agnes (1998) seine Beziehung, sein literarisches Schreiben dient der Distanzierung von Erfahrungen und Entwicklungen der Einbindung, er schreibt letztlich das Verschwinden seiner Freundin herbei.16 Im Zentrum des Romans der Schweizer Autorin Zoë Jenny Das Blütenstaubzimmer (1997) steht Jo, deren Umfeld von Vereinzelung und Gleichgültigkeit geprägt ist und die „mit einer befremdlich anmutenden Nüchternheit“17 unverankert durch ihr Leben treibt: „Ich […] war ein Schiff auf Reisen.“18 Die Hauptfigur Philipp in Arno Geigers Familienroman Es geht uns gut (2005) zieht sich in die Passivität zurück.19 Er, der das Haus der Familie geerbt hat, stellt professionelle Entrümpler ein, die die Räume leeren, während er auch innerlich versucht, sich der Familiengeschichte zu entziehen.20 Er hat das „Gefühl der […] Unverbundenheit, nicht nur seiner Geliebten Johanna, sondern auch seiner Familie gegenüber.“21 Am Schluss des Romans lässt er das Haus hinter sich und geht auf
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Radisch, Iris: Mach den Kasten an und schau. Junge Männer unterwegs. Die neue deutsche Popliteratur reist auf der Oberfläche der Welt. In: Die Zeit 42 (1999), o. S. URL: http://pdf.zeit.de/1999/42/199942.l-aufmacher_.xml.pdf [20.04.2013].
15
Stamm, Peter: Blitzeis. Erzählungen. Zürich und Hamburg: Arche 1999.
16
Stamm, Peter: Agnes. Zürich und Hamburg: Arche 1998.
17
Frank, Dirk: „Talking about my generation“: Generationskonstrukte in der zeitgenössischen Pop-Literatur. In: Der Deutschunterricht 5 (2000), S. 69-85, hier S. 73.
18
Jenny, Zoë: Das Blütenstaubzimmer. Frankfurt am Main: Frankfurter Verlagsanstalt 1997, S. 48.
19 20
Geiger, Arno: Es geht uns gut. München: Carl Hanser 2005. Vgl. Eidukeviien, Rta: Die Dialektik von Vergessen und Erinnern in Arno Geigers Roman „Es geht uns gut“. In: Triangulum 14 (2009), S. 57-75, hier S. 67.
21
Freytag, Julia: „Wer kennt Österreich?“ Familiengeschichten erzählen. Arno Geiger Es geht uns gut (2005) und Eva Menasse Vienna (2005). In: Stephan, Inge / Tacke,
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Reisen. Das Unterwegssein, in Berlin oder in der Welt, ohne anzukommen, sich zu verorten, kennzeichnet auch die Figuren Hanna Lemkes. In ihrem Erzählband Gesichertes (2010) spricht eine junge Frau ihr Gegenüber als „eine von diesen Großstadtnomadinnen“ an – ein Begriff, der das ungebundene und ziellose Unterwegssein nicht nur der Figuren Lemkes erfasst.22 Sven Regener zeichnet in Herr Lehmann (2001) eine Kreuzberger Jugendszene der Wendezeit, Jugendliche, „die sich mit einer oblomowhaften Trägheit darauf eingerichtet haben, mit möglichst wenig Reibungsverlust […] über die Runden zu kommen und alle Störungen von außen nach Möglichkeit zu vermeiden“.23 Ingo Schulze thematisiert in seinem Roman Simple Storys (1998), den er in der ehemaligen DDR ansiedelt, in lakonischem Ton Desillusionierung und Orientierungslosigkeit, Vereinzelung und Verlorenheit nach dem politischen Umbruch.24 Die distanzierte Position der Figuren im Verhältnis zu sich und zu ihren Lebenswelten kann als ein prägendes Phänomen innerhalb einer vielfältigen und vielstimmigen Literatur der zweiten Hälfte der 1990er und der 2000er Jahre gelten, die die Gegenwart zum Thema macht.25 Erzählungen und Romane gestalten eine Distanz, die in ihrer betrachtenden Haltung, ihrer Unverbundenheit, Teilnahmslosigkeit und der weitgehenden Dämpfung von Bezügen und Affekten unüberwindbar scheint. Im Zentrum dieser Arbeit stehen fünf Texte, die ihre Protagonistinnen und Protagonisten in Positionen unbeteiligter Distanz entwerfen und diese Zuschauerpositionen in unterschiedlicher Intensität und mit unterschiedlichen Implikationen
Alexandra (Hg.): NachBilder des Holocaust. Köln u.a.: Böhlau 2007, S. 111-124, hier S. 113; vgl. Eidukeviien: Die Dialektik von Vergessen und Erinnern, S. 73. 22 23
Lemke, Hanna: Gesichertes: Stories. München: Kunstmann 2010, S. 51. Durzak, Manfred: Die Erzählprosa der neunziger Jahre. In: Barner, Wilfried (Hg.): Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart. 2. akt. und erw. Aufl. München: Beck 2006, S. 964-1007, hier S. 981; vgl. Regener, Sven: Herr Lehmann. Frankfurt am Main: Eichborn 2001.
24
Schulze, Ingo: Simple Storys. Ein Roman aus der ostdeutschen Provinz. Berlin: Berlin Verlag 1998; vgl. Köhn, Lothar: DDR im Rückblick – Dilemma der neuen Verhältnisse. In: Barner, Wilfried (Hg.): Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart. 2. akt. und erw. Aufl. München: Beck 2006, S. 1008-1024, hier S. 1023, 1024.
25
Als prägend erweist sich das Phänomen auch im aktuellen Gegenwartsfilm, z. B.: Michael Haneke: Caché (2005); Christian Petzold: Yella (2007); Maren Ade: Der Wald vor lauter Bäumen (2003); Sonja Heiss: Hotel Very Welcome (2007).
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als problematische Selbst- und Weltverhältnisse ausloten: Judith Hermanns Kurzprosabände Sommerhaus, später (1998) und Nichts als Gespenster (2004), Christian Krachts Roman Faserland (1995), Katharina Hackers Roman Die Habenichtse (2006) sowie Ulrich Peltzers Roman Teil der Lösung (2007). Alle ausgewählten Texte erhielten große und nachhaltige Aufmerksamkeit. Sie wurden im Feuilleton ausführlich diskutiert und auch von der Forschung in den Blick genommen. Ihre Verfasser können als etablierte Gegenwartsautorinnen und -autoren gelten. Judith Hermann, die am 15.5.1970 in Berlin geboren wurde, war mit Sommerhaus, später (1998), Nichts als Gespenster (2004) und auch mit dem Prosaband Alice (2009), in dem es um die existentielle Problematik von Tod und Verlust geht, sehr erfolgreich.26 Hermann gilt als wichtige Gegenwartsautorin, vielen ist sie zentrale Autorin, „Ikone und Ideal“ der sogenannten Fräuleinwunderliteratur,27 ihr Werk wurde als ein Höhepunkt des Erzählens der 1990er Jahre bezeichnet,28 ihre Sprache „als Sound einer Generation“.29 1997 nahm sie an der Autorenwerkstatt des Literarischen Colloquiums Berlin teil, sie erhielt Stipendien und wurde u. a. mit dem Hugo-Ball-Förderpreis (1999) und dem Kleist-Preis (2001) ausgezeichnet. Christian Krachts Faserland (1995) ist einer der bekanntesten und umstrittensten Romane der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur von einem ihrer bekanntesten und umstrittensten Autoren. Schriftsteller und Text gelten vielen als Inbegriff der Neuen deutschsprachigen Popliteratur. Dem Debütroman des 1966 in Saanen, Schweiz, geborenen Autors folgten zahlreiche Reiseberichte und weitere Veröffentlichungen sowie der Roman 1979 (2001), in dem Kracht westliche Dekadenz mit totalitären Systemen des Ostens konfrontiert, die Dystopie Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten (2008) über einen alternativen Geschichtsverlauf seit dem Ersten Weltkrieg, in dem sich eine sowjetische
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Hermann, Judith: Sommerhaus, später. Frankfurt am Main: S. Fischer 1998; Dies.: Nichts als Gespenster. Frankfurt am Main: S. Fischer 2003. Ich arbeite mit der Taschenbuchausgabe aus dem Jahr 2004. Siehe die Verfilmung Nichts als Gespenster von Martin Gypkens (2008); Dies.: Alice. Frankfurt am Main: S. Fischer 2009.
27
Kocher, Ursula: Die Leere und die Angst – Erzählen ‚Fräuleinwunder‘ anders? Narrative Techniken bei Judith Hermann, Zoë Jenny und Jenny Erpenbeck. In: Caemmerer, Christiane / Delabar, Walter / Meise, Helga (Hg.): Fräuleinwunder literarisch. Literatur von Frauen zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Frankfurt am Main u.a.: Peter Lang 2005, S. 53-72, hier S. 55.
28 29
Vgl. Durzak: Die Erzählprosa der neunziger Jahre, S. 967, 970, 971. Zitat von Hellmuth Karasek aus der ZDF-Sendung Das literarische Quartett vom 30.10.1998.
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Schweiz im Krieg mit Resteuropa befindet, und der Abenteuer- und Aussteigerroman Imperium (2012).30 Bühnenfassungen der Romane durch u. a. Armin Petras und Matthias Hartmann wurden auf großen Bühnen in der Schweiz, in Deutschland und Österreich gezeigt.31 Die 1967 in Frankfurt geborene Schriftstellerin Katharina Hacker wurde für ihren Roman Die Habenichtse (2006) mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet. Große Aufmerksamkeit erhielten auch ihre vorangegangenen und folgenden Veröffentlichungen als Werke, die sich zeitkritisch mit Gegenwart und Historie und mit den „großen Themen menschlicher Existenz“ beschäftigen:32 die Erzählungen Tel Aviv. Eine Stadterzählung (1997) und Morpheus oder Der Schnabelschuh (1998), die Prosagedichte Überlandleitung (2007) sowie die Romane Der Bademeister (2000), Eine Art Liebe (2003), Alix, Anton und die Anderen (2009), Die Erdbeeren von Antons Mutter (2010) und Eine Dorfgeschichte (2011).33 Zudem übersetzt Hacker Romane aus dem Hebräischen.34 Ihre Poetikrede Linear gilt nicht mehr – über Gleichzeitigkeit in Texten und übers Nicht-Verstehen hielt sie 2011 auf dem Internationalen Symposium Poetiken des Auf- und Umbruchs an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.35 Hacker wurden der Literaturpreis Stadtschreiber von Bergen (2005/2006) und der Stefan-
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Kracht, Christian: 1979. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2001; Ders.: Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2008; Ders.: Imperium. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2012.
31
U. a. Theater Basel, Volksbühne Berlin, Maxim Gorki Theater Berlin, Schauspielhaus Bochum, Schauspiel Hannover, Burgtheater Wien.
32
Laurien, Ingrid: Eintrag: „Hacker, Katharina“. In: Munzinger Online/KLG – Kritisches
Lexikon
zur
deutschsprachigen
Gegenwartsliteratur,
o.
S.
URL:
http://www.munzinger.de/document/16000000723 [23.08.2012]. 33
Hacker, Katharina: Alix, Anton und die Anderen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2009; Dies.: Der Bademeister. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2000; Dies.: Die Erdbeeren von Antons Mutter. Frankfurt am Main: S. Fischer 2010; Dies.: Eine Art Liebe. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003; Dies.: Eine Dorfgeschichte. Frankfurt am Main: S. Fischer 2011; Dies.: Morpheus oder Der Schnabelschuh. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998; Dies.: Tel Aviv. Eine Stadterzählung. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997; Dies.: Überlandleitung. Prosagedichte. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2007.
34
Aini, Lea: Eine muß da sein. Aus dem Hebräischen von Katharina Hacker. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997; Avni, Jossi: Der Garten der toten Bäume. Aus dem Neuhebräischen von Katharina Hacker zus. mit Markus Lemke. Hamburg: MännerschwarmSkript 2000.
35
Hacker, Katharina: Linear gilt nicht mehr – über Gleichzeitigkeit in Texten und übers Nicht-Verstehen. In: von Hoff, Dagmar / Szczepaniak, Monika / Wetenkamp, Lena
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Andres-Preis (2010) verliehen. Der Roman Teil der Lösung (2007) des 1956 in Krefeld geborenen Schriftstellers Ulrich Peltzer war 2009 für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert.36 Er wurde im Staatstheater Stuttgart unter der Regie von Seraina Maria Sievi (2010) auf die Bühne gebracht.37 Schon in seinen vorangehenden Romanen fängt Peltzer die postmoderne Gegenwart der Großstadt sowie Wahrnehmung und Bewusstsein fluider Subjektivität ein: in seinem Romandebüt Die Sünden der Faulheit (1987), in dem Roman Stefan Martinez (1995), der das gesamte 20. Jahrhundert umfasst, in Alle oder keiner (1999) und in der Erzählung Bryant Park (2002), die als eine der ersten und innovativsten literarischen Reaktionen auf den 11. September 2001 gilt.38 Peltzer hat zudem das Drehbuch für Christoph Hochhäuslers Film Unter dir die Stadt geschrieben, der in der Frankfurter Finanzwelt spielt (2010). Im Wintersemester 2010/2011 übernahm er die Poetikdozentur der Goethe-Universität Frankfurt, seine Vorlesungen erschienen 2011 unter dem Titel Angefangen wird mittendrin.39 Ulrich Peltzer, der als einer der wichtigen Schriftsteller der Gegenwartsliteratur gelten kann,40 erhielt u. a. 1997 den Anna-Seghers-Preis, 1996 und 2008 den Berliner Literaturpreis, 2009/2010 den Literaturpreis Stadtschreiber von Bergen und 2011 den HeinrichBöll-Preis. Die Texte Judith Hermanns, Christian Krachts, Katharina Hackers und Ulrich Peltzers, die Gegenstand dieser Studie sind, konfrontieren die unbeteiligte Distanz ihrer Protagonistinnen und Protagonisten mit den Herausforderungen einer komplexen Gegenwart. Judith Hermann inszeniert in den Erzählbänden Sommerhaus,
(Hg.): Poetiken des Auf- und Umbruchs. Frankfurt am Main u.a.: Peter Lang 2013, S. 9-17. 36
Peltzer, Ulrich: Teil der Lösung. Zürich: Ammann 2007. Ich arbeite mit der Ausgabe: Peltzer, Ulrich: Teil der Lösung. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2009.
37
Am Deutschen Theater in Berlin sollte Peltzers Roman 2012 aufgeführt werden. Die Inszenierung Simon Solbergs, an der der Autor nicht beteiligt war, wurde aber kurzfristig abgesagt.
38
Peltzer, Ulrich: Alle oder keiner. Zürich: Ammann 1999; Ders.: Bryant Park. Zürich: Ammann 2002; Ders.: Die Sünden der Faulheit. Zürich: Ammann 1987; Ders.: Stefan Martinez. Zürich: Ammann 1995.
39
Peltzer, Ulrich: Angefangen wird mittendrin. Frankfurter Poetikvorlesungen. Frankfurt am Main: S. Fischer 2012.
40
Vgl. Auer, Matthias: Eintrag: „Peltzer, Ulrich“. In: Munzinger Online/KLG – Kritisches
Lexikon
zur
deutschsprachigen
Gegenwartsliteratur,
http://www.munzinger.de/document/16000000688 [23.08.2012].
o.
S.
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später (1998) und Nichts als Gespenster (2003) in lakonischer Sprache eine distanzierte Ratlosigkeit, mit der ihre Figuren durch Berlin, Deutschland und die globalisierte Welt gleiten, sich und ihre Lebenswelt ins Bild setzen und betrachten. Die Erfüllung diffuser Sehnsüchte nach Verbundenheit scheint es nur in Vorstellung und Erwartung zu geben: „Glück“, so heißt es in Camera obscura, „ist immer der Moment davor.“41 In Christian Krachts Roman Faserland (1995) reist ein junger Mann allein und orientierungslos von Sylt nach Zürich auf der Suche nach Kontakten, die allesamt scheitern. Er bewegt sich durch ein abstoßendes Deutschland, das er um jeden Preis auf Distanz zu halten sucht, denn alles „ist irgendwie körperlich unerträglich geworden.“42 Das Thema einer distanzierten Zuschauerposition greifen auch Katharina Hackers Zeitroman Die Habenichtse (2006) und Ulrich Peltzers Zeitroman Teil der Lösung (2007) auf, wobei sie es, über den Rahmen des weitgehend Privaten hinausgehend, in einen größeren gesellschaftspolitischen und philosophischen Kontext stellen. Katharina Hacker konfrontiert ihre Figuren, die sich in ihrer Teilnahmslosigkeit vordergründig erfolgreich auf sichere Positionen zurückziehen, mit 9/11, den weiteren Entwicklungen bis zum IrakKrieg, mit der NS-Historie, mit sozialer Armut und Verwahrlosung. Ulrich Peltzer stellt der Beobachterhaltung seines Protagonisten, seiner Verweigerung und resignierten Distanz, Prozesse der Überwachung und Ökonomisierung gegenüber und einen Impuls der Gegenwehr. Auf der Grundlage dieser Texte greift die vorliegende Studie das Thema der distanzierten Zuschauerposition auf und untersucht es als ein literarisch konstruiertes subjektives Selbst- und Weltverhältnis mit gesellschaftspolitischen und ethisch-philosophischen Implikationen. Sie nimmt distanzierte Figuren der Literatur der 1990er und 2000er Jahre in ihren Verhältnissen zu sich, zu Anderen und zu ihren Lebenswelten in den Blick und fragt nach Facetten und Kontexten der unüberwindbar scheinenden Distanz. Wie werden distanzierte Figuren in literarisch konstruierten Lebenswelten der Gegenwart inszeniert, wie Selbst- und Weltverhältnisse in diesen Gefügen reflektiert? Lassen sich Auswege erkennen, die aus der Zuschauerposition herausführen? Welche Vorstellungen und Perspektiven von Subjektivität und Ethik werden im Wissen um die Problematik dieser Kategorien entworfen? Berücksichtigung finden bei der Beantwortung dieser Fragen auch literarische Traditionen, in die die Autorinnen und Autoren sich einschreiben und die sie variieren, ebenso wie die Ästhetik der Inszenierungen, die literarische Form, in der Distanzphänomene zum Gegenstand der Narration werden.
41
Hermann: Sommerhaus, später, S. 158.
42
Kracht: Faserland, S. 24.
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Die Studie verfolgt die These, dass die untersuchten Texte Phänomene der Distanz im kontextuellen Gefüge des Selbst, des Anderen, und der gesellschaftlichen Lebenswelt als Bezugs- und Beziehungslosigkeit ausleuchten. Diese wird inszeniert als eine Beziehung im defizienten Modus, als Einbindung in bestimmende Lebenswelten der Gegenwart, zu denen doch kein Zugang gelingt. Distanz markiert somit keine Position der Freiheit, Überlegenheit und Selbstbehauptung, sondern ein problematisches, weil defizitäres Selbst- und Weltverhältnis. Die genaue Beschreibung dieser defizitären Beziehung wird in einem quasi-diagnostischen Verfahren zu einem Instrument, um sowohl Möglichkeiten von Subjektivitätsentwürfen als auch Bedingungen ihres Gelingens oder Scheiterns auszuloten. Mit dem Blick auf diese Bedingungen üben die Texte in ihrer Inszenierung der Distanz zugleich eine, allerdings unterschiedlich ausgeprägte, Kritik an den Lebenswelten, in denen sie ihre Figuren situieren. Leitend für die Analyse ist die Überlegung, ob mit dieser literarischen Inszenierung einer unüberwindbar scheinenden Distanz zugleich der Verlust jeglicher subjektiven Gestaltungsmöglichkeit beschrieben und damit die postmoderne These vom Tod des Subjekts bestätigt oder ob in diesen literarischen Texten eine Subjektivität entworfen wird, der, in aller Ambivalenz, Möglichkeiten der Gestaltung, der Verantwortung und des Eingreifens, zugeschrieben werden. Dieser Prozess des Nachdenkens über Möglichkeiten des Einzelnen in postmodern geprägten, globalisierten Lebenswelten, der sich in den Texten aus der Konfrontation unbeteiligter Zuschauerpositionen mit den Herausforderungen einer literarisch konstruierten komplexen Gegenwart ergibt, prägt entscheidend auch den kulturwissenschaftlichen Diskurs der Gegenwart. Subjektivität, die in der Aufklärung und im 19. Jahrhundert als Verkörperung von Vernunft, Sittlichkeit und Autonomie gedacht wurde, schien mit der Postmoderne konditioniert, fragmentiert und historisiert, dekonstruiert zu einem Struktureffekt und galt als gänzlich Unterworfenes. Nun zeichnet sich eine Neufokussierung auf das Subjekt ab, die keineswegs eine emphatische Neuermächtigung anstrebt, es aber doch nicht als gänzlich Unterworfenes belässt.43 Der Begriff
43
Vgl. u. a. Böhm, Alexandra / Kley, Antje / Schönleben, Mark: Einleitung: Ethik – Anerkennung – Gerechtigkeit. In: Dies. (Hg.): Ethik – Anerkennung – Gerechtigkeit. Philosophische, literarische und gesellschaftliche Perspektiven. Paderborn u.a.: Wilhelm Fink 2011, S. 11-34, hier S. 13; Zima, Peter V.: Theorie des Subjekts. Subjektivität und Identität zwischen Moderne und Postmoderne. 2. durchges. Aufl. Tübingen u.a.: Francke 2007; Füssel, Marian: Die Rückkehr des ‚Subjekts‘ in der Kulturgeschichte. Beobachtungen aus praxeologischer Perspektive. In: Nünning, Ansgar / Deines, Stefan / Jäger, Stephan (Hg.): Historisierte Subjekte – subjektivierte Historie. Zur Verfügbarkeit und Unverfügbarkeit von Geschichte. Berlin u.a.: de Gruyter 2003, S.
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der Subjektivität, mit dem die vorliegende Untersuchung arbeitet, ist in diesem Zusammenhang bewusst gewählt: Er insistiert nicht auf der Wesenseinheit der Identität und nicht auf der personalen Eigenart der Individualität, sondern dient seit der Moderne als Problematisierungskategorie, „als eine bestimmte Betrachtungs- und Problematisierungsform individueller Existenz“,44 die unterschiedlich gefüllt werden kann – als autonomes Zentrum, als Zerfallendes, Unterworfenes und darüber hinaus wieder neu und anders. Mit den ausgewählten Texten geht es um Positionen, die die Postmoderne nicht zurücknehmen, sondern im Bewusstsein und in Auseinandersetzung mit der postmodernen Dekonstruktion – sowohl im Hinblick auf die Kohärenz eines autonomen Subjekts als auch auf die einer verfügbaren, gesellschaftlichen Wirklichkeit – versuchen, Subjektivität in Relationen zum Selbst, zu Anderen und zu den Lebenswelten zu denken. Dieser Versuch, der allen Texten eingeschrieben ist, macht sie zu signifikanten Momentaufnahmen einer literarischen Suche nach Subjektivitätsentwürfen in der Auseinandersetzung mit literarisch konstruierten Lebenswelten der Gegenwart. Als solche sind sie Gegenstand dieser Studie. Judith Hermanns Erzählungen und Christian Krachts Faserland, denen die verbreitete Reduktion auf oberflächliche Neue deutschsprachige Popliteratur oder ein Fräuleinwunder nicht gerecht wird, buchstabieren Phänomene der Distanz aus und bringen so problematische Selbst- und Weltverhältnisse angesichts einer als abweisend, undurchschaubar und unbeeinflussbar erscheinenden Lebenswelt in überwiegend privaten Lebensbereichen zum Ausdruck. Dabei wird eine Auseinandersetzung deutlich, die sich vor allem in der Deskription und Analyse des Status quo bewegt. Die distanzierte Zuschauerposition erscheint – obgleich als defizitär inszeniert – als nicht überwindbar, Entwürfe gelingenderer Subjektivität deuten sich lediglich ex negativo – im Scheitern – an und in den Sehnsüchten der Protagonisten. In Katharina Hackers Die Habenichtse und Ulrich Peltzers Teil der Lösung wird die Distanz der dargestellten Selbst- und Weltverhältnisse als Subjektivitätsproblematik in weitere ethisch-philosophische und gesellschaftspolitische Kontexte gestellt. Durch die Konfrontation mit einer Gegenwart, die Teilnahme einfordert, entsteht eine Metaebene, aus der sich die
141-159; Bartl, Andrea: Was bleibt vom Feuer? Asche. – Die Wende zur Ethik in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. In: Dies. (Hg.): Verbalträume. Beiträge zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Augsburg: Wißner 2005, S. 7-24. 44
Meyer-Drawe, Käte: Art. Subjektivität – Individuelle und kollektive Formen kultureller Selbstverhältnisse und Selbstdeutungen. In: Jaeger, Friedrich / Liebsch, Burkhard (Hg.): Handbuch der Kulturwissenschaften. Band 1: Grundlagen und Schlüsselbegriffe. Stuttgart / Weimar: Metzler 2004, S. 304-315, hier S. 313.
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ethische Problematisierung singulärer Subjektivitätsentwürfe und konkreter Lebenswelten und die vorsichtige Suche nach alternativen Selbst- und Weltverhältnissen ergeben. Damit gewinnen die Romane eine verstärkt gesellschaftspolitisch und ethisch orientierte Brisanz. In dieser Studie werden die fünf ausgewählten Texte erstmalig in einen thematischen Kontext gestellt und als literarische Konstruktionen untersucht, die in der Auseinandersetzung mit postmodernen, globalisierten, kapitalistischen Lebenswelten, ausgehend von problematischen Selbst- und Weltverhältnissen der Distanz, Positionen und Perspektiven von Subjektivität ausloten, ohne in reessentialisierende Muster zurückzufallen. Die analytische Kategorie der Distanz, die in dieser Studie entwickelt wird, lenkt den Blick auf die jeder Distanz zugrunde liegende Relationalität. In dem eröffneten Spannungsfeld der Relationalität zwischen Distanz und Einbindung, die ihrerseits in unterschiedlicher Weise mit Autonomie und Heteronomie verknüpft sind, lassen sich die literarischen Erscheinungsformen der Distanz verorten.45 Es handelt sich um ein dynamisches Konzept, das nicht charakterisierend ist im Sinne einer Festlegung auf Eigenschaften und Zustände, sondern ein Verhältnis, eine Beziehung von Figuren zu sich und ihren Lebenswelten erfassen kann, Bewegung zulässt und im Stande ist, Graduelles zu beschreiben. So gelingt die genaue Analyse der distanzierten Zuschauerpositionen. Es geht dabei um Formen relationaler Subjektivität46 und die damit verbundenen ethischen Implikationen, die in der Analyse der untersuchten Texte als literarische Entwürfe herausgearbeitet und mit aktuellen philosophischen Entwürfen in Verbindung gebracht werden. Die Studie bezieht Stellung innerhalb der literaturwissenschaftlichen Debatte um literarische Entwürfe von Subjektivität und Ethik in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur sowie um die ethische Orientierung der Literaturwissenschaft. Sie setzt an der aktuellen Theoriebildung an, die Subjektivität – ein kulturelles Kernkonzept – neu denkt, trotz und in ihrer Fragilität. In der Verbindung literatur- und kulturwissenschaftlicher Perspektiven nimmt sie den Hinweis Peter V. Zimas auf, „das Subjektproblem [sei, d. V.] nur im interdisziplinären
45
Die Dichotomien, die die Pole des Spannungsgefüges benennen, bilden einen begrifflichen Rahmen, der den Zugriff auf das Zwischen ermöglicht. Das, was sie beschreiben, hat keinen Polcharakter: Weder Distanz noch Einbindung, noch Autonomie oder Heteronomie sind unter der Fragestellung der Relationalität in Reinform zu haben, vielmehr erfasst gerade das entworfene Spannungsfeld sie in ihren vielfältigen Formen und Verknüpfungen.
46
Der Begriff der Relationalität ist geeignet, um Aspekte des Fremden und Disparaten einbeziehen zu können, während beispielsweise der Begriff dialogisch ein eher harmonisierbares, geschlosseneres System suggeriert.
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Kontext […] konkret zu erfassen“.47 Damit insistiert sie zugleich auf der Relevanz literaturwissenschaftlicher Reflexionsräume für die Diskussion um Subjektivität und Ethik. Diesem Problemfeld gilt das Forschungsinteresse der vorliegenden Studie. Dabei soll anhand der untersuchten Texte keine ethische Wende in der Gegenwartsliteratur ausgerufen werden – das wäre anmaßend, nicht nur angesichts der Vielstimmigkeit der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Es geht vielmehr um die Untersuchung eines komplexen literarischen Nachdenkens über subjektive Selbst- und Weltverhältnisse ausgehend von Phänomenen der Distanz, die als prägendes Merkmal einer Strömung gegenwärtiger deutschsprachiger Literatur gelten können.
E INORDNUNG IN
DEN
F ORSCHUNGSSTAND
In der Forschung zur aktuellen Gegenwartsliteratur, deren Beginn zumeist mit dem Mauerfall 1989 datiert wird,48 lassen sich, u. a., drei zentrale Perspektiven ausmachen, in deren Kontext sich die vorliegende Untersuchung stellt: Ein Paradigma bereits seit den 1980er Jahren ist die literarische Postmoderne mit ihrer Kritik und Dekonstruktion identitärer, autonomer Subjektentwürfe und einheitlicher Welt- und Wertzusammenhänge, denen sie eine radikale Pluralität entgegensetzt, sowie mit ihrer Einbeziehung von Selbstreferentialität, Ironie, Parodie und Intertextualität.49 Ein anderer Aspekt, unter dem zahlreiche Texte der Gegenwart rezipiert werden, lässt sich mit dem Begriff der Wendeliteratur erfassen.50 Eine
47
Zima: Theorie des Subjekts, S. 3.
48
Vgl. u. a. Opitz, Michael / Opitz-Wiemers, Carola: Tendenzen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur seit 1989. In: Deutsche Literaturgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Hg. v. Wolfgang Beutin et al. 7. erw. Aufl. Stuttgart / Weimar: Metzler 2008, S. 663-740.
49
Vgl. Briegleb, Klaus / Weigel, Sigrid: Einleitung. In: Dies. (Hg.): Gegenwartsliteratur seit 1968. Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Hg. v. Rolf Grimminger. Band 12. München u.a.: Hanser 1992, S. 917, hier S. 13; Lützeler, Paul Michael: Postmoderne und postkoloniale deutschsprachige Literatur. Diskurs – Analyse – Kritik. Bielefeld: Aisthesis 2005, S. 36ff.; Wittstock: Nach der Moderne.
50
Vgl. Kormann, Julia: Literatur und Wende. Ostdeutsche Autorinnen und Autoren nach 1989. Wiesbaden: Deutscher Universitäts-Verlag 1999; Krauss, Hannes: Die Wiederkehr des Erzählens. Neue Beispiele der Wendeliteratur. In: Kammler, Clemens /
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dritte Perspektive fasst Texte der 1990er und 2000er als Neue deutschsprachige Popliteratur, die mit ihrer Konzentration auf Oberflächen zum Teil als Literaturvermarktung und Niveauverlust beklagt, zum Teil als Wiederkehr eines jungen, gegenwartsbezogenen Erzählens gefeiert wurde.51 Die hier untersuchten Texte können in den Zusammenhang einer Auseinandersetzung mit der Postmoderne eingeordnet werden. Sie alle behandeln, mehr oder weniger gesellschaftlich und politisch orientiert, die Nachwendezeit, wobei überwiegend eine westdeutsche Perspektive eingenommen wird. Die Texte Krachts und auch Hermanns werden zumeist der Neuen deutschsprachigen Popliteratur zugeordnet, die als neueste kanonisierte Strömung der Gegenwartsliteratur gelten kann.52 Im Kontext dieser Studie allerdings werden sie aus dem Zusammenhang des Pop herausgelöst und zusammen mit den Zeitromanen Katharina Hackers und Ulrich Peltzers in einen neuen thematischen Zusammenhang gestellt. Sicherlich sind „die literaturkritischen Debatten besonders in Deutschland immer noch auf der Suche […] nach einem neuen Paradigma von Gegenwartsliteratur“.53 Ein einheitliches Paradigma, unter das sich die vielstimmige Gegenwartsliteratur subsumieren ließe, strebt die vorliegende Studie aber nicht an, es widerspräche auch ihrem postmodern geprägten Ansatz.54 Allerdings lenkt sie den Blick auf eine Thematik, die bisher nicht
Pflugmacher, Torsten (Hg.): Deutschsprachige Gegenwartsliteratur seit 1989. Zwischenbilanzen – Analysen – Vermittlungsperspektiven. Heidelberg: Synchron 2004, S. 97-108. 51
So zum Beispiel Kammler: „Krachts Faserland oder Stuckrad-Barres Soloalbum mögen als Lifestyle-Dokumente der neunziger Jahre zu jener Art literarischem Fast Food gehören, dessen ästhetische Halbwertzeit sich umgekehrt proportional zum Werbeaufwand verhält, mit dessen Hilfe sie zu Bestsellern gepuscht wurden“ (Deutschsprachige Literatur seit 1989/90, S. 24f.). Baßler: „Zum ersten Mal seit dem 2. Weltkrieg ist die deutsche Literatur heute besser als die deutsche Fußball-Nationalmannschaft“ (Der deutsche Pop-Roman, S. 9).
52
Vgl. u. a. Ullmaier: Von Acid nach Adlon und zurück, S. 33, 208; Kammler: Deutschsprachige Literatur seit 1989/90, S. 24, 25.
53
Frank, Dirk: Was ist Popliteratur? In: Ders. (Hg.): Popliteratur. Arbeitstexte für den Unterricht. Stuttgart: Reclam 2003, S. 5-33, hier S. 30.
54
Ähnlich Barner, der 2006 konstatiert, „daß die deutschsprachige literarische Produktion seit etwa 1990 […] sich […] noch vielfältiger, zersplitterter, ‚unübersichtlicher‘ zeigt[]“ (Barner, Wilfried: Vorwort zur zweiten, erweiterten Auflage. In: Ders. (Hg.): Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart. 2. akt. und erw. Aufl. München: Beck 2006, S. XXVII-XXIX, hier S. XXVII). So auch Kammler: „Was die
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zum Ausgangspunkt literaturwissenschaftlicher Untersuchungen geworden ist. Die Analyse distanzierter Selbst- und Weltverhältnisse in ihrer Konfrontation mit dem Anderen, mit Geschichte und gesellschaftlicher Lebenswelt, insbesondere die Problematisierung des Nebeneinanders von Distanz und Einbindung, die das Spezifische der ausgewählten Texte ausmachen, sind nicht in den Fokus einer kulturwissenschaftlich orientierten Germanistik gerückt ebenso wenig wie die Anstöße, die sich daraus für Entwürfe von Subjektivität und Ethik in der globalisierten, postmodern geprägten Gegenwart ergeben. Distanzierte Zuschauerpositionen der Protagonisten werden zwar in der literaturwissenschaftlichen Forschung zur Gegenwartsliteratur benannt und – sei es als Indifferenz, Dekadenz, Einsamkeit oder Ironie – beschrieben, oft mit Verweis auf den theoretischen oder gesellschaftlichen Kontext der Postmoderne und / oder der Popkultur.55 Sie werden auch im Zusammenhang mit schwierigen Identitätsbildungsprozessen im Erzählen der 1990er Jahre konstatiert.56 Problematisch ist allerdings ihre Subsumption unter
Prosa seit 1989/90 anbetrifft, so lässt die Fülle der Themen, Schreibweisen und Gruppierungen eine halbwegs überzeugende Systematik kaum zu“ (Deutschsprachige Literatur seit 1989/90, S. 27). Vgl. Wehdeking, Volker / Corbin, Anne-Marie (Hg.): Deutschsprachige Erzählprosa seit 1990 im europäischen Kontext. Interpretationen, Intertextualität, Rezeption. Trier: WVT 2003. 55
Vgl. Gösweiner, Friederike: Einsamkeit in der jungen deutschsprachigen Literatur der Gegenwart. Innsbruck u.a.: Studien Verlag 2010; Andre, Thomas: Kriegskinder und Wohlstandskinder. Die Gegenwartsliteratur als Antwort auf die Literatur der 68er. Heidelberg: Winter 2011; Tacke / Weyand: Depressive Dandys; Brinkmann, Martin: Unbehagliche Welten. Wirklichkeitserfahrungen in der neuen deutschsprachigen Literatur, dargestellt anhand von Christian Krachts ‚Faserland‘ (1995), Elke Naters ‚Königinnen‘ (1998), Xaver Beyers ‚Heute könnte ein glücklicher Tag sein‘ (2001) und Wolfgang Schömels ‚Die Schnecke. Überwiegend neurotische Geschichten‘ (2002). In: Weimarer Beiträge 53 (2007), H. 1, S. 17-46, hier S. 40; Vondung: Facetten der Popmoderne; Rauen, Christoph: Pop und Ironie. Popdiskurs und Popliteratur um 1980 und 2000. Berlin u.a.: de Gruyter 2010.
56
Vgl. Rink, Christian: Nichts als Gespenster. Zur Identitätsproblematik in den Erzählungen Judith Hermanns. In: Breuer, Ulrich / Sandberg, Beatrice (Hg.): Grenzen der Identität und der Fiktionalität. Autobiographisches Schreiben in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Band 1. München: Iudicium 2006, S. 112-125; Mehrfohrt, Sandra: Ich-Konstruktionen in der Popliteratur – Christian Krachts Faserland (1995), Alexa Hennig von Langes Relax (1997) und Benjamin von Stuckrad-Barres Soloal-
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enge und sehr spezifische Begriffe: Dies birgt die Gefahr, die Komplexität des literarischen Entwurfs zu verfehlen.57 Differenzierter lassen sich die literarischen Entwürfe mit der analytischen Kategorie der Distanz erfassen, die in dieser Studie entwickelt wird. Das durch sie eröffnete dynamische Spannungsfeld der Relationalität hilft zu systematisieren, nicht aber zu verengen und zu vereindeutigen. Es eröffnet zudem den Blick für ethische Themen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, die bisher trotz ihrer zunehmenden Bedeutung kaum untersucht wurden. Zwar stellt die Literaturwissenschaft seit den späten 1990er Jahren die ethische Dimension von Texten stärker in den Mittelpunkt, sodass man von einem ethical turn in der Literaturwissenschaft gesprochen hat.58 Die Spannbreite der Fragestellungen reicht von der Untersuchung narrativer Verfahren und deren ethischer Implikationen bis zu der ethischer Problemstellungen auf der Ebene literarischer Narration.59
bum (1998). In: Schlich, Jutta / Mehrfohrt, Sandra (Hg.): Individualität als Herausforderung. Identitätskonstruktionen in der Literatur der Moderne (1770-2006). Heidelberg: Winter 2006, S. 181-205. 57
Siehe zum Beispiel Gösweiner, aus deren literatursoziologischer Perspektive ausgehend von einem außerliterarischen Theorem der Einsamkeit alle literarischen Phänomene als Einsamkeit gedeutet werden.
58
Zum Beispiel trägt eine aktuelle Reihe (2009) des Wilhelm-Fink-Verlags den Titel Ethik – Text – Kultur; Lützeler, Paul Michael: Ethik und literarische Erkenntnis. In: Ders. / Kapczynski, Jennifer M. (Hg.): Die Ethik der Literatur. Deutsche Autoren der Gegenwart. Göttingen: Wallstein 2011, S. 9-28; Zimmermann, Jutta / Salheiser, Britta (Hg.): Ethik und Moral als Problem der Literatur und Literaturwissenschaft. Berlin: Duncker & Humblot 2006; Mieth, Dietmar (Hg.): Erzählen und Moral: Narrativität im Spannungsfeld von Ethik und Ästhetik. Tübingen: Attempto-Verlag 2000; Krepold, Susanne / Krepold, Christian (Hg.): Schön und gut? Studien zu Ethik und Ästhetik in der Literatur. Würzburg: Königshausen & Neumann 2008; vgl. auch Baker, Peter: Deconstruction and the Ethical Turn. Gainesville u.a.: University Press of Florida 1995; Davis, Todd F. / Womack, Kenneth (Hg.): Mapping the ethical turn. A reader in ethics, culture, and literary theory. Charlottesville u.a.: University Press of Virginia 2001; Garber, Marjorie / Hanssen, Beatrice / Walkowitz, Rebecca L. (Hg.): The Turn to Ethics. London: Routledge 2000; Adamson, Jane / Freadman, Richard / Parker, David (Hg.): Renegotiating Ethics in Literature, Philosophy, and Theory. Cambridge: Cambridge University Press 1998.
59
Vgl. Waldow, Stephanie (Hg.): Ethik im Gespräch. Autoren und Autorinnen über das Verhältnis von Literatur und Ethik heute. Bielefeld: transcript 2011, S. 7; Böhm / Kley / Schönleben: Einleitung: Ethik – Anerkennung – Gerechtigkeit, S. 23.
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Allerdings sind bisher nur wenige Texte der neueren deutschsprachigen Gegenwartsliteratur zum Gegenstand der Untersuchung geworden und so befindet sich die Forschung zu ethischen Impulsen hier noch in den Anfängen: Zu verweisen ist auf den von Paul Michael Lützeler herausgegebenen Band Die Ethik der Literatur, auf Andrea Bartls Band Verbalträume und auf einige Aufsätze aus den Bänden Narration und Ethik sowie Ethik – Anerkennung – Gerechtigkeit der Reihe Ethik – Text – Kultur.60 Auch Stephanie Waldows 2011 erschienener Band Ethik im Gespräch, in dem sie gemeinsam mit Autoren und Autorinnen ethischen Impulsen in der Gegenwartsliteratur nachspürt, deutet auf eine verstärkte Aufmerksamkeit für diese Thematik hin.61 In diesem Zusammenhang rückt auch die Frage nach Subjektivitätsentwürfen neu in den Fokus. Als theoretischer Horizont deutet sich in einigen Studien der letzten Jahre die Auseinandersetzung mit einer nicht als autonom gedachten Subjektivität an, unter Bezugnahme auf u. a. Emmanuel Lévinas’ und Judith Butlers Entwürfe der Beziehung zum Anderen, allerdings sind die Entwürfe der Gegenwartsliteratur aus dieser Perspektive noch kaum untersucht worden.62 Als Desiderat ergibt sich eine systematische Untersuchung
60
Lützeler, Paul Michael / Kapczynski, Jennifer M. (Hg.): Die Ethik der Literatur. Deutsche Autoren der Gegenwart. Göttingen: Wallstein 2011; Bartl, Andrea (Hg.): Verbalträume. Beiträge zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Augsburg: Wißner 2005; u. a. Wägenbaur, Thomas: Wittgensteins implizite Ethik als poetisches Prinzip von Narration und Ethik. Ilja Trojanows Der Weltensammler. In: Öhlschläger, Claudia (Hg.): Narration und Ethik. Paderborn u.a.: Wilhelm Fink 2009, S. 265-280; Öchsner, Florian: Antisemitismus im Zerrspiegel – ‚Ethik‘ grotesken Schreibens nach Auschwitz in Edgar Hilsenraths Romans Der Nazi & der Friseur. In: Böhm, Alexandra / Kley, Antje / Schönleben, Mark (Hg.): Ethik – Anerkennung – Gerechtigkeit. Philosophische, literarische und gesellschaftliche Perspektiven. Paderborn u.a.: Wilhelm Fink 2011, S. 381-398; vgl. außerdem Berger, Claudia: Moral Play? Poetics, Ethics and Politics in Juli Zeh’s Spieltrieb. In: Rectanus, Mark W. (Hg.): Über Gegenwartsliteratur. Interpretationen und Interventionen. Festschrift für Paul Michael Lützeler zum 65. Geburtstag von ehemaligen StudentInnen. Bielefeld: Aisthesis 2008, S. 105-122; Öhlschläger, Claudia: Friedrich Schiller am ‚Tatort‘ Schule. Zitierte Moraltheorien und ihre Performanz in Juli Zehs Spieltrieb (2004) und in der Tatort-Folge Herz aus Eis (2009). In: Jacob, Joachim / Mayer, Mathias (Hg.): Im Namen des Anderen. Die Ethik des Zitierens. Paderborn u.a.: Wilhelm Fink 2010, S. 357-372.
61
Vgl. Waldow: Ethik im Gespräch.
62
Vgl. Böhm / Kley / Schönleben: Einleitung: Ethik – Anerkennung – Gerechtigkeit, S. 13; Bartl: Was bleibt vom Feuer?, S. 8; Waldow: Ethik im Gespräch, S. 9; Öhlschläger, Claudia: Vorbemerkung. Narration und Ethik. In: Dies. (Hg.): Narration und
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distanzierter Selbst- und Weltverhältnisse in ihrem Zusammenhang mit Entwürfen von Subjektivität und Ethik in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Dieses Forschungsdesiderat greift die vorliegende Studie anhand zentraler Texte wichtiger Gegenwartsautoren und -autorinnen auf, die sie erstmalig in einen thematischen Zusammenhang stellt. Mit dieser Neukontextualisierung widersetzt sich die Untersuchung kanonisierten Paradigmen und öffnet den Blick für eine thematische Strömung in der Gegenwartsliteratur, die noch nicht beschrieben wurde. Die ausgewählten Texte waren vielfach Gegenstand literaturwissenschaftlicher Forschung. Judith Hermanns Erzählungen wurden unter dem Fokus des „Fräuleinwunder[s]“ als eine populäre weibliche Literatur der Gegenwart gelesen.63 Sie wurden der Popliteratur zugeordnet64 und als Berlin-Literatur verstanden65. Verwiesen wurde auf Bezüge zur Jahrhundertwendeliteratur um 190066 und zur Flaneurliteratur der 1920er Jahre67. Günter Blamberger, der von einer „Poetik der Unentschiedenheit“ spricht, nennt Hermanns Figuren müde, erschöpft, ihrer
Ethik. Paderborn u.a.: Wilhelm Fink 2009, S. 9-24, hier S. 15; Leal, Joanne: The Interpersonal is Political: Locating the Ethical Subject in Katharina Hacker’s Die Habenichtse. In: Angermion 4 (2011), S. 165-182. 63
Ein „Fräuleinwunder“ rief der Literaturkritiker Volker Hage 1999 im Spiegel aus (Hage, Volker: Ganz schön abgedreht. In: Der Spiegel 12 (1999), S. 244-246). Dazu: Mingels, Annette: Das Fräuleinwunder ist tot – es lebe das Fräuleinwunder. Das Phänomen der ‚Fräuleinwunder-Literatur‘ im literaturgeschichtlichen Kontext. In: Nagelschmidt, Ilse / Müller-Dannhausen, Lea / Feldbacher, Sandy (Hg.): Zwischen Inszenierung und Botschaft. Zur Literatur deutschsprachiger Autorinnen ab Ende des 20. Jahrhunderts. Berlin: Frank & Timme 2006, S. 13-38.
64
Vgl. Ullmaier: Von Acid nach Adlon und zurück, S. 208; Weingart, Brigitte: Judith Hermann: ‚Sommerhaus, später‘ (1998). In: Benthien, Claudia / Stephan, Inge (Hg.): Meisterwerke. Deutschsprachige Autorinnen im 20. Jahrhundert. Köln u.a.: Böhlau 2005, S. 148-175, hier S. 153; Frank: „Literatur aus den reichen Ländern.“, S. 27.
65
Vgl. Meise, Helga: Mythos Berlin. Orte und Nicht-Orte bei Julia Franck, Inka Parei und Judith Hermann. In: Caemmerer, Christiane / Delabar, Walter / Meise, Helga (Hg.): Fräuleinwunder literarisch. Literatur von Frauen zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Frankfurt am Main u.a.: Peter Lang 2005, S. 125-150.
66
Vgl. Blamberger, Günter: Poetik der Unentschiedenheit: Zum Beispiel Judith Hermanns Prosa. In: Lützeler, Paul M. / Schindler, Stephan K. (Hg.): Gegenwartsliteratur. Ein germanistisches Jahrbuch. Stauffenburg 5 (2006), S. 186-206.
67
Vgl. Ganeva, Mila: Female Flâneurs: Judith Hermann’s Sommerhaus, später and Nichts als Gespenster. In: Lützeler, Paul M. / Schindler, Stephan K. (Hg.): Gegenwartsliteratur. Ein germanistisches Jahrbuch. Stauffenburg 3 (2004), S. 250-277.
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Identität niemals gewiss, entscheidungsunfähig, einsam, passivisch, melancholisch, cool – „lau temperierte Beobachter menschlicher Leidenschaften“.68 Zahlreiche weitere Aufsätze zu Judith Hermanns Erzählungen umkreisen die Figuren in ihrer Müdigkeit, Leere, Beziehungslosigkeit, Kommunikationslosigkeit, Sinnlosigkeit, Hoffnungslosigkeit.69 Diese Untersuchung arbeitet, deutlicher als bisherige Beschreibungen, Distanz als Problem heraus, als einen Mangel im individuellen Selbst- und Weltverhältnis, ein Defizit an gelingenden Relationen. Dieses Defizit deutet sich an im Unwohlsein der Protagonisten, in ihren Sehnsüchten, ihrer Suche, in Aufschub und Hoffnung – Situationen, in denen Perspektiven gelingenderer Relationalität aufscheinen, aber nicht konkret werden. Die Persistenz der Suche und der Sehnsucht, die den Blick auf das Defizitäre lenkt, wurde in der bisherigen Forschung gegenüber der Betonung der Mattigkeit, der Resignation und der Hoffnungslosigkeit zu wenig gewichtet,70 auch wenn diese Aspekte von einigen Autoren durchaus einbezogen wurden. Helmut Böttinger nennt Judith Hermanns Nichts als Gespenster „einen Grundtext – aus einer Zeit in der die Desillusionierung selbstverständlich wurde und manche dennoch eine große Sehnsucht verspürten.“71 Auch Uta Stuhr geht von der Suche und Sehnsucht der Protagonisten aus, stellt aber kritisch fest, „dass die Sehnenden und Suchenden sich der Realität verweigern und sich mit einer nebelhaft-unbestimmten Vision ihrer Existenz […] begnügen.“72 Stuhr zieht daraus den Schluss, „dass Sinnlosigkeit, dass abgeklärte Erwartungslosigkeit und absolute Resignation Momente des Glücks
68 69
Blamberger: Poetik der Unentschiedenheit, S. 200; vgl. S. 186, 194, 202. Vgl. Durzak: Die Erzählprosa der neunziger Jahre, S. 972; Opitz / Opitz-Wiemers: Tendenzen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur seit 1989, S. 681; Köhler, Andrea: „Is that all there is?“ Judith Hermann oder Die Geschichte eines Erfolgs. In: Kraft, Thomas (Hg.): Aufgerissen. Zur Literatur der 90er. München / Zürich: Piper 2000, S. 83-89, hier S. 84.
70
Zum Beispiel Kocher: „In Judith Hemanns fiktionaler Welt entwickelt sich nichts und niemand wirklich. Niemand ist auf der Suche nach etwas, das Leben ist, wie es ist“ (Die Leere und die Angst, S. 63).
71
Böttiger, Helmut: Judith Hermann und ihre Gespenster. In: Ders.: Nach den Utopien. Eine Geschichte der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Wien: Zsolnay 2004, S. 286-296, hier S. 295.
72
Stuhr, Uta: Kult der Sinnlosigkeit oder die Paradoxien der modernen Sinnsuche. Judith Hermanns Erzählungen Nichts als Gespenster. In: Caemmerer, Christiane / Delabar, Walter / Meise, Helga (Hg.): Fräuleinwunder literarisch. Literatur von Frauen zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Frankfurt am Main u.a.: Peter Lang 2005, S. 37-51, hier S. 39.
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erst ermöglichen.“73 Die allgemeine Gleichgültigkeit werde nicht nur mit Gleichmut hingenommen, sondern sogar zum „Lebensprinzip“ erhoben: „Aus den Figuren spricht kein Aufbegehren, kein Widerstand, kein Leid an der Leere, sondern nur mehr das erschöpfte Gebaren sinnlos Suchender. […] Widerstandslos wird das Leben der Leere anheim gegeben. […] Eine Bestandsaufnahme nicht gelebten Lebens, die an keiner Stelle vor dem Kult der Indifferenz auch nur leise erschauert. Das ist das eigentlich Gespenstische an diesen Erzählungen.“74
Brigitte Weingarts poetologische Überlegungen kommen zu einem ähnlichen Ergebnis, wenn sie feststellt, dass Hermanns Schreibweise des „‚Zupoetisieren[s]‘“ eine Atmosphäre schaffe, in der die Orientierungslosigkeit der Figuren zur „poetischen Normalität“ verklärt und damit in bitterer Süße erträglich werde.75 Gemeinsam ist diesen Untersuchungen, dass sie die neutrale Erzählhaltung der Texte affirmativ deuten, Figurenperspektive und Erzählperspektive also gleichsetzen, ohne die Hinweisfunktion, die in der Inszenierung wirksam wird, mitzureflektieren. Mit diesen Positionen verbindet sich das Urteil, Hermanns Literatur sei ästhetisch konservativ, politisch und historisch desinteressiert.76 Inge Stephan hingegen arbeitet in Auseinandersetzung mit der Erzählung Rote Korallen die Verschränkung zwischen dem Liebesdiskurs des Wasserfrauen-Mythos und dem politischen Diskurs des Holocaust heraus.77 Nancy Nobile spürt weiteren „historical-political resonances“ in Sommerhaus, später nach.78 Auch Anke S. Biendarra insistiert,
73
Ebd., S. 45.
74
Ebd., S. 50, 51.
75
Hubert Fichte zitiert bei: Weingart: Judith Hermann, S. 170; ebd.
76
Vgl. u. a. Pontzen, Alexandra: Spät erst erfahren sie sich. Judith Hermann findet ‚Nichts als Gespenster‘. In: literaturkritik.de 2 (2003), o. S. URL: https://www.literaturkritik.de/public/rezension.php ?rez_id=5716 [28.10.2012]; Weingart: Judith Hermann, S. 169, 170; Stuhr: Kult der Sinnlosigkeit, S. 50, 51; Ganeva: Female Flâneurs.
77
Vgl. Stephan, Inge: Undine an der Newa und am Suzhou River. Wasserfrauen-Phantasien im interkulturellen und intermedialen Vergleich. In: Zeitschrift für Germanistik 12 (2002), H. 3, S. 547-563.
78
Nobile, Nancy: A Ring of Keys: Thresholds to the Past in Judith Hermann’s Sommerhaus, später. In: Lützeler, Paul M. / Schindler, Stephan K. (Hg.): Gegenwartsliteratur. Ein germanistisches Jahrbuch. Stauffenburg 9 (2010), S. 288-315, hier S. 289; vgl. Blamberger: Poetik der Unentschiedenheit, S. 201; Borgstedt, Thomas: Wunschwelten: Judith Hermann und die Neuromantik der Gegenwart. In: Lützeler, Paul M. / Schindler, Stephan K. (Hg.): Gegenwartsliteratur. Ein germanistisches Jahrbuch.
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dass „the personal is […] political, particularly because the focus on the private realm is inextricably linked to the experience of living in a globalized world.“79 Christian Rink sieht Judith Hermanns Nichts als Gespenster „als Beitrag zum fächerübergreifenden Postmodernediskurs“ und liest sie mit Peter Zima als Reflexion der „dialektischen Einheit von Indifferenz und Ideologie“.80 Perspektiven, die über die resignative Akzeptanz des Status quo hinausweisen, erkennt Florence Feiereisen, die Judith Hermanns Sommerhaus, später unter dem Fokus inexistenter Näheräume untersucht und vermutet, „dass die Suche nach Liebe und klar strukturierten Näheverhältnissen, was für 68er konservativ anmutet, für die neue vermeintliche ‚Fräuleinwunder‘-Generation eine Sehnsucht darzustellen scheint, die noch nicht aufgegeben wurde.“81 Utopisches Potential sieht Antonie Magen in Judith Hermanns Texten, „eine Impression, die ein Gefühl der Unverletzbarkeit, Liebe und Geborgenheit vermitteln soll.“82 Thomas Borgstedt, der Hermanns Erzählungen als eine postmoderne Neuromantik liest, erkennt „die Suche nach Liebe als imaginäre Kompensation von Individualismus und zwischenmenschlicher Beziehungslosigkeit“ und formuliert, hier solle „der Zersetzung der sozialen Beziehungswelten mythisierend Einhalt“ geboten werden in einer „nachmodern ernüchterten Poetisierung der entzauberten Welt“.83 Die vorliegende Studie versteht Sehnsucht und Suche in Hermanns Erzählungen weder als Ausdruck einer Mythisierung noch einer Utopie. Sie stellt der Poetisierung eine Lesart der Problematisierung gegenüber und deutet Hermanns Darstellung der Distanz ihrer Protagonisten als Inszenierung eines Mangels, die auf problematische Selbst- und Weltverhältnisse in literarisch konstruierten gegenwärtigen Lebenswelten hinweist. Diese
Stauffenburg 5 (2006), S. 207-232; Graves: Karen Duve, Kathrin Schmidt, Judith Hermann, S. 204. 79
Biendarra, Anke S.: Globalization, Travel, and Identity: Judith Hermann and Gregor Hens. In: Lützeler, Paul M. / Schindler, Stephan K. (Hg.): Gegenwartsliteratur. Ein germanistisches Jahrbuch. Stauffenburg 5 (2006), S. 233-251, hier S. 235.
80
Rink: Nichts als Gespenster, S. 112, 123.
81
Feiereisen, Florence: Liebe als Utopie? Von der Unmöglichkeit menschlicher Näheräume in den Kurzgeschichten von Tanja Dückers, Julia Franck und Judith Hermann. In: Nagelschmidt, Ilse / Müller-Dannhausen, Lea / Feldbacher, Sandy (Hg.): Zwischen Inszenierung und Botschaft. Zur Literatur deutschsprachiger Autorinnen ab Ende des 20. Jahrhunderts. Berlin: Frank & Timme 2006, S. 179-196, hier S. 195.
82
Magen, Antonie: Nichts als Gespenster. Zur Beschaffenheit von Judith Hermanns Erzählungen. In: Bartl, Andrea (Hg.): Verbalträume. Beiträge zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Augsburg: Wißner 2005, S. 29-48, hier S. 47.
83
Borgstedt: Wunschwelten, S. 219, 223, 225.
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Problematisierung kann erst erkennbar werden, wenn die Nüchternheit der Distanz-Darstellung nicht als affirmative Übereinstimmung mit den dargestellten Figurenperspektiven gedeutet, sondern in ihrer Differenz berücksichtigt wird. So lassen sich Hermanns Erzählungen als, wenn auch diffuse, ethische Problematisierung verstehen, die sich auch aus der Persistenz der Suche und der Sehnsucht nach einer anderen, gelingenderen Relationalität ableiten lässt und durch Einbrüche von Gewalt unterstrichen wird. Christian Krachts Debütroman Faserland polarisierte, er wurde einerseits mit großer Aufmerksamkeit bedacht84 – Martin Brinkmann spricht von einem „durchschlagende[n] Erfolg […] nicht nur beim ‚normalen‘ Publikum, sondern auch im akademischen Diskurs“85 –, andererseits wurde er als oberflächlich und unkritisch, als „bloße Affirmation“, voller „Style- und Coolness-Regeln“, als konservativ und reaktionär kritisiert.86 Auffällig ist, dass vor allem die feuilletonistische Kritik Kracht und seinen Ich-Erzähler häufig gleichgesetzt und damit die Distanz, die der Autor zu seinem Protagonisten aufbaut, übersehen hat.87 Eine Untersuchungsperspektive ist die Frage nach der Generation, von der Kracht berichtet: Dirk
84
Faserland ist einer der Texte, der in der Forschung zur Gegenwartsliteratur am meisten diskutiert wird. Dirk Frank spricht dem Roman „Kultstatus“ zu („Talking about my generation“, S. 82).
85
Brinkmann: Unbehagliche Welten, S. 17.
86
Büsser, Martin: ‚Ich steh auf Zerfall‘. Die Punk und New-Wave-Rezeption in der deutschen Literatur. In: Arnold, Heinz Ludwig / Schäfer, Jörgen (Hg.): Pop-Literatur. Text + Kritik Sonderband. München: Edition Text + Kritik 10 (2003), S. 149-157, hier S. 153; vgl. Ernst, Thomas: German pop literature and cultural globalisation. In: Taberner, Stuart (Hg.): German literature in the age of globalisation. Birmingham: University of Birmingham Press 2004, S. 169-188, hier S. 178; Ernst: Popliteratur; Ullmaier: Von Acid nach Adlon und zurück, S. 36; Schumacher, Eckhard: ‚Tristesse Royale‘. Sinnsuche als Kitsch. In: Braungart, Wolfgang (Hg.): Kitsch. Faszination und Herausforderung des Banalen und Trivialen. Tübingen: Niemeyer 2002, S. 197211, hier S. 206.
87
Aber auch in der Forschung schreibt zum Beispiel Ullmaier: „Erzähler-Ich[] (=Kracht)“ (Von Acid nach Adlon und zurück, S. 34). Auf dieses Problem verweisen auch: Schumann, Andreas: „das ist schon ziemlich charmant“. Christian Krachts Werke im literarhistorischen Geflecht der Gegenwart. In: Birgfeld, Johannes / Conter, Claude D. (Hg.): Christian Kracht. Zu Leben und Werk. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2009, S. 150-164, hier S. 152; Biendarra, Anke S.: Der Erzähler als ‚Popmoderner Flaneur‘ in Christian Krachts Roman Faserland. In: German Life and Letters 55
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Frank nennt Faserland ein „Generationenporträt“.88 Herausgearbeitet wurde u. a. die Abgrenzung der Wohlstandskinder von der 1968er-Generation.89 Sebastian Domsch und Oliver Jahrhaus stellen Faserland in den Zusammenhang des Ästhetizismus.90 Auch Bezüge zur „Dandy- und Dekadenzliteratur des Fin de siècle“ wurden hergestellt, der Ich-Erzähler als Flaneur gefasst – Ansätze, die auf seine distanzierte Haltung zielen und diese literaturgeschichtlich einordnen.91 Zahlreiche Studien untersuchen den Roman im Kontext der Popliteratur.92 So spürt zum
(2002), H. 2, S. 164-179, hier S. 167; Seiler, Sascha: ‚Das einfache wahre Abschreiben der Welt‘. Pop-Diskurse in der deutschen Literatur nach 1960. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006, S. 179; Lettow, Fabian: Der postmoderne Dandy – die Figur Christian Kracht zwischen ästhetischer Selbststilisierung und aufklärerischem Sendungsbewusstsein. In: Köhnen, Ralph (Hg.): Selbstpoetik 1800-2000: IchIdentität als literarisches Zeichenrecycling. Frankfurt am Main u.a.: Peter Lang 2001, S. 285-305, hier S. 285. 88
Frank: „Talking about my generation“, S. 82; vgl. Vondung: Facetten der Popmoderne, S. 24f.; Döring, Jörg: ‚Redesprache, trotzdem Schrift‘. Sekundäre Oralität bei Peter Kurzeck und Christian Kracht. In: Ders. (Hg.): Verkehrsformen und Schreibverhältnisse: medialer Wandel als Gegenstand und Bedingung von Literatur im 20. Jahrhundert. Opladen: Westdeutscher Verlag 1996, S. 226-233, hier S. 230, 232.
89
Vgl. Andre: Kriegskinder und Wohlstandskinder.
90
Vgl. Domsch, Sebastian: Antihumaner Ästhetizismus. Christian Kracht zwischen Ästhetik und Moral. In: Birgfeld, Johannes / Conter, Claude D. (Hg.): Christian Kracht. Leben und Werk. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2009, S. 165-178; Jahrhaus, Oliver: Ästhetischer Fundamentalismus. Christian Krachts radikale Erzählexperimente. In: Birgfeld, Johannes / Conter, Claude D. (Hg.): Christian Kracht. Leben und Werk. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2009, S. 13-23.
91
Tacke, Alexandra / Weyand, Björn: Einleitung: Dandyismus, Dekadenz und die Poetik der Pop-Moderne. In: Dies. (Hg.): Depressive Dandys. Spielformen der Dekadenz in der Pop-Moderne. Köln u.a.: Böhlau 2009, S. 7-16, die auch darauf hinweisen, dass „die politische Dimension der Popliteratur, die ihr beinahe einmütig von den Kritikern abgesprochen wurde, neu zu überdenken“ sei (hier S. 10); vgl. Vondung: Facetten der Popmoderne, S. 34ff.; Lettow: Der postmoderne Dandy; Biendarra: Der Erzähler als ‚popmoderner Flaneur‘.
92
Vgl. Frank: Die Nachfahren der ‚Gegengegenkultur‘; Seiler: ‚Das einfache wahre Abschreiben der Welt‘; Winkels: Grenzgänger; Grabienski, Olaf / Huber, Till / Thon, Jan Noël (Hg.): Poetik der Oberfläche. Die deutschsprachige Popliteratur der 1990er Jahre. Berlin u.a.: de Gruyter 2011; Frank: Popliteratur.
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Beispiel Christoph Rauen Kontinuitäten und Brüchen im Verhältnis zur Popliteratur der 1980er Jahre nach, wobei er seinen Fokus auf den Aspekt der Ironie legt.93 Oft gilt der Text als Schlüssel- oder Initialtext der Neuen deutschsprachigen Popliteratur.94 Im Kontext der darauf bezogenen Diskussion sind problematische Selbst- und Weltverhältnisse in Faserland zunächst wenig beachtet worden. Degler / Paulokat weisen in einem Überblick über die Popliteratur auf das „weit verbreitete[] Vorurteil“ hin, „dass Popliteratur lediglich Symptom und Phänomen der sogenannten Spaßgesellschaft sei.“ Sie sprechen von der „hartnäckige[n] Blindheit der Literaturkritik“ für deren ernste Stoffe und Motive.95 Auf das aussichtslose Unglück des Ich-Erzählers in Faserland verweist Martin Brinkmann und nennt den Roman „ein Manifest des Scheiterns der Label-Kommunikation“, Klaus Vondung stellt fest, „[u]nter der Oberfläche snobistischen Gehabes und cooler Sprüche lauert […] beträchtliches Unbehagen.“96 In den vergangenen Jahren hat sich der Fokus der Forschung in Richtung einer Individualitäts-, Identitäts- und Subjektproblematik verschoben. In diesem Zusammenhang ist die distanzierte Haltung von Krachts Protagonisten thematisiert worden, Ergebnisse, an die in der vorliegenden Studie gewinnbringend angeknüpft werden kann. Das gilt besonders für Aufsätze, die neben der Subjektproblematik den Zusammenhang mit postmodernen, globalisierten Lebenswelten der Gegenwart fokussieren. Frank Finlay zeigt in seinem Aufsatz, dass Krachts Faserland mehr ist als „a celebration of style and surface“, „far from a mere affirmation of the lifestyle associated with his generation“, nämlich eine Kritik dieser banalen Lebenswelt, deren Opfer der Protagonist ist.97 Stefan Hermes sieht in Faserland „das totale Scheitern des Individuums in und an der Gesellschaft“.98 Er situiert den Protagonisten zwischen Fremd-
93 94
Vgl. Rauen: Pop und Ironie. Vgl. Baßler: Der deutsche Pop-Roman, S. 111; Rauen: Pop und Ironie, S. 128; Ernst: German pop literature and cultural globalisation, S. 178.
95
Degler / Paulokat: Neue deutsche Popliteratur, S. 13.
96
Brinkmann: Unbehagliche Welten, S. 23; Vondung: Facetten der Popmoderne, S. 25.
97
Finlay, Frank: ‚Dann wäre Deutschland wie das Wort Neckarauen‘: surface, superficiality and globalisation in Christian Kracht’s ‚Faserland‘. In: Taberner, Stuart (Hg.): German literature in the age of globalisation. Birmingham: University of Birmingham Press 2004, S. 189-208, hier S. 194, 205.
98
Hermes, Stefan: Tristesse globale. Intra- und interkulturelle Fremdheit in den Romanen Christian Krachts. In: Grabienski, Olaf / Huber, Till / Thon, Jan Noël (Hg.): Poetik der Oberfläche. Die deutschsprachige Popliteratur der 1990er Jahre. Berlin u.a.: de Gruyter 2011, S. 187-205, hier S. 202.
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heit und Regression als Sehnsucht nach „Selbstauflösung […] im formlosen Element“, als „Sehnsucht […] nach dem Verlust des eigenen Gewordenseins“, mit Freud, der „Rückkehr in den uranfänglichen, anorganischen Zustand“, welcher seinem Leiden in und an der Welt ein Ende bereiten soll.“99 Hermes deutet den Roman als nihilistisch, Sven Glawion und Immanuel Nover sprechen von Leere.100 Anke S. Biendarra, die Krachts Protagonisten in die Tradition des Flaneurs stellt, interpretiert „das narrative Projekt [des Ich-Erzählers, d. V.] als Versuch einer misslingenden Subjekt-Vergewisserung“ und identifiziert „als Ursprung der Qual des Erzählers sein oberflächliches und sinnentleertes Dasein […], welches ihn in Passivität erstarren lässt.“101 Sie weist auf das gegenwartskritische Potential des Romans hin, das häufig übersehen wurde: „Kracht porträtiert mit seinem popmodernen Flaneur einen Typus, den die Berliner Republik nach der Wende hervorgebracht hat; die abgeklärte Rhetorik seiner indifferent erscheinenden Prosa ist ihm Zeitzeichen für ein Prinzip in der deutschen Gesellschaft.“102 Bei anderen Interpreten klingen moralische Fragen und Wertungen an, Thomas Borgstedt nennt in diesem Zusammenhang die „egozentrische und am Ende mörderische Unfähigkeit zur Nähe, zur Sexualität und zur Freundschaft.“103 Konturen eines Subjektivitätsentwurfs erkennt Fabian Lettow, der Faserland im Kontext von Krachts Selbstpoetik eines „postmodernen Dandy[s]“ liest und in dem Roman das „Scheitern einer modernen, d. h. vor allem einheitlichen Identitätsstiftung“ „an den äußeren Umständen eines […] postmodernen Raumes“ feststellt.104 Lettow deutet an, dass die Konstituierung einer postmodernen Identität „in Faserland bereits durchschimmert – wenn auch zumeist nur ex negativo“.105 Diese versteht
99
Ebd., S. 193, 194.
100 Vgl. ebd., S. 202; Glawion, Sven / Nover, Immanuel: Das leere Zentrum. Christian Krachts ‚Literatur des Verschwindens‘. In: Tacke, Alexandra / Weyand, Björn (Hg.): Depressive Dandys. Spielformen der Dekadenz in der Pop-Moderne. Köln u.a.: Böhlau 2009, S. 101-120, hier S. 105. 101 Biendarra: Der Erzähler als ‚popmoderner Flaneur‘, S. 173. 102 Ebd., S. 179. 103 Borgstedt, Thomas: Pop-Männer. Provokation und Pose bei Christian Kracht und Michel Houellebecq. In: Benthien, Claudia / Stephan, Inge (Hg.): Männlichkeit als Maskerade. Kulturelle Inszenierungen vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Köln u.a.: Böhlau 2003, S. 221-245, hier S. 241; vgl. Lettow: Der postmoderne Dandy, S. 291. 104 Lettow: Der postmoderne Dandy, S. 286. 105 Ebd.; so auch Langston, Richard: Escape from Germany: Disappearing Bodies and Postmodern Space in Christian Kracht’s Prose. In: The German Quarterly 79 (2006), H. 1, S. 50-70.
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er als permanente ästhetische Aufgabe des Bastelns an der eigenen Existenz.106 Was Lettow „reizvolles Spiel“ mit „frei zu selektierenden Codes und Regeln der Selbsttechnik“ nennt,107 trifft den Roman aber nicht. Die komplex inszenierte Position der Distanz des Protagonisten gegenüber sich, Anderen und der Lebenswelt ist bisher nicht in ihrer Schlüsselfunktion für die Frage nach Problematik und Perspektiven von Subjektivität untersucht worden. Die differenzierte Erarbeitung und Analyse dieser Bezugs- und Beziehungslosigkeit, die zwischen Abwehr, Fremdheit und Verstrickung oszilliert, wird die vorliegende Studie in Auseinandersetzung mit der vorhandenen Forschungsliteratur leisten. Erst so rückt die grundlegende Relationalität entworfener Subjektivität in den Fokus. In dem eröffneten Spannungsfeld zwischen Distanz und Einbindung, Autonomie und Heteronomie wird eine ethische Problematisierung von Selbst- und Weltverhältnissen erkennbar und deuten sich Perspektiven einer gelingenderen relationalen Subjektivität an, die – ex negativo – im Scheitern des Protagonisten sowie in seinem Leiden, in seiner Suche und Sehnsucht aufleuchten. Die Romane Katharina Hackers und Ulrich Peltzers erhielten große Aufmerksamkeit, die Forschung befindet sich aber noch in den Anfängen. Katharina Hackers Roman Die Habenichtse wurde im Kontext der Globalisierung untersucht. Wilhelm Amann liest ihn in ‚Global Flows – Local Culture‘? in einem Dialog mit u. a. Martin Albrows sozialwissenschaftlicher Globalisierungstheorie, auf deren blinde Flecken im Bereich sozialer Ungleichheiten er verweise.108 Auf diesen Globalisierungskontext bezogen stellt er fest, dass Hackers Roman „das Genre des engagierten Gesellschaftsromans wieder belebe[]“.109 Franz Fromholzer deutet Die Habenichtse als Generationenroman im Kontext der Frage nach intergenerationeller Gerechtigkeit und anamnetischer Solidarität.110 Ingrid Laurien liest den
106 Vgl. Lettow: Der postmoderne Dandy, S. 294. 107 Ebd., S. 296, 288. 108 Vgl. Amann, Wilhelm: ‚Global Flows – Local Culture‘? Katharina Hacker: Die Habenichtse. In: Ders. / Mein, Georg / Parr, Rolf (Hg.): Globalisierung und Gegenwartsliteratur. Konstellationen – Konzepte – Perspektiven. Heidelberg: Synchron 2010, S. 209-222, hier S. 219. 109 Ebd., S. 212. 110 Vgl. Fromholzer, Franz: Gerechtigkeit als Gefahr. Recht setzende Gewalt und anamnetische Solidarität in Katharina Hackers Die Habenichtse. In: Böhm, Alexandra / Kley, Antje / Schönleben, Mark (Hg.): Ethik – Anerkennung – Gerechtigkeit. Philosophische, literarische und gesellschaftliche Perspektiven. Paderborn u.a.: Wilhelm Fink 2011, S. 231-251.
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Roman als „ein sehr moralisches Buch“ über „die Schuld an sich selbst und gegenüber anderen durch ein leeres, unbeteiligtes Leben.“111 Nicht moralisch, sondern ethisch habe ich 2011 Hackers Roman als Problematisierung distanzierter Zuschauerpositionen und Entwurf einer Perspektive relationaler Subjektivität der Affizierbarkeit und Verantwortung gedeutet – eine These, an die ich in dieser Studie mit dem Ziel weiterer Differenzierung und Präzisierung anknüpfe.112 Joanne Leal, deren Aufsatz ebenfalls 2011 erschien, liest den Roman mit Judith Butlers Theorie ethischer Subjektivität, die sich in Relationen konstituiert.113 Dies führt zu interessanten Beobachtungen, wird dem komplexen ethischen Entwurf, der in der Intertextualität des Romans, im Scheitern der Protagonisten, in Gegenentwürfen im negativen Modus und in Miniaturen gelingenderen Lebens grundsätzlich angelegt ist, aber nicht gerecht.114 Zwar stellt Butlers Theorie auch für die vorliegende Studie einen Bezugspunkt dar, Hackers ethischen Subjektivitätsentwurf entwickelt sie allerdings aus dem Roman heraus, einen Entwurf, der über eine Ethik des Mitleidens hinausgeht, wie sie in der Forschung im Anschluss an den Ausspruch der zentralen Figur Bentham, man müsse Erbarmen haben, bisweilen formuliert wird.115 Ulrich Peltzers Roman Teil der Lösung wurde als Berlin-Roman gelesen, als politischer Roman über drei Generationen der Linken seit 1968, als Zeitroman über Kapitalismus und Kontrolle und als Liebesroman.116 Die distanzierte Position des Protagonisten und die damit verbundene grundsätzliche Frage nach subjektiven Selbst- und Weltverhältnissen sind noch nicht in den Fokus der Forschung gerückt. Julian Preece deutet Peltzers Roman als Auseinandersetzung mit einer antikapitalistischen Globalisierungsgegnerschaft, in der die RAF auflebe, die im
111 Laurien: Eintrag: „Hacker, Katharina“, o. S. 112 Vgl. Sander, Julia C.: Konturen des Pathischen in Katharina Hackers Roman Die Habenichtse. In: von Hoff, Dagmar / Seruya, Teresa (Hg.): Zwischen Medien / Zwischen Kulturen. Poetiken des Übergangs in philologischer, filmischer und kulturwissenschaftlicher Perspektive. München: Martin Meidenbauer 2011, S. 47-60. 113 Vgl. Leal: The Interpersonal is Political. 114 Durch ihre Anwendung von Butlers Theorie auf den Roman wirken ihre Folgerungen punktuell moralisierend und erscheint ihre Deutung am Ende erzwungen, wenn sie Isabelle und v. a. Jakob die Möglichkeit, sich zu verändern, geradezu aufoktroyiert. 115 Vgl. Amann: ‚Global Flows – Local Culture‘?, S. 220. 116 Vgl. Auer: Eintrag: „Peltzer, Ulrich“, o. S.; Kämmerlings: Das kurze Glück der Gegenwart, S. 62.
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Erzählen der 2000er Jahre an Bedeutung gewinne.117 Alexandra Pontzen, die den Roman im Hinblick auf eine „Poetik der Globalisierung“ untersucht, bezeichnet ihn als „Anti-Globalisierungskitsch“, der hinter der Realität hinterherbuchstabiere.118 Damit übersieht sie die für den Roman konstitutive Bedeutung von Anknüpfungsmöglichkeiten auf der Suche nach Perspektiven ethischer Subjektivität. Aus pädagogischer Perspektive rückt Micha Brumlik in seiner Analyse des Romans ausgehend von „[p]rekäre[n] Großstadtnomaden und ihr[em] Identitätsproblem“ die Adoleszenz-Thematik ins Zentrum.119 Als Maßstab für das Ende der Adoleszenz betrachtet er die „Fähigkeit, Vertrauen zu entwickeln, es entgegenzubringen, aber eben und vor allem auch, es verbürgen zu können, seiner würdig zu sein.“120 Er beschränkt seine Analyse auf den Aspekt „gehaltvolle[r] Partnerschaften“.121 Dies wird der politischen Dimension des Romans ebenso wenig gerecht wie die Einschätzung, „Erwachsen zu werden, heiß[e], das Nomadenleben aufzugeben.“122 Distanz ist in der literaturgeschichtlichen Forschung bereits untersucht worden.123 Dabei geht es zunächst um Distanz als produktionsästhetisches und auch
117 Vgl. Preece, Julian: RAF revivalism in German fiction of the 2000s. In: Journal of European Studies 40 (2010), S. 272-283. 118 Pontzen, Alexandra: Von Bryant Park zum Potsdamer Platz: Ulrich Peltzer erzählt Globalisierung. In: Amann, Wilhelm / Mein, Georg / Parr, Rolf (Hg.): Globalisierung und Gegenwartsliteratur. Konstellationen – Konzepte – Perspektiven. Heidelberg: Synchron 2010, S. 223-238, hier S. 226, 236. 119 Brumlik, Micha: ‚Wenns soweit ist‘. Adoleszenz, Vertrauen und Verantwortung im Werk Ulrich Peltzers. In: Koller, Hans Christoph / Rieger-Ladich, Markus (Hg.): Figurationen von Adoleszenz. Pädagogische Lektüren zeitgenössischer Romane II. Bielefeld: transcript 2009, S. 197-208, hier S. 200. 120 Ebd., S. 206. 121 Ebd., S. 207. 122 Ebd., S. 208. 123 Vgl. Wilkinson, Elizabeth M.: Über den Begriff der künstlerischen Distanz. Von Schiller und Wordsworth bis zur Gegenwart. In: Deutsche Beiträge zur geistigen Überlieferung. Hg. v. Matthijs Jolles. 3 (1957), S. 69-88; Anderson, Amanda: The Powers of Distance. Cosmopolitanism and the Cultivation of Detachment. Princeton: Princeton University Press 2001; Schierbaum, Martin: Der Ekel als Privileg? Literatur und Distanz bei Nicolas Born und in der politischen Literatur bis in die achtziger Jahre. In: Kramer, Sven / Schierbaum, Martin (Hg.): Nicolas Born und die politische Literatur 1967-1982. Berlin: Erich Schmidt 2010, S. 37-74; Phillipp, Michael: Distanz und Anpassung. Sozialgeschichtliche Aspekte der Inneren Emigration. In:
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rezeptionsästhetisches Phänomen. Es zeigt sich allerdings, dass Distanz mit der Moderne zunehmend auch Gegenstand der Narration wird. So untersucht zum Beispiel Jörg Schuster in seiner Studie zur deutschen Elegie von 1750 bis 1800 Distanz zwar als „produktionsästhetische[s]“, „poetologische[s] Problem“.124 Er deutet aber in der Analyse der Duineser Elegien Rainer Maria Rilkes an, dass mit der Moderne Distanz nicht mehr nur ein produktionsästhetisches Problem des Dichters sei, sondern zu einer Beschreibung der „existentielle[n] Situation des Menschen überhaupt“ werde.125 In dieser Studie geht es um Distanz als Gegenstand der Narration, die allerdings untrennbar mit produktionsästhetischen Entscheidungen und rezeptionsästhetischen Konsequenzen verbunden ist. Diese Differenzierung zwischen Distanz als Form der Darstellung, als Erzählhaltung, und Distanz als Inhalt, als Gegenstand der Narration, wird in den vorliegenden Interpretationen zu den ausgewählten Texten der Gegenwart nicht zureichend reflektiert. Damit gerät die Spannung aus dem Blick – wird nivelliert oder vorschnell harmonisiert – die sich aus der merkwürdig distanzierten Darstellung merkwürdig distanzierter Figuren ergibt und den rezipierenden Leser herausfordert. Phänomene der Distanz auf inhaltlicher Ebene waren auch in der literaturgeschichtlichen Forschung immer wieder Gegenstand der Untersuchung. Dabei wurden zu ihrer Beschreibung und Analyse unterschiedliche Begriffe verwendet, so zum Beispiel Entfremdung, Fremdheit, Gleichgültigkeit oder Indifferenz und Kälte, beziehungsweise Coolness. Zentral im Zusammenhang mit der Beschreibung distanzierter Selbst- und Weltverhältnisse war bis in die 1980er Jahre der Begriff der
Krohn, Claus-Dieter et al. (Hg.): Aspekte der künstlerischen Inneren Emigration 1933 bis 1945. Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch. Band 12. München: Edition Text + Kritik 1994, S. 11-30; Jackson, Timothy R.: Reflexivität, Distanzierung, Projektion: Emotionalität in Eichendorffs ‚Sehnsucht‘. In: Fuchs, Anne / StrümperKrobb, Sabine (Hg.): Sentimente, Gefühle, Empfindungen. Zur Geschichte und Literatur des Affektiven von 1770 bis heute. Würzburg: Königshausen & Neumann 2003, S. 67-74, hier S. 68-71; Oh, Yongrok: Distanz und Identifikation. Eine Studie über Robert Walsers Roman ‚Der Gehülfe‘, Rainer Maria Rilkes ‚Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge‘ und Franz Kafkas ‚Das Schloss‘. Frankfurt am Main u.a.: Peter Lang 1987; Kloepfer, Albrecht: Poetik der Distanz. Ostasien und ostasiatischer Gestus im lyrischen Werk Bertolt Brechts. München: Iudicium 1997; Slatoff, Walter J.: The Look of Distance. Reflections on Suffering & Sympathy in Modern Literature – Auden to Agee, Whitman to Woolf. Columbus: Ohio State University Press 1985. 124 Schuster, Jörg: Poetologie der Distanz. Die ‚klassische‘ deutsche Elegie 1750-1800. Freiburg: Rombach 2002, S. 14, 16. 125 Ebd., S. 409.
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Entfremdung, der im Anschluss an Karl Marx’ Ökonomisch-philosophische Manuskripte (entst. 1844) als Entfremdung des Arbeiters vom Produkt seiner Arbeit, von der Arbeitstätigkeit, als Selbstentfremdung und Entfremdung von anderen Menschen verstanden wurde.126 Mit der postmodernen Kritik am essentialistischen Subjektivitäts- und Wirklichkeitsverständnis ist die Kategorie der Entfremdung in ihren essentialistischen Voraussetzungen ebenfalls in die Kritik geraten. Zwar taucht der Begriff in literaturwissenschaftlichen Arbeiten und in Literaturgeschichten noch immer auf, wird aber kaum fundiert oder reflektiert, was gerade in Zusammenhang mit aktueller Literatur sowie postmodern geprägten Subjektivitätsentwürfen hochproblematisch ist. Dennoch ist die Struktur des Entfremdungsbegriffs für diese Studie ein relevanter Bezugspunkt, weil er ein relationaler Begriff ist, der zudem gleichzeitig Distanz und Einbindung thematisiert als eine Situation der Entfernung von einem wesenhaft gedachten Kern des Menschen, in der der Einzelne zugleich „im Dienst, unter der Herrschaft, dem Zwang und dem Joch eines andern Menschen“ steht.127 Allerdings erscheint die Distanz zu sich und der Lebenswelt in den Texten der Gegenwart als eine Fremdheit, die eine Rückkehr zu einem zuvor gegebenen Zustand der Einheit, Identität, Autonomie und Harmonie ausschließt. Mit dem Begriff der Fremdheit wird vor allem in der Forschung zu Exilliteratur und interkultureller Literatur gearbeitet. Er taucht aber auch allgemeiner auf im Zusammenhang mit der „zu hinterfragende[n] Positionierung des modernen Subjekts“ in zeitgenössischen Lebenswelten.128 Als solcher ist er auch im Rahmen dieser Studie ein wichtiger Begriff, allerdings als eine Facette des übergeordneten Distanzbegriffs, da er, anders als dieser, Aspekte der aktiven
126 Vgl. Anz, Thomas: Literatur der Existenz. Literarische Psychopathographie und ihre soziale Bedeutung im Frühexpressionismus. Stuttgart: Metzler 1977, S. 63. Uwe Jahnke formuliert in seiner Untersuchung zu Kafka aus dem Jahr 1988, der Begriff der Entfremdung werde „gegenwärtig fast schon inflationär verwendet“ (Die Erfahrung von Entfremdung. Sozialgeschichtliche Studien zum Werk Franz Kafkas. Stuttgart: Heinz 1888, S. 23). 127 Marx, Karl: Ökonomisch-philosophische Manuskripte. Hg. v. Barbara Zehnpfennig. Hamburg: Felix Meiner 2008, S. 65. 128 Schlicht, Corinna: Vorwort. In: Dies. (Hg.): Momente des Fremdseins. Kulturwissenschaftliche Beiträge zu Entfremdung, Identitätsverlust und Auflösungserscheinungen in Literatur, Film und Gesellschaft. Oberhausen: Karl Maria Laufen 2006, S. 5-8, hier S. 5; vgl. Jentsch, Tobias: Da/zwischen. Eine Typologie radikaler Fremdheit. Heidelberg: Winter 2006; siehe auch Waldenfels, Bernhard: Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006.
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Herstellung von Distanz, eine bewusste Distanznahme oder eine Reaktion der Abwehr, nicht erfassen kann. Präsent in Untersuchungen zu Phänomenen der Distanz, vor allem in Werken der französischen, englischen, russischen und italienischen Literaturgeschichte, ist der Begriff der Indifferenz beziehungsweise der Gleichgültigkeit, so bei Peter V. Zima,129 Christoph Rudek,130 Manfred Geier131 und Dieter Wellershoff132. Allerdings markieren diese Begriffe einen Endzustand, der allein das Vielfältige und Graduelle des Phänomens in der Gegenwartsliteratur nicht zu erfassen vermag. Dennoch können Ergebnisse der Autoren, insofern sie Facetten der Distanz betreffen, gewinnbringend in die Konzeptualisierung des theoretischen Rahmens dieser Studie einbezogen werden. Dies gilt auch für den Begriff der Kälte, unter dem Helmut Lethen in seiner Studie Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen die Literatur der 1920er Jahre in ihrem „Kälte-Kult[]“ verhandelt, der dazu diene, „das Bewusstsein für die Unterschiede zu schärfen, Verhalten zu regulieren, Status zu sichern“.133 Auch Dorothee Kimmich greift in ihrem Aufsatz Indifferenz oder: Prothesen des Gefühls den Begriff der Kälte auf und verbindet ihn mit der Distanz männlicher Figuren in Moderne und Postmoderne zwischen Versehrtheit und Heroismus.134 In der Forschung gibt es seit den 2000er Jahren vermehrt Arbeiten zum Begriff der Coolness als Erscheinungsform der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.135 Im Kontext der vorliegenden Studie werden die Begriffe der Kälte und der Coolness im Anschluss
129 Vgl. Zima, Peter V.: Der gleichgültige Held. Textsoziologische Untersuchungen zu Sartre, Moravia und Camus. Stuttgart: Metzler 1983. 130 Vgl. Rudek, Christof: Die Gleichgültigen. Analysen zur Figurenkonzeption in Texten von Dostojewskij, Moravia, Camus und Queneau. Berlin: Erich Schmidt 2010. 131 Vgl. Geier, Manfred: Das Glück der Gleichgültigen. Von der stoischen Seelenruhe zur postmodernen Indifferenz. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1997. 132 Vgl. Wellershoff, Dieter: Der Gleichgültige. Versuche über Hemingway, Camus, Benn und Becket. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1963. 133 Lethen, Helmut: Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994, S. 12. 134 Vgl. Kimmich, Dorothee: Indifferenz oder: Prothesen des Gefühls. Bemerkungen zur Variation einer männlichen Emotion. In: arcadia 44 (2009), H. 1, S. 161-174. 135 Vgl. Geiger, Annette / Schröder, Gerald / Söll, Änne (Hg.): Coolness: Zur Ästhetik einer kulturellen Strategie und Attitüde. Bielefeld: transcript 2010; Stearns, Peter N.: American Cool: Constructing a Twentieth-Century Emotional Style. New York: New York University Press 1994; Holert, Tom: Cool. In: Bröckling, Ulrich / Krasmann, Susanne / Lemke, Thomas (Hg.): Glossar der Gegenwart. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004, S. 42-48; Poschardt, Ulf: Cool. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2002.
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an die Forschung als historisch-spezifische Ausformungen von Distanz verstanden und dem weiteren Begriff der Distanz als Facetten untergeordnet. Dafür spricht, dass der Begriff der Distanz in den genannten Untersuchungen immer wieder auftaucht, was das Vorhaben stützt, ihn als umfassendere Kategorie zu entwerfen. Produktiv ist zudem, dass mit dem Distanzbegriff nicht ein Zustand, sondern eine Relation Ausgangspunkt dieser Studie ist, geeignet, Graduelles, Bewegung und Verknüpfung in den untersuchten Selbst- und Weltverhältnissen zu erfassen und in den Blick zu rücken. So kann die Kategorie der Distanz, die bisher als Zugang zu literarischen Texten kaum genutzt wurde, Schlüssel zu Subjektivitätsentwürfen werden. Damit liefert die vorliegende Studie, indem unterschiedliche Aspekte und Figurationen von Distanz zusammengedacht werden, zugleich den ersten Ansatz einer systematischen Untersuchung literarischer Distanzphänomene. Methodisch entwickelt die Studie ausgehend von dem Phänomen der „Zuschauer der Lebens“ in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur die analytische Kategorie der Distanz in Auseinandersetzung mit literaturgeschichtlichen Figurationen sowie philologischen, philosophischen und soziologischen Forschungsansätzen. Daraus ergibt sich ein relationales Spannungsgefüge zwischen Distanz und Einbindung, Autonomie und Heteronomie, innerhalb dessen unterschiedliche Facetten der Distanz und vielfältige Verknüpfungen erkennbar werden. Auf der Grundlage dieses Spannungsgefüges der Relationalität erfolgt die detaillierte Analyse der spezifischen Distanzphänomene in den ausgewählten Texten Judith Hermanns, Christian Krachts, Katharina Hackers und Ulrich Peltzers. Die Zuschauerpositionen der Figuren in Sommerhaus, später, Nichts als Gespenster, Faserland, Die Habenichtse und Teil der Lösung lassen sich als komplexes Zugleich von Distanz und Einbindung erfassen. Deutlich wird eine Problematisierung von Distanz als Ineinander von Bezugs- und Beziehungslosigkeit und Verstrickung, als Beziehung im defizienten Modus. Deutlich werden zudem – im negativen Modus – vorsichtige ethische Perspektiven gelingenderer relationaler Subjektivität, der gerade auf der Grundlage ihrer Verstrickung, ihrer Verletzlichkeit und Bedürftigkeit und der der Anderen Verantwortung zugeschrieben wird. Diese Ergebnisse werden in den Kontext aktueller philosophischer Theoriebildung gestellt, sie werden verbunden mit einem nicht reessentialistisch gedachten Begriff der Entfremdung und einer Vorstellung von Subjektivität, der aus einer Position der Heteronomie heraus Situationen autonomerer Einbindung und Gestaltung zugetraut und zugemutet werden. So konturieren und konkretisieren sich die literarischen Entwürfe problematischer Selbst- und Weltverhältnisse in ihrem Zusammenhang mit Perspektiven ethischer relationaler Subjektivität im Kontext philosophischer und philologischer Überlegungen in einem kulturwissenschaftlichen Zusammenhang.
Die Kategorie der Distanz
S CHLAGLICHTER AUF DIE L ITERATURGESCHICHTE : D ISTANZIERTE F IGUREN – F IGURATIONEN DER D ISTANZ Das Bild der Zuschauer des Lebens mag befremdlich anmuten, widerspricht es doch der fundamentalen Vorstellung, das Leben – zumindest innerhalb gewisser Grenzen – als Akteur zu erleben und zu gestalten. Den Zuschauer hingegen definiert das Deutsche Wörterbuch der Gebrüder Grimm als jemanden, „1) […] der auf etwas hinsieht […] 2) der einem vorgang oder thätigkeit zusieht […] a) allgemein […] b) bei einem schauspiel, im theater […] 3) im ggs. zum handelnden“.1 Der Begriff referiert auf eine Figur, die einem Geschehen folgt, ohne dessen Teil zu sein, verweist also auf die Distanz zwischen dem, der schaut, und dem, worauf er schaut, wobei er zusätzlich den Schauenden in Gegensatz zum Handelnden setzt. Dennoch bleibt dieser in seiner Ausrichtung des Hin- und Zusehens auf das Geschehen bezogen. Im Deutschen Wörterbuch schließt die Definition des Verbs zuschauen zwei unterschiedliche Haltungen ein: „mit innerer theilnahme“ und „unbeteiligt“.2 In seinen Implikationen unterschiedlicher Formen der Distanz ist das Bild der Zuschauer des Lebens Ausgangspunkt dieser Untersuchung zum Erzählen der Gegenwart, die subjektive Selbst- und Weltverhältnisse in den Blick nimmt. Distanz ist dabei zunächst eine Beschreibungskategorie, die beobachtbare Phänomene erfasst. Um den Distanzbegriff darüber hinaus als analytische Kategorie zu konzeptualisieren, die zur differenzierten Untersuchung und Klärung der beobachtbaren Phänomene geeignet ist, bedarf es sowohl der Entfaltung als auch der Abgrenzung und Konkretisierung. Dies soll im Folgenden geleistet werden: 1
Grimm, Jacob / Grimm, Wilhelm: Art. Zuschauer. In: Dies.: Deutsches Wörterbuch. 6 Bände in 32 Teilbänden. Leipzig 1854-1961. Online-Version, o. S. URL: http://www.woerterbuchnetz.de/DWB?lemma =zuschauer [01.05.2013].
2
Ebd.
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Zunächst erfolgt eine phänomenorientierte Annäherung an die Literaturgeschichte, um in Auseinandersetzung mit Formen distanzierter Selbst- und Weltverhältnisse auf der Ebene der Narration verschiedene Facetten der Distanz auszuleuchten und Problemzusammenhänge aufzuzeigen. Die Öffnung des Blicks für die zentrale Bedeutung und Vielgestaltigkeit des Phänomens der Distanz in der Literaturgeschichte mündet in die theoretische Entwicklung der Kategorie der Distanz. Ausgangspunkt sind die etymologische Herleitung, das semantische Feld und Phänomene, die mit dem Begriff der Distanz beschrieben werden. Dazu kommt, als wesentlicher Aspekt der Konzeptualisierung, die Klärung des Antonyms, von dem der Begriff der Distanz sich abgrenzt und auf das er gerade dadurch in einem Spannungsverhältnis bezogen ist, der Nähe als eines verringerten Abstands bis hin zur Einbindung, das heißt der Teilhabe und Teilnahme, aber auch der Verstrickung. Die Frage der Distanz im Kontext individueller Selbst- und Weltverhältnisse, das heißt in ihrem engen Zusammenhang mit Subjektivitätsentwürfen, kann nur im interdisziplinären Kontext untersucht werden. Ansätze ergeben sich hier aus der philologischen, philosophischen und soziologischen Forschung, die in ihrer Analyse von Selbst- und Weltverhältnissen mit Begriffen der Distanz arbeitet. Damit entsteht ein Raum, in dem sich die folgende Analyse der Gegenwartsliteratur bewegt und den sie weiter ausleuchten kann. Phänomene distanzierter Selbst- und Weltverhältnisse, denen die vorliegende Studie in der erzählenden Gegenwartsliteratur nachspürt, sind in der Literaturgeschichte nicht neu, wurden aber in ihren unterschiedlichen Ausprägungen im Verlauf der Literaturgeschichte bisher nicht untersucht. Sie durchziehen die Prosa, seit der Roman in der Folge der Aufklärung zum Reflexionsmedium des entstehenden bürgerlichen Selbstbewusstseins wurde. Der folgende Überblick setzt ein mit dem bürgerlichen Roman der Moderne, in dem das freie, auf sich selbst gegründete Subjekt zum Maßstab wird für Leben und Welt, in dem seine Möglichkeiten, Vorstellungen und Empfindungen ausgelotet werden, und verfolgt Phänomene distanzierter Selbst- und Weltverhältnisse bis zu der als postmodern diskutierten Literatur in den 1980er Jahren.3 Dabei werden in Schlaglichtern zentrale
3
Für die Erarbeitung dieser Übersicht habe ich neben der Primärliteratur und der genannten Sekundärliteratur die folgenden Literaturgeschichten verwendet: Schnell, Ralf: Deutsche Literatur von der Reformation bis zur Gegenwart. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2011; Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Begr. v. Rolf Grimminger. München u.a.: Hanser; Beutin, Wolfgang et al. (Hg.): Deutsche Literaturgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. 7. erw. Aufl. Stuttgart / Weimar: Metzler 2008; Beutin, Wolfgang et al. (Hg.): Deutsche Literaturgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Stuttgart
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Aspekte des Phänomens beleuchtet, die als Grundlage für die weitere theoretische Konzeptualisierung der Distanzkategorie dienen. In Distanz zu seiner Lebenswelt gerät der junge Held, der im Zentrum der bürgerlichen Prosa des späten 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts steht. Im Scheitern der Versuche, seine, im Sinne der aufklärerischen Philosophie, autonome Subjektivität selbstbewusst in der Welt zu behaupten, werden Ohnmacht, ein Leiden an der eigenen Unzulänglichkeit und der einer Welt deutlich, die den subjektiven Erwartungen an Sinn und Erfüllung nicht genügt. Enttäuscht tritt das Subjekt von dieser Welt zurück. Goethes Briefroman Die Leiden des jungen Werther (1774) thematisiert das Leiden des jungen Bürgers an der unüberwindbaren Distanz zwischen sich und der Lebenswelt, vor allem der durch ständische Hierarchien strukturierten Gesellschaft. Werther ist isoliert, passiv und resigniert, er findet keinen Zugang zu dieser Gesellschaft, sie gewährt der sich emanzipierenden bürgerlichen Subjektivität keine Entfaltungsmöglichkeit. Auch Werthers schwärmerische Vorstellungen von einer unbedingten Liebe und der Einheit mit der Natur erweisen sich als unumsetzbar. So bleibt nur der Rückzug auf sich. Diese Erfahrung kommt als emphatisches Leiden in empfindsamer Unmittelbarkeit zum Ausdruck, in einer überwältigenden Nähe des Erlebens, die durch Melancholie und Selbstverlust bedroht ist, in den Freitod mündet und auf den „hochprekären Status des neuen autonomen Subjekts“ verweist.4 Dennoch bleibt die Vorstellung autonomer Subjektivität Maßstab der Kritik an einer feudalistischen Gesellschaft, die dem bürgerlichen Anspruch auf Selbstentfaltungsmöglichkeiten nicht genügt. Der klassische Bildungsroman stellt die Entwicklung eines gebildeten, für die Gemeinschaft tätigen Individuums in den Mittelpunkt, das die Welt gestaltend in Besitz nimmt. Goethes Wilhelm Meister gelingt nach einigen Irrwegen eine Harmonisierung von Selbstentfaltung und Selbstbegrenzung. Jean Paul prägt 1823 den Begriff des Weltschmerzes für eine resignierende Haltung gegenüber sich und dem Leben als Ausdruck des Leidens an eigenem Ungenügen und dem der Lebenswelt. In seinem Roman Titan (1800-1803) wird der harmonisierende Schluss überlagert von Szenarien des Scheiterns: Neben dem Helden Albano erweist sich Roquariol als die zentrale Figur, die für ihre intensiven Gefühle und Bestrebungen kein Betätigungsfeld findet, unter Müdigkeit, Langeweile und
/ Weimar: Metzler 1979; Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart. 12 Bände. Begr. v. Helmut de Boor u. Richard Newald. München: Beck. 4
Bullivant, Keith / Spies, Bernhard: Vorwort. In: Dies. (Hg.): Literarisches Krisenbewußtsein. Ein Perzeptions- und Produktionsmuster im 20. Jahrhundert. München: Iudicium 2001, S. 7-18, hier S. 7.
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Leere leidet und ihrem Leben in einer theatralischen Geste ein Ende setzt. Der alternde, zurückgezogene Grieche Hyperion blickt in Friedrich Hölderlins Briefroman (1797/99) auf sein Leben zurück, auf das Scheitern seiner Ideale an der Realität seiner Lebenswelt, in der sich seine Jünglings-Träume von selbstständigem Streben nicht verwirklichen ließen, was Hölderlin mit einer scharfen Kritik an den Verhältnissen in Deutschland verbindet. Die Darstellung literarischer Figuren, die den Bezug zu ihrer Lebenswelt nicht finden und sich aus ihr und auf sich selbst zurückziehen, verweist auf die Resignation der literarischen Intelligenz im Deutschland des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts und ist zugleich in zunehmendem Maße ein Akt des Protests. Für die romantische Literatur wird die absolut gesetzte Subjektivität zum programmatischen Gegenpol einer als vordergründig empfundenen Philisterwelt. Die Poetisierung der Wirklichkeit ist Signum der Distanz, der „geheimnißvolle Weg“ „[n]ach Innen“ Gegenentwurf: „Ist denn das Weltall nicht in uns?“5 Dabei erweist sich diese freischwebende, sich selbst zu ergründen suchende Subjektivität zunehmend als rätselhaft, faszinierend und erschreckend zugleich. Noch ehe Sigmund Freud die Ebenen des Bewusstseins wissenschaftlich erforscht und begrifflich fundiert, eröffnen sich den aus nächster Nähe das eigene Ich auslotenden Romantikern Doppelbödigkeiten und Auflösungserscheinungen, in denen das Ich sich entzieht und sich selbst fremd wird. Ludwig Tieck zeichnet in seiner Geschichte des Herrn William Lovell eine Figur, deren Selbstbewusstsein mit absoluter Verlorenheit verbunden ist: „Ich selbst bin das einzige Gesetz in der ganzen Natur, diesem Gesetz gehorcht alles. Ich verliere mich in eine weite, unendliche Wüste“.6 E. T. A. Hoffmann fokussiert das distanzierte Verhältnis des Einzelnen zu seiner Lebenswelt auf die Antonymie von Kunst und Leben. Der Künstler leidet unter seiner gesellschaftlichen Isolierung, der Unvereinbarkeit von Kunst und bürgerlichem Leben, aber auch an seiner Künstlerexistenz: Hoffmann zeichnet vom Dunklen und Irrationalen bedrohte Künstlerfiguren und verleiht dem Subjekt, das sich selbst in seinen Träumen und unbewussten Regungen nachspürt, eine verunsichernde Fremdheit. Distanz als Fremdheit, Ausgeschlossenheit und Leiden an einer Lebenswelt, die sie geistig nicht zu erfassen vermögen, kennzeichnet Büchners Figuren Lenz (entst. 1835) und Woyzeck (entst. 1836) wie auch Hauptmanns Bahnwärter Thiel (1888), die an
5
Novalis: Vermischte Bemerkungen und Blüthenstaub. In: Ders.: Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs. Band 2: Das philosophische Werk I. Hg. v. Richard Samuel. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1965, S. 418.
6
Tieck, Ludwig: William Lovell. Hg. v. Walter Münz. Stuttgart: Philipp Reclam Jun. 1986, S. 169.
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dieser Problematik zugrunde gehen. Die Figuren der Gesellschaftsromane Theodor Fontanes sind unlösbar eingebunden in die sozialen Normen und Strukturen, in denen sie leben, an denen sie leiden und deren Fragwürdigkeit ihnen zum Teil bewusst ist. Ihre Distanz zu ihrer Lebenswelt verbirgt sich zumeist hinter den gewahrten Formen. Sie scheint auf in der ratlos-resignativen Zuschauerhaltung des Herrn von Briest (Effi Briest 1896), in der gelassenen Skepsis des alten Herrn von Stechlin (Der Stechlin 1899). Sie wird deutlich, wenn Effi Briest in einem Moment der Verzweiflung ihre Zurichtung durch die Gesellschaft klar erkennt und in ihrer Tochter gespiegelt sieht oder wenn von Instetten die Unsinnigkeit des Ehrbegriffs, dem er sich unterwirft, ausführlich reflektiert. Deutlich wird aber auch, dass die Distanz der Figuren gegenüber ihrer Lebenswelt gekoppelt ist mit einer gesellschaftlich vermittelten Distanz gegenüber den subjektiven Vorstellungen von Glück, die nur in ihrer normierten Form akzeptiert werden können. Sie wird erkennbar in der Unterdrückung von Emotionalität, in Entsagung und Resignation und geht einher mit Selbstkontrolle und unbedingter Anpassung an vorgegebene soziale Normen, durch die der Einzelne ohnmächtig verstrickt bleibt in die preußische Gesellschaft. Distanz zur alltäglichen Lebenswelt ist prägend für die Literatur im Übergang vom 19. zum beginnenden 20. Jahrhundert. Der Ästhetizismus räumt der Kunst den Vorrang ein vor dem als hässlich und sinnlos verachteten Leben und der abgelehnten bürgerlichen Gesellschaft. Die Haltung einer elitären Distanz wird mit Figuren wie dem Dandy, dem Décadent und dem Flaneur verbunden, die vor allem in der englischen und französischen Literatur vertreten sind.7 Die Autoren der Wiener Moderne inszenieren die Gestalt des Ästheten, des Bohemien und Dilettanten. In Deutschland zeigt sich die Literatur der Münchner und Berliner Bohème inspiriert durch ästhetizistische Entwürfe radikaler Kunstautonomie. Die nervöse Verfeinerung und exzentrische Abgrenzung haben dabei zwei Aspekte: Sie führen zu einer Erhebung des Subjekts, das seine Reflexionen und Empfindungen feiert und seinen Kult des Künstlichen der Welt entgegensetzt. Sie führen aber auch zur Entfernung vom Leben als einem Rückzug in Pessimismus und Weltschmerz, zu Fin de Siècle- und Untergangsstimmung. Thomas Mann beschreibt die Trennung von ästhetischer Verfeinerung, Vergeistigung und bürgerlichem Leben, an der seine Figuren leiden, als Künstler-Bürger-Problematik, die unüberwindbar scheint. Der einsame Künstler Tonio Kröger (1903) bringt seine zwiespältige Distanz zur bürgerlichen Welt der „Blonden und Blauäugigen“ in einem Brief zum
7
Zum Beispiel Oscar Wilde: The Picture of Dorian Gray (1890/91); Barbey d’Aurevillys: Du Dandysm et de George Brummell (1845); Joris-Karl Huysman: A Rebours (1884); Charles Baudelaire: Le peintre de la vie moderne (1859/63).
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Ausdruck: „Sehnsucht ist darin und schwermütiger Neid und ein klein wenig Verachtung und eine ganze keusche Seligkeit.“8 Mit dem Fortgang der literarischen Moderne radikalisiert sich die Distanz zur Lebenswelt, es handelt sich nicht nur um die kritische Distanz zu einer als unbefriedigend, prosaisch, normiert und normierend empfundenen Wirklichkeit, sondern um Distanz als Wirklichkeitsverlust und Fremdheit, die zunehmend das Selbstverhältnis prägt. Von Hofmannsthal beschreibt diese Distanz in seinem Chandos-Brief – Ein Brief (1902) – als Krise der Sprache, als Unmöglichkeit, „über irgend etwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen“.9 Distanz als Wirklichkeitszerfall und Ich-Verlust prägt die expressionistische Literatur. Der pathetische Entwurf eines neuen Menschen steht im Kontext der immer wieder gestalteten Erfahrung von Ich-Auflösung und Unverfügbarkeit einer den Menschen überfordernden Wirklichkeit und einer Welt ohne metaphysische Gewissheiten. Expressionistische Werke fokussieren Figuren des Außenseiters, des Ausgestoßenen, des Verlierers, die sich nicht in die untergehende, verhasste wilhelminische Gesellschaft einfügen lassen.10 Franz Kafka verhandelt in seinen Romanen die Fremdheit und Isolation des Einzelnen bei gleichzeitiger Ausgesetztheit, Verlorenheit und Verstrickung in die sinnentleerten, autoritären Strukturen der patriarchalischen Familie und eines bürokratischen Staates, die als bestimmende Macht bedrückend spürbar werden, selbst aber unbestimmt, nicht personalisierbar bleiben. Den Lebenswelten wohnt eine verunsichernde Absurdität inne. Der Einzelne steht den anonymen Mächten befremdet, wartend, suchend, hilflos gegenüber. Es gelingt ihm nicht, einen Zugang zu seiner Lebenswelt zu finden und sein Leben sinnvoll handelnd zu gestalten.11 Dada bezieht im Kontext des Ersten Weltkriegs eine Haltung der Distanz als Protest, revolutionärer Negation und provokativer Verweigerung, die auf die Destruktion vorgegebener Sprach-, Sinn- und Kulturtraditionen zielt, eine Distanz als grundsätzlicher Widerspruch und permanente Abgrenzung, die sich selbst von dem eigenen Programm abwendet: „Gegen dies
8
Mann, Thomas: Tonio Kröger. In: Ders.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke – Briefe – Tagebücher. Band 2.1: Frühe Erzählungen 1893-1912. Hg. v. Terence J. Reed. Frankfurt am Main: S. Fischer 2004, S. 243-318, hier S. 318.
9
Hofmannsthal, Hugo von: Ein Brief. In: Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe. Band 31: Erfundene Gespräche und Briefe. Hg. v. Ellen Ritter. Frankfurt am Main: S. Fischer 1991, S. 45-55, hier S. 48.
10 11
Zum Beispiel Gottfried Benn: Gehirne (1916); Albert Ehrenstein: Tubutsch (1908). Vgl. Schmidt-Emans, Monika: Kafka. Epoche – Werk – Wirkung. München: Beck 2010.
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Manifest sein, heißt Dadaist sein.“12 Die Zeitromane der Weimarer Republik inszenieren Distanz als Verunsicherung angesichts einer sinnentleerten, zerfallenden Welt. Helmut Lethen spricht von den „schwierige[n] Subjekte[n]“ Thomas Manns und Robert Musils, die „den Beschleunigungsprozeß nur aus großer Ferne ertragen.“13 Thomas Mann entwirft im Zauberberg (1924) den Rückzug in ein Schweizer Sanatorium als metaphorische Entfernung vom Leben. Die weltenthobene Existenz der großbürgerlichen und adligen Patienten bei „uns hier oben“,14 die Diskussionen über Selbst- und Wirklichkeitsentwürfe mit den Widersachern Settembrini und Naphta führen den 23jährigen Hans Castorp in „geistige[] und sinnliche[] Abenteuer[]“,15 die er zunehmend als Welt- und Ich-Verlust erlebt. Der Roman endet mit dem Verschwinden des Protagonisten in den Kämpfen des Ersten Weltkriegs, einer zerstörerischen Einbindung, die auf den Untergang der Epoche hindeutet. Robert Musils Mann ohne Eigenschaften (1930/33) gerät in Distanz zu seinen Versuchen, eine aktive Rolle in der Gesellschaft einzunehmen. Trotz seiner Fähigkeiten zieht er sich zurück, ist entscheidungs- und handlungsunfähig, denn „die Möglichkeit ihrer Anwendung war ihm abhandengekommen“.16 Die moderne Welt erscheint ihm disparat und in einer Auflösung begriffen, die auch das Subjekt längst ergriffen hat. Er beschließt, „Urlaub von seinem Leben zu nehmen, um eine angemessene Anwendung seiner Fähigkeiten zu suchen“ und spürt dem utopischen Entwurf eines „anderen Zustands“ nach.17 Von der Prosa der Neuen Sachlichkeit bis in die Nachkriegsliteratur des Ersten Weltkriegs fokussiert sich die Thematik der Distanz auf das konkrete Weltverhältnis. Die 1920er Jahre zeigen Figuren in einer kühlen Beobachterhaltung, die sich
12
Tzara, Tristan u.a.: Dadaistisches Manifest 1918. In: Richter, Hans: Dada - Kunst und Antikunst. 3. vom Autor durchges. und erg. Aufl. Köln: DuMont 1973, S. 109; vgl. Kümmerle, Inge: Tristan Tzara: Dramatische Experimente zwischen 1916 und 1940. Rheinfelden: Schäuble 1978.
13
Lethen: Verhaltenslehren der Kälte, S. 22.
14
Mann, Thomas: Der Zauberberg. In: Ders.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke – Briefe – Tagebücher. Band 5.1. Hg. u. textkr. durchges. v. Michael Neumann. Frankfurt am Main: S. Fischer 2002, S. 16.
15
Mann, Thomas: Einführung in den ‚Zauberberg‘. Für Studenten der Universität Princeton. In: Ders.: Gesammelte Werke in 12 Bänden. Band 11.3: Reden und Aufsätze. Frankfurt am Main: S. Fischer 1960, S. 602-617, hier S. 612.
16
Musil, Robert: Der Mann ohne Eigenschaften. In: Ders.: Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Hg. v. Adolf Frisé. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1952, S. 47.
17
Ebd., S. 47, 1584.
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für das Außen, das objektiv Gegebene interessiert.18 In Bezug auf Joseph Roths Roman Die Flucht ohne Ende. Ein Bericht (1927) spricht Dorothee Kimmich von einer Wahrnehmung, die nach dem „Prinzip der Kamera“ funktioniere, „sachliches Sehen ohne Erinnerung, Wiedererkennen und Gefühlsreaktion, im Grunde ohne Erkenntnis“.19 Erich Kästners Fabian (1931) verbindet den sachlichen Blick mit dem Leiden an dieser Distanz. Er zieht sich melancholisch in die Passivität zurück von einer Welt, die es nicht erlaubt, seine Vorstellungen von Moral zu leben, und befürchtet, „daß er zum Zuschauer bestimmt und geboren war, nicht, wie er heute noch glaubte, zum Akteur im Welttheater“.20 Kimmich, die sich auch auf Fabian bezieht, identifiziert Distanz als eine „Nachkriegsstrategie, eine posttraumatische Haltung“, im Vordergrund stehe die Schutzfunktion von Distanz, „und ganz offensichtlich ist dies ein Schutz, der nach der Verletzung kommt.“21 Zugleich markiere Distanz einen „individuellen, oft aggressiven Protest“, in dem sich die distanzierten Protagonisten nicht nur als Opfer der Verhältnisse, sondern zugleich als „heroische Widerständler“ zeigten.22 In der Nachkriegsliteratur nach 1945 erscheint Distanz zum Teil als Innerlichkeit, die als „Reich des Geistes“ humanistisch, christlich oder ästhetizistisch aufgewertet wird und in ihrer Reinheit, abgegrenzt von der Außenwelt, bewahrt werden soll.23 Die Trümmerliteratur thematisiert die Vereinzelung des Kriegsversehrten und -rückkehrers, die Fremdheit angesichts einer aus den Fugen geratenen Welt. In der nüchternen, lakonischen Sprache werden Verlorenheit, Resignation, Sprachskepsis und ein tiefes Misstrauen gegenüber der gesellschaftlichen Lebenswelt deutlich, auch aber Einbindung durch Schmerz und Leiden. Gefühle existentieller Unbehaustheit kommen zum Ausdruck, wie auch in der Exilliteratur, in der es um die konkrete Distanz zu der verlorenen Heimat geht.24
18
Vgl. Lethen: Verhaltenslehren der Kälte, S. 190f.
19
Kimmich: Indifferenz, S. 170, 171.
20
Kästner, Erich: Fabian. Die Geschichte eines Moralisten. In: Ders.: Gesammelte Schriften für Erwachsene. Band 2. Zürich: Atrium 1969, S. 193.
21
Kimmich: Indifferenz, S. 164.
22
Ebd., S. 174.
23
Hoffmann, Dieter: Arbeitsbuch Deutschsprachige Prosa seit 1945. Von der Trümmerliteratur zur Dokumentarliteratur. Band 1. Tübingen u.a.: Francke 2006, S. 34, 35; zum Beispiel Hermann Kasack: Die Stadt hinter dem Strom (1947); Gottfried Benn: Roman des Phänotyp (1944/1949).
24
Vgl. Vondung, Klaus: Von Euphorie durch Melancholie zur Parodie. Modi literarischer Krisenverarbeitung in der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts. In: Bul-
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Distanz als Antwort auf die Absurdität der Existenz nach der Erfahrung des „totalen Zusammenbruchs [der, d. V.] ganzen bisherigen geistigen Welt“ wird in der französischen Literatur des Existentialismus thematisiert. 25 Literarische Figuren begegnen der Absurdität in widerständiger Selbstbehauptung, mit dem Versuch, die Freiheit zu ergreifen, stehen ihr aber auch als Verzweifelte gegenüber angesichts einer Sinnlosigkeit, die auch ihre Subjektivität bedroht. Jean-Paul Sartres La Nausée (1938) bejaht die Absurdität der Existenz in ihrer Abwesenheit jeglicher Transzendenz und vorgegebener Sinnhaftigkeit als Freiheit und radikalen Individualismus. Der Fremde (1942) Albert Camus’ steht der Gesellschaft und ihren Sinnvorschriften distanziert und indifferent gegenüber. Im Angesicht des Todes empfindet er ein radikal individuelles Glücksgefühl und zeigt sich in der Bejahung der Absurdität einer sinnlosen Welt als Opfer und zugleich als freies, widerständiges Subjekt.26 Die Distanz zum eigenen Ich in ihrer Verknüpfung mit der Distanz zur Lebenswelt wird in den 1950er Jahren zu einem zentralen Thema Max Frischs. Inspiriert durch Kierkegaards Philosophie thematisiert sein Roman Stiller (1954) den Versuch der Freiheit als Wahl, eine Identitäts- und Bildnisproblematik, in der Distanz als existentielle Einsamkeit und Fremdheit spürbar wird ebenso wie als Abwehr übermächtiger Fremdbestimmung und der Rollenhaftigkeit des eigenen Daseins. In der Literatur des Absurden verweisen Positionen der Distanz zugleich auf Verlassenheit und vergebliche Sinnsuche und den Protest gegen konventionelle Sinnangebote und Traditionen. Bei Samuel Beckett ist das Verhältnis von Ich und Welt gebrochen, Verständigung unmöglich. Das Subjekt als Instanz löst sich in der Sprache auf, die keinen Sinn mehr ermöglicht.27 Distanzierte Protagonisten tauchen in der sozialkritischen Literatur der späten 1950er und frühen 1960er Jahre als gesellschaftliche Außenseiter, als Nonkonformisten auf, aus deren satirisch oder grotesk geprägter Beobachterperspektive zeitgenössische Probleme verdrängter nationalsozialistischer Schuld und restaurativer Nachkriegszeit entlarvt werden. In Günter Grass’ Roman Die Blechtrommel (1959), der in der Tradition des Schelmenromans steht, schafft der Rückzug Oskar Matzeraths auf die Position des Kindes eine Perspektive der Distanz auf das Dritte Reich und die bundesdeutsche Realität der 1950er Jahre. Heinrich Böll erzählt in
livant, Keith / Spies, Bernhard (Hg.): Literarisches Krisenbewußtsein. Ein Perzeptions- und Produktionsmuster im 20. Jahrhundert. München: Iudicium 2001, S. 19-40, hier S. 33. 25
Bollnow, Friedrich Otto: Existenzphilosophie. 4. erw. Aufl. Stuttgart: Kohlhammer 1955, S. 126.
26
Vgl. Kimmich: Indifferenz, S. 14.
27
Vgl. Wellershoff: Der Gleichgültige, S. 10, 11, 116.
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Ansichten eines Clowns (1963) vor dem Hintergrund der Adenauer-Zeit aus der Perspektive eines Verlassenen, der in einer Mischung aus Resignation und Aggressivität auf Distanz zu seiner bundesrepublikanischen Gegenwart und der katholischen Kirche geht. Die Außenseiter behaupten sich in ihrer Position des Ausgeschlossenen oder der Haltung protestierender Verweigerung. Nach den politisch engagierten 1960er Jahren fokussiert die Neue Subjektivität der 1970er Jahre distanzierte Weltverhältnisse und zieht sich zurück auf die Befindlichkeit des Ich und seine Erfahrungen. In Abkehr von einer Literatur als gesellschaftlichem Engagement thematisiert sie eine innere Distanz zum Dasein, enttäuschte Hoffnungen in Bezug auf die Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse im Kontext von 1968, Perspektivlosigkeit und Skepsis gegenüber Fortschrittsentwicklungen.28 Peter Handke lotet in Die Stunde der wahren Empfindung (1975) Sinnlosigkeitsgefühle und Daseinsekel seines Protagonisten Keuschnig aus, dessen Rückzug auf eine Beobachterhaltung einhergeht mit Augenblicken des Überschwangs in sensiblem Erleben. Martin Walser zeigt in seiner Novelle Ein fliehendes Pferd (1978) den desillusionierten Lehrer Helmut Halm, der sich in Resignation, Melancholie und Passivität einzurichten versucht. In Christa Wolfs Nachdenken über Christa T. (1968) manifestiert sich ebenso wie in Ulrich Plenzdorfs Die neuen Leiden des jungen W. (1972) die Suche nach individueller Selbstverwirklichung, die angesichts des realsozialistischen Alltags nur als Haltung der Distanz möglich erscheint. Der unangepasste Erzähler aus Nicolas Borns Roman Die erdabgewandte Seite der Geschichte (1976) zieht sich von seiner gesellschaftlichen Lebenswelt zurück in Desillusionierung, Sinnverlust, Leere und Lethargie. Distanz liegt in der Literatur der Neuen Subjektivität zwischen der Gesellschaft und einem Subjekt, das sich auf seine Wahrnehmung und Emotionalität konzentriert – eine Behauptung des Subjekts, auch im Scheitern, als Widerstand gegen gesellschaftliche Bedingungen oder Rückzug in die Innerlichkeit. In der unter dem Paradigma der Postmoderne diskutierten Literatur29 scheint sich Distanz als Fremdheit endgültig im Selbstverhältnis etabliert zu haben. Die Entlarvung des sich fremden Subjekts als Struktureffekt und der Zerfall einer geschlossenen Wirklichkeitsvorstellung werden in diesen Texten offengelegt und
28
Vgl. Handke, Peter: Zur Tagung der Gruppe 47 in USA (1966). In: Ders.: Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1972, S. 29-34.
29
Vgl. Lützeler: Postmoderne und postkoloniale deutschsprachige Literatur.
D IE K ATEGORIE DER D ISTANZ I 51
durchgespielt. Die moderne „Leidensgeste“ ist im postmodernen Roman zurückgenommen.30 „Das Ende der Trauerphase bezeichnet eine der Grenzlinien zwischen moderner und postmoderner Literatur.“31 Die Ausstellung der Zitathaftigkeit allen Verhaltens und Sprechens sowie ein hohes Maß an Selbstreferentialität schreiben den dargestellten Selbst- und Weltverhältnissen eine Distanz ein, die, oft einhergehend mit Parodie und Ironie, auf Fremdheit und zugleich auf die Verstrickung in vorhandene Strukturen verweist, in eine Welt, die aus Abbildern und Wiederholungen besteht.32 In Bodo Morshäusers Die Berliner Simulation (1983) bewegt sich der Ich-Erzähler wie „eine Kamera mit offenem Verschluß“ durch die Stadt.33 Subjektivität ist ein möglicher Entwurf unter vielen, Zitat wiederholter Verhaltensweisen in einer medial kodierten Wirklichkeit. „In der Simulation fühlt man sich gleich wohl.“34 Die Novelle endet mit dem Satz: „Wir sind nicht mehr empört.“35 Patrick Süskind inszeniert in dem Bestseller Das Parfum (1985), geschrieben auf der Folie des historischen Kriminalromans, des Künstlerund Bildungsromans, die Vernichtung des geruchlosen Außenseiters Grenouille. Auch Christoph Ransmayrs Roman Die letzte Welt (1988) verabschiedet den Menschen als Subjekt im Sinne der Aufklärung, es gibt keine historische Entwicklung, am Ende stehen Erstarrung, Sinnlosigkeit und Leere. Jegliche Möglichkeit autonomer Distanz in Verbindung mit einem engagierten Zugriff auf die Gestaltung von Selbst und Welt scheint getilgt, keine Entwicklung denkbar. Figurationen der Distanz spielen in der Literaturgeschichte seit der Aufklärung eine zentrale Rolle und markieren durchgängig problematische Welt- und Selbstverhältnisse. Distanz ist zumeist Ausdruck eines kritischen, defensiven oder hilflosen Abstands im Versuch, die eigene Subjektivität zu behaupten beziehungsweise zu schützen, oder als Fremdheit gegenüber Lebenswelt und Selbst. Es geht um Widerständigkeit und Verweigerung, um den Rückzug von einer Welt, die den
30
Keidel, Matthias: Die Wiederkehr der Flaneure. Literarische Flanerie und flanierendes Denken zwischen Wahrnehmung und Reflexion. Würzburg: Königshausen & Neumann 2006, S. 198.
31 32
Lützeler: Postmoderne und postkoloniale deutschsprachige Literatur, S. 38. Vgl. Borchmeyer, Dieter: Postmoderne. In: Ders. / Žmega, Viktor (Hg.): Moderne Literatur in Grundbegriffen. 2. neu bearb. Aufl. Tübingen: Niemeyer 1994, S. 347360, hier S. 352.
33
Morshäuser, Bodo: Die Berliner Simulation. 2 Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1983, S. 71.
34
Ebd., S. 73.
35
Ebd., S. 138.
52 I Z USCHAUER DES L EBENS
Ansprüchen des Subjekts nicht genügt, einen Rückzug in künstlerische Gegenwelten, auf eine Position der Kälte, in elitäre Geistigkeit oder geistige Innerlichkeit. Es geht auch um Positionen des Ausgeschlossenseins, um Fremdheit und Hilflosigkeit angesichts abweisender Lebenswelten und angesichts der Dissoziation von Wirklichkeit, Sinn und Subjektivität. Der Überblick zeigt in wechselnden Akzentuierungen Distanz zwischen Figur und Lebenswelt und Distanz im Selbstverhältnis. So werden historisch-spezifische Formen der Distanz in ihrem Zusammenhang mit als problematisch erfahrenen Selbst- und Weltverhältnissen erkennbar. Dabei ist eine Radikalisierung zu beobachten, in der Distanz als heteronom erfahren wird, das Weltverhältnis prägt und in das Selbstverhältnis eindringt. Figurationen der Distanz werfen die Frage auf, als Reaktion worauf und / oder im Namen wovon distanzierte Selbst- und Weltverhältnisse literarischer Figuren inszeniert werden. Insofern bleiben auch distanzierte Figuren auf ihre jeweiligen Lebenswelten bezogen – kämpferisch oder leidend, Auswege suchend oder ihre Überlegenheit kultivierend. Sie stehen in Relation, sind, trotz Distanz, zugleich verbunden, involviert oder gar verstrickt. Das Phänomen der Distanz in der Literaturgeschichte verweist damit immer auch auf seinen Gegenpol, auf eine Einbindung. Dabei können beide Phänomene, Distanz und Einbindung, in ihren jeweiligen Ausprägungen eher autonom oder heteronom konnotiert sein. Auf der Grundlage der literaturgeschichtlichen Figurationen wird die Kategorie der Distanz und das mit ihr aufgerufene Spannungsfeld der Relationalität im Folgenden in Auseinandersetzung mit philologischen, philosophischen und soziologischen Forschungsansätzen zu Phänomenen distanzierter Selbst- und Weltverhältnisse theoretisch konzeptualisiert, fundiert und präzisiert.
ASPEKTE
DES
D ISTANZBEGRIFFS
Das Wort Distanz kommt im Deutschen seit dem Spätmittelalter vor.36 Es geht auf das lateinische Substantiv distantia zurück. Das Verb distare bedeutet auseinan-
36
Im Folgenden beziehe ich mich auf den Duden. Das große Wörterbuch der deutschen Sprache. 3. völlig neu bearb. u. erw. Aufl. Hg. v. Wissenschaftlichen Rat der Dudenredaktion. Mannheim u.a.: Dudenverlag 1999, S. 833; vgl. Geck, L. H. Adolph: Sprachliches zum Problem der zwischenmenschlichen Distanz. In: Eisermann, Gottfried (Hg.): Gegenwartsprobleme der Soziologie. Potsdam: Athenaion 1949, S. 231253; Grimm, Jacob / Grimm, Wilhelm: Art. Distanz. In: Deutsches Wörterbuch. Hg.
D IE K ATEGORIE DER D ISTANZ I 53
derstehen, entfernt sein. Distanz bezeichnet ein Getrenntsein, eine räumliche Entfernung zwischen zwei Punkten, einen Abstand und Zwischenraum. Der Begriff bezieht sich auf eine räumliche Relation zwischen Subjekten und / oder Objekten, denn auch ein „Abstand ‚zehn Schritt vom Leibe‘ ist ein Kontakt, wenngleich negativ bestimmt.“37 So beschreibt der Begriff der Distanz weniger einen absoluten und unveränderlichen Zustand als ein graduelles und dynamisches Verhältnis. In der Wortgeschichte erweitert sich Distanz um ein zeitliches Moment. Zudem schließt der Begriff im Laufe der Zeit auch die übertragene Bedeutung der Verschiedenheit und des Unterschieds bis hin zur Gegensätzlichkeit im Sinne der Diskrepanz ein. Ebenfalls im übertragenen Sinne wird der Begriff angewandt auf physische und psychische Verhältnisse zwischen Menschen, auch auf Selbst- und Weltverhältnisse. Er erfasst die Relation eines Menschen zu etwas oder jemandem, auch menschliche Haltungen, Positionen und menschliches Verhalten. So beschreibt der Begriff der Distanz Modi der Beziehung zu sich, zu anderen Menschen und zur Welt, Modi der Welterfahrung und -erfassung. Als Haltung oder Position bringt er einen inneren Abstand zum Ausdruck. Als Verhalten verweist er auf die Herstellung oder Bewahrung eines Abstandes. Dabei ist er in seiner Erfassung einer Entfernung zunächst neutral beschreibend. In soziologischen, philologischen und philosophischen Überlegungen zur Kategorie der Distanz werden zwei Hauptaspekte des Nachdenkens deutlich: Distanz erscheint zum einen als Möglichkeit des Menschen, eine Haltung einzunehmen, durch die ein physischer oder psychischer Abstand gewonnen wird, der eine Steigerung von Freiheit, Souveränität, Möglichkeiten bedeutet und auf die Notwendigkeit, aber auch Fähigkeit des Selbstschutzes und der Emanzipation verweist. In dieser Konzeptualisierung ist Distanz autonom konnotiert. Zum anderen erscheint Distanz als Erfahrung des Ausgeschlossenseins, als Hindernis in Selbst- und Weltzugang und -gestaltung, als Fremdheit im Selbst- und Weltverhältnis. In diesem Sinne ist sie heteronom geprägt. Autonom geprägte Distanz ist Distanznahme, ein intentional hergestellter Abstand als Freiheit von Bindungen, als selbstbewusste Autonomie, Überlegenheit, Sachlichkeit, Objektivität, als Widerständigkeit, kritischer Blick, als vorsichtige Zurückhaltung und Privatheit, Respekt-, Gelassenund Besonnenheit. Eine gewisse Distanz ermögliche erst die Übersicht, heißt es. Das Verb distanzieren bedeutet, Abstand zu nehmen, von jemandem oder etwas
v. der Akademie der Wissenschaften der DDR in Zusammenarbeit mit der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. 6. Band. Leipzig: S. Hirzel 1983, S. 1165-1166. 37
Geck, L. H. Adolph: Zur Dogmengeschichte einer allgemein-soziologischen Theorie der zwischenmenschlichen Distanz. In: Studien zur Soziologie. Band 1. Mainz: Internationaler Universum Verlag 1948, S. 19-37, hier S. 32.
54 I Z USCHAUER DES L EBENS
abzurücken sowie jemanden oder etwas zurückzuweisen, seinen Willen der NichtBeteiligung zum Ausdruck zu bringen. Mit der Handlung verbindet sich zumeist ein Ziel, die Haltung der Distanz wird eingenommen, um dieses zu erreichen: „Das Zwischenlegen von Distanz muß hier als Tendenz verstanden werden, die im Bemühen um Anpassung mobilisierten Kräfte sozusagen zur Ruhe zu bringen, um das Vorhandene auszubilden oder Neues zu schaffen.“38 Es geht bei dieser Distanz also um eine Haltung, die auf Steigerung und / oder Schutz von Unabhängigkeit zielt. Eine solche Konzeption von Distanz lässt sich zurückverfolgen bis in die Antike. In einer knappen „abendländischen Denkgeschichte der Distanz“ entwirft der Philosoph Andreas Sommer exemplarische Stationen der Distanz als einer subjektiven „Technik des Sich-Entziehens“.39 Der Philologe Manfred Geier geht der Haltung oder Stimmung innerer Distanz unter dem Stichwort der Gleichgültigkeit nach, als einer Reaktion auf eine als gleichgültig erfahrene Welt, die nicht vom menschlichen Willen abhängt, als einer „Gegenstrategie[]“, geleitet von dem Ziel, autark und souverän zu sein:40 „Wer gleichgültig ist, entzieht sich dem, was allgemein gewollt werden soll.“41 Geier interessiert Distanz vor allem als das Gegenteil von Fanatismus, er verbindet sie mit Ruhe, Gelassenheit und Gleichmut. Sie kennzeichnet einen Menschen, der angesichts der Überforderungen einer aufgewühlten Welt souverän bleibt.42 Sommer verweist auf die antike Philosophie, die mit dem Ideal des unbewegten Bewegers bei Aristoteles, der epikureischen Ataraxie und der stoischen Apathie Strategien der Distanz verfolgt, die zu einem glücklichen, tugendhaften Leben führen sollen: „Technik der Leidensverringerung“, „Vermeiden des Schmerzes“, „Glück durch Entkoppelung, Glück durch Distanzierung.“43 Die klassische Ästhetik konzipiert Distanz als Voraussetzung künstlerischer Tätigkeit.44 Sie setzt die distanzierte Betrachtung und gemilderte Empfindung dem heftigen Affekt entgegen und erkennt darin die Auszeichnung
38
Claessens, Dieter: Art. Distanzierung. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. v. Joachim Ritter und Karlfried Gründer. Band 2. Basel 1972, S. 269-270, hier S. 270.
39
Sommer, Andreas Urs: Coolness. Zur Geschichte der Distanz. In: Zeitschrift für Ideengeschichte 1 (2007), S. 30-44, hier S. 31, 32.
40
Geier: Das Glück der Gleichgültigen, S. 51.
41
Ebd., S. 10.
42
Vgl. ebd.
43
Sommer: Coolness, S. 37, 33, 34, 35; vgl. Geier: Das Glück der Gleichgültigen, S. 34, 85f.
44
Vgl. Schuster: Poetologie der Distanz, S. 28.
D IE K ATEGORIE DER D ISTANZ I 55
des überlegenen Künstlers, der sich in seinem Erleben nicht verliert, sondern es zu gestalten vermag.45 Bereits Johann Christoph Gottsched spricht davon, „daß ein Dichter zum wenigsten dann, wann er die Verse macht, die volle Stärke der Leidenschaft nicht empfinden kann. Diese würde ihm nicht Zeit lassen, eine Zeile aufzusetzen, sondern ihn nöthigen, alle seine Gedanken auf die Größe seines Verlusts und Unglücks zu richten. Der Affect muß schon ziemlich gestillet seyn, wenn man die Feder zur Hand nehmen, und seine Klagen in einem ordentlichen Zusammenhange vorstellen will.“46
Auch Friedrich Schiller ruft den Dichter auf, „niemals unter der gegenwärtigen Herrschaft des Affects“ zu arbeiten, sondern „den Gegenstand seiner Begeisterung von seiner Individualität loszuwickeln, seine Leidenschaft aus einer mildernden Ferne anzuschauen“.47 Friedrich Nietzsche prägt in seinen späten Schriften den Begriff eines „Pathos der Distanz“ im Sinne der Differenzierung und Abgrenzung zwischen herrschenden und beherrschten Menschen und gesellschaftlichen Gruppen als die Erhebung der Wenigen, eines aristokratischen Menschentyps, über das Niedrige und Gemeine.48 „Ohne das Pathos der Distanz, wie es aus dem eingefleischten Unterschied der Stände, aus dem beständigen Ausblick und Herabblick der herrschenden Kaste auf Untertänige und Werkzeuge und aus ihrer ebenso beständigen Übung im Gehorchen und Befehlen, Niederund Fernhalten erwächst, könnte auch jenes andere geheimnisvollere Pathos gar nicht erwachsen, jenes Verlangen nach immer neuer Distanz-Erweiterung innerhalb der Seele
45 46
Vgl. ebd., S. 27. Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst. 5. Aufl. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1962, S. 145-146.
47
Schiller, Friedrich: Über Bürgers Gedichte. In: Ders.: Sämtliche Werke in 5 Bänden. Band 5: Erzählungen und theoretische Schriften. Hg. v. Wolfgang Riedel. 2. durchges. Aufl. München: Carl Hanser 2008, S. 970-992, hier S. 982.
48
Nietzsche, Friedrich: Jenseits von Gut und Böse. In: Ders.: Werke. Kritische Gesamtausgabe. Hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Band 2: Jenseits von Gut und Böse. Zur Genealogie der Moral (1886-1887). Berlin: de Gruyter & Co 1968, S. 215f.; vgl. Colli, Giorgio: Distanz und Pathos. Einleitungen zu Nietzsches Werken. Frankfurt am Main: Europäische Verlagsanstalt 1982, S. 106ff.; Gerhardt, Volker: Pathos der Distanz. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. v. Joachim Ritter und Karlfried Gründer. Band 7. Basel 1989, S. 199-201, hier S. 199.
56 I Z USCHAUER DES L EBENS selbst, die Herausbildung immer höherer, seltnerer, fernerer, weitgespannterer, umfänglicherer Zustände, kurz eben die Erhöhung des Typus ‚Mensch‘.“49
Der Wille des starken Individuums zu Distanz im Sinne vornehmer Überlegenheit bedeutet bei Nietzsche nicht nur eine Steigerung des Menschen, er schafft das Recht, Werte zu setzen und ist Grundvoraussetzung einer neuen Tugend, die die herrschende Moral überwindet.50 Als eine Position der Souveränität konzipiert auch Norbert Elias Distanz in Engagement und Distanzierung (1956). In seinen wissenssoziologischen Überlegungen setzt er das Spannungsverhältnis von Distanz und Engagement synonym mit dem zwischen Autonomie und Heteronomie.51 Er versteht Distanz als adäquates, realitätsgerechtes Nachdenken, als Selbstkontrolle, -beherrschung und -steuerung sowie Beherrschung der Beziehung zur Umwelt – eine Haltung, die er mit Stärke, Stabilität, Ruhe und Sicherheit verbindet, mit wissenschaftlichem Denken, Sprechen und erwachsenem Verhalten.52 Engagement hingegen verknüpft Elias mit Phantasien, Wünschen, Affekten und Emotionen wie der Angst vor Gefahren, vor dem Unbekannten, vor Innovationen.53 Je stärker das Individuum engagiert sei, desto weniger gelinge es ihm, sich zu orientieren. Als zentrales Problem diagnostiziert Elias das Involviertsein in zwischenmenschliche Beziehungen und Interdependenzen, insbesondere auf globaler Ebene, das die Einnahme einer distanzierten Position erschwere. 54 Doch nur die „Strategie der Distanzierung, des ‚reculer pour mieux sauter‘“ ermögliche Innovation und Fortschritt in Kunst, Wissenschaft und Gesellschaft.55 Distanz ist, so
49
Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse, S. 215.
50
Vgl. Gerhardt: Pathos der Distanz, S. 199.
51
Vgl. Elias, Norbert: Engagement und Distanzierung. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Band 8. Hg. u übersetzt v. Michael Schröter. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008, S. 105-169, hier S. 157, 158. Weitere Synonyme sind nach Elias ‚rational‘ oder ‚irrational‘ und ‚objektiv‘ oder ‚subjektiv‘. Er betrachtet die Dynamik des Kontinuums zwischen den Extremen Distanz und Engagement aber als Vorzug, während Begriffe wie ‚subjektiv‘ und ‚objektiv‘ „eine statische und unüberbrückbare Kluft zwischen zwei verschiedenen Wesenheiten, ‚Subjekt‘ und ‚Objekt‘, vorspiegeln“ (Ebd., S. 164, 107).
52
Vgl. Elias, Norbert: Einleitung. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Band 8. Hg. u übersetzt v. Michael Schröter. Einleitung übersetzt v. Detlef Bremecke. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008, S. 7-103, hier S. 41, 49, 53, 97, 102; Elias: Engagement und Distanzierung, S. 116, 158.
53
Vgl. Elias: Einleitung, S. 34, 41, 99.
54
Vgl. ebd., S. 98ff.; Elias: Engagement und Distanzierung, S. 118ff.
55
Elias: Einleitung, S. 65.
D IE K ATEGORIE DER D ISTANZ I 57
deutet sich an, auch da, wo sie sich mit Emanzipation, Befreiung, Widerständigkeit, Überlegenheit, Vornehmheit, Souveränität und Objektivität, mit dem Schöpferischen und der Weltgestaltung verbindet, eine Haltung, um die gerungen wird. Distanz als Versuch der Unabhängigkeit ist Reaktion auf Einbindungsansprüche, Kohäsionskräfte, Bedrohungen und Zumutungen einer Lebenswelt, die durch das Subjekt kaum zu bewältigen scheint.56 In diesem Sinne muss in der Auseinandersetzung mit der Kategorie der Distanz nicht nur das Ziel des autonomen Abstands, sondern auch der Versuch akzentuiert werden, sich in der Lebenswelt zu behaupten und vor der Lebenswelt zu schützen, um eine Haltung der Autonomie zu behaupten. Eine solche Distanz als Schutzhaltung vor der modernen Welt beschreibt der Soziologe Georg Simmel bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts unter dem Eindruck der explosionsartigen Entwicklung großstädtischen Lebens in Deutschland. In seinem Essay Die Großstädte und das Geistesleben (1903) fragt Simmel nach der Wechselwirkung von sozialer Umwelt und Subjektivität und untersucht zwischenmenschliche Distanz im Kontext der Großstadt als dem „Schauplatz der Moderne“, die eine bis dato nie gekannte Freiheit für den Einzelnen bedeute.57 Als „Grundmotiv“ seines Essays bezeichnet er den „Widerstand des Subjekts, in einem gesellschaftlich-technischen Mechanismus nivelliert und verbraucht zu werden.“58 Das Geistesleben des Großstädters werde bestimmt durch den Versuch, das empfindliche Gemüt durch die Einnahme einer distanzierten Haltung verstandesgesteuerter Sachlichkeit vor Überforderung zu schützen und an das Leben in der Großstadt anzupassen. Die „Seelenstimmung“ der Blasiertheit beschreibt Simmel als „Unfähigkeit, auf neue Reize mit der ihnen angemessenen Energie zu reagieren“, die Welt erscheine „dem Blasierten in einer gleichmäßig matten und grauen Tönung“.59 Simmel verbindet diese Distanz mit Reserviertheit, Kälte, Gleichgültigkeit und mit Aggressivität, „eine[r] leise[n] Aversion, eine[r] gegenseitige[n] Fremdheit und Abstoßung, die in dem Augenblick einer irgendwie veranlassten nahen Berührung sogleich in Haß und Kampf ausschlagen würde.“60 Allerdings bedürfe es der Distanz, ohne die man „sich innerlich völlig atomisieren“
56 57
Vgl. Sommer: Coolness, S. 31. Vgl. Simmel, Georg (1903): Die Großstädte und das Geistesleben. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006; Lindner, Rolf: „Die Großstädte und das Geistesleben“. Hundert Jahre danach. In: Siebel, Walter (Hg.): Die europäische Stadt. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004, S. 169-178, hier S. 175.
58
Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben, S. 8.
59
Ebd., S. 20.
60
Ebd., S. 24.
58 I Z USCHAUER DES L EBENS
würde.61 Im Kontext der Distanznahme als Selbstschutz ist aus psychologischer Perspektive der Begriff der Abwehr wichtig. Abwehr zeigt den Versuch, sich vor seiner Lebenswelt, vor inneren und äußeren Konflikten zu schützen, die das Ich gefährden und die durch Abwehr auf Distanz gehalten werden.62 Abwehr kann von einer gesunden Anpassungsleistung zeugen, aber auch von einem konflikthaften Realitätsbezug oder gar von einer schweren Störung des Realitätsbezugs.63 Distanznahme als Strategie des Sich-Entziehens ist kennzeichnend für Haltungen, die in Bezug auf die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts unter den Stichworten Coolness und Indifferenz verhandelt werden. Annette Geiger beschreibt Coolness als emotionale Kälte, als eine „individuelle Verhaltensstrategie […], die die strenge Kontrolle der eigenen Affekte anstrebt. Man sucht Verletzlichkeit und Schwäche, aber auch Wut und Aggression zu verbergen und stattdessen Macht und Stärke sowie Ruhe und Gelassenheit zu demonstrieren“, eine Haltung, in der ein gewisser Heroismus mitschwingt.64 Sommer verbindet spätmoderne Coolness mit der „Wohlstandsgeneration der nach 1945 Geborenen“, der Coole habe „nichts, wofür sich ein wirkliches Engagement lohnt“, seine Distanz sei lediglich eine „schöne[] Pose“.65 Tom Holert versteht diese „Welt des Cool“ als „Gegenwelt zur Kultur der ‚Betroffenheit‘ und des ‚Gutmenschentums‘“.66 Die Sozialphilosophin Sophie Loidolt deutet postmoderne Indifferenz als „Form von Praxis […], mit der man sich sozial von anderen unterscheidet“ und deren „spielerische Leichtigkeit […] mit […] Faszination und Freude an ihrer neuen, kreativ-indifferenten Haltung verbunden“ sei.67 Geier, der Strategien der Distanznahme nachzeichnet, konstatiert mit den 1950er Jahren einen Wandel von der tiefen Gleichgültigkeit
61 62
Ebd., S. 23. Vgl. Ehlers, Wolfram: Abwehrmechanismen. In: Mertens, Wolfgang / Waldvogel, Bruno (Hg.): Handbuch psychoanalytischer Grundbegriffe. Stuttgart: Kohlhammer 2000, S. 12-24.
63 64
Vgl. ebd., S. 12. Geiger, Annette / Schröder, Gerald / Söll, Änne: Coolness – eine Kulturtechnik und ihr Forschungsfeld. Eine Einleitung. In: Dies. (Hg.): Coolness: Zur Ästhetik einer kulturellen Strategie und Attitüde. Bielefeld: transcript 2010, S. 7-16, hier S. 7, 8; vgl. Holert: Cool, S. 43, 46.
65
Sommer: Coolness, S. 43, 44.
66
Holtert: Cool, S. 45.
67
Loidolt, Sophie: Indifferenz. Räume des entmachteten Erscheinens. In: Liebsch, Burkhard / Hetzel, Andreas / Sepp, Hans Rainer (Hg.): Profile negativistischer Sozialphilosophie. Ein Kompendium. Berlin: Akademie Verlag 2011, S. 125-144, hier S. 129.
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der Moderne zu einer oberflächlichen Indifferenz der Postmoderne.68 Indifferenz herrsche auf dem Feld der Sexualität, der Religion, der Politik, der Wissenschaft. Mit Bezug auf Günter Anders legt Geier am Beispiel der Massenmedien dar, dass deren unendliche Addition des Gezeigten ohne Differenzen zu einem Neutralisierungseffekt führe und den Einzelnen als Zuschauer zu einem „isolierte[n] MassenEremit[en]“ mache, der kein Interesse aufbringe und doch auf neue Reize warte.69 Mit Baudrillard verweist Geier auf die Gefahr eines „Verlust[s] von Bindungen“ und auf „eine Gewalt der Indifferenz.“70 Als Motive dieser grund- und gegenstandlosen Gewalt nennt er den Versuch, Einzigartigkeit und Vitalität zu spüren oder eine „Herrschaft der puren Aktion über das gleichgültig und langweilig gewordene Leben zu gewinnen“, auf die zerstörerischste Art einen Bezug herzustellen.71 Den Schmerz des Anderen nehme diese Indifferenz nicht wahr, sie spüre kein Mitleid, keine Empathie.72 Geier verweist in seiner Analyse der postmodernen Indifferenz auch auf Peter Sloterdijk, der Distanz mit Zynismus verbindet.73 Die andere Facette des Distanzbegriffs, seine heteronom konnotierte Variante, beschreibt einen Mangel an Einbindung, eine Position des Ausgeschlossenseins und der Hilflosigkeit, eine umfassende Fremdheit und Bezugslosigkeit. Diese Distanz ist nicht Distanznahme, sondern erfahrene, erlittene Distanz. Sie markiert Verhältnisse, in denen ein hohes Maß an Passivität und Machtlosigkeit angesichts einer nicht zu bewältigen scheinenden Situation vorherrscht. Diese Erfahrung von Distanz ist verbunden mit der Sinnkrise, die sich im Verlauf der Moderne manifestiert und in Folge tiefgreifender gesellschaftlicher Veränderungen verschärft. Als absolute Verneinung vorgegebener Sinnhaftigkeit und moralischer Verbindlichkeit taucht der Begriff des Nihilismus Ende des 18. Jahrhunderts auf und wird im 19. Jahrhundert bestimmend für die Philosophie Friedrich Nietzsches. Die Distanz, die sich aus dem Verlust eines sinnhaften Bezugs zur Welt ergibt, lässt sich als Gefühl der Unverbundenheit, der Verlorenheit und Einsamkeit beschreiben. Dabei ist es nicht nur die Außenwelt, zu der das Subjekt in ein heteronomes Verhältnis der Distanz gerät. Das moderne Ich wird sich auch selbst fremd und unzugänglich – man denke an die Entdeckungen Darwins und Freuds. Heteronome Aspekte finden sich auch in dem zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelten sozi-
68
Vgl. Geier: Das Glück der Gleichgültigen, S. 216, 217, 218.
69
Ebd., S. 221.
70
Jean Baudrillard zitiert bei Geier: Das Glück der Gleichgültigen, S. 240.
71
Geier: Das Glück der Gleichgültigen, S. 241, 242.
72
Vgl. ebd., S. 242.
73
Vgl. ebd., S. 223.
60 I Z USCHAUER DES L EBENS
ologischen Distanzbegriff Georg Simmels. Er diagnostiziert eine „Wachstumsdifferenz“ zwischen dem Einzelnen und einer Gesellschaft, die in ihrer Sachlichkeit und Objektivität über das Subjekt hinauswachse und der „die geistige Entwicklung der Subjekte nur sehr unvollständig und in immer weiterem Abstand“ folgen könne.74 Die Begriffe Abstand, Differenz und Diskrepanz beschreiben eine Relation der Distanz, allerdings im Sinne von Fremdheit zwischen dem Einzelnen und seiner Lebenswelt, nicht im Sinne von Emanzipation. Ein solches Verständnis von Distanz klingt auch bei Norbert Elias an, wenn er in den 1950er Jahren die zwischenmenschliche Distanz in individualisierten Gesellschaften als ein Problem betrachtet, das er mit dem homo clausus assoziiert. Der homo clausus bezeichnet kritisch eine Vorstellung, nach der der einzelne Mensch sich abgetrennt von der äußeren Welt erlebt.75 Elias denkt dieses problematische Verhältnis der Distanz als Hindernis für die von ihm fokussierte Position der Distanz als Autonomie. Für die Gegenwart akzentuiert Loidolt den Aspekt der Heteronomie, wenn sie diagnostiziert, dass „Indifferenz aus Angst, Unsicherheit und Gefühlen des Scheiterns […] heute näher[liege, d. V.] als coole Gleichgültigkeit.“ In diesem Zusammenhang vertritt sie, dass „der postmoderne Diskurs über Indifferenz mittlerweile nicht mehr den Nerv der Zeit trifft“.76 Die Kategorie der Distanz verweist also sowohl auf Verhältnisse der Heteronomie als auch auf Haltungen der Autonomie. Dies gilt ebenso für das Antonym der Nähe, zu dem Distanz in einem grundsätzlichen Spannungsverhältnis steht. Der Begriff der Nähe referiert ebenfalls auf eine Relation, hier im Sinne einer geringen räumlichen oder zeitlichen Entfernung.77 Wie der Begriff der Distanz ist er anwendbar auf menschliche Selbst- und Weltverhältnisse, Positionen sowie
74 75
Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben, S. 39. Elias: Engagement und Distanzierung, S. 165, 166: „In solchen Gesellschaften werden Menschen durch ihre Erziehung dahin gebracht, sich selbst, vielleicht mehr als jemals zuvor, als Wesen zu erfahren, die voneinander durch sehr feste Mauern geschieden sind. Man kann kaum bezweifeln, daß dieses Bild seiner selbst als homo clausus die Lösung der Aufgabe, sich selbst aus größerer Distanz als Teil eines Beziehungsgeflechts zu sehen, das von vielen gebildet wird, und die Eigenart und Struktur dieses Geflechts zu untersuchen, in hohem Maße erschwert, wenn nicht unmöglich macht.“
76 77
Loidolt: Indifferenz, S. 129. Im Folgenden beziehe ich mich auf Grimm, Jacob / Grimm, Wilhelm: Art. Nähe. In: Dies.: Deutsches Wörterbuch. 6 Bände in 32 Teilbänden. Leipzig 1854-1961. OnlineVersion, o. S. URL: http://woerter buchnetz.de/DWB/?sigle=DWB&mode=Vernetzung&lemid=GN02278 [01.05.2013].
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Verhalten: Nähe bezeichnet Verbundenheit und Vertrautheit mit, eine enge, direkte Beziehung zu jemandem oder etwas. Jemand oder etwas können einem Subjekt nahe stehen. Ereignisse, die nahe gehen, berühren das Subjekt fundamental. Durch extreme Nähe kann das Subjekt erfasst, überwältigt und von der Auflösung bedroht werden. Eine Betrachtung von Nahem verspricht aufschlussreich zu sein. Man kann sich und Anderen näherkommen. Die Nähe kann in ihrer Steigerung den Anderen bedrohen, wenn das Subjekt ihm zu nahe tritt. So wie Distanz auf Nicht-Beteiligung verweist, indiziert Nähe als Gegenbegriff die Einbindung, die Teilnahme und Teilhabe einschließt beziehungsweise einfordert, Einlassung, Einfühlung und Verstehen, Versprechen, Verantwortung und Engagement.78 Das Eingebundensein umfasst die Verpflichtung und reicht bis zu Verstrickung und Fremdbestimmtheit. Wie in der Analyse des Distanzbegriffs bereits angeklungen ist, verbinden Forschungsansätze, die autonome Strategien der Distanz fokussieren, Einbindung mit Heteronomie, mit lähmenden Affekten, mit Verstrickung und Überwältigung. Zum Beispiel spricht Simmel von der drohenden Überwältigung des Einzelnen durch seine Lebenswelt, einem „Überwuchern der objektiven Kultur“, der „das Individuum weniger und weniger gewachsen“ sei, von einer „überwältigende[n] Fülle“ und von einem „Strome […], in dem es kaum noch eigener Schwimmbewegungen“ bedürfe.79 Für Elias ist Engagement Ergebnis von Affekten und Emotionen, die dem Einzelnen die Orientierung erschweren. In einer ähnlichen Akzentuierung bezeichnet der Begriff des blinden Aktionismus eine „spontane, draufgängerische Form“ des Engagements, die mit einem hohen Maß emotionaler Beteiligung einhergeht und der es an reflexiver Distanz mangelt.80 Nähe und Einbindung werden aber auch positiv konnotiert als Affizierbarkeit, Mitgefühl und Verbundenheit. In den Ästhetiken des Sturm und Drang und der Empfindsamkeit ist die Nähe zum intensiven individuellen Erleben Grundbedingung einer Kunst, die berühren soll – eine Position, die der Setzung einer gemäßigten Empfindung und Distanz als Voraussetzung des Schöpferischen entschieden widerspricht. Einbindung ist auch verknüpft mit autonomer Stärke und Tatkraft, mit Verantwortung und positiv konnotiertem Engagement. Sie verbindet sich im Subjektentwurf des späten 18. Jahrhunderts mit der Vorstellung von souveräner Gestaltung. Auf diesem Hintergrund wird Distanz zu einer „Charakterschwäche“, gekennzeichnet durch Teilnahmslosigkeit, Unempfindlichkeit, Uninteressiertheit
78
Vgl. Geier: Das Glück der Gleichgültigen, S. 239.
79
Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben, S. 39, 40, 41.
80
Vega, Rafael de la: Engagement. In: Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften. Hg. v. Hans Jörg Sandkühler. Band 2. Hamburg: Felix Meiner 1990, S. 696-697, hier S. 696.
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und Trägheit, die der Vorstellung eines seine Welt bestimmenden Subjekts widerspricht.81 Geier verweist auf eine historische Wende der Konnotation von Gleichgültigkeit in dieser Zeit: Wurde sie bis dahin „in einem positiven Sinn verwendet […], um Dinge und Sachverhalte gleichen Werts zu bezeichnen, erhielt der Begriff mit der Aufbruchstimmung des ‚Sturm und Drang‘ seine subjektive Wendung“ und seine negative Konnotation.82 Bei Jean-Paul Sartre verbindet sich der Begriff des Engagements mit dem Handeln des Einzelnen in einer konkreten existentiellen Situation, in der er ohne jede vorgegebene Orientierung Gebrauch von seiner absoluten Freiheit macht: „Totalement engagé et totalement libre.“83 In den 1970er Jahren ist Engagement ein zentraler Begriff als eine „Haltung oder Entscheidung eines Intellektuellen, Künstlers oder politisch interessierten Menschen, auf jede passive oder rein kontemplative Stellung gegenüber den sozialen und politischen, aber auch geistigen Ereignissen der Zeit zu verzichten, und sich voll und ganz in den Dienst einer Idee, eines Ziels oder eines Vorhabens zu stellen.“84
In diesem Sinne ist Engagement autonom konnotiert und hat eine sehr deutliche ethische, normative Komponente. Distanz und Nähe sind in einem Spannungsverhältnis verbunden und bleiben somit aufeinander bezogen. Für Georg Simmel, in dessen soziologischem Werk Distanz „zentrales Leitmotiv“85 ist, gehört der „Dualismus von Nähe und Ferne, dessen es doch für das einheitlich richtige Verhalten bedarf, […] gewissermaßen zu den Grundformen unsres Lebens mit seiner Problematik“.86 Simmel verbindet Distanz mit Objektivität, Souveränität und Autonomie, Nähe mit Kennen und Verstehen, an anderer Stelle auch mit Sympathie:
81
Geier: Das Glück der Gleichgültigen, S. 10.
82
Ebd.; vgl. S. 30, 31.
83
Sartre, Jean-Paul: Présentation. In: Les Temps Modernes 1 (1945), H. 1, S. 1-21, hier S. 19.
84 85
Vega: Engagement, S. 696. Lichtblau, Klaus: Das ‚Pathos der Distanz‘. Präliminarien zur Nietzsche-Rezeption bei Georg Simmel. In: Dahme, Heinz-Jürgen / Rammstedt, Otthein (Hg.): Georg Simmel und die Moderne. Neue Interpretationen und Materialien. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1984, S. 231-281, hier S. 231.
86
Simmel, Georg: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. 4. Aufl. Berlin: Duncker und Humblot 1958, S. 40, Fn.
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„Nur wo wir nahestehen, darinstehen, gleichstehen, haben wir die Kenntnis und das Verständnis; nur wo die Distanz die unmittelbare Berührung in jedem Sinn aufhebt, haben wir die Objektivität und den Überblick, die ebenso wie jene zum Urteilen nötig sind.“87
Soziologische und philosophische Entwürfe subjektiver Selbst- und Weltverhältnisse stehen zumeist im Zwischen von Distanz und Einbindung und zeigen Verknüpfungen zwischen diesen beiden Polen, die in Reinform unverfügbar sind. Dabei verbindet sich autonome Distanz häufig mit Einbindung im Sinne von souveräner Gestaltung und Aneignung, wobei die Hervorhebung der Schutzfunktion von Distanz in vielen theoretischen Ansätzen verdeutlicht, dass sie als Strategie gegen eine Einbindung der Verstrickung und Überwältigung dem Bereich der Heteronomie abgerungen werden muss. Heteronome Distanz als Bezugs- und Beziehungslosigkeit und Fremdheit wird zusammengedacht mit Einbindung im Sinne von Verstrickung und Bestimmtheit. Die Verknüpfungen von Distanz und Einbindung in ihren unterschiedlichen Akzentuierungen verweisen auf unterschiedliche Vorstellungen von Subjektivität. Im Kontext der neuzeitlichen Subjektphilosophie verbindet sich die Vorstellung von Autonomie mit einer Distanz der Unabhängigkeit und Selbstbestimmung und einer Einbindung souveräner Weltergreifung und -bestimmung. Ein solches „Subjekt, das sich in Frontstellung zu seiner Welt behaupten“ und diese zugleich bestimmen will, gerät im Zuge der kritischen Distanzierung von einer cartesianischen Neuzeit zunehmend in die Kritik.88 Eine Aneignung des Fremden, wie noch G. W. F. Hegel sie konzipiert, wird zunehmend in Frage gestellt. Soziale Hindernisse und Verflechtungen des Einzelnen mit den gesellschaftlichen Bedingungen werden immer deutlicher. Auf die innere Fremdheit und Undurchschaubarkeit des Subjekts macht die Psychoanalyse aufmerksam. Der Strukturalismus bindet das menschliche Denken und Handeln in eine symbolische Ordnung ein, die dem Bewusstsein nur bedingt zugänglich ist. Im 20. Jahrhundert wird das Subjekt von Denkern wie Michel Foucault, Gilles Deleuze und Jacques Derrida radikal angezweifelt. Die Postmoderne verweist es auf eine heteronome Position, in der sich Distanz als Fremdheit gegenüber sich und der Welt verknüpft mit einer Einbindung als Verstrickung in Machtstrukturen. Die Offenlegung dieser Verknüpfung heteronomer Distanz und Einbindung mündet bei
87
Ebd.
88
Meyer-Drawe: Art. Subjektivität, S. 307.
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Foucault in die Rede vom „Ende des Menschen“,89 die als „Tod des Subjekts“ populäres Zitat geworden ist.90 In das Spannungsgefüge von Distanz und Einbindung mit seinen Verknüpfungen und seinem Changieren zwischen Autonomie und Heteronomie lassen sich aktuelle philosophische Entwürfe einordnen, die primär mit anderen Begriffen arbeiten, in deren Explikation aber auf das Verhältnis von Distanz und Einbindung rekurrieren. Vor dem Hintergrund postmoderner Vorstellungen von Subjektivität ist es nicht überraschend, dass sie Selbst- und Weltverhältnisse eher im Bereich der Heteronomie verorten. Sophie Loidolt denkt passive Indifferenz als eine Situation der Verstrickung, die mit Distanz im Sinne nicht gelingender beziehungsweise nicht stattfindender Bezüge einhergeht. Sie entwirft Indifferenz als einen sozialen Raum, in dem der Einzelne ausgesetzt ist, ohnmächtig und „radikal vom Verschwinden gefährdet“.91 Diese Verstrickung und das bloße Funktionieren verbinden sich mit „Weltlosigkeit“ und „Erfahrungsschwund“,92 mit einer, hier zitiert Loidolt den Regisseur Michael Haneke, „Vergletscherung der Gefühle“.93 Die Erfahrung des Miteinanders geht verloren, indem „wir […] nur mehr stromlinienförmig, gleichsam in eine Blickrichtung hin, Seite an Seite ausgerichtet sind und nicht mehr die Welt und ihre Gegenstände von verschiedenen Orten und Perspektiven aus betrachten – sie auch nicht mehr beurteilen wollen oder können.“94
Loidolt stellt ausgehend von dieser Diagnose einen Bezug zu Zygmunt Baumans Analyse Flaneure, Spieler und Touristen (1997) her: Bauman sieht den sozialen Raum der Postmoderne durch eine „Distanz des Neben-Seins“ gegliedert, in der jedes Miteinander, jedes Von-Angesicht-zu-Angesicht, das verantwortliche Beziehungen erzeugen würde, vermieden werde – eine Distanz, die er als „politische
89
Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1971, S. 460.
90
Meyer-Drawe: Art. Subjektivität, S. 310; vgl. Ricken, Norbert: Art. Menschen – Zur Struktur anthropologischer Reflexion als einer unverzichtbaren kulturwissenschaftlichen Dimension. In: Jaeger, Friedrich / Liebsch, Burkhard (Hg.): Handbuch der Kulturwissenschaften. Band 1: Grundlagen und Schlüsselbegriffe. Stuttgart / Weimar: Metzler 2004, S. 152-172, hier S. 159.
91
Loidolt: Indifferenz, S. 127.
92
Loidolt bezieht sich hier auf Hannah Arendt (Indifferenz, S. 132).
93
Michael Haneke zitiert bei Loidolt: Indifferenz, S. 132.
94
Ebd., S. 141.
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und moralische Verkümmerung“ kritisiert.95 Im Gegensatz zur aktiven Indifferenz der Postmoderne, die Loidolt als Strategie der Distanznahme versteht, führt sie die passive Indifferenz nicht auf ein Subjekt zurück: Die Welt erscheint „von sich selbst her in dieser indifferenten, entmachteten, farblosen und unansprechenden Weise“ – Indifferenz ereignet sich im Ich oder „zwischen uns“.96 Alle stecken in diesem „Erscheinungsmodus der vollkommenen Kontingenz (von Welt, Selbst und Anderen)“.97 Dies führt nach Loidolt zur Stillegung des Affiziertseins, des Erleidens und der Leidenschaften, zu einem Gefühl der Sinnlosigkeit, wirkt radikal dissoziierend. Indifferenz in ihrer radikalsten Form versteht Loidolt als „keine soziale Beziehung, auch keine negative“, sie sei das „Ende alles Sozialen.“98 Als Symptom und Ausdruck der Verstrickung bei gleichzeitiger Bezugslosigkeit verweist sie auf psychische Erkrankungen wie die „Volkskrankheit“ Depression, die sie in Korrelation bringt mit den Strukturen der westlichen Gesellschaften.99 Um einen gestörten Bezug bei gleichzeitiger Einbindung geht es in Bernhard Waldenfels’ Phänomenologie der Erfahrung des Fremden, in der er Apathie, „die vom fremden Anspruch unberührt bleibt“ als „neutralisiertes Pathos, keine genuine Apathie“ versteht.100 Widerfahrnisse werden einer Auseinandersetzung und Stellungnahme entzogen, sie bleiben dahingestellt.101 Dennoch, so Waldenfels, ruft der Begriff der Apathie das Pathos auf, das, was uns „ohne unser eigenes Zutun zustößt und entgegenkommt“, in das der Einzelne eingebunden bleibt, auch wenn diese Relationalität durch Apathie verneint wird.102 Die Philosophin Rahel Jaeggi greift in ihrer Gegenwartsanalyse aus dem Jahr 2005 den Begriff der Entfremdung auf. Lange Zentralbegriff linker und auch konservativer Gesellschaftskritik, Motiv der Sozialphilosophie Karl Marx’ und prägend für den westlichen Marxismus und die Kritische Theorie, wirksam auch in verschiedenen Varianten existentialistisch inspirierter Zeitkritik, war dieser Begriff aus der wissenschaftlichen Literatur
95
Bauman zitiert bei Loidolt: Indifferenz, S. 141, Fn. 53. Loidolt weist auf Baumans Bezug zu Lévinas’ Denken der Subjektivität vom Anderen her hin.
96
Loidolt: Indifferenz, S. 127, 130.
97
Ebd., S. 136.
98
Ebd., S. 132.
99
Ebd., S. 130; vgl. ebd., S. 125.
100 Waldenfels, Bernhard: Bruchlinien der Erfahrung. Phänomenologie, Psychoanalyse, Phänomenotechnik. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002, S. 160. 101 Vgl. ebd., S. 152. 102 Ebd., S. 15.
66 I Z USCHAUER DES L EBENS
weitgehend verschwunden.103 Postmoderne Kritik an Objektivismus und Essentialismus hinsichtlich einer Wesensbestimmung des Menschen hat dazu geführt, dass mit dem Begriff der Entfremdung nicht mehr gearbeitet wurde. Jaeggi versucht, diesen Problemen zu begegnen mit dem Programm, den Begriff nicht-essentialistisch zu rekonstruieren und ihn wieder produktiv zu machen für eine kritische Analyse.104 Auch Andreas Oberprantacher wendet sich 2011 „dem Phänomen Entfremdung“ zu, um ihm „in theoriebildender Absicht Aktualität zu verleihen.“105 Er fokussiert den Aspekt der Distanz, wenn er als das Charakteristische der Entfremdungserfahrung den „unheimlichen Entzugscharakter, […] der Menschen in Distanzen hält“ beschreibt.106 In Jaeggis Rekonstruktion wird ein Ineinander von Distanz und Einbindung gegenüber sich, Anderen und der Lebenswelt erkennbar. Entfremdung bedeutet bei Jaeggi Teilnahmslosigkeit, Herauslösung aus der Welt, Unverbundenheit, Unzugänglichkeit und Fremdheit gegenüber sich, Anderen, der eigenen Lebenswelt.107 Sie benutzt für diese Distanz das Bild einer „Wand von Glas“ und beschreibt einen Blick, „der die eigene Verwicklung in die Welt transzendiert und einen so die Welt und das Leben ‚von außen‘ betrachten lässt“ – eine Situation, in der „man die ganze Welt als fremd und gleichgültig empfindet, den Bezug zur Welt verliert, seine ‚Fühler aus ihr zurückzieht‘.“108 Jaeggi definiert Entfremdung als „das Unvermögen, sich zu anderen Menschen, zu Dingen, zu gesellschaftlichen Institutionen und damit auch – so eine Grundintention des Entfremdungsmotivs – zu sich selbst in Beziehung zu setzen.“109 Eine
103 Vgl. Jaeggi, Rahel: Entfremdung. Zur Aktualität eines sozialphilosophischen Problems. Frankfurt am Main u.a.: Campus 2005, S. 11; Honneth, Axel: Vorwort. In: Jaeggi, Rahel: Entfremdung. Zur Aktualität eines sozialphilosophischen Problems. Frankfurt am Main u.a.: Campus 2005, S. 7-10, hier S. 7. 104 Vgl. Jaeggi: Entfremdung, S. 19. 105 Oberprantacher, Andreas: Entfremdung. Unheimliche Arbeit am Begriff. In: Liebsch, Burkhard / Hetzel, Andreas / Sepp, Hans Rainer (Hg.): Profile negativistischer Sozialphilosophie. Ein Kompendium. Berlin: Akademie Verlag 2011, S. 77-93, hier S. 79. 106 Oberprantacher: Entfremdung, S. 81. 107 Vgl. Jaeggi: Entfremdung, S. 40. 108 Ebd., S. 165, 161. Auch Hartmut Rosa, der den Begriff der Entfremdung ebenfalls wieder aufgreift, versteht Entfremdung als „Desintegration und Erosion unserer Weltbeziehungen“, als ein „‚Verstummen der Resonanzachsen zwischen Selbst und Welt“, die er auf Prozesse sozialer Beschleunigung zurückführt (Rosa, Hartmut: Beschleunigung und Entfremdung. Entwurf einer Kritischen Theorie spätmoderner Zeitlichkeit. Aus dem Engl. v. Robin Celikates. Berlin: Suhrkamp 2013, S. 141, 143). 109 Ebd., S. 20.
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entfremdete Beziehung ist für sie aber dennoch eine Beziehung, eine „Beziehung der Beziehungslosigkeit“, das heißt eine defizitäre Beziehung, deren Defizit Jaeggi in verschiedenen Formen der Störung von Aneignungsverhältnissen verortet.110 Entfremdung bedeutet so „eine Beeinträchtigung unseres Wollens […], die aus der Verunmöglichung der Aneignung, des Sich-zu-eigen-Machens des eigenen Selbsts oder der Welt resultiert.“111 Kennzeichnend für den Begriff der Entfremdung ist, dass er nicht nur eine distanzierte, verarmte Beziehung zu sich und zur Welt erfasst, vielmehr sei gerade die „Pointe[]“ des Begriffs, dass er diese mit Unfreiheit verbinde.112 Entfremdung bedeutet also auch eine Verstrickung, ohne deshalb „in gängigen Beschreibungen von Unfreiheit und Heteronomie“ aufzugehen.113 Der Begriff der Entfremdung thematisiert gleichzeitig Einbindung und Distanz, Verstrickung und Bezugslosigkeit – in ihm verschränken sich beide Probleme, „die ‚Verkehrung von Macht in Ohnmacht‘ und der Verlust sinnhaft-identifikatorischer Verwicklung in die Welt“.114 So bezeichnet Entfremdung bei Jaeggi ein kompliziertes Ineinander von Distanz und Einbindung im Bereich der Heteronomie. Ihr Gegenentwurf besteht in einem ebenfalls nicht-essentialistisch konzeptualisierten Aneignungsbegriff: Der „Anspruch gelingender Welt- und Selbstaneignung bestünde dann nämlich darin, sich die Welt zu Eigen zu machen, ohne dass sie einem immer schon zu Eigen wäre, und sie und das eigene Leben gestalten zu wollen, ohne dabei von totaler Verfügungsmacht auszugehen.“115 Jaeggis Ausweg aus einer Situation der Entfremdung, in der sich Distanz als Bezugs- und Beziehungslosigkeit mit Einbindung als Verstrickung verknüpft, denkt Bezugs- und Beziehungslosigkeit, Verstrickung und Perspektiven der Aneignung zusammen. Damit verbindet sich die Verknüpfung von Distanz und Einbindung im Bereich der Heteronomie mit einem Aspekt autonomerer Einbindung – eine Verbindung, die das Spektrum der Verknüpfungen im Spannungsfeld von Distanz und Einbindung zwischen Autonomie und Heteronomie produktiv erweitert.
110 Ebd., S. 20; vgl. S. 23, 19. 111 Ebd., S. 16; vgl. Honneth: Vorwort. In: Jaeggi: Entfremdung, S. 10. 112 Jaeggi: Entfremdung, S. 41; vgl. S. 23. 113 Ebd., S. 40. 114 Ebd., S. 41. 115 Ebd., S. 57.
Distanz ohne Ausweg: Judith Hermann und Christian Kracht
„E IN OFFENES E NDE ? F ÜR IMMER ?“ – S ELBST - UND W ELTVERHÄLTNISSE ZWISCHEN R ATLOSIGKEIT UND S EHNSUCHT IN J UDITH H ERMANNS S OMMERHAUS , SPÄTER (1998) UND N ICHTS ALS G ESPENSTER (2003) Leben auf Standby Judith Hermanns Erzählbände umschreiben einen weiten geographischen Raum. Immer wieder ausgehend von oder bezogen auf Berlin führen sie ihre Figuren an unterschiedliche Orte Europas und der Welt. Die Titelerzählung des ersten Erzählbands Sommerhaus, später spielt im Berliner Umland, wo eine Künstler-Clique ihre Zeit totschlägt. Stein, ein Taxifahrer, der am Rande zu der Gruppe gehört, bietet der Ich-Erzählerin ein gemeinsames Leben in einem Sommerhaus auf dem Land an. In Camera Obscura interessiert sich Marie für einen Berliner Künstler, mit dem sie anbandelt, ohne dass sie wüsste, woher ihr Interesse rührt. Bali-Frau erzählt aus der Perspektive einer jungen Protagonistin von der gemeinsamen Party-Nacht mit Christiane und Markus, in der sie die Ehefrau eines Regisseurs kennenlernen, den Christiane verführen will. Auf einer Karibik-Insel spielt Hurrican (Something Farewell): Nora und Christine sind zu Besuch bei Noras Exfreund Kaspar, ein Urlaub, in dem Christine mit dem Inselbewohner und Familienvater Cat flirtet. In der Titelerzählung des zweiten Bandes Nichts als Gespenster verbringt das Berliner Paar Ellen und Felix während einer Amerikareise eine Nacht in Austin, Nevada, wo sie einer Gespensterjägerin und dem jungen Amerikaner Buddy begegnen. Zuhälter führt die Ich-Erzählerin nach Karlovy Vary in der Tschechischen Republik, wo sie ihren Exfreund, den Maler Johannes, besucht. Die Freundin von Ruth steht im Zentrum der Erzählung Ruth (Freundinnen). Sie
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reist von Berlin in die Provinz und lernt dort Ruths neuen Geliebten kennen, mit dem sie später eine Nacht verbringt. In Kaltblau bekommen die Isländer Jonina und Magnus Besuch von Magnus’ Bekannter aus Berlin Irene und deren Freund Jonas, mit denen sie gemeinsame Tage in einem Wochenendhaus außerhalb der Stadt verbringen. Der Beziehungsalltag zwischen einer Ich-Erzählerin und Jacob wird in Wohin des Wegs überlagert durch die Erinnerung der Frau an einen Silvesteraufenthalt in Prag. Die Liebe zu Ari Oskarsson erzählt aus der Perspektive einer Berliner Musikerin von ihrer Reise mit dem Bandkollegen Owen zu einem Festival in Tromsø, Norwegen, das aber ausfällt. Obwohl Hermann ihre Erzählungen geographisch präzise an verschiedenen internationalen Schauplätzen verortet, obwohl in allen Erzählungen Kontakte und Beziehungen im Zentrum stehen, herrscht eine eigentümliche Distanz – sowohl zwischen den Protagonisten als auch zwischen ihnen und ihren Lebenswelten. Es finden keine neuen Erfahrungen statt, es werden keine Bezüge hergestellt oder Wurzeln geschlagen, es ereignen sich keine prägenden Begegnungen. Distanz kennzeichnet sogar das Selbstverhältnis. Die Protagonistinnen und Protagonisten in Judith Hermanns Erzählungen schweben unbeteiligt, ratlos, „unverankert“ durch ihre Leben.1 Die eigene Wahrnehmung, das Handeln wie Erleiden bleiben ihnen undurchschaubar und fremd. Die Ich-Erzählerin in Sommerhaus, später befindet sich „in einem seltsamen Schwebezustand“.2 Zu ihrem Erleben konstatiert sie eine Distanz: „Ich verstand nichts. Sehr fern verstand ich doch etwas, aber es war noch viel zu weit weg.“3 Eine andere Erzählerin spürt ihrer Stimmung nach, ohne sie fassen zu können: „Der Winter erinnert mich manchmal an etwas. An eine Stimmung, die ich einmal hatte, an eine Lust, die ich empfand? Ich weiß es nicht genau.“4 Über den Blick einer unbeteiligten Dritten sucht die Erzählerin in Wohin des Wegs den Zugang zu sich: „Ich sah, was sie sah – ein Auto mit offenen Türen, einen Mann, wartend, eine Frau, die Frau steigt auf der Beifahrerseite ein, er steigt auch ein, die Türen schlagen zu, er gibt Gas, sie fahren los, das Auto entfernt sich, ist schnell nicht mehr zu sehen. Letztendlich ist das der einzige Moment gewesen, in dem ich mich und Jacob gefühlt habe – in diesem Blick einer Tankwartin an einer heruntergekommenen Tankstelle an der Landstraße.“5
1
Hermann: Nichts als Gespenster, S. 265.
2
Hermann: Sommerhaus, später, S. 141.
3
Ebd., S. 151; vgl. S. 46.
4
Ebd., S. 97.
5
Hermann: Nichts als Gespenster, S. 267.
D ISTANZ
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Nur aus der Beobachterrolle kann die junge Frau sich und ihren Freund als Paar empfinden, aus einer Position heraus, aus der sie kaum etwas erfährt, dem eigenen Erleben und Fühlen fern und fremd bleibt.6 Gefühle stellen keine Nähe des Erlebens her, ermöglichen keine Orientierung, sie sind kein Antrieb und erscheinen zumeist in negierter Form. Vorherrschend ist der Eindruck von Mattigkeit und Erschöpfung.7 So scheint „das unglückliche Verliebtsein […] einfach ein Zustand zu sein“: „[I]ch litt auch nicht wirklich.“8 Ein Protagonist beschreibt sich als „müde und in einem seltsamen Zustand der Emotionslosigkeit.“9 Die Lakonie der Sprache, die parataktische Syntax und die zahlreichen konjunktivischen Konstruktionen unterstreichen den Eindruck der Mattigkeit, die auch das Verhältnis der Figuren zu Anderen prägt.10 Beziehungen wirken oberflächlich und beliebig: „Falk küsste Anna, und Anna küsste mich, und ich küsste Christiane.“11 Meist sehen die Figuren aneinander wie an sich selbst vorbei.12 Distanz erscheint geradezu als Voraussetzung von Freundschaft: „In Karlovy Vary war ich ihm nichts, und er war mir auch nichts, also waren wir endlich Freunde“.13 Obwohl Markus für die Ich-Erzählerin in Bali-Frau kaum Bedeutung hat, betrachtet sie ihn – mit distanziertem Erstaunen – im Konjunktiv, in ihrer Vorstellung, als Freund: „[I]ch mochte ihn, hätte ich je von ihm gesprochen, ich hätte tatsächlich gesagt: ‚Ein Freund‘.“ Diesen „Freund“, über den sie nie spricht, obschon sie dreimal die Woche zusammen ausgehen, hat die Erzählerin noch nie am Tag gesehen, sie weiß nicht, ob sie „mehr über ihn wissen“ will, ob sie einander ernst nehmen und worüber sie sprechen sollen. Unverständnis und Kommunikationslosigkeit werden unterstrichen, wenn Markus während der Party verloren und hilflos wirkend, „bekokst und besoffen“, in ein Megaphon brüllt, die Erzählerin aber „nicht ein Wort verstehen“ kann.14 Christiane, die den Besuch der Theaterparty vorgeschlagen hat, um einen Regisseur zu treffen, in den sie sich „verliebt“ hat, sagt explizit, sie wolle mit dem Mann „überhaupt nicht sprechen.“15 Auch die Kommunikation zwischen
6
Vgl. Stuhr: Kult der Sinnlosigkeit, S. 43.
7
Vgl. Hermann: Sommerhaus, später, S. 151, 239, 312, 52.
8
Ebd., S. 235.
9
Ebd., S. 63.
10
Vgl. Blamberger: Poetik der Unentschiedenheit, S. 196; Borgstedt: Wunschwelten, S. 214; Kocher: Die Leere und die Angst, S. 60.
11
Hermann: Sommerhaus, später, S. 155.
12
Vgl. Hermann: Nichts als Gespenster, S. 241, 247, 239.
13
Ebd., S. 158.
14
Hermann: Sommerhaus, später, S. 104.
15
Ebd., S. 99.
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ihr, der Erzählerin und Markus besteht nur aus kurzen, knappen Sätzen. So wenig die Figuren sich in ihren Beziehungen verwurzeln, so wenig verwurzeln sie sich in ihren Lebenswelten. Ein Leben in der Leere formuliert die Ich-Erzählerin in Rote Korallen: „[D]aß da nämlich gar nichts ist? nur die Müdigkeit und die leeren, stillen Tage, ein Leben wie das der Fische unter Wasser“.16 Familiäre Bindungen oder finanzielle Beschränkungen spielen keine Rolle. Auch ihre freien künstlerischen Tätigkeiten binden sie nicht an einen Ort. Ironische Distanz prägt das Verhältnis zu den Ergebnissen ihrer Arbeit, eine Musikerin bezeichnet ihre „CD voller Liebeslieder“ als „albern“.17 Der Maler Johannes zieht es vor, in fremden Wohnungen zu leben.18 Stein, der als Taxifahrer zwar einer geregelten Tätigkeit nachgeht, „hatte nie eine eigene Wohnung besessen, er zog mit diesen Tüten durch die Stadt und schlief mal hier und mal da, und wenn er nichts fand, schlief er in seinem Taxi.“19 Als Metapher ungebundenen Unterwegsseins steht das Reisen im Zentrum von Hermanns zweitem Erzählband Nichts als Gespenster. Die Figuren reisen nach Paris, nach Island, Venedig, nach Prag und Karlovy Vary in der Tschechischen Republik, nach Austin, Nevada, in den USA und Tromsø in Norwegen. Mit der globalen Mobilität geht eine völlige Indifferenz gegenüber den Reiseländern und ihren Bewohnern einher. Die Reisen der Protagonisten führen „irgendwohin“.20 Eine Erzählerin stellt diese Gleichgültigkeit explizit aus: „Es spielte keine Rolle, daß wir in Prag waren. Wir hätten auch in Moskau oder Zagreb oder Kairo sein können.“21 „[D]as Draußen war ohne Bedeutung“, heißt es in Die Liebe zu Ari Oskarsson.22 Anke S. Biendarra konstatiert, die Figuren „scarcely engage with the surrounding world and experience little that is worthy of narration.“23 Zwölf Jahre haben die Isländer Jonina und Magnus in Wien beziehungsweise in Berlin gelebt, ohne dass diese Zeit Spuren hinterlassen hätte, es Anknüpfungspunkte gäbe: „[S]ie sprechen darüber wie über etwas, das eben lange vorbei ist. Sie reden nie Deutsch miteinander, auch nicht zum Vergnügen. Sie probieren es noch nicht einmal aus. Ein anderer Magnus und eine andere Jonina.“24 Auf die Frage, was Magnus Jonina zeigen würde, um ihr sein Berliner Leben näherzubringen, weiß
16
Ebd., S. 26.
17
Hermann: Nichts als Gespenster, S. 273, 274.
18
Vgl. ebd., S. 153, 154.
19
Hermann: Sommerhaus, später, S. 141.
20
Hermann: Nichts als Gespenster, S. 275.
21
Ebd., S. 252.
22
Ebd., S. 283.
23
Biendarra: Globalization, Travel, and Identity, S. 236.
24
Hermann: Nichts als Gespenster, S. 65.
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dieser keine Antwort. Seine Berliner Freundin schlägt schließlich eine Kneipe vor, die überall sein könnte, ein Vorschlag, der jegliche Art von spezifischer Erfahrung verneint: „‚Das Kumpelnest‘, sagt Irene, ‚wir müßten mit Jonina morgens um fünf vor dem Kumpelnest an der Pohlstraße Ecke Potsdamer stehen und sagen, und hier haben wir immer stockbetrunken ein Taxi angehalten. Das wäre das einzige, was wir ihr zeigen könnten, und es würde sogar noch stimmen. […]‘“25
Ebenso negiert Ellen, die sich an ihre Fahrt von der Ost- an die Westküste Amerikas und zurück „nicht mehr richtig […] erinnern“ kann, eine über das Faktum hinausreichende Bedeutung der Reise: Sie „weiß es, aber es gibt darüber nichts zu sagen.“26 Persönliche Erfahrungen oder gar Veränderungen durch das Reisen werden in Aqua Alta explizit als unmöglich erklärt: „[A]lles erscheint mir sinnlos, die Ferne, die Fremde, die Kontinente nicht anders als jeder Blick aus meinem Fenster, vier Wochen in einem unbekannten Land, wozu, denke ich, was soll da anders sein und was soll es mir nützen, unsinnigerweise ist mir, als hätte ich alles schon gesehen.“27
Die mehr oder weniger exotischen Orte bilden lediglich einen Hintergrund für das private Erleben – eher Nicht-Erleben – der Protagonisten „without ever becoming substantial for their experience.“28 Ellen vertritt gegenüber dem Amerikaner Buddy dieses Leben unterwegs als üblich und trägt die ungebundene, schwebende Ziellosigkeit als Berliner Lebensgefühl vor: „‚Es ist nicht ungewöhnlich‘, sagte Ellen. ‚Viele Leute leben so. Sie reisen und sehen sich die Welt an, und dann kommen sie zurück und arbeiten, und wenn sie genug Geld verdient haben, fahren sie wieder los, woanders hin. Die meisten. Die meisten Leute leben so.‘ Sie erzählte von Berlin und von dem Leben in Berlin, sie versuchte, es zu beschreiben, die Tage und die Nächte, ihr kam alles etwas verwirrend vor, durcheinander und ziellos, ‚Wir machen dies und wir machen jenes.‘“29
25
Ebd., S. 103.
26
Ebd., S. 195.
27
Ebd., S. 134, 135.
28
Biendarra: Globalization, Travel, and Identity, S. 238.
29
Hermann: Nichts als Gespenster, S. 221.
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Programmatisch singt die Band in Die Liebe zu Ari Oskarsson: „Ich fahr nach Paris und ich fahr nach Tokio, nach Lissabon, Bern, Antwerpen und Rom, ich fahr um die Welt.“30 Dabei wird die Verlorenheit des Unterwegsseins in den Lebensstil einbezogen: „Ich hatte das Gefühl, daß die Leute uns anstarrten […]. Sahen wir verloren aus? Ich fühlte mich wohl mit Peter in diesem Speisewagen“.31 Die Protagonisten machen keine Anstalten, dieses Leben zu verändern. Sie entwickeln keine Ziele und treffen keine Entscheidungen, die in eine bestimmte Richtung weisen würden. Sie lassen das Leben passieren, unter Suspension jeglicher Festlegung. Damit verweigern sie sich einer aktiven Situationsbestimmung, der Möglichkeit, „eine Wurzel“ zu schlagen in ihrem Leben.32 Peter hat sich „das klare Wort ‚Ja‘ […] schon lange abgewöhnt.“33 Marie wirft mit ihrer Feststellung, sie „will was von dem Künstler. Was sie von ihm will, weiß sie nicht“, zwar die zentrale Frage auf, belässt es aber bei ihrer Unwissenheit und überlässt sich dem Geschehen der Anbahnung einer Affäre.34 Ellen, die Protagonistin der Titelerzählung Nichts als Gespenster, konstatiert, sie sei „in den entscheidenden Momenten ihres Lebens immer so etwas wie bewußtlos gewesen.“35 Den Versuch, „in alledem irgendeine Art von Glück oder Bewußtsein oder Bedeutung zu finden“, gibt sie schnell auf: „[…] und dann verlor sie den Faden und dachte über etwas anderes nach.“36 Die Musikerin zieht sich während ihres Norwegenaufenthalts in ihr Zimmer zurück: „Ich hatte das Gefühl, als habe der Zufall mich in dieses Zimmer gespült, damit ich etwas herausfinden sollte über mich, darüber, wie es weitergehen sollte mit mir und mit allem, ein langes Innehalten vor etwas scheinbar Großem, von dem ich nicht wußte, was es sein sollte.“ Ihre tagelange Selbstbespiegelung – „Ich ging manchmal die kurze Hauptstraße von Tromsø hinauf und hinunter und betrachtete meine Gestalt in den Spiegelscheiben der Schaufenster“37 – mündet nicht in ein gesteigertes Verständnis ihrer selbst, sondern in die Akzeptanz ihrer Ratlosigkeit: „Ich war nur ratlos mir selbst gegenüber und in dieser Ratlosigkeit auf eine unbekannte Art zufrieden.“38 Uta Stuhr kommentiert diese Er-
30
Ebd., S. 247.
31
Ebd., S. 240.
32
Ebd., S. 216.
33
Ebd., S. 236.
34
Hermann: Sommerhaus, später, S. 157.
35
Hermann: Nichts als Gespenster, S. 231.
36
Ebd., S. 216.
37
Ebd., S. 284.
38
Ebd., S. 289.
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kenntnis als „bemerkenswert bequem“: „Gibt man sich mit der Ratlosigkeit zufrieden und akzeptiert gewissermaßen erleichtert die eigenen Unfähigkeit, den Dingen auf den Grund zu gehen, braucht man auch nicht mehr weiterzudenken.“39 So werden Reflexion und Entscheidung immer wieder vertagt, das ratlose Schweben wird zum Modus des Lebens, die Zuschauerposition zur Möglichkeit, einer Auseinandersetzung mit sich und der eigenen Lebenswelt auszuweichen. Die Erzählerin in Wohin des Wegs hat am Jahresende den Eindruck von „Zeit genug noch, nachzudenken, was das für ein Jahr gewesen war und wie das nächste werden würde, Zeit genug überhaupt“.40 In Nichts als Gespenster stellt Ellen zwar fest, es gebe „erstaunlich wenig Zeit“, aber auch der Mangel an Zeit hält „von der Hingabe“ ab, garantiert die Distanz und das Aussetzen jeder Art von Verbindlichkeit und Einbindung, was mit Erleichterung konstatiert wird.41 In Karlovy Vary erinnert sich die Erzählerin an ein Geschenk, das Johannes ihr gemacht hat: „Der Ring war so symbolisch gemeint, wie er aussah, und ich hatte ihn angenommen. Was ist das gewesen? Eine Hochzeit? Ein Versprechen? Ich nahm den Ring und verschwand, ich hatte zu tun und konnte mich um gar nichts kümmern.“42 Sie, die die Ambivalenz ihres Verhaltens schon in der Vergangenheit weder reflektiert noch aufgelöst hat, entzieht sich selbst in der Erinnerung einer gedanklichen Klärung. Allerdings geht es nicht nur darum, sich auf bequeme Weise mit der eigenen Ratlosigkeit zufrieden zu geben, wie Uta Stuhr es in ihrer Analyse deutet. Aufschub und Aussetzen jeder Art von Klärung und Entscheidung sind zwar Strategien der Vermeidung, dienen aber in erster Linie dazu, alle Optionen offenzuhalten. Noch am Tag der Rückgabe des Rings plant die Besitzerin Johannes vor ihrem Verschwinden „ein letztes Rätsel“ aufzugeben und ihn so weiter unverbindlich an sich zu binden.43 In Sommerhaus, später bleibt die Erzählerin passive Zuschauerin von Steins Lebensentwurf. Auf Postkarten schreibt dieser ihr täglich Nachrichten aus seiner neuen Bleibe: „Stein schrieb oft …wenn du kommst. Er schrieb nicht: ‚Komm.‘ Ich beschloss, auf das ‚Komm‘ zu warten, und dann loszufahren.“44 Steins Entwurf wird so auch für sie zu einem möglichen Leben, einer Option, die sie sich offenhält, ohne sich verbindlich dafür oder dagegen zu entscheiden. Selbst nachdem sie die Nachricht erhalten hat, das Haus sei abgebrannt, behält sie ihre
39
Stuhr: Kult der Sinnlosigkeit, S. 46.
40
Hermann: Nichts als Gespenster, S. 241.
41
Ebd., S. 226.
42
Ebd., S. 175.
43
Ebd., S. 176.
44
Hermann: Sommerhaus, später, S. 155.
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passiv-aufschiebende Haltung bei, legt den Brief in die Schublade, bezeichnenderweise im „hintere[n] Zimmer“ und denkt: „Später“,45 unfähig, „dieses Ende“ auch für ihren Lebensentwurf anzuerkennen.46 Christine versucht, die Entscheidung, ob sie auf der Karibikinsel bleiben oder abreisen will, dem drohenden Hurrikan zu überlassen.47 Vor dem Mann, mit dem sie flirtet, den sie küsst, flieht sie, als er bekennt, er möge sie: „Christine lacht sehr plötzlich, sagt: ‚Ja, ich weiß‘, windet ihr Handgelenk aus seiner Hand und läuft ins Haus.“48 Dennoch verspricht sie ihm ihre Rückkehr. Zwar postuliert Christine hinsichtlich der Wahl des Lebensortes, man müsse sich entscheiden, anschließend aber „dreht [sie, d. V.] sich um und läuft die Wiese hinunter.“49 Sie entzieht sich damit ihrer eigenen Setzung in dem Versuch, Entscheidungen aufzuschieben und Optionen unverbindlich offenzuhalten. Das Gefühl der unendlichen Offenheit des Lebens korrespondiert mit einer andauernden Adoleszenz, die eine Figur an ihrem 30. Geburtstag zu überwinden beginnt, wenn sie davon spricht, „in das Erwachsenensein“ zu gehen.50 In diesem Schwebezustand, in dem die Figuren trotz ihrer Beziehungen bindungslos und unverbindlich durch ihr Leben gleiten, lässt sich die Hoffnung erkennen, irgendwann möge sich eine Entscheidung herauskristallisieren, eine Situation zwingend werden. Eine Erzählerin formuliert im inneren Zwiegespräch mit ihrem Exfreund das unverbundene Nebeneinander ihres Wartens: „Du wartest. Du kennst sie nicht, diese Person, aber du weißt, sie wird kommen, und darauf wartest du, du sitzt und […] wartest. Ich warte auch.“51 Auch in Norwegen liegt die Erzählerin tagelang in ihrem Zimmer in der Erwartung, „daß die Tür aufginge und irgend jemand hereinkäme“.52 Veränderungen sind aber in keiner Erzählung in Sicht.53 So bleibt es beim Schweben in Ratlosigkeit, wenn „Lukas […] auf das [wartete, d. V.], was da kommen würde, Peter […] auf überhaupt nichts mehr [wartete, d. V.], und ich […] mich noch nicht entschieden [hatte, d. V.].“54 Rückzug, Suspension und Erwartung verleihen den Leben der Protagonisten die Form eines Dauer-
45
Ebd., S. 156.
46
Rink: Nichts als Gespenster, S. 119.
47
Vgl. Hermann: Sommerhaus, später, S. 51.
48
Ebd., S. 42.
49
Ebd., S. 39.
50
Hermann: Nichts als Gespenster, S. 126.
51
Hermann: Sommerhaus, später, S. 108.
52
Hermann: Nichts als Gespenster, S. 294.
53
Vgl. ebd., S. 95.
54
Ebd., S. 241.
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Standby. Ellen fasst dieses schwebende Leben zwischen Ratlosigkeit und Vermeidung zusammen – bezeichnenderweise nicht in einer Feststellung, sondern in einer Frage: „Ein offenes Ende? Für immer?“55 Verfangen im Mini-Kosmos Die ratlose Distanz der Protagonisten wird in Hermanns Erzählungen kontextualisiert durch die Einbindung der Figuren in konkrete Lebenswelten der Gegenwart. Hermann entwirft ein Ineinander von Figur und Struktur, eine Interdependenz zwischen den Protagonisten und ihren Lebenswelten, die von Gleichförmigkeit, Erstarrung und Indifferenz gekennzeichnet sind, in denen die Figuren verfangen bleiben und die sie zugleich aufrechterhalten. Diese Lebenswelten erscheinen als uniform, globalisiert und westlich geprägt. Vor allem im zweiten Band, Nichts als Gespenster, sind die Orte „marred by the influence of Western capitalization and homogeneity.“56 Sprachliche oder andere Spezifika gibt es nicht. Das Hotel in der Wüste Nevada heißt „Hotel International“.57 Im Norden Norwegens gibt es wie überall „große Supermärkte, mehrere Hot-dog-Buden und ein McDonald’s, das Hotelzimmer kennt die Erzählerin schon „aus billigen Hotels in New York“.58 Mit dieser globalen Uniformität korrespondiert die „global mobility“ der Figuren, die sich durch die Welt bewegen und den homogenen Mini-Kosmos einer westlichwohlhabenden, kreativen, jungen Berliner Szene doch nie zu verlassen scheinen.59 Dementsprechend gibt es kaum Bezüge auf Lebenswelten jenseits dieses globalisierten Kosmos. Wenn andere Lebenswelten anklingen, bleiben sie fern, fremd oder werden auf Distanz gehalten. Während eine Erzählerin in Venedig im Café sitzt, registriert sie beiläufig frierende Schwarzafrikaner an ihren Verkaufsständen.60 „Kriegsgeräusche, Fliegeralarm“ hört die Erzählerin in Bali-Frau doppelt vermittelt durch Fernseher und Telefon, vermutend, dass ihr Freund den Film „nicht wirklich“ sieht – Krieg gibt es nur in der Fiktion, die zudem ohne Zuschauer abläuft.61 Die aus Bali stammende Ehefrau des Regisseurs und der Inselbewohner Cat unterscheiden sich in ihrer traditionell und familiär gebundenen Lebensform
55
Ebd., S. 221.
56
Biendarra: Globalization, Travel, and Identity, S. 235.
57
Hermann: Nichts als Gespenster, S. 197.
58
Ebd., S. 278, 280.
59
Biendarra: Globalization, Travel, and Identity, S. 237.
60
Vgl. Hermann: Nichts als Gespenster, S. 143.
61
Hermann: Sommerhaus, später, S. 98, 99.
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grundlegend von den unbeteiligten Zuschauern, werden aber schon durch ihre Namen auf das Exotisch-Fremde festgelegt und auf Distanz gehalten.62 Kaspars Hinweis an die Touristin Christine, dass Cat sie möge, weil sie „eine white lady“ sei, dass es nicht um sie, sondern um ihre Hautfarbe gehe – eine Aussage, die auf die „postkolonialen Machtverhältnisse von gender und race in Jamaica am Ende des 20. Jahrhunderts“ verweist – wird abgetan.63 Die Erzählerin in Rote Korallen fühlt sich gebunden an die Geschichte ihrer Urgroßmutter, die 1905 vor der russischen Revolution nach Deutschland geflohen ist.64 Inge Stephan weist darauf hin, dass Hermann in diese Erzählung die politische Historie des 20. Jahrhunderts eingearbeitet hat, der Holocaust als Subtext unter der erzählten Geschichte liegt.65 Die Protagonistin erlebt diese Historie als bedrückende Einengung, die sie daran hindert, ihr eigenes Leben zu führen: „[I]ch interessiere mich ausschließlich für mich selbst, […] ich wollte sagen, ich habe zu viele Geschichten in mir, die machen mir das Leben schwer.“66 Sie hofft, durch das Erzählen aus den alten Geschichten „hinaus, und fortgehen zu können.“67 Am Ende zerreißt das Korallenarmband, das die historische und familiäre Bindung symbolisiert, und sie wirft in einer Geste der Abwehr die Korallen auf ihren Therapeuten: „Die roten Korallen prasselten auf seinen Schreibtisch, und mit ihnen prasselte ganz Petersburg, die große und die kleine Newa, die Urgroßmutter, Isaak Baruw und Nikolaij Sergewitsch, die Großmutter im Weidenkorb und der Geliebte der Fisch […]. Das Wasser der Weltmeere wogte in einer großen grünen Welle […] und schwemmte die Geschichten mit sich fort, die Stille und die Korallen.“68
Soziale Probleme der Gegenwart werden auf Distanz gehalten, wenn die Erzählerin auf ihrer Fahrt nach Karlovy Vary den langen Straßenstrich, der sie verwirrt, schnell wieder ausblendet: „Ich fuhr geradeaus und geradeaus, noch einmal ein letztes, großes Mädchen in einem seidenen Nachthemd und mit roten hochgesteckten Haaren am Straßenrand, und dann nichts mehr. Nur Ebenen und sanfte
62
Vgl. ebd., S. 53, 103, 109.
63
Ebd., S. 43; Borgstedt: Wunschwelten, S. 213.
64
Vgl. Hermann: Sommerhaus, später, S. 18, 20.
65
Vgl. Stephan: Undine an der Newa und am Suzhou River, S. 553, 554.
66
Hermann: Sommerhaus, später, S. 26.
67
Ebd., S. 24.
68
Ebd., S. 28.
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Hügel und Lichter in der Ferne.“69 In Prag besuchen die Protagonisten einen „Vietnamesenmarkt“ auf einem „schlammige[n] Parkplatz, auf dem windige Buden im Dreck versanken“ in einem „Labyrinth aus Plastikplanen und Holzgerüsten, über einen Kessel gebeugt eine uralte Frau mit einem Turban auf dem Kopf, Hunde die an Mülltüten rissen, überhaupt kein Licht mehr, riesige Pfützen“.70 Soziale Konflikte, wie die Armut in Ost-Europa, deuten sich ebenso an wie historische Gründe, die Leiharbeit innerhalb der Länder des Warschauer Pakts, werden aber durch die Figuren nicht thematisiert.71 Die mutwillige Aggression der Berliner Clique unterstreicht ihre Abwehr: Micha zündet Silvesterraketen, er „schleuderte Böller in die Luft und schrie, die Vietnamesen duckten sich und liefen um die Ecken“, die Reisenden laufen davon.72 Auch im Berliner Umland, wo die junge Bohème in Sommerhaus, später auf Datscha-Besitzer, Bürger der ehemaligen DDR, trifft, mündet die Abgrenzung in ein betont distanziertes Nebeneinander, in Provokation und Aggression: „Arbeiter hatten da gelebt, Kleinbauern, Hobbygärtner, die uns haßten und die wir haßten. Den Einheimischen gingen wir aus dem Weg. […] Wir klauten ihnen das ‚Unter-uns-Sein‘ […], wie wir da umhergingen im Easy-Rider-Schritt, die abgebrannten Jointstummel in die Blumenrabatten ihrer Vorgärten schnippten, uns anstießen, echauffiert.“73
Über Entmietungen in der Folge der Wiedervereinigung reflektiert Stein am Beispiel der Vorbesitzer seines Sommerhauses. Sein Verständnis für deren Wut darüber, dass der alte Eigentümer sie vor die Tür gesetzt habe, und die Überlegung, er hätte sie dort wohnen lassen, weist die Erzählerin ab: „Ich sagte verständnislos: ‚Die sind doch ekelhaft.‘“74 Im Bleiben des Kindes aber, das die Erzählerin als blass und kümmerlich beschreibt, lassen sich Ansätze des Beharrens dieser anderen Lebenswelten erkennen. Die Erzählerin glaubt wiederholt, das Kind zu sehen, sie fühlt sich beobachtet und Stein schreibt ihr später aus seinem Haus, das Kind sei immer da.75 Die Konfrontation mit den Kindern der Bali-Frau löst bei den Protagonisten ein „Gefühl der Scham“ aus, das sich ebenfalls nicht abweisen lässt.76
69
Hermann: Nichts als Gespenster, S. 157.
70
Ebd., S. 254, 255, 256, 257.
71
Vgl. Biendarra: Globalization, Travel, and Identity, S. 239, 240.
72
Hermann: Nichts als Gespenster, S. 256.
73
Hermann: Sommerhaus, später, S. 143.
74
Ebd., S. 147.
75
Vgl. ebd., S. 146, 152, 153, 155.
76
Ebd., S. 109.
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Ein Gefühl der Unsicherheit vertreibt Ruths Freundin aus Paris, nachdem ein Schwarzafrikaner sie mit „würdevoll[em] und verächtlich[em]“ Blick um Geld gebeten hat, „als müsse ich eigentlich für etwas ganz anderes bezahlen.“77 Die Forschung hat Hermanns Erzählungen zum Vorwurf gemacht, sie seien gänzlich apolitisch. So spricht Ganeva von „Hermann’s conscious avoidance of any engagement with recent history and politics“ und ihrer „apolitical posture of disengagement“.78 Auch Stuhrs Kritik zielt auf diesen Aspekt: „Die soziale, politische und gesellschaftliche Wirklichkeit wird aus dieser Sphäre konsequent ausgeschlossen.“79 Dieser Vorwurf übersieht aber, dass Hermann eben diesen geschlossenen westlich-kapitalistischen, uniformen Mini-Kosmos als eine Konstruktion zeigt, die durch die Interdependenz von Struktur und Figur geprägt ist. So lassen sich die Erzählungen als „bewußte Vorführung“ lesen, die „den zeitdiagnostischen Gehalt von Judith Hermanns Prosa als meta-history“ ausmacht.80 Die, wenn auch sparsamen, Referenzen auf andere Lebenswelten jenseits der Berliner Szene, auf Historie, Politik und auf soziale Probleme der Gegenwart werden konfrontiert mit den Reaktionen der Figuren auf diese Lebenswelten, mit ihren Versuchen der Distanzierung, der Abschottung in ihrem überschaubaren Kosmos. In dieser Vorführung zeigt sich, dass die Figuren die Homogenität und Sicherheit ihrer Lebenswelt zu bewahren suchen unter Abwehr all dessen, was jenseits dieses Kosmos existiert. Spürbar wird aber, dass dieses Andere persistent bleibt, dass Ausblenden und Abwehr vergeblich sind und in eine Defensive führen, die sich der komplexen, globalisierten Lebenswelt der Gegenwart nicht stellt. Im Versuch der Figuren, sich auf die Position abwehrender Distanz zurückzuziehen, deutet sich eine Verunsicherung an, die, ohne ernsthaft problematisch zu werden, doch auf die Verhaftung in größeren globalen und sozialen Zusammenhängen verweist. Der Kosmos, in dem die Figuren sich bewegen, wirkt wie erstarrt in Abbildern und Wiederholungen. Die Orte, die die Protagonisten bereisen, werden von ihnen nicht als authentische Realität wahrgenommen, sondern als vorgefertigte und vorgegebene Bilder. So stellt Ellen auf ihrer Reise fest, dass Amerika ausgelöscht sei durch mediale Entwürfe: „Amerika war ein Amerika der Kinofilme, der Psychopathen und Serienkiller, der grauenhaftesten Bruchstücke aus Stephen-King-Romanen, Amerika existierte nicht, nicht wirklich.“81 Die Erinnerung an ihren Aufenthalt in Karlovy Vary begegnet der Ich-Erzählerin – unvermeidlich – auf „einer
77
Hermann: Nichts als Gespenster, S. 35.
78
Ganeva: Female Flâneurs, S. 265, 271; anders: Nobile: A Ring of Keys, S. 289.
79
Stuhr: Kult der Sinnlosigkeit, S. 38.
80
Blamberger: Poetik der Unentschiedenheit, S. 205.
81
Hermann: Nichts als Gespenster, S. 205.
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Packung Oblaten“, „Karlsbader Oblaten“.82 Das Inselleben, über das Nora und Christine bei ihrem ersten Besuch in der Karibik staunen, setzt sich zusammen aus Versatzstücken der Werbung, was das „Glas Rum mit Cola“ und der Verweis auf Harry Belafontes Schlager „Jamaica fare well“ unterstreichen.83 Vorgefertigte Bilder prägen auch das Erscheinen und Verhalten der Figuren in ihren Lebenswelten. Authentizität jenseits dieser Bilder ist nicht zu haben. Die Partygäste in Norwegen sehen exakt so aus, wie die Erzählerin sich „norwegische Partygäste vorgestellt hätte, warm angezogen, angetrunken und mit erhitzten Gesichtern.“84 Marie übt sich in Posen verführerischer Weiblichkeit: „Manchmal legt sie den Kopf in den Nacken und versucht, perlend zu lachen.“85 Auch der Abschied eines Paares wird zu einer theatralischen Demonstration: „Sie stellte sich am Rand des Parkhausdaches in Positur, legte den Kopf in den Nacken und reckte ihre langen, schönen Arme grazil in den Himmel. Als ein Flugzeug dicht über uns hinwegflog, stellte sie sich auf die Zehenspitzen, so daß es schien, als könne sie sich an den ausgefahrenen Rädern festhalten und mit ihm davonfliegen. Ich flüsterte ‚Was soll das?‘, und Owen sagte dramatisch: ‚Abschied, Mann. Das ist der Abschied, so sieht er aus. Ich soll sie nicht vergessen, darum geht’s.‘“86
Liebesgeständnisse sind Phrasen, die aus dem Nichts kommen und zu nichts führen, Zitate, die auf nichts verweisen: Owen sagt in Norwegen zu einer fremden Frau „I love you“, „[n]ur so aus Spaß“, die Ich-Erzählerin hat den Eindruck, dass Ari Oskarsson bei seiner Liebeserklärung „leer war, gleichmütig und unbewegt […]. Er hatte sich nicht dabei vorgebeugt, und sein Gesicht hatte keinen anderen Ausdruck angenommen, er hatte es einfach gesagt, I love you“.87 In Wohin des Wegs folgt den Erklärungen der Protagonisten, miteinander leben und alt werden zu wollen, der nüchterne Satz: „[D]ann dreht er sich um und geht, es ist das Beste, was er tun kann.“88 Der Eindruck einer in Klischees und Phrasen erstarrten Lebenswelt wird unterstrichen durch die fast immer herrschende Kälte, meist ist es Winter.89 Selbst in der Karibik verweisen die Namen der Inseldörfer „Stony und
82
Ebd., S. 163.
83
Hermann: Sommerhaus, später, S. 48, 45.
84
Hermann: Nichts als Gespenster, S. 291.
85
Hermann: Sommerhaus, später, S. 159.
86
Hermann: Nichts als Gespenster, S. 275.
87
Ebd., S. 316, 317.
88
Ebd., S. 251.
89
Vgl. ebd., S. 119, 233, 277; vgl. Sommerhaus, später, S. 137, 144, 157.
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Snow Hill“ auf Erstarrung und Kälte ebenso wie die isländische Redewendung, die Jonina in Kaltblau verwendet: „Das ist eine eiskalte Tatsache, ein kaltblaues Fakt.“90 Diese Kälte bestimmt auch die Figuren. Jonina beschreibt ihren schlafenden Freund Magnus, dessen Kälte einhergeht mit ihrem Gefühl der Fremdheit: „Sie kann nur manchmal sehen, daß sein Gesicht eigentlich kalt ist […]. Es ist die Kälte eines Fremden, die Kälte von jemandem, mit dem sie auch hunderttausend Jahre verbringen könnte, sie würde ihn doch niemals kennen.“91 In Bali-Frau heißt es über die Mitbewohnerin der Erzählerin: „[S]ie sah so winterlich aus, so kühl, so kalt, ihr Mund frostig und schmal. […], ihre Augen waren eisblau.“92 Ines Koreck weist auf die „Konjunktur“ der Kälte-Metapher am Ende der 1990er Jahre hin: „In Filmen wie Der Eissturm oder Fräulein Smillas Gespür für Schnee (nach dem Roman von Peter Hoeg), die beide 1997 in die Kinos kamen, wurde der Einbruch von Schnee und Eis zum Sinnbild für die Kälte in der Gesellschaft. Die Kälte in der Natur ließ anschaulich werden, was kaum greifbar in den Beziehungen der Menschen zueinander durchschien.“93
In den wenigen Erzählungen Hermanns, in denen es nicht kalt ist, herrscht „glühende[] Hitze“, ist es „unerträglich heiß“.94 Wie die Kälte lähmt auch diese Hitze die Protagonisten. Ein Gefühl von Stillstand bewirkt sie für Ellen und Felix in der Wüste Nevada: „[…] immer dieses gleißende, sengende Licht. Ellen zweifelte zwischendurch daran, daß sie tatsächlich fuhren, in Bewegung waren, überhaupt vorwärtskamen.“95 Die Insel, die Christine und Nora besuchen, liegt „im Tiefdruckgebiet der tropischen Depression.“96 Das Bedrückende und Lastende ihrer Lebenswelt wird mit den monotonen Wiederholungen der Touristinnen hervorge-
90
Hermann: Sommerhaus, später, S. 31; Hermann: Nichts als Gespenster, S. 81.
91
Ebd., S. 86.
92
Hermann: Sommerhaus, später, S. 105, 106.
93
Koreck, Ines: Eine ‚Generation, die lustvoll erzählt‘? Zuschreibungen von Seiten der Literaturkritik zum Schreiben der ‚Fräuleinwunder‘-Autorinnen. In: Nagelschmidt, Ilse / Müller-Dannhausen, Lea / Feldbacher, Sandy (Hg.): Zwischen Inszenierung und Botschaft. Zur Literatur deutschsprachiger Autorinnen ab Ende des 20. Jahrhunderts. Berlin: Frank & Timme 2006, S. 59-72, hier S. 68. In diesem Zusammenhang ist auch auf Peter Stamms Roman Ungefähre Landschaft zu verweisen (2001).
94
Hermann: Nichts als Gespenster, S. 32, 35.
95
Ebd., S. 196.
96
Hermann: Sommerhaus, später, S. 31.
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hoben: Sie „sprechen das andächtig vor sich hin – ‚Tropische Depression, tropische…‘“.97 Den Figuren scheint in diesen Lebenswelten nur eine Haltung müden Bedauerns zu bleiben. Erschöpft zeigen sie sich angesichts des Eindrucks einer Wiederholung des immer Gleichen. Marie findet es schade, „daß man die Dinge immer nur einmal zum ersten Mal sieht.“98 Die Posen, die Christiane jedes Mal einnimmt, um einen Mann zu erobern, machen die Ich-Erzählerin müde.99 Eine andere konstatiert, es mache sie „müde“, in Beziehungen stets neu anfangen zu müssen, „immer und immer wieder die alten Geschichten zu erzählen“.100 Dennoch erzählt sie die alten Geschichten immer wieder, so wie auch die Anderen sich in die Wiederholungen fügen. Versuche, Klischees und Phrasen auszuweichen, münden in die Negation. In Norwegen vermeidet die Musikerin Gespräche, die sie als konventionell empfindet: „Sein Deutsch war so fehlerfrei, daß ich nicht die geringste Lust hatte, ihn zu fragen, wo er das gelernt hatte.“101 Schon vor einer Annäherung beschließt sie, sollte sie „jemals die Gelegenheit bekommen, diese Tätowierung zu berühren, [sie, d. V.] ihn niemals nach ihrer Geschichte fragen würde. Niemals.“102 In Prag entscheiden die Protagonisten, keinesfalls die Altstadt zu besuchen, die Verweigerung eines touristischen Programms, die durch wiederholte Negationen unterstrichen wird: „Wir würden nicht über die Karlsbrücke in die Josephstadt hineingehen, nicht über den Wenzelsplatz laufen, nicht den Hradschin besichtigen, wir würden nicht im Café Slavia sitzen und heiße Schokolade mit Schlagsahne trinken und auf die Moldau sehen, wir würden nicht an Kafkas Grab stehen und nicht mit der Seilbahn auf den Berg fahren, es wäre lächerlich gewesen, das zu tun.“103
Diese Verweigerungen führen nicht zu Gegenentwürfen, weder zu gelingenden Dialogen noch zu einer neuen Annäherung an die Stadt. Kommunikation findet überwiegend nicht statt. Die Pragreisenden verbringen ihre Zeit an Nicht-Orten, auf einem schlammigen Parkplatz oder betrunken und verloren in der HochhausWohnung des Gastgebers. Bewusste Gegenentwürfe der Figuren zu ihren Lebens-
97
Ebd., S. 31, 32.
98
Ebd., S. 165.
99
Vgl. ebd., S. 101.
100 Hermann: Nichts als Gespenster, S. 234. 101 Ebd., S. 292. 102 Ebd., S. 301. 103 Ebd., S. 252; vgl. S. 253, 254.
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welten münden wiederum in Klischees. Solche Bilder entwerfen die Karibik-Touristinnen vom archaischen Inselleben mit Mann und Kind: „Sich-so-ein-Lebenvorstellen“ heißt das Spiel, in dem Christine und Nora dieses Leben ausmalen und zugleich ironisch überzeichnen – darauf deuten der Nachsatz „und alles – ist gut“ sowie ihr Lachen.104 Das distanzierte Hantieren mit Klischees wirkt hier wie die Akzeptanz einer erstarrten Bilder- und Vorstellungswelt, die eigene Entwürfe und Erfahrungen apriori unmöglich erscheinen lässt. Weder Verweigerung noch Fluchtphantasien verweisen auf Positionen der Distanz im Sinne eines Mehr an Autonomie. Die Figuren bleiben verfangen in der Erstarrung ihrer Lebenswelten, in ihrer Kälte, Klischeehaftigkeit und ihren leeren Wiederholungen, die sich durch ihr Verhalten weiter zementieren. Die Indifferenz der Lebenswelten, weiteres Merkmal der Interdependenz von Struktur und Figur in Hermanns Erzählungen, zeigt sich in der Relativität aller Lebensoptionen ebenso wie in dem Dauer-Standby der Figuren, mit dem sie versuchen, allen Entscheidungen auszuweichen. Insofern es in der Pluralität postmoderner Lebenswelten den einen Weg nicht gibt, scheinen alle Möglichkeiten offenzustehen und verlieren zugleich an Bedeutung. Unsicher antwortet Kaspar auf die Frage, warum er in der Karibik lebe: „Ich schätze, weil ich hier glücklich bin. Glücklicher als anderswo, meine ich.“105 Von Steins Angebot, mit ihm zu leben, ist die Erzählerin überfordert, kann die Möglichkeit weder be- noch ergreifen: „‚Stein, kannst du mir was sagen, bitte? Kannst du mir vielleicht irgend etwas erklären?‘ Stein schnickte seine Zigarette in den Schnee, sah mich nicht an, sagte: ‚Was soll ich dir denn sagen. Das hier ist eine Möglichkeit von vielen. Du kannst sie wahrnehmen, oder du kannst es bleiben lassen. Ich kann sie wahrnehmen, oder abbrechen und woanders hingehen. Wir können sie zusammen wahrnehmen oder so tun, als hätten wir uns nie gekannt. Spielt keine Rolle. Ich wollt’s dir nur zeigen, das ist alles.‘“106
Steins Antwort stellt alle Handlungsoptionen als gleichwertig nebeneinander. Auch ihm selbst gelingt es nicht, seinen Wunsch nach einem Zusammenleben mit der Erzählerin positiv zu formulieren und ihm damit Gewicht zu verleihen. Die Menge der offenstehenden Möglichkeiten übt auch auf Felix eine lähmende Wirkung aus: Es konnte „verheerend“ sein, „mit Felix über Utopien zu sprechen, über
104 Hermann: Sommerhaus, später, S. 31, 50; vgl. Hermann: Nichts als Gespenster, S. 274. 105 Hermann: Sommerhaus, später, S. 38. 106 Ebd., S. 152.
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bloße Möglichkeiten. Jegliches ‚Wie wär’s‘ und ‚Du könntest‘ ließ Felix schlagartig erlahmen und depressiv werden.“107 Die „Blasiertheit“, die Georg Simmel um 1900 als Mattigkeit angesichts der Komplexität der explodierenden Großstädte analysiert, zeigt sich im Kontext der Pluralität postmoderner, globalisierter Welten in verschärfter Form.108 „Das Wesen der Blasiertheit ist die Abstumpfung gegen die Unterschiede der Dinge, nicht in dem Sinne, daß sie nicht wahrgenommen würden, wie von dem Stumpfsinnigen, sondern so, daß die Bedeutung und der Wert der Unterschiede der Dinge und damit der Dinge selbst als nichtig empfunden wird.“109
Diese Nichtigkeit von Differenz in der Wahrnehmung kommt in der Partyszenerie der Erzählung Bali-Frau zum Ausdruck. Zugleich zeigt sich auf exemplarische Weise die Lebenswelt in ihrer indifferenten Brutalität: „Auf dem Stern in der Mitte der Tanzfläche hockte ein Mädchen und schlug immerzu den Kopf auf den Boden, ihre Stirn war blutig, und sie weinte und redete wirres Zeug. Das Buffet war leer. Auf dem roten großen Sofa vögelte eine Schauspielerin mit einem Bühnenarbeiter, der Bühnenarbeiter schwitzte und auf dem Rücken seines T-Shirts, an dem die Schauspielerin wie verzweifelt riß, war Mike Tyson abgebildet, der Holyfield ins Ohr biß. […] Es schneite noch immer und irgend jemand warf Gläser an die Wand, zwei unwirkliche Krüppel in Rollstühlen fuhren über die Tanzfläche und verschwanden hinter den Säulen. Die Schauspielerin zog sich den Rock runter, stolperte auf die kleine Bühne und sagte: ‚Für Baby‘ in ein übersteuertes Mikrofon hinein, sie sagte: ‚Für Baby, für Baby‘, dann fiel sie hin.“110
Das unverbundene Nebeneinander aufstörender Bilder, in deren parataktischer Aneinanderreihung sich das Erschrecken auflöst und nichts Bedeutung gewinnt, legt einen Verweis auf den „Raum der Indifferenz“ nahe, den Sophie Loidolt in ihrer Gegenwartsdiagnose identifiziert: „So lebt man in einem Raum der unendlich vielen und der immer lauter werdenden Beschallung, die einen zwangsläufig
107 Hermann: Nichts als Gespenster, S. 222. 108 Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben, S. 20. Den Bezug zu Georg Simmel stellt auch Blamberger her (Poetik der Unentschiedenheit, S. 202, 203). 109 Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben, S. 20. 110 Hermann: Sommerhaus, später, S. 105.
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immer tauber macht.“111 Hermanns Ich-Erzählerin schließt angesichts der bezugslosen Gleichzeitigkeit dieser vielfältigen, massiven, teils exhibitionistischen Ausdrücke individueller Verlorenheit und Verzweiflung die Augen. Dem durch Alkohol und Drogen betäubten Markus, der während der Party verloren herumtaumelnd durch ein Megaphon brüllt, gehen die Leute aus dem Weg.112 Das Wegsehen und Ausweichen der Figuren korrespondiert direkt mit der Indifferenz ihrer Lebenswelt. Auf die Inhumanität dieser Lebenswelt verweist in besonderer Schärfe der Versuch der Frau aus Bali, sich ihrer neuen Heimat über deren „viele Witze“ zu nähern, die sie alle gelernt habe.113 Ihre monotone Aufzählung von „fünfzig Blondinenwitze[n]“ wirkt umso beklemmender, als sie weder deren frauenverachtenden Sexismus noch den Bezug zu ihrer eigenen Situation wahrnimmt. „Sie sah uns an, als erwarte sie von uns eine Erklärung, eine Erläuterung dieses Witzes, sie sah fürchterlich ernst aus, und ihre Augen waren weit aufgerissen.“114 In ihrem erschrockenen Blick spiegeln sich mit der Ratlosigkeit, dem Nicht-Verstehen zugleich das eigene Ausgesetztsein und die Unterworfenheit in der indifferenten Brutalität ihrer deutschen Lebenswelt. Die Reaktionen der Figuren wirken hilflos: „Ich starrte sie an […], ich verstand sie irgendwann überhaupt nicht mehr […] und irgendwann bemerkte ich, daß Christiane – wie lange schon? – weinte.“115 In der Hilflosigkeit, Verunsicherung und Lähmung wirkt die Distanz der Figuren heteronomer, als ihre unbeteiligte Zuschauerposition zunächst vermuten lässt. Ihre Gesten der Verweigerung, die die Erstarrung ihrer Lebenswelt verschärfen, und ihre Versuche der Ausblendung und Abwehr, die vor den Kontexten, in denen sie situiert sind, zu versagen scheinen, widersprechen dem Eindruck einer unbeteiligten Distanz, mit der die Protagonisten sich in ihren Kosmos des schwebenden Wohllebens und der unendlichen Optionalität zurückziehen könnten. Im Zugleich ihrer Versuche, eine unabhängige Position der Distanz zu behaupten, ihrem Verfangensein in der Erstarrung ihrer Lebenswelt und ihrer heteronom geprägten Distanz deutet sich die Problematisierung der Zuschauerposition als einer Beziehung im defizienten Modus an, die Hermann durch die Inszenierung der Beziehungen ihrer Protagonisten unterstreicht.
111 Loidolt: Indifferenz, S. 125, 143. 112 Vgl. Hermann: Sommerhaus, später, S. 104. 113 Ebd., S. 111. 114 Ebd. 115 Ebd., S. 112.
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Verloren zwischen Mangel und Sehnsucht Der Eindruck eines affirmativ vorgetragenen Lebensgefühls unbeteiligter Distanz, auf den die Forschung Judith Hermann oft festlegt, wird auch dadurch in Frage gestellt, dass die distanzierte Zuschauerposition der Protagonisten durchgängig von Traurigkeit, Enttäuschung, Ungenügen, Depression überlagert ist, von einem steten Unwohlsein. Sommerhaus, später stellt Hermann mit dem Songzitat Tom Waits ein Motto voran, das den Erzählungen Gefühle der Traurigkeit und Bedrückung einschreibt: „The doctor says, I’ll be alright but I’m feelin blue“. Diese Traurigkeit äußert sich verhalten, in Bali-Frau beschreibt sich die Erzählerin: „[I]ch war nicht enttäuscht und nicht beleidigt, ich war ein wenig traurig, ja, vielleicht.“116 Eine andere lernt in Prag ein einziges tschechisches Wort: „[S]mutna, und smutna heißt traurig.“117 Die Traurigkeit der Figuren wird in mehreren Erzählungen in den Kontext von Dekadenzphänomenen um 1900 und damit in den Zusammenhang von Ermattung, Überfeinerung und dem Verfall einer Gesellschaft gestellt. In Norwegen liest die Erzählerin, tagelang matt auf ihrem Bett liegend, Thomas Mann und Hugo von Hofmannsthal.118 Eine dekadente Überfeinerung deutet sich an, wenn Christine ihre Empfindlichkeit angesichts der Fußsohlen des Inselbewohners Cat zum Ausdruck bringt: „Eine Fußsohle wie Cat möchte ich haben, denkt sie, wie eine Schale, und kein Schritt tut mehr weh.“119 In Sommerhaus, später verstehen sich die Erzählerin und ihre Bekannten als Bohèmefiguren mit einem „spitzfindigen, neurasthenischen, abgefuckten Blick.“120 Der Nachtclub in Karlovy Vary, dessen Name „Belle Etage“ den Luxus der Gründerzeit aufruft, liegt in einem Parkhaus, dient dem Verdienst der russischen Mafia und wird mit Alkoholexzessen, Prostitution und alten, dickleibigen Gästen als Hort dekadenten Verfalls gezeigt.121 Auf die Problematisierung ratloser Distanz verweisen auch die diffusen Gefühle von Enttäuschung, Ungenügen und Depression. Die Lebensvollzüge der Protagonisten lösen nie ein, was die Vorstellung erhofft hat, eine Enttäuschung, die den Zugang zu Anderen verhindert. Bei ihrem Wiedersehen mit dem Geliebten ihrer Freundin Ruth ist die Erzählerin, die unentwegt an ihn gedacht hat, „an jemanden, den ich nicht kannte, aber den ich mir vorstellen wollte, immer und immer wieder“, auf den sie sich während der Zugfahrt so gefreut hat, dass sie „in
116 Ebd., S. 99. 117 Hermann: Nichts als Gespenster, S. 238, 268. 118 Vgl. ebd., S. 283. 119 Hermann: Sommerhaus, später, S. 51. 120 Ebd., S. 143. 121 Hermann: Nichts als Gespenster, S. 186-190.
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diesen sechs Stunden […] glücklich“ war, völlig ernüchtert und weiß „sofort und mit auswegloser Sicherheit, daß ich mich getäuscht hatte.“122 Das Herz einer anderen stolpert in der Erinnerung an ihr aufgeregtes Warten auf den Mann, der jetzt ihr Partner ist und über den es lakonisch heißt: „[E]r ist schon da.“123 Der Eindruck dieser Problematik verschärft sich angesichts der emotionalen Verletztheit zahlreicher Protagonisten und ihres Gefühls des Ungenügens. In Norwegen, fern ihres Berliner Lebens, erkennt die Erzählerin, dass die letzten Jahre, ohne dass sie dies gemerkt hatte, „schrecklich“ waren, in Prag sitzen die Protagonisten „so da, verletzt“.124 Peter bedauert gegenüber seiner Freundin den Verlauf ihres Aufenthalts: „‚Das tut mir leid. Ich hätte dir sagen sollen, wie es sein wird‘, er sah mich nicht an.“125 Markus Werner sagt angesichts der Kälte des Umgangs „viel zu leise: ‚Muß das so sein.‘“126 Die Erzählerin sieht überall Defizite: „[I]ch dachte, daß immer irgend etwas nicht genug war, auch diesmal würde irgend etwas nicht genug sein, ich dachte an dich, an die Eisblumen, an den Rauchgeruch, ich dachte, auch wir sind nicht genug.“127 Die müde Distanz der Figuren wird auch in Zusammenhang gebracht mit der Krankheit der Depression. In Camera obscura singt Polly Jane Harvey „Is that all there is?“, ein Lied, das Marie als „Depressionsmusik“ bezeichnet.128 Der exzessive Drogenkonsum der Protagonisten, der ihnen aber nicht bekommt, lässt sich in diesem Zusammenhang der Depression und Traurigkeit lesen und wird zudem in den Kontext der Überforderung gestellt. „Du kokst zuviel“, sagt die Erzählerin in Bali-Frau zu ihrem Bekannten und ihr Exfreund teilt ihr mit, er habe „die falschen Drogen genommen, […] müde und gereizt“.129 Andere Protagonisten rauchen „eine übelkeitserregende Zigarette“.130 Eine Erzählerin trinkt drei Gin Tonic „auf einmal […], ich hatte das Gefühl, der Situation nüchtern nicht standhalten zu können.“131 In der distanzierten Zuschauerposition der
122 Ebd., S. 34, 45, 46. 123 Ebd., S. 264. 124 Ebd., S. 303, 250. 125 Ebd., S. 254. 126 Hermann: Sommerhaus, später, S. 106. 127 Ebd., S. 100, 101. 128 Ebd., S. 162. Wiederholt wird bei Hermann von Figuren gesprochen, die depressiv vor sich hinstarren. Tacke / Weyand bezeichnen die Depression als „die Krankheit der spätkapitalistischen Gesellschaft schlechthin“ (Einleitung, S. 15, Fn. 35). Loidolt spricht von der „‚Volkskrankheit‘ der Depression“ (Indifferenz, S. 130). 129 Hermann: Sommerhaus, später, S. 100, 98. 130 Hermann: Nichts als Gespenster, S. 231. 131 Ebd., S. 188.
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Figuren, in ihrer matten, dekadenten Traurigkeit, ihrer Enttäuschung, Verletzung, Depression, ihrem Gefühl des Ungenügens wird eine Problematik erkennbar, die sich im Kontext der Beziehungen und Bezüge der Protagonisten zueinander und zu den Lebenswelten konkretisiert. Im Misslingen dieser Relationen manifestiert sich die Unmöglichkeit gelingender Zugänge, eine umfassenden Bezugs- und Beziehungslosigkeit als heteronome Distanz. Eine Geisterjägerin, die Gespenster im verfallenden Hotel International photographiert, nimmt mit dem letzten Foto die orientierungslos Reisenden Ellen und Felix auf, deren Bild sich somit „auf einem Film voller Geister“ wiederfindet.132 Die Beschreibung der Geister als Wesen, die „aus ihren Zufluchten und Nischen gerissen und aufgeschreckt“ wurden und die „in ihrer Heimatlosigkeit“ des Beistands bedürfen, trifft auch auf die Figuren Hermanns zu, die als fremde, verlorene Geisterwesen identifiziert werden.133 Ihre Bedürftigkeit nach Zuwendung und Verbundenheit verleiht ihrer Distanz den Charakter eines Mangels an gelingenderer Relationalität. Markus’ Filmprojekt über sich und seine Partyfreunde fokussiert die soziale Bezugslosigkeit: „Ein Film darüber, daß gar nichts ist, daß es nichts mehr gibt, nichts zwischen uns und nichts um uns herum, nur so eine Nacht mit dir und mir und Christiane.“134 Zwar wehrt das abfällige Lachen der Erzählerin diese Analyse ab und doch erscheinen die gemeinsamen Partys und die kalten Nächte auf leeren Straßen zusätzlich defizitär durch die Erinnerungen an ihre letzte Beziehung, die als Gegenbilder in die Erzählung eingefügt werden, an Momente des Verbundenseins und die Sehnsucht danach.135 Die distanzierte Kommunikationslosigkeit zwischen der Erzählerin und Johannes ist auch in Karlovy Vary Ursache schmerzhafter Kränkung, das Projekt der jungen Frau, sich „die Empfindlichkeit“ abzugewöhnen, verleiht dem Mangel eine konkretere Gestalt.136 Kaspar wünscht sich ein Mehr an Auseinandersetzung, versucht eine Verbindung zu seiner Exfreundin Nora herzustellen und leidet unter deren Unverbindlichkeit: „Er sagt ‚Weißt du noch‘, er sagt ‚wir‘ und ‚wir damals in der Stadt‘, so komische Worte, Christine zieht die Augenbrauen spöttisch hoch
132 Ebd., S. 230. 133 Ebd., S. 211; ebd., S. 264, 187: Miroslav in Wohin des Wegs „sah aus wie ein altes Gespenst.“ Die Prostituierten in Zuhälter „trugen weiße Kleider, die im Schwarzlicht gespenstisch aufleuchteten“. Die Erzählerin in Zuhälter fühlt sich wie in einem Geisterbahnabteil. Vgl. Blamberger: Poetik der Unentschiedenheit, S. 187; Rink: Nichts als Gespenster, S. 125. 134 Hermann: Sommerhaus, später, S. 104. 135 Vgl. ebd., S. 99, 102, 107, 110. 136 Hermann: Nichts als Gespenster, S. 155, 170.
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und Nora schaut weg.“137 Kaspar fühlt sich „beleidigt, allein gelassen“.138 Ellen konstatiert wiederholt, sie liebe Felix „schrecklich“.139 Ihr immer wieder enttäuschter Gesprächswunsch und ihre Sicht auf den Partner, der „äußerst selten […] andere Menschen so ansah, offen, ungeschützt, sozusagen überwältigt“, hebt das empfundene Defizit innerhalb der Paarbeziehung deutlich hervor.140 Die Reaktion auf Buddys intensiven Blick zu Annie, ihr Gedanke, sie „würde sterben, wenn Felix mich jemals so ansehen würde“, zeigt ihr Bedürfnis nach intensiver Berührung und Verbundenheit. Jonina, die Touristen durch ihre Heimat Island führt, spürt ihr eigenes Unvermögen, die emotionale Distanz zu überwinden, sich einzulassen: „Sie kann nur nicht teilnehmen. […] Sie kann sich nicht ergreifen lassen.“141 Christine zieht es nach dem Urlaub in der Karibik nicht nach Hause, ein Bananenfrachter im Hafen der Insel löst in ihr den Traum eines anderen Lebens aus, „[a]n Amerika vorbei nach Europa […]. Jetzt. Wir können sie fragen, ob sie uns mitnehmen.“142 Der nüchterne Kommentar Noras, der Christines Reiseidee abtut, weist zugleich auf die Traurigkeit der jungen Frau hin: „[…] Du kommst und bleibst und fährst wieder, und was dich traurig macht, ist ganz was anderes. […]“143 Zwar bleibt die Ursache von Christines Traurigkeit offen, in der Reisesehnsucht deutet sich aber der diffuse Wunsch an, das Leben möge sie intensiver ergreifen. Das gilt auch für die exotische Anziehung, die Cat auf sie ausübt, dessen familiäre Bindung sie ignoriert. Ihr Flirt bleibt ebenso unverbindlich wie ihr Reisewunsch. „[I]rritiert“ reagiert sie auf Kaspars Forderung, Verantwortung zu übernehmen,144 verwundert nimmt sie nach ihrer Abreise die Nachricht ihrer Freundin Nora zur Kenntnis, dass es Konflikte zwischen den Eheleuten gebe: „Cat schlägt Lovy, und Lovy schlägt Cat, liebe Christine, du bist nicht wirklich schuld.“ Mit der Kausalität schiebt sie Konflikt und Entscheidung von sich: „Sie wundert sich, daß die Dinge immer ihre Wirkung haben, fühlt sich weit weg von der Insel, müde auch.“145 Dieses Ausweichen, das in der Erzählung ihre traurige Sehnsucht nach einem intensiveren Leben konterkariert, verweist auf ein Defizit an Einbindung, ein Unvermögen im Sinne von Empathie und Teilnahme.
137 Hermann: Sommerhaus, später, S. 35. 138 Ebd., S. 36. 139 Hermann: Nichts als Gespenster, S. 203. 140 Ebd., S. 210, 225. 141 Ebd., S. 89. 142 Hermann: Sommerhaus, später, S. 44. 143 Ebd. 144 Ebd., S. 42. 145 Ebd., S. 32.
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Die Problematisierung der Distanz als einer defizitären Beziehung, die Hermanns Erzählungen umkreisen, unterstreichen Suche und Sehnsucht der Protagonisten, die sich auf Auswege aus ihrer Situation des Status quo richten. Auffällig ist, dass Suche und Sehnsucht sich in vielen Erzählungen auf eine Verwurzelung, auf Heim, Haus und Familie richten. Eine Erzählerin vergleicht Berlin mit dem neuen überschaubaren Lebensraum ihrer ehemaligen Mitbewohnerin: „In einer Kleinstadt könnte ich sorgloser sein.“146 In der Kleinstadt verliebt sie sich in den Geliebten ihrer Freundin in dem Gefühl, dieser habe sie erkannt, etwas Wesenhaftes von ihr erfasst, ohne sie zu kennen. „Er hatte gesagt: ‚Weißt du, wer du bist?‘, und ich hatte zuerst gezögert und dann doch geantwortet – ‚Ja.‘ Er sagte ‚Bist du die, für die ich dich halte?‘, und ich sagte ‚Ich weiß nicht‘, und er sagte ‚Doch. Du weißt.‘“147 Für dieses Gefühl des Erkennens, die Hoffnung auf eine authentische, wesenhafte Verbundenheit, ist die junge Frau bereit, alles zu tun. Eine andere beneidet ihre Mitbewohnerin um ihren geregelten Arbeitsalltag. „Wenn sie sich in der Frühe verabschiedete, um zu McDonald’s zu gehen und dort acht Stunden lang Pommes frites über den Tresen zu schieben, wünschte ich, ich hätte mit ihr tauschen können.“148 Uta Stuhr kommentiert ironisch: „Selbst ein einfacher ‚Brotjob‘ in seiner stumpfsinnigsten Variante scheint hier erstrebenswert zu werden.“149 Auch betrachtet die Erzählerin die klein[en], zweistöckig[en] […] gemütlich[en]“ norwegischen Häuser als Symbol der Zufriedenheit.150 Die Option eines Lebens mit Stein in dem „große[n], zweistöckige[n] Gutshaus aus rotem Ziegelstein“ hält sich die Erzählerin in Sommerhaus, später offen.151 Stein schreibt ihr, dass sich das Kind der Vorbesitzer immer in dem Haus aufhalte, was die Assoziation eines Lebens als Vater, Mutter, Kind weckt. Die Sehnsucht nach einem überschaubaren, authentischen Lebensraum treibt auch Christines und Noras Spiel „Sich-so-einLeben-vorstellen“ an, in dem sie ein Inselleben in seiner ursprünglichen Rudimentarität – Arbeit, Nahrung, Familie, Sex – als erfüllend imaginieren.152 Die Idee, ein Kind zu bekommen, entwickelt Ellen als Reaktion auf eine „banale[] und klischierte[]“,153 sentimentale Erzählung des Amerikaners Buddy über den Kauf kleiner Nike-Kinderturnschuhe und dessen Aussage, er liebe seine Frau, weil sie die
146 Ebd., S. 15. 147 Ebd., S. 30. 148 Hermann: Nichts als Gespenster, S. 40. 149 Stuhr: Kult der Sinnlosigkeit, S. 40. 150 Hermann: Nichts als Gespenster, S. 298. 151 Hermann: Sommerhaus, später, S. 148. 152 Ebd., S. 48. 153 Borgstedt: Wunschwelten, S. 221.
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Mutter seines Sohnes sei – eine Reaktion, in der sich die „Sehnsucht […] nach Eindeutigkeiten und konkret nach einer bürgerlichen Lebensweise“ manifestiert.154 Alexandra Pontzen bezeichnet die Erzählung als „neokonservative[n] Elternkitsch“.155 In der Forschung wurden die Sehnsüchte der Protagonisten massiv abgewertet als konservativer Rückzug auf traditionelle Lebensformen. Sie entpuppten sich, so Uta Stuhr, als „bemerkenswert banal“, „als ein schlichter Traum von wohlgeordnetem Alltag“: „Das Bedürfnis, dem Schwebezustand der Unwissenheit und Unentschlossenheit ein Ende zu setzen, schlägt hier in das radikale Gegenteil um, in ein wohlüberschaubares häusliches Universum im Kleinformat.“156 Der „Zustand von totaler innerer Heimatlosigkeit und Ratlosigkeit [scheint, d. V.] auch ein Bedürfnis nach Geborgenheit und Normalität hervorzurufen, das in ebenso radikaler Weise an Konventionalität und Langeweile nicht zu überbieten ist.“157 Allerdings übersehen die Urteile, dass diese Sehnsüchte sich in Hermanns Erzählungen mit ihrem Entstehen sogleich desavouieren, kein Ausweg deutet sich hier an, nicht einmal ein Zurück zu konservativen Lebensordnungen. In Ruth (Freundinnen) zeigt sich bei dem Wiedersehen der Erzählerin mit dem Geliebten ihrer Freundin sofort, dass das Gefühl des Erkennens eine Täuschung war und die Erzählerin reist verstört und doch befreit wieder ab.158 Der Wunsch, ein Verborgenes, Wesenhaftes zu erkennen sowie selbst erkannt zu werden, führt hier nur dazu, dass die Erzählerin sich irrt und ihre Freundin hintergeht. Der Vorschlag eines beinahe Fremden, eine Vernunftehe einzugehen, ohne einander zu kennen, entspringt seiner völligen Einsamkeit und wird durch die Ich-Erzählerin in Wohin des Wegs abgewiesen.159 Auch die Vorstellung der behaglichen norwegischen Häuser, „klein und zweistöckig und […] gemütlich […], so als würden Leute darin wohnen, die mit ihrem Leben zufrieden und einverstanden sein könnten“, entpuppt sich schon in der Satzkonstruktion des Irrealis als falscher Eindruck, was sich im Verlauf der Narration bestätigt.160 Ebenso zeigt sich die Imagination eines erfüllten Insellebens bereits in der Art der Darstellung als ironische Überzeichnung. Das Gutshaus als möglicher Ort einer ländlich-familiären Idylle brennt ab. Und Ellens „neokonservativer Familienkitsch“ führt nicht zu einem gelingenden Zusammenleben, sondern zu der „lächerliche[n] Erkenntnis“, „daß man
154 Rink: Nichts als Gespenster, S. 124. 155 Pontzen: Spät erst erfahren sie sich, S. 124. 156 Stuhr: Kult der Sinnlosigkeit, S. 39, 40. 157 Ebd., S. 40. 158 Vgl. Hermann: Nichts als Gespenster, S. 46, 55, 57, 58. 159 Vgl. ebd., S. 263. 160 Ebd., S. 298.
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nichts erzwingen kann, am allerwenigsten so etwas wie die Liebe“.161 Den Gedanken, warum es das Kind gibt, findet Ellen „unheimlich“.162 Die Sehnsucht nach einem Brotjob in der Variante McDonald’s dient der Ausstellung einer naiven Sehnsucht nach Einbindung, die an Joachim Bessings Entwurf eines Bäckerlebens erinnert, den er in Tristesse Royale als Ausdruck naiver Arroganz provozierend vorträgt. „Ich wollte damals weder schreiben noch malen. Ich wollte mich nicht länger anstrengen müssen, sondern statt dessen jeden Morgen um sieben Uhr in die Backstube gehen, um siebzehn Uhr Feierabend haben, im Garten sitzen und vor allem über nichts nachdenken müssen. Ich wollte dieses Suchen nach irgend etwas einfach überspringen und gleich das Setteling einleiten.“163
Die vorgestellten Entwürfe vertrauter, konventioneller Einbindung als Auswege aus einer Bezugs- und Beziehungslosigkeit, unter der die Figuren leiden, sind nicht nur regressiv, sondern werden in ihrer Darstellung zersetzt. Die Erzählungen führen die Uneinlösbarkeit dieser Sehnsüchte vor, die sich schon im Ansatz als illusionäre Konstrukte erweisen. Dies gilt auch für alternative Figurenentwürfe, angedeutet in der Darstellung von Einzelnen, denen ein Leben in festen, traditionellen Kontexten zugeordnet wird und die den distanzierten und zugleich leidenden Zuschauern als Gegenentwürfe erscheinen. Der Inselbewohner Cat ist verheiratet und hat ein Kind. Cat „isst, weil er Hunger hat […], weil essen das Stillen von Hunger ist, und sonst nichts.“164 Die Touristin Christine ist fasziniert „von einem Männlichkeitsbild, das Archaik, Exotik und Gewalt in sich vereint“.165 Nicht nur seine Art zu essen, auch Cats Name verweisen auf den Bereich des Animalischen, seine brüske Zuneigungsbekundung trägt ebenfalls diese Signatur: Er „schnellt […] empor und packt Christine […] am Handgelenk. Er sagt: ‚Ich mag dich‘, seine Stimme klingt rau und wie unbenutzt.“166 Als exotisch und fremd wird auch die Ehefrau des Regisseurs in Bali-Frau markiert, deren Wärme und Weichheit der artifiziellen Erotik Christianes entgegengesetzt wird, wie auch der kalten Lebenswelt der Protagonisten, in der immer Winter ist, „immer […] war draußen Schnee und [nie, d. V.]
161 Ebd., S. 215. 162 Ebd., S. 231. 163 Bessing: Tristesse Royale, S. 45. 164 Hermann: Sommerhaus, später, S. 37. 165 Borgstedt: Wunschwelten, S. 213. 166 Hermann: Sommerhaus, später, S. 42.
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wurde es […] hell.“167 Die Haut der Frau ist „dunkel“, ihre Haare sind „schwarz“, sie hat mehrere Kinder, die „in einer fremden Sprache auf sie ein[reden, d. V.]“.168 Auf dem Hochzeitsfoto, aufgenommen in ihrer Heimat, ist ihr Mann „nackt bis auf einen winzigen Lendenschutz und tr[ägt] Schmuck aus Bananen und Blumen auf dem Kopf.“169 In ihrem Tanz wird die Frau als Unzivilisierte sexualisiert, worauf auch ihre Inszenierung inmitten eines „Gewimmel[s]“ von Kindern hindeutet: „[…] wenn sie sich drehte, konnte man ihren nackten Hintern sehen und ihre Scham. Sie drehte sich unentwegt, und ihre kleinen Hände flatterten wie Vögel um sie herum, sie tanzte barfuß“.170 Buddy, auf den die orientierungslosen Amerikareisenden treffen, wohnt in der Nähe seiner Mutter in seinem Geburtsort, hat die Frau geheiratet, in die er sich im Alter von sechzehn Jahren verliebt hatte, überwacht und verbessert im Auftrag der Regierung den Highway. Seinen Heimatort hat er noch nie verlassen, was ihm als selbstverständlich erscheint.171 So selbstsicher, authentisch, beständig und dadurch anziehend er auf Felix und Ellen wirkt und deren Verlorenheit und Unverbindlichkeit entgegengesetzt wird, so einfältig und „schwerfällig“ erscheint er zugleich.172 Ähnlich ist es im Fall von Caroline, einer weiteren Gegenfigur: „Caroline […] wirkte scheu, hatte eine ernsthafte, leicht zu beeindruckende Sicht auf die Welt, war begeisterungsfähig und von einer bemerkenswerten Angstfreiheit.“173 Auch sie ist verbunden mit ihrer Familie und ihren Freunden, nimmt keine Drogen, interessiert sich für ihr Studium und hat engagiert in einem afrikanischen Heim für behinderte Menschen mitgearbeitet.174 Caroline ist optimistisch gegenüber und verankert in ihrer Lebenswelt, zeigt Interesse und Sensibilität für Andere, auch jenseits der westlichen Wohlstandswelt.175 Darin wirkt sie auf die Ich-Erzählerin als Gegenentwurf zu ihrer Lebenswelt. Zwar empfinden sowohl die Erzählerin als auch ihr Freund Caroline in ihrer Zugewandtheit und Entschiedenheit als beruhigend, ihre Sicht auf die Welt aber als wenig realitätstauglich in ihrem jugendlichen Optimismus – „wehmütig-verständnisvoll“ wie die Erzählerin oder „zynisch“ wie ihr Freund.176 Carolines Lieblingssatz, „das
167 Ebd., S. 102. 168 Ebd., S. 102, 108. 169 Ebd., S. 109. 170 Ebd., S. 102, 103. 171 Vgl. Hermann: Nichts als Gespenster, S. 220, 223, 224. 172 Hermann: Sommerhaus, später, S. 224. 173 Hermann: Nichts als Gespenster, S. 282. 174 Vgl. ebd., S. 286. 175 Vgl. ebd., S. 283. 176 Ebd., S. 287; vgl. Stuhr: Kult der Sinnlosigkeit, S. 47.
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Leben sei wie eine Schachtel Pralinen, man greife hinein und wisse nie, was man bekäme, immer aber sei es süß“, kommentieren die Protagonisten als verständlich und zugleich schwach- und blödsinnig.177 Caroline wirkt, so Uta Stuhr, „mit ihrer leicht überzeichneten optimistischen Einfältigkeit wie ein Relikt aus vergangenen Zeiten.“178 Als erstarrte Klischees stellen weder Caroline noch Buddy, Cat oder die Bali-Frau Auswege aus der Zuschauerposition dar. Zudem lösen auch diese Figuren nicht ein, wofür sie zunächst zu stehen scheinen. Cat und Buddy haben massive Eheprobleme. Cat und seine Frau schlagen sich, Lovy hat das familiäre Heim schon mehrfach verlassen. Buddy bringt zwar die Liebe zu seiner Frau zum Ausdruck, beschränkt seine Zuneigung aber zugleich auf ihre Rolle als Mutter seines Sohnes und beschreibt seine Gattin ausschweifend als unattraktiv, zudem deutet sich in seinem Kontakt zu der Wirtin Annie eine außereheliche Liebesbeziehung an. Die Bali-Frau wirkt vernachlässigt und verloren in ihrer Ehe mit einem Regisseur, der sich für andere Frauen interessiert, zu dessen Wohnung sie keinen Schlüssel zu haben scheint und zu dessen Land ihr der Zugang nicht gelingt. Und Caroline wird in ihrer Naivität durch das bewegte Nachtleben der Zuschauer verunsichert, sie hört „staunend“ zu, „mitgenommen und sichtbar erschöpft“, wirkt zuletzt „befremdet […] und gleichzeitig zutraulicher“, lässt sich in das amüsierte Gerede der Anderen über ihre unverbindlichen Kontakte der Nacht hineinziehen, „aufgeregt wie ein Schulmädchen.“179 Vor diesem Hintergrund wirken die Suche und die Sehnsucht der Protagonisten nach einer gelingenderen Relationalität im privaten Bereich aussichtslos. Das Motto des Erzählbandes Nichts als Gespenster drückt mit einem Zitat der Beach Boys die Sehnsucht nach einem Bezug zur eigenen Lebenswirklichkeit aus, wobei schon die Kombination von Frage, Verneinung und Konjunktiv auf die Aussichtslosigkeit des Wunsches nach Zugehörigkeit und Verbundenheit hinweisen, eines Wunsches, der auch in den folgenden Erzählungen nicht einzulösen ist: „Wouldn’t it be nice / if we could live here / make this the kind of place / where we belong“. Ein anderer Songtext, in dem es heißt „[I]ch fahr um die Welt and I’m just lookin’ for you, glaub mir, ich suche nur dich“, wird mehrfach relativiert und als naiv abgetan durch das wiederholte Adjektiv „albern“, durch Owens „ausgeleierte[] Kinderstimme“ und das Erstaunen über jemanden, der solche Texte mit Ernsthaftigkeit vortrage.180 Lakonisch schiebt die Erzählerin in Bali-Frau ihre wehmütigen Erinnerungen und mit ihnen die Hoffnung auf ein anderes Leben beiseite: „[I]ch
177 Hermann: Nichts als Gespenster, S. 287. 178 Stuhr: Kult der Sinnlosigkeit, S. 46. 179 Hermann: Nichts als Gespenster, S. 286, 311, 312. 180 Ebd., S. 274.
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weiß, daß die Dinge nie anders waren, ich habe mich eben nur ein Mal getäuscht.“181 Entsprechend werden Bilder der Nähe schon in ihrer Anlage ambivalent, weil sie untrennbar mit Distanz verknüpft sind. In Gedanken spricht die Erzählerin zu ihrem Exfreund über die Frau aus Bali und verbindet dabei Nähe und Fremdheit: „Sie hätte dir gefallen, die kleine Frau. Sie war so unantastbar, wie du es immer geliebt hast, sie war ganz fern, und man konnte sie betrachten und sich Geschichten über sie ausdenken.“182 Ihr selbst geht es gut, als sie ihre Hand unter den Kopf ihres Begleiters legt und seinen Kopf hält, schlafend aber bleibt er ihr fern.183 In Karlovy Vary dient der Moment der Nähe der Distanzierung: „Ich legte mich mit dem Rücken an seinen Bauch, und er legte seinen Arm um mich herum und hielt meine Hand, solange, bis ich endlich nicht mehr an ihn denken mußte.“184 Trotz der Unmöglichkeit gelingender Nähe erweisen sich Suche und Sehnsucht als persistent, wenn sie auch kaum „feste gedankliche Konturen“ annehmen, es zumeist bei einem „unbestimmten Drang“ nach Verbundenheit, nach „Leben, Liebe und Glück“ bleibt:185 „[W]ir redeten gerne über das, was wir tun könnten, tun würden, wenn wir Geld hätten, anders sein, anders leben würden.“186 Am Ende der Erzählung Ruth (Freundinnen) steht Ruths ironische Beschreibung ihrer Freundin als Suchende: „[I]ch habe gesagt, die ist draußen und sucht mal wieder unter jedem Pflasterstein nach einer Botschaft.“187 Im Kurkonzert in Karlovy Vary wird, „herrje, Strauß, Walzer, die ganze Sehnsuchtsmusik“ gespielt.188 Und der Drachenflieger, dessen erfolglose Flugversuche Christine beobachtet, fliegt am Ende doch.189 In solchen ironisch gebrochenen, diffusen Ansätzen von Hoffnung gewinnen Sehnsucht und Suche der Protagonisten eine Ambivalenz zwischen Unerfüllbarkeit und Beharrung. Auf ihrer Rückfahrt nach Berlin fährt eine Erzählerin durch dichten Nebel, eine „Art Zwischenwelt“ in der hoffnungsvollen Erwartung des Kommenden: „Ich dachte: Und wenn der Nebel sich lichtet, dann wird da etwas anderes sein, etwas Fremdes und Neues, und dieser Gedanke machte mich, bei aller Angst, glücklich. Der Nebel lichtete sich so plötzlich, wie er gekommen
181 Hermann: Sommerhaus, später, S. 110. 182 Ebd., S. 103. 183 Vgl. ebd., S. 112. 184 Hermann: Nichts als Gespenster, S. 192. 185 Stuhr: Kult der Sinnlosigkeit, S. 39. 186 Hermann: Nichts als Gespenster, S. 274. 187 Ebd., S. 59. 188 Ebd., S. 164. 189 Vgl. Hermann: Sommerhaus, später, S. 40; vgl. Borgstedt: Wunschwelten, S. 214, 215.
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war“.190 Auch in Norwegen gewährt die Natur einen Moment der Schönheit und Verbundenheit, der hoffnungsvoll ist. Die Protagonisten fahren auf eine Insel, sie lachen über die fremden Liebesgeständnisse der Nacht, „grenzenlos erheitert, und darunter war etwas, das vollständig traurig war.“191 Das Nordlicht erscheint und angesichts dieser Naturerscheinung, „in allen Farben, leuchtend und schön“, sind beide atemlos und glücklich.192 Das hoffnungsfrohe Ende der Erzählung, das zugleich das Ende des Erzählbandes markiert, schiebt Angst und Traurigkeit in den Hintergrund in der Überzeugung, es könne sich etwas ereignen, das – für Momente des Gelingens – miteinander und mit den Lebenswelten verbindet. Es sind gerade die weiblichen Erzählerinnen, die in Abgrenzung zu den männlichen Protagonisten an dieser Hoffnung festhalten: Owens abgeklärt-zynische Verurteilung von Carolines Vergleich des Lebens mit einer Schachtel süßer Pralinen erregt den Ärger der Erzählerin, die das optimistische Bild einer gelingenden Einbindung schätzt: „[E]inen Moment lang haßte ich Owen, […], daß er seine abgefuckte Coolness selbst hier ausspielen mußte“.193 Wie die Metapher der ausweglosen Suche wirkt zunächst eine Ausstellung, in der es „unter 50 schlechten ein gutes Bild geben [sollte, d. V.], das gute Bild war nicht zu finden. Alle Bilder waren fürchterlich, die Installationen, Videoprojektionen, Skulpturen auch.“194 Allerdings wird auch hier die Hoffnung verteidigt, wenn die Erzählerin eine Installation findet, in der das Licht just im Augenblick ihres Eintretens durch einen Spalt fällt und ein „goldenes Rechteck“ auf die Wand wirft. Die Erzählerin ist sehr beeindruckt von dieser Installation mit dem Namen Wohin des Wegs, sie ist sicher, dass es dem Künstler um „genau dieses goldene Rechteck aus Licht gegangen war.“195 Ihr Begleiter glaubt dies nicht, was die Erzählerin als trennend empfindet, als „de[n] bezeichnende[n] Unterschied in unserer Wahrnehmung, in dem woran wir glaubten oder bereit waren, zu glauben.“196 Eine diffuse Hoffnung auf gelingendere Verbundenheit und Teilnahme bleibt bestehen trotz aller Unerfüllbarkeit und Ausweglosigkeit im Konkreten – eine Hoffnung, die auf textueller Ebene nicht zurückgenommen wird. Diese Hoffnung auf eine gelingendere Relationalität scheint der Problematisierung der Bezugs- und Beziehungslosigkeit zunächst ein Stück ihrer Dringlichkeit zu nehmen. Durch einen Abgrund der Gewalt und des
190 Hermann: Nichts als Gespenster, S. 193. 191 Ebd., S. 317. 192 Ebd., S. 318. 193 Ebd., S. 287; vgl. S. 168. 194 Ebd., S. 257. 195 Ebd., S. 259. 196 Ebd.
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Erschreckens, der sich in Hermanns Erzählungen auftut, wird dies aber konterkariert. Gewalt und Erschrecken Die bisher in der Forschung übersehene Dimension der Gewalt in Hermanns Erzählungen stellt einen zentralen Aspekt der Problematisierung ratlos-distanzierter Zuschauerpositionen als einer Beziehung im defizienten Modus dar. Aggression, Überwältigung und Erschrecken werden in direktem Zusammenhang inszeniert mit der Ausweglosigkeit eines Lebens in einer erstarrten, indifferenten Lebenswelt, zu der den Figuren, außer einer nicht einzulösenden oder diffus bleibenden Sehnsucht, kein Bezug gelingt. Der junge Mann, der sich trotz seiner Beziehung mit Vanessa zu Sonja hingezogen fühlt, empfindet gegenüber der jungen Frau in der Folge seiner eigenen passiven Unentschiedenheit „eine fast größenwahnsinnige Lust, sie zu quälen, sie leidend zu machen.“197 Marie, die desorientiert um sich selbst kreist, verletzt ihren Partner in dessen sicherer Selbstzufriedenheit mit „Triumph in der Stimme.“198 In Hunter-Tompson-Musik werden die Indifferenz von Lebenswelt und Figuren und der Ausbruch aggressiver Gewalt in einen Kontext gestellt: „Der Nachrichtensprecher auf CNN erzählt mit teilnahmsloser Stimme, daß in BrooklynEast New York ein Junge in einem McDonald’s drei Angestellte erschossen habe. Der Junge erscheint auf dem Bildschirm […]. Der Junge schaut direkt in die Kamera, er sieht völlig normal aus, er erklärt, daß er einen Big Mac ohne Gurke bestellt hätte. Ausdrücklich ohne Gurke. Er habe aber einen Big Mac mit Gurke bekommen.“199
Der Exzess der Gewalt scheint hier unmittelbar der alltäglichen Normalität und Teilnahmslosigkeit zu entspringen. Christine sehnt sich nach der existentiellen Erfahrung eines Hurrikans, der ihrem diffusen Gefühl der Unentschiedenheit und Verlorenheit ein Ende setzt, eine Sehnsucht, die ihr Gastgeber Kaspar, der sich zwar an ihrer „ängstliche[n] Unentschlossenheit“ weidet, entschieden zurückweist:200
197 Hermann: Sommerhaus, später, S. 64. 198 Ebd., S. 161. 199 Ebd., S. 119. 200 Ebd., S. 33.
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„‚Wenn er kommt, wirst du dir in die Hosen scheißen, verdammt noch mal.‘ […] ‚Du wirst flennen und kreischen. Ein Hurrikan ist keine Sensation. Ein Hurrikan ist fürchterlich, du willst, daß er dir alle deine Entscheidungen abnimmt, aber nicht auf Kosten der Insel, nicht auf meine Kosten.‘“201
Die Sehnsucht nach der Katastrophe erscheint als Ausweg aus Unverbindlichkeit und Teilnahmslosigkeit. Der diffus empfundene Mangel an Verbundenheit und Einbindung schlägt um in Faszination durch Gewalt und Zerstörung. Christines Sehnsucht nach dem Hurrikan blendet die konkrete Bedrohung der Inselbewohner aus und gilt dem intensiven Erleben der Naturgewalt. Die Darstellung Michas, der auf dem Markt der Vietnamesen in Prag Silvesterböller zündet, erinnert an eine Szenerie von Kampf und Krieg: „Der Platz lag jetzt leer, schlickig, verwüstet, Micha rannte eine lange Gasse entlang, schleuderte Böller in die Luft und schrie, die Vietnamesen duckten sich und liefen um die Ecken.“202 Neben Ausbrüchen der Gewalt gegen Andere, gibt es zahlreiche Momente der Autoaggression sowie der Gefährdung und Überwältigung der Protagonisten durch Andere. In der Erzählung Sommerhaus, später deutet sich an, dass der Besitzer Stein sein lang ersehntes Haus in Brand setzt, nachdem die Frau, die er eingeladen hat, mit ihm zu leben, sich lange nicht entscheiden kann. Die Erzählerin in Zuhälter imaginiert in der Seilbahn das Versagen der Bremsen, „die Geschwindigkeit, mit der wir ins Tal rasen würden, wenn die Bremsen versagten, wie wir uns an den Händen greifen würden, wenn wir dazu überhaupt noch kämen.“203 Diese Absturzphantasie steht textuell in direktem Zusammenhang mit der Kommunikationslosigkeit und dem Unverständnis zwischen ihr und Johannes, mit dem sie „in einem ungeklärten Verhältnis stand, einer ungenauen Distanz“:204 „Wir saßen weit voneinander entfernt in diesem kleinen Abteil, ein Geisterbahnabteil, und kehrten einander den Rücken zu.“ Der Nachsatz – „Nicht, daß das irgendeine Bedeutung gehabt hätte“ – hebt in der Negation die Bedeutung dieser Szene hervor.205 Dieser Erzählung unterlegt Hermann eine Textur der Gewalt, die sich in der Referenz auf das Märchen von Ritter Blaubart und in der Nennung des Serienmörders Jürgen Bartsch erschließt. Johannes’ Arbeitszimmer bezeichnet die Erzählerin wiederholt als das siebte Zimmer des Ritters Blaubart, ein Zimmer, zu dem Blaubart seiner neuen Ehefrau unter
201 Ebd., S. 39, 51. 202 Hermann: Nichts als Gespenster, S. 256. 203 Ebd., S. 169. 204 Ebd., S. 181, 182. 205 Ebd., S. 169.
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Androhung des Todes den Zugang verwehrt, weil er dort die Leichen seiner getöteten Frauen aufbewahrt. Den Namen des Kindermörders, der zwischen 1962 und 1966 vier Jungen sexuell missbraucht und umgebracht hat, findet die Ich-Erzählerin in den Notizen ihres Malerfreundes, „kryptische Worte“, die der Erzählung eine neue, verdeckte Ebene des Schreckens hinzufügen.206 Dieser Schrecken, der in den Verweisen anklingt, taucht die Ereignisse in einer Disko, in der Johannes und die Erzählerin die letzte Nacht ihres gemeinsamen Aufenthalts in Karlovy Vary verbringen, in ein grelles, abstoßendes Licht: Die plumpe Annäherung eines älteren, dicken Mannes an die Ich-Erzählerin, das Verschwinden Johannes’ und die allgegenwärtige offensive und käufliche Sexualität gewinnen vor dem intertextuellen Hintergrund eine neue, überwältigende Qualität.207 In der Erzählung Camera Obscura projiziert ein Künstler Maries Foto mit einer Kamera, einem „schwarzglänzende[n] Auge“ auf den Computerbildschirm, ein Foto ihres Gesichts, das sie unheimlich, grässlich, „fischig, gruselig, schrecklich“ findet.208 Bevor der Mann sie küsst, wird er selbst zur Kamera: „Zwischen seinen Augenbrauen wächst ein drittes, schwarzes und schönes Auge heraus.“ Sein Kuss ist eine Überwältigung wie die Computerkamera, die er „direkt auf Maries Gesicht“ richtet.209 Marie, die zu Beginn der Erzählung ihre Wirkung auf den Künstler ausgelotet, sich ins Bild gesetzt hat in dem überlegenen Gefühl, die Bilder von sich, dem Mann sowie das Geschehen zwischen ihnen zu kontrollieren, hat jegliche Aktivität hinsichtlich der Gestaltung ihres Selbstentwurfs verloren. Ihr Bild wird bestimmt von dem Mann und dem Medium, die sie ins Bild setzen, sie bleibt gänzlich passiv, bis schließlich ihr Gesicht und ihre hochhackigen Stiefel, Signum ihres klischeehaften Entwurfs verführerischer Weiblichkeit, von der Bildfläche verschwinden, und, als der Künstler sie zu Boden zieht, auch sie selbst. Am Ende herrscht Leere auf dem Bildschirm, das Geschehen auf dem Boden wird ausgeblendet.210 Im Prozess der Überwältigung werden weder Verzweiflung noch Gegenwehr deutlich. Marie registriert den Vorgang, die Erzählung verharrt auf der visuellen Oberfläche.
206 Ebd., S. 183. 207 Vgl. ebd., S. 189, 190. 208 Hermann: Sommerhaus, später, S. 163. 209 Ebd., S. 164. 210 Vgl. ebd., S. 165.
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„Auf dem Bildschirm des Computers erscheint der Kuß, zeitverzögert und lautlos, graue Wiederholung eines Augenblicks. Marie schaut jetzt doch hin, am Gesicht, an den geschlossenen Augen des Künstlers vorbei auf den Bildschirm, auf dem sich sein Gesicht an ihres schmiegt, ihr Gesicht verdrängt, sie die Augen öffnet, in Schwarzweiß.“211
Nüchtern wird ihre Zuschauerperspektive kommentiert: „Anstatt sich selbst, wie sonst immer, von oben aus einer Art Vogelperspektive zu sehen, sieht sie auf den Bildschirm.“ Bestimmend für das Verhältnis zu sich und zum eigenen Bild ist die emotionale Distanz, denn während der Künstler sich an sie drängt, ist Marie nicht involviert, „konzentriert“ schaut sie „auf diese schweigende, fremde Verknotung zweier Menschen“, die ihr „seltsam“ erscheint.212 Und dennoch inszeniert die Erzählung eine Überwältigung, deren Schrecken in der Verwendung bestimmter Begriffe und im nicht Gesagten aufscheint. Bezogen auf eine Annäherung des Künstlers heißt es, Marie fände es „gruselig, sich vorzustellen, wie das sein soll, wenn…“.213 Auch bezeichnet sie den Mann als „unheimlich[]“.214 Gegenwehr erscheint von vornherein vergeblich: „Marie drückt ihren Rücken gegen die Lehne des Stuhls und starrt unverwandt in die Künstleraugen, als könne sie so das Schreckliche abwenden.“215 Das Erschrecken, das in der Überwältigung spürbar, an Marie aber kaum erkennbar wird, schafft eine Irritation, die im Leser nachwirkt. Auch in der Erzählung Ruth (Freundinnen) wird die Überwältigung der Frau durch den Mann, der sich über ihr abwehrendes Zögern hinwegsetzt, in dem lakonischen Kommentar zusammengefasst „Ich dachte kurz und verwundert an den Ausdruck seine Knochen einsammeln“, dessen drastische Bedeutung im Leser nachhallt.216 Das Erschrecken wird auch im Fall von Peter in den Leser hineinverlegt, wenn der junge Mann während einer Silvesterfeier sein finales Alkoholkoma imaginiert: „Einzig in Mexico würde ich gern sitzen und da Schnaps trinken am Rand einer staubigen Landstraße und in der Mittagshitze, denn in Mexico kann man dann einfach vom Stuhl fallen und muß nicht mehr aufstehen, nie mehr.“ Der Kommentar der Erzählerin, sie „hätte das widerlich finden können, ich fand es nicht widerlich, ich verstand das, ich verstand etwas daran“, verstärkt im Nebeneinander von Abscheu und Akzeptanz das Erschrecken.217 Auch in Kaltblau bleibt
211 Ebd., S. 164. 212 Ebd., S. 165. 213 Ebd., S. 158. 214 Ebd., S. 161. 215 Ebd., S. 164. 216 Hermann: Nichts als Gespenster, S. 55. 217 Ebd., S. 253.
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das Erschrecken dem Leser überlassen, wenn Jonina nachts einen Ausbruch der Gewalt zwischen ihren Gästen beobachtet, ohne einzugreifen. „Irene setzt die Wodkaflasche an und scheint sie mit einem Zug auszutrinken, und dann hält sie die Flasche in die Luft, schreit sehr laut etwas Unverständliches und schlägt sie Jonas an den Kopf. Sie schlägt mit der leeren Flasche zweimal entschlossen zu […]. Jonas fällt hin. Er fällt in den Schnee und regt sich nicht mehr, und Irene steht einfach so da, und dann geht sie los, stapft den Hügel hoch zu ihrem Haus.“218
Joninas geflüsterte Frage „Warum macht sie das?“ klingt im Leser nach, ohne dass sie eine Antwort erhielte, der Text psychologisierend oder moralisierend Stellung nähme.219 Dass die Aspekte der Gewalt und des Erschreckens in Hermanns Texten bisher übersehen wurden, lässt sich auf die nüchterne, lakonische Sprache zurückführen, mit der sie das Düstere benennt, ohne es in seiner Wirkung auf die Figuren zu explizieren. Dies hat ihr wiederholt den Vorwurf eingetragen, keine Stellung zu beziehen, ein Vorwurf, der häufig in die Gleichsetzung der Autorin mit ihren Figuren mündet. Diese Gleichsetzung wird den Erzählungen aber ebenso wenig gerecht wie ihre Reduktion auf die Affirmation eines Status quo. Sicherlich ähnelt das vieldiskutierte Foto der Autorin im Pelzmantel mit traurig-verlorenem Blick dem Erscheinungsbild ihrer Protagonistinnen. Auch lässt sich der Verweis auf Hunter Tompson in einer Erzählung poetologisch als Anlehnung an eine schriftstellerisch-journalistische Arbeitsform deuten, die die subjektive Nähe zum Gegenstand sucht. Diese scheinbar unreflektiert-affirmative Nähe, ja Identifikation mit dem Dargestellten ist aber in Verbindung mit der nüchtern-lakonischen Distanz ein Element ästhetischer Gestaltung, das die thematische Grundkonstellation von Distanz und Einbindung auf formaler Ebene wiederholt. Der Leser in seinem Rezeptionsprozess wird damit eingebunden und zugleich wird ihm der Zugang verwehrt. Dieser Darstellung unterlegt Hermann eine Problematisierung des bezugs- und beziehungslosen Lebens bei gleichzeitiger Verstrickung in erstarrte, indifferente und gewalttätige Lebenswelten als einer Beziehung im defizienten Modus, eine Problematisierung, die aber weder distanziert-moralisierend anklagt, noch psychologisch-erläuternd mitleidet. Der Eindruck, dass das Leben in diesen Erzählungen ohne Erschrecken, „[w]iderstandslos […] der Leere anheim gegeben“ werde,220 ist falsch. Das Misslingen von Beziehungen und Bezügen sowie
218 Ebd., S. 115. 219 Ebd. 220 Stuhr: Kult der Sinnlosigkeit, S. 50.
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Leid und Gewalt, die nur angedeutet, an den Figuren kaum ablesbar werden, bewirken, dass das Erschrecken in den Leser hineinverlegt wird. So lässt sich die Aussage über den Raum der Geister in der Erzählung Nichts als Gespenster durchaus poetologisch verstehen: „Nein, nicht […] wirklich unheimlich, vielleicht gemütlich, auf eine gemeine Art.“221 Judith Hermanns Erzählungen, die in der Forschung bisher als zu gemütlich unterschätzt wurden, verbinden mit der Inszenierung ratlos-distanzierter Zuschauerpositionen ein tückisches Erschrecken, das im Leser nachhallt, wenn die lakonischen Erzählungen schon zu Ende sind. Sie verleihen der Problematisierung eines Lebens auf Distanz damit eine nachdrückliche Brisanz, ohne dass Perspektiven jenseits einer diffus ersehnten gelingenderen Relationalität im Bereich persönlicher Beziehungen erkennbar würden.
„[E] S
IST IRGENDWIE KÖRPERLICH UNERTRÄGLICH GEWORDEN .“ – S ELBST - UND W ELTVERHÄLTNISSE ZWISCHEN ABSCHEU UND S UCHE IN C HRISTIAN K RACHTS F ASERLAND (1995) Zuschauer im Faserland Christian Krachts Roman Faserland erzählt die Reise eines jungen Mannes durch Deutschland, von Sylt über Hamburg, Frankfurt, Heidelberg und München nach Meersburg an den Bodensee und schließlich in die Schweiz, nach Zürich. Der reisende Zuschauer, aus dessen Perspektive sich dieses Faserland konstituiert, kann als einer der mit größter Antipathie betrachteten Protagonisten des Gegenwartsromans gelten. Er registriert seine Lebenswelt aus einer Position unbeteiligter Distanz: „[I]ch sitze in der Ecke und beobachte die Menschen“.222 Seine Zuschauerposition wird immer wieder unterstrichen, wenn er Andere von der Seite anstarrt, sie direkt oder im Spiegel beobachtet und ausschweifende Betrachtungen über seine Lebenswelt anstellt.223 Das explizite Ziel, „die Sehschärfe zu behalten“, verlangt dabei die Einhaltung eines gewissen Abstandes.224 Die Beobachtungen erfolgen detailliert und kühl, konzentrieren sich auf Ästhetik und Oberfläche. „The cold detachment of the aesthetic gaze“ erscheint geradezu als „raison d’être“ des
221 Hermann: Nichts als Gespenster, S. 211. 222 Kracht: Faserland, S. 95. 223 Vgl. ebd., S. 22, 78, 107. 224 Ebd., S. 23; vgl. S. 26.
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Erzählers.225 Seine distanzierte Haltung wirkt, als reise er durch „ein Vaterland, das er wie von außen betrachtet“.226 Der Charakter der Reise bestimmt das Faserland als Hintergrund, das aus der Perspektive des Ich-Erzählers in fest gefügten Bildern vorbeigleitet: Es handelt sich um eine westdeutsche Gegenwart der 1990er Jahre, die disparat, zerfasert wirkt und zugleich wie erstarrt in ihrer Konsumfixierung, ihrer Hässlichkeit, ihrem dekadenten Verfall und ihrer fortdauernden nationalsozialistischen Prägung. Die auffälligste Faser des inszenierten Landes bildet die Omnipräsenz von Markenartikeln, nicht nur, aber insbesondere aus dem Luxussegment. Das Deutschland des Erzählers besteht vor allem aus Konsum, aus Besuchen teurer Bars, Hotels und Partys, aus Fahrten mit teuren Autos, aus dem Tragen modischer Kleidung. Gleich zu Beginn des Romans wird die Fischbude auf Sylt als FischGosch benannt und das Bier als Jever, die Jacke des Erzählers trägt die Marke Barbour, sein Hemd ist von Brooks Brothers, das Auto der Bekannten ein „dunkelblaue[r] S-Klasse-Mercedes.“227 Menschen beschreibt der Erzähler in erster Linie als Träger bestimmter Marken und Vertreter spezifischer Kleidungsstile: „Sergio, das ist so einer, der immer rosa Ralph-Lauren-Hemden tragen muß und dazu eine alte Rolex“.228 Neben dem Konsum stellen Hässlichkeit und Verfall eine weitere Faser des durch den Erzähler ins Bild gefassten Landes dar. Der Reisende konstatiert, „wie unfaßbar verkommen alles ist.“229 Im ICE reflektiert er darüber, dass die Einrichtung „ganz grauenvoll ist, […], gar nichts mehr schön“, vom BordTreff spricht er als einer „Monstrosität“, den Bahnhof Altona in Hamburg empfindet er als „verdammt deprimierend“.230 In Frankfurt muss er „wieder mal erkennen, daß keine Stadt in Deutschland häßlicher und abstoßender ist“.231 Dieses hässliche Deutschland wirkt unwiderruflich dem Verfall anheimgegeben: Menschen, denen der Erzähler begegnet, riechen „alt und verwest“.232 Der Kontext dekadenten Verfalls ergibt sich aus der Beschreibung der Wohnung eines Bekannten
225 Finlay: ‚Dann wäre Deutschland wie das Wort Neckarauen‘, S. 198. 226 Diez, Georg: Christian Kracht: Faserland 1996 – Ein Dandy taumelt durch Deutschland. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung. Nr. 11 vom 17.03.2002, S. 26. 227 Kracht: Faserland, S. 14. 228 Ebd., S. 18. 229 Ebd., S. 30. 230 Ebd., S. 24, 82, 28. 231 Ebd., S. 66. 232 Ebd., S. 47.
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als „ja eigentlich sehr fein und sicher auch teuer“ und zugleich als „völlig heruntergekommen“.233 Auf den Untergang, das Ende einer brüchig und fragwürdig werdenden Epoche deuten auch intertextuelle Verweise, wie zum Beispiel die den Roman durchziehende Referenz auf Thomas Manns Roman Der Zauberberg sowie der Bezug zu Theodor Fontanes Roman Effi Briest, der mit dem Namen eines Bekannten des Erzählers, Rollo, Eingang in Krachts Roman findet. In Faserland richtet sich die Verfallsdiagnose auf die Bundesrepublik nach der Wende. Allerdings führt die Reise den Erzähler nur durch den Westen Deutschlands. Die östlichen Bundesländer werden ausgeblendet, bis auf die Vorstellung, „der Osten“ werde „den Westen überrollen“, eine Phantasie, die auf ein Ende des Bestehenden, den Untergang einer dekadenten Wohlstandsgesellschaft deutet und zugleich als parodistische Variation der verführerischen Bedrohlichkeit des Ostens im Zauberberg gelesen werden kann.234 Den Eindruck des bevorstehenden Untergangs verstärkt die Erinnerung des Erzählers an Legenden um die Stadt Rungholt, die in einer Sturmflut im Meer versank.235 Zudem sind die Gäste einer Hamburger Party „höllisch breit“ und eine Münchner Party erscheint dem Erzähler als „so ein germanisches Endzeit-Ereignis“.236 Eine dritte Faser, die in der Wahrnehmung des Erzählers das Faserland konstituiert, stellen der Zweite Weltkrieg in seinem zerstörerischen Nachwirken und eine diffuse Kontinuität des Nationalsozialismus dar, die an jedem Ort, den der Ich-Erzähler besucht, präsent werden: Auf Sylt erinnert er sich an eine Anekdote, nach der Göring hier seinen „Blut-und-EhreDolch“ verlor.237 In Hamburg fällt ihm die Blohm & Voß-Werft auf, „wo sie früher U-Boote gebaut haben, bis die Engländer alles plattgebombt haben“, und er muss „an die Bombennächte im Zweiten Weltkrieg denken und an den Feuersturm und wie das wohl war, als alles ausgelöscht wurde“.238 Er sieht seine Gegenwart bestimmt durch die nationalsozialistische Vergangenheit, wiederholt stellt er Kontinuitäten her und überall entdeckt er „Nazis“.239 Die „grelle Hyperbolik“, mit der Nationalsozialismus und Weltkrieg in der Lebenswelt des Erzählers aufscheinen, legt den Bezug zu Robert Harris’ Bestseller Fatherland aus dem Jahr 1992 nahe,
233 Ebd., S. 33, 34. 234 Ebd., S. 106. 235 Vgl. ebd., S. 19. 236 Ebd., S. 40, 112. 237 Ebd., S. 17. 238 Ebd., S. 29, 47. 239 Ebd., S. 93.
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einen alternativ-historischen Entwurf der Welt, in der Nazideutschland den Zweiten Weltkrieg gewonnen hat und bis in die Gegenwart der Erzählung fortbesteht.240 Aus diesen Fasern des Konsums, Verfalls und der Zerstörung konstituiert sich das Faserland aus der Perspektive des Ich-Erzählers als eine disparate, abstoßende Nachwende-Republik, die er in Abscheu von sich zu weisen sucht. Um sich in der Position eines unbeteiligten Abstands zu behaupten, verfolgt der Zuschauer Strategien der Distanzierung. So dient das Hantieren mit klischeehaften Bildern der Vermeidung konkreter Berührungen mit der ihn umgebenden Lebenswelt: Obwohl er zum Beispiel mit einem Taxifahrer kein Wort spricht, weiß er, dass dem Mann „der Bafögsatz zu niedrig [ist, d. V.]. Er bekommt zwar noch Geld von seinen Eltern, aber trotzdem fährt er nebenher Taxi, weil ja das Studentenleben so verdammt teuer ist und die Haschischbrocken bezahlt werden müssen“.241 Auch sein Desinteresse, das er explizit ausstellt, dient dem Rückzug von jeglichem Ansatz der Teilnahme. Als er sich im Flugzeug eine Süddeutsche Zeitung nimmt, betont er zugleich, dass ihn „wirklich nichts weniger interessiert als Tageszeitungen.“242 Ein Gespräch über das Jurastudium versieht er mit dem Kommentar, dass „ich rein gar nichts davon verstehe und mich vermutlich auch nichts weniger auf der Welt interessiert.“243 Die äußeren Voraussetzungen für sein Leben auf Distanz sieht der Erzähler in seinem sozialen Hintergrund, der für ihn vor allem Distinktion bedeutet, in seiner Zugehörigkeit zu einer wohlhabenden, westdeutschen „Barbour-Schicht“.244 Diese Welt der Reichen bildet den Kosmos, durch den der Erzähler sich bewegt. Seine Abgrenzung von „furchtbaren Proleten“, Hippies, Taxifahrern, selbst von seinen „schäbig“ und „schlampig“ gekleideten Freunden, der Kommentar zur „Unterschichts-Verbrüderung“ und seine Aufmerksamkeit für den „Windsor Knoten“ seiner Krawatte erweisen sich als prägend für die Figur.245 Auch erinnert er sich, dass er als Kind auf Flügen von den Stewardessen „wie ein[] kleine[r] Prinz[]“ behandelt wurde.246 In einem anmaßend überlegenen und herablassenden Ton gibt er sich als Experte für die unterschiedlichsten Aspekte seiner Lebenswelt. So weiß er, dass sein Bekannter Nigel
240 Hermes: Tristesse globale, S. 190; Harris, Robert: Fatherland. New York: Random House 1992. 241 Kracht: Faserland, S. 86. 242 Ebd., S. 54. 243 Ebd., S. 100. 244 Baßler: Der deutsche Pop-Roman, S. 113; vgl. Biendarra: Der Erzähler als ‚popmoderner Flaneur‘, S. 175. 245 Kracht: Faserland, S. 86, 31, 128. 246 Ebd., S. 51.
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„im Grunde ein asozialer Mensch ist“.247 Hesses Romane bezeichnet er als „entsetzlich langweilige und schlecht geschriebene Sachen“.248 Seine arrogante Analyse der Situation von Hausangestellten macht diesen Überlegenheitsgestus sehr deutlich und zeigt ihn in seiner Verbindung mit naivem Statusbewusstsein und gesellschaftspolitischer Ignoranz. „Ich glaube, für Bina und auch für diese Frau aus den Philippinen gibt es nichts Schöneres, als für die jungen Leute zu kochen und ihnen ihre Hemden zu bügeln. Vielleicht liegt es daran, daß diese Frauen selbst nie Kinder haben. Das ist eigentlich ein bißchen traurig, aber das ist wieder so eine Sache, in die sich die Menschen hineinmanövrieren, wieder so eine Art Abhängigkeit.“249
Das Bemühen des Erzählers um Distinktion, seine unbeteiligte Beobachterhaltung und seine Aufmerksamkeit für die Außenseite der Dinge, die Oberflächen, für „hairstyles, cars, bars, clubs, popular music, drinks, lifestyle accessories, and, above all, expensive clothes“,250 evozieren als literarischen Typus die Figur des Dandys „[v]on Oscar Wilde bis Ernst Jünger“.251 In die Richtung einer Distinktion als Überlegenheitsgestus gegenüber dem banalen Alltagsleben weist auch das Bekenntnis des Erzählers zu Thomas Mann, dessen Bücher ihm „Spaß gemacht“ haben.252 Die Reiseroute von Sylt in die Schweiz, der Wunsch des Reisenden nach einer überlegenen Distanz „auf einer Bergwiese, in einer kleinen Holzhütte, am Rande eines kalten Bergsees“, weit entfernt „von dem großen Land im Norden, […], da unten im Flachland“, ruft die Konstellation des Zauberbergs auf und Thomas Manns Entwurf des Sanatoriums bei „uns hier oben“,253 in dem Hans Castorp sieben Jahre der „Steigerung“, der „geistigen und sinnlichen Abenteuer[]“ erlebt.254 Auf den Typus des Dandys, die Attitüde elitärer Distinktion, verweist auch die Konzentration des Erzählers auf die Kategorien des Schönen und des
247 Ebd., S. 36. 248 Ebd., S. 59. 249 Ebd., S. 125. 250 Finlay: ‚Dann wäre Deutschland wie das Wort Neckarauen‘, S. 195. 251 Brinkmann: Unbehagliche Welten, S. 18, 22; vgl. u. a. Lettow: Der postmoderne Dandy, S. 285; Tacke / Weyand: Einleitung, S. 8, 9; Ullmaier spricht abwertend von einem „Manifest der Markendandy-Literatur“ (Von Acid nach Adlon und zurück, S. 33). 252 Kracht: Faserland, S. 154. 253 Mann: Der Zauberberg, S. 16. 254 Ebd., S. 152, 153; Mann: Einführung in den ‚Zauberberg‘, S. 612.
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Hässlichen. So betrachtet der Reisende seine Lebenswelt vorwiegend unter ästhetischen Gesichtspunkten, wobei er sich selbst ausnimmt von der Hässlichkeit des ihn Umgebenden: Es sind „ihre[] geschmacklosen Züge“.255 Den deprimierenden Bahnhof Hamburg Altona verlässt er schnellstmöglich, ebenso die hässliche Stadt Frankfurt.256 Die Reise durch Deutschland entspricht dem steten Versuch, sich dieser abstoßenden Lebenswelt zu entziehen. Sie mündet in Zürich, wo „es nie einen Krieg“ gab, wo es „schön“ ist.257 Ästhetische Kriterien ersetzen in der Wahrnehmung des Ich-Erzählers politische oder moralische. So rückt beim Zwischenhalt in Heidelberg die unzerstörte Schönheit der nicht bombardierten Stadt in den Mittelpunkt; Krieg, Zerstörung, Holocaust erscheinen lediglich als Hintergrundbedingungen: „Die Amerikaner wollten Heidelberg nach dem Zweiten Weltkrieg zu ihrem Hauptquartier machen, deswegen ist es nie zerbombt worden, […], und es ist wirklich schön dort im Frühling. […] Neckarauen. Das macht einen ganz kirre im Kopf das Wort. So könnte Deutschland sein, wenn es keinen Krieg gegeben hätte und wenn die Juden nicht vergast worden wären. Dann wäre Deutschland wie das Wort Neckarauen.“258
Auch in einer Lehrstunde über Deutschland, die der Erzähler als Information für seine Kinder imaginiert, finden sich nur ästhetische Wertungen: „Von den Deutschen würde ich erzählen, von den Nationalsozialisten mit ihren sauber ausrasierten Nacken, von den Raketen-Konstrukteuren, die Füllfederhalter in der Brusttasche ihrer weißen Kittel stecken haben, fein aufgereiht. Ich würde erzählen von den Selektierern an der Rampe, von den Geschäftsleuten in ihren schlecht sitzenden Anzügen […].“259
Die Indifferenz der aufzählenden Aneinanderreihung und die Ausblendung einer politischen und moralischen Bewertung des Holocaust zugunsten ästhetischer Urteile ermöglichen den Rückzug auf einen ästhetisierenden Standpunkt.260 Darin liegt eine offensichtliche Verletzung der political correctness, die in der Forschung als provokativer Kommentar des jungen Autors Christian Kracht zum Diskurs der Vergangenheitsbewältigung gedeutet wurde. Die Haltung seiner Figur
255 Kracht: Faserland, S. 82. 256 Vgl. ebd., S. 82, 66. 257 Ebd., S. 147. 258 Ebd., S. 85. 259 Ebd., S. 153. 260 Vgl. Finlay: ‚Dann wäre Deutschland wie das Wort Neckarauen‘, S. 196.
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wird dabei sowohl im Kontext der Popkultur gesehen, „im Rahmen derer Faschismusvorwürfe als drastische Beleidigungen eingesetzt werden“, als auch einer konservativen und / oder politisch desinteressierten jungen deutschen Generation zugeordnet und in den Kontext der Debatte um Martin Walsers Rede in der Frankfurter Paulskirche im Jahr 1998 gestellt.261 Brinkmann verbindet beide Positionen, wenn er davon ausgeht, dass „Krachts namenloser jugendlicher Held, der alles und jeden jederzeit als ‚Nazi‘ beschimpfen konnte, anscheinend exakt den Zeitgeist [traf, d. V.] und […] einen sozusagen in der Luft liegenden Generations- und Mentalitätswandel zum Ausdruck [brachte, d. V.]: ein deutliches Nein zur Political Correctness der bislang herrschenden Kultur der Vergangenheitsbewältigung; sowie ein ebenso entschiedenes Ja zur Oberfläche des Pop.“262
Der Autor Christian Kracht wird in diesem Zusammenhang oft mit seinem IchErzähler identifiziert. Diese hochproblematische Gleichsetzung, zumeist versehen mit dem Vorwurf der Affirmation, übersieht, dass Kracht eine Distanz zu seiner Figur herstellt, die in deren Unzuverlässigkeit des Erzählens, in ihren Fehlern und Widersprüchen deutlich wird und die es dem Autor ermöglicht, eine Haltung zu Vergangenheit und Gegenwart vorzuführen, ohne sie affirmativ zu bejahen, aber auch ohne sie moralisierend kommentieren zu müssen. Auf der Ebene der Narration dienen die NS-Referenzen dem Ich-Erzähler dazu, „die Umwelt auf Abstand zu halten“.263 Ablehnend spricht er über die Deutschen, die in seinen Augen „[a]b einem bestimmten Alter alle […] wie komplette Nazis“ aussehen.264 Als seine Begleiterin fast einen Rentner überfährt, nennt der Erzähler ihn einen Nazi, was alle zum Lachen bringt.265 Einen Taxifahrer bezeichnet er als „ziemliche[n] Faschiste[n]“ und „armes, dummes Nazischwein in einem Trainingsanzug“.266 Der politische Terminus wird zum Mittel einer generationellen und sozialen Abgrenzung, die aber keinen inhaltlichen Bezug hat. Im Flugzeug beschimpft der Erzähler einen Herrn als „SPD-Nazi“ und erfreut sich nachhaltig an dieser Provokation.267 Das Ziel seines Freundes Nigel, dem es darum geht, alle zu provozieren,
261 Rauen: Pop und Ironie, S. 138; vgl. Finlay: ‚Dann wäre Deutschland wie das Wort Neckarauen‘, S. 203. 262 Brinkmann: Unbehagliche Welten, S. 18. 263 Rauen: Pop und Ironie, S. 139. 264 Kracht: Faserland, S. 93. 265 Vgl. ebd., S. 20. 266 Ebd., S. 38. 267 Ebd., S. 53.
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kann er nachvollziehen: „Linke, Nazis, Ökos, Intellektuelle, Busfahrer, einfach alle.“268 Der Kern der Provokation liegt in dem oberflächlichen, naiven und indifferenten Umgang mit dem Diskurs der Vergangenheitsbewältigung. So spricht der Erzähler von „diesem grauenhaften Nazi-Leben“ in Deutschland, das er in einen vagen Zusammenhang damit bringt, „daß die Menschen, die ich kenne und gern habe, so eine bestimmte Kampfhaltung entwickelt haben und daß es für sie nicht mehr anders möglich ist, als aus dieser Haltung heraus zu handeln und zu denken“, ohne den Versuch zu machen, diese Haltung und den angedeuteten Zusammenhang zu klären.269 Den Ursprung eines typisch-deutschen „Abkürzungswahn[s]“ schreibt er den Nazis zu, eine ästhetische Kontinuität konstatiert er von Leni Riefenstahls umstrittenem Film Triumph des Willens zu Wim Wenders Film Himmel über Berlin, ohne diese Gedanken weiter auszuführen.270 Mit seinen Tiraden, die Stichworte aufgreifen und den Anschein von Meinung erwecken, vermeidet er jede persönliche Auseinandersetzung und vor allem die Frage nach der Rolle und Verantwortung der eigenen Generation.271 Kracht führt einen Zuschauer vor, dessen Rückzug von Historie und Gegenwart auf eine oberflächliche und indifferente Position der Distanz programmatisch für den Entwurf des Selbst- und Weltverhältnisses erscheint. Auf Distanz zielt auch der Ekel, den der Erzähler in der Beschreibung seiner Lebenswelt geradezu genussvoll vermittelt. Grinsend registriert er vom Fenster des dritten Stockwerks aus sicherem Abstand das „Furzen“ eines Taxifahrers.272 Beim Gedanken an den Geruch auf öffentlichen Pissoirs läuft ihm „ein kleiner angenehmer Schauer den Rücken herunter.“273 Mit Brinkmann gesprochen zieht sich „eine – Verzeihung – deutliche Kackspur durch den gesamten Roman.“274 Gleich zu Beginn seiner Ausführungen berichtet der Erzähler en détail, wie auf Sylt „ein schwarzer Windhund mit einem Halsband, auf das so winzige goldene Kühe geklebt sind, eine große Kackwurst neben einen Tisch setzt. Der Hund kackt komischerweise halb im Stehen, und ich kann genau erkennen, wie ein Viertel der Wurst an seinem Hintern klebenbleibt.“275
268 Ebd., S. 31, 54. 269 Ebd., S. 70. 270 Ebd., S. 35, 61. 271 Vgl. Biendarra: Der Erzähler als ‚popmoderner Flaneur‘, S. 174. 272 Kracht: Faserland, S. 37. 273 Ebd., S. 80. 274 Brinkmann: Unbehagliche Welten, S. 22. 275 Kracht: Faserland, S. 14, 15.
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Ausführlich schwadroniert er über die Zugtoilette, darüber wie „die Pisse“ dem aus dem Fenster Sehenden ins Gesicht fliege und die „Scheiße“ auf Häuser-Dächer unter einer Eisenbahnbrücke falle.276 Diese Aufmerksamkeit des Erzählers für das Eklige lässt sich mit Sigmund Freud als ein „Abwehrsymptom“ verstehen,277 als Ausdruck des Versuchs, die Lebenswelt auf Distanz zu halten. Distanz als misslingende Pose Allerdings erweisen sich Verweigerung, Distinktion, Provokation und Ekel als Posen der Selbstbehauptung, die durchgängig fragwürdig bleiben. Hinter der Geräuschkulisse arrogant vorgetragener Pseudowahrheiten, abwertender Stereotypen und oberflächlicher Geschwätzigkeit wird ein hohes Maß an Verstrickung in die Strukturen des verhassten Faserlandes deutlich. Die Pose programmatischer Indifferenz und Abwehr jeglicher Einbindung wird in Widersprüchen brüchig: „Es interessiert mich auch nicht, aber eigentlich interessiert es mich doch.“278 An anderer Stelle heißt es: „Ich hasse mich selbst dafür, für dieses allzu durchschaubar feindselige Verhalten, aber eigentlich ist es mir auch furchtbar egal.“279 Die Rolle des Dandys als Möglichkeit, sich „gegen die Zumutungen der Moderne hinter eine nihilistischen Pose“280 zu verschanzen, scheint in der Lebenswelt des Ich-Erzählers unverfügbar. Nicht nur findet er Thomas Manns „blöde[s] Grab“ in der Schweiz nicht, auch der „Müßiggang“ des Dandys ist für ihn eine „Beschäftigung, die es eigentlich gar nicht mehr gibt“, und ausgerechnet angesichts „einer imaginären Landkarte von England, dem Herkunftsland des Dandytums, ruiniert der Ich-Erzähler seine Kleidung durch Erbrechen.“281 Auch der Bildungshintergrund
276 Ebd., S. 24, 27. 277 Freud, Sigmund: Hemmung, Symptom und Angst. Frankfurt am Main: S. Fischer 1986, S. 6. 278 Kracht: Faserland, S. 29. 279 Ebd., S. 144. 280 Erbe, Günter: Dandytum, Dekadenz & Pop-Moderne. Der moderne Dandy. Zur Herkunft einer dekadenten Figur. In: Tacke, Alexandra / Weyand, Björn (Hg.): Depressive Dandys. Spielformen der Dekadenz in der Pop-Moderne. Köln u.a.: Böhlau 2009, S. 17-38, hier S. 17. 281 Kracht: Faserland, S. 156, 133; Stauffer, Isabelle: Faszination und Überdruss. Mode und Marken in der Popliteratur. In: Tacke, Alexandra / Weyand, Björn (Hg.): Depressive Dandys. Spielformen der Dekadenz in der Pop-Moderne. Köln u.a.: Böhlau 2009, S. 39-59, hier S. 55.
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des Erzählers taugt nicht als Basis überlegener Distinktion. Wenn er über Walter von der Vogelweide und Bernard de Clairvaux schwadroniert, die er für mittelalterliche Maler hält, den Plural „Scampis“ bildet und zugeben muss, einem Gespräch über die Filmtheoretiker Deleuze und Metz nicht folgen zu können, wirkt der intellektuelle Ertrag seiner schulischen Bildung im Elite-Internat nicht überzeugend, Salem als inhaltlich eher leere Marke.282 Wenig überzeugend ist auch der Distinktionsversuch durch Konsum, den er zwar plakativ vorträgt, aber, anders als es zunächst scheint und in Kritik und Forschung häufig zu lesen ist, zugleich abwertet.283 Der Champagner schmeckt „schal und flach und abgestanden und nach Asche.“284 Über das modische Accessoire, das ihn zu Beginn des Textes als Angehörigen einer Wohlstandsjugend markiert, die „Barbourjacke“, lässt er verlauten: „[…] und wenn ich es mir recht überlege, dann gefällt mir die Jacke eigentlich auch nicht mehr so richtig.“285 Seine Sonnenbrille sei „im Grunde häßlich und affig“.286 Von beiden trennt er sich, indem er sie auf dem Frankfurter Flughafen verbrennt. Sein Credo der Distinktion durch Konsum wird auch dadurch konterkariert, dass er ein Deutschlandbild sinnloser Produktionsabläufe entwirft, eine „Maschine, die sich bewegt und Dinge herstellt, die von niemandem beachtet werden“, und das Bedürfnis nach Distinktion der deutschen Lebenswelt insgesamt als prägendes Merkmal zuordnet.287 Er beschreibt es als das Bedürfnis, in dem „Glauben weiter leben [zu, d. V.] können, sie würden es ein bißchen besser tun, ein bißchen härter, ein bißchen stilvoller“, das zu einem zwanghaften Konsum führe, da sie „gute Autos fahren müssen und gute Drogen nehmen und guten Alkohol trinken und gute Musik hören müssen, während um sie herum alle dasselbe tun, nur eben ein ganz klein bißchen schlechter.“ Die nur minimale Differenz macht die Bemühungen der „Auserwählten“ obsolet.288 Auch die Konzentration auf die schönen Oberflächen des Faserlands mutet als Distanzstrategie wenig wirkungsvoll an, wenn die Beschreibung die Scheinhaftigkeit impliziert. Allgegenwärtig erscheinen Fake und Pose: Karins „ziemlich blaue Augen“ erklärt der Erzähler sich mit „gefärbte[n] Kontaktlinsen“; während sie sich küssen, sieht er ihr nicht in die Augen, sondern „in die blaugefärbten Kontaktlinsen“.289 Auf die Aussage der
282 Kracht: Faserland, S. 13. 283 So auch Finlay: ‚Dann wäre Deutschland wie das Wort Neckarauen‘, S. 197. 284 Kracht: Faserland, S. 23. 285 Ebd., S. 65. 286 Ebd., S. 66. 287 Ebd., S. 149; vgl. S. 153. 288 Ebd., S. 153. 289 Ebd., S. 14, 23.
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ehemaligen Schulkameradin, sie studiere BWL in München, reagiert er skeptisch: „Das erzählt sie wenigstens. Genau kann man so was ja nicht wissen.“290 Eine Werbung am Frankfurter Flughafen empfindet er als Täuschung: „Es wird einem einiges vorgegaukelt auf diesem Flughafen, so eine große Welt, die im Innersten von Mannesmann und Brown Boveri und Siemens zusammengehalten wird“.291 Das intertextuell angespielte Faustzitat dient sicher der Ausstellung von Bildungswissen. Zugleich zeigt es eine distanzierende Ablehnung, die sich gegen die Oberflächenbilder der kapitalistischen Welt richtet und ironisch auf anmaßende Ansprüche globaler Unternehmen verweist. Der Distinktionsgestus wird brüchig in solchen Gefühlen der Ablehnung, der Sinnlosigkeit und Scheinhaftigkeit, die der Erzähler gegenüber der eigenen, von der Masse abgehobenen Lebenswelt empfindet, in die er zugleich zutiefst involviert ist. Diese Ansätze der Ablehnung seiner konsumfixierten Lebenswelt bleiben paradox, wie seine Haltung zur Barbourjacke zeigt: Er verbrennt die Jacke, beschafft sich aber bei nächster Gelegenheit eine andere. Ebenso nimmt er Drogen, obwohl er „Drogen absolut widerlich“ findet.292 „Partys“ sind ihm „eigentlich nicht so wichtig“, er spricht durchgängig von der „blöden Party“ und besucht doch eine nach der anderen.293 Bei Fisch Gosch auf Sylt isst er Scampi und bestellt sich eine weitere Portion, obwohl ihm schon schlecht ist. Er isst, als gelte es, ein Programm des Konsumierens abzuarbeiten, als gebe es nichts Anderes zu tun in seiner Lebenswelt. Eingebunden in sein Bild der Maschine Deutschland zeigt er sich zudem in seiner oft aggressiven Stilkritik. Auch der Eindruck der Unzuverlässigkeit, von Pose und Fake, die er in Bezug auf seine Lebenswelt feststellt, betrifft seine eigene Person, die sich wiederholt in Widersprüche verstrickt und gern auf bewährte Posen der Selbstdarstellung zurückgreift. Ich „lächle dann in den Spiegel hinein, und zwar in meiner charmantesten Weise, so halb von unten. […], das kann ich nämlich ganz gut.“294 Der Erzähler ist nicht nur an der Aufrechterhaltung seiner oberflächlichen Konsumwelt aktiv beteiligt, sondern zutiefst in deren Strukturen verfangen, denen er nicht entkommen kann, die ihn bestimmen, während er sie zugleich als sinnlos empfindet. Angesichts seiner widersprüchlichen und misslingenden Versuche, sich einerseits durch Distinktion zu behaupten und andererseits die Konsumwelt von sich zu weisen, angesichts seiner Gefühle der Täuschung und Sinnlosigkeit, angesichts der
290 Ebd., S. 13. 291 Ebd., S. 65. 292 Ebd., S. 42. 293 Ebd., S. 36, 45. 294 Ebd., S. 79, 80.
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Gleichzeitigkeit von Verstrickung und misslingenden Versuchen autonomer Distanz lässt sich Faserland als Ausdruck subjektiven Scheiterns in einer kapitalistischen Lebenswelt lesen, aus der doch kein Entrinnen möglich scheint.295 In diesem Zusammenhang gewinnen auch die fest gefügten Bilder und überheblichen Urteile des Erzählers in der Darstellung seiner Lebenswelt eine andere Bedeutung: Zwar vermitteln sie in ihrer vereinfachenden Arroganz zunächst den Eindruck eines Rückzugs auf die Position distanzierter Überlegenheit. Diese erweist sich aber als misslingende Pose autonomer Distanz gegenüber einer prägenden und zugleich unverständlichen Lebenswelt. Der Erzähler wirkt verstrickt in Bilder, Phrasen und Diskurse, die seine Wahrnehmung prägen und ihn erst hervorbringen. Sein Bewusstsein lässt sich als „regiert“ beschreiben. Eine zentrale Rolle spielen die „populärkulturellen Errungenschaften (Film, Fernsehen, Werbung etc.)“, die seine Wahrnehmung in hohem Maße vorprägen.296 Das konvulsive Erbrechen einer Partybekanntschaft vergleicht er mit einer Szene aus dem Film Der Exorzist, ein bekannter Trendforscher „sieht tatsächlich haargenau so aus wie der irre Wanderprediger in dem Film Poltergeist 2.“297 Das Musical, das der Erzähler und ein Freund sich „ausgedacht“ haben, bringt nichts Neues, sondern wäre „eine Mischung aus Starlight Express und Phantom der Oper“.298 Ein Strand ist herrlich, „wie auf einem Prospekt von Tui.“299 Der Reisende passt sein Verhalten der Werbung an, wenn er am Flughafen „die blöde Kreditkarte auf den Schalter [legt, d. V.], und zwar so wie in der Visa-Werbung, wo die Frau die Kante der Karte mit einem Schnapp auf den Tisch schnalzt, und dann sage ich, daß ich die nächste Maschine nach Frankfurt möchte.“300 Er beschreibt sich als eine Trickfilm-Figur, die durch „Muster“ bestimmt wird: „Es ist wie so ein Rädchen, das sich dreht, und wenn das richtige Gegenstück auf einem anderen Rädchen gefunden ist, dann rastet das erste Rädchen ein, und es kann losgehen. Das Ganze kann man, glaube ich, sich ein bißchen wie in einem Trickfilm vorstellen.“301
295 Vgl. Brinkmann: Unbehagliche Welten, S. 23. 296 Ebd., S. 18. 297 Kracht: Faserland, S. 83; vgl. S. 46. 298 Ebd., S. 83. 299 Ebd., S. 134. 300 Ebd., S. 51. 301 Ebd., S. 101.
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Gängigen Verallgemeinerungen entsprechend führt ihn der Blick auf ein Düsseldorfer Autokennzeichen zu dem Schluss: „Aha, ein Werber.“302 Die Reproduktion abgeschmackter Ost-West-Klischees, die er affirmativ mit dem Untergang seiner Lebenswelt verbindet, unterstreicht, dass eine Auseinandersetzung mit Mauerfall, Wiedervereinigung und beginnender Öffnung Europas nach Osten in seinem ganzen Bericht eine Leerstelle bleibt, so wie seine Reiseroute sich auf Westdeutschland beschränkt: „Vielleicht wird der Osten den Westen überrollen mit seiner Ruhe und seinen Trainingsanzügen. Das wäre beruhigend, muß ich denken, wirklich sehr beruhigend, denn ein lilafarbener Ost-Mensch ist mir immer noch eine Million mal lieber als so ein Understatement-WestMensch, der irgendwo in einer Einkaufspassage Austern schlürft. Und die großen ungewaschenen Massen aus dem Osten, aus Moldawien, aus der Ukraine, aus Weißrußland, sie werden kommen. Soviel ist sicher.“303
Klischees bestimmen seinen Blick auf Politik. Demonstrationen nimmt er über die fest gefügten Phrasen der Berichterstattung wahr: „[U]nd dann wird wieder diskutiert, ob die Polizei zu gewalttätig ist, oder die Demonstranten oder beide und ob die Gewaltspirale eskaliert. Das ist wieder so ein unglaublicher Satz.“304 Die Passage erinnert an Bodo Morshäusers Die Berliner Simulation (1983), wo es in ähnlichem Zusammenhang heißt: „Ich sehe das Modell eines Fernsehbeitrags über das Modell einer Demonstration.“305 Der französische Philosoph Jean Baudrillard, der den Begriff des Simulakrums prägt, spricht von der bestimmenden Kraft der bezeichnenden Bilder als einer allbeherrschenden Simulation, die für die postmoderne Wahrnehmung kennzeichnend ist: „[…] jegliche Realität wird von der Hyperrealität des Codes und der Simulation aufgesogen. Anstelle des alten Realitätsprinzips beherrscht uns von nun an ein Simulationsprinzip.“306 Der Versuch des Erzählers, sich durch den Rückzug auf vorgefertigte Bilder abzugrenzen, erscheint hilflos. Seine Pose ablehnender Distanz kann nicht verschleiern, dass er in den Zusammenhang der Reproduktion be- und feststehender Deutungsmuster zutiefst verfangen ist. Das Hantieren mit Klischees führt zwar vordergründig zu Orientierung, dazu, dass Fremdes ohne eigene Interpretationsanstrengung verfügbar wird,
302 Ebd., S. 21. 303 Ebd., S. 106. 304 Ebd., S. 30. 305 Morshäuser: Die Berliner Simulation, S. 97. 306 Baudrillard, Jean: Der symbolische Tausch und der Tod. Aus dem Franz. v. Gerd Bergfleth, Gabriele Ricke und Ronald Voullié. München: Matthes & Seitz 1982, S. 8.
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die damit verbundene Distanz ist aber höchst ambivalent: Sie scheint jede Art von persönlicher Auseinandersetzung zu ersparen, macht sie aber faktisch unmöglich. Die vermeintlich behauptete Überlegenheit und gewonnene Deutungshoheit ist gleichbedeutend mit dem Unvermögen von Erfahrung und Aneignung. Die bezuglose Reproduktion des Vorgegebenen bedeutet ein Zugleich von heteronomer Distanz und Verstrickung – Vorgänge, die der Philosoph Bernhard Waldenfels in seiner Phänomenologie des Fremden als extreme Schwächung der Erfahrung thematisiert, als Verwandlung der Welt in ein „Weltbild“, ein „stahlhartes Gehäuse“ ohne Möglichkeit des Entkommens.307 Auch in Bezug auf die NS-Referenzen, die den Roman durchziehen, erweist sich das Hantieren mit Klischees als eine Verknüpfung von Abwehr und Verstrickung, die jede Möglichkeit der persönlichen Auseinandersetzung und Erfahrung als Prozess der Aneignung verhindert. Im intertextuellen Bezug zu Robert Harris’ Fatherland wirken die Distanzversuche des Ich-Erzählers wie eine Kopie des Fatherland-Protagonisten: Xaver März, Kriminalbeamter in der Tradition des Film Noir-Detective, deckt in der Fiktion des Romans den Holocaust auf und behauptet sich mutig gegen die Nationalsozialisten. Krachts Ich-Erzähler übernimmt nicht nur März’ Gewohnheit, Rauchringe zu produzieren, was ihm allerdings nicht gelingt, er kopiert ihn auch in seiner Rolle als starker Mann auf Nazi-Jagd. Dies wird im Kontext seiner Lebenswelt zu einer lächerlichen Pose, sein Anti-NaziGestus wirkt mechanisch, seine Gegner kaum auszumachen, die Verbrechen, die er ihnen unterstellt, fast beliebig in ihrer indifferenten Aufzählung. Der Taxifahrer, dem er anzusehen glaubt, „daß er einmal KZ-Aufseher gewesen ist oder so ein Frontschwein, der die Kameraden vors Kriegsgericht gebracht hat, wenn sie abends über den blöden Hitler Witze gemacht haben, oder daß er irgendein Beamter war, in einer hölzernen Schreibstube in Mährisch-Ostrau, der durch seine Unterschrift an einem Frühjahrsmorgen siebzehn Partisanen, ihre Frauen und ihre Kinder liquidieren ließ,“308
war in den 1930er und 1940er Jahren eher Kind ebenso wie die Rentner, die er immer wieder als Nazis beschimpft, kaum die Protagonisten des nationalsozialistischen Deutschlands gewesen sein dürften, für die der Erzähler sie hält. Sein Gebrauch von Versatzstücken aus der NS-Historie, seine Rede von einem „WagnerNazi-Gewitter“ und den „endlosen deutschen Autobahnen“ entfalten den Eindruck einer Reproduktion vorgefertigter Phrasen, wie er auch seine Weigerung,
307 Waldenfels: Bruchlinien der Erfahrung, S. 31. 308 Kracht: Faserland, S. 94.
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Ernst Jünger zu lesen, damit begründet, dass dieser „ein halber Nazi“ gewesen sein „soll“.309 Es gibt zwei Momente im Roman, in denen eine persönliche Berührung des Ich-Erzählers mit dem Thema der NS-Vergangenheit angedeutet wird. Der erste ist mit der Erinnerung an den schulischen Sportunterricht bei Herrn Solimosi verbunden, einen Flüchtling aus Ungarn, und den Dauerlauf zur „Polenlinde“, an der „während des Zweiten Weltkrieges zwei polnische Fremdarbeiter aufgehängt“ wurden. Der Erzähler interpretiert den Lauf als „eine Art Rache […] von Herrn Solimosi im Namen aller Slawen an uns Deutschen“ und referiert seine damalige Überlegung, „ob ich nicht Buße tun könnte für die Verbrechen der Nazis, dadurch, daß ich zur Polenlinde und zurück laufe.“310 Diese naive Vorstellung der Buße deutet Brinkmann als „einen bitterbösen Scherz mit der herrschenden Kultur der Vergangenheitsbewältigung“, wobei er Faserland in die Tradition der „Aufarbeitungs- und Bewältigungsliteratur“ stellt.311 Auch Rauen konstatiert „eine satirische Auseinandersetzung mit einem zur Routine verkommenen Diskurs […], der bei beliebigen Themen auf die NS-Vergangenheit als Dreh- und Angelpunkt der deutschen Geschichte rekurriert“.312 Nach Biendarra zeigt der Roman, der „im Modus der Verpflichtung, die Vergangenheit zu ‚bewältigen‘“ bleibe, die Verweigerung des Ich-Erzählers, die Verantwortung seiner Generation zu reflektieren.313 Im vorliegenden Zusammenhang ist zunächst die Feststellung entscheidend, dass der Erzähler den Gedanken einer persönlichen Betroffenheit und Verantwortung in seinen Kindheitserinnerungen verortet und als naiv, überwunden und unsinnig markiert: „Das habe ich tatsächlich gedacht, damals.“314 Einen zweiten Ansatz der Einbindung erfährt der Erzähler in Heidelberg, wo er das Plakat zu dem Film Stalingrad in einer Schaufenstervitrine entdeckt und sich gespiegelt sieht „in der Vitrine, mein Kopf trägt plötzlich einen Stahlhelm“.315 Sein Einfall, „daß das alles auch mir hätte passieren können“, geht im Fortgang seiner Überlegung unmittelbar in konventionelle Betroffenheitsphrasen über, die vor dem Hintergrund seines Abscheus für das Faserland den Eindruck sarkastischer
309 Ebd., S. 98, 119, 59. 310 Ebd., S. 142. 311 Brinkmann: Unbehagliche Welten, S. 24. 312 Rauen: Pop und Ironie, S. 139; vgl. Finlay: ‚Dann wäre Deutschland wie das Wort Neckarauen‘, S. 203: „Conventional attitudes of the left-liberal consensus with regard to the Third Reich are […] challenged.“ 313 Biendarra: Der Erzähler als ‚popmoderner Flaneur‘, S. 174. 314 Kracht: Faserland, S. 142. 315 Ebd., S. 97.
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Ironie vermitteln: „[…], daß ich wahnsinniges Glück gehabt habe, im demokratischen Deutschland zu leben, wo keiner an irgendeine Front muß mit siebzehn.“316 Schon die Spiegelung konterkariert die Einbindung, indem sie den Erzähler in die Rolle eines Zuschauers versetzt, distanzierend unterstreicht er zudem, er habe nur „ganz kurz“ auf das Plakat gesehen und weist den Moment der Berührung massiv zurück: „Das ist natürlich SPD-Gewäsch, was ich da denke, aber ich bin schließlich auch höllisch betrunken.“317 Trotz seiner Abwehr bleibt der Erzähler eingebunden in den historischen Zusammenhang, von dem distanziert zu sein er vorgibt. Deutschland ist in Faserland durchgängig „product of a genocidal war“.318 Die Zerstörung des Krieges bleibt in den Stadtbildern und den Menschen gegenwärtig. Das Fortbestehen faschistischer Einstellungen deutet sich an, wenn ein Taxifahrer, den der Erzähler als Nazi beschimpft, von dem „Gesocks“ in der Hamburger Hafenstraße spricht, das man „wegsprengen müßte“, oder wenn der Erzähler anmerkt, man hätte sein Verhalten sanktioniert, „wenn ich ein Ausländer wäre“.319 Die massiven Abwehrversuche des Erzählers erscheinen im Umkehrschluss als Ausdruck der andauernden Virulenz des Themas. Es lässt ihn nicht los, er bleibt darin verfangen, es bricht aus ihm heraus. Die NS-Geschichte erscheint „als etwas Widerwärtiges, das vom Ich nicht abzutrennen ist und unkontrolliert an die Oberfläche gelangt.“320 Den sauber ausrasierten Nacken der Nationalsozialisten stellt er auch bei sich und seinem Freund Nigel fest.321 Der Rückzug des Erzählers auf Phrasen und Klischees wie auch seine Pose als Nazi-Jäger werden als misslingende Versuche autonomer Distanz erkennbar. Dieser Konstellation entspricht auf formaler Ebene die Ironie, mit der die NS-Geschichte ständig aufgerufen, der Diskurs in Versatzstücken und Phrasen reproduziert wird und präsent bleibt. Insgesamt holt der Ekel, mit dem der Ich-Erzähler das Faserland auf Distanz zu halten sucht, ihn mit aller Gewalt ein. Was der Protagonist über den Zug verlauten lässt, scheint für seine ganze Lebenswelt zu gelten: „[E]s ist irgendwie körperlich unerträglich geworden.“322 Entsprechend muss er sich unaufhörlich übergeben, ebenso die Menschen um ihn herum.323 Sein Körper und seine Umgebung
316 Ebd. 317 Ebd. 318 Finlay: ‚Dann wäre Deutschland wie das Wort Neckarauen‘, S. 201. 319 Kracht: Faserland, S. 38, 53; vgl. Rauen: Pop und Ironie, S. 138. 320 Hermes: Tristesse globale, S. 190. 321 Vgl. Kracht: Faserland, S. 153, 31. 322 Ebd., S. 24. 323 Vgl. ebd., S. 21, 33, 46, 75, 77, 105.
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werden fortwährend mit Lebensmitteln sowie mit Kot, Urin und Erbrochenem verunreinigt. Angesichts dieses drastischen Ekels zwischen Abscheu und Genuss liegt ein Bezug zu Julia Kristevas Abjekttheorie Pouvoirs de l’horreur. Essai sur l’abjection (1980) nahe. Das Abjekt ist nach Kristeva bedrohlich, weil es nicht Subjekt und nicht Objekt ist – „[n]i sujet ni objet“ – und damit die Grenzziehung zwischen dem Ich und dem Anderen bedroht, eine Verunsicherung, die sowohl Ekel als auch Genuss auslösen kann.324 Die Überwältigung des Erzählers durch den Ekel zeigt in pointierter Form das Misslingen der Abgrenzung, das hilflose Scheitern des Versuchs, Distanz gegenüber der vereinnahmenden Lebenswelt zu bewahren. Kracht stellt seinem Roman ein Zitat aus Samuel Becketts Der Namenlose als Motto voran. „Vielleicht hat es so begonnen. Du denkst, du ruhst dich einfach aus, weil man dann besser handeln kann, wenn es soweit ist, aber ohne jeden Grund, und schon findest du dich machtlos, überhaupt je wieder etwas tun zu können. Spielt keine Rolle, wie es passiert ist.“
Nicht nur der namenlose Ich-Erzähler verknüpft Krachts Text mit Becketts Drama, die fast übereinstimmenden Satzanfänge von Zitat und Roman – „Vielleicht hat es so begonnen“ / „Also, es fängt damit an“325 – unterstreichen den thematischen Zusammenhang: Eine Position der Nicht-Beteiligung, als aktiv eingenommen gedacht, erweist sich als grundsätzliche und unausweichliche subjektive Machtlosigkeit. Der Zuschauer im Faserland, dessen Versuche autonomer Selbstbehauptung der Roman vorführt, kann seine Machtlosigkeit im Sinne einer Beziehung im defizienten Modus, als Zugleich von heteronomer Distanz und Einbindung nicht verschleiern. Haltlos im indifferenten Raum Eine umfassende Bezugs- und Beziehungslosigkeit prägt das Verhältnis des IchErzählers zu sich und Anderen. In seinem Selbstverhältnis ist er sich fremd, findet keinen Zugang zu seinem Empfinden und Erleben. Seine Emotionen sind ihm unklar: „Das hat mich nicht traurig gemacht, damals, aber irgendwie hat es das doch. Ich weiß auch nicht wieso.“326 Herkunft und Vergangenheit leuchten lediglich auf
324 Kristeva, Julia: Pouvoirs de L’Horreur. Essai sur L’Abjection. Paris: Editions du Seuil 1980, S. 9; vgl. Langston: Escape from Germany, S. 56, 57. 325 Kracht: Faserland, S. 13. 326 Ebd., S. 67.
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in „Fetzen der Erinnerung“ und „assoziative[n] Reflexe[n]“.327 Die Zukunft erscheint ihm unsicher und fremd. „Ich denke daran, daß ich nicht weiß, wie das in den kommenden Jahren sein wird. Sonst war immer alles überschaubar. Aber jetzt weiß ich einfach nicht, was da kommt.“328 Verschlossen bleibt ihm sein Unbewusstes: Nachdem er ausführlich über einen Streit mit seinem Freund Alexander berichtet hat, konstatiert er, er habe – in einer für den Leser offensichtlichen Freud’schen Fehlleistung –, „aus Versehen Alexanders Nummer“ statt der des Zimmerservices gewählt.329 Seine problematische Sexualität, in der Forschungsliteratur als abgewehrte Homosexualität und psychische Unfähigkeit zu Nähebeziehungen diskutiert, rückt ihm nicht ins Bewusstsein.330 Während ihm seine Lebenswelt in fest gefügten Bildern erscheint, nimmt er sich selbst nicht in den Blick: „Die Mitte von meinem Gesicht, die will ich gar nicht mehr sehen“. Vor dem Spiegel kneift er die Augen zu und sieht „nicht wirklich hin, nur so an die Ränder.“331 Auf körperliche Empfindungen geht er nicht ein: Er isst, obwohl ihm schlecht ist, er trinkt, was ihm nicht schmeckt: „Ich mag gar keinen Kaffee. Mein Herz fängt an, wie blöd zu rasen, und ich fühle mich schwindlig, aber ich trinke trotzdem morgens zwei große Tassen.“332 In Gesprächen misslingt ihm die Teilnahme, er fühlt sich überfordert: „[I]ch verstehe gar nichts mehr, obwohl ich mir natürlich diese Namen merke, wie ich mir ja alles merke. Wie gesagt, ich kann dem Gespräch nicht mehr folgen“.333 Seine eigenen Aussagen versieht er mit einschränkenden Modalpartikeln wie „irgendwie“ und „eigentlich“ und stellt sie auch explizit in Frage: „[I]ch weiß nicht, ob ich mich da richtig ausdrücke“.334 Döring bezeichnet diese sprachlichen Charakteristika des Erzählers als „sprachlich Zusich-selber-in-Distanz-Treten“.335 Ständige Relativierungen markieren diese Distanz als heteronom, als Unsicherheit und Fremdheit. Den Eindruck desorientierter Verlorenheit vermittelt zudem die monologische Form seines Reiseberichts. Über Motivation, Ablauf und Ziel seiner Reise befindet sich der Erzähler im Unklaren,
327 Lettow: Der postmoderne Dandy, S. 293. 328 Kracht: Faserland, S. 106. 329 Ebd., S. 74. 330 Die Sexualität des Ich-Erzählers wird in der Forschung oft als problematisch erwähnt: vgl. Baßler: Der deutsche Pop-Roman, S. 113; Glawion / Nover: Das leere Zentrum, S. 110; Brinkmann: Unbehagliche Welten, S. 22. 331 Kracht: Faserland, S. 128. 332 Ebd., S. 147; vgl. S. 15. 333 Ebd., S. 39. 334 Ebd., S. 24, 25; vgl. S. 36. 335 Döring: ‚Redesprache, trotzdem Schrift‘, S. 231.
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er „weiß nicht genau, wohin ich fahren soll“.336 Zugleich empfindet er sich als gänzlich fremdbestimmt und passiv, ist nicht Akteur seiner Reise: „Das passiert alles so, als ob es gar nicht zu verhindern wäre, obwohl ich mich ja weiß Gott treiben lasse und nun wirklich nicht nach Frankfurt hätte fliegen müssen, sondern genauso gut hätte nach Berlin fliegen können oder nach Nizza oder nach London.“337 Eine bezugslose Distanz bestimmt auch die Beziehungen des Ich-Erzählers zu anderen Menschen. Persönliche Beziehungen, wenn sie denn bestehen, sind lose und unverbindlich. Der Reisende ist allein unterwegs und geht, obgleich er immer Geld hat, keiner geregelten Tätigkeit nach. Seine Eltern tauchen nur in der Erinnerung auf, aus dem Eliteinternat Salem wurde er vermutlich „rausgeschmissen“.338 Zwar trifft er während seiner Reise eine Vielzahl verschiedener Menschen, doch bleibt er meist in der Rolle des außenstehenden Beobachters. „Ich überlege, wie ich sie am besten ansprechen könnte. Aber eigentlich will ich das auch gar nicht. Ich will nur hier stehen und ihr zusehen“.339 Jeglicher Kontaktversuch endet in Scheitern und Abbruch. Nach einer kurzen Begegnung mit seiner ehemaligen Klassenkameradin Karin auf Sylt verlässt er die Insel am nächsten Tag.340 Die Endgültigkeit des Abbruchs seiner Beziehung zu Nigel manifestiert sich in seinem Zurücklassen des Zweitschlüssels zu dessen Wohnung.341 In Frankfurt klaut er seinem ehemaligen Mitschüler Alexander, dem er zufällig in einer Bar begegnet, die Barbourjacke und reist weiter.342 Am Bodensee stiehlt er den Porsche seines Gastgebers Rollo, um sich nach Zürich abzusetzen.343 Die Beziehungsabbrüche werden zum Motor einer desorientierten Reise, die zwischen Flucht und Suche oszilliert. Die Kontakte zu Bekannten und Freunden sind geprägt von einem Nebeneinander der Sprachlosigkeit, des Unverständnisses und der Indifferenz. Der Erzähler verlässt die Wohnung seines Freundes Nigel irritiert und verletzt, „[o]hne irgend etwas zu sagen“.344 Alexander, seinen Schulfreund, mit dem er sich vor Jahren zerstritten hat, ruft er an, beginnt aber kein Gespräch.345
336 Kracht: Faserland, S. 66. 337 Ebd., S. 63. 338 Ebd., S. 108. 339 Ebd., S. 115. 340 Vgl. ebd., S. 24. 341 Vgl. ebd., S. 50. 342 Vgl. ebd., S. 82. 343 Vgl. ebd., S. 145. 344 Ebd., S. 50. 345 Ebd., S. 75.
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Sich „Alexanders Gesicht vorzustellen“, gelingt ihm nicht.346 Immer wieder vergeblich bemüht sich der Erzähler, Anderen zuzuhören: „[I]ch schwöre, daß ich zuhören will, aber es gelingt mir einfach nicht.“347 Einverständnisse sind nur scheinbare: „Karin denkt, ich grinse über den Witz, den sie gerade erzählt hat und grinst zurück, obwohl ich, wie gesagt, gar nicht zugehört habe.“348 Warum sein Schulfreund Nigel und er sich mögen, weiß er „eigentlich gar nicht“.349 Entsprechend erscheinen Momente des Verstehens trügerisch und letztlich unmöglich: „Es gibt so Momente, in denen ich alles genau verstehe […], und dann plötzlich entgleitet mir wieder alles. […], und dann frage ich mich, ob […] ich nicht vielleicht auch so bin, eben für die anderen überhaupt nicht mehr nachvollziehbar.“350 Als Zuschauer beobachtet der Erzähler Andere in ihrer Hilflosigkeit, wie beim „Junkies gucken“ am Bahnhof Zoo und beim Anblick eines „völlig betrunkene[n] junge[n] Mann[es]“, der „auf die Tür seines maulbeerfarbenen Porsche-Cabrios kotzt, während er versucht, den Wagen aufzuschließen.“351 Er konzentriert sich auf die Farbe des Autos: „Das muß man sich mal vorstellen: Ein maulbeerfarbener Porsche.“ Ein Schauspiel bietet diese Szene auch für Andere: „Mehrere Leute sehen sich von der gegenüberliegenden Straßenseite das Ganze an und lachen hämisch“.352 So sehr der Erzähler sich auf eine Position des unbeteiligten Zuschauers zurückzieht, so wenig wird er selbst wahrgenommen im Faserland. Von Seiten seiner Freunde bleiben Begegnungen ein unverbundenes Nebeneinander. Wenn es über Nigel heißt „man hat das Gefühl, als ob das, was man sagt, ihn wirklich und ernsthaft interessiert. Nicht viele Menschen können einem dieses Gefühl geben“,353 entlarvt die Konstruktion des irrealen Vergleichsatzes jegliches zwischenmenschliche Interesse als Schein. Die Einladung eines Studenten in eine Heidelberger Bar ist dem Erzähler suspekt, da er in Gesten der Zuwendung ironische Täuschungsmanöver vermutet, gegen die es sich zu wappnen gilt – eine Befürchtung, die später durch die sexuelle Übergriffigkeit seines Gastgebers bestätigt wird.354 Folgerichtig ist, dass der Erzähler schweigt, obwohl er mit seinem Freund Rollo gern über seine Gedanken sprechen würde, „aber ich glaube nicht, daß er
346 Ebd., S. 67. 347 Ebd., S. 31, 32; vgl. S. 22. 348 Ebd., S. 14; vgl. S. 37. 349 Ebd., S. 38. 350 Ebd., S. 69, 70. 351 Ebd., S. 62, 21. 352 Ebd., S. 21. 353 Ebd., S. 34. 354 Vgl. ebd., S. 96, 103.
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sich dafür interessiert, und deswegen sage ich nichts.“355 Die soziale Lebenswelt, durch die der Reisende sich bewegt, ist ein Raum, in dem er nicht gesehen wird. Als der Erzähler Nigel zufällig in Heidelberg wieder trifft, erkennt dieser ihn nicht.356 Alexander geht in einer Frankfurter Bar an ihm vorbei, ohne ihn zu sehen.357 Seine Bekannte Hannah sieht ihn nicht, obwohl er versucht, sie auf sich aufmerksam zu machen.358 Sophie Loidolt spricht in diesem Zusammenhang von einem „Erscheinen der je Einzelnen, [das, d. V.] gleichsam annuliert wird“ im „Raum der Indifferenz“: „Das Beunruhigende und – für die Betroffenen – Schmerzhafte dabei ist, dass dieses Annullieren kein Akt der Verweigerung ist, der implizit noch so etwas wie Anerkennung bedeuten würde. In einem solchen Fall würde es sich bloß um ‚Ignoranz‘ und insofern gespielte Indifferenz handeln, hinter der sich noch immer eine Intention verbirgt, die genau jemanden meint. Indifferenz aber ist keine Intention, sie ist keine Absicht, irgendjemandes Erscheinen durchzustreichen.“359
Der Faserland-Erzähler beschreibt ein Nebeneinanderher-Leben, in dem Gesten der Nähe und Intimität als Spiel und Pose erscheinen. Sergio und Karin halten sich an der Hand, „aber eher so verspielt, nicht besonders innig.“360 Als auf der Hamburger Party eine Frau das Haar des Erzählers streichelt, kommt ihm „das Ganze […] so unwirklich und irgendwie auch nicht echt und deswegen peinlich, […] nur wie gespielt“ vor.361 Nahe liegt der Bezug zu Loidolt, die die Verhaltensweisen im Raum der Indifferenz als „dressierte Turnübungen in einer sinnentleerten Welt“ beschreibt: „Alles Interesse ist dann nur mehr eingeübte Routine […], das unentwegte ‚Spaß-Haben‘ […] [liegt, d. V.] mehr in einer äußerlichen Pose als in irgendeiner Empfindung“.362 Die Partywelt im Faserland bildet den perfekten Rahmen für dieses unverbindliche Nebeneinander. „[V]ielleicht mag er Partys“, sagt der Erzähler über seinen Freund Nigel, „weil das so rechtsfreie Räume sind, wo er funktionieren kann, ohne kommunizieren zu müssen.“363 Rausch, Betäubung
355 Ebd., S. 112. 356 Vgl. ebd., S. 105. 357 Vgl. ebd., S. 80. 358 Vgl. ebd., S. 115. 359 Loidolt: Indifferenz, S. 125, 126. 360 Kracht: Faserland, S. 139. 361 Ebd., S. 41. 362 Loidolt: Indifferenz, S. 136. 363 Kracht: Faserland, S. 36, 37.
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und Abstumpfung spielen dabei eine wichtige Rolle, wie schon das zweite Motto des Romans programmatisch ansagt: „Give me, give me – pronto – Amaretto“. Sowohl den Valiumverbrauch seines Freundes Rollo als auch den Schlaftablettenkonsum von dessen Mutter führt der Erzähler auf den Wunsch nach Betäubung zurück.364 Ihm selbst gelingt durch maßlosen Alkoholkonsum ein „Abstumpfen“, das Momente der Zufriedenheit ermöglicht.365 Das routinierte Spaß-Haben auf exzessiven Partys erweist sich als eine Bewältigungsstrategie im Umgang mit der zwischenmenschlichen Indifferenz. Die Indifferenz der sozialen Lebenswelt, in der Krachts Ich-Erzähler sich bewegt, kontrastiert mit seinem Wunsch nach Kontakten, der den Verlauf der Reise begleitet, mit dem Gewicht, das er einzelnen Begegnungen zu geben versucht und mit der Enttäuschung über ihr Misslingen. „Ich habe ja Schwierigkeiten damit, neue Menschen kennenzulernen […]. Aber es ist wirklich so wahnsinnig schwierig, ordentliche Menschen kennenzulernen.“366 Vor dem Hintergrund der Reise als Suche wird das Misslingen aller Beziehungen zum zentralen Problem. Der Erzähler zeigt sich als zutiefst bedürftig nach Gesten der Zuwendung. Als der Zimmerservice im Frankfurter Hof sein Zimmer reinigt, nachdem er sich übergeben hat, erscheint diese Dienstleistung ihm als „irgendwie wahnsinnig rührend und nett“.367 Ebenso empfindet er die „Nonsens-Kommunikation auf einer Party“ für einen Augenblick „als Ausdruck tiefsten gegenseitigen Verständnisses“:368 „Angelo Badalamenti ist gar nicht mal so dementi. […], und plötzlich merke ich, daß dieses Mädchen […] alles verstanden hat, was es zu verstehen gibt. […] Ich nehme die Hand des Mädchens in meine Hand. […], und wir stehen einfach da und starren uns in die Augen.“369
Vor dem Wiedersehen mit Alexander, seinem Zimmergenossen aus Salem, denkt er ständig an ihn und versucht, den Streit zu rekonstruieren, durch den sie sich „fremd“ wurden.370 Er betont wiederholt, dass „Alexander immer ein feiner Kerl, ein guter Freund war“ und wie gern er ihn wiedersehen möchte.371 Er wählt sogar „aus Versehen“ Alexanders Nummer und erleidet genau in diesem Augenblick
364 Vgl. ebd., S. 128. 365 Ebd., S. 138. 366 Ebd., S. 96. 367 Ebd., S. 76. 368 Hermes: Tristesse globale, S. 191. 369 Kracht: Faserland, S. 44, 45. 370 Ebd., S. 67. 371 Ebd., S. 66.
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einen Schwächeanfall.372 „Meine Hand, die den Telefonhörer hält, zittert, und unter meinen Achseln läuft so ein dünner Schweißtropfen bis zur Hüfte. […] Alexander sagt: Hallo, wer ist da, und auf einmal wird alles schummrig in meinem Gehirn.“373 Die Bedeutung, die der geplante Besuch für ihn hat, zeigt sich auch in der fassungslosen Reaktion des Ich-Erzählers, als Alexander ihn bei einem zufälligen Zusammentreffen in einer Frankfurter Bar übersieht. „Er sieht mich nicht. Er sieht mich überhaupt nicht, das muß man sich mal vorstellen. Er geht einfach an mir vorbei, obwohl ich direkt an der Bar auf dem blöden Barhocker sitze und ihn anstarre. […] er dreht sich nicht um, wirklich nicht.“374 Die Erklärungsversuche des Erzählers, er könne sich so verändert haben, dass man ihn nicht mehr erkenne, wirken hilflos. In einer Münchner Diskothek hält er „das Feuer am Streichholz so, daß mein Gesicht erhellt wird“, in der Hoffnung, Hannah möge ihn dadurch sehen.375 Das Nicht-Gesehenwerden stellt eine existentielle Verunsicherung dar. Als sein Freund Nigel ihn bei einem zufälligen Wiedersehen in Heidelberg unter Drogeneinfluss nicht erkennt, sieht sich der Erzähler in Gefahr zu dissoziieren: „Ich habe das Gefühl, als würde ich innerlich vollkommen ausrasten, als ob ich völlig den Halt verliere. So, als ob es gar kein Zentrum mehr gäbe.“376 Obwohl er unter dem Mangel an gelingender Relationalität offensichtlich leidet, nutzt er die sofortige Weiterreise, um Gefühlen der Enttäuschung auszuweichen und sie zu bagatellisieren. „Ich bin dann ziemlich schnell weg aus Frankfurt. Nicht weil es so deprimierend gewesen ist, das mit Alexander, sondern weil ich überhaupt nicht wußte, was ich in dieser Stadt soll.“377 Depressionen, Gefühle der Leere und der Angst als Aspekte des sozialen Lebens im Raum der Indifferenz diagnostiziert er in seinen monologischen Ausführungen vor allem bezogen auf Andere.378 Ein Leiden an der Leere sieht er in der Familie seines Freundes Rollo, der seine Angst und Depression mit „Lexotanil“ zu bekämpfen versucht, und iden-
372 Ebd., S. 74. 373 Ebd., 74, 75. 374 Ebd., S. 80, 81. 375 Ebd., S. 115. 376 Ebd., S. 105. 377 Ebd., S. 82. 378 Vgl. ebd., S. 139. Hier ist auf den Zusammenhang zu verweisen, den Loidolt herstellt zwischen dem Raum der Indifferenz und der „‚Volkskrankheit‘ der Depression bzw. der depressiven Verstimmungen oder des neueren Burn-Out in westlichen Gesellschaften“, der „nicht nicht mit den Strukturen in diesen Gesellschaften zumindest in eine Korrelation gebracht werden“ könne (Indifferenz, S. 130).
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tifiziert es als Folge des Wohlstands: „Vielleicht, weil sie alles andere schon gesehen und erlebt haben und sich alles kaufen können und dann irgendwann in sich so eine furchterregende Leere entdecken.“379 Problematisch erscheint zudem ein hohes Maß an Aggressivität. Der Erzähler kann sich kaum zurückhalten, gegenüber Varna, der Freundin von Alexander, „auszurasten und sie zu treten oder ihr zumindest aufs Maul“ zu hauen.380 Aggressionen gegenüber Anderen kommen auch in seiner Freude über die Vorstellung zum Ausdruck, „irgendein chablistrinkender Prolet“ auf Sylt könne eine Salmonellenvergiftung erleiden.381 Auf Demonstrationen geht er nur, weil er die Beobachtung und Atmosphäre der Eskalation liebt.382 Der Bezug zu Bret Easton Ellis’ American Psycho (1991), der in der Forschung aufgrund der Orientierungslosigkeit des Protagonisten und der Konzentration auf die Oberflächen der Lebenswelt hergestellt wurde,383 betrifft auch die Aggressionen des Erzählers. Wenn der Faserland-Protagonist im Vergleich zu Patrick Bateman auch „ein harmloses Kerlchen“384 sein mag, ist sein Aggressionspotential doch beträchtlich. Der Erzähler wird in diesem Raum der Indifferenz als ebenso defizitär entworfen wie die soziale Lebenswelt, deren Bezugs- und Beziehungslosigkeit er als Mangel wahrnimmt. Finlay identifiziert die „incapacity to form and maintain meaningful relationships“ als „the source of his existential unhappiness“.385 Er verweist auf die „problems with emotional intimacy“, die er in „an arrested emotional and physical development and a consequent sense of isolation“ begründet sieht.386 Der Erzähler wirkt tatsächlich unfähig, sich in Bezug zu setzen und berühren zu lassen. Situationen der Nähe werden wiederholt durch körperliche Reaktionen abgebrochen: So erbricht er sich im Elternhaus seiner ersten Liebe ebenso wie bei dem Versuch, telefonisch mit Alexander in Kontakt zu treten.387 Als Karins Hand seine ganz kurz berührt, bekommt er einen Hustenanfall.388 Eine Schlüsselszene des „Problemroman[s]“389 bildet die Rollo-Episode. Sie macht
379 Kracht: Faserland, S. 139, 121. 380 Ebd., S. 73. 381 Ebd., S. 14. 382 Vgl. ebd., S. 30. 383 Schumann: „das ist schon ziemlich charmant“, S. 154. 384 Brinkmann: Unbehagliche Welten, S. 21. 385 Finlay: ‚Dann wäre Deutschland wie das Wort Neckarauen‘, S. 197. 386 Ebd., S. 198, 199. 387 Vgl. Kracht: Faserland, S. 33, 75. 388 Vgl. ebd., S. 20. 389 Baßler: Der deutsche Pop-Roman, S. 114.
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deutlich, dass der Erzähler weder ausschließlich Opfer seiner psychischen Disposition noch seiner indifferenten Lebenswelt ist, sondern eben diese Lebenswelt durch sein Verhalten maßgeblich reproduziert und zementiert. Die explizite Weigerung des Erzählers, sich dem Freund zuzuwenden, konfrontiert mit dessen verzweifelten Versuchen der Kontaktaufnahme, zeigt sein Verhalten als Abwehr und Abweis von Zuwendung und Verantwortung. Er erkennt die Krise des Freundes, er sieht Rollo als „eine traurige Gestalt“, „voll […] mit Alkohol und Valium“ und spürt düstere Vorahnungen, schiebt diese Eindrücke aber beiseite und beschließt, „jetzt mal ernsthaft mit dem Trinken anzufangen“.390 Den Tod des Freundes lässt er geschehen, im Wissen um seine Möglichkeiten der Intervention. „Mehr sage ich ihm nicht, obwohl ich es vielleicht gekonnt hätte. Ich drücke seinen Arm noch einmal und sage ihm, ich will mir ein Getränk holen, und dann lasse ich ihn da stehen, auf dem Bootssteg. Ich weiß genau, daß ich mir kein Getränk holen werde und noch viel genauer weiß ich, daß ich Rollo nicht wiedersehen werde.“391
Sein Wissen um die Möglichkeit von Zuwendung und die Verpflichtung zur Hilfe wird besonders deutlich, wenn er sich auf die Position des unbeteiligten Zuschauers der Party zurückzieht und aus dieser Perspektive das Versagen der „Freunde“ Rollos kritisch kommentiert. Die Kritik bezieht ihn selbst ein, auch wenn er sie durch den Konjunktiv und die Außenperspektive auf Distanz zu halten versucht. „Aber das sind nicht seine Freunde. Seine Freunde würden ihm doch sagen, daß er aussieht wie ein Alkoholiker und tablettensüchtig ist. Sie würden sagen, komm Rollo, du mußt jetzt ins Bett, und dann würden sie ihn ins Schlafzimmer bringen und bei ihm sitzen, bis er einschläft. Und wenn er schlecht träumen würde, dann würden sie ihn beruhigen. Freunde würden die ganze Nacht da sitzenbleiben, und danach noch zwei Wochen bei ihm bleiben und jeden Drink, den er sich macht, und jede Valium, jede Lexotanil ihm aus den Händen nehmen, so lange, bis er wieder klar denken könnte.“392
Der Erzähler verweigert sich dieser existentiellen Situation der Verantwortung, wie er auch zuvor Nigel im Drogenrausch zurücklässt.393 Er will sich Rollos Ver-
390 Kracht: Faserland, S. 131, 132. 391 Ebd., S. 145. 392 Ebd., S. 138, 139. 393 Vgl. ebd., S. 105.
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zweiflung nicht aussetzen: „Ich denke, daß ich das nicht lange ertragen kann, dieses Schluchzen und das Weinen. Es ist einfach zuviel.“394 Den Maßstab für die Grenze des ihm Erträglichen formuliert er an anderer Stelle explizit: „Vielleicht, denke ich, vielleicht könnte ich das alles ertragen, wenn ich mich anstrengen würde. Ich will es aber nicht. Ich will mich nicht anstrengen müssen, auf gar keinen Fall.“395 Der Beziehungsabbruch gegenüber Rollo, dem der Tod des Freundes folgt, wiegt umso schwerer, als der Ich-Erzähler in einer vorangegangenen Episode das Gefühl hatte, Rollo habe ihn „vor irgend etwas gerettet.“396 Verantwortung, Schuld und schlechtes Gewissen werden abgewiesen, bleiben aber im Negierten präsent. „Ich fühle mich ungefähr eine Sekunde lang schuldig, weil ich nichts gesagt habe. Das geht aber schnell vorbei, weil ich weiß Gott besseres zu tun habe als mir wegen Rollo ein schlechtes Gewissen zu machen.“397 Von Rollos Tod erfährt der Erzähler aus der Zeitung: „[…] immer wieder Rollos Name[]“.398 Auch das Bild Nigels wird er nicht los, „Nigel mit der Nadel im Arm, mit den leeren Augen und dem ganz dünnen Blutfaden in der Spritze. Nigel kommt mir einfach so in den Kopf, und er bleibt da und will nicht weg. […] Ich habe Angst vor dieser Erscheinung, aber wenn man viel trinkt, dann geht das schon wieder weg.“399
Im Bereich privater Beziehungen wird die Ambivalenz der Distanz als Zugleich von Fremdheit und Verweigerung, von Abwehr und dem Bedürfnis nach Nähe, von einer Unmöglichkeit der Zuwendung und Verantwortung und der Unfähigkeit dazu als eine problematische Konstellation erkennbar, in der der Erzähler gefangen bleibt und die er zugleich mit konstituiert. Auswege ausweglos Auswege aus der als abstoßend und bestimmend gezeichneten Lebenswelt bietet der Roman nicht. In seiner distanzierten Zuschauerposition erweist sich der IchErzähler als hoffnungslos verstrickt in das Abgelehnte und Abgewehrte zum einen, als hoffnungslos bedürftig nach Nähe und Zuwendung zum anderen. Seine
394 Ebd., S. 145. 395 Ebd., S. 136. 396 Ebd., S. 108. 397 Ebd., S. 132. 398 Ebd., S. 150. 399 Ebd., S. 126.
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aggressiv vorgetragene, grundsätzliche Verneinung erscheint wie eine Geste hilfloser Wut, auch gegen jeden Versuch einer Alternative zu der Konsumwelt, die er zugleich verabscheut und als seinen Kosmos aufrechterhält. Er ist überzeugt, mit Demonstrationen könne man nicht „auch nur einen Furz erreichen“.400 Abscheu hegt er gegen Gewerkschaft und SPD, gegen Hippies, Hausbesetzer und Langhaarige. Auch über die „Aufrührerlieder“ der Punkbewegung wie „Sandinista […] oder Spanish Bombs in Andaluçia“ von The Clash äußert er sich ablehnend.401 Die 1968er-Generation reduziert er auf Selbsterfahrungsversuche im Ashram und ähnliche Ideen der Selbstverwirklichung. Mit seiner abschätzigen Wortschöpfung des „Regenbogen-Friedens-Nichtraucher-Ökologen-Sticker[s]“ weist er sämtliche Alternativbewegungen zurück.402 Die Verkörperung dieser „blöden Ideen“ sieht er in Varna, der Freundin seines Freundes Alexander: „Daß man ja eigentlich doch die Grünen wählen müßte, oder Man müsse ein Beispiel setzen und kein Auto mehr fahren, nach der ultra-dämlichen Devise Think globally, act locally, und so weiter.“403 In seiner Tirade der Ablehnung, in die er alle Vertreter eines „left-liberal consensus“404 und „des Andersseins“405 einbezieht, disqualifiziert er Varnas Ideen als Ausdruck eines alternativen Lifestyle, der sich in Phrasen gefällt „über irgendwelche Independent Bands, die im Spex erwähnt werden, oder über den aufkeimenden Rechtsradikalismus, die braune Scheiße, wie Varna immer sagte. Noch schlimmer war es, wenn sie über Hip-Hop redete. Hip-Hop, das wäre die neue Punk-Musik, die echte Auflehnung und so weiter, in einem Fort, ohne Ende. […], um sich dann wieder gelangweilt über ihr Bier zu beugen und mit ihren noch blöderen Freunden das letzte PublicEnemy-Konzert zu besprechen oder den letzten Text von Diedrich Diedrichsen.“406
Gesprächen mit Varna verweigert er sich, indem er ihnen ausweicht und sie sabotiert, „einfach nicht hin[]hört und manchmal etwas völlig Konträres“ sagt. Ihre Ansätze politischen Engagements kommentiert er, als handele es sich um etwas Pathologisches, als etwas, das es zu sanktionieren gelte: „Ich hab dann immer so Sachen gesagt, daß man zum Beispiel eine Einlaufanstalt in jedem Bundesland bauen müßte und daß da jeder, der sich aufregt über politische Verhältnisse, einen
400 Ebd., S. 30. 401 Ebd., S. 120. 402 Ebd., S. 30. 403 Ebd., S. 73. 404 Finlay: ‚Dann wäre Deutschland wie das Wort Neckarauen‘, S. 203. 405 Frank: „Literatur aus den reichen Ländern.“, S. 33. 406 Kracht: Faserland, S. 72, 73.
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polizeilich verordneten Einlauf bekommen müßte.“407 Der Bekanntenkreis des Erzählers teilt sein offensiv vorgetragenes politisches Desengagement. So erinnert er sich, dass Alexander ihn wegen einer Frage, die er an Wim Wenders gestellt hatte, als „ein[en] blöde[n] Hippie [bezeichnete, d. V.], der glaubt, er könne Sachen verändern durch Diskussionen.“ Dieser Kommentar führte allerdings zum Streit mit Alexander, da der Erzähler sich auch von dessen „vollkommene[r] Antihaltung“ distanziert.408 Ebenso lehnt er die provokative Haltung seines Freundes Nigel ab, der sich bewusst schäbig kleidet, Pullover mit Mottenlöchern und ungebügelte Hemden trägt und „irgendwelche T-Shirts, auf denen das Logo einer Firma steht, ich meine, so richtige Firmen wie Esso oder Ariel Ultra oder Milka“, eine Taktik, die in ihrem ironischen Spiel mit modischen Konventionen Züge einer Campästhetik im Sinne Susan Sontags trägt:409 „[E]r hat es mir mal erklärt, da waren wir ziemlich betrunken, und da hatte er mich in eine ekelhafte Kneipe auf dem Kiez geschleppt, die hieß Cool, glaube ich, und da hat er mir erklärt, daß das die größte aller Provokationen sei, T-Shirts mit den Namen bekannter Firmen drauf zu tragen. […] Ich hab das damals nicht ganz verstanden, aber ich habe es mir gemerkt.“410
Deutlich wird, dass der Erzähler sich von jeglicher Form der Stellungnahme distanziert, von alternativen Veränderungsideen und politischem Engagement ebenso wie von Strategien provokativer Subversion durch eine indifferente Anti-Haltung oder eine „ironische Überaffirmation“.411 Allerdings verweigert der Erzähler eine eindeutige Position nicht nur, diese scheint auch unverfügbar. Identität und Authentizität faszinieren ihn in ihrer überzeugten Sicherheit und wirken doch lächerlich. Die „Hippies“, die während eines Raves in München von ihrem Festhalten an der Suche nach der „reine[n] Wahrheit“ berichten, lösen im Erzähler zwar eine Sehnsucht aus, zugleich belächelt er diese Suche: „Hier ist ein ganzer Haufen Menschen, die man überhaupt nicht ernstnehmen kann, aber auf eine bestimmte Weise haben sie alle recht, viel mehr
407 Ebd., S. 73, 74. 408 Ebd., S. 62. 409 Ebd., S. 31; vgl. mit Verweis auf Susan Sontag Rauen: Pop und Ironie, S. 131; Drügh, Heinz: Dandys im Zeitalter des Massenkonsums. Popliteratur als Neo-Décadence. In: Tacke, Alexandra / Weyand, Björn (Hg.): Depressive Dandys. Spielformen der Dekadenz in der Pop-Moderne. Köln u.a.: Böhlau 2009, S. 80-100, hier S. 89. 410 Kracht: Faserland, S. 31. 411 Rauen: Pop und Ironie, S. 132.
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recht als Rollo oder ich.“412 Die Unverfügbarkeit einer identitären Position wird formal mit dem ironischen Zitat einer Bildungsreise von Norden nach Süden unterstrichen, die im Bildungsroman „die Subjektwerdung männlicher Bildungsbürger“ organisiert: „Die beschriebene Zufälligkeit der Route zeigt jedoch schon auf, dass die Reise nicht dieser Charakteristik entspricht.“413 Der Versuch, seiner Position zwischen Verweigerung, Fremdheit und Verstrickung zu entkommen, kennzeichnet die Fahrt des Ich-Erzählers als Sehnsuchtsreise. Aus der ihm ungenehmen Gegenwart sucht er Zuflucht in Nostalgie und Erinnerung. Er mag Discotheken, wo „so ältere Sachen laufen, Car Wash, etwa, oder Funkytown, von Lipps Inc., oder Le Freak von Chic“, und ist überzeugt, dass in seiner Jugend das Magazin Bravo „schamhaft[]“ war, „noch nicht so ein Pornoheft wie heute“.414 Die Erinnerungen an seine Kindheit geben ihm ein Gefühl von „Zuhause […] und Sicherheit“.415 Es geht um die Unschuld des gemeinsamen Sandburgbauens, die Begeisterung für das „Gefühl der Wichtigkeit“ beim Fliegen, die Geborgenheit festlicher Weihnachtstage im Elternhaus, um eine Welt, die der Erzähler leicht überblicken und verstehen kann.416 An Gerüche geknüpft, lösen diese Erinnerungen Gefühle der Verbundenheit mit seiner Lebenswelt aus: „Ab da höre ich nicht mehr zu, weil mir plötzlich der Geruch der Holzbohlen und des Meeres in die Nase steigt, und ich denke daran, wie ich als kleines Kind immer hierher gekommen bin, und beim ersten Tag auf Sylt war das immer der schönste Geruch: wenn man das Meer lange nicht gesehen hatte und sich riesig darauf freute und die Holzbohlen durch die Sonnenstrahlen so einen warmen Geruch ausgeströmt haben.“417
Die Sehnsucht nach Momenten gelingender Verbundenheit in absoluter Distanz zu der umgebenden Lebenswelt prägt den Wunschtraum des Erzählers, ein Leben mit der Schauspielerin Isabella Rossellini auf einer abgelegenen Insel zu führen. Ersehnt werden Haus und Familie fernab der deutschen Lebenswirklichkeit in einer archaischen Natur unter rudimentären Bedingungen – eine Konzentration auf das vermeintlich Wesentliche, zu dem auch Bücher und eine wortlose Verbundenheit gehören:
412 Kracht: Faserland, S. 109, 108. 413 Glawion / Nover: Das leere Zentrum, S. 105; vgl. Lettow: Der postmoderne Dandy, S. 293. 414 Kracht: Faserland, S. 37, 89. 415 Ebd., S. 121. 416 Ebd., S. 51. 417 Ebd., S. 16; vgl. S. 88.
132 I Z USCHAUER DES L EBENS „Wir würden alle zusammen auf einer Insel wohnen, aber nicht auf einer Südseeinsel oder so ein Dreck, sondern auf den Äußeren Hebriden oder auf den Kerguelen, jedenfalls auf so einer Insel, wo es ständig windet und stürmt und wo man im Winter gar nicht vor die Tür gehen kann, weil es so kalt ist. Isabella und die Kinder und ich würden dann zu Hause sitzen, und wir würden alle Fischerpullover tragen und Anoraks, weil ja auch die Heizung nicht richtig funktionieren würde, und wir würden zusammen Bücher lesen, und ab und zu würden Isabella und ich uns ansehen und dann lächeln.“418
Ähnliche Züge einer Bilderbuch-Idylle trägt der Entwurf eines Familienlebens in den Schweizer Alpen, „auf einer Bergwiese, in einer kleinen Holzhütte, am Rande eines kalten Bergsees“.419 Deutschland, so imaginiert der Erzähler, wäre dann „unwichtig“, ohne seine Beachtung existiere es nicht mehr und seine „Kinder würden nie wissen, daß es Deutschland jemals gegeben hat, und sie wären frei, auf ihre Art.“420 Die Verknüpfung von Verbundenheit und Freiheit prägt auch die Erinnerung an den einen Glücksmoment seiner Reisen, den er explizit mit dem Begriff der Relation beschreibt: Gestrandet an einem „gräßlichen Ort“ zeigt er mit dem Finger auf einen Dampfer und meint zu sehen, „wie das Schiff sich in Relation zu mir bewegt. Ganz klein, hinten, wo der Horizont fast schon weiß ist, fährt es an meinem ausgestreckten Finger vorbei.“421 Sich als Bezugspunkt imaginierend, setzt er sich in Relation – und fühlt sich plötzlich wohl. Das Glück der Situation verweist auf ein relationales Subjekt, das mit allem um sich herum in einer gelingenden Verbindung steht: „[E]s ist ein bißchen so, als finde man seinen Platz in der Welt. Es ist kein Sog mehr, kein Ohnmächtigwerden angesichts des Lebens, das neben einem so abläuft, sondern ein Stillsein. Ja, genau das ist es: Ein Stillsein. Die Stille.“422 Die Fluchten des Erzählers in Erinnerung und Wunschträume bringen eine Sehnsucht nach Verbundenheit zum Ausdruck, die allerdings bereits im Ansatz ironisch gebrochen wird. Der Glücksmoment auf Reisen ereignet sich an einem FKK-Strand auf Mykonos unter vielen älteren Männern, die nackt zu Freddy Mercurys I want to break free tanzen, während der kleine Dampfer über das Blau des Meeres gleitet.423 Der Subjektivitätsentwurf wirkt in seinem Gelingen weniger wie eine reale Option als vielmehr – in seinen Zügen von Kitsch und
418 Ebd., S. 57. 419 Ebd., S. 152. 420 Ebd., S. 153, 154. 421 Ebd., S. 137. 422 Ebd., S. 137, 138. 423 Vgl. ebd., S. 137.
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Ironie – wie eine Parodie der Selbstverwirklichung. Zudem werden die imaginierten Fluchtorte bereits im Entwurf fragwürdig, da die Probleme des Erzählers im Faserland auch dort angelegt sind: In seine Verbundenheit mit Isabella Rosselini finden mit dem Lob ihres kleinen Makels als Ausweis besonderer Individualität „gängige Klischees einer Werbeästhetik“ Eingang.424 Eine Nähe zu seiner Traumfrau erscheint selbst in seinen Gedankenspielen nicht zu erreichen: „Ich meine, ich berühre sie nicht, ich denke auch nicht direkt an sie, sondern lasse sie am Rand meiner Gedanken auftauchen, ohne ihr näherzutreten oder mit ihr zu sprechen, ohne sie anzusehen.“425 Auch die Scheinhaftigkeit des Faserlandes findet Eingang in die Idylle durch die Freude des Erzählers, gegenüber seinen Kindern die alleinige Macht über die erzählerische Wahrheit zu besitzen: „[…] die Kinder könnten niemanden fragen, ob es denn wirklich so sei […]. Ich hätte immer Recht.“426 Seine wehmütig-nostalgischen Kindheitserinnerungen sind bei näherer Prüfung nicht als der Gegenwart überlegen haltbar: „Ich weiß aber nicht, warum ich denke, daß das schade ist, denn eigentlich ist es so, wie es jetzt ist, ja viel besser.“427 Zudem klingt ein zentrales Problem der Gegenwart, der Übelkeit erregende Konsum, auch in Erinnerungen an, wenn der Erzähler daran denkt, dass er nach dem Verspeisen von Eis und „mindestens drei Zigaretten […] bei Henning Hansen in den Garten gekotzt“ hat.428 Die Erinnerung an einen Urlaub mit seinem Vater auf Madeira ist mit einem Gefühl der Vernachlässigung verbunden: Der Erzähler hat sich nicht nur „grausam gelangweilt“, sondern wurde zudem auf unangenehme und schmerzhafte Weise in ein Spiel der Erwachsenen einbezogen.429 Das Gefühl der Zuwendung und Wichtigkeit, das Alitalia-Piloten ihm als kleinem Jungen vermitteln wollten, indem sie ihm den Steuerknüppel überließen, war ihm schon im Kindesalter als trügerisch bewusst.430 Und die Gefühle individueller Verbundenheit mit der Erinnerung, die der Geruchssinn auszulösen scheint, entpuppen sich als Reproduktion einer Kaffee-Werbung: „Ich denke daran, daß das wohl Gerüche sind, die einfach jeder von früher kennt, der in Deutschland aufgewachsen ist. Dazu kommt natürlich noch frisch gemahlener Kaffee, aber
424 Biendarra: Der Erzähler als ‚popmoderner Flaneur‘, S. 176. 425 Kracht: Faserland, S. 58. 426 Ebd., S. 152; so auch Rauen: Pop und Ironie, S. 137. 427 Kracht: Faserland, S. 27. 428 Ebd., S. 77. 429 Ebd., S. 89. 430 Vgl. ebd., S. 52.
134 I Z USCHAUER DES L EBENS wir haben früher in der Familie nie Kaffee getrunken, deswegen gehört das nicht zu meinen Erinnerungsgerüchen.“431
Seine Erinnerungen und Wunschträume bergen kein anderes, gelingendes Leben. Vielmehr lassen sie sich als Regressionsphänomene deuten,432 wobei – mit Anna Freud – wiederum der Versuch der Abwehr433 einer unerträglichen Lebenswelt zentral wird, aus der aber kein Ausweg zu gelingen vermag. Auch die Schweiz, Ziel- und Endpunkt seiner Reise, bietet dem Erzähler keinen Ausweg. Nur momentan wirkt sie in ihrer Schönheit und Unversehrtheit wie „ein großes Nivellier-Land […], ein Teil Deutschlands, in dem alles nicht so schlimm ist“, und erscheint als „eine Lösung für alles.“434 Von zentraler Bedeutung für ein kurzfristiges Wohlgefühl ist wiederum der Eindruck einer gelingenden Einbindung: Der Erzähler isst erstmals mit Genuss, in dem Empfinden, „ständig hungrig zu sein“, er verständigt sich mit einem Kellner, liest eine deutsche Tageszeitung und produziert erfolgreich einige Rauchringe, was ihn „irre freut“.435 Allerdings entbehrt seine „Schweizstilisierung […] jeder soliden Grundlage […]: So bleibt völlig unklar, warum das ‚Feine an der Schweiz‘ gerade darin bestehen soll, ‚daß auf den Türen der Geschäfte Stossen steht und nicht Drücken‘“.436 Seine gelingende Einbindung wird ebenso schnell brüchig wie sich seine Vorstellung der Distanz zu seiner deutschen Lebenswelt als unhaltbar erweist. Auch in der Schweiz gibt es „so halbe Banker“ und „Pornokinos“, man stiehlt ihm seine Zigaretten und sein Getränk „klebt […] im Mund.“437 Die Rollo-Episode und damit sein diffuses Schuldgefühl holen ihn ein, als er „den Artikel über den Millionärssohn, der während einer Party am Bodensee ertrunken ist“, liest.438 Der große schwarze Hund, den er auf dem Friedhof dabei beobachtet, wie er auf ein Grab kackt, deutet zurück auf den Anfang der Reise in Sylt und markiert die Bewegung des Ich-Erzählers als zirkulär und ausweglos. Auch die Vorstellung überlegener Distanz, die der Roman in seiner Referenz auf den Zauberberg parodistisch an-
431 Ebd., S. 121. 432 Vgl. Hermes: Tristesse globale, S. 191. 433 Vgl. Laplanche, J. / Pontalis, J.-B.: Das Vokabular der Psychoanalyse. Erster Band. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1973, S. 31. 434 Kracht: Faserland, S. 151; vgl. S. 147. 435 Ebd., S. 147, 149. 436 Rauen: Pop und Ironie, S. 137; Kracht: Faserland, S. 147. 437 Kracht: Faserland, S. 148, 150, 151. 438 Ebd., S. 150.
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deutet, läuft ins Leere, das elitäre Modell wird rabiat entzaubert, wenn der Erzähler „das blöde Grab“ Thomas Manns „oben, auf einem Hügel über dem See“, nicht findet und sich fragt, ob der Hund „vielleicht auf Thomas Manns Grab gekackt haben könnte“.439 Das offene Ende des Romans wird in der Forschung überwiegend als Selbstmord gedeutet.440 Auf den Tod verweisen das Verlöschen der Kerze auf dem Kilchberger Friedhof und die einkehrende Kühle – „[e]s wird jetzt ernsthaft Abend.“441 Der Bootsmann, von dem sich der Erzähler über den Zürichsee rudern lassen will, ruft den Seelenführer Charon auf, der die Toten über den Todesfluss Styx führt. Der Roman schließt mit den Worten: „Bald sind wir in der Mitte des Sees. Schon bald.“442 In dieser Abschlussszenerie spiegelt sich die Grundproblematik der in der Figur des Erzählers entworfenen Subjektivität: Die Mitte des Sees ist der Punkt, der am weitesten von allem entfernt ist. In diesem Bild lässt sich der Rückzug auf eine Position absoluter Distanz erkennen, den der Erzähler in seiner Lebenswelt vergeblich angestrebt hat. Zugleich inszeniert Kracht eine absolute Unverbundenheit, die als existentieller Mangel das Leben des Erzählers prägte, unter der er, bis hin zur Dissoziationsgefahr, litt. Die Position unbeteiligter und unverbundener Distanz, die hier ins Bild gesetzt wird, führt ins Verschwinden, in Auslöschung und Tod. Auch Goethes Gedicht „Ein Gleiches“, das in der Intertextualität des Romanendes anklingt,443 evoziert den nahenden Tod. Gegenläufig zum Bild der Distanz werden allerdings Ruhe und Verbundenheit beschworen, die sich in Bezug setzen lassen mit dem Glücksmoment, den der Erzähler am Strand von Mykonos erlebte: Auch dort resultierte die Stille aus dem Eindruck einer geglückten Relationalität – ein Entwurf, der sich ebenso in den Sehnsüchten des Erzählers erkennen lässt und der auch in dem durch die Forschung bisher übersehenen intertextuellen Verweis der Abschlussszene auf Jean-Jacques Rousseaus Rêveries d’un promeneur solitaire (Träumereien eines einsamen Spaziergängers) (1782) anklingt: Am Ufer und auf dem Wasser des Bieler Sees macht Rousseaus Erzähler die Erfahrung der Verschmelzung mit allem, was ihn umgibt: „Je sens des extases, des ravissements inexprimables à me fondre, pour ainsi dire, dans le système des
439 Ebd., S. 156, 154, 157. 440 Vgl. Biendarra: Der Erzähler als ‚popmoderner Flaneur‘, S. 179. 441 Kracht: Faserland, S. 155. 442 Ebd., S. 158. 443 Vgl. Biendarra: Der Erzähler als ‚popmoderner Flaneur‘, S. 179.
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êtres, à m’identifier avec la nature entiere.“444 Das Bild des Verschwindens, mit dem Kracht seinen Roman beschließt, verbindet sich intertextuell mit einer mystischen Sehnsucht nach umfassender Relationalität. Zwar konstatiert der Erzähler, es werde „jetzt ernsthaft Abend“ und die Verweise auf Tod und Selbstmord sind offensichtlich, doch präsentiert Krachts Feuerwerk der Intertextualität seine Figur bis zum Ende als Ergebnis vorgefertigter Bilder. Er führt den Protagonisten auf seinem letzten Gang über den „Mythenkai“ und konstruiert seinen Schlussakkord aus Versatzstücken der antiken Sagenwelt, Goethes Lyrik, Thomas Manns Novelle Der Tod in Venedig (1911) und Rousseaus Träumereien.445 Diese Inszenierung des Todes, die durch die Reproduktion bekannter Bilder wie ein ironisches Zitat wirkt, und die karikaturistische Überzeichnung des Erzählers und des Erzählten wahren auf der Ebene der ästhetischen Gestaltung eine Distanz, die die Position des Erzählers spiegelt, zugleich vorführt und damit eine identifikatorische Lesart behindert. In ähnlicher Weise wird in der zentralen Rollo-Episode das Versagen des Erzählers ironisch relativiert, in das stereotype Bild des Kriminellen gefasst: Der Erzähler stiehlt den Porsche des Freundes und setzt sich in die Schweiz ab, wo er das Auto am Züricher Flughafen parkt, nicht ohne das Lenkrad mit einem Tuch abzuwischen. Die Dringlichkeit der Problematisierung wird aber durch solche Ironisierungen nicht zurückgenommen. Der Roman zeigt die unbeteiligte Zuschauerposition als eine Beziehung im defizienten Modus, ein Zugleich von Abwehr, Fremdheit und Verstrickung, das jegliche Auseinandersetzung mit der Lebenswelt und ihre Gestaltung unmöglich macht. Die Brisanz dieser Konstellation durchbricht in greller Schärfe den Gestus relativierender Ironisierung und bleibt unabweisbar in dem hilflosen Abscheu des Erzählers angesichts seiner Verstrickung, in seiner leidenden Fremdheit und verantwortungslosen Unverbindlichkeit gegenüber sich und Anderen und in seiner Sehnsucht nach einer gelingenderen Form der Relationalität.
444 Rousseau, J. J.: Les Rêveries du Promeneur Solitaire. Promenade VII. In: Collection complete des œvres de J. J. Rousseau Citoyen de Geneve. Tome Dixieme. A Geneve MDCCLXXXII, S. 462-481, hier S. 470. 445 Kracht: Faserland, S. 155.
„Aber was hast Du dann am Ende gehabt?“ – Selbst- und Weltverhältnisse zwischen Abwehr und Affizierbarkeit in Katharina Hackers Die Habenichtse (2006)
L EIDEN
ALS
S IGNATUR
DER
G EGENWART
Die Gegenwart, die Katharina Hacker in ihrem Zeitroman Die Habenichtse (2006)1 entwirft, trägt die Signatur des Leidens. Im ersten Kapitel des multiperspektivisch konstruierten Romans wird Sara eingeführt, ein kleines Mädchen im Einschulungsalter, dessen Misshandlung sich durch den gesamten Roman hindurchzieht: Sara, die mit ihrer Familie in London wohnt, darf das Haus kaum verlassen, nicht zur Schule gehen, ist meist allein und wird von ihrem Vater gequält. Auch das Leben des jungen Jim und seiner Freundin Mae ist geprägt von Armut, Gewalt, Kriminalität und sozialer Verwahrlosung. Als weitere Linie des Leidens ziehen sich die Geschehnisse von 9/11 bis zum Irakkrieg durch Hackers Roman. Das zweite Kapitel beginnt mit den Anschlägen auf das World Trade Center, mit den Sprüngen der Menschen in den Tod, Bilder, mit denen – über das Fernsehen vermittelt – eine Partygesellschaft in Berlin konfrontiert wird. Neben der sozialen und der zeitgeschichtlichen gibt es eine dritte, eine historische Linie: Dabei geht es um die nationalsozialistischen Verbrechen, die Geschichten der Geflohenen und die Frage der Entschädigung.
1
Eine Kurzfassung und Ausschnitte dieses Kapitels sind als Aufsatz erschienen: Sander, Julia C.: Konturen des Pathischen in Katharina Hackers Roman Die Habenichtse. In: von Hoff, Dagmar / Seruya, Teresa (Hg.): Zwischen Medien / Zwischen Kulturen. Poetiken des Übergangs in philologischer, filmischer und kulturwissenschaftlicher Perspektive. München: Martin Meidenbauer 2011, S. 47-60.
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Sara wächst buchstäblich nicht und kann auch im übertragenen Sinn nicht wachsen. Ihre Eltern lassen sie nicht zur Schule gehen. Sie sind Alkoholiker, haben nur zeitweise Arbeit, der Vater schlägt das Kind mit großer Brutalität, „ihr Vater hieß sie hinknien, und dann befahl er, daß sie den Gürtel, den er gelöst hatte, aus den Schlaufen zog, weil er ihr Vater war. […] sie kniete, wimmerte, als sie die Hand spürte, mit der Dad ihr die Hose runterziehen wollte. Weil sie sich mehr fürchtete, nackt zu sein, als vor den Schlägen, ließ sie sich zur Seite fallen. […] Und Dad ließ sie wieder los, fluchend, drehte den Gürtel um, so daß er das weiche Ende hielt und es nicht darauf ankam, ob sie die Hose anhatte oder nicht […].“2
Saras Mutter sieht zu, ohne einzugreifen, schickt Sara, die eingenässt hat, ins Bett und macht ihr Vorwürfe: „–Warum machst du ihn wütend“.3 Immer wieder verbringt Sara ganze Tage und Nächte in ihren schmutzigen Kleidern. Nur ihr älterer Bruder Dave hilft ihr, sich und ihre Kleidung zu säubern, aber Dave kommt immer seltener nach Hause. Er treibt sich herum und schwänzt die Schule, um der Bedrohung durch seinen Vater und durch ältere Mitschüler zu entgehen. Zwar verspricht er Sara, mit ihr wegzulaufen, aber sie ist ohne Hoffnung. An manchen Tagen wird sie von morgens bis abends in das dunkle Bad eingesperrt. Zu essen bekommt sie selten. Von allen Seiten erfährt sie Achtlosigkeit und Gewalt. Ein Händler, der ihre verloren gegangene Puppe findet, rammt diese mit einem hässlichen Grinsen auf eine Zaunspitze, die Kinder aus der Nachbarschaft werfen Steinchen an ihr Fenster und lachen über sie.4 Als Sara ihre Katze Polly schlägt – in einem wahnhaften Moment, in dem sie eine Märchenwelt imaginiert – wird ihr das Tier weggenommen und sie verliert mit ihrem Gewaltausbruch das einzige Wesen, das ihr Halt bot.5 Voller Angst und im Gefühl der Ausweglosigkeit fürchtet sie, selbst die Schuld an ihrer Situation zu tragen, ohne diese verstehen zu können. „Sie sagte es nicht einmal zu Dave, daß sie immer so bleiben würde, daß sie fürchtete, immer ein Kind zu bleiben wie jetzt, da sie nicht wuchs, da sie klein blieb und in die Hosen machte oder ins Bett. Sie war zurückgeblieben, sagte Dad, und obwohl sie nicht genau verstand, was das bedeutete, wußte sie, daß es sich nicht wiedergutmachen ließ. Es war nicht wie eine Krankheit, die wieder weggehen konnte, wenn sie im Bett blieb und tat, was Mum sagte. Mum sagte ihr auch nicht, was sie tun sollte, und es gab Krankheiten, die nicht wieder
2
Hacker: Die Habenichtse, S. 137, 138.
3
Ebd.
4
Vgl. ebd., S. 75, 221.
5
Vgl. ebd., S. 223, 224, 230, 231.
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weggingen, die so schlimm waren, daß niemand drüber redete. Oder es war keine Krankheit, sondern etwas, das sie getan oder gesagt hatte […].“6
Saras Leiden trägt Züge des Animalischen. Wie ihre Katze Polly kauert sie hinter dem Sofa, liegt auf dem Boden. Dave nennt sie zärtlich „little cat“: „–Weil du dich wie eine kleine Katze hinter dem Sofa versteckst.“7 Ihre Stimme wird beschrieben als „eine Stimme, die kaum etwas Kindliches hatte, eigentlich auch nichts Menschliches, genauso gut konnte man von der Katze erwarten, daß sie zu sprechen anfing.“8 Das Leben wird aus Saras Perspektive allegorisch im trostlosen Bild der Regentropfen gefasst, die das Fenster herunterrinnen: Die winzigen Tropfen werden fortgerissen, „von einem breiteren […] Rinnsal geschluckt, unfähig sich in Sicherheit zu bringen“, oder „von den Gullys verschluckt, gurgelnd, endgültig.“ Wenn in den Tropfen etwas eingeschlossen ist, „ein winziges Insekt mit durchscheinenden Flügeln oder eine Rußflocke, ein Körnchen Sand oder Staub“, leuchtet es einen Moment, „bevor es, verwirrt, spindelnd weggerissen wurde oder allmählich davonglitt, […], etwas Winziges, Davongespültes, das nie mehr an seinen Ort zurückkehren würde.“9 In diesem Bild erscheint das Leben als bedroht und unentrinnbar fremdbestimmt, niederdrückend in seiner Vergänglichkeit, der Einzelne als ausgesetzt, ohne die geringste Chance, sich zu entwickeln und zu behaupten. Neben Sara wird die Erfahrung von Armut, Verwahrlosung und Gewalt vor allem in der Figur Jims inszeniert. Jim, als Kind ebenfalls Opfer häuslicher Gewalt, ist im Alter von sechzehn Jahren von zu Hause weggelaufen. In London hat er auf der Straße gelebt, in Hauseingängen und Bushaltestellen, abhängig von Alkohol, Marihuana, Kokain. Immer wieder wurde er von dem Kriminellen Albert und seiner Bande aufgegriffen und zur Prostitution gezwungen.10 Am Anfang des Romans wohnt der 28-jährige mit seiner Freundin Mae in einem heruntergekommenen Apartment, das Albert ihnen zur Verfügung stellt, unter der Bedingung, dass Jim für ihn Drogen verkauft und Einbrüche verübt. Nicht nur Alberts Einfluss und Gewalt ist Jim ausgesetzt, er und Mae leiden auch unter ihrer großstädtischen Lebenswelt.
6
Ebd., S. 220, 221.
7
Ebd., S. 53.
8
Ebd., S. 229.
9
Ebd., S. 73.
10
Vgl. ebd., S. 96.
140 I Z USCHAUER DES L EBENS „Field Street, der reine Hohn, kein Grün weit und breit, statt dessen Lärm und Baustellen und Dreck. […] Der Spätherbst war kalt und naß. Die Fenster schlossen nicht, oder Mae vergaß sie zu schließen. Die Heizung funktionierte nicht oder funktionierte allzugut, es war unerträglich heiß […].“11
Jims Beziehung zu Mae steht durch Armut, Sucht und Jims Gewalttätigkeit unter hohem Druck. Ben, ein Mitglied aus Alberts Bande, versorgt Mae mit Tabletten, ihre Abhängigkeit zeichnet sie zunehmend: „Beugte sich vor, würgte, Schleim tropfte aus ihrem Mund; sie wurde immer dünner.“12 Jims Traum, den er dieser Situation auswegloser Verstrickung entgegenzusetzen versucht, entwirft ein anderes, friedliches Leben mit Mae, ein Leben, in dem sie einen gemeinsamen Rückzugsort haben, den sie selbst gestalten können. „Und nur, wenn Jim neben ihr saß, im Halbdunkel des Fernseherlichts, und ihr erzählte, daß sie einen Garten haben würden, eine Mauer, die er selber hochziehen würde, mit seinen eigenen Händen, und daß er wisse, wovon er spreche, weil sein Vater Maurer gewesen sei, und wie die Rosen blühen würden, im Sommer, nur dann sah sie ihn an und lächelte. Sie könnten im Garten Tee trinken, unter einem Kirschbaum, einem Nußbaum, unser Leben, wollte er ihr sagen, und daß sie daran denken solle, an den Garten und wie sie Tee trinken würden, unter einem Kirschbaum oder Nußbaum, von der Küche mit dem Tablett direkt in den Garten, der Kirschbaum in voller Blüte.“13
Zu der Verwirklichung dieses Wunsches, der in seiner Sehnsucht nach einem Fluchtort, einer Geborgenheitsidylle rührend wirkt, kommt es nicht: Jim verliert aus Eifersucht die Kontrolle und verletzt Mae schwer. Später wird man sie in einem Blumenladen sehen, „dünn, fast mager, […] ihr Gesicht, entstellt von einer Narbe, die von der Schläfe bis zum Kinn reichte, flammendrot, häßlich.“14 Dieser Gewalttat scheint Jim sich nicht zu erinnern. Wie in anderen Situationen der Gewalt gegen Andere bleiben ihm „nur […] die Umrisse“, „etwas fehlte, als wäre eine Loch in seinen Gedanken, da, wo eben etwas geschehen war.“15 Doch verliert er durch seine Gewalt die Person, die ihm am liebsten ist, wie auch Sara mit ihrer Attacke ihre Katze verliert. Zwar erhält Jim die Möglichkeit, übergangsweise in die ruhigere Wohnung eines Bekannten zu ziehen, aber er sehnt sich nicht nur
11
Ebd., S. 24, 25.
12
Ebd., S. 25.
13
Ebd., S. 26.
14
Ebd., S. 174.
15
Ebd., S. 100, 30.
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UND
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„zum Gotterbarmen“ nach Mae, ohne sie machen auch seine Bemühungen um ein anderes Leben keinen Sinn.16 Aus seiner Abhängigkeit von Albert scheint es kein Entrinnen zu geben: „[S]ie würden ihn zwingen weiterzumachen. Es kam nicht einmal darauf an, ohne Mae.“17 Jims Leiden ist wie Saras animalisch konnotiert: „[W]ie ein Tier, dachte er und spürte, daß ihm die Tränen kamen.“18 Mae vergleicht er, als sie von Drogen betäubt auf dem Küchenboden liegt, mit einem Tier, später ihren Nacken mit dem „eines Kätzchens“.19 In dieser Metaphorik, die an anderer Stelle auf Sara bezogen wird, und in dem expliziten Vergleich Jims mit Dave werden Mae und Jim als Spiegelung, als spätere Abbilder der Kinder erkennbar.20 In ihrem Verstricktsein, der Ausweglosigkeit ihres Leidens deutet sich die Sara und Dave drohende Zukunft an. Als weitere Linie des Leidens bindet Hacker – zumeist medial vermittelt – die Opfer zeitgenössischer Gewalt, Anschläge und Kriege in den Roman ein. Eine Londoner Zeitung berichtet von einer Mordserie. Vier Frauen sind erschlagen worden, davon eine an einem frühsommerlichen Nachmittag im Park, „ohne daß irgend jemand etwas bemerkt hatte.“21 Das Geschehen ist – obgleich beiläufig erzählt – in seiner inhaltlichen Gestaltung hochpathetisch, denn die Mutter der Frau wird in hilfloser Distanz über das Handy Zeugin des Mordes an ihrer Tochter. „Die eine mußte ihn gesehen haben, denn sie hatte mit ihrer Mutter in Norwegen telefoniert, als sie angegriffen wurde, und die Mutter, so stand in der Zeitung, hatte den kurzen Angstschrei gehört, das flehentliche Bitte nicht!, bevor die Verbindung abgebrochen war.“22
Mit dem Anschlag auf das World Trade Center am 11. September 2001 beginnt das zweite Kapitel des Romans. Dabei rückt Hacker nicht das Bild der zusammenstürzenden Türme in den Mittelpunkt, sondern das der Menschen, die in den Tod springen. Dieses Bild wird durch Mae fast wahnhaft immer wieder aufgerufen.23 Die Szene der Beerdigung von Robert, einem Berliner Anwalt, der bei den Anschlägen ums Leben gekommen ist, zeigt seine Eltern verloren, allein und in tiefer Trauer um ihren Sohn:
16
Vgl. ebd., S. 96.
17
Ebd., S. 97.
18
Ebd., S. 96.
19
Ebd., S. 30; vgl. S. 29.
20
Vgl. ebd., S. 53, 156.
21
Ebd., S. 159.
22
Ebd., S. 203.
23
Vgl. ebd., S. 23, 28.
142 I Z USCHAUER DES L EBENS „[G]egen jede Vernunft gab es einen Sarg, ein Grab, der Zug der Trauernden scharte sich darum, auf den leeren Sarg eine Handvoll Erde zu werfen, um endlich zu fühlen, mit eigener Hand, was über sie hereingebrochen war vor drei Wochen. Roberts Eltern standen dicht an dem Abbruch der frisch ausgehobenen Erde, gaben keinem die Hand.“24
Eine Petition zugunsten der Häftlinge von Guantanamo Bay, die der Berliner Rechtsanwalt Hans an Silvester in seinen Freundeskreis einbringt, verweist auf die eskalierenden Ereignisse nach 9/11 ebenso wie die Zeitung, die titelt „Krieg kaum noch abzuwenden“.25 In London teilt der Evening Standard mit, dass die Waffen-Inspektoren aus dem Irak zurückgerufen worden seien, ein Magazin schreibt über Saddam Husseins Möglichkeiten, Massenvernichtungswaffen zu produzieren.26 Es gibt Demonstrationen gegen den Irak-Krieg, „Hunderttausende, friedfertig, entschlossen“.27 Die Strapazen der „zweiundsechzigtausend Soldaten“, die in den Irak verlegt werden, deuten sich an in der Bemerkung „Sandstürme. Die Körper eingezwängt in ihre Schutzanzüge.“28 Stürme, Hitze, denen die Menschen ausgesetzt sind, werden wiederholt evoziert.29 Jim nimmt in den Medien die „Beinstümpfe[]“ der amerikanischen und irakischen Opfer wahr.30 Ein Anwalt spricht über Folterungen durch britische Soldaten im Irak. Die Leiden der Zivilbevölkerung manifestieren sich in dem Bericht über ein achtjähriges Mädchen, das erschossen wird, und in den Flüchtlingen aus dem Irak, einer Frau mit drei kleinen Kindern, die in London flehend um Geld bitten.31 Durch die Erfahrung des Nationalsozialismus ist Mr. Benthams Leben gezeichnet. Der Chef einer Londoner Kanzlei ist unmittelbar Betroffener der Verbrechen. Als Kind kam er allein nach England „mit einem Pappschild um den Hals, mit nichts, zur Adoption freigegeben.“32 Zwar konnte seine engste Familie ihm später folgen, doch Benthams Bruder starb kurz nach der Ankunft, die Eltern konnten nie Fuß fassen. Bentham thematisiert sein Aufwachsen ohne Zuhause, „mit einer abwesenden Geographie […], mit einem Zuhause, das als Foto, als Adresse, als Name existierte, aber unerreichbar blieb“, und den radikalen Bruch in
24
Ebd., S. 50.
25
Ebd., S. 108; vgl. S. 84.
26
Vgl. ebd., S. 117.
27
Ebd., S. 155.
28
Ebd., S. 118.
29
Vgl. ebd., S. 142, 151.
30
Ebd., S. 243.
31
Vgl. ebd., S. 282, 210, 211.
32
Ebd., S. 182.
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der Kontinuität seiner Familiengeschichte: „–[…] Ich habe auch alte Möbel, zusammengekauft natürlich, als könnte ich mir so eine Vergangenheit schaffen, denn zu erben gab es ja nichts.“33 Große Teile seiner Familie wurden ermordet, mussten fliehen oder starben an den Folgen des erlittenen Unrechts und der Gewalt. Bentham kennt die Geschichten der Toten und Überlebenden. Seine juristische Tätigkeit ist geprägt vom oft vergeblichen Kampf für die Rechte der Opfer, um den Beweis, „daß es doch Wahrheit und Gerechtigkeit gäbe, für uns, für die ganze Welt.“34 Er berichtet von einem verlorenen Prozess, bei dem der Richter bereits unter den Nazis tätig gewesen war. Der Vater der Klägerin, Direktor des OstasienMuseums in Köln, hatte seine Privatsammlung stiften müssen, überlebte nur aufgrund seiner Ehe mit einer deutschen Frau, „das heißt, er ist 1943 an gebrochenem Herzen gestorben.“35 Bentham empfindet sein eigenes Überleben oder, wie er formuliert, sein „Übrigbleiben“ als eine Verantwortung gegenüber den Getöteten, die er und auch Mr. Miller, Kläger in einem großen Restitutionsfall, ihr Leben lang als Auftrag wahrnehmen.36 „–[…] Miller hat ebenso wie ich weder Kinder noch andere Verwandte. Und doch – wir sind nicht bereit, unsere Wahrheit aufzugeben, wir verteidigen unsere Rechtsauffassung, unser Leben gegen die Zumutungen, die alten, die neuen. Schließlich können wir das, Miller und ich, während so viele andere umgebracht worden sind. Und natürlich hat Deutschland eine Verpflichtung.“37
Resignation klingt an in der Formulierung einer lebenslangen Defensive und Gegenwehr der Betroffenen. Auch das Älterwerden verändert die Perspektive auf den jahrelangen Kampf um Entschädigungen. „–[…] Aber ich frage mich, jetzt, wo ich wirklich alt werde, was das alles bedeutet. Vergangenheit, Kästchen und Schächtelchen, Briefe, Fotos, was man sich wünscht, um weiter glauben zu können, daß man doch noch entwischt, dem Alter, dem Tod.“ Durch die späte, zögerliche und langwierige Aufarbeitung der nationalsozialistischen Verbrechen ist an Benthams Generation vieles versäumt worden, wie Bentham sagt: „–[…], es wurde kaum angefangen.“38
33
Ebd., S. 256, 186.
34
Ebd., S. 185.
35
Ebd., S. 175.
36
Ebd., S. 255.
37
Ebd., S. 185, 186.
38
Ebd., S. 185.
144 I Z USCHAUER DES L EBENS
In der Figur Andras’ zeigt der Roman die Nachwirkungen des Holocaust, des Zweiten Weltkriegs, der Teilung Europas in der nächsten Generation. Andras’ ungarisch-jüdische Familie lebt in Budapest, er ist in Berlin bei seiner Tante und seinem Onkel aufgewachsen, die Ungarn nach dem Einmarsch der Sowjetunion verlassen haben. Andras’ Eltern haben ihren Sohn in das Land geschickt, „wo sie selbst ermordet worden wären“, um ihm eine bessere Zukunft zu ermöglichen.39 Andras berichtet von seinen Besuchen der Verwandten in Budapest und Tel Aviv: „–[…] Sie müssen ihre Geschichten gar nicht erzählen, es genügt, einen Tag mit ihnen zu verbringen. Ein bißchen ähnelt es einer ständigen Prozession, zu Läden und anderen Verwandten und Erledigungen, alles ein ständiges Aufrufen dessen, woran sich nur die Älteren noch erinnern.“40
In seinem Bericht wird deutlich, dass die Erlebnisse von Flucht und Verfolgung, die Brüche in den Geschichten der Einzelnen und der Familien auf den folgenden Generationen weiter lasten. Zugleich scheinen diese Erfahrungen durch das Älterwerden der ersten Generation an Gegenwärtigkeit zu verlieren, die Situation scheint diffuser zu werden. „–[…] Ich weiß selbst nicht genau, was es für mich bedeutet. Bin ich Jude? Ja, natürlich. Vor allem aber Exil-Ungar. […] Daß es Israel gibt, läßt mich hier ruhiger leben.“41 Dennoch leidet Andras unter einer Zerrissenheit, die ihn lähmt, es gelingt ihm nicht, „die Himmelsrichtungen in seinem Leben miteinander [zu, d. V.] versöhnen […], die eben doch nicht die Koordinaten eines Menschenlebens bildeten.“42 Er fühlt sich fremd in Deutschland, zweifelt an der Existenz eines „deutsch-jüdische[n] Zusammenleben[s]“.43 In der Figur des Mädchens Sara führt der Roman die Linien des Leidens zusammen. Das Leid des Kindes ebenso wie das Daves, Jims und Maes gründet in zeitgenössischen sozialen Missständen. Die jüdischen Namen Sara und Dave verweisen auf die Opfer des Nationalsozialismus. Zudem wird Sara in der Struktur des Romans mit aktuellen Kriegen, Anschlägen und ihren Opfern verbunden, wenn in ihrem Leiden das der anderen Opfer aufscheint: „Es könnte überall sein […] in Bosnien, in Bagdad.“44 In dieser Bündelung des Leidens wird das Kind zu einer pathetischen Figur, unterstrichen und verstärkt durch die Metaphorik des
39
Ebd., S. 196.
40
Ebd., S. 189.
41
Ebd.
42
Ebd., S. 81.
43
Ebd., S. 189.
44
Ebd., S. 229, 230.
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Animalischen, denn das Pathos als „das Leiden selbst“, so formuliert Schiller in seiner Schrift Über das Pathetische, lasse den Menschen als „gequältes Tier“ zurück.45 Diese Erfahrungen sind das Leid unterschiedlicher Figuren, aber Inhalt und Struktur des Romans verknüpfen es nach und nach mehr und mehr mit dem Leben der Protagonisten, einem jungen Paar Anfang 30. Der Anwalt Jakob Holbach und die Graphikerin Isabelle Metzler erleben 9/11 in Berlin, wo sie sich am Tag der Anschläge nach zehn Jahren auf einer Party wieder treffen. Jakob verschiebt wegen dieses Fests einen Termin im World Trade Center und entgeht dem Tod, den sein Kollege Robert erleidet. Durch den Tod seines Kollegen bekommt er dessen Stelle in London und eine Eigentumswohnung in Berlin. In London überlässt Jakobs Chef, Mr. Bentham, dem Paar das Haus neben Sara und ihrer Familie zur Miete. Isabelle arbeitet von London aus weiter in einer Graphikagentur, an der sie nach dem Tod ihrer Kollegin Anteile geerbt hat. Während das Paar in Berlin aufgehoben wirkt in seinem Mikro-Kosmos, das Leid in Distanz bleibt, für Isabelle und Jakob sogar positive Auswirkungen hat, sind sie den Geschehnissen nach dem Umzug nach London stärker ausgesetzt. Die Misshandlung des Kindes ereignet sich in ihrer direkten Nachbarschaft. Die Bedrohungslage in London scheint sich durch die Beteiligung Großbritanniens am Irakkrieg zu verschärfen. Isabelle ist zunehmend fasziniert von Jim, der in ihrer Nachbarschaft wohnt. Und Jakob, der in der Kanzlei Benthams arbeitet, die auf Restitutionsfragen spezialisiert ist, fühlt sich angezogen von seinem Chef. Die literarisch konstruierte gegenwärtige Lebenswelt, die in Hackers Roman eine des Leidens ist, rückt näher an Isabelle und Jakob heran. Ihre zunehmende Einbindung wird auch textuell deutlich. Während ihre Perspektiven anfangs neben denen der Anderen stehen, beginnen sie sich mit dem Umzug des Paares nach London zu verknüpfen. Ereignisse in London, wie zum Beispiel der Mord im Park, werden aus unterschiedlichen Perspektiven erzählt, zunehmend finden Begegnungen und Kontakte statt.46 Daraus ergibt sich mit wachsender Dringlichkeit die Frage, wie Isabelle und Jakob – in Lebenswelten des Leidens situiert und mit ihnen konfrontiert – die Ereignisse aufnehmen und sich zu ihnen verhalten. Ausgehend vom Leiden der Gegenwart, das der Roman in den Fokus rückt, richtet sich die Aufmerksamkeit der Analyse in erster Linie nicht auf die Inszenierung des Handelns der Figuren, sondern auf die ihrer Passivität, ihres Erleidens. Der griechische Begriff pathos meint Widerfahrnis, das, was
45
Schiller, Friedrich: Über das Pathetische. In: Ders.: Sämtliche Werke in 5 Bänden. Band 5: Erzählungen und theoretische Schriften. Hg. v. Wolfgang Riedel. 2. durchges. Aufl. München: Carl Hanser 2008, S. 512-537, hier S. 516, 517.
46
Vgl. Hacker: Die Habenichtse, S. 159, 203, 105, 107, 114, 125, 135, 150, 151.
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uns „ohne unser eigenes Zutun zustößt und entgegenkommt“.47 Neben der neutralen Form des Erleidens von Einwirkungen umfasst der Begriff auch den Bereich des Affektiven, des Leidens und der Leidenschaft.48 Der Phänomenologe Bernhard Waldenfels unterstreicht, dass „Affekte und Affektionen“ auf ein „Antun[]“ und „Angehen[]“ deuten, auf „Ereignisse, […] die uns […] widerfahren, zustoßen, zufallen, uns überkommen, überraschen, überfallen“.49 Der Begriff des Pathos ist dabei nicht nur mit Berührung, sondern auch mit Beunruhigung und Fremdheit verbunden, er verweist auf eine Vorstellung von Subjektivität, die nicht in Autonomie und Souveränität wurzelt.50 In diesen unterschiedlichen Facetten schafft die Fokussierung subjektiven Erleidens einen fruchtbaren Zugang zu Katharina Hackers Roman Die Habenichtse. Indem Hacker das Leiden aber nicht nur als Widerfahrnis für den Einzelnen inszeniert, sondern zugleich als „menschengemacht“, als Ergebnis von „Politik, Handlung, Willen“,51 wird ein Spannungsgefüge von Erleiden und verantwortungsvollem Handeln aufgerufen, in dem sie ihre distanzierten Zuschauer situiert.
U NBETEILIGTE Z USCHAUER Isabelle und Jakob stehen dem, was Anderen widerfährt, aber auch dem, was ihnen selbst zufällt, als Zuschauer gegenüber. Die Fernsehbilder am 11. September 2001 nehmen sie nur am Rande wahr, „[...] über das Parkett flackerten die Schatten der in sich zusammenstürzenden Türme, der Menschen, die sich von den Fassaden lösten und in den Tod sprangen.“52 In der doppelten Vermitteltheit der Ereignisse als Bilder, die sich auf dem Parkett spiegeln, kommt die Distanz der Zuschauer zum Ausdruck. Deutlich wird diese auch in der abstrahierenden Beschreibung der Katastrophe als einer Linienführung auf einem Fernsehbild: „[I]n einer perfekten,
47
Waldenfels: Bruchlinien der Erfahrung, S. 15.
48
Vgl. ebd., S. 15f.
49
Vgl. Waldenfels: Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, S. 42f.; Busch, Kathrin / Därmann, Iris: Einleitung. In: Dies. (Hg.): "pathos". Konturen eines kulturwissenschaftlichen Grundbegriffs. Bielefeld: transcript 2007, S. 7-31, hier S. 13.
50
Vgl. Waldenfels: Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, S. 45; vgl. Busch, Kathrin: Ansteckung und Widerfahrnis. Für eine Ästhetik des Pathischen. In: Dies. / Därmann, Iris (Hg.): "pathos". Konturen eines kulturwissenschaftlichen Grundbegriffs. Bielefeld: transcript 2007, S. 51-73, hier S. 70.
51
Hacker: Die Habenichtse, S. 182.
52
Ebd., S. 9.
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geraden Linie flog das Flugzeug auf den zweiten Turm zu.“53 Diese Zuschauerhaltung bleibt, als das Leid ihnen näher rückt, als sie zu Zeugen der Kindesmisshandlung werden. Den Gewaltausbrüchen im Nachbarhaus hören sie immer wieder zu, bis Isabelle erst ganz am Ende des Romans einen anonymen Anruf bei der Polizei tätigt und Sanitäter das Kind abholen. Besonders auffällig ist die emotionale Distanz der Protagonisten. So bleibt die Sphäre des Affektiven eigentümlich blass. Wenn Emotionen auftauchen, sind sie gekennzeichnet durch Mattigkeit, Unbestimmtheit und Unverfügbarkeit. Isabelle und Jakob sind „vage enttäuscht“, oder merkwürdig berührt, alles bleibt „seltsam matt“.54 Die Reaktion auf den 11. September 2001 wird aus Isabelles Perspektive vor allem als Unsicherheit über eine angemessene Reaktion beschrieben, „was sollte man denken, mit was für einem Gesicht herumlaufen? Isabelle stoppte vor einem Schuhgeschäft, um ihr Spiegelbild zu mustern, das keine Gefühlsregung zeigte.“55 Isabelle versucht, von außen über einen Spiegel Zugang zu ihren Emotionen zu finden, doch da ist nichts zu sehen. Diese emotionale Mattigkeit, die apathische Züge trägt, zeigt sich auch in der Beziehung des Paares, die ohne Leidenschaft ist. Isabelle und Jakob heiraten, denn: „–Es ist so passend“.56 Über ihr Gefühl für Jakob spricht Isabelle, indem sie das Verb mögen, nicht lieben einsetzt, die Wirkung der emotionalen Mattigkeit liegt auf paradigmatischer Ebene in der Auswahl der Verben begründet: „Sie mochte Jakob, sie würde mit ihm glücklich sein“.57 Ohne Leidenschaft ist ihr Sexualleben. Isabelle „schlief gerne mit ihm, ohne darüber aufgeregt zu sein.“58 Jakob spricht von gemeinsamen Nächten „ohne Begehren oder Leidenschaft.“59 Mit dem Wort „ohne“ werden intensive Gefühle angesprochen und negiert, ähnlich auch im folgenden Zitat: „Er griff nach ihrer Hand, die bereitwillig auf dem Tisch lag. Als er aufstand, registrierte er, daß Isabelle seine Hand ohne Bedauern losließ. Sie könnten noch einmal ins Bett gehen und miteinander schlafen, bis ihre warmen, zufriedenen Körper sich voneinander lösen würden.“60
53
Ebd., S. 11.
54
Ebd., S. 149, 45; vgl. S. 150.
55
Ebd., S. 12.
56
Ebd., S. 55.
57
Ebd., S. 58.
58
Ebd., S. 164.
59
Ebd., S. 178.
60
Ebd., S. 59.
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Die Konjunktivkonstruktion verweist auf eine Gelegenheit, sich zu lieben, die Isabelle und Jakob verstreichen lassen. In ihrem Leben scheint nichts Gewicht zu haben. Kontakte zu den Familien sind sporadisch und oberflächlich. Zu der Hochzeit des Paares sind die Eltern nicht eingeladen, „denn es würde nur ein Picknick geben, das war alles.“61 Das Wort „nur“ verweist hier ebenso wie in dem Satz „–Mami, ich heirate doch nur“ darauf, dass ihre Hochzeit für sie keine große Bedeutung hat.62 Andras, Isabelles Kollege in der Berliner Graphikagentur, bedauert Isa-belles Umzug nach London und stellt fest, dass „Abschiede […] hier immer beiläufig“ bleiben.63 Ein Zuhause lässt sich schnell schaffen, „so wie sie sich überall ein Zuhause schafften, in Berlin, in London.“ Isabelles Vater kommentiert dieses Leben: „–Es geht alles so schnell, hatte ihr Vater gesagt, als sie ihm den Umzug ankündigte. Ich meine, sogar, wenn ihr heiratet, sogar wenn ihr umzieht in ein anderes Land, hat es keine allzu große Bedeutung.“64 Jakob und Isabelle erfahren nichts als besonders oder herausragend. Jakob vergleicht die Entwicklungen seit 9/11 im Rückblick mit der Fernsehserie Big Brother. „Es gab Schläfer, es hatte den Afghanistan-Krieg gegeben, es gab zerstörte Häuser, verbrannte Menschen, hastig beerdigte Tote und in unwegsamen Bergen weiter Taliban- oder Al-Qaida-Kämpfer, Namen und Dinge, die für sie hier nicht mehr bedeuteten als die Verwicklungen und Dramen einer Fernsehserie, über die alle sprachen, wie sie über Big Brother gesprochen hatten. Und jetzt sprachen sie alle über den Krieg im Irak.“65
Wenn alles indifferent, gleichgültig ist, löst sich Erfahrung auf in Apathie, versinkt sie – mit dem Phänomenologen Bernhard Waldenfels gesprochen – im Schlaf.66 Aus Isabelles Perspektive heißt es: „Vielleicht fielen morgen die ersten Bomben. Vielleicht gab es die ersten Toten. Das Wetter war makellos.“67 So findet das Paar auch zu der Frage nach Veränderungen keinen Zugang: Jakob denkt „an den 11. September vor anderthalb Jahren, an seine hilflose Aufregung, die mit New York nichts zu tun hatte, an Bushs Rede, nichts wie es war. Nichts hatte sich verändert.“68 Obwohl Jakob und Isabelle Ereignisse wahrnehmen, scheinen sie sie nicht
61
Ebd., S. 79.
62
Ebd., S. 78.
63
Ebd., S. 109.
64
Ebd., S. 144.
65
Ebd., S. 93.
66
Vgl. Waldenfels: Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, S. 44.
67
Hacker: Die Habenichtse, S. 152.
68
Ebd., S. 93.
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zu betreffen – eine Distanz zum eigenen Erleben, die durch die variable Fokalisierung der Erzählperspektive, die zwar intern, dabei aber sehr sparsam ist, und durch häufige Außenwahrnehmungen des Paares aus der Perspektive anderer Figuren unterstrichen wird. Diese irritierende Position der Distanz soll im Folgenden genauer ausgelotet werden.
S TRATEGIEN DER D EFENSIVE Isabelles Unberührbarkeit Die Lektüre lässt erkennen, dass Isabelle und Jakob über Strategien verfügen, um das, was ihnen und Anderen widerfährt, auf Distanz zu halten, dass ihre Zuschauerhaltung von Abwehrstrategien durchdrungen ist und dass dahinter Selbstkonzepte stehen, die für diese Strategien konstitutiv sind. Ihrer Haltung läge damit keine Abwesenheit der Erfahrung zugrunde, sondern eine Abwehr oder – wie Waldenfels es für seine Phänomenologie der Erfahrung des Fremden formuliert: „Die apathische Indifferenz, die vom fremden Anspruch unberührt bleibt, ist ein neutralisiertes Pathos, keine genuine Apathie.“69 Isabelle lässt Widerfahrnisse dahingestellt sein, sie entrückt sie einer Auseinandersetzung und Stellungnahme, ein Verfahren, das sich mit Waldenfels als „Neutralisierung der Erfahrung“ fassen lässt.70 So hält sie den Gedanken an die Zerstörung der Londoner Southbank im Zweiten Weltkrieg in der Schwebe, ihre Aufmerksamkeit verschiebt sich auf die zart-bunte Festkleidung der kulturell interessierten Besucher der Tate Modern. „Die Southbank war im Krieg dem Erdboden gleichgemacht worden, aber wer konnte sich das vorstellen, die Bomben, den Blitz, brennende Werften, brennende Häuser? Hier war Tate Modern, riesig, schwarz-braun, fast fensterlos, aber da kamen Damen in Cocktailkleidern aus dem Ausgang, rosa, hellgrün […].“71
Zu Beginn des Irakkrieges erinnert sie sich an „das Fernsehbild eines Mannes, der schluchzend in die Knie gebrochen war, das Gesicht in den Händen barg, weil er fürchtete, daß er gleich erschossen würde. Keine Grausamkeit, die
69
Waldenfels: Bruchlinien der Erfahrung, S. 160.
70
Ebd., S. 152.
71
Hacker: Die Habenichtse, S. 148.
150 I Z USCHAUER DES L EBENS man sich nicht ausmalen konnte. Könnte ich sie mir ausmalen? fragte sich Isabelle. Aber sie wollte nicht.“72
Auch das Schreien und Weinen im Nachbarhaus, das Isabelle wahrnimmt, bleibt ihr „unerklärlich“, ohne dass sie ihm weiter nachginge: „Wenn sie morgens in ihr Arbeitszimmer hinunterging, hörte sie die Nachbarn, lauthals, stampfend, stoßend“.73 Sie will nicht „unterbrechen, was seinen Gang gehen mußte.“74 Die Vorstellung, es sei sinnlos, das Leben beeinflussen zu wollen, ist charakteristisch für Isabelles Selbstkonzept. Sie entwirft sich als vollkommen passiv, als jemanden, dem das eigene Leben zufällt, versteht sich weder als Akteurin, die bedeutende Entscheidungen für ihr Leben trifft, noch als Antwortende, die aufnimmt, was ihr widerfährt und eigene Positionen dazu entwickelt. Vielmehr erscheint ihr der Verlauf des Lebens angelegt, er entwickelt sich, bevor er als feststehende Gegebenheit bewusst wird. Von ihren Hochzeitsplänen möchte sie erzählen, „wie man eine Neuigkeit verkündet, auch wenn es ihr selbst nicht wie eine Neuigkeit vorkam, sondern wie eine dieser Tatsachen, die Jahre darauf warten, zum Vorschein zu kommen, und dann selbstverständlich sind wie die Luft. So, wie sie eines Tages gewußt hatte, daß ihr Studium eine Farce war und daß sie ihre Eltern nur noch an Weihnachten besuchen würde. So wie sie eines Tages gesehen hatte, daß ihr Elternhaus eine Schuhschachtel war, eine graue und längst unmoderne Schuhschachtel, als Bühne für Dramen und Unglück lächerlich ungeeignet […].“75
Abgeklärt und ungerührt scheint Isabelle diese Erfahrungen als Fakten hinzunehmen, weder Freude noch Traurigkeit oder Schmerz zu spüren. Sie bleibt auf Distanz, lässt das Leben passieren, überlässt Entscheidungen den Anderen. Es heißt, sie habe einmal „den Entschluß gefaßt, endlich ernst zu machen mit ihrem Beruf und ihrem Berliner Leben, aber immer war ihr etwas entglitten, wenn auch auf zufriedenstellende Weise“.76 Aus ihrer Perspektive wird bemerkt, dass Jakob auf sie gewartet habe, seine Entschlossenheit gefällt ihr, Jakob kümmert sich um alles, kauft ihre Kleidung und organisiert das gemeinsame Leben. Wiederholt wird sie als kindlich beschrieben: „Kinder mochten sie, als wäre sie selbst ein Kind“.77
72
Ebd., S. 142.
73
Ebd., S. 143.
74
Ebd., S. 164, 165.
75
Ebd., S. 57.
76
Ebd., S. 32.
77
Ebd., S. 14.
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Nichts scheint auf sie einzuwirken, selbst die Zeit nicht. Ihr Gesicht bleibt „glatt“, „unschuldig“, „faltenlos“.78 Ihr Kollege Andras beschreibt dies als eine Fähigkeit, wenn er über sie sagt: „Denn letztlich […] blieb sie unbehelligt, sie hatte ein bemerkenswertes Talent selbst da unbehelligt zu bleiben, wo etwas sie tatsächlich traf“.79 Die Wahrung ihrer Unberührtheit ist Isabelles Programm, „als horte sie ihre Vergangenheit und ihre Zukunft, um in dem schmalen Spalt dazwischen unberührt zu bleiben“.80 Sie nimmt sich aus der Zeit heraus. Ihre Idee „New concept – new life“ proklamiert das Programm des Neuanfangs, eines immer neuen Versuchs ohne Gewesenes und Gewordenes.81 Fragen, die sich ihr nicht sofort erschließen, bleiben auch in ihrem Eheleben mit Jakob in der Schwebe, ohne den Versuch einer Antwort. Sie nimmt sie zwar wahr, Klärungen aber schiebt sie auf: „[E]s war etwas kaum Sichtbares und Neues, das sie empfand, und irgendwann, dachte sie, irgendwann würde sie wissen, was es bedeutete.“82 Widerfahrnisse, die ihre Kindheit und Jugend betreffen, tauchen als kurze Erzählungen auf, Anekdoten aus der Vergangenheit, beiläufig berichtet, ohne Gegenwartsbezug. Ihr Studium in London reduziert sich in einer solchen Erzählung auf Alkoholexzesse und die Gleichgültigkeit der Lehrenden: „[E]nge Flure voller Kakerlaken, verdreckte Waschbecken und stinkende Klos. Ein Geruch, der einem den Atem nahm. Sie hatte es Jakob ausgemalt, Zigaretten, altes Fett, verschimmelte Teppiche dort, wo durch die undichten Fenster Regenwasser ins Haus drang. Nachts zu siebt in eines der winzigen Zimmer gequetscht, Wodka, bis sie betrunken waren, auf den Teppich kotzten, zu spät zum Unterricht erschienen, was den Lehrern gleichgültig war, solange bezahlt wurde, solange sie zeichneten und irgendeine Mappe ablieferten.“83
Trostlosigkeit und Vernachlässigung werden auch in den kurzen Einschüben über Isabelles Aufwachsen in Heidelberg erkennbar, über die sie ebenso beiläufig berichtet. Es herrschte „ein unablässiges gesellschaftliches Treiben, das sie hinter Stapel von Tellern und unter riesigen Tabletts mit Cocktails verbannte, in der Gestalt des häßlichen Entleins.“84 Ihre Mutter ist mit sich selbst beschäftigt, mit ihrer
78
Ebd., S. 13, 11.
79
Ebd., S. 192.
80
Ebd., S. 14.
81
Ebd., S. 34.
82
Ebd., S. 113.
83
Ebd., S. 111, 112.
84
Ebd., S. 45.
152 I Z USCHAUER DES L EBENS
eingebildeten Krankheit, ihrem gescheiterten Traum, Pianistin zu werden.85 Isabelle wird als Fünfjährige unter dem Flügel nicht wahrgenommen, fast von dem Instrument erschlagen, erleidet eine Platzwunde, der Flügel einen Sprung, wobei unklar bleibt, ob für ihre Familie damit „die Katastrophe eingetreten oder vermieden“ ist.86 Das Zusammenleben Isabelles mit ihrem Partner in Freiburg während des Studiums wird als verwahrlost und demütigend bezeichnet.87 Enttäuschend wirkt die Beziehung zu ihrer Berliner Mitbewohnerin Alexa, die ihre Zuneigung nicht erwidert.88 In irritierender Beiläufigkeit gewinnen solche Episoden kaum Gewicht, werden nicht mit aktuellen Situationen und Empfindungen der Figur verknüpft, sie stehen fest, sind ins Bild gebracht, zu einer Anekdote gemacht.89 Unterstrichen wird die Distanz dieser Zuschauerposition, mittels der Isabelle einer Auseinandersetzung mit ihrem Gefühlsleben entgeht, durch den Rückgriff auf den Film: Die Frage, ob sie das Wiedersehen mit ihrem Freund aus Studienzeiten, mit dem sie das „verwahrloste[] und demütigende[]“ Leben geteilt hat, dem Treffen mit Jakob vorzöge, wird als „unsinnig“ abgetan, so wie man die Auseinandersetzung mit „einem schlechten Film“ verweigert.90 Als Abwehrstrategie bezeichnet eine Verkäuferin, auf die Isabelle in London trifft, ihre Haltung: „Pflänzchen-rühr-mich-nicht-an, alles immer nur ein bißchen auf Abstand.“91 Dass ihre Position der Teilnahmslosigkeit dazu dient, Bedrohliches zu verdrängen, klingt aus Isabelles Perspektive selbst an, wenn sie, bezogen auf die Terrorangst in Berlin nach 9/11, feststellt: „Seit alle sich bedroht fühlten, gefangen und der Willkür unberechenbarer Wächter ausgeliefert, schien ruhige Beobachtung den drohenden Schrecken nur zu verschleiern.“92 In der Konfrontation mit Saras Leid wird Isabelles teilnahmslose Haltung zunehmend als Abwehr deutlich und problematisch. Dass unter den Vorgängen im Nachbarhaus, die sie immer wieder wahrnimmt, jemand leidet, wird ihr mehr und mehr bewusst. Anfangs hört sie „ein dünnes Weinen“, schließlich bezeichnet sie ihre Nachbarn als „gewalttätig[]“.93 Wiederum scheint ihr ein mediales Deutungsmuster Distanz zu ermöglichen. Das misshandelte Nachbarskind Sara beschreibt Isabelle als einem
85
Vgl. ebd., S. 44, 45.
86
Ebd., S. 44.
87
Vgl. ebd., S. 11.
88
Vgl. ebd., S. 56.
89
Vgl. ebd., S. 111, 44.
90
Ebd., S. 11, 13.
91
Ebd., S. 237.
92
Ebd., S. 67.
93
Ebd., S. 164, 228.
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Film entsprungen: „Es war wie eine Szene aus einem Ken-Loach-Film. Sie hat strähniges Haar und ist sehr blaß. Ihr Vater ließ sie auf der Straße stehen und rannte wutentbrannt weiter“.94 Mit dem Verweis auf Ken Loach, den Regisseur britischer Sozialdramen, nähert Isabelle sich Saras Lebenswelt aber nicht an, beund feststehende Deutungen dienen vielmehr dazu, Fremdes ohne eigene Interpretationsanstrengung als Einzuordnendes, nicht Irritierendes verfügbar zu machen, es zugleich auf Distanz zu halten und die Auseinandersetzung zu vermeiden. Treffend ist Waldenfels’ Beschreibung solcher Vorgänge als extremer Schwächung der Erfahrung: „Die Schwächung der Erfahrung steigert sich ins Extrem, wenn das Als eingefroren wird in Klischees oder Schablonen, die wie fertige Bildstocks oder Bildvorlagen verwendet werden, und wenn es sich in Stereotypen, also in feststehende Typen, verwandelt. […] Die Welt verwandelt sich in ein ‚Weltbild‘ […].“95
Isabelle verwendet Sara als Ausgangspunkt für die Geschichte eines Kinderbuchs, an dem sie arbeitet, und macht sie so zum Gegenstand einer weiteren Deutung. „Das Nachbarskind ist das Vorbild, obwohl ich es auf der Straße noch nie gesehen habe, es darf wahrscheinlich nicht aus dem Haus und ist sehr blaß.“96 Ihre Arbeit nimmt die Wahrnehmung von Saras sozialer Situation nicht auf, sondern verwandelt sie in eine Idylle: „Zwei Geschwister liefen auf den Winterfeldtmarkt und kauften gestreifte Bonbons für das Mädchen, das von zu Hause weggelaufen war und jetzt auf einem Spreekahn bei dem Kapitän lebte, der schließlich die Mutter des Mädchens heiraten würde.“97 Die klischeehafte Vorstellungswelt, für die Sara das Vorbild ist, liegt eklatant neben der alltäglichen Realität des Kindes. Isabelle zeichnet die sentimentale Geschichte einer heilen Welt, obwohl sie das Kind weinen hört und vermutet, dass es eingesperrt wird. Ihr Projekt, das in der Konfrontation mit dem kindlichen Leiden als kitschige Wirklichkeitsflucht erscheint, lässt sich als Verdrängung deuten, durch die bedrohliche Inhalte und Vorstellungen in das Unbewusste zurückgewiesen und von der bewussten Wahrnehmung ausgeschlossen werden.98 Unter den Begriff der Verdrängung kann auch die sprachliche
94 95
Ebd., S. 199. Waldenfels: Bruchlinien der Erfahrung, S. 31. Um „[d]as Als“ dreht sich die Erfahrung, es öffnet „einen Spalt […] zwischen dem, was erscheint, und der Art, wie es erscheint, aufgefasst oder gedeutet wird“ (Ebd., S. 30).
96
Hacker: Die Habenichtse, S. 197.
97
Ebd., S. 166.
98
Vgl. Laplanche / Pontalis: Das Vokabular der Psychoanalyse, S. 582.
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Verneinung ihrer zunehmenden Verwicklung subsumiert werden, die wiederholt auffällt: Sie presste „das Ohr an die Wand, […] und diesmal schien es eine Stimme, oder nur Ausdruck, flehentlich, an niemanden gerichtet.“99 Und ein anderes Mal: „Später würde sie durch die zu dünnen Wände den Geräuschen aus der benachbarten Wohnung lauschen und wissen, was dort geschah, beinahe so, als wäre sie beteiligt.“100 Die Verneinung durch den Konjunktiv im irrealen Vergleichssatz lenkt die Aufmerksamkeit auf die Annahme, die naheliegt, aber nicht gelten soll, sie lässt Isabelles wachsende Involviertheit aufscheinen, indem sie sie aufhebt.101 Freud schreibt in seinem Aufsatz Die Verneinung (1925), er nehme sich in der Traumdeutung „die Freiheit, bei der Deutung von der Verneinung abzusehen und den reinen Inhalt des Einfalls herauszugreifen.“102 Isabelle ist beteiligt, verdrängt dieses Faktum jedoch in einer Konstruktion, die sich mit Hans Glinz als „Konjunktiv der abgelehnten Annahme“ bezeichnen lässt.103 Sie bleibt Zeugin, auch wenn sie versucht, dies abzuwehren. In der direkten Begegnung Isabelles mit Sara steigert sich ihre Abwehr zu einer Unterlassung konkreter Hilfeleistungen für das Kind, das sich ausgesperrt hat, das in seinem Erbrochenen im Garten liegt. „Es wäre ein leichtes, dem Kind heraufzuhelfen. […] Ein paar Worte würden genügen, Sara zu beschwichtigen, sie könnte ihr die Hand entgegenstrecken und sie ebenfalls hinaufziehen“.104 Isabelle ist affiziert, sie „fühlt[] sich herausgefordert, abgestoßen“, sieht Möglichkeiten, die sie ergreifen könnte, zieht sich aber auf die distanzierte Zuschauerposition zurück. „Mit sprachlosem Entsetzen starrte es [das Kind, d. V.] Isabelle an, alles Kindliche war aus seinem Gesicht verschwunden, es gab nur noch Ausweglosigkeit und Leid darin; Isabelle mußte lachen. […] was für ein albernes Schauspiel, dachte Isabelle, wie idiotisch, sich einzumischen. […] Entschlossen sprang sie in ihren eigenen Garten hinunter […].“105
99
Hacker: Die Habenichtse, S. 152.
100 Ebd., S. 231. 101 Vgl. Hans Glinz zitiert in: Grammatik der deutschen Gegenwartssprache. Der Duden in 10 Bänden. Das Standardwerk zur deutschen Sprache. Band 4. Hg. v. Wissenschaftlichen Rat der Dudenredaktion. 3. neu bearb. u erw. Aufl. Mannheim u.a.: Dudenverlag 1973, S. 107, Fn. 3. 102 Freud, Sigmund: Die Verneinung. In: Gesammelte Werke. Vierzehnter Band. Hg. v. Anna Freud. 7. Aufl. Frankfurt am Main: S. Fischer 1991, S. 11-15, hier S. 11. 103 Hans Glinz zitiert in: Grammatik der deutschen Gegenwartssprache, S. 107, Fn. 3. 104 Hacker: Die Habenichtse, S. 230. 105 Ebd., S. 230.
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Das Lachen als Reaktion, die jede Empathie verweigert, ist als Sicherung des inneren Abstands, als „Affektäußerung der Distanzierung“ markiert, die Entschlossenheit, mit der Isabelle den Garten verlässt und das Kind allein zurücklässt, zementiert ihre Abwehr.106 Ein Anruf ihres Kollegen Peter ist ihr „willkommen“ als Ablenkung von dem Gedanken an das Kind, „das hinter der Mauer heulen oder kotzen mochte, an der verschlossenen Tür rütteln, eine Strafe fürchtend oder die Dämmerung.“107 Sara muss die Nacht im Freien verbringen, ihre Eltern kommen erst am nächsten Vormittag zurück.108 Auch dies versucht Isabelle auszublenden: „[…] sosehr sie sich auch bemühte, nicht daran zu denken, fragte sie sich doch, ob Saras Eltern erst jetzt, nicht gestern abend, zurückgekommen waren.“109 Isabelles Zuschauerposition zeigt sich von einer Abwehr durchdrungen, mit der sie das, was ihr und Anderen widerfährt, auf Distanz hält. Diese Distanz scheint jeden Ansatz von Empathie unmöglich zu machen. So fragt sie sich, als sie aus dem Nachbargarten in ihr Haus zurückkehrt: „Hatte sie dem Mädchen geholfen, wie es ihre Absicht gewesen war?“110 In dieser Unfähigkeit, einen Zugang zu sich und Anderen zu finden, die eigene Situation und die Anderer einzuschätzen, ihre eigene Rolle zu reflektieren, wirkt Isabelle hilflos. Im Hinblick auf Saras Situation erscheint ihre Deutung des Geschehens in der Ermangelung jeglicher Einfühlung als Zynismus: „[A]ls sie an Sara dachte, die jetzt vermutlich heulend im Garten hockte, aber immerhin eine Katze hatte, schien sie ihr ein vergleichsweise glückliches Kind.“111 Isabelles Haltung, mit der sie alles passieren lässt und zugleich eine Distanz wahrt, die ihre Unberührtheit sichern soll, alles abwehrt, was sie einbinden, fordern, was Spuren hinterlassen könnte, wird in ihrer Konfrontation mit dem Leid des Kindes problematisch. Dass diese distanzierte Zuschauerposition auch im Hinblick auf ihr eigenes Leben als Mangel gedeutet werden kann, klingt in einem kurzen Gespräch mit der Verkäuferin in London an. Die Frau vergleicht Isabelle mit ihrer Tochter, die in ähnlicher Weise unberührt zu bleiben versuche, „alles immer nur ein bißchen auf Abstand“, um sich das „Unglück [zu, d. V.] ersparen“ und endet mit der provozierenden Frage: „–[…] Aber was hast Du dann
106 Vgl. Keck, Annette: Groteskes Begehren und exzentrische Deklamationen. Zur Eskamotage des Pathos in der Literatur des bürgerlichen Realismus. In: Zumbusch, Cornelia (Hg.): Pathos. Zur Geschichte einer problematischen Kategorie. Berlin: Akademie Verlag 2010, S. 117-138, hier S. 123. 107 Hacker: Die Habenichtse, S. 232. 108 Vgl. ebd., S. 241. 109 Ebd., S. 236. 110 Ebd., S. 231. 111 Ebd., S. 232.
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am Ende gehabt?“112 Der Titel des Romans schwingt in dieser Frage unüberhörbar mit. Jakobs Unabhängigkeit Jakob betrachtet die Anschläge von 9/11 nicht als etwas, das ihn und seine Umwelt betrifft, er ärgert sich über „[d]ie ernsten Gesichter der wenigen Passanten […], es war ihnen nichts zugestoßen, es war nicht ausgemacht, daß ihnen etwas zustoßen würde, dachte er.“113 Zwar empfindet er Angst, wie während einer U-Bahnfahrt in London, doch versucht er jede Affizierung schnellstmöglich aufzuheben: „[E]r […] fürchtete plötzlich, statt des Namens der nächsten Station könnte eine Warnung auftauchen, Alert! Terror Attack!, der Zug stockte, blieb auf der Strecke stehen, setzte sich wieder in Bewegung, und Jakob gab sich auch einen Ruck, sein Gesicht wurde fester, männlicher […].“114
Distanzierung zeigt auch seine Reaktion auf den Tod seines Kollegen Robert im World Trade Center, die in ihm eine vage Erinnerung an den Tod seiner Mutter auslöst, bevor ihm bewusst wird, dass auch dieser längst zu einer von ihm losgelösten Episode der Vergangenheit geworden ist: „Man mußte abwarten, und nicht einmal lange, bis das Entsetzen, bis auch diese Episode Vergangenheit war. Zu Hause hatte er sein verschwitztes Hemd ausgezogen und geduscht, um abzuwaschen, was sich gegen seinen Willen wie ein dünner Film über seinen Körper gelegt hatte.“115
Jakob duscht, als wäre das Entsetzen etwas Äußerliches, das man abtrennen könnte. Besonders deutlich wird seine Abwehr bei dem Versuch, sein Gefühl der Verbundenheit mit Robert aufzuheben und damit das Gespür dafür, wie austauschbar ihre Situation, wie nah und ausgeliefert er selbst der Katastrophe war. Auffällig ist wieder die sprachliche Form der Verneinung, die den abgewehrten Gedanken preisgibt, indem sie ihn negiert:
112 Ebd., S. 237. 113 Ebd., S. 15. 114 Ebd., S. 119. 115 Ebd., S. 48.
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„Den Atem anhalten, damit Zufall blieb, was Robert und ihn verbunden hatte und jetzt trennte, Koinzidenz, nicht Tausch, nur die rätselhafte, uneinsehbare Überschneidung zweier Linien, ebenso wenig einsehbar wie der Punkt, an dem die Parallelen sich doch berührten. Sie liefen, dachte Jakob, wieder auseinander […].“116
Die Sorgen seines Vaters, der die Situation in London als riskant einschätzt, versucht er abzutun: „–Es war, sagte er schließlich, mein Vater, der fragte, ob du nicht zurückwolltest, zurück nach Berlin, falls es dort sicherer wäre. Wie albern, fügte Jakob hinzu. Decken und Batterien, so ein Unsinn, erinnerst du dich, wie es während des ersten Irak-Krieges war? […] All die Ängste für nichts und wieder nichts. Ob ich dich nicht nach Berlin schicken wolle, hat mein Vater gefragt, kannst du dir das vorstellen? Du machst dir keine Sorgen oder? […] Es wäre albern, sich zu sorgen.“117
In seinen Wiederholungen scheinen Betroffenheit und Unsicherheit auf, die er aber nicht positiv formuliert. Ängsten, Sorgen und Unwägbarkeiten will Jakob keinen Raum geben. Seine Ausblendungen stehen im Dienst seines Selbstentwurfs als autonomes, identitäres, souveränes Subjekt. Er versucht, eine sichere, fest gefügte Position der Distanz einzunehmen, aus der heraus er sich und seine Welt gestalten, seine eigene Geschichte entwerfen und leben, selbst sein emotionales Leben in Unabhängigkeit bestimmen will. So kauft er sich bereits als Jurastudent des ersten Semesters „teure[] Herrenschuhe[] von Bally, mit denen er den Anfang von etwas markieren wollte, seinen Anfang, den Punkt, von dem an er eigene Erinnerungen haben oder nicht haben würde, die Freiheit abzustreifen, was das kleinliche Gedächtnis anderer ihm aufzuzwingen versuchte.“118 Seinen Kommilitonen Hans, den er im Studium in Freiburg kennenlernt, verwandelt er in Erzählungen in einen Freund aus Kindergartentagen. In die Sprache des Juristen gefasst, betrachtet er sein Leben als einen „unkomplizierte[n] Fall, der mit einem knappen Kommentar auskam.“119 Mit seiner Arbeit, der Regelung offener Vermögensfragen, will er die Welt ordnen. „Es war, als müßte man ein Puzzle auseinandernehmen, um die Teile, die ein trügerisches Bild ergeben hatten, in ihre eigentliche Reihenfolge zu bringen.“120 In dem Bild des Puzzles kommt Jakobs Vorstellung
116 Ebd., S. 49, 50. 117 Ebd., S. 142, 143. 118 Ebd., S. 17. 119 Ebd., S. 15. 120 Ebd., S. 19.
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essentialistischer Ganzheit zum Ausdruck. Er vertraut auf die Möglichkeit der Herstellung einer geschlossenen Realität und einer objektiven Kontinuität. Auch in persönlichen Belangen hängt Jakob an Konzepten, an einem Leben als selbst gewähltem Kontinuum. Er beschließt, in den Biedermeier-Möbeln seiner Großeltern zu leben. Sein Liebesleben gestaltet er entsprechend seiner Entscheidungen und lässt sich nicht von seinem Plan ablenken. Er verliebt sich in Isabelle und wartet auf sie, wobei er sich zehn Jahre als Frist setzt. „Wenn er Isabelle nicht bis 2001 wiedergefunden hatte, würde er sie vergessen.“121 Seine Gefühle versachlicht er und unterwirft sie seiner Ratio. Er überlegt sich, „daß man sich entscheiden konnte, glücklich zu sein“.122 Dieser Versuch, sein Leben, selbst sein emotionales Leben, in aktiver Autonomie unabhängig von den und dem Anderen zu bestimmen, wird auch in seiner Haltung zum Tod deutlich, den er als einen „Wechsel der Besitzverhältnisse“ beschreibt: „Was dem Toten gehört hat, geht in den Besitz anderer über, sein Hab und Gut ist bloß der kleinste Teil. Das nächste ist der Körper, er gehört denjenigen, die ihn schminken lassen oder nicht, aufbahren oder nicht, beerdigen oder verbrennen. Und dann nehmen sie in Besitz, was der Tote gedacht und gehofft und erlebt hat, selbst seine Erinnerung gehört bald den Angehörigen, im Namen ihrer Liebe, im Namen ihrer Erinnerung. Mir wäre es am liebsten, daß die Leute mich vergessen, wenn ich tot bin.“123
Im Anderen sieht er – über den Tod hinausgehend – die Bedrohung seiner unabhängigen Identität. Jakob blendet Formen der Bindung und Einbindung, die er nicht beeinflussen kann, aus, misstraut „allem, was mysteriös schien, und mochte keine verborgenen Handlungsmotive, keine Veränderungen, die nicht sichtbar wurden.“124 Die Idee der Vorsehung verwirrt ihn, Kausalitäten, die ihn gegen seinen Willen bestimmen könnten, weist er ab.125 Als er nach dem Tod seines Kollegen Robert dessen Stelle in London bekommt, spricht er von „Koinzidenz, nicht Tausch“, um nicht durch die Idee des Tauschs mit Robert verbunden und an ihn gebunden zu bleiben.126 Er präferiert den Zufall vor dem Schicksal, das ihn meinen würde.
121 Ebd., S. 21. 122 Ebd., S. 123. 123 Ebd., S. 50, 51. 124 Ebd., S. 19. 125 Vgl. ebd., S. 87, 18. 126 Ebd., S. 50.
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„Zu seiner Liebe zu Isabelle gehörte das Zufällige ihrer Begegnung unbedingt dazu. Andererseits mußte sie in gewisser Weise ihm restituiert werden: Er hatte lange genug darauf gewartet, und wie man es drehte und wendete, dieses Warten selbst war ein Anspruch.“127
Seinen Anspruch auf Isabelle leitet er aus seinem Warten ab, das er als eine Leistung aus freier Entscheidung heraus versteht. Seinen Träumen, seinem Unbewussten hingegen weicht er aus. „Vielleicht träumt man tatsächlich nichts, sagte er, sieht nur vage Bilder, wie Erinnerungen, an die man sich nicht erinnert, weißt du?“128 In Jakobs Vergleich werden Traum und Erinnerung als der Einfall von Bildern konzipiert, als Widerfahrnisse, die im Ungefähren bleiben müssen. Die paradoxe Konstruktion von „Erinnerungen, an die man sich nicht erinnert“, aber verleiht dem Erinnern – und analog dazu dem Träumen – zusammen mit der sprachlichen Form der Verneinung eine aktiv abwehrende Komponente. Jakob geht nicht auf das ein, was ihm widerfährt, und hält es damit auf Distanz, seine Träume, seine Erinnerungen, seine Erfahrungen. Er wehrt ab, was er nicht beherrschen, kontrollieren kann, wie „den Gedanken, er könne sich für Restitutionsfragen interessieren, weil sein Vater beinahe einem solchen Vorgang ausgesetzt worden wäre“.129 Sein Versuch der Verdrängung schließt auch den Tod seiner Mutter ein, die er im Alter von zwölf Jahren verloren hat. Thematisiert wird dies aus seiner Perspektive nicht im Zusammenhang von Verlust, sondern von Verschonung. „Seit dem Tod seiner Mutter, war er selber von Unglück verschont geblieben.“130 Der Text gibt aber mehr preis: Jakob hatte einige Wochen nicht gesprochen, das Haus ist für den Rest seiner Jugend in dunkler Stille versunken, Jakob, sein Vater und dessen neue Freundin bewohnten es „wie Durchreisende“, für Zuversicht war kein Raum.131 Die Schwere seines Verlusts scheint Jakob nicht zu spüren: „–Außer meiner Mutter habe ich nie jemanden verloren.“ Es ist sein Chef Mr. Bentham, der auf sie hinweist: „–Das reicht auch, denke ich, in Ihrem Alter?“132 In der Konfrontation mit Saras Leid wird auch Jakobs Distanz verstärkt als Abwehr erkennbar und problematisch. Sara ist für ihn ein „Bucklicht Männlein, unheimlich“.133
127 Ebd., S. 18, 19. 128 Ebd., S. 60. 129 Ebd., S. 18. 130 Ebd., S. 15. 131 Ebd., S. 16. 132 Ebd., S. 256. 133 Ebd., S. 114.
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Dieses bedrohliche Andere, das Walter Benjamin in seiner Berliner Kindheit um Neunzehnhundert zum Thema macht, kann und will Jakob nicht annehmen.134 „Er mußte an das kleine Mädchen der Nachbarn, dessen blasses Gesicht ihm unheimlich war, nun nicht mehr denken, der Weg zwischen seinem Zuhause und der Kanzlei war ein anderer geworden, kein Bucklicht Männlein, und sein Leben war das eines Ehemannes. Schutzwürdig und redlich, wie es in Fiebergs und Reichenbachs Einführung zum Vermögensgesetz stand, wenn schon nicht in gutem Glauben.“135
Seine Distanznahme ist passivisch konstruiert: Nicht Jakob verändert seinen Weg, sein Weg verändert sich – die Formulierung suggeriert eine von ihm unabhängige Entwicklung, die Jakob sowohl die Konfrontation mit dem Anderen als auch mit seiner Abwehr des Anderen erspart. Der gute Glaube, den Jakob sich im Hinblick auf dieses Verhalten abspricht, referiert auf ein fehlendes subjektives Unrechtsbewusstsein trotz objektiver Unberechtigtheit und ist im deutschen Recht die höchste Form des Vertrauensschutzes in einen Rechtsschein.136 Jakobs Formulierung zeigt, auch wenn er sie sofort lächelnd relativiert, dass er sich selbst dieses Maß an Vertrauensschutz nicht zusprechen würde.137 Sein Mangel an gutem Glauben bezieht sich nicht nur auf sein Verhalten gegenüber Sara, sondern auch auf seine Rolle als Ehemann Isabelles, die mehr seinem Plan, seinem Projekt Isabelle, als seinen Gefühlen entspricht. Die Formulierung „[s]chutzwürdig und redlich“ tauchte zuvor im Zusammenhang mit Jakobs Arbeit zum Investitionsvorrang in Berlin auf als „ein Satz aus Fiebergs und Reichenbachs Einführung in das Vermögensgesetz“: „Schutzwürdig und damit redlich sollen diejenigen sein, die sich auf die in der ehemaligen DDR formell bestehende Rechtslage eingerichtet und sich – gemessen an dieser Rechtslage – korrekt verhalten haben.“138 Jakobs selbstironische Aussage, die mit der juristischen Formulierung über den privaten Kontext hinaus auf seine berufliche Tätigkeit und zudem auf den größeren zeitgeschichtlichen Kontext verweist, ruft eine Haltung auf, die sich weniger an der persönlichen Erfahrung und Reflexion, an eigenem Wissen und Gewissen orientiert, sondern sich eher pragmatisch an gegebene Situationen gewöhnt und darin einrichtet. In
134 Vgl. Benjamin, Walter: Berliner Kindheit um Neunzehnhundert. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Band 4, 1. Hg. v. Tillman Rexroth. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1972, S. 235-304. 135 Hacker: Die Habenichtse, S. 116. 136 Vgl. § 932 II BGB. 137 Vgl. Hacker: Die Habenichtse, S. 116. 138 Ebd., S. 19.
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diesem Sinne geht Jakob auch mit dem anonymeren Leid in seiner Lebenswelt um. „Man gewöhnte sich aber an alles, an die Obdachlosen, die quer über dem Gehweg lagen und über die man hinwegsteigen mußte. An die Plakate, die nach Zeugen für Überfälle suchten.“139 Alles Fremde und Leidvolle, das Jakob zu nah rückt, drängt er beiseite, wie sich in der Szene seiner Begegnung mit irakischen Flüchtlingen in London zeigt. „Eine Frau, die drei kleine Kinder bei sich hatte, verstellte ihm den Weg, eines der Kinder trug eine Augenklappe, die Frau streckte ihm einen Zettel hin und hielt ihn flehend am Arm. Ungeduldig machte er sich frei, sie trat demütig zur Seite, murmelte leise vor sich hin, –Irak, wir sind aus dem Irak, hörte Jakob, und er lief schnell weiter, die Tasche fest umklammert.“140
Sein Umgang mit dem Fremden, mit dem Anderen und Unwägbaren dient im Privaten wie in seinem Beruf dem Versuch, Unsicherheiten zu minimieren und die Welt überschaubar zu halten. „[W]eil die Gewohnheit nur einen Teil des Territoriums bedeckte, anderes nur zeitweilig überspülte, dann wieder freigeben mußte, weil etwas unberechenbar blieb. Wenigstens Dinge sollten an ihren Ort zurückkehren, dachte er weiter, Häuser zu ihren Besitzern, Grundstücke zu ihren Eignern, die Turbulenzen, Ungerechtigkeiten konnten noch ausgeglichen werden, weil Menschen nicht nur Menschen (allzu kurzfristig und fahrlässig und ausgesetzt, hilflos nackt selbst unter der Schutzschicht funktionierender Gesetze), sondern auch Rechtssubjekte waren.“141
Die nackte Hilflosigkeit des Menschen setzt der Roman aus Jakobs Perspektive in eine Klammer, die den Gedanken kurz unterbricht. In diesem Satzbild spiegelt sich sein Wille, die menschliche Verletzlichkeit auszublenden. Der Entwurf seiner juristischen Tätigkeit ist bestimmt von der Vorstellung und dem Wunsch, Fehler der Vergangenheit korrigieren und zur Wiederherstellung eines objektiv gerechten, weil gesetzlich und historisch zu begründenden Zustands beitragen zu können.
139 Ebd., S. 204. 140 Ebd., S. 210, 211. 141 Ebd., S. 115, 116.
162 I Z USCHAUER DES L EBENS „Es gab keine abstrakte Gerechtigkeit, aber doch etwas wie einen Zustand von Gerechtigkeit, den er wiederherstellen helfen wollte. Menschen wurden wieder in ihre Rechte eingesetzt, weil sie Rechtssubjekte waren, Teile eines Geflechts aus Gesetzen und Geschichte. An der Idee, Dinge, wenn nicht zu heilen, so doch zu ordnen, hielt er fest. Besitztümer vermischten sich, weil die Lebensläufe von Menschen sich vermischten. Was gewaltsam als Trennung dazwischenfuhr, mußte vermieden oder rückgängig gemacht werden.“142
Die Idee der Rückkehr zu einer gegebenen gerechteren Ausgangssituation beinhaltet ebenso wie die Vorstellung, erlittene Gewalt rückgängig machen zu können, den Anspruch auf eine Tilgung des Unrechts. Jakob versucht Leid, wenn nicht auszublenden, zu bewältigen, indem er es löscht. Gewalt, die ihn mit der eigenen Ausgesetztheit und der Anderer konfrontiert, kann Jakob nicht ertragen. Deutlich wird seine Hilflosigkeit in der Reaktion auf einen Überfall, dessen Opfer er mit seinen Kollegen und Isabelle wird. „Er hatte am Morgen gewartet, bis sie aufgewacht war, noch immer niedergeschlagen. Wie sehr er Gewalt hasse, sagte er wieder und wieder.“143 Der „Eindruck von Bedrohung und Niederlage“ macht ihm Angst.144 Isabelle erkennt seine Strategie der Abwehr, wenn sie sich fragt, „ob er von den Nachbarn nichts bemerkte, […] oder ob er es ignorierte, weil er Gewalt haßte, weil er nicht wollte, daß in seiner Welt vorkam, was er verabscheute.“145 Diese Vermutung wird durch den Text bestätigt: „Als er [Jakob, d. V.] schon beinahe eingeschlafen war, bildete er sich ein, einen dumpfen Aufprall zu hören. Aber das kann nicht sein, sagte er sich; dann blieb es still, und er schlief ein.“146 In seiner Abwehr jeglicher Erfahrung, die ihn heraus- und überfordert, erweist sich Jakob als unfähig, auf das einzugehen, was ihn und Andere trifft. Er, der sich in autonomer Distanz und souveräner Handlungsfähigkeit entwirft, steht seinem eigenen Leben und dem der Anderen defensiv, passiv, unsicher und hilflos gegenüber. Diese heteronom geprägte Distanz wird aus Isabelles Perspektive wiederholt thematisiert: „Jakob, der sich nicht wehrte, der sich in Sicherheit gebracht hatte. […] Jakob […], der in sich zusammengesackt war. Warum tut er nie etwas? dachte sie, warum wehrt er sich nicht?“147 Wenn sein Chef Bentham ihn als Zuschauer
142 Ebd., S. 115. 143 Ebd., S. 171. 144 Ebd., S. 178. 145 Ebd., S. 171. 146 Ebd., S. 265. 147 Ebd., S. 272, 283.
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bezeichnet, klingt das Defizitäre dieser Haltung auch für den Bereich seiner persönlichen Beziehungen an. „–Es macht die Leute durchaus angenehm, wenn sie bloß zugucken […]. Außer für diejenigen, die sie lieben, fügte Bentham hinzu“.148
V ERWICKLUNGEN Jakobs Verunsicherung Jakob und Isabelle widerfährt – trotz ihrer Abwehr, gewissermaßen in einer Verkehrung – beiden das, was sie auf Distanz zu halten suchen. Sie werden angezogen von dem, was sie vermeiden. In dieser Einbindung wird die Problematik ihrer Selbstkonzepte zunehmend deutlich. Jakob ist fasziniert von seinem Chef Mr. Bentham. Während er eigenes und fremdes Leid auszublenden oder – in seiner beruflichen Tätigkeit – durch Restitutionen rückgängig zu machen versucht, konfrontiert ihn Mr. Bentham mit der gelebten Erfahrung des Leids und mit dem radikalen Zweifel an der Möglichkeit, erlebtes Leid in einem Akt der Wiedergutmachung quasi aufzuheben. In der Affizierung durch Bentham widerfährt Jakob etwas Beunruhigendes. Er wird auf zwei Themen verwiesen, mit denen er sich bisher nicht auseinandergesetzt hat, mit den begrenzten Möglichkeiten seiner Arbeit als Jurist im Bereich der Restitution und mit der Anziehung, die Männer auf ihn ausüben. Jakob, der in Berlin Fragen des Investitionsvorrangs bearbeitet hat – pragmatisch heißt es aus seiner Perspektive: „Vor den endgültigen Entscheidungen mußte das Leben weitergehen“ – verändert mit dem Wechsel nach London seinen Arbeitsschwerpunkt.149 Die Kanzlei Benthams ist auf Entschädigungsfälle von 1933 bis 1945 spezialisiert. Der konkrete Fall, der im Mittelpunkt von Jakobs Tätigkeit in London steht, betrifft den Versuch Mr. Millers, die Grundstücke zurückzuerhalten, die seiner Familie in der NS-Zeit genommen wurden. Bentham stellt die Vorstellung der Restitution radikal in Frage und verunsichert Jakobs Perspektive. Dabei stehen die Rechte der Opfer außer Frage: „–Sein Recht, Millers Recht? Natürlich ist es sein Recht. Es ist sein Eigentum, nicht das des deutschen Staates oder der Treuhand oder irgendeines Käufers.“150 Es ist der Versuch der Wiedergutmachung, den Bentham kritisiert. Die Wiederherstellung von Wahrheit,
148 Ebd., S. 258. 149 „War ein vormaliger Besitzer nicht auffindbar, durfte ein Investor, unbeschadet der ungeklärten Besitzverhältnisse, seine Pläne in die Tat umsetzen“ (Ebd., S. 20). 150 Ebd., S. 145.
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von historischer Kontinuität als objektiver Gerechtigkeit hält Bentham für ebenso unmöglich wie die Heilung geschehenen Unrechts. „–Die Geschichte, Familien, Erbschaften, Kontinuitäten. Und wir Juristen sind rückwirkend immer Historiker einer als gerecht gedachten Geschichte, einer Rechtlichkeit, die objektiv ist. […] Warum auf dem bestehen, was verloren ist, warum darauf, daß etwas geheilt wird? Es wird nichts geheilt.“151
Mit der Feststellung der Unmöglichkeit einer Heilung nimmt Bentham der juristischen Tätigkeit – auch vor dem Hintergrund seiner eigenen Erfahrungen – den großen ganzheitlichen Anspruch. In der Andeutung einer Kontinuität seit dem Nationalsozialismus, die er mit der Verwendung des NS-Propagandabegriffs unterstreicht, klingt Resignation an: „–Aber wissen Sie, sagte Bentham achselzuckend, am Ende wirkt der alte Grundsatz der Römer immer noch nach. Gutwillig ersessen, wie es bei ihnen heißt, und das in einem tausendjährigen Reich.“152 Zugleich entlarvt er den Anspruch der Wiedergutmachung durch seinen Verweis auf den Engel der Geschichte aus Walter Benjamins Geschichtsphilosophie als Hybris. „–Wenn es schon den Engel der Geschichte nicht gibt, nicht wahr, dann muß doch wenigstens etwas anderes zuverlässig sein.“153 Die Bezugnahme auf den Engel der Geschichte stützt Benthams Position der Unmöglichkeit einer Heilung. Walter Benjamin beschreibt in seiner Geschichtsphilosophie diesen Engel, der entsetzt – mit aufgerissenen Augen und offenem Mund – auf die Vergangenheit als eine Geschichte der Zerstörung blickt. „Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert.“154 Doch selbst der Engel kann die Trümmer nicht zusammenfügen, Wunden nicht heilen. „Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken, und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam
151 Ebd., S. 146. 152 Ebd., S. 177. 153 Ebd., S. 146. 154 Benjamin, Walter: Über den Begriff der Geschichte. In: Die Neue Rundschau. Jahrgang 1950. Hg. v. Gottfried Bermann Fischer. Frankfurt am Main: S. Fischer 1950, S. 560-570, hier S. 564.
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in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“155
Vor diesem Hintergrund erscheint der Gedanke, juristische Regelungen könnten Unrecht und Leiden durch eine Wiedergutmachung aufheben, anmaßend. Damit stellt Bentham in erster Linie den Bewältigungsanspruch der Bundesrepublik in Frage. „–[…] Als könnte Deutschland uns Juden den Beweis liefern, daß es doch Wahrheit und Gerechtigkeit gäbe, für uns, für die ganze Welt. Wenn man daran nicht mehr glaubt – und wie absurd das jetzt scheint! –, argwöhnt man, ein kleines Maß Auserwähltheit steckte doch darin, das Leid erst, dann das Wiedererrichten der Gerechtigkeit.“156
Eine Sehnsucht nach Heilung sieht Bentham bei den Opfern des NS-Regimes, in deren Ansprüchen auf Restitution er den Versuch vermutet, die Trauer über den Verlust durch die Hoffnung auf Rückgewinnung des Verlorenen zu verdrängen. Es wundert ihn, dass Miller das Haus zurückhaben will. „–[…] Diesen Ort, als wäre es ein noch unberührter Ort, der zu seiner Geschichte gehört. Als wäre das Alter und die Traurigkeit dorthin nicht vorgedrungen. Die Traurigkeit und das Entsetzen, daß es keinen Ort gibt, der unberührt geblieben ist, von der Wahrheit, der Kälte. Als gäbe es eine Geschichte, die sich doch zusammenfügen ließe, über all die Jahrzehnte hinweg.“157
An die Stelle der Heilung setzt Bentham die gesetzliche Entschädigung, „den Wert […], den Gegenwert dieses Hauses, eine Entschädigung in Geldwert.“158 Mit der Entschädigung plädiert er zugleich für eine Anerkennung von Leid, das nicht aufgehoben werden kann, das bleibt. Mit dem Fall Miller greift Hackers Roman explizit die Prozesse um die Seehofer Grundstücke nach der Wende auf: „–SeehoferGrundstücke, fragte Bentham, fiel dort nicht der Israelvergleich? Was Israel den Palästinensern antäte, das täten die zurückkehrenden Juden den ansässigen Deutschen an?“159 Der Israelvergleich, den Bentham im Zusammenhang mit der Aus-
155 Ebd. 156 Hacker: Die Habenichtse, S. 185. 157 Ebd., S. 146. 158 Ebd. 159 Ebd., S. 176, 177.
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einandersetzung um die Seehofer Grundstücke erwähnt, spricht mit größter Ignoranz den jüdischen Besitzern ihre Ansprüche auf verlorenes Eigentum ohne Berücksichtigung der historischen Fakten ab und setzt sie darüber hinaus ins Unrecht.160 Gut Seehof, 1872 durch die Brüder Albert und Max Sabersky erworben, wurde im Jahr 1933 parzelliert und zwischen 1934 und 1940 verkauft. Im Jahr 1991, nach der Wiedervereinigung, erhoben die Erben der Saberskys Anspruch auf die Grundstücke, die ihre Familie unter Zwang verkauft hatte, bevor sie in die USA emigriert war. Erst 2003 ordnete das Bundesverwaltungsgericht die Rückübertragung eines Grundstückes an, ein Urteil, das als Präzedenzfall gelten kann.161 Durch die Referenz auf diese Restitutionsfälle, die langwierigen Verfahren, die Ignoranz und Aggression von Teilen der Öffentlichkeit hebt der Roman die kontinuierliche Gegenwärtigkeit und Brisanz nationalsozialistischer Verbrechen hervor und betont die fortdauernde Hilflosigkeit der Opfer. In Hackers Roman beruft sich Krüger, der aktuelle Besitzer von Millers Haus in Treptow, auf den Vertrauensschutz des guten Glaubens, um seinen Anspruch auf das Haus geltend zu machen. Diesen vertritt er gegenüber Miller nach einem „hämisch[en]“ Empfang „durch Einschüchterung“, „rücksichtslos“ in einem „auf deutsch verfaßten und unverschämten Brief.“162 Hinter dem hehren Grundsatz des guten Glaubens kommen Achtlosigkeit und Gewalt zum Vorschein. In den Fall Miller ist ein Graf Helldorf verwickelt, der das Grundstück über einen Mittelsmann von Millers Großvater gekauft haben soll. Dabei geht aus Briefen des Großvaters hervor, dass der gezahlte Betrag weit unter dem im Vertrag angegebenen lag. Allerdings gelte Helldorf aufgrund seiner Beteiligung am 20. Juli als Widerstandskämpfer und daher als „unbedenklich“. Graf Helldorf, den Bentham als „unerfreuliche Person“ bezeichnet, verweist auf die historische Figur des Grafen Wolf-Heinrich von Helldorff, einen der frühen Nationalsozialisten, seit 1931 SA-Führer in Berlin, 1944 in Plötzensee hingerichtet nach einer Beteiligung am 20. Juli.163 In Benthams und Jakobs Gespräch geht es um Helldorfs korrupte Eingriffe in das Vermögen jüdischer Familien: Als Polizeipräsident hat er gegen hohe Summen Pässe vergeben, die die Ausreise ermöglichten. Der Hinweis auf die Figur des Grafen, eine der
160 Vgl. Emcke, Carolin: Opfer gegen Opfer. In: Der Spiegel. Nr. 50 vom 07.12.1998, S. 54-56. URL: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-8440083.html [01.05.2013]. 161 Vgl. BVerwG 8 C 10.03 vom 26.11.2003, URL: http://www.bverwg.de/entscheidungen/entscheidung. php?ent=261103U8C10.03.0 [28.04.2013]. 162 Hacker: Die Habenichtse, S. 176. 163 Ebd.; vgl. Harrison, Ted: „Alter Kämpfer“ im Widerstand. Graf Helldorff, die NSBewegung und die Opposition gegen Hitler. In: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 45 (1997), H. 3, S. 385-424.
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„widersprüchlichsten Gestalten des Dritten Reiches“,164 zwingt, historische Ereignisse wie den 20. Juli oder die Ermöglichung der Ausreise und persönliche Motivationen – hier Nützlichkeitserwägungen und Bereicherungen – differenziert zu betrachten. Bentham zeigt sich als jemand, der Jakobs distanzierter Abwicklung den Anspruch intensiver Auseinandersetzung entgegensetzt. Anstelle sofortiger Erledigung fordert Bentham Jakob auf, sich in Ruhe vorzubereiten: „–[…] halten Sie das Verfahren am Laufen. Bereiten Sie sich gründlich vor. Ist sowieso besser, lehrreich dazu.“165 Die Aufforderung zur gründlichen Vorbereitung, zum Lernen und zur Präzision erfordert die Wahrnehmung und Verarbeitung des Erfahrenen, bevor eine Antwort entwickelt werden kann. Bentham plädiert vor dem Hintergrund seiner beruflichen Erfahrungen gegen schnelle Machbarkeit, für ein SichAussetzen und -Einsetzen in Beharrlichkeit und Bescheidenheit: „–Ich würde […] sagen, es wurde kaum angefangen.“166 Indem er Jakobs Tätigkeit in einen privaten Zusammenhang stellt und ihr Gelingen zudem als ein angenehmes individuelles Weltverhältnis versteht, begrenzt Bentham juristische Erfolge auf dem Gebiet der Restitution auf ein absolutes Minimum. „–Es ist auch nett, er schaute Jakob an, daß Sie hier sind. Und sie verstehen sich so gut mit Alistair. Am Ende hebt es wirklich die Stimmung, wenn man wenigstens ein winziges Rädchen wieder zurückdreht, nicht wahr?“167 Jakob nimmt in den Gesprächen mit Bentham die Rolle des Schülers ein. „Gleich einem Schüler fand Jakob sich vor Bentham stehen. Er fühlte, wie er errötete.“168 Er fühlt sich „wie ein Kind, […] verlegen“, lässt sich verunsichern.169 Plötzlich verbringt er den größten Teil des Tages mit seiner Lektüre, Frank Bajohrs Parvenüs und Profiteure zur Korruption in der NS-Zeit und Saul Friedländers Nazi Germany and the Jews, erster Band eines zweibändigen Standardwerks zum Holocaust: „–Ich habe mich noch nie so sehr mit Deutschland beschäftigt.“170 Während Jakob seinen Berliner Bekannten Andras nie nach seiner jüdischen Herkunft und seiner Familiengeschichte gefragt hat, berührt ihn das Thema im Kontakt mit Bentham, sucht er einen neuen Zugang.171 Von seinem
164 Harrison: „Alter Kämpfer“ im Widerstand, S. 385. 165 Hacker: Die Habenichtse, S. 177. 166 Ebd., S. 185. 167 Ebd., S. 186. 168 Ebd., S. 120. 169 Ebd., S. 179. 170 Ebd.; Bajohr, Frank: Parvenüs und Profiteure. Korruption in der NS-Zeit. Frankfurt am Main: Fischer S. 2001; Friedländer, Saul: Nazi Germany and the Jews. The Years of Persecution 1933-1939. Band 1. New York: Harper Perenniel 1998. 171 Vgl. Hacker: Die Habenichtse, S. 182, 145.
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ehemaligen Arbeitsgebiet, dem Investitionsvorrang, entfernt er sich, lehnt den von Krüger geltend gemachten Anspruch im Fall Miller ab.172 Sein pragmatischer, auf Bewältigung zielender Umgang mit der Geschichte des nationalsozialistischen Deutschlands wird ihm im Kontakt mit Bentham fragwürdig. „[…] Schicksal, dachte Jakob, war eben das falsche Wort. Auch er hatte, wenn er von diesen Geschichten hörte, an Schicksal gedacht, an verhängte Grausamkeit, an Unausweichliches. […] Aber erst jetzt begann er, die Nazizeit als menschengemacht zu begreifen, als Politik, Handlung, Willen.“173
Jakob ist verunsichert, er beginnt zu verstehen, dass Unrecht und Leid nicht über die Opfer gekommen sind, ebenso wenig wie der Nationalsozialismus über Deutschland gekommen ist, sondern dass Menschen dieses Leid geschaffen haben, geschehen lassen haben, Verantwortung und Schuld tragen. Auf einer Dienstreise nach Berlin sind es Gedanken an Bentham, dessen Abwesenheit er diffus als Verlust empfindet, die das Gefühl der Trauer und der Unmöglichkeit, Leid und Verlust durch Restitution aufzuheben, für ihn spürbar werden lassen. „Der Steg dünstete den Geruch von warmem Holz und Sommer aus, plustrige Wolken glitten vorbei, und wie bekümmert über einen Verlust, dachte Jakob an Bentham. […] Rückerstattung war eine Farce, wo es letztlich nicht um Orte, sondern um verlorene Lebens- und Erinnerungszeit ging, um die Erinnerung, die einem vorenthalten oder genommen war.“174
Die Begegnung mit Bentham konfrontiert Jakob mit seinem romantischen und erotischen Interesse an Männern. Durch sie empfindet Jakob das, was er zuvor auf Distanz gehalten hat, was nebenherlief. So wird bereits über Jakob und seinen Freund Hans gesagt, dass sie „fast als Paar“ galten.175 Die Dreierkonstellation Jakob, Hans, Isabelle in Berlin wird in London abgelöst durch Jakob, Alistair und Isabelle. Beiläufig wird erzählt, dass Alistair und Jakob sich geküsst haben.176 Auf Bentham reagiert Jakob schon bei ihrer ersten Begegnung sehr emotional. „Eine heftige, unruhige Bewegung empfand Jakob und spürte sein Herz klopfen.“177 Ihm gegenüber verliert Jakob seine distanzierte Position, er steht vor ihm „ratlos […],
172 Vgl. ebd., S. 177. 173 Ebd., S. 182. 174 Ebd., S. 187. 175 Ebd., S. 21. 176 Vgl. ebd., S. 261. 177 Ebd., S. 89.
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balancierend, unsicher“.178 Durch ihn lässt er sich faszinieren, sucht seine Nähe, bleibt abends lange in der Kanzlei, bis seine Kollegen oder sein Chef selbst „ihn nach Hause schickten.“179 Die gemeinsamen Spaziergänge, zu denen Bentham ihn bei schönem Wetter auffordert, erwartet Jakob ungeduldig, sie machen ihn glücklich, wirken idyllisch und harmonisch. Bentham und seine Kanzlei repräsentieren das Gegenteil von Jakobs Zuhause, das nach dem Tod der Mutter unwohnlich war und „das sie bewohnten wie Durchreisende“.180 Sein Arbeitszimmer bei Bentham liebt Jakob, die Kanzlei ist ein Ort der Zuwendung und Behaglichkeit, Benthams Berührung empfindet er als „warm und tröstlich“.181 In Jakobs Gefühl der Kränkung nach einer zufälligen Begegnung in der Stadt – „es war augenfällig, daß Bentham nur sehen würde, auf wen er wartete, und Jakob […] merkte, daß er gekränkt war. Es gab jemanden, der in Benthams Leben die entscheidende Rolle spielte“ – lässt sich sein Wunsch erkennen, in Benthams Leben selbst eine exklusive Position einzunehmen.182 Auf sich bezogen spricht er nicht von Liebe, aber wenn er über seinen Kollegen Alistair feststellt, er sei „arglos und dabei auf sanfte Weise boshaft, als wollte er seine eigene Liebe zu Bentham ausschöpfen“, klingt auch Jakobs tiefe Zuneigung an, die sich zudem in der Aufregung seines Herzens zeigt: „Sein Herz setzte vor Freude einen Schlag aus, im nächsten Augenblick krampfte es sich aber zusammen“.183 Jakobs Verunsicherung und seine Involviertheit nehmen zu, als er auf einem seiner Spaziergänge durch den Londoner Park auf unbekanntes Terrain gerät. An der Badestelle Kenwood Ladies Point beobachtet er als Voyeur aus dem Gebüsch heraus das Liebesspiel eines jungen und eines älteren Mannes, glaubt in dem älteren Mann Bentham zu erkennen, ohne entscheiden zu können, ob er Zeuge einer fröhlichen, ausgelassenen Szene wird oder einer Demütigung des Älteren. Er betritt die Szenerie, indem er sich dem Gebot „No men permitted beyond this point“ widersetzt; so wird eine Grenze inszeniert, deren Überschreitung seinen Entwurf autonomer Identität ins Wanken bringt.184 Das folgende Geschehen spielt sich in einem unbestimmten Zwischen ab, „die Grenze zwischen Wasser und Luft zerrann“, Jakob bezeichnet das Gesehene später als ein „Geheimnis“, bei dem es nicht darauf ankommt, ob es „der Wahrheit entsprach,
178 Ebd., S. 175. 179 Ebd., S. 123. 180 Ebd., S. 16. 181 Ebd., S. 120; vgl. S. 105. 182 Ebd., S. 183. 183 Ebd., S. 182. 184 Ebd., S. 205.
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der Wirklichkeit entsprach.“185 Mit Tränen in den Augen hat Jakob „das Gefühl zu schwanken, den Weg nach Hause nicht zu finden“, er stolpert wiederholt. Mit dieser Begegnung erfährt Jakob sich von seinen Gefühlen für Bentham aus der Bahn geworfen, er ist „[a]ufgelöst“, „[e]rregt“,186 fühlt sich unmittelbar verbunden mit der Szene, die er beobachtet: Seine Kopfschmerzen sind „ein Echo jeder Regung der beiden, die versunken waren in ihre Berührung.“187 Die Beobachtung lässt ihn „Zuneigung, sogar Liebe [fühlen, d. V.] für den Jungen, für Isabelle, Alistair, Bentham“.188 Zugleich fühlt er sich „ausgeschlossen“, überflüssig: „Er hatte sich selbst als ein Geschenk gedacht, jetzt stellte er sich den eigenen Körper vor, der im Wasser nicht posieren konnte, ohne lächerlich zu sein. Er wurde nicht gebraucht, Bentham war auf seine Umarmung nicht angewiesen.“189 Seine Hände empfindet er als „nutzlos und kalt.“190 Die Begegnung Jakobs mit einem jungen Mann, eine Konstellation, die der von Jakob beobachteten Szene am Badeteich ähnelt, ihn aber in die Situation des passiv Beteiligten versetzt, lässt ihn seine Sehnsucht spüren: „Als Jakob später den Fußgängersteg von Waterloo Bridge überquerte […], kam zielstrebig ein jüngerer Mann auf ihn zu, durchschnitt das Gedränge in seiner Aufmachung, ein glitzerndes, enges Jäckchen, darüber ein dicht gelockter, schöner Kopf, blieb vor Jakob stehen und lächelte ihn an, streckte sogar die Hand aus, berührte, als Jakob stumm verneinte, seine Schulter für einen winzigen Moment und ging weiter. Ein verwirrendes, hartnäckiges Bedauern blieb zurück.“191
In einem späteren Gespräch mit Bentham wird Jakob deutlich, dass sein Gefühl des Ausgeschlossenseins mit seiner Zuschauerhaltung zusammenhängt, „[d]aß er jemand war, der weder nahm noch gab, seine Anteilnahme echt, die Teilnahme aber bloß vorgetäuscht war.“ Er ist „traurig“ und spürt eine Bedrohung, weiß, „daß er später erschrecken würde.“192 Erstmals beginnt er, seine Haltung kritisch zu sehen, fühlt sich herausgefordert durch die Intensität der Begegnung, die ihn in seinem Innersten berührt. Er bemerkt,
185 Ebd., S. 208. 186 Ebd., S. 207. 187 Ebd., S. 206, 207. 188 Ebd., S. 206. 189 Ebd., S. 206, 208. 190 Ebd., S. 206. 191 Ebd., S. 183, 184. 192 Ebd., S. 258.
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„daß er anfing zu zittern, alle Kräfte anspannte, ihm war, als würde er wie ein Handschuh von innen nach außen gestülpt. Aber wie geht es weiter, wie werde ich es ertragen, dachte er, und wie leicht es mit Isabelle war, wo die vorgezeichneten Schritte das Geständnis von Liebe ersetzt hatten.“193
In der Begegnung mit Bentham gibt Jakob seine sichere, abwehrende Position ein Stück weit auf, zum ersten Mal erfährt er sich als berührt und zugleich ausgeschlossen, stellt er die Frage nach dem Umgang mit dem, was ihm widerfährt. In dem Maße, in dem er die Berührung zulässt, zumindest in Ansätzen etwas mit sich geschehen lässt, rückt sein Projekt Isabelle an den Rand. Schon an Isabelles Ankunftstag in London akzeptiert er nur widerwillig seinen freien Nachmittag. Man „hatte ihn weggeschickt, obwohl er sich verwahrte, denn am Nachmittag sollte Bentham in die Kanzlei kommen.“194 Der Vergleich des Umzugs seiner Frau nach London mit dem Wochenendbesuch einer Cousine bringt Jakobs Desinteresse an Isabelle deutlich zum Ausdruck: „[W]ie eine kleine Cousine, die man für ein Wochenende eingeladen hatte, aus einer Idee heraus, die schon vergessen war, um gleichgültige Verwandte zu befrieden oder weil man es sich nett vorgestellt hatte, einer so jungen Frau die Stadt zu zeigen, und dann drängte sich eine kleine erotische Verwirrung störend in die Unbefangenheit.“195
Zwei Wochen nach ihrer Ankunft kümmert er sich kaum noch um sie, spricht nicht mit ihr, vergisst eine Verabredung, es kümmert ihn nicht, ob sie sich langweilt, ob sie einsam ist.196 Von dem Kontakt zu Bentham schließt er Isabelle von Anfang an aus.197 Über seine Arbeit spricht er nicht mit ihr, sondern mit Bentham und dem Berliner Freund Hans.198 Seine Vorfreude bei der Rückkehr von einer dienstlichen Reise nach London gilt allein Bentham. In seiner Freizeit ist Isabelle seine Begleiterin, nicht aber die, die ihn beschäftigt. So geht Jakob mit Isabelle in ein Konzert in der Conway Hall, das Bentham ihm empfohlen hat, und ist dort „mißvergnügt, undankbar, weil seine heimliche und eigentlich unberechtigte Hoffnung, Bentham zu sehen, sich nicht erfüllte.“199 Jakobs Kollege Alistair konfrontiert Jakob mit
193 Ebd., S. 260. 194 Ebd., S. 112. 195 Ebd., S. 119, 120. 196 Vgl. ebd., S. 141-143, 147, 163. 197 Vgl. ebd., S. 91. 198 Vgl. ebd., S. 178, 179. 199 Ebd., S. 202.
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seinem Desinteresse an Isabelle, macht ihm nach dem Überfall seine mangelnden Ambitionen, Isabelle zu verteidigen, zum Vorwurf: „–Bist Du bescheuert, die machen sich an deine Frau ran, und du willst sie nicht einmal ordentlich anzeigen?“200 Später küsst Alistair Isabelle vor Jakobs Augen, provozierend auf dessen mangelndes Interesse hinweisend: „–Du erlaubst schon, dachte ich mir.“201 Jakob formuliert sein Verhalten als Versäumnis – „er wollte gutmachen, was er versäumt hatte“ –, aber als Bentham ihn zu einer Dienstreise nach Berlin einlädt, schleicht er sich in London „wie ein Dieb“ aus dem Haus.202 Er geht, obwohl er merkt, dass seine Abreise Isabelle Sorgen macht: „Als er ihr sagte, er wolle morgen mit Bentham nach Berlin fliegen, schien sie zu erschrecken. […] Ihr Gesicht sah klein aus.“203 Dass Bentham auch für Isabelle einen Flug reserviert hat, erzählt er ihr nicht einmal und schämt sich dessen.204 Jakob lässt nicht nur Isabelle, sondern auch seinen Studienfreund Hans ein Stück weit im Stich: „Zweimal rief Hans im Büro an, sie sprachen darüber, im Herbst gemeinsam wandern zu gehen; Jakob dachte, daß sie es nicht tun würden. –Du fehlst mir, sagte Hans. Allmählich beneide ich dich sehr, weil du verheiratet bist. Gerade ausgestreckt, die Hände hinterm Kopf verschränkt, lag Jakob Nacht für Nacht im Bett und hoffte, daß Isabelle noch nicht schlafen kommen würde.“205
Mit diesen Rückzügen, die der Text nebeneinanderstellt, gerät Jakob auch zu seinem eigenen Lebensentwurf in Distanz. Jakobs Begegnung mit Bentham verunsichert ihn in seinem Lebenskonzept, in seiner beruflichen Tätigkeit und seiner Sexualität. Obwohl Jakob von Beginn des Romans an in Spannungsfeldern situiert ist, werden diese Spannungen für ihn erst zum Thema, als er seine Zuneigung zu Bentham fühlt. Durchgängig ist das, was Jakob Neues zu erkennen spürt, mit seiner Zuneigung zu seinem Chef verknüpft. In der Konfrontation mit Bentham ahnt er, dass sein unabhängiger Lebensentwurf prekär ist, er erahnt die Unverfügbarkeit dessen, was er aus autonomer Distanz heraus zu beherrschen sucht, und beginnt, sich mit dem zu konfrontieren, was er bisher abgewehrt hat, mit Leid und Schuld, Berührung und Sehnsucht, Vergänglichkeit und Verlust, mit dem Unbeherrschbaren und Disparaten. In diese Ansätze
200 Ebd., S. 170. 201 Ebd., S. 281. 202 Ebd., S. 264, 185. 203 Ebd., S. 285. 204 Vgl. ebd., S. 285. 205 Ebd., S. 262.
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der Einbindung bezieht Jakob gedanklich die Menschen ein, mit denen er sein Leben teilt. „[P]lötzlich erschien ihm die Uhr, die er unter seinem Jackettärmel hervorschüttelte, wie eine Spieluhr, auf der winzige Figuren sich im Kreis drehten […], er selbst, Isabelle, Bentham, kreisend auf ihrer Bahn, und mitten unter ihnen der Tod mit einer Sense.“206
Die eigene Endlichkeit und die derer, die ihn begleiten, wird Jakob im Bild der Spieluhr bewusst. Isoliert bewegen sich die Figuren durch ihr Leben. Trotz ihrer verletzlichen Winzigkeit und der Gegenwart des Todes haftet dem Bild der Spieluhr, auf der alle sich bewegen, Verbundenheit und Wärme an. Ein Gespür für die Kostbarkeit der Zeit, für „Momente der Schönheit“, wie Bentham formuliert, im unerbittlichen Vergehen der Lebenszeit, kommt in Jakobs zärtlicher Geste zum Ausdruck: „Jakob strich mit dem Finger über seine Uhr, die halb elf anzeigte, strich über das Glas“.207 Die Kostbarkeit des Augenblicks vor der Vergänglichkeit empfindet Jakob auch angesichts der Gemälde des Rokokomalers Antoine Watteau. „Er dachte an die Gemälde Watteaus, die er mit Isabelle angeschaut hatte, Gemälde, auf denen der Tod nicht sichtbar, aber doch anwesend war, in den grazilen Bewegungen, die die Zeit festhielten für einen unmeßbaren Augenblick, der Vergänglichkeit und Verlust in sich barg.“208
Mit diesen Gefühlen, die seine Distanz für Momente aufheben, verbindet sich ein Wunsch nach Veränderung und Neubeginn. „Er wünschte sich, ins Wasser zu springen, kopfüber und mit geschlossenen Augen, in eine andere Haut zu schlüpfen, klarer und frischer und so lebendig wieder aufzutauchen, wie er niemals gewesen war.“209 In seinem Bemühen, das, was er diffus spürt, deutlicher wahrzunehmen, greift er zum Bild der „Umrißlinie“, die er als komplex zusammengesetztes, relationales Gefüge skizziert:
206 Ebd., S. 217. 207 Ebd. 208 Ebd., S. 218. 209 Ebd., S. 187, 188.
174 I Z USCHAUER DES L EBENS „Sein Elternhaus bedeutete ihm wenig, die Erinnerung an seine Mutter viel, und beides zusammen ergab vielleicht eine Umrißlinie, die er nur ausfüllen mußte. Den Teil einer Umrißlinie, ergänzte er bei sich, denn Isabelle und Bentham gehörten auch dazu.“210
Umrisslinien, die Figuren umfangen und der gedanklich vollzogenen „Grenzziehung zwischen Gegenstand und Umgrund aus Betrachtersicht“ dienen, machen die Figur als Innenseite einer geschlossenen Linie wahrnehmbar.211 Wenn Jakob von verschiedenen Teilen einer Umrisslinie spricht, wird eine künstlerische Praxis aufgerufen, die die klare Abgrenzung der Figur vom Umgrund, ihre eindeutige Eingrenzung auflöst, Verfahren, wie sie sich seit dem Beginn der Moderne finden. Eine solche Umrisslinie ist keine scharfe Kontur, sondern Abgrenzung und Verbindung zugleich. In Jakobs Idee einer mehrteiligen Umrisslinie lässt sich ein Subjektivitätsentwurf erkennen, in den das Eingebundensein in eine Lebenswelt sowie das Uneindeutige und Disparate einfließen. Mit der Idee der Umrisslinie öffnet sich Jakobs Vorstellung einer unabhängigen, gänzlich bestimmbaren Identität hin zu einem Entwurf heteronom geprägter, responsiver, ungefährer Subjektivität, die nicht von einem Zentrum, sondern von der Peripherie her zu denken ist, ausgehend von den Punkten, an denen sie das Andere berührt, von dem Anderen berührt wird und sich dazu verhält. Damit wird aber seine Frage nach einem Mittelpunkt, einem Zentrum, das auch im Bild der Spieluhr sichtbar wurde, für ihn nicht obsolet. Einerseits erscheint ihm die Vorstellung eines einzigen Punktes, der den Kern, das Wahre ausmachen soll, sonderbar. „[I]mmer wollte man hin zum Mittelpunkt, doch vielleicht war das die falsche Richtung. Er lachte. Dieser winzige Punkt, nicht einmal stecknadelkopfgroß, um den erbittert stritt, was Mittelpunkt sein wollte. Isabelle sah ihn fragend an. –Ich dachte, was für eine bizarre Idee das sei: ein Mittelpunkt, wenn der mittelste Mittelpunkt doch keine Ausdehnung haben darf. –Wolltest du oder sollte ich der Mittelpunkt sein? fragte Isabelle. –Eben nicht, sagte Jakob, weder du noch ich, weder Berlin noch London.“212
Andererseits denkt er, dass der Verzicht auf einen Mittelpunkt mit dem Verlust der Umlaufbahn einhergehe, die einen Punkt brauche, auf den sie sich beziehe. „Und andererseits, dachte er, als er schon im Bett lag, konnte es ohne Mittelpunkt
210 Ebd. 211 Mayr, Monika: Ut pictura descriptio?: Poetik und Praxis künstlerischer Beschreibung bei Flaubert, Proust, Belyi, Simon. Tübingen: Narr 2001, S. 60. 212 Hacker: Die Habenichtse, S. 265.
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keine Umlaufbahn geben.“213 In diesen Bildern wägt Jakob ab, ob sich Subjektivität nicht als Kern, als Identität, sondern als Prozessuales, Ungefähres denken lässt, das dennoch auf die eigene Lebenswelt bezogen bleibt. Die Frage nach dem Spannungsverhältnis von Mittelpunkt und Umrisslinie bleibt offen. Im Gespräch mit Andras wird deutlich, dass die Veränderung und Suche, die Jakob in sich wahrnimmt, ihn sowohl beunruhigen als auch faszinieren. „–Ich frage mich, ob es klug war, nach London zu gehen, sagte er. Es kommt mir vor, als würde mir dort etwas entgleiten, ich weiß nur nicht, was. […] Heute Nachmittag dachte ich, daß es eine Art Umrißlinie gibt, um das eigene Leben herum, und daß das genügt – aber ich weiß nicht, was es bedeutet.“214
Es deutet sich eine Veränderung des Verhältnisses zwischen ihm und seiner Lebenswelt an. Die Heteronomieerfahrungen und -empfindungen der Verunsicherung und des Verlusts, der Berührung und Sehnsucht, der Vergänglichkeit sowie des Ausgeschlossenseins, die nicht in sein autonomes Distanzkonzept passen, verweisen ihn auf seine heteronome Verwicklung, sein Erleiden und seine Bedürftigkeit, auch auf seine passive Distanzposition am Rande und den Rückzug von seinem Projekt Isabelle. Er ahnt, dass sein autonomer Identitätsentwurf vorgetäuscht ist und stellt mit der Eindeutigkeit dieses Entwurfs seine Distanz in Frage. Er beginnt, seine Einbindung anzunehmen, sich zu fragen, wie er das, was ihm widerfährt, aufnehmen kann. Isabelles Berührung Isabelles Londoner Alltag wird trotz eines abwechslungsreichen Programms – Jakobs Kollegen Anthony und Alistair kurbeln „etwas an, London, das Leben im allgemeinen, all das, was aufregend war“ – durch eine diffuse Erwartung bestimmt.215 Diese kommt in ihrer Deutung der Watteau-Gemälde zum Ausdruck: Während Jakob die Gemälde als Ausdruck des kostbaren Augenblicks im Angesicht der Vergänglichkeit deutet, erkennt Isabelle in ihnen eine heitere Erwartung des Ungewissen: „[A]m besten hatten Isabelle die Watteau-Bilder in der WallaceCollection gefallen, die Feste und Musikanten, auf eine schwer faßbare Weise heiter, und wie die Figuren dasaßen in Erwartung, warteten, ohne zu wissen, worauf.“ Isabelle aber fühlt sich zunehmend lustlos und unausgefüllt, „jeder Wunsch schien
213 Ebd. 214 Ebd., S. 190. 215 Ebd., S. 167.
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in Erfüllung zu gehen, und doch fehlte etwas.“216 Wie ein „gaffendes Kind“ streunt sie unbeteiligt und zugleich neugierig suchend durch die Stadt.217 Ihr Gefühl der Leere steigert sich zum Überdruss. „[E]in weiteres Abendessen, das ihr ebenso schal wie tröstlich schien, ein leerer Abend, ohne Fernsehen, weil sie beide keine Lust gehabt hatten, in London vor dem Fernseher zu sitzen – so, als wären sie Besucher, denen die Zeit kostbar war. Die Zeit war aber nicht kostbar, hier ebenso wenig wie in Berlin.“218
Sie hat den Eindruck, „[a]ls sollte nie etwas passieren.“219 In diesem Zusammenhang ist auffällig, dass Isabelle Schrecken und Schmerz fast euphorisch aufnimmt, so bei ihrer Landung in London, die problematisch verläuft: „[I]n der Angst war etwas Jähes, Aufpeitschendes. […] die Stewardeß gestikulierte zu Isabelle, die noch immer aufgereckt dasaß, endlich den Kopf gehorsam senkte, mit einem Triumphgefühl, das die Angst übertrumpfte. […] Sie würden […] über die Rutsche evakuiert. […], sie glitt hinunter, genoß es fast, als wäre das nun tatsächlich ihre Ankunft in London.“220
Euphorie angesichts einer Gefahr spürt Isabelle auch, nachdem sie mit Jakob und seinen Kollegen in London überfallen worden ist. „Sie tanzte, Isabelle tanzte. […] war betrunken und aufgekratzt, und als Alistair sie fragte, ob sie keine Angst gehabt habe, verneinte sie.“221 Es ist der Bruch im Alltäglichen, der Moment des Getroffenseins, der Isabelle fasziniert. In diesen Grenzsituationen vermutet sie etwas, das ihrer Orientierungslosigkeit ein Ziel geben könnte. Dem Mann, der sie überfällt, sieht sie in die Augen, „suchte etwas, dachte an die letzten Tage, die Ziellosigkeit, suchte, ob bei diesem Mann etwas zu finden war.“222 Auch eine heftige Schmerzerfahrung begrüßt sie, die in einem Moment der Intensität zusammenführt, was ihr entgleitet, ihr ein Gefühl der Umgrenzung und Abgrenzung gibt:
216 Ebd., S. 163. 217 Ebd., S. 174. 218 Ebd., S. 267. 219 Ebd., S. 149. 220 Ebd., S. 110, 111. 221 Ebd., S. 171. 222 Ebd., S. 169.
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„[E]in stechender Schmerz, der sich zwischen den Rippen hindurch bis in die Lunge hinein fortsetzte, nahm ihr fast den Atem, er packte sie, raffte beinahe wohltuend zusammen, was die letzten Monate verstreut gewesen war, vage Schrecken und Hoffnungen und Enttäuschungen, die in einem weitmaschigen Netz hängenblieben. […] Der Schmerz ebbte ab und wurde diffus, sosehr sie ihn festzuhalten versuchte.“223
Sie sucht, „etwas, das die gelassene Aneinanderreihung der Dinge“ unterbricht, den „Riß, eine Verschiebung, die Unruhe und Neugierde“ weckt.224 Doch selbst solche Ereignisse, Einbrüche des Realen, die in ihrer rohen, singulären Präsenz noch nicht in eine Ordnung zu überführen, in eine Geschichte zu verwandeln sind,225 scheinen keine längerfristigen Spuren zu hinterlassen. Bereits zwei Stunden nach dem Überfall stellt Isabelle fest: „–Es ist ja schon nicht mehr real […], und am nächsten Morgen würde nichts mehr davon wirklich stimmen, weil solche Sachen bereits einen Tag später zur Anekdote wurden.“226 In eine Form gebracht und gedeutet, rückt die Erfahrung Isabelle fern, sie vermag sie nicht mehr zu spüren, selbst dann nicht, wenn sie – wie nach dem Überfall – mit körperlicher Sehnsucht nach Spuren des Ereignisses sucht. „Auch das, was einem selber zustieß, löste sich auf. Hier war nur ein heruntergekommenes Viertel, das abgerissen und wieder aufgebaut wurde, nichts weiter. Sie lief durch die kleinen Sträßchen, nicht bereit, sich abzufinden damit, daß nichts geschah, nichts geschehen war, es war sommerlich warm, sie spürte unter dem Rock ihre Schenkel, an den Füßen den Staub.“227
Intensives Erleben und Zuwendung sind für Isabelle, so deutet sich an, mit der eigenen Auslieferung verbunden. In ihrer Beziehung ist Jakob initiativ und bestimmend, zugleich der, der ihre Nacktheit vor den Blicken der Anderen schützt: „Er bat sie, sich auszuziehen, die Vorhänge waren nicht zugezogen, er stellte sich vor sie, in seinem Anzug, dann führte er sie an der Hand ins Schlafzimmer hinauf.“228 Deutlicher als im Zusammensein mit ihm wird Isabelles diffuser Wunsch
223 Ebd., S. 226, 227. 224 Ebd., S. 170, 171. 225 Vgl. Evans, Dylan: Art. Real / Das Reale. In: Ders.: Wörterbuch der Lacanschen Psychoanalyse. Aus dem Engl. v. Gabriella Burkhart. Wien: Turia + Kant 2002, S. 250253. 226 Hacker: Die Habenichtse, S. 171. 227 Ebd., S. 172. 228 Ebd., S. 163, 164.
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nach Auslieferung und Grenzüberschreitung im Zusammenhang mit den Photographien, die ihre Mitbewohnerin Alexa von ihr gemacht hat. „–Komm schon, nur ein paar schnelle Fotos, glaub mir, es wird grandios aussehen. Isabelles Kinderkörper, abgeschnitten oberhalb des Mundes, die kleinen Brüste, der leicht hervorstehende Bauch und die kräftigen Mädchenbeine. Alexa hatte sie so oft fotografiert, daß sie, obwohl sie es obszön fand, die rote Frottee-Unterwäsche schließlich herunterzog, bis unter ihre Scham, die nur von einem weichen, unsichtbaren Flaum bedeckt war.“229
Isabelle bewahrt die Bilder auf, die doppelte Grenzüberschreitung – der Eindruck des Kindlichen und ihr gebrochener Widerstand – erregt sie. Trotz ihrer Erregung wird der Aspekt der Überwältigung deutlich hervorgehoben, wenn Andras die Bilder als „Kinderporno“ bezeichnet.230 Dieser Aspekt ist allerdings für Isabelle ebenso wenig emotional zugänglich wie die Kindheits- und Jugenderfahrungen der Achtlosigkeit. Andras nutzt das Bild eines Kokons, in dem Isabelle stecke und den zu zerreißen nicht gelinge, ein Bild, das sich schon mit ihren „betrübliche[n]“ Kindheitserfahrungen verknüpft.231 Der Roman allerdings gibt den Erfahrungen der Achtlosigkeit zunehmend Raum. Alexa, die Photographin der Nacktaufnahmen und einzige Figur, auf die bezogen aus Isabelles Perspektive das Wort „verliebt“ verwendet wird, interessiert sich weder für Isabelles Gefühle noch für ihre Heiratspläne, ist keine Ansprechpartnerin für ihre Belange.232 Andras, der Isabelle heimlich liebt, legt sich Rechenschaft darüber ab, dass er sie auf ihre kindliche Rolle festgelegt habe, auf ihre „Schulranzenstimme“.233 „Wie er daran festhielt, daß Isabelle blieb, was er liebte, unversehrt, durchsichtig, ohne besondere Wünsche, ohne etwas, das befremdete, abstieß, ohne etwas, das weiterführte, aus der Gegenwart heraus in das Wirrwarr von Hoffnung oder Begehren oder Ehrgeiz.“234
Jakob, der Isabelle unbedingt heiraten will, wendet sich schnell wieder von ihr ab. Das Begehren Jakobs und Alistairs, das sie in einer erotischen Szene zu dritt spürt und das sie erregt, stellt sich als ein Begehren heraus, das sich nicht in erster Linie
229 Ebd., S. 56. 230 Ebd., S. 108. 231 Ebd., S. 45. 232 Ebd., S. 57. 233 Ebd., S. 296; vgl. S. 40. 234 Ebd., S. 199.
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auf sie richtet.235 Aus Jakobs Perspektive heißt es: „Aus Feigheit hatte er, als Alistair vor Isabelle kniete, den Kopf zwischen ihren Schenkeln, ihm signalisiert zu gehen, sie hatten sich an der Tür mit einem Kuß verabschiedet, Alistair hatte beruhigend und zärtlich Jakobs Haar gestreichelt.“236 Isabelle ist beschämt, gedemütigt, fühlt sich machtlos gegen diese Gefühle.237 Sie empfindet sich als „eine alte Frau“, spürt ihren Körper, „der nicht mehr Lust, sondern Mitleid hervorrief.“238 Am nächsten Morgen stellt sie sich zwar schlafend, um Jakob glauben zu machen, „es wäre nichts geschehen“, und blendet selbst diese Erfahrungen aus, die Formulierung einer „Schlinge, die sie selbst sich um den Hals legte“, aber macht ihre zunehmende Verstrickung, ihre Verletztheit und Bedürftigkeit deutlich, ihr Konkon wird rissig.239 Ihre distante, ziellos gleitende Wahrnehmung ihrer neuen Umgebung fokussiert sich, als Jim, der übergangsweise in die Wohnung eines Bekannten in Jakobs und Isabelles Nachbarschaft zieht, ihre Aufmerksamkeit weckt – eine Faszination, die mit ihren Erfahrungen der Achtlosigkeit und deren Ausblendung zusammenhängt. In Jim glaubt Isabelle jemanden zu sehen, der zupackend ist, dem sie sich in totaler Passivität ausliefern kann und der sie sich selbst intensiv spüren lässt. Sie überlässt sich der Intensität einer Anziehungskraft, die durch Angst und Gewalt geprägt ist. Von ihrer ersten Begegnung an bestimmt Jim die Form des Kontakts, aus Isabelles Perspektive deutet sich eine Überwältigung an: „Er hatte sich, ohne zu fragen, zu ihr gesetzt und gefragt, wie sie heiße. […] Ohne zu fragen, wohin sie ginge, lief er neben ihr her, nahm sogar ihren Arm“.240 Jim rückt Isabelle nah, verhält sich in ihren Augen distanz- und respektlos. „Die Art, wie er sie ausfragte, war beinahe rüde. Er ließ sie aus der Flasche trinken, trank selbst. Dicht nebeneinander saßen sie, sein Gesicht war ihr zu nahe“.241 In seiner Bestimmtheit gewährt er ihr keinen Gestaltungsraum. Von seiner offensiven männlichen Körperlichkeit fühlt sie sich angezogen: „[D]a war er, in einem engen T-Shirt, unter dem sie seinen kräftigen Oberkörper sah, wie sich die Muskeln abzeichneten.“242 Seine gewalttätigen körperlichen Annäherungen lässt sie geschehen, sucht sie.243
235 Vgl. ebd., S. 233, 234. 236 Ebd., S. 261. 237 Vgl. ebd., S. 234, 235. 238 Ebd., S. 234. 239 Ebd., S. 235. 240 Ebd., S. 164, 165. 241 Ebd., S. 165. 242 Ebd., S. 173. 243 Vgl. ebd., S. 271.
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„Einen Moment fürchtete sie, er würde ihr befehlen, sich auszuziehen. Es war erregend, und sie hatte Angst.“244 Die Ambivalenz von Erregung und Angst, Attraktion und Gefahr prägt Isabelles Beziehung zu Jim: „[…] wieder drehte er sich bloß um, rief ihr über die Schulter etwas zu, –see you, ein Versprechen, eine Drohung, bevor er mit schnellen Schritten davonging.“245 Isabelle hat Jim nichts entgegenzusetzen, sie kann sich nicht wehren, ist „ohne Erstaunen und ohne Wut“, „zu müde“ und „ratlos, […], ihr schien, als hätte sie kein eigenes Gewicht“.246 Ihr Gefühl einer ausweglosen Fremdbestimmung wird mit Verweis auf die Kinematographie formuliert, als nähmen ihr fertige Bilder jegliche Möglichkeit eines eigenen Entwurfs. „Isabelle trat in den Schatten einer Platane und wieder heraus, als wären ihre eigenen Bewegungen ein Teil des Spiels von Licht und Schatten auf dem Asphalt, das mit jedem Windstoß neue Muster entstehen, alte vergehen ließ. Inzwischen hatte Jim sich ganz zu ihr gedreht, stand breitbeinig da, sagte grinsend etwas zu den beiden Bauarbeitern, die auflachten; wie in einer vorab gedrehten Szene lief sie weiter, wußte, sie würde gehorchen, sie würde sich umarmen und auf den Mund küssen lassen. Ihr Rock war zu kurz, der Wind fuhr darunter, hob ihn hoch, wieder lachten die Männer, der kleinere bückte sich, den Kopf schief gelegt, schielte unter den Rock, und ihr war, als würden seine Hände sich an ihr zu schaffen machen.“247
Im Kontakt mit Jim fühlt sie ihr Ausgesetztsein. Die Begegnung verweist sie auch auf ihre Bedürftigkeit, wenn Jim ihr Begehren immer wieder zurückweist. Er kommt und geht nach eigenem Belieben, ruft sie zu sich und weist sie zurück. Sie lässt sich von ihm abfangen, an der Hand durch die Stadt führen, läuft stundenlang, durstig, stolpernd, orientierungslos, bis er plötzlich davongeht. In einem Traum kommt das Gefühl ihrer entwürdigenden Auslieferung zum Ausdruck: „[S]ie fühlte sich billig, sie wußte, daß sie ihm nachlief, würdelos, aber sie sehnte sich so sehr nach ihm, […], sie wußte, daß sie aufwachen und nackt sein würde, in einem Zimmer, das hell beleuchtet war, sie bedeckte mit den Händen ihre Scham.“248
244 Ebd., S. 165. 245 Ebd., S. 173. 246 Ebd., S. 267, 266. 247 Ebd., S. 270. 248 Ebd., S. 268.
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Isabelle liefert sich, unfähig zur Selbstsorge, einem Mann aus, den ihre naive Teilnahmslosigkeit aggressiv macht. Auf Jim wirkt Isabelle mit ihrem „hübschen, unschuldigen Gesicht“ unverletzlich, „man denkt immer, dir ist nichts zugestoßen, dir wird nichts zustoßen.“249 Er sieht sie „zufrieden mit sich selbst und mit ihrem Tag, der sorglos vor ihr lag“ und erkennt in ihr seine Freundin Mae als Unversehrte, was ihm „einen Stich“ gibt: „–Wie hübsch du bist. Du siehst ihr ähnlich. Nur sieht man in deinem Gesicht nichts, alles glatt und fein.“250 Er empfindet sie als „ein schwarzes Loch, man kann alles in dich reinschütten, und es verschwindet spurlos.“251 In ihrer Art, sich den Menschen auszusetzen, vermutet er eine bewusste Provokation. „Wippend, wie mit weichen Knien ging sie, vielleicht war es Absicht, vielleicht spürte sie sehr wohl, daß da hinter ihr ein Mann herging, sich aufgeilte an ihrem kleinen Po, hübsch rund und sexy.“252 Provoziert durch den Eindruck teilnahmsloser Unberührtheit will er Isabelles Teilnahme erzwingen, sie spüren lassen, dass sie involviert ist, dass sie verletzlich, verantwortlich und schuldig ist. Sein Ziel, das er explizit ausspricht, ist es, ihr eine Lehre zu erteilen: „–Ich werde es dir beibringen, du wirst sehen, ich bringe dir bei, wie man etwas nicht vergißt.“253 Er zwingt sie, eine gebückte Haltung einzunehmen, „sie wollte sich aufrichten, er ließ sie nicht“, er trägt sie, „die mit den Beinen strampelte, bis an den Kanal, hielt sie übers Wasser, als wollte er sie gleich hineinfallen lassen.“254 Auch konfrontiert er sie mit Saras Katze Polly, die er getötet hat, nachdem Isabelle sie von der Fensterbank gestoßen hatte, und weist ihr die Schuld am Tod des Tieres zu.255 Durch das Pathos des Ekels, das die Passage der Konfrontation mit der Katze im Bauloch gewinnt, rückt der Tod Isabelle nah, eine Nähe, die durch Jims Geste des Zeigens und durch den Gestank intensiviert wird. „Dann schob er sie sachte vorwärts, bis sie am Rand des Aushubs stand. […] Jim ließ sie nicht los, […], während sie hinunterstarrte, wo drei Ratten erschlagen in dem flachen Wasser lagen, die Ratten ebenso schmutzig braun wie das Wasser, und daneben die Katze, aus deren Bauch die Eingeweide quollen, stinkend, das Fell leuchtete aber vor dem dunklen Hintergrund. Jim trat neben sie, beobachtete ihr Gesicht, dann griff er einen langen Stock, schob ihn unter den Hals der Katze und hob sie ein paar Zentimeter aus dem Wasser, aus
249 Ebd., S. 299, 273. 250 Ebd., S. 295, 125, 296, 274. 251 Ebd., S. 300. 252 Ebd., S. 295. 253 Ebd., S. 274. 254 Ebd., S. 266. 255 Vgl. ebd., S. 273.
182 I Z USCHAUER DES L EBENS dem einen Auge war Blut gesickert und eingetrocknet, die Ratten hatten am Rand angefangen zu fressen, doch man konnte deutlich sehen, daß der Schädel eingedrückt war. […] –Siehst du den Kopf? Hübsch eingeschlagen. […] Ein Windstoß blies ihr den Gestank ins Gesicht. Isabelle würgte.“256
Jim konfrontiert Isabelle auch mit Sara, deren Leid er in einer Szene der Eskalation zu ihrer Distanz in Bezug setzt: „–[…] Deine Scheißkatze, tot ist sie, kapierst du? Tot, wiederholte er, wegen ihr, er zeigte auf Isabelle, weil sie deine Katze nicht leiden konnte, weil es ihr egal ist, was mit deiner Katze passiert.“257 Isabelle reagiert abwehrend auf die Konfrontation, „machte eine Handbewegung, als könnte sie das Kind wegschieben.“258 Sie sieht sich weiterhin außerhalb des Geschehens, selbst wenn sie den Ernst der Situation für Jim und Sara zu erkennen beginnt. „Schauspieler, dachte Isabelle, aber das war es nicht, es war kein Schauspiel, nicht für Jim und Sara, die einander gegenüberstanden.“259 Für sich selbst beansprucht sie weiter eine Zuschauerrolle, sie beobachtet Jims Gesicht, „es war, als schaute man einem primitiven Film zu, einem Daumenkino.“260 Ihr Versuch, Jims aggressive Aufmerksamkeit ganz auf Sara zu lenken, wird mit dem Begriff der „Denunziation“ in den Kontext einer eigennützigen Kultur des Wegsehens gestellt, die Hacker als historische Linie von der NS-Zeit bis heute zieht und in den Mittelpunkt ihrer Kritik stellt. Jim schlägt das Kind vor Isabelles Augen und in ihrem Namen zusammen: „–[D]u wolltest doch, daß sie bestraft wird.“261 Mit dem Befehl, Sara nackt auszuziehen, macht er Isabelle zur aktiven Mittäterin. Auch wenn sie selbst das Geschehen wie losgelöst von sich empfindet, eine Inszenierung, der sie folgt, „als hätte sie diese Szene hundertfach geprobt“, so macht der Text die Verstrickung zunehmend deutlich, verstärkt durch die Spiegelung, die sich aus der Verklammerung der Szene mit den Alexa-Erinnerungen ergibt.262 Die Nacktfotos, die Alexa von ihr gemacht hat, werden in der Passage immer wieder aufgerufen und spielen eine Schlüsselrolle. Sie tauchen bereits im Kontext der Begegnung Isabelles mit Jim und den Arbeitern am Bauloch auf, in dem die tote Katze liegt, und sie stehen am Anfang der eskalierenden Szene in Jims Wohnung.
256 Ebd., S. 271, 272. 257 Ebd., S. 298. 258 Ebd., S. 297. 259 Ebd., S. 298. 260 Ebd., S. 299. 261 Ebd., S. 300. 262 Ebd., S. 301.
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„–[D]u hättest die Fotos sehen sollen, die Alexa von mir gemacht hat, sie waren in meinem Schreibtisch, wo hätte ich sie auch sonst aufbewahren sollen? Nacktfotos, ich glaube, das Schlimmste ist, daß sie nicht pornographisch sind, wahrscheinlich hat Alexa eine ganze Sammlung […].“263
Zunächst für Isabelle mit Erregung und dem Reiz der Grenzüberschreitung verknüpft, rückt der assoziative Bezug, den Jim zu den Fotos der entstellten Mae herstellt, sie in den Kontext einer schweren Verletzung, die sich zunehmend mit Angst und Scham verbindet. Als Isabelle Sara entkleidet, drängt sich der Gedanke an Alexas Kamera erneut auf und sie beginnt zu weinen. Schließlich sitzt sie nackt neben dem nackten Kind, bereit, sich Jim an dessen Stelle auszuliefern. In ihren Tränen angesichts des verletzten, ausgelieferten Kindes spiegeln sich ihre eigene Verletzlichkeit und Versehrtheit, ihre Hilflosigkeit und Fremdheit, die sie bedrängen und verunsichern. „[S]ie stand da, zitternd, wünschte, sie könnte dem eigenen Körper ausweichen, den sie vor sich sah wie auf den Fotos von Alexa, nackt und fremd.“264 Ihre Auslieferung, die Gleichsetzung mit dem Kind und die Annahme der Opferrolle weist Jim zurück. Stattdessen schneidet er ihr die Haare ab: „Die linke Hand fuhr in ihr Haar. Er zog straff, soviel er davon halten konnte, stellte den Fuß auf ihre Schulter, um sie am Aufstehen zu hindern, setzte die Klinge am Scheitel an, machte eine rasche Bewegung. Ließ das abgeschnittene Haar achtlos fallen.“265
Im Vergleich mit Jims Gewalttaten gegenüber Mae wirkt dies wie eine Verschonung. Im historischen Kontext allerdings wird das Abschneiden der Haare, seit dem Mittelalter entehrende, weil stigmatisierende Strafe, als Markierung einer Täterin erkennbar. Dass Jims Messer sich nicht – wie bei Mae – durch Isabelles Gesicht zieht, verweigert ihr die Opferrolle und spricht sie schuldig. Dennoch wird Isabelle auch als Erleidende inszeniert. Jim selbst kommentiert seinen Schnitt als etwas Isabelle Zeichnendes: „–Gut so, sagte er, als hätte er endlich gefunden, was er suchte. –Jetzt kann dein Mann dir wenigstens einmal ansehen, daß du etwas erlebt hast.“266 Sein Geruch, der sich ihr schon zu Beginn ihres Kontakts unabweisbar aufdrängt – „sein Geruch, Jims Geruch, blieb und ließ sich nicht abschütteln“ –, steigert sich nun bis zur Übelkeit: „Jims Geruch so intensiv,
263 Ebd., S. 296. 264 Ebd., S. 303. 265 Ebd., S. 301, 302. 266 Ebd., S. 302.
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daß sie würgte.“267 Ihre Ausgesetztheit, die zuvor in einem Traum als entwürdigende Auslieferung an den Mann zum Ausdruck kam, steigert sich in der Eskalationszene zu einer konkreten Gefährdung. Isabelle bleibt, nachdem Jim das Haus verlassen hat, mit Sara auf einem Feld der Zerstörung zurück. Das verletzte Kind weint, die Wohnung liegt im Chaos, auch in Isabelle ist etwas unwiderruflich zerbrochen, „als hätte irgend etwas in ihrem Inneren sich gelöst, als zerbreche es, etwas, das man nie aufsammeln und kleben würde, weil man zu müde oder zu ratlos war, weil man wußte, daß ein Stück doch fehlte, daß es sich nie zu dem zusammenfügen würde, was man gewollt hatte.“268
Ihr Entwurf einer unbeteiligten, disparaten Subjektivität, eines Lebens, „das nicht richtig und fest zusammenhängen wollte, sondern sich hartnäckig in einzelnes auflöste“, wird in der Konfrontation mit Sara und Jim zu einem Problem, das sich mit Verletzung und Bedrohung verknüpft und Erfahrungen anklingen lässt, die sie bisher konsequent auf Distanz gehalten hat.269 Der, auch von Anderen übernommene, Selbstentwurf kindlicher Unberührbarkeit wird brüchig. Ein selbstzerstörerisches Bedürfnis nach intensiver Berührung, das der Roman durch ihre Erfahrungen der Achtlosigkeit kontextualisiert, führt sie in eine Verstrickung erlittener Gewalt. Auch wird Isabelle im Kontakt mit Jim und Sara zur aktiven Mittäterin bei der Misshandlung des Kindes. So wird sie auf ihre Verletzlichkeit und Bedürftigkeit und zugleich auf ihre Verantwortung verwiesen. Ihre Distanz erweist sich als absolute Verlorenheit, fern ist ihr Jakob, fremd ist sie sich selbst.
E THIK DER AFFIZIERBARKEIT Bedrohung und Misslingen Isabelle und Jakob geraten ins Stolpern, ihre Selbstkonzepte ins Wanken durch das, was ihnen in diesen Begegnungen widerfährt.270 Dennoch versuchen sie – auch nach der Eskalation der Ereignisse – an ihrer Distanz festzuhalten. Zwar weiß Isabelle, dass sie das Kind zum Arzt bringen muss. „Am Ende würde sie all das
267 Ebd., S. 166, 303. 268 Ebd., S. 303, 304. 269 Ebd., S. 68. 270 Vgl. ebd., S. 165, 207.
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getan haben, wußte sie, es war sinnlos, etwas aufzuschieben.“271 Und doch befreit sie sich allein, lässt die verletzte Sara zurück, die Frage nach ihrer Rolle dahingestellt: „Aber was soll ich tun, dachte Isabelle, Tränen liefen ihr übers Gesicht, sie drehte sich weg. Dann lief sie los.“272 Als der Lärm im Nachbarhaus wieder beginnt, ruft sie die Polizei, verwehrt sich aber durch ihre Anonymität einer direkten Beteiligung. „[D]a war sie beim Telefon, wählte die drei Ziffern, die vorsorglich auf dem schwarzen Plastikgehäuse des Geräts klebten, umklammerte den Hörer, wiederholte die Adresse zweimal, bevor sie in die Frage nach ihrem Namen hinein auflegte.“273 Ihre eigene Versehrtheit beschließt sie zu leugnen: „Sie wagte durch das Halbdunkel einen Blick in den Spiegel und schreckte zurück. Aber wenn sie sich kämmen würde, die Haare zusammenbinden, würde keiner merken, daß ein Büschel fehlte.“274 Auch Jakob glaubt, die irritierenden und bestürzenden Widerfahrnisse ausblenden und an sein ursprüngliches Lebenskonzept und -projekt anschließen zu können. „Es ist aber nichts passiert, dachte Jakob, Alistair sagt, daß sie nur einen Schock hat. […] Ihr Gesicht war fremd und traurig, aber da waren all die Jahre, die er auf sie gewartet hatte, darauf, ihr Gesicht wiederzusehen […]. –Es wird wieder gut, sagte er.“275
Isabelle und Jakob versuchen, die Situation mit ihren bewährten Strategien der Distanz zu bewältigen, aber die Abwehr wirkt nicht überzeugend. Isabelle ist verstört, sie trägt Jims stinkende Kleider. Jakob ist verunsichert: „[E]s war alles verlassen, als wären sie einer Warnung gefolgt, dachte Jakob, einer Warnung, die Straße zu räumen, nur er und Isabelle hatten nichts begriffen.“276 Ihre Haustür fällt ins Schloss, der Rückweg in ihr altes Leben scheint abgeschnitten, sie sind ausgesetzt, unbehaust, bedroht, eine Situation, die der Roman als Folge ihrer Abwehr inszeniert und über das Private hinaus in den Kontext einer umfassenden Bedrohung stellt. Der Roman ist durchzogen von Hinweisen auf Terrordrohung und Terrorgefahr. Die Anschläge vom 11. September 2001 in New York sind in der fiktiven Gegenwart des Romans allgegenwärtig, in der Wahrnehmung von Flugzeugen,
271 Ebd., S. 303. 272 Ebd., S. 304, 305. 273 Ebd., S. 306. 274 Ebd., S. 304. 275 Ebd., S. 307, 308, 309. 276 Ebd., S. 309.
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von Zeitungsüberschriften, Informationen, Sätzen und Bildern, die sich in das Gedächtnis eingebrannt haben.277 In Hackers Diagnose erscheint Bedrohung als Merkmal der Gegenwart. Die Londoner Anschläge im Jahr 2005, die zu der Zeit, die der Roman umfasst, noch bevorstehen, deuten sich an, eine Bedrohung, die durch das Wissen des Lesers um die späteren Ereignisse sehr konkret wird. Die Orte der Anschläge sind in das Londoner Setting des Romans integriert, erwähnt wird die Edgeware Road; Benthams Kanzlei liegt in der Devonshire Street, zwischen Edgeware Road und Tavisstock Square; im York Way, nahe King’s Cross, wo sich eine weitere Detonation ereignete, werden Isabelle und Jakob überfallen.278 Jims Chef Albert kündigt an: „–[I]rgendwann werden sie einen Tunnel in die Luft sprengen“, „[s]tell dir vor, wie das hier wird, sagte er, du steigst in die U-Bahn und weißt nicht, ob du lebend wieder hinauskommst.“279 Ein Straßenredner warnt drohend: „–[…] Ihr werdet Staub fressen, […] den schwarzen Staub der Untergrundschächte, auf dem Geröll, den Gleisen werdet ihr euch entlangschleppen und beten, noch einmal das Tageslicht sehen zu dürfen. Euer Schweiß wird sich schwarz färben, und die Todesangst euer Gesicht verzerren.“280
London befindet sich in Verteidigungshaltung, der Notfall wird geprobt, die tube evakuiert, Polizeiautos fahren Patrouille, Hubschrauber kreisen „lärmend, bedrohlich“ in der Luft, Sirenen heulen.281 Das „Neue Europa“ ist „überwacht, vorbereitet, zählt[] die Tage“.282 Der Guardian fordert zu Einkäufen auf, „Decken, Batterien, Kerzen, Konserven.“283 Verunsicherung und eine hilflose Erwartung liegen über der Stadt. Isabelle kauft fünf Päckchen Batterien, ohne ein Gerät im Haus zu haben, das mit Batterien funktioniert, erzählt Andras davon, „aufgeregt wegen des Kriegs und bemüht witzig“.284 Jakob fürchtet während einer U-Bahnfahrt „plötzlich, statt des Namens der nächsten Station könnte eine Warnung auftauchen, Alert! Terror Attack!“285 Aus seiner Perspektive erscheint die Bedrohung noch als
277 Vgl. ebd., S. 124, 151, 281. 278 Vgl. ebd., S. 130, 133, 169. 279 Ebd., S. 154, 127. 280 Ebd., S. 212. 281 Ebd., S. 282. 282 Ebd., S. 201. 283 Ebd., S. 140. 284 Ebd., S. 191. 285 Ebd., S. 119.
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„eine Maskerade […], etwas woran wir uns erinnern werden, als wäre es irreal und geschmacklos, aber irgendwann wird das Wirklichkeit werden und uns bedrohen.“286 Den globalen Bedrohungen stehen Jakob und Isabelle ebenso defensiv und hilflos gegenüber wie dem, was ihnen in ihrer Nähe an Bedrohlichem widerfährt. Zu Hause hängt Jakobs Unterhemd über dem Treppengeländer „wie eine weiße Fahne“ der Kapitulation.287 Isabelles und Jakobs Distanz wird nicht nur durch den Verlauf der Handlung in den Kontext der Bedrohung gestellt, der Roman evoziert diese auch durch seine intertextuellen Verweise. Eines der Szenelokale, das Isabelle und Jakob in Berlin besuchen, trägt den Namen „Würgeengel“,288 ein Verweis auf Luis Buñuels Film El Ángel Exterminador aus dem Jahr 1962, der als Parabel für den Untergang der bürgerlichen Welt gedeutet wurde.289 Opernbesucher, die sich nach der Vorstellung in einer mondänen Villa versammelt haben, stellen fest, dass sie das Haus nicht mehr verlassen können, obgleich keine sichtbaren Schranken erkennbar sind – „eine unerklärliche Willensschwäche“.290 Etikette und Ordnung verfallen, hinter der bröckelnden Fassade bürgerlicher Konventionen zeigen sich Unordnung, Schmutz, unterdrückte Begierden.291 Ein junges Paar begeht Selbstmord, eine Szene, die sich als Verweis auf die Bedrohtheit Isabelles und Jakobs verstehen lässt. Dekadenter Verfall zeichnet auch das Berlin, in dem Hackers Protagonisten zu Beginn des Romans leben. Die Backsteinbögen der S-Bahn-Trasse wirken „glanzlos, als dämmerten sie ihrem Verfall entgegen“, Isabelles und Jakobs erste Begegnung auf der Berliner Party wird metaphorisch gerahmt durch drei verblühte Rosen.292 Dass Jakob in London das Gefühl beschleicht, er werde „gewogen und für zu leicht befunden“, unterstreicht die Bedrohung mit dem Hinweis auf die Belšazar-Episode im Alten Testament:293 Belšazar, dem Sohn Nebukadnezars II.,
286 Ebd., S. 201. 287 Ebd., S. 272. 288 Ebd., S. 22, 77. 289 Vgl. Kreimeier, Klaus: Die Eingeschlossenen. Operativer Eingriff am lebenden Befund. Luis Buñuels Film Der Würgeengel (El Angel Exterminador). URL: http://www.filmzentrale.com/essays/bunuelkk.htm [20.05.2013]. 290 Tietze, Wolfgang / Toubartz, Elke: Der Würgeengel. In: Filmklassiker. Band 2: 19461962. Hg. v. Thomas Koebner. 5. überarb. u. erw. Aufl. Stuttgart: Reclam 2006, S. 555-558, hier S. 555. 291 Vgl. ebd., S. 555, 557, 558. 292 Hacker: Die Habenichtse, S. 10, 11. 293 Ebd., S. 217.
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erscheint während eines Festes eine Schrift an der Wand seines Palastes, die der Prophet Daniel deutet. „So aber lautet die Schrift, die dort geschrieben steht: Mene, mene, tekel, u-parsin. Und sie bedeutet dies: Mene, das ist, Gott hat dein Königtum gezählt und beendet. Tekel, das ist, man hat dich auf der Waage gewogen und zu leicht befunden. Peres, das ist, dein Reich ist zerteilt und den Medern und Persern gegeben.“294
Belšazar wird dem vollkommenen Königreich, das Gott ihm gegeben hat, nicht gerecht, er stirbt noch in derselben Nacht. Ein Mangel an Gewicht beschreibt nicht nur Jakob, auch Isabelles Hand ist „zu leicht, zu kindlich“, ihr selbst scheint, sie hätte „kein eigenes Gewicht“.295 Milan Kundera fasst in Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins den Mangel an Gewicht als Freiheit von allem, was die Lebenswelt ausmacht, und zugleich als Bedeutungslosigkeit. „Das schwerste Gewicht ist also gleichzeitig ein Bild intensivster Lebenserfüllung. Je schwerer das Gewicht, desto näher ist unser Leben der Erde. Desto wirklicher und wahrer ist es. Im Gegensatz dazu bewirkt die völlige Abwesenheit von Gewicht, daß der Mensch leichter wird als Luft, daß er emporschwebt und sich von der Erde, vom irdischen Sein entfernt, daß er nur noch zur Hälfte wirklich ist und seine Bewegungen ebenso frei wie bedeutungslos sind.“296
Jakobs und Isabelles Distanz, ihre Rückzüge auf vermeintlich sichere, unberührbare Positionen, die Versuche der Abwehr eigenen wie fremden Erleidens und Leidens, eigener und fremder Verletzlichkeit und Bedürftigkeit führen zu einem Verlust jeglichen Gewichts, jeglicher Bedeutung. Sie machen sie zudem unfähig, den Verlauf der Zeit und mit diesem Veränderungen zu erkennen, was sich in ihren wiederholten Fragen, ob sich etwas verändert habe, zeigt.297 Isabelles Kollege Andras diagnostiziert darin eine Unschlüssigkeit hinsichtlich der Konsequenzen des eigenen Verhaltens: „Wir wissen, daß es Ursache und Wirkung gibt, aber trotzdem scheint das für uns nicht zu gelten, nicht wirklich. Wie sollen wir dann
294 Die Bibel. Nach der Übersetzung Martin Luthers. Hg. v. Deutsche Bibelgesellschaft. Stuttgart 1985. Daniel 5, 25-28. 295 Hacker: Die Habenichtse, S. 67, 266. 296 Kundera, Milan: Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins. Aus dem Tsch. v. Susanna Roth. Frankfurt am Main: S. Fischer 1987, S. 9. 297 Vgl. Hacker: Die Habenichtse, S. 93, 113, 190, 235, 239, 257f.
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sagen, ob sich etwas verändert hat oder nicht?“298 Als defizitär wird diese Distanz auch markiert, wenn Jakob Sara „Bucklicht Männlein“ nennt, eine Bezeichnung, die Walter Benjamins Thematisierung der Figur aus der romantischen Volksliedsammlung Des Knaben Wunderhorn als Zeugen eines nicht gelingenden Lebens nahelegt.299 „Wen dieses Männlein ansieht, gibt nicht acht. Nicht auf sich selbst und auf das Männlein auch nicht. Er steht verstört vor einem Scherbenhaufen: ‚Will ich in mein Küchel gehen, / Will mein Süpplein kochen; / Steht ein bucklicht Männlein da, / Hat mein Töpflein brochen.‘“300
Bei Benjamin beraubt der Bucklige das Kind seiner Möglichkeiten: „Wo es erschien, da hatte ich das Nachsehn. […] Das Männlein kam mir überall zuvor.“301 Henriette Herwig deutet das Männlein zugleich als „poetische[n] Spiegel der Selbstvergessenheit und Unachtsamkeit des Kindes“, als Sinnbild seiner Fehlleistungen.302 Es erscheint aber auch selbst als zutiefst bedürftige Figur, wenn es das Kind bittet, es in sein Gebet einzuschließen: „Liebes Kindlein, ach, ich bitt, / Bet fürs bucklicht Männlein mit.“303 In seinem Kafka-Essay bezeichnet Benjamin das Männlein als den „Insasse[n] des entstellten Lebens; es wird verschwinden, wenn der Messias kommt“.304 Vor diesem Hintergrund markiert Jakobs und Isabelles Konfrontation mit Sara ihr eigenes Leben als nicht gelingendes und zeigt ihre Unfähigkeit zur Selbstsorge und zur Sorge um Andere.
298 Ebd., S. 195. 299 Ebd., S. 114, 116; vgl. Herwig, Henriette: Zeitspuren in erinnerten Kindheitsorten. Walter Benjamins ‚Berliner Kindheit um neunzehnhundert‘. In: Witte, Bernd (Hg.): Benjamin und das Exil. Würzburg: Königshausen & Neumann 2006, S. 44-73, hier S. 61. 300 Benjamin: Berliner Kindheit um Neunzehnhundert, S. 303. 301 Ebd. 302 Herwig: Zeitspuren in erinnerten Kindheitsorten, S. 61, 63. 303 Benjamin: Berliner Kindheit um Neunzehnhundert, S. 304. 304 Benjamin, Walter: Franz Kafka. Zur Zehnten Wiederkehr seines Todestages. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Band 2, 2. Hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser. 2. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989, S. 409-438, hier S. 432.
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Gegenentwürfe im negativen Modus Isabelles und Jakobs distanzierte Selbstkonzepte werden zunehmend brüchig. Sie haben Leid und Bedrohung, mit denen der Text sie konfrontiert, nichts entgegenzusetzen. In der Konfrontation der abwehrenden Distanz mit Leid wird ihre Zuschauerposition als Defizit erkennbar. Es zeichnen sich Konturen einer ethischen Subjektivität ab, die Hackers Roman eingeschrieben ist und in deren Zentrum die Affizierbarkeit durch das Leiden steht. Diese Perspektiven des Gelingens klingen gerade im Abgewehrten und Verneinten an. Im negativen Modus scheint das Desiderat von Verbundenheit und Verantwortung, Empathie, Mitleid, Demut und Teilnahme auf, manifestiert sich in intertextuellen Verweisen. Mit dem Stechlin-See, den Isabelle und Jakob als ein Ziel ihrer Ausflüge ins Berliner Umland wählen, greift Hacker das Sinnbild globaler Zusammenhänge aus Theodor Fontanes Zeitroman Der Stechlin auf.305 Wenn in der Welt etwas passiert, zeigt dies im See seine Wirkung. „Alles still hier. Und doch, von Zeit zu Zeit wird es an eben dieser Stelle lebendig. Das ist, wenn es weit draußen in der Welt, sei’s auf Island, sei’s auf Java, zu rollen und zu grollen beginnt oder gar der Aschenregen der hawaiischen Vulkane bis weit auf die Südsee hinausgetrieben wird. Dann regt sich’s auch hier, und ein Wasserstrahl springt auf und sinkt wieder in die Tiefe. Das wissen alle, die den Stechlin umwohnen […].“306
Fontanes Figur der Gräfin Melusine Ghiberti, die prophetische Züge trägt, formuliert die Lehre, die sie aus dem See zieht:307 „[…] vor allem sollen wir, wie der Stechlin uns lehrt, den großen Zusammenhang der Dinge nie vergessen. Sich abschließen heißt sich einmauern, und sich einmauern ist Tod.“308 Dieses Bewusstsein der Einbindung in globale Zusammenhänge steht der distanzierten Haltung Isabelles und Jakobs, die auf dem Versuch beruht, sich gegen eigenes und fremdes Leid abzuschließen, diametral entgegen – Isabelle weist mit Saras Leid das der ganzen Welt ab: „Es könnte überall sein, dachte sie, in Bosnien, in Bagdad, es war
305 Vgl. Hacker: Die Habenichtse, S. 77. 306 Fontane, Theodor: Der Stechlin. In: Ders.: Gesammelte Werke. Band 10: Der Stechlin. 19. Aufl. Berlin: T. Fontane & Co 1905, S. 3. 307 Vgl. Erler, Gotthard: Anhang. In: Fontane, Theodor: Der Stechlin. 7. Aufl. Berlin: Aufbau 2008, S. 429-440, hier S. 433. 308 Fontane: Der Stechlin, S. 298.
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immer die Gegenseite ihres eigenen Lebens.“309 Durch seinen intertextuellen Verweis setzt der Roman dagegen eine Haltung, die sich dem großen Zusammenhang, in den sie gestellt wird, zu vergegenwärtigen, sich ihm zu öffnen sucht. Jakobs explizite Assoziation des „Ausflug[s] zum Eierhäuschen“ aus Fontanes Roman unterstreicht diesen Gedanken der Verbundenheit.310 Der junge Stechlin zitiert in dieser Passage den fortschrittlichen Pfarrer Lorenzen: „Unsre ganze Gesellschaft (und nun gar erst das, was sich im besonderen so nennt) ist aufgebaut auf dem Ich. Das ist ihr Fluch, und daran muß sie zugrunde gehen.“311 Der Ich-Zentriertheit setze Lorenzen, so referiert Stechlin, mit dem portugiesischen Dichter João de Deus ein Gebot entgegen, das den „neue[n] Bund“ begründe, „ein einziges Gebot, und das klingt aus in: Und du hättest der Liebe nicht…“.312 Das Ende des 15. Kapitels formuliert mit dem Ausruf „Was ist Freiheit gegen Liebe!“ eine Perspektive der Verbundenheit, die im radikalen Widerspruch zu Isabelles und Jakobs Bemühungen um Unberührtheit steht.313 In ihrer distanzierenden Abwehr werden beide den großen Zusammenhängen nicht gerecht und auch nicht der konkreten Verantwortung, in die der Roman sie stellt, indem er sie zu Zeugen der Gewalt gegen ihr Nachbarskind macht, zugleich zu Zeugen von Armut, Gewalt und Krieg. Der Phänomenloge Bernhard Waldenfels erläutert die Unausweichlichkeit der Zeugenrolle: „Man wird zum Zeugen, ob man es will oder nicht, wenn man bei einem überraschenden Ereignis, einem Glücksfall, einem Unglück oder einer Untat gegenwärtig ist. […] Eine Zeugenaussage kann man verweigern, aber nicht die Zeugenschaft, in die man gerät. […] Die Zeugenschaft entspringt also einem genuinen Sym-pathos, einer Ko-affektion, durch die der Zeuge sich von einem Aufnahmegerät unterscheidet. Das tua res agitur beschränkt sich nicht auf das, was uns selbst direkt widerfährt.“314
Das verkürzte Zitat aus den Epistulae des Horaz „Nam tua res agitur, paries cum proximus ardet“ lautet in der Übersetzung „Denn es handelt sich um deine Sache,
309 Hacker: Die Habenichtse, S. 229, 230. 310 Ebd., S. 187. 311 Fontane: Der Stechlin, S. 205, 206. 312 Ebd., S. 206. 313 Ebd., S. 207. 314 Waldenfels: Bruchlinien der Erfahrung, S. 162, 163.
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wenn die Wand in nächster Nähe brennt.“315 Die Wand, die Jakobs und Isabelles Haus von der Wohnung ihrer Nachbarn trennt, wird immer wieder erwähnt, wenn die beiden die Ereignisse im Haus nebenan wahrnehmen.316 Dabei scheint sie mit der Zeit durchlässiger zu werden: Am Anfang ist es Isabelle „unerklärlich, was sie dort taten, hinter der Wand.“317 Später schlägt etwas „gegen die Wand.“318 Dann sind es die „zu dünnen Wände“, die kaum noch standhalten.319 Isabelle hört, wie etwas dagegen geschleudert wird: „Entsetzt starrte sie die Wand an, die keinen Riß zeigte, sich nicht öffnete.“320 Jakob erschrickt, als „etwas gegen die Wand schlug, als sollte es hindurchbrechen.“321 Auch wenn Isabelle und Jakob die Affektion durch Saras Leiden ablehnen, wird deutlich, dass die Ereignisse im Nachbarhaus auch sie selbst betreffen – das tua res agitur lässt sich nicht abweisen. Ihre Position der Verantwortung unterstreicht Hacker durch die Inszenierung von Gesichtern, mit denen Jakob und Isabelle textuell konfrontiert werden.322 Das Gesicht erscheint dabei als Zentrum des Anderen. „Ich mag Jakobs Gesicht, daß sie ihn mochte, hatte Isabelle sagen wollen.“323 Ansätze von Sorge umeinander lassen sich am Verschwinden des Gesichts festmachen, so als Isabelles Gesicht für einen kurzen Moment durch jemanden verdeckt wird – „es war verschwunden, ausgelöscht, und zum zweiten Mal an diesem Tag durchfuhr Jakob nagender Zweifel, Kummer“ – und als Isabelle feststellt, dass Jakob in London schmaler geworden ist – „Jakob war dünner geworden, das Gesicht war dünner“ –, Ansätze, die beide allerdings beiseiteschieben.324 Hier drängt sich ein Bezug zur Philosophie Emmanuel Lévinas’ auf, in deren Zentrum das Antlitz des Anderen steht: „[D]as Antlitz des Anderen [ist, d. V.] der eigentliche Anfang der Philosophie.“325 Lévinas macht
315 Horaz zitiert in: Lexikon der Sprichwörter des romanisch-germanischen Mittelalters. Hg. v. Kuratorium Singer der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften. Band 2. Berlin / New York: de Gruyter 1996, S. 89. 316 Vgl. Hacker: Die Habenichtse, S. 143, 152, 164, 231. 317 Ebd., S. 143. 318 Ebd., S. 164. 319 Ebd., S. 231. 320 Ebd., S. 151. 321 Ebd., S. 262. 322 Vgl. ebd., S. 116, 165, 167, 170, 172, 174, 230; vgl. auch S. 156, 161, 162, 173. 323 Ebd., S. 58. 324 Ebd., S. 49, 143; vgl. S. 142, 308. 325 Lévinas, Emmanuel: Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie. Übersetzt, hg. u. eingeleitet v. Wolfgang Nikolaus Krewani. 5. Aufl. Freiburg / München: Karl Alber 2007, S. 207.
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die Situation des Von-Angesicht-zu-Angesicht zum Ausgangspunkt seiner Ethik. Das Antlitz des Anderen – „mit dem vollkommen Ungedeckten und der vollkommenen Blöße seiner schutzlosen Augen“ – schleudert mir entgegen: „Du wirst nicht töten.“326 Diese „Relation zum absolut Anderen“ gebietet dem „ichlichen Imperialismus“ des Ich Einhalt und ruft es zur Verantwortung.327 Es „nötigt sich das Antlitz mir auf, ohne daß ich gegen seinen Anruf taub sein oder ihn vergessen könnte, d. h. ohne dass ich aufhören könnte, für sein Elend verantwortlich zu sein.“328 Subjektivität formiert sich in dieser Konzeption nicht ausgehend von der Souveränität eines autonomen Individuums, sondern ausgehend von einer heteronom geprägten Relationalität, von der Beziehung zum Anderen.329 Ichsein bedeutet, „sich der Verantwortung nicht entziehen zu können.“330 Diese Verantwortung denkt Lévinas als „Nähe“, als eine Beziehung, die jeder gewählten Beziehung vorausgeht, und als unendlich.331 Das Ich trägt, so Lévinas, die Welt, es gibt demnach, mit einer Formulierung Werner Stegmaiers „kein Leid auf der Welt […], das einen nichts angeht.“332 Bei Hacker steht Saras Gesicht am Anfang des Romans. Dave nimmt ein Platanenblatt und hält „es vorsichtig vor ihr Gesicht.“333 Während Saras Gesicht hier verdeckt ist, beschreibt Jakob „das kleine Mädchen, dessen blasses Gesicht ihm unheimlich war“.334 Isabelle sieht ein „sprachlose[s] Entsetzen“ im Gesicht des Kindes, „alles Kindliche war aus seinem Gesicht verschwunden, es gab nur noch Ausweglosigkeit und Leid darin“.335 Beide versuchen zwar, dem Ruf zur Verantwortung auszuweichen: Isabelle lacht oder tut, als würde sie Sara nicht sehen, Jakob blendet das Kind aus.336 Auch angesichts von Saras Eltern wahrt Isabelle am Fenster sichere Distanz: „Isabelle wischte über die Scheibe, das Gesicht der Frau konnte sie nicht erkennen. Der Mann dagegen stand zu ihr gedreht, präsentierte sein verzerrtes Gesicht, brüllte den Jungen an.“337 Die
326 Ebd., S. 198. 327 Ebd., S. 199, 200. 328 Ebd., S. 223. 329 Vgl. ebd., S. 200, 204, 207, 253, 275; vgl. Stegmaier, Werner: Emmanuel Lévinas zur Einführung. Hamburg: Junius 2009, S. 176, 177. 330 Lévinas: Die Spur des Anderen, S. 224. 331 Vgl. ebd., S. 288. 332 Vgl. ebd., S. 289; Stegmaier: Emmanuel Lévinas zur Einführung, S. 167. 333 Hacker: Die Habenichtse, S. 7. 334 Ebd., S. 116. 335 Ebd., S. 230. 336 Vgl. ebd., S. 230, 220, 116. 337 Ebd., S. 151.
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Inszenierung der Gesichter aber unterstreicht, dass Isabelle und Jakob trotz der Abwehr dessen, was sie affiziert, was ihnen und anderen widerfährt, in vielfältige Situationen der Verantwortung gestellt sind. Verstärkend tragen dazu Momente der Spiegelung zwischen Isabelle und Saras Mutter bei:338 Während Isabelle Saras Weinen nicht als einen an sie gerichteten Hilferuf verstehen will, steigt die Mutter des Kindes in ein Auto ein, „hob bloß die Hände, als wollte sie etwas abwehren oder ihre Unschuld beteuern.“339 Als die Mutter am Ende des Romans von der Polizei mitgenommen wird – „eine Männerstimme forderte sie ungeduldig auf, sich ins Auto zu setzen“ –, hockt Isabelle auf dem Fußboden ihres Zimmers, um dem Blaulicht auszuweichen, das „wie ein Suchscheinwerfer durch Jakobs und Isabelles Zimmer“ kreist und auch sie als Schuldige einer Unterlassung, ihre Abwehr als Verletzung einer besonderen Schutzpflicht markiert.340 Auch wenn Isabelle und Jakob ihre Verantwortung abzuweisen, sich zu entziehen versuchen, gegenüber ihrer unmittelbaren Umwelt wie in einem universaleren Sinne, bleibt diese bei Hacker als Appell bestehen. Weitere Perspektiven des Misslingens und Gelingens ergeben sich aus der Inszenierung des Besuchs einer Theateraufführung von Shakespeares King Lear. Der Roman schildert das Ende der Tragödie: „Die Morde waren vollbracht, der Schmerz wurde zu einem schrillen, unerträglichen Ton. […], und da waren Lears Worte, er heulte, flehte –And my poor fool is hang’d! No, no, no life! Why should a dog, a horse, a rat have life, and thou no breath at all? Thou’lt come no more, und ein paar Zeilen später stürzten die Wände, lautlos erst, als wäre es nur eine Projektion, dann plötzlich mit Getöse, krachten da hin, wo die ersten Stuhlreihen hätten sein können, zerbarsten, wirbelten Staub auf und hinterließen ein Bild der Zerstörung, auf das beklommene Stille folgte.“341
König Lear spricht seine letzten Worte im Gefängnis, während er seine tote Tochter Cordelia im Arm hält. Hackers Akzentuierung des Tragödienendes gilt der Zerstörung, der menschlichen Ausgesetztheit und dem maßlosen Leid, die Shakespeares Drama auf die Bühne bringt, Jakob und Isabelle aber finden zu der Tragödie keinen Zugang. Jakob flüstert nach einer Weile, er „verstehe nur die Hälfte“, Isabelle hofft, „von den Gesichtern abzulesen, was ihr entging, zu begreifen, warum
338 Vgl. ebd., S. 235: Isabelle selbst vergleicht sich mit ihr. 339 Ebd., S. 152. 340 Ebd., S. 307. 341 Ebd., S. 167, 168.
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die Katastrophe unabwendbar war.“342 Lears Verzweiflung über seinen unwiederbringlichen Verlust und sein auswegloses Leid lösen in Isabelle einen Fluchtinstinkt aus: „[…] und dann noch einmal, dünn, die Stimme des toten Lear, Thou’lt come no more, never, never, never, never, never. Sie hörte es noch, als sie aufsprang, um vor den anderen hinauszulaufen“. Ihr Versuch, sich der Affizierung zu entziehen, wird konterkariert durch die einstürzenden Kulissen im Zuschauerraum und vor allem durch den Narren, der ihr folgt, „als sie auf die Straße drängte, und er murmelte, murmelte, dicht hinter ihr stehend, denn sie konnte nicht weg, sie wollte vorausgehen, aber wagte es nicht. Es klang wie ein Fluch.“343 Der „Schrecken“, den sie empfindet, lässt sich vor dem Hintergrund der Tragödientheorie Aristoteles’ als phobos, Schauder, verstehen, den die Tragödie neben eleos, Jammer, im Zuschauer erregt, und die zusammen katharsis, Reinigung und Läuterung, bewirken.344 Lessing übersetzt die griechischen Begriffe phobos und eleos mit Furcht und Mitleid, wobei er Furcht als das auf uns selbst bezogene Mitleid und Mitleid als die Grundlage aller menschlichen Tugenden interpretiert.345 Isabelles Empfindung des Schreckens lässt in diesem Zusammenhang zugleich hervortreten, woran es ihr mangelt: Furcht als auf sich selbst bezogenes Mitleid und Mitleid für Andere. So verweist das, was ihr fern bleibt, auf das, was möglich und nötig wäre. Auch Lears tote Tochter, die er auf der Bühne in den Armen hält, deutet darauf hin: Cordelia ist in Shakespeares Tragödie die Figur, die zu Empathie und Beistand, Liebe und Mitleid fähig und bereit ist, auch wenn sie in ihrem Bemühen scheitert. Anhaltspunkte für Hackers ethischen Entwurf im negativen Modus ergeben sich weiterhin aus Jakobs Begegnung mit dem Straßenredner Jona, einer Begegnung, die ein weiteres sich aus der Position abwehrender Distanz ergebendes Defizit akzentuiert.346 Auch Isabelle erscheint Jona als Mann mit Taube im Traum.347 Nahe liegt der Bezug zum biblischen Jona, der der Stadt Ninive den Untergang voraussagt.348 Aus dieser intertextuellen Perspektive lässt sich Isabelles und Jakobs Distanz als Verfehlung deuten, der die Strafe des Untergangs droht. In London sagt der Straßenredner Jona mit großem Pathos der westlichen Welt die Rache
342 Ebd., S. 167. 343 Ebd., S. 168. 344 Ebd., S. 169; vgl. Wilpert, Gero von: Sachwörterbuch der Literatur. 8. verb. u. erw. Aufl. Stuttgart: Kröner 2001, S. 401. 345 Vgl. Wilpert: Sachwörterbuch der Literatur, S. 401. 346 Vgl. Hacker: Die Habenichtse, S. 214. 347 Vgl. ebd., S. 268. 348 Vgl. Die Bibel. Jona 3.
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der Kriegsopfer voraus. „–Die Verzweiflung der Hingeschlachteten wird euch erreichen, die Rache des Kriegs und der Angst.“ Jona erscheint als exzentrischer, fanatischer Prediger in seiner emphatischen Androhung der Apokalypse, zugleich aber versieht Hacker ihn mit positiven Attributen – „ein kräftiger Mann mit dickem, zerzausten Haar und einem kühnen Gesicht“ – und verleiht seinen Worten Bedeutung durch den Verweis auf die Bibel.349 Seine Schilderung des Untergangsszenarios greift vorwegnehmend die Realität der Anschläge auf die U-Bahn in London auf. Auch dadurch gewinnt die großstadttypische, etwas skurrile Figur an Ambivalenz: Jona wirkt einerseits problematisch in seiner fundamentalistisch-eifernden Gewissheit, auch vor dem Hintergrund, dass er selbst Frau und Kind im Stich gelassen hat.350 Zugleich wird er zum ernsthaften Mahner – eine Pointe der Multiperspektivik von Hackers literarischer Konstruktion. Die Autorin lässt Jona in seiner Rede das Thema ansprechen, das sich durch den gesamten Roman zieht – die Indifferenz der westlichen Welt angesichts des Leidens, die Jona mit dem Begriff der „Herzlosigkeit“ fasst: „–Ihr harrt aus. Geduldig, blind, und schließlich erinnert ihr euch an nichts mehr. Die Straße, seht ihr? Seht ihr die Bettler? Seht ihr die Toten? Erinnert ihr euch denn an nichts? Wißt ihr nichts? […], während die Sirenen schrillen, während einer sich in seinem Dreck wälzt, während ein paar Meter weiter, ein paar Stunden später einer umkommt, erschossen, erstochen, weil ihr die Augen verschließt, weil ihr nichts sehen wollt […].“351
Mit der Kausalkonstruktion spricht Jona den distanzierten Zuschauern die unmittelbare Verantwortung für das Leiden zu. Ebenso legt er einen direkten Ausbeutungszusammenhang dar, auf dem der westliche Reichtum beruhe: „Diebe sind wir, wie wir hier leben. Jeder Tag auf dem Rücken derer, die gebückt nach einem Unterstand, nach einem Aufschub suchen.“ Drohend zerstört der Prediger jede Illusion von Verschonung, mit der der Westen die Bedrohung auf Distanz halte und sich in Sicherheit wiege: „–[…] Steht noch dahin, sagt ihr, ob uns das Unglück trifft. Aber es wird treffen, es wird uns treffen […]. Wir haben kein Recht zu überleben.“352 In greller Zuspitzung verbindet er schuldhafte Verstrickung und radikale Bedrohung, reduziert den Menschen auf seine nackte Existenz und leitet da-
349 Hacker: Die Habenichtse, S. 211, 212. 350 Ebd., S. 215. 351 Ebd., S. 212, 213. 352 Ebd., S. 213.
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raus eine Forderung ab, die die demütige Wahrnehmung der eigenen Verletzlichkeit mit dem Widerstand gegen Unrecht, Bedrohung und Leiden Anderer verknüpft. „–[…] Was haben wir, was halten wir in den Händen? Daß uns noch nichts zugestoßen ist. Sollen wir dafür dankbar sein? fragt ihr, und ich sage nein. Dankbar nicht, aber demütig. Richtet euch auf und seid demütig und duldet nicht, was ihr an Unerträglichem seht.“353
Jakob schiebt Jonas Gedanken verständnislos beiseite – „–Was soll das?“ –, in ähnlicher Weise streift Isabelle ihren Traum von Jona ab.354 In ihrer fanatischen Überzeichnung wirkt die Figur des Straßenpredigers irritierend. Allerdings stellt der Roman sie durch den intertextuellen Zusammenhang mit dem alttestamentarischen Bericht über die Stadt Ninive in den grundsätzlichen Zusammenhang von Schuld und Bedrohung, Umkehr und Rettung: Jonas Prophezeiung des drohenden Untergangs löst in Ninive eine Bewegung demütiger Sühne aus, Gott hat Erbarmen mit Mensch und Tier und rettet die Stadt aus Mitleid.355 So klingt in dem apokalyptischen Szenario eine Perspektive der Hoffnung an, die im demütigen Wissen um eigene und fremde Verletzlichkeit, im Widerstand gegen Unrecht und Verursachung von Leid gründet und Barmherzigkeit und Teilnahme in den Fokus rückt. Als Desiderat scheinen diese Aspekte eines ethischen Entwurfs nicht nur im Abgewehrten und Verneinten auf, der Roman hält Affizierbarkeit, Zuwendung und Verantwortung auch in der sprachlichen Form der Negation durchgängig präsent. Im Zentrum steht auch hier Isabelles und Jakobs Distanz gegenüber Sara, die Tatsache, dass die Protagonisten nicht an das Kind denken, es nicht sehen – Formulierungen, in denen zugleich Möglichkeiten eines anderen Verhaltens anklingen.356 So werden diese Situationen zu verpassten Chancen des Interesses und der Zuwendung, verpassten Chancen der Übernahme von Verantwortung, die in negierter Form ihren Raum im Roman behaupten. Diese verpassten Chancen prägen auch die Beziehung der Protagonisten zueinander und zu ihren Freunden. Isabelle betrachtet Jakob „ohne Neugierde“, sie lässt „seine Hand ohne Bedauern los“, sie zieht „ihn nicht an sich“.357 Jakob stellt Isabelle keine Fragen, nicht danach, „ob sie sich langweile, ob sie einsam sei“, nicht nach Jim, er erzählt ihr nichts, der
353 Ebd. 354 Ebd.; vgl. S. 269. 355 Vgl. Die Bibel. Jona 3 und 4. 356 Vgl. Hacker: Die Habenichtse, S. 116, 220, 236. 357 Ebd., S. 10, 59, 113.
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Klang seiner Stimme macht „ihr klar, daß er ihr nicht beistehen würde“.358 Isabelles Freundin Alexa „r[uft] nicht an“, ihr Kollege Peter „fragt[] nicht, wie es ihr g[eht]“.359 Jakob will seinen Freund Hans einladen „und unterl[ässt] es“, er plant einen Wanderurlaub mit ihm und denkt, „daß sie es nicht tun würden.“360 Auch in der Schilderung von Jakobs und Isabelles privilegierten Lebensumständen scheinen in negierter Form Möglichkeiten des Gelingens, der Verbundenheit und der Freude auf. Sie, die gemeinsam ein Haus mit Garten besitzen, während es in „den umliegenden Häusern […] pro Stockwerk eine Wohnung“ gibt, leben distanziert nebeneinander her: „Das Paar aus der Nummer 49 schlenderte die Straße hinunter […]. Sie hielten sich nicht an den Händen.“361 Mit ihrem Garten wissen Isabelle und Jakob nichts anzufangen, „ein langes, schmales Stück Rasen […], eine Wiese inzwischen, die sie nicht gemäht hatten“, „sie hatten ihn noch nicht benutzt, nicht einmal betreten“.362 Auch ihre Freizeit ist ihnen „nicht kostbar“, geplante Ausflüge wie der nach Kew Gardens werden aufgeschoben: „Sonntag war ein Tag, mit dem sie beide nicht viel anzufangen wußten.“363 Das, was die Protagonisten nicht wertschätzen, taucht in Negationen auf, in denen zugleich Möglichkeiten des Glücks anklingen, Möglichkeiten, die durch die Spiegelung Jakobs und Isabelles in Jim und Mae unterstrichen werden. So bedeutet ein Ausflug nach Kew Gardens für Jim das, womit er versucht, sich und Mae aufrechtzuerhalten: „Es war noch kalt, aber bald könnten sie spazieren gehen […], er würde sie nach Kew Gardens führen, sie waren beide noch nie dort gewesen, aber es sollte so schön sein, sagten alle.“364 In Jims Augen ist Isabelles und Jakobs Leben der Inbegriff der Geborgenheit: „Sie waren eingezogen, zu zweit, wie in einer Umarmung, die den Regen abhielt, und alles andere auch.“365 Er stellt sich vor, wie „das Paar aus Nummer 49 behaglich auf dem Sofa saß, vor einem künstlichen Kamin und sich umarmte.“366 In der Wohnung in der Lady Margaret Road fühlt Jim sich seit langem wieder als Mensch und sehnt sich danach, dieses Leben in „eine[r] Art Zuhause“ mit Mae teilen zu können.367 Der Garten, von dem er immer geträumt hatte, wird für Jim
358 Ebd., S. 163, 142; vgl. S. 204, 207. 359 Ebd., S. 166, 232. 360 Ebd., S. 190, 262. 361 Ebd., S. 87, 135. 362 Ebd., S. 141, 226. 363 Ebd., S. 267, 203, 204. 364 Ebd., S. 26. 365 Ebd., S. 125. 366 Ebd., S. 130. 367 Ebd., S. 135.
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zum Sinnbild ihres Lebenswillens und -rechts: „Sein Garten, der Garten mit dem Kirschbaum in der Mitte und der Mauer drum herum, wo Mae auf ihn wartete, weil sie leben wollte, weil sie beide auch ein Anrecht hatten auf ihr Leben.“368 Die Spiegelung der beiden Paare verschärft den Eindruck des Scheiterns von Jakob und Isabelle, die alles zu besitzen scheinen, was Jim im Kontakt mit ihnen als für ihn unerreichbare Grundvoraussetzungen eines gelingenden menschenwürdigen Lebens zu erkennen beginnt.369 Sie scheinen alles zu besitzen, aber es bleibt ihnen fremd, sie finden keinen Bezug ebenso wenig wie zueinander, zu den Menschen in ihrer Umgebung und zu sich selbst. Miniaturen gelingenderen Lebens Der Entwurf einer ethischen Subjektivität in Relationen, den Hacker im negativen Modus andeutet, konkretisiert sich in der Zeichnung von Figuren, mit denen der Roman Gegenentwürfe zu Isabelle und Jakob inszeniert. Dabei stellen diese Figuren nie einen ungebrochenen Entwurf des Gelingens, einen klaren Ausweg dar, sie bieten keine ethische Programmatik der Einbindung an. Es handelt sich um singuläre Ansätze, Miniaturen gelingenderen Lebens. Die Haltungen dieser Figuren, ihre Handlungen und deren Wirkung werden aus der Außenwahrnehmung beschrieben, es gibt keine Innenperspektive, die Aufschluss geben könnte über Motive, Intentionen etc., keine verbindliche Personenperspektive, von der auf eine Autorposition zu schließen wäre. Vielmehr entsteht eine ungefähre Kontur, die sich aus den verschiedenen Entwürfen zusammensetzt. So ergeben sich keine überindividuellen Maßstäbe, sondern Situationen des Gelingens, Augenblicke der Affizierbarkeit, Zuwendung, Verantwortung und Verbundenheit, die in ihrer Singularität bestehen bleiben. Miriam: Vertrauen und Zuwendung Jakob begegnet Miriam auf einem seiner Londoner Spaziergänge. Miriam, die wie Jakob der Rede des Straßenredners Jona zuhört, vertritt, einem Befehl des selbstgewissen Predigers und seiner fundamentalistischen Ethik des Mitleids folgend, eine radikale Vorstellung von Nächstenliebe. „Er zeigte auf einen der Zuhörer und sagte mir, ich solle ihn mit nach Hause nehmen. Er behauptet, daß man immer wieder Menschen trifft, die man lieben könnte, auch wenn es das
368 Ebd., S. 243. 369 Vgl. ebd., S. 126.
200 I Z USCHAUER DES L EBENS Leben nicht zulasse, nur ein Zufall, sagte er, der uns nicht blind für diejenigen machen darf, denen wir Zuneigung entgegenbringen. Und ich gehorchte tatsächlich, ich weiß nicht warum. Mit Sex hat das nichts zu tun.“370
Die junge Frau nimmt Jakob mit nach Hause, führt ihn an der Hand wie ein Kind, kocht ihm Tee, streichelt seine Füße, „kniet[] halb nackt vor ihm, lächelnd, löst[] die Schuhbänder, streift[] die Schuhe von seinen Füßen, n[immt] den rechten Fuß in ihre beiden Hände.“371 Miriam, die in dieser Szene Züge eines Straßenmädchens trägt, ist die ehemalige Frau des Predigers Jona, der sie nach kurzer Zeit verlassen hat. Zugleich erscheint sie als Heilige, ihr hebräischer Name lautet im Lateinischen Maria. Die Mutter Jesu, die insbesondere in der katholischen Marienverehrung das Sinnbild von Demut und Vertrauen verkörpert, rückt sie ebenso in diesen Kontext wie die unwirklich wirkende Szenerie, die an die Fußwaschung im Buch Johannes des Neuen Testaments erinnert.372 Bekleidet nur mit einem Schurz wäscht Jesus seinen Jüngern die Füße und verbindet diese Reinigung mit einem Auftrag: „Wenn nun ich, euer Herr und Meister, euch die Füße gewaschen habe, so sollt auch ihr euch untereinander die Füße waschen. […] Ein neues Gebot gebe ich euch, daß ihr euch untereinander liebt, wie ich euch geliebt habe, damit auch ihr einander liebhabt. Daran wird jedermann erkennen, daß ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe untereinander habt.“373
Dieser intertextuelle Verweis unterstreicht die zentrale Bedeutung von Demut, Vertrauen, Liebe und Zuwendung in Hackers ethischem Entwurf. Aus Jakobs Perspektive wird Miriam als „so freundlich, […] so zuversichtlich“, „heiter, sogar liebevoll“, als „neugierig“ und als „selbstverständlich“ in ihrer Zuwendung beschrieben.374 Ihre Wohnung wirkt auf ihn „einladend und doch traurig.“375 Miriam ist eine der Figuren in Hackers Roman, die großes Leid erfahren hat. Nachdem Jona sie nach wenigen, glücklichen gemeinsamen Monaten verlassen hat, konnte
370 Ebd., S. 214, 215. 371 Ebd., S. 214. 372 Vgl. Die Bibel. Johannes 13. Für das Unwirkliche der Szene spricht auch die Tatsache, dass Jakob Miriams Wohnung später sucht, ohne sie finden zu können (vgl. Hacker: Die Habenichtse, S. 284). 373 Die Bibel. Johannes 13, 14, 16. 374 Hacker: Die Habenichtse, S. 214, 217. 375 Ebd., S. 214.
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sie dank der Unterstützung ihrer Eltern ihren Sohn Tim großziehen und ihr Studium verfolgen. Dann aber kam Tim bei einem Autounfall ums Leben. Der Blick auf ein Foto löst in Jakob eine Vision aus, in der er die Katastrophe unmittelbar ohne jede zeitliche, räumliche oder emotionale Distanz mitzuerleben glaubt. „[…] etwas zwang ihn aufs Sofa zurück, etwas, das ihm das Herz zusammenpreßte und Tränen in die Augen trieb. Das Foto, dachte er, der kräftige Kinderkörper, der sich aus Miriams Armen wandt, ungeduldig zappelnd, um gleich loszurennen, und er rannte, rannte, überglücklich und wild, über die regennasse Straße, der Asphalt gleißte im Abendlicht, Tim drehte sich um und winkte, was der Autofahrer nicht sah, denn er sah Tim nicht, sah nichts als das grelle Licht, spürte nur den Aufprall.“376
Seine Begegnung mit Miriam konfrontiert ihn auf rätselhafte Weise mit Leid, das er mitempfindet, und wie im Kontakt mit Bentham werden seine Strategien der Abwehr aufgehoben, stellt er die Frage nach Möglichkeiten, sich dem Leid zu stellen. „Jakob schauderte, etwas zersprang, sein Körper bäumte sich auf, er öffnete die Augen und starrte Miriam ungläubig an, streckte die Arme nach ihr aus, verwirrt von seiner Sehnsucht und seinem Kummer. Warum nur, dachte er wieder und wieder, wie kann sie es ertragen?“377
Miriam repräsentiert die Erfahrung des Leidens, aber auch die Erfahrung von Liebe. Ihr gelingt ein offener Umgang mit ihrem Kummer und sie bewahrt – trotz allem – die Fähigkeit zu Heiterkeit, Vertrauen und selbstbewusster Zuwendung.378 Ihre Zuwendung wird in klarer Abgrenzung zu Isabelle und Jakob formuliert, was die Funktion der Figur als Gegenentwurf verstärkt. „Aber Isabelle würde das nie tun, dachte er, sie scheute sich, in ihren Zärtlichkeiten war immer etwas Beiläufiges oder sogar Heimliches, als fürchtete man, einander oder sich selbst zu beschämen, aufzudecken, was verborgen bleiben sollte.“379 Zugleich bleibt Miriam fremd in ihrer exzentrischen Außenseiterrolle, ihrem fast unwirklichen Nonkonformismus, unauffindbar, als Jakob sie zu finden versucht und auch problematisch in ihrem Gehorsam gegenüber ihrem selbstgewissen Exmann und der Selbstverleugnung ihrer fundamentalistischen Nächstenliebe. Aber die Erfahrung von
376 Ebd., S. 216. 377 Ebd.; vgl. S. 260. 378 Vgl. ebd., S. 217. 379 Vgl. ebd., S. 215.
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Miriams Nähe, ihrer Intensität und Großzügigkeit verunsichert Jakob und löst in ihm zugleich einen Moment der Nähe zu sich selbst aus – „er war sehr glücklich“ –, auch zu der ihm fremden Frau, zu Bentham, Isabelle, sie lässt ihn die Kostbarkeit des Augenblicks vor der Vergänglichkeit empfinden.380 Hisham: Sanftmut und Verantwortung Hisham gehört zu der Kriminellengruppe um Albert und schlägt Jim in dessen Auftrag zusammen, eine Gewalttat, die er Jim später damit erklärt, dass er Geld für seine Familie brauchte. Zugleich wird Hisham als „höflich“ beschrieben, „sanft[]“ und sanftmütig[]“.381 Der swahilische Vorname bedeutet großzügig, spendabel. In Hishams Augen entdeckt Jim „etwas wie Mitleid“.382 Seine Sanftmut wird in Bezug gesetzt zu dem Glauben an das Gute und dem Eintreten gegen das Böse, die aus Jims Perspektive auch den Demonstranten für den Frieden und Saras Bruder Dave zugesprochen werden: Hisham „hatte irgendetwas Sanftmütiges, so wie die, die gegen den Krieg demonstrierten, gegen das Böse, Hunderttausende, friedfertig, entschlossen, und Dave sah ihn an, als glaube er an das Gute.“383 Nachdem er Jim verletzt hat, übernimmt Hisham Verantwortung, kümmert sich um ihn, lädt ihn zum Essen ein. Die Einladung führt Jim in das Restaurant von Hishams Schwester, in eine Welt, die Hacker sehr positiv zeichnet. Das Lokal ist „bescheiden“, die Tische sind „sorgfältig, mit Stoffservietten“ gedeckt, „es duftet[] nach Rosenöl“.384 Hishams Neffen werden als „geschickt“, „eifrig, glücklich“, „nicht unterwürfig“ und – in Abgrenzung zu Sara und Dave – als „aufgeputzt und vergnügt“ beschrieben.385 Jim ist voller Unbehagen, Misstrauen, auch Neugierde ob der Zuwendung, die er erfährt, ob seines Eindrucks, es „sollten seine Wünsche in Erfüllung gehen. Von den Lippen abgelesen.“386 Ähnlich wie Jakob mit Miriam erfährt Jim selbstbewusste Fürsorge, die seine misstrauische Distanz für einen Moment auflöst. „Es war die Geste des Jungen, die ihn dazu brachte, sich zu nehmen, […], der kleine Junge rannte wieder herbei, stand genau vor Jim, den Kopf in den Nacken gelegt, hob das Gesicht
380 Ebd., S. 218; vgl. S. 217. 381 Ebd., S. 101, 130. 382 Ebd., S. 101. 383 Ebd., S. 155. 384 Ebd., S. 130, 131. 385 Ebd., S. 131, 242. 386 Ebd., S. 131.
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zu ihm und zog dann aus ihrem eisigen Gefängnis Jims rechte Hand, um sie zwischen seinen so viel kleineren Händen zu halten, als wollte er sie wärmen. Dann ließ er sie los, wie einen Ball, der davonhüpfen würde oder einen Vogel, der ängstlich gewartet hatte zu entkommen. Jim fand sich ihm gegenüber, lächelnd, verlegen, aber er setzte sich und fing an zu essen.“387
Hishams Einladung wird in der Edgeware Road ausgesprochen, einem der Anschlagsorte vom 7. Juli 2005. Diese präzise geographische Zuordnung gestattet über die konkrete narrative Funktion hinaus eine Lesart im Kontext der Zeitgeschichte: Die Einladung wird zu einer Geste der Verbundenheit, die der Roman der Gewalt des Terrors entgegensetzt. Auch nach seiner Einladung fährt Hisham fort, sich nach Jim zu erkundigen, „ohne Spott“, was Jim trotz seiner Abwehr wahrnimmt.388 Er ist es auch, der Mae für Jim ausfindig macht. Motiviert wird sein Wunsch, Jim zu helfen, vor dem Hintergrund seiner eigenen leidvollen Erfahrungen, zwei seiner Schwäger sind verschwunden: „Ich weiß, was das heißt, wenn man jemanden sucht und nicht einmal weiß, ob er noch lebt.“389 Allerdings muss er auf seiner Suche erkennen, dass Jim verantwortlich für Maes Verschwinden, sie sein Opfer ist. Er übernimmt die Rolle des Rechtsgutachters, die Jim ihm mit der abwertenden Bezeichnung „Mufti“ implizit zuschreibt.390 Er photographiert Maes entstelltes Gesicht und konfrontiert Jim mit diesen Bildern. In seiner Reaktion auf Jims Gewaltausbruch und Kontrollverlust wird Hisham, die gebrochene Figur des Kleinganoven, als Christusfigur gezeichnet: Er verteidigt sich nicht aktiv, schlägt nur die Augen nieder, dreht sich um und bietet – „ohne sich zu schützen“ – Jim seinen Hinterkopf dar.391 Sein Verhalten evoziert die Worte Jesu über die Feindesliebe. „Aber ich sage euch, die ihr zuhört: Liebt eure Feinde; tut wohl denen, die euch hassen; segnet, die euch verfluchen; bittet für die, die euch beleidigen. Und wer dich auf die eine Backe schlägt, dem biete die andere auch dar; und wer dir den Mantel nimmt, dem verweigere auch den Rock nicht.“392
Hisham, der leise mit Jim zu reden beginnt, bis dieser von ihm ablässt, vertraut auf die Kraft der Worte, anstatt seinem ersten Impuls der Gewalt zu folgen: „–Erst
387 Ebd., S. 131, 132, 133. 388 Ebd., S. 162. 389 Ebd., S. 245. 390 Ebd., S. 101. 391 Ebd., S. 244. 392 Die Bibel. Lukas 6, 27-29.
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dachte ich, ich mach dich kalt.“393 Stattdessen reinigt er Jims von zertretenen Gläsern verletzte Füße, eine Szene, die parallel zu der zwischen Miriam und Jakob auf die biblische Fußwaschung verweist. Jim „betrachtete seine blutenden Füße, die Hisham vorsichtig hochhob, auf ein Kissen legte, bevor er sich daranmachte, sie abzutupfen.“394 Aus dieser Situation der Nähe heraus konfrontiert Hisham Jim hartnäckig mit seiner Schuld, zeigt ihm die Fotos der verletzten Mae: „[…] Hisham hatte nicht lockergelassen. –Deine kleinen erbärmlichen Lügen. Schau es dir an, ich habe sie fotografiert, damit du sie dir übers Bett hängen kannst. […] Hisham hatte ein Foto herausgezogen. […] Hisham hatte weiter und weiter geredet, als wäre seine Stimme in Jims Kopf […].“395
Jim spürt, dass es Hisham um „eine Art Brüderlichkeit“ geht, nicht um „Rachsucht“ und „Haß“, seine Stimme dringt zu ihm vor, es gibt in Hackers Roman aber keine Wende, keine positive Auflösung.396 Hishams und Jims Kontakt bricht ab, Jim beginnt seine gewaltsame Aktion gegen Isabelle und Sara. Aus seiner Perspektive ergibt sich die Unmöglichkeit einer Umkehr aus dem Mangel an Bindungen, weil „es für Jim kein Zurück gab, keine Frau und keine Neffen, kein Restaurant.“397 Dennoch zeigt Hishams sorgende und zugleich hartnäckige Zugewandtheit Wirkung. Auch wenn Jim seine Verantwortung nach der Konfrontation durch Hisham weiterhin abwehrt, die Beweiskraft der Fotos leugnet, Mae Vorwürfe macht, sich in Aggressionen gegenüber Isabelle flüchtet, rückt seine Schuld ihm näher:398 Er sieht Maes Versehrtheit auf den Fotos und, im Spiegel, in seinem eigenen Gesicht. „[D]as Blut war nur verschmiert, ein breiter Streifen von der rechten Schläfe bis zum Kinn. Jim drehte den Wasserhahn auf, stand da, ohne sich zu waschen, starrte sein Spiegelbild an. Es war wirklich Mae gewesen auf den Fotos, er hatte sie sofort erkannt […].“399
393 Hacker: Die Habenichtse, S. 248. 394 Ebd., S. 245. 395 Ebd., S. 247, 248. 396 Ebd., S. 247. 397 Ebd. 398 Vgl. ebd., S. 250, 252, 253. 399 Ebd., S. 249, 250.
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Andras: Akzeptanz des Ungefähren und Achtsamkeit Isabelles Berliner Kollege Andras ist eine weitere Figur, in der sich die Verbundenheit mit Anderen, Zuwendung, Achtsamkeit und Sorge zeigen. Von seinen Eltern im Alter von vierzehn Jahren aus Budapest nach Berlin geschickt in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft, haben seine Tante und sein Onkel, ungarische Emigranten, ihn aufgenommen und mit großem Einsatz sein Studium finanziert. Andras erfährt Zuwendung, für die er dankbar ist, und er steht im regelmäßigen Kontakt zu seiner Familie, fühlt sich an sie und an familiäre Traditionen gebunden.400 An Isabelles und Jakobs Hochzeitstag deckt Andras die Tafel mit den Damasttischtüchern seiner Tante, um dem Tag Festlichkeit und Bedeutung zu verleihen.401 Geprägt durch seine Erfahrungen und in Abgrenzung zu Isabelles Leichtigkeit, empfindet er Abschiede als gewichtig. „Er dachte an die Küsse seiner Budapester Verwandten, an das anschwellende Getöse bei jedem Weggehen, das sich als Abschied auslegen ließ, die unzähligen Personen, die eine Prozession bildeten auf dem Weg zum Flughafen oder zum Bahnhof oder sogar zur Haustür, falls er das Haus nur verließ, um mit jemandem zu Abend zu essen. […] Er wollte nicht, daß Isabelle ging. Er wollte, daß sie begriff, was Abschied bedeutete […].“402
Eingebunden in seine Familie fühlt Andras sich insbesondere durch das Leid, das ihr widerfahren ist. Diese Verbindung mit der Historie setzt ihn in einen Bezug zu Bentham, der durch das Gewicht, das beiden im Unterschied zu Isabelle und Jakob zugesprochen wird, wie auch durch die gemeinsame Gewohnheit des Sammelns alltäglicher Gegenstände betont wird. In einem Gespräch mit Jakob in Berlin übernimmt Andras ausdrücklich die Position Benthams, seinen radikalen Zweifel an Vorstellungen der Restitution: „–[…] Du hast doch tatsächlich geglaubt, daß du eine Art Gerechtigkeit wiederherstellst. […] Verstehe mich nicht falsch, natürlich bin ich dafür, daß der gestohlene Besitz zurückerstattet wird, meinethalben als Besitz, nicht als Entschädigung. Aber trotzdem verstehe ich, wenn man es bizarr findet. Die Nachkommen der Vertriebenen und Ermordeten bewerben sich um die ausgestrichene Vergangenheit ihrer Vorfahren. […] das, wofür du arbeitest, [ist, d. V.] allerdings doch eher Entschädigung, meinst du nicht auch? Mieteinnahmen und so
400 Ebd., S. 43. 401 Vgl. ebd., S. 79. 402 Ebd., S. 109.
206 I Z USCHAUER DES L EBENS weiter. Die lächerlichste Entschädigung für die Zerstörung dessen, was einer für sein Leben halten wollte.“403
Andras geht über Benthams Vorwurf der Anmaßung, die Deutschland im Versuch der Restitution als „Wiedererrichten der Gerechtigkeit“404 an den Tag lege, hinaus und stellt die These auf, dass es in diesen Prozessen weniger um die jüdischen Opfer oder das deutsch-jüdische Zusammenleben gehe als um die Selbstdarstellung Deutschlands: „–[…] Vielleicht wollen viele gar nicht, daß hier Juden leben, aber das ist der Preis, der zu bezahlen ist, um sich als Rechtsstaat behaupten zu können.“405 Er bezieht den unterschiedlichen Umgang der beiden deutschen Staaten mit der gesamtdeutschen Geschichte in seine Überlegungen ein und kritisiert die automatische Selbstverständlichkeit, mit der die DDR im Prozess ihrer Gründung allen Bürgern eine antifaschistische Grundhaltung zugeschrieben hat. Vor allem aber lenkt er den Blick auf die Selbstgerechtigkeit der BRD, der die DDR dazu diene, sich in Abgrenzung von ihr in ein positives Licht zu rücken und ihrer erfolgreichen Vergangenheitsbewältigung zu rühmen. „–[…] Und die Vergangenheitsgespenster oder ihre Nachkommen, die allerdings Gespenstern ziemlich ähneln, spielen dem Staat den Beweis zu, daß in der Bundesrepublik alles bestens vonstatten gegangen und erledigt ist, daß sich nur die DDR mit ihrer lauten Unschuld vergangen hat.“406
Dabei gehe es tatsächlich darum, die schuldhafte Vergangenheit zu erledigen, zur Ruhe zu bringen und stattdessen deutsche Opfergeschichten, „die Opfer der Deutschen, de[n] Bombenkrieg Schritt für Schritt in den Vordergrund marschieren“ zu lassen. Andras lebt in Deutschland, sieht aber kein deutsch-jüdisches Zusammenleben: „–[…] Wer weiß schon, daß ich jüdisch bin? Peter weiß es nicht, Isabelle nicht. Keiner fragt, ich reibe es keinem unter die Nase.“407 Kompliziert ist auch die Beziehung zu Familie und Verwandten in Israel und Ungarn, deren Geschichten er wie ein Fremder gegenübersteht und in die er zugleich eingebunden ist. „–[…] Für uns zerläuft das, meine Schwester und mein Schwager leben nicht anders als du und Isabelle, nehme ich an. Wenn ich dort bin, kramen meine Eltern aber noch einmal alles
403 Ebd., S. 188, 189. 404 Ebd., S. 185. 405 Ebd., S. 188, 189. 406 Ebd., S. 188. 407 Ebd., S. 189.
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aus, was sie mir vorenthalten mussten, weil sie mich weggeschickt haben. […] Ich war so lange nicht da, deswegen kleben an mir die Geschichten derer, die weggegangen, und derer, die dageblieben sind.“408
Im Gegensatz zu Isabelles und Jakobs distanzierter Haltung gegenüber ihrer Familiengeschichte ist Andras extrem eingebunden durch Familie und Geschichte, eine Verstrickung, die ihn hilflos macht und ihn lähmt. „[W]ie ein irrsinnig gewachsener, unliebsamer Gast dehnte sich die Vergangenheit, rekelte sich wie eine alte Katze, lag riesengroß auf Tisch und Bett, die Krallen abgebrochen, doch immer noch eine Masse Fell und Fleisch, die einen fortgetrieben hätten, wenn man gewußt hätte, wohin. […] Die Vergangenheit interessierte ihn nicht, sie war die riesige osteuropäische und jüdische Katze, ungebeten wuchs sie und beanspruchte Platz. Er konnte ihr nur ausweichen, indem er unauffällig an ihr vorbeischlich.“409
Seine Ansätze der Distanz dienen dem Versuch, sich dieser Verstrickung zu entziehen, seinen Spielraum gegenüber der Familiengeschichte zu wahren. Er, der an der Sinnhaftigkeit von Phantasie und Entschlusskraft zweifelt, den Eindruck hat, alle Versuche, das Leben zu gestalten, hätten in seiner Familie nur Unglück gebracht, hofft – vergeblich – durch seinen Rückzug in die Passivität Ruhe, einen Ort zum Bleiben zu finden, „als könnte er, wenn er nur stillsaß, die Himmelsrichtungen in seinem Leben miteinander versöhnen“.410 Hin- und hergerissen zwischen Berlin und Budapest, trifft er doch keine Entscheidung. In Berlin lebt er in einem Haus, dessen Verkauf und Sanierung absehbar sind, die Suche nach einer neuen Wohnung aber schiebt er auf. Er leidet unter seiner unerfüllten Liebe zu Isabelle, macht ihr aber kein Liebesgeständnis. Dass er sein Leben an sich vorbeigleiten lässt, es nicht entschiedener ergreift, betrachten seine Familie und auch er selbst als „Versäumnis“.411 Zugleich ist sein Rückzug in die Passivität eine reflektierte Fremdheit, mit der Andras versucht, das Disparate auszuhalten, das ihn historisch und persönlich prägt und das sich nicht in eine einfache Ordnung überführen lässt. „[U]nd endlich, nachdem er sich gewehrt und gescholten und zur Ordnung gerufen hatte, akzeptierte er, endlich, endgültig, daß es keine Lebensordnung für ihn gab, so oder so, ob
408 Ebd., S. 190. 409 Ebd., S. 196, 197. 410 Ebd., S. 81; vgl. S. 43. 411 Ebd., S. 45; vgl. S. 44, 46.
208 I Z USCHAUER DES L EBENS in Budapest oder in Berlin. Und wer würde ihn wiegen und für zu leicht befinden? Er war eine Randfigur, ein Fremder, ein disziplinierter, unauffälliger Vagabund […].“412
Das Wissen um seine Existenz im Zwischen, am Rande, unterwegs, die für ihn kompliziert und schwierig ist, unterscheidet Andras grundlegend von Isabelle in ihrem Versuch der Unberührbarkeit und von Jakob in seinem Bemühen um eine Position selbstbestimmter, sicherer Distanz. Andras versucht, mit Unklarheiten und Ambivalenzen jenseits eindeutiger Lösungsmöglichkeiten zu leben. Anstatt auf eine Identität setzt er – bescheidener und offener – auf die Vorstellung ungefährer Konturen, eine sich prozesshaft entwickelnde und verändernde, vielseitige und bedingte Subjektivität. „–Warum soll man nicht an zwei Orten leben? Wozu diese angeblichen Entscheidungen? Vielleicht findet man sich irgendwann in seine eigenen Umrisse hinein und begreift, daß es ausreichend ist, mehr als ausreichend.“413 Die formale Gestaltung des Romans greift diese Perspektive auf, indem immer wieder Figuren ineinander geblendet werden, sodass eindeutige Abgrenzungen verschwimmen und zugleich Subjektivität in ihrer Kontingenz deutlich wird. Markant zeigen dies die Kapitelanfänge, die mit einem Personalpronomen beginnen, aber eine andere Perspektive aufgreifen als das vorangegangene Kapitel.414 Andras gelingt es am Ende des Romans, in der Akzeptanz des Ungefähren eine Entscheidung zu treffen, die sein Leben verändert. Während Isabelle in „unerbittlicher Ziellosigkeit“ sucht und wartet, dass das Leben sich entwickle, und Jakob wirkt, als „würde er etwas suchen, blindlings“, findet Andras nach einer Phase des passiven Rückzugs einen Umgang mit dem Gegebenen, beginnt, sein Leben im Hier und Jetzt zu gestalten.415 Er setzt sich neu aus und bindet sich ein, zieht zu seiner Freundin Magda, teilt Isabelle diese Entscheidung mit. Er zieht einen Strich und markiert einen Neubeginn, der ihn ganz konkret aus dem gewohnten Tritt bringt, stolpern lässt, ihn aufwühlt und emotional verwirrt. „Als er vorsichtig aufstand, traten ihm Tränen in die Augen, ärgerlich schüttelte er den Kopf, aber er weinte doch und mußte über sich selbst lachen. Sein Herz pochte unruhig, als er die Straße wieder überquerte, humpelnd, lachend, tränenblind die Choriner Straße hinaufging.“416
412 Ebd., S. 40. 413 Ebd., S. 190. 414 Vgl. ebd., S. 69, 124, 135, 218, 281, 51, 46. 415 Ebd., S. 110, 198. 416 Ebd., S. 287.
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In ihrem Zusammensein werden Magda, die um ihren Mann trauert, und Andras, der Isabelle verloren hat, in ihrer Verletzlichkeit, ihrer Verletztheit und Bedürftigkeit gezeigt. „[S]ie schmiegte sich fester an ihn, […] mit einer bescheidenen Lust, die ihn anrührte, und es dauerte einen weiteren Augenblick, bis er begriff, daß es seine eigene Bedürftigkeit war, die sie widerspiegelte.417 Die Einbeziehung des Gewesenen unterscheidet Andras’ Vorstellung von „new concept – new life“ von der Isabelles: Er, dessen Gefühle für Isabelle Teil von ihm bleiben, will sie nach Berlin einladen, „warum sollte es nicht eine Art Neuanfang sein, new concept – new life, für sie auch.“418 Seine Fähigkeit, sich in seiner Bedingtheit, seiner Verletztheit und Verletzlichkeit, seiner Bedürftigkeit, seiner Fremdheit, seinen Ambivalenzen und Widersprüchen anzunehmen und zu entwickeln, geht einher mit Aufmerksamkeit und Achtsamkeit. In den Bildern, die er als junger Mann in Budapest gemalt hat, spiegelt sich die Zeitdiagnose des Romans: Die Menschen auf diesen Zeichnungen geraten in Not, die Feuerwehrleute aber, von denen sie sich Beistand erhoffen, wenden sich ab. „[D]ie kleinen Figuren rannten die Straßen entlang, an der Kreuzung stürzten sie in eine Grube oder explodierten. Ein Haus wurde vom Sturm abgedeckt, winkend standen in den Fenstern die Bewohner, und die Feuerwehr schien an der Straßenecke festgefroren, die Feuerwehrmänner wandten sich ab.“419
Dieser indifferenten Distanz versucht Andras, Gesten der Achtsamkeit entgegenzusetzen. Er und Magda werden in ihrem Miteinander in Gesten des Gebens gezeigt.420 Als sich auf dem Dachboden des Hauses, in dem Andras zur Miete wohnt, ein obdachloser Mann einrichtet, kauft Andras ihm eine elektrische Kochplatte, Topf und Teller.421 Isabelle assoziiert Andras mit liebevoller Zugewandtheit, als sie in London eine glückliche Szene beobachtet, denkt sie an ihn: „[E]ine kleine Frau mit kurzen, blonden Locken lief strahlend auf einen kleinen Mann mit einem großen Kopf zu, die beiden umarmten sich, der Mann erinnerte Isabelle an Andras.“422 Andras ist es, der Isabelle immer wieder fragt, wie es ihr gehe, ein Interesse, das ihn von Jakobs Desinteresse ab- und dieses zugleich hervorhebt. Er hat, obwohl Isabelle ihm kaum Informationen gibt, ein Gefühl für ihre Situation
417 Ebd., S. 81, 82; vgl. S. 83, 288. 418 Ebd., S. 34, 289. 419 Ebd., S. 150, 151. 420 Vgl. ebd., S. 81, 83, 288. 421 Vgl. ebd., S. 83. 422 Ebd., S. 172.
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der Verlorenheit und Bedrohung. Seine Träume zeigen seine Sorge um sie.423 Doch auch Andras’ Fürsorglichkeit zeigt Hacker nicht als reines Gelingen. Er selbst spricht von der „Liste der Versäumnisse“, fühlt, dass Isabelle nur ihm von ihrer Kindheit und Jugend erzählt, glaubt zu ahnen, dass sich damit eine diffuse Erwartung verbindet, die aber beide nicht zu konkretisieren vermögen.424 Andras spürt den Narben Isabelles nicht nach, auch nicht den Ursachen für ihre Bitte, nach London zu kommen. Gefangen in dem Bild von ihr, das er liebt, hält er fest an der Vorstellung ihrer kindlichen Unberührtheit, der Wirklichkeit ihrer „geliebten […] Schulranzenstimme“, mit der sie ihrer Bitte die Dringlichkeit und seiner Ablehnung das Gewicht nimmt.425 Bentham: Gelassenheit und Sorge Die zentrale Rolle der Affizierbarkeit und der Verantwortung wird vor allem in der Figur Benthams entwickelt, einem weiteren Gegenentwurf zu Isabelle und Jakob. Bentham ist in Hackers Roman sehr positiv konnotiert, ohne zu einem moralischen Idealtyp zu werden. Er fühlt sich dem Schönen, dem Genuss verbunden: „Das ist überhaupt das beste, Staunen über jede Art von Schönheit, auch wenn sie flüchtig, auch wenn sie käuflich ist.“426 Er liebt es, sich im Park während eines Spaziergangs zu besprechen und beachtet aufmerksam „Blumen, Passanten, Bäume […], Enten, Pärchen, die auf dem Rasen lagen und sich küssten, die Wölfe im Gehege, ihr langbeiniges, unruhiges Hin und Her […], alles […], was angenehm oder belustigend“ ist.427 Ohne auf Statusfragen Wert zu legen, ist er stets gepflegt gekleidet, seine Eleganz wird mehrfach und aus verschiedenen Perspektiven hervorgehoben.428 Jakob registriert seine „vollkommene[] Haltung[]“, die „perfekte Relation“ seines Körpers, die „Tanz- oder Tanzbärschritte[]“, mit denen er seinen Gang beschreibt, verleihen ihm trotz seiner gewichtigen Statur Leichtigkeit.429 Die Räume seiner Kanzlei, die ihm 1967 im Alter von 32 Jahren „von einem Gönner“ zur Verfügung gestellt worden sind, hat er gekauft und die Kanzlei
423 Vgl. ebd., S. 198, 199, 239, 285. 424 Ebd., S. 44. 425 Ebd., S. 286. 426 Ebd., S. 255. 427 Ebd., S. 180. 428 Vgl. ebd., S. 86, 88, 89, 182. 429 Ebd., S. 182, 89, 180.
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zu einer der „feinsten“ der Stadt gemacht.430 Sie ist ein wenig in die Jahre gekommen, aber „frisch poliert“ und gemütlich, ein Ort des Lesens: Der Pförtner hält „in der Hand ein dickes Buch“, in der Bibliothek sitzen Jakobs Kollegen lesend in „schweren Ledersesseln“, der Bibliothekar, Mr. Krapohl, versorgt Jakob zu jedem neuen Fall mit ausführlicher Lektüre.431 Bentham nimmt sich Zeit für die Arbeit, „man kann ihn jederzeit anrufen. Lohnt sich, sein Instinkt ist einigermaßen unfehlbar“, in seiner wiederholten Aufforderung an Jakob, sich in Ruhe vorzubereiten, erscheint er als Gegenentwurf zu der hektischen Kanzlei Schreibers in Berlin, in der Jakob vorher an Fragen des Investitionsvorrangs gearbeitet hat.432 Zu Benthams gelassener Gründlichkeit passt, dass er, wie Alistair sagt, „Verwirrung für etwas durchaus Wünschenswertes“ hält, „denn wie sollte man bei allzu großer Gewißheit über das Verhältnis von Juristerei und Historie nachdenken.“433 Dazu passt auch, dass er Jakob zu Bescheidenheit angesichts juristischer Möglichkeiten der Entschädigung aufruft. Generell nimmt Bentham eine bescheidene Position hinsichtlich subjektiver Gestaltungsmöglichkeiten ein: Während es Jakob in einem Gespräch über Lebensorte „absurd vor[kommt, d. V.], sich davon bestimmen zu lassen, wo man geboren ist“, vertritt Bentham gelassen lachend: „–Aber man sucht es sich ja nur selten aus. Immerhin sucht man sich überhaupt manches aus.“434 Das Bewusstsein heteronomer Einbindung verbindet sich bei Bentham mit einer aktiven Konzeption des Antwortens und dem Hochhalten der Freiheit: „–Schade, daß es kaum noch Spatzen gibt. Jemand hat mir gesagt, daß Spatz auf hebräisch dror heißt, Freiheit. […] Seit ich ihren Namen kenne, ihren hebräischen Namen, meine ich, sind sie mir noch lieber.“435 Liebevoll verbunden war und ist Bentham seinem Lebensgefährten Graham.436 Nach dessen Tod hat er begonnen, sich gelegentlich in ein Hotel einzumieten, „–[…] ein kleines Hotel, das man zwielichtig nennen würde, wenn es nicht so überaus zivilisiert und gepflegt wäre. […] Ich habe nichts dagegen für Liebesdienste zu zahlen – das ist eine Frage des Alters.“437 Bentham ist sich seiner Bedürftigkeit bewusst und geht damit und, anders als Jakob, mit seiner Homosexualität diskret, aber offen um: „–Und jetzt werden
430 Ebd., S. 182. 431 Ebd., S. 88, 89; vgl. S. 105. 432 Ebd., S. 85. 433 Ebd., S. 181. 434 Ebd., S. 257. 435 Ebd., S. 254. 436 Vgl. ebd., S. 256. 437 Ebd., S. 259.
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Sie rot, das ist nett. Fragen Sie nur.“438 Seine Kanzlei ist ein Ort der Sorge. Obwohl Benthams Verwandte gestorben sind, hat er Menschen um sich, die für ihn sorgen und sich um ihn sorgen. An ihre erste Begegnung denkt Jakob mit einem Eindruck von Fürsorglichkeit, „sah ihn zwischen Maude und Alistair stehen, die winzige Geste, mit der Maude über Benthams Ärmel strich, und Alistairs Gesicht, in dem sich Lebhaftigkeit und Spott mit Zuneigung mischten.“439 Benthams Sekretärin Maude erscheint wie Bentham sehr gepflegt und ein wenig altmodisch.440 Ihre „Fürsorge“ wirkt „gleichmäßig und jahrelang eingespielt“, sie kennt die Geschichte seiner Familie, ist „noch im nachhinein ängstlich um das Kind besorgt.“441 Nachmittags bringt sie ihm heiße Milch mit Honig, abends verabschiedet sie ihn „mit einer Geste, als wollte sie alle guten, liebenswürdigen Geister zu seinem Schutz anrufen“.442 Auch Bentham sorgt sich um und sorgt für Andere. Von seiner ehemaligen Haushälterin, die sich aufgrund ihrer zunehmenden Demenz zurückgezogen hat, berichtet er, dass „–[…] sie bat, daß wir nicht nach ihr suchen sollten. Graham war verzweifelt, und ich auch. […] Wir haben sie auf Umwegen unterstützt, Graham fand eine Möglichkeit.“443 Ein Konzert in der Conway Hall besucht Jakob mit Isabelle auf Benthams Empfehlung hin, „1929 eröffnet […], zu Ehren des frommen Amerikaners Conway, der Geld gestiftet hatte, der die Welt verbessern wollte, und deswegen gab es jetzt die Konzerte für drei Pfund, dazu eine Tasse Tee.“444 Durch diese Empfehlung wird auch Bentham mit der Freigebigkeit Conways assoziiert. In Abgrenzung dazu erscheint Jakob kleinlich und erbarmungslos: Er konstatiert, dass man „fünfzig Cent extra“ zahlen müsse, findet den Tee „lausig“, die Conway Hall schäbig und lästert über die älteren Leute, die ihnen voller Wohlwollen entgegenkommen: „–[W]ie in einem FelliniFilm […]. Schlaffes, altes Fleisch“.445 Seine Distanz mittels Rückzugs auf eine verfügbare Deutungsfolie unterscheidet sich grundlegend von Benthams zugewandter Sorge. Aussagekräftig ist eine kleine Holzfigur, die Bentham Jakob zeigt, ein Buddha, den er von einer israelischen Bekannten erhalten hat: Buddha, der Erwachte, im Buddhismus ein Wesen, das die vollkommene Entfaltung seiner Weisheit und seines Mitgefühls erreicht hat.
438 Ebd., S. 258. 439 Ebd., S. 93. 440 Vgl. ebd., S. 90, 209. 441 Ebd., S. 181, 182. 442 Ebd., S. 182. 443 Ebd., S. 254. 444 Ebd., S. 201. 445 Ebd., S. 200, 201, 202.
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Bentham wird nicht nur mit Genuss, Gelassenheit und Sorge assoziiert, er gehört auch zu den Figuren, die empfänglich für eigenes und fremdes Leid sind. Er nimmt die Dinge schwer, hat – im Gegensatz zu dem jungen Paar – Gewicht, wie der Roman immer wieder sagt. So wird er eingeführt, als Jakob und sein Berliner Chef Schreiber vom Tod des gemeinsamen Kollegen Robert im World Trade Center erfahren haben: „Bentham wird es schwer nehmen, sagte Schreiber, als er zurückkam. Bentham war Schreibers Partner in London.“446 Auch Jakob greift in seiner ersten Beschreibung Benthams auf das Wortfeld des Gewichts zurück: „[…] eines von diesen Gesichtern, die ein bestimmtes Gewicht haben, die Nase, die Augenlider, alles hat ein Gewicht von soundsoviel Gramm, weißt du, was ich meine?“447 Im Gespräch mit Jakob äußert Bentham sich über seine schmerzliche Vergangenheit und seinen Umgang mit den erlittenen Verlusten. „–Übrigbleiben scheint meine besondere Spezialität zu sein. […] Es ist übrigens nicht so sehr der Schmerz, der zerstörerisch ist. Eher die Blindheit, die er mit sich bringt, der Wunsch, die Augen nicht zu öffnen, nichts zu sehen, was einen vom Bild des Geliebten entfernen könnte, und es dauert lange, bis man begreift, was zur Vergangenheit dazugehört, daß sie sich weder berühren noch verändern läßt, egal wie gewaltsam man sich in ihre Nähe drängt. Daß man alles verliert, wenn man nicht hinnimmt, was vergangen ist, aus dieser unbarmherzigen Distanz, die einen vor allem deshalb quält, weil sie die eigene Distanz zu den Dingen ist.“448
Bentham, der seine Familie und seinen Lebenspartner verloren hat, spricht über den Wunsch, das Geschehene zu verdrängen, die Nähe zu bewahren, Distanz zu den Geliebten nicht zuzulassen. Er empfindet die Anerkennung der Distanz zu Vergangenem, die Akzeptanz, dass etwas unwiederbringlich verloren ist, als quälend, und zwar aufgrund seiner Gefühlsintensität. Diese Distanz, die aus der Erfahrung des Verlusts entsteht, bezeichnet er als unbarmherzig, als etwas, das das Herz verschließt und den Bezug zur eigenen Lebenswelt erschwert. Benthams Distanz unterscheidet sich durch die intensiven Emotionen und die reflektierte Anbindung an vorausgegangene Erfahrungen grundlegend von der Distanz, die Isabelle und Jakob als Lebens- und Erlebensform praktizieren. Sie, die jeglicher Affektion aus dem Weg gehen, ihr Herz an nichts hängen, können nichts verlieren wie Bentham. Sie können aber auch nichts Neues finden wie Bentham, dem zufolge sich aus der Auseinandersetzung mit einem Verlust Neues ergeben kann:
446 Ebd., S. 47, 48. 447 Ebd., S. 92. 448 Ebd., S. 255, 256.
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„Man muß erst lernen, daß man zurückkommt und etwas Neues findet, das ist der Sinn der Zwiesprache mit den Toten, mit dem, was man verloren hat.“449 Bentham hält es, im Widerspruch zu Isabelles und Jakobs Bemühen, für unmöglich, unberührt zu bleiben: „–[…] Die Vergangenheit findet immer Gegenstände, an denen sie sich ablesen läßt.“450 Seine Erfahrung des Leids und der Umgang mit ihr heben Bentham im Roman hervor. Schon sein Name lenkt die Aufmerksamkeit auf den Philosophen Jeremy Bentham, der – so Derrida – mit „dem Unbestreitbaren, dem, was man nicht abstreiten oder verleugnen, nicht von sich abtun kann“, konfrontiert.451 Für Jeremy Bentham besteht das wichtigste Charakteristikum eines lebendigen Wesens in seiner Passivität, seinem Erleiden, seiner Verletzlichkeit: „[T]he question is not, Can they reason? nor, Can they talk? but, Can they suffer?“452 Leitmotiv seiner utilitaristischen Ethik ist das Ziel der Verringerung von Leid und der Vermehrung von Freude für alle fühlenden Kreaturen. „Benthams Leitdifferenz von ‚pain and pleasure‘ führt ihn dahin, dass alle Wesen, die Schmerzen empfinden können, einen Anspruch auf Berücksichtigung im Glückskalkül haben.“453 Hackers Bentham konzentriert sich auf diese Grundaspekte des Lebens. Er ist achtsam für und affizierbar durch Schönes und Leidvolles. Er plädiert für Genuss und für Erbarmen, das heißt dafür, sein Herz fremder Not zu öffnen. Alistair berichtet über ein Gespräch mit Bentham, nachdem dieser von Folterungen durch britische Soldaten im Irak und Tötungen der Zivilbevölkerung erfahren hat: „Bentham hat sich darüber fürchterlich aufgeregt. Mein Gott, habe ich zu ihm gesagt, wer glaubt schon, daß sie nicht foltern. Die Amerikaner, die Engländer. Aber Bentham war entsetzt, er war niedergeschlagen.“454 Die Nachricht von dieser Ge-
449 Ebd., S. 256. 450 Ebd., S. 254. 451 Derrida, Jacques: Das Tier, welch ein Wort! Können sie leiden? Über die Endlichkeit, die wir mit Tieren teilen. In: Mensch und Tier. Eine paradoxe Beziehung. Begleitbuch zur gleichnamigen Ausstellung. Hg. v. der Stiftung Deutsches Hygiene-Museum. Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz 2002, S. 190-208, hier S. 200. 452 Bentham, Jeremy: An Introduction to the Principles of Morals and Legislation. Hg. v. J. H. Burns und H. L. A. Hart. London: The Athlone Press, University of London 1970, S. 282-283, Fn. 1. 453 Hofmann, Wilhelm: Politik des aufgeklärten Glücks: Jeremy Benthams philosophisch-politisches Denken. Berlin: Akademie Verlag 2002, S. 17, Fn. 17. 454 Hacker: Die Habenichtse, S. 282, 283.
ZWISCHEN A BWEHR
UND
A FFIZIERBARKEIT I 215
walt, „[u]nlawful killings“, wühlt Bentham auf, während Alistair sie aus abgeklärter Distanz betrachtet, Isabelle und Jakob nicht Stellung nehmen.455 Als Folge seiner Affizierbarkeit zeigt der Roman Bentham fähig zu handeln, als er während der Reise mit Jakob nach Berlin von Isabelles Schock erfährt. Während Jakob die Sache zu bagatellisieren versucht, entscheidet Bentham über die Aktionen, die folgen: „–Schicken Sie Alistair, wenn Sie Ihre Frau nicht erreichen! hatte Bentham schließlich ungeduldig verlangt. Sie müssen doch wissen, ob etwas passiert ist. […] Bentham hatte darauf bestanden, daß sie noch am Nachmittag zurückflogen.“456 Affizierbarkeit erscheint als Voraussetzung der aktiven Sorge um Andere. Es verwundert nicht, dass bei Hacker Bentham den Bogen schlägt vom Leiden zum Tun: „–Es kommt nicht darauf an […], bei welchem Namen man es nennt, Charakter, Unvermögen, Schicksal – Begrenztheiten gibt es immer. Nur, was wollen Sie damit, was machen Sie daraus? Es bleibt ja Ihr Leben.“457 Er spricht mit Jakob den Einzelnen in seiner spezifischen Situation an. Damit betont er, wie schon im Zusammenhang mit der Diskussion über Entschädigungen, das Singuläre gegenüber dem Allgemeinen. Er hebt das Einzelne hervor, lenkt den Blick auf bestimmte Fälle, auf ihre Details.458 Eine Aussage im Gespräch mit Jakob unterstreicht diese Achtung des Singulären: „–[…] ich werde Sie mit dem Fazit meiner endlosen Rede wenigstens verschonen. Gibt es wahrscheinlich auch nicht, das Fazit, meine ich.“459 Diese Aussage Benthams lässt sich auch auf den Roman beziehen, ein eindeutiges Fazit ergibt sich aus ihm ebenso wenig wie eine ethische Programmatik. Auch wenn er die Frage ethischer Subjektivität implizit und – mit der Überlegung: „–Man weiß nicht, wie man leben soll“460 – explizit aufwirft, liefert er keine allgemeingültigen Antworten. Erkennbar werden aber Annäherungen an Entwürfe ethischer Subjektivität, Konturen, die in der Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Figuren, ihrem Erleiden und ihrem Handeln, ihrer Einbindung und ihrer Distanz entstehen – Umrisslinien. Hacker problematisiert Distanz als Abwehr von Erfahrung, von eigenem und fremdem Erleiden, als Rückzug auf eine vermeintlich autonome, sichere, unberührbare Position. Ihre Protagonisten, eingebunden in eine Lebenswelt des Leidens, finden keinen Zugang zu ihrem Erleben und dem der Anderen. Ihre Distanz führt sie in die Defensive, sie erweisen sich
455 Ebd., S. 282. 456 Ebd., S. 307, 308. 457 Ebd., S. 259. 458 Vgl. ebd., S. 175, 176, 177. 459 Ebd., S. 257. 460 Ebd., S. 41, 42.
216 I Z USCHAUER DES L EBENS
als hilflos und passiv, als ausgesetzt und bedroht. Insofern erscheinen nicht nur Sara, Dave, Jim und Mae in ihrer Armut und Ausweglosigkeit als Habenichtse, nicht nur Bentham und Andras mit den gewaltsamen Brüchen in der Kontinuität ihrer Leben, vielmehr bezeichnet der Titel des Romans auch die, denen vieles Wünschenswerte zufällt, die aber nichts erfahren. Dagegen werden im negativen Modus Konturen einer ethischen Subjektivität erkennbar, die nicht autonom distanziert, vielmehr heteronom eingebunden ist, nackt, verletzlich und bedürftig. Diese Subjektivität konstituiert sich in der Verbundenheit mit Anderen und im Eingehen auf das, was sie affiziert. Sie gewinnt Gestalt in der Akzeptanz eigener und fremder Verletzlichkeit und Bedürftigkeit, in Achtsamkeit, Zuwendung, Teilnahme, in der Unduldsamkeit angesichts unerträglichen Leidens, in Sorge und Verantwortung. Dabei handelt es sich nicht um eine selbstgewisse oder selbstverleugnende Ethik des Mitleids. Wenn Hacker das Leiden in den Fokus nimmt, geht es nicht um eine Heroisierung des Leidens, auch nicht um einen Rückzug auf das Leiden. Dass maßloses Leid lähmt und jeden Ansatz autonomeren Antwortens zerstört, führt das geschundene Kind, das buchstäblich nicht wächst und auch im übertragenen Sinn nicht wachsen kann, immer vor Augen. Hacker rückt das Leiden als Signatur der Gegenwart und zugleich als Maßstab verantwortungsvollen Handelns in den Mittelpunkt: Ausgehend vom Leiden geht es in ihrer Inszenierung um ein Zulassen von Affektion als Grundlage von Selbstsorge und des Eingehens auf den Appell des Anderen.
„Es geht darum, über Verbindungslinien nachzudenken […].“ – Selbst- und Weltverhältnisse zwischen Rückzug und Widerstand in Ulrich Peltzers Teil der Lösung (2007)
Z EIT -B ILDER Berlin 2003: Bilder der Kontrolle Ulrich Peltzer verortet seinen Zeitroman Teil der Lösung im Berlin des Sommers 2003.1 Der Roman beginnt in den Katakomben des Sicherheitsdienstes unter dem Sony Center auf dem Potsdamer Platz, im „Herzen der Stadt“, das als ein Ort der Kontrolle und Ökonomisierung gezeigt wird.2 Ein Wachmann beobachtet über zahlreiche Monitore den Platz. „Zerteilter Raum – ein großes Puzzle, das sich auf fünf mal fünf Feldern beständig neu figuriert, wechselnde Perspektiven ohne Anfang und Ende, von links oben nach rechts unten in einer computergesteuerten Serie von Brennweiten und Ausschnitten.“ Disparat erscheint das Geschehen durch die Bildausschnitte, deren Auswahl technisch bestimmt wird, leblos durch den fehlenden Ton. Technisch funktioniert auch der beobachtende Mensch: „Man gerät da hinein, eine Art Automatik, die pünktlich mit Dienstbeginn einsetzt, dem 1
Eine Kurzfassung und Ausschnitte dieses Kapitels sind als Aufsatz erschienen: Sander, Julia C.: Rückzug, Entfremdung, Widerstand. Distanz in Ulrich Peltzers Roman Teil der Lösung (2007). In: Schmidt, Nora / Förster, Anna (Hg.): Distanz. Schreibweisen, Entfernungen, Subjektkonstitutionen in der tschechischen und mitteleuropäischen Literatur. Weimar: VDG 2014, S. 213-225.
2
Peltzer: Teil der Lösung, S. 15.
218 I Z USCHAUER DES L EBENS
Öffnen der Tür, wenn der Blick auf die Mattscheiben fällt, die man für den Rest des Tages nicht aus den Augen verliert.“3 Mit „Zooms und Schwenks, um einer Person quer durch das Atrium zu folgen“ wird der Betrachter selbst zur Kamera, sein Gehirn zum „Speicher“.4 Die Technisierung der Abläufe scheint auch in den Arbeitsschritten auf, die wie abgelöst von subjektiven Deutungen und Entscheidungen wirken: „Bestimmte, in Gang zu setzende Maßnahmen, die Abläufe sind bekannt.“5 „Gedanken [sind, d. V.] nicht zu fassen“, „Konzentration“ ist nicht zu finden, „Erfahrung“ reduziert sich auf „[s]ich anhäufendes Wissen“ und „Erkenntnis“ auf meditative Übung.6 Der Wachmann ist Teil des Beobachterapparats wie die Rechner, deren grüne Dioden „wie brennende Augen aus dem Schatten hervortreten“, und die Kameras, „Roboter in vollautomatisierten Fabriken“.7 Der Roman setzt also ein mit einer Zuschauerperspektive, in die der Leser mit hineingenommen wird. Der Blick auf die medial vermittelte Lebenswelt zielt auf lückenlose Dokumentation, die Kontrollfunktion der Bilder schafft eine beklemmende Verknüpfung von Distanz und Nähe: Die Kamera hält das Geschehen auf Abstand, ermöglicht aber zugleich die Nahaufnahme, eine Distanzlosigkeit, die keinerlei Privatheit respektiert. Diese Distanz als ein Überblick, der alles erfasst, ohne Deutungsspielräume, „einen blinden Fleck […], Raum für Spekulation“ zu lassen, wirkt unheimlich durch die Bezugslosigkeit der Zuschauerperspektive, die zugleich alle Vorgänge und Personen einbindet in anonym kontrollierte Prozesse.8 Bildschirm Nummer 25 zeigt in einer Totalen von oben die Touristen und Bürger der Stadt als Marionetten auf den Bildschirmen der Überwachungskameras, als Konsumenten, die sich durch „ein animiertes Puppenhaus“ bewegen, „müde Blicke in Reiseführer und Hochglanzprospekte aus der Volkswagen Youth.lounge werfen, durch die Sucher ihrer Kameras schauen, telefonieren.“9 Auch sie werden als Zuschauer inszeniert, die ihre Umwelt weitgehend medial vermittelt wahrnehmen. Das Auftreten von „drei, vier junge[n] Frauen in identischen Hosenanzügen“ ergänzt die Assoziation des Puppenhaften und verschiebt die Vorstellung des Identitären vom Menschen auf die Oberfläche des Kleidungsstücks.10 Anstelle individueller Einzelner erscheinen ein „Pulk Touristen“, „eine halbe Busladung“,
3
Ebd., S. 9.
4
Ebd., S. 9, 10.
5
Ebd., S. 11.
6
Ebd., S. 9.
7
Ebd., S. 7, 18.
8
Ebd., S. 10.
9
Ebd., S. 10, 7.
10
Ebd., S. 8.
ZWISCHEN R ÜCKZUG
UND
W IDERSTAND I 219
eine Gruppe „Schaulustige[r]“, „Menschenknäuel“. In konsumistischer Passivität richten sie sich dahin, wo etwas zu passieren scheint, als „Schaulustige“ und „Neugierige“ in einem „ziellosen Treiben von da nach dort und zurück, von nichts angezogen und von allem zugleich.“11 Ihre Erwartung richtet sich auf ein Ereignis, auf einen Riss in der Geschlossenheit dieser Lebenswelt, den sie, über die Bilder ihrer Speichermedien vermittelt, zu erkennen hoffen. „[…] Stoptrick und Zeitlupe, auf der Suche nach einem bezwingenden Moment, in dem sich Einzigartiges offenbart.“12 Als einen solchen „Riss“ bezeichnet der Erzähler, der im Prolog hinter den beschriebenen Bildern und Vorgängen verschwindet, den Fall der Mauer, der in seiner medial vermittelten Wirkung als Medienereignis evoziert wird, „dieser Blitzschlag, vom Fernsehen millionenfach in die Welt gesendete Tränen. Eine kosmische Implosion, durch die hier Gegenwart wieder hereinbrach. Visionen von Zukunft, das Neue, ein Traum.“13 Der Eindruck des Realen, des Ereignisses als etwas Neuem, Veränderndem, das die Strukturen des Bestehenden aufbricht, das affiziert, das Leben spüren lässt, scheint unverfügbar. Selbst das Geschehen auf den Bildern der Überwachungskameras wirkt, wie es aus der Perspektive des Wachmannes heißt, „[n]icht ganz real“.14 Das Ereignis reduziert sich auf Werbeaktionen: Erwartungshaltung, Schaulust entstehen angesichts eines verhüllten Autos. Eine „magische Ausstrahlungskraft“ wohnt technischen Neuheiten inne, die in Vitrinen quasi-museal präsentiert werden.15 An die Stelle des Realen treten Inszenierung – auf die eine überlebensgroße Spiderman-Figur „an der Front des Multiplexkinos“ ebenso verweist wie die Bezeichnung der Dachkonstruktion als „gewaltiges Zirkuszelt“ – und Oberfläche, das „weiße[…] Segeltuch über dem Rund der Gebäude“, die „gläsernen Fassaden des Atriums, Neonschriften“, das Flackern der „bunte[n] Scheinwerfer über eine glänzende Plane“.16 Auf den Bildschirmen erscheinen auch die Menschen als Oberflächen, die sich übereinander schieben, sie „kreuzen durchs Bild und verdecken sie [andere Menschen, d. V.] einen Moment lang, Körper und Gesten.“17 Die Bilder sind flach, „als würde es nur um den Vordergrund gehen.“18 Die architektonische Oberfläche des Potsdamer Platzes, „ein prunkendes, in Rekordzeit aus dem Boden gestampftes Viertel“,
11
Ebd., S. 8, 15.
12
Ebd., S. 17.
13
Ebd., S. 14.
14
Ebd., S. 10.
15
Ebd., S. 8.
16
Ebd., S. 8, 7.
17
Ebd., S. 7.
18
Ebd., S. 10.
220 I Z USCHAUER DES L EBENS
dessen Statik eine Kühnheit genannt wird, und die Warenwelt werden ins Gigantische und Religiöse überhöht. In greller Hyperbolik heißt das Geschäft „Megastore“, „tausendfach“ spiegelt sich das Licht in den Fassaden, reichen „Büros über Büros in den Etagen bis zum Himmel.“19 Das Luxushotel als „Zikkurat[]“, als Himmelshügel oder Götterberg, weckt die Assoziation der Hybris eines Turmbaus zu Babel, an die Stelle einer göttlichen Instanz scheint die Warenwelt getreten zu sein.20 Der Sicherheitsdienst zielt auf ruhige Normalität, „Standard auf sämtlichen Schirmen, keine Hektik und keine irreguläre Geschwindigkeit“, und auf die Verhinderung von „Schrecknisse[n]“: Bettlern, Obdachlosen, Betrunkenen, pöbelnden Jugendlichen, fliegenden Händlern und Dieben, einem „in Europa zerstreute[n] Heer, mit dessen stammesartiger Verstohlenheit man zu rechnen hat, zu jeder Zeit und an jedem Ort“, soll der Zugang verwehrt bleiben.21 Die Exklusivität innerstädtischer Privaträume wird durch die Erwähnung des Kaisersaals im früheren Hotel Esplanade, der mit großem Aufwand in das neue Sony Center integriert wurde, in eine historische Kontinuität seit dem frühen 20. Jahrhundert gestellt. Mit Regelungen und festgesetzten Abläufen hält der Sicherheitsdienst in Kooperation mit der Polizei „die Lage unter Kontrolle“.22 Denen, die den ruhigen „Standard“ auf dem Gelände stören, wird begegnet mit der Frage „nach einer Genehmigung“, dem „Verweis auf die Hausordnung“, der „manchmal mit etwas Handgreiflichkeit ausgesprochenen Bitte, das Gelände zu verlassen“, selten mit einer „Ladung Pfefferspray“.23 Diese Kontrolle erscheint als anonym und abstrakt, auch die unterwerfend, die sie ausführen, die Teil sind eines „sich abspulende[n] Programm[s], das trainiert worden ist“.24 Mit dem Anspruch, sich „im Griff“ zu haben, den der Wachmann formuliert, wird sie zudem losgelöst von einer äußeren machtvollen Repräsentation und in den Einzelnen hineinverlegt.25 Eingeschlossen sind die Menschen auch in Architektur und Warenwelt, „umschlossen von den gläsernen Fassaden des Atriums, Neonschriften, einem gedämpft federnden Hall aus Gesprächsfetzen, leiser Musik, Informationen.“26 Es scheint kein Entkommen zu geben aus dieser Oberflächenwelt, deren anonyme Prozesse alles und jeden erfassen und zu der doch kein Bezug gelingt.
19
Ebd., S. 15, 8, 20.
20
Ebd., S. 20.
21
Ebd., S. 9, 8, 13.
22
Ebd., S. 17.
23
Ebd., S. 9, 13, 14.
24
Ebd., S. 13.
25
Ebd., S. 12.
26
Ebd., S. 8.
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UND
W IDERSTAND I 221
Allerdings klingt mit dem Gefühl, „unter freiem Himmel zu sein, im gleißenden Licht eines Junitages, das keine einzige Wolke trübt“, welches „erst auf der weiten Fläche des Potsdamer Platzes oder am anderen Ende, bei der Staatsbibliothek“ zu haben ist, ein Außen an.27 Dieses Außen wird als Andeutung von subversivem Eigensinn, einer Widerständigkeit, die sich der totalen Einbindung entzieht, in einzelnen Szenen erkennbar, die der Beobachtende bezeichnenderweise heranzoomt. Charakteristisch ist die Abweichung von der Normalität, die Verortung der Szenen jenseits des Mittleren: Das Paar, das sich küsst, ist ein „älteres“, das tanzende Mädchen mit der ulkigen Brille ist noch klein ebenso zwei planschende Jungen, die sich nass spritzen, ein Hund eignet sich mit seiner Bewegung den Raum an: „Ein Bobtail zieht sein Herrchen an der straffgespannten Leine vorwärts, verschwindet mit ihm aus dem Bild und taucht in einem anderen in der Reihe darüber wieder auf, noch in derselben Bewegung begriffen.“28 Das Café Josty evoziert mit Paul Boldts Gedicht Auf der Terrasse des Café Josty die literarisch-avantgardistische Reflexion der Moderne: die expressionistischen Bilder der explodierenden Großstadt Berlin zu Beginn des 20. Jahrhunderts, den „Potsdamer Platz in ewigem Gebrüll“, die Funktionalisierung und Auflösung des Individuums in Hektik und Menschenmassen. „Automobile und […] Menschenmüll. / Die Menschen rinnen über den Asphalt, / Ameisenemsig, wie Eidechsen flink.“29 Elektrisierend wirkt die spielerische Protestaktion einer Gruppe junger Leute. Zwei Frauen haben sich als Ballerinas verkleidet, ein Mann tritt auf als Clown mit großen Gummihänden, ein anderer gibt den Zirkusdirektor mit Hut, mit den Bewegungen einer Comicfigur und stellt sich vor als Robert Bresson, den französischen Filmkünstler. Durch die Verweise auf Film, Tanz und Comic bindet Peltzer die Künste als widerständige Kräfte ein in die subversive Aktion. Die „Aufklärungsarbeit“ der Gruppe zielt auf ein kritisches Bewusstsein angesichts der Überwachung im privatisierten öffentlichen Raum, das die jungen Leute durch Nachrichten auf Pappschildern wie „Ihr seid im Blick“ zu wecken versuchen: „Vorne liest man: Schutz für jeden und hinten: Danke-danke-danke, Zeile für Zeile umrahmt von Augen, die mit einem dicken Pinsel gemalt sind.“30 Auch die Tafel „Danke für die Gnade“ wirft mit ironischer Emphase die kritische Frage auf, ob es in erster Linie um den Schutz oder die Kontrolle der Bürger gehe. Eine Anbetungsgeste parodiert die Anpassungshaltung als freiwillige Unterwerfung:
27
Ebd., S. 15.
28
Ebd., S. 9; vgl. S. 7.
29
Boldt, Paul: Auf der Terrasse des Café Josty. In: Gedichte des Expressionismus. Arbeitstexte für den Unterricht. Hg. v. Peter Bekes. Stuttgart: Reclam 1991, S. 27.
30
Peltzer: Teil der Lösung, S. 19, 12.
222 I Z USCHAUER DES L EBENS
„[S]chließlich sinken die drei auf ihre Knie, falten wie zum Beten ihre Hände und verneigen sich mehrfach, bevor sie alle den rechten Arm ausstrecken und hochdeuten, direkt in den Monitor hinein.“31 Die Tafeln „Alles nur ein Spiel!“ und „Ist die Welt nicht schön?“ kritisieren in ihrer vordergründigen Zustimmung einen naiven, konsumistischen Umgang mit der Lebenswelt und lassen sich darüber hinaus als Kritik eines Postmoderneverständnisses lesen, das das Ende der großen Erzählungen und die Inkommensurabilität unterschiedlicher Sprachspiele verwechselt mit einem sorglosen Anything goes, einer indifferenten Zuschauerrolle. Dagegen zeigen andere Schilder weitere Ansatzpunkte der Kritik, „große Eurozeichen“, „Zielscheiben, in deren Mitte Armut steht“ rücken Ökonomisierungsprozesse und ungerechte wirtschaftliche Verhältnisse in den Fokus.32 Der Demokratiebegriff, mit dem die Gruppe sich abschließend an ihr Publikum wendet, trägt einen sarkastischen Akzent: „‚Und deshalb, meine Damen und Herren‘, sagt der Clown, ‚sehen Sie sich ohne Hemmungen um, unter der Kamera sind wir alle gleich.‘ ‚Gleich‘, pflichtet ihm der Melonenmann bei, ‚das ist Demokratie.‘“33 Demokratie wird, entleert von jeglicher Partizipation, auf die Freiheit des Zuschauens und die Gleichheit des Überwachtseins reduziert. Ordnungsdienst und Polizei beenden den Einbruch von kritischer Widerständigkeit in die kontrollierte Normalität, die Mehrheit der Zuschauenden strebt neuen Attraktionen zu. Doch suchen einige Touristen mit spielerischer Freude nach den Kameras, die auf Flyern eingezeichnet sind, „als seien sie auf einer Schnitzeljagd durch das Center. Als hätten sie nur darauf gewartet, dass etwas passiert, was sie aus ihrer touristischen Routine herausreißt. […] Es gibt sogar welche, die filmen die Kameras“.34 Ansätze einer subversiven Umwertung der Kameras, die den kontrollierenden Zugriff auf den öffentlichen Raum in Frage stellt, finden sich auch bei einer Schulklasse: „[…] Jugendliche, halbe Kinder, von der Langeweile eines Klassenausflugs befreit, schneiden Fratzen in ein Objektiv hinein, posieren wie Models, nehmen sich gegenseitig auf die Schultern. Zeigen ihre Muskeln und wackeln mit den Hüften in einem imaginären Castingwettbewerb.“35 Provokation und Eigensinn der Kinder entfremden die Kameras ihrem Zweck, das aber, was sie vor der Kamera präsentieren, zitiert affirmativ Castingshows, die in Wettbewerben menschliche Oberflächen zur Schau stellen. Selbst in ihrer Geste der Widersetzlichkeit bleiben die
31
Ebd., S. 12.
32
Ebd.
33
Ebd., S. 17.
34
Ebd., S. 18.
35
Ebd., S. 20, 21.
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Kinder eingebunden in die Strukturen der Konsum- und Warenwelt, die sie reproduzieren. Italien 1978: Bilder des Aufruhrs Den distanzierten Bildern der Kontrolle und ausweglos erscheinenden Einbindung in vorgegebene Strukturen stellt Peltzer Bilder des Aufruhrs entgegen und verklammert damit zwei Zeitebenen: Christian Eich, der Protagonist des Romans, zeigt seinem Freund Jakob Schüssler ein Video, das ausgehend von der Ermordung des italienischen Ministerpräsidenten Aldo Moro durch die Roten Brigaden im Jahr 1978 die Geschichte des politischen Protests der 1970er Jahre in Italien aufrollt. Er verweist auf den historischen Hintergrund, die Anbahnung einer gemeinsamen Regierung aus Christdemokraten und Kommunisten, um den Zusammenbruch der italienischen Demokratie zu verhindern, bekannt als „historischer Kompromiss“, dessen „[w]ichtigster Befürworter“ Aldo Moro gewesen sei.36 Mit dem Rückblick auf dessen Ermordung greift Peltzer einen Fall auf, der zu den meistdiskutierten politischen Morden des 20. Jahrhunderts gehört und mit dessen Hintergründen sich bis heute Untersuchungskommissionen beschäftigen. Obwohl die Roten Brigaden unter der Führung Mario Moretis sich zu dem Mord bekannt haben, sind offene Fragen zum Tathintergrund und Spekulationen geblieben. Mehrere fiktionale und dokumentarische Filme haben den Mord zum Thema gemacht.37 Peltzer lässt seinen Protagonisten „Gerüchte“ aufgreifen, „die sich um die Hintermänner der Moro-Entführung drehen“ und eine Verschwörung gegen die politische Linke andeuten, wenn er von dem „Widerstand gegen die geplante Koalition, die Idee, dass Kommunisten plötzlich mitregieren sollen“, berichtet: „USA dagegen, Nato dagegen, die Ultrakonservativen in Italien sowieso.“38 Von der Ermordung Moros im Jahr 1978 geht der Film, den Christian und Jakob ansehen, zurück in die frühen 1970er Jahre und zeigt ein Italien in Aufruhr. „Man erkennt ein Werkstor, das von Arbeitern bewacht wird, am Gitterzaun um das Geländer hängen Flugblätter, beschriftete Bettlaken, Blumensträuße, dann folgen Schlägereien
36 37
Ebd., S. 28. U. a. Guiseppe Ferrara: Il caso Moro (1986); Renzo Martinelli: Piazza delle cinque lune (2003); Marco Bellocchio: Buongiorno, notte (2003); Emmanuel Amara: Les derniers jours d’Aldo Moro (2006).
38
Peltzer: Teil der Lösung, S. 36, 28.
224 I Z USCHAUER DES L EBENS und Diskussionen, völlig verrauchte und überfüllte Räume, ihre Fäuste ballende Männer und Frauen […].“39
Politische Ideologien bestimmen die Auseinandersetzung, „Graffiti an den Wänden, Hammer und Sichel, Parolen.“ Auslöser sei das Bombenattentat auf eine Bank gewesen, der Anschlag einer rechtsradikalen Gruppe, für den Anarchisten verantwortlich gemacht wurden. Die Bilder des Films zeigen eine Massenbewegung, „Tausende […] Demonstranten“, „Massen, die sich durch die Straßen bewegen“.40 Es ist vor allem diese „Dimension“, die Christian interessiert, der Gedanke, dass Menschen massenhaft versucht haben, sich zu organisieren, um in „legalen Gruppen“ oder in der „Klandestinität“, auch gewalttätig, gegen herrschende Verhältnisse vorzugehen. „[…] Es gab einen Aufnahmestopp bei den Roten Brigaden, weil zu viele Bewerber. Ein organisatorisches Problem, von dem andere Gruppen profitierten, die Konkurrenz auf dem Markt Bewaffneter Umsturz. Durchaus blühender Markt Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre. Wir haben es hier mit Hunderten von Leuten zu tun und fließenden Grenzen zwischen normalem Leben und illegaler Aktion. […].“41
Der Film zeigt den Übergang der Massendemonstrationen in Szenerien des Straßenkampfes: „Passanten in Panik, Gerenne und Gestikulieren. […] Steine und Tränengas, Polizisten mit Maschinenpistolen und schusssicheren Westen kontrollieren eine lange Reihe Autos, Verhaftete, die ihre Hände im Nacken haben“.42 Gewalt prägt die Lebenswelt, Revolutions- und Bürgerkriegsgefahr, Mord und Attentate, „Entsetzen“, „zerfetzte Körper“, „Blutspuren“, Gewalt spiegelt sich wieder in den Namen der kämpfenden Gruppen, „[m]artialische[n] Abkürzungen“.43 Mit Gewalt agiert auch der Staat; auf die Demonstranten warten „mit Schutzschildern und Schlagstöcken ausgerüstete Polizeitruppen“.44 Christian ergänzt die Darstellung des Films durch Bilder eines Prozesses gegen Gründungsmitglieder der Roten Brigaden im Juni 1976 im Justizpalast Turin, auf die er im Internet gestoßen ist. Die Institutionen Militär und Justiz, ausgestattet mit Insignien der Macht und
39
Ebd., S. 27.
40
Ebd.
41
Ebd., S. 31.
42
Ebd., S. 24, 25.
43
Ebd., S. 26, 27, 31.
44
Ebd., S. 27.
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Mitteln der Disziplinierung und Repression, stehen zusammen im Kampf gegen den Aufruhr. „Soldaten bewachen das mächtige Portal eines Renaissance-Palastes, davor vergitterte Mannschaftswagen, zwischen denen Männer in schwarzen Roben zu sehen sind […]. Angeklagte in einem geräumigen Käfig, den man in den altehrwürdigen Gerichtssaal hineingebaut hat.“45
Die Lebenswelten, die Peltzer zu Beginn seines Romans inszeniert und einander gegenüberstellt, stehen in einem scharfen Kontrast zueinander und zeigen in ihren Charakteristika deutliche Bezüge zu Michel Foucaults Analyse der Disziplinargesellschaft und zum Konzept der Kontrollgesellschaft, wie es Gilles Deleuze als Ablösung der Disziplinargesellschaft entwickelt. In Disziplinargesellschaften, so referiert Deleuze Foucaults Gedanken in seinem Aufsatz Postscriptum über die Kontrollgesellschaften aus dem Jahr 1990, verwalten große Einschließungsmilieus – Schule, Fabrik, Gefängnis –, wie sie die Darstellung der italienischen 1970er Jahre bei Peltzer prägen, das Leben, sie bringen Subjektivität als unterworfen und normiert hervor.46 Der Kampf gegen Einschließungsmilieus und Disziplinierungen bestimme in Disziplinargesellschaften den Widerstand.47 In Peltzers Berliner Gegenwart werden politische Parolen nur mehr ironisch zitiert: „Sich in den Kampf stürzen als Slogan für eine Fitness-Studiokette, absolute Bedeutungsverschiebungen vom Pathos des politischen Inhalts zur augenzwinkernden Ironie eines Werbebanners.“48 Die Lebenswelt des Jahres 2003, gekennzeichnet durch die Allgegenwart einer anonym erscheinenden Kontrolle, scheint über neue Mechanismen der Disziplinierung zu verfügen. Deleuze beschreibt mit Bezug auf Paul Virilio das Neue der Kontrollgesellschaften als „die ultra-schnellen Kontrollformen mit freiheitlichem Aussehen, die die alten – noch innerhalb der Dauer eines geschlossenen Systems operierenden – Disziplinierungen ersetzen.“49 Er diagnostiziert den „Aufbau einer neuen Herrschaftsform“, die nicht nur das „Regime, in
45 46
Ebd., S. 132, 133. Vgl. Deleuze, Gilles: Postskriptum über die Kontrollgesellschaften. In: Ders.: Unterhandlungen 1972-1990. Aus dem Franz. v. Gustav Roßler. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993, S. 254-262, hier S. 254; vgl. Krause, Ralf / Rölli, Marc: Mikropolitik: eine Einführung in die politische Philosophie von Gilles Deleuze und Félix Guattari. Wien u.a.: Turia + Kant 2010, S. 79, 80, 123.
47
Vgl. Deleuze: Postskriptum über die Kontrollgesellschaften, S. 258, 262.
48
Peltzer: Teil der Lösung, S. 350.
49
Deleuze: Postscriptum über die Kontrollgesellschaften, S. 255.
226 I Z USCHAUER DES L EBENS
dem wir leben [verändert, d. V.], sondern auch in unserer Lebensweise und unseren Beziehungen zu anderen“ wirkt.50 Mittels flexibler Mechanismen würden die Einzelnen in den Kontrollgesellschaften fortwährend moduliert.51 Angesichts dieser umfassenden Prägung, deren Kontrollfunktion subtiler wirke als eine offen autoritäre Disziplinierung, sieht Deleuze die gesellschaftliche Notwendigkeit, neue Formen des Widerstands zu entwickeln: „Weder zur Furcht noch zur Hoffnung besteht Grund, sondern nur dazu, neue Waffen zu suchen.“52 Auf dem Hintergrund dieser theoretischen Entwürfe werden die unterschiedlichen Lebenswelten, die der Roman einleitend in Bezug setzt, als ein Spannungsgefüge deutlich. Peltzer situiert seine Protagonisten in diesem Spannungsfeld gewaltsamen Aufruhrs und kontrollierter Normalität und spürt Selbst- und Weltverhältnissen zwischen Rückzug und Widerstand nach.
S UCHBEWEGUNGEN Christians Verweigerung: Rückzug und Recherche Der 36jährige Literaturwissenschaftler Christian Eich steht seiner Lebenswelt distanziert gegenüber. Er lebt weitgehend bindungslos, ohne Kontakt zu seiner Familie, ohne Partnerschaft. Als freier Journalist verfolgt er Projekte und nimmt wechselnde Jobs an. Ein Romanprojekt verfolgt er seit längerem, ohne ernsthaft an Verlag und Veröffentlichung zu denken. Ein festes Zuhause hat er nicht, gegen eine symbolische Miete lebt er in der unrenovierten Wohnung seiner Exfreundin in Prenzlauer Berg in Berlin, seine wenigen Möbel lagern im Keller seiner Freunde: „[…] eine Ikea-Kommode in Einzelteilen, Metallregale aus dem Bauhaus, und ihn schauderte bei dem Gedanken, die Sachen wieder hervorholen zu müssen, als seien sie Ballast, den er endlich losgeworden war.“53 Christians Distanz wohnt ein autonomes Moment inne, der Versuch, sich Strukturen der Vereinnahmung zu verweigern und sich auf die Position des kritischen Beobachters zurückzuziehen. „Sich zu entziehen, war Programm und Verpflichtung, nichts und niemandem Macht über sich zu gestatten.“54 Skeptisch hält er Abstand zu bürger-
50
Ebd., S. 258.
51
Vgl. Krause / Rölli: Mikropolitik, S. 123.
52
Vgl. Deleuze: Postscriptum über die Kontrollgesellschaften, S. 256.
53
Peltzer: Teil der Lösung, S. 140.
54
Ebd., S. 206.
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lichen Lebensentwürfen, wie zum Beispiel dem Familienleben und der Unikarriere seines Jugendfreundes Jakob, wobei er vor allem feste Strukturen und Sicherheiten ablehnt. Am „üblichen Beziehungsprogramm“ stört ihn das Einheitliche und fest Gefügte, „Vorstellungen, die man zum Leben zu erwecken versucht, den Satz, den sie beginnt, führt er zu Ende. Als Beweis einer Behauptung, an der sowieso niemand Zweifel hatte.“55 Auf das Angebot eines Kredits, der vor Arbeitslosigkeit und -unfähigkeit schützen soll, reagiert er mit Sarkasmus: „Bitte frisches Geld überweisen, Kontonummer ha’m Sie ja. […] Arbeitslosigkeit, die mit bleicher Faust ans Dachgebälk des Eigenheims klopft, vor dem der nicht bezahlte Kombi parkt. Wir sind das Volk. Lauter Volkers.“56 Den Slogan der DDR-Protestbewegung löst Christian aus seinem politischen Zusammenhang ebenso wie die Akteure der Bewegung – Volker, althochdeutsch Volkskämpfer –, er verbindet ihn mit wachsenden Konsumansprüchen trotz prekärer Arbeitsverhältnisse und Finanzierungsproblemen. Seine eigenen Tätigkeiten verortet Christian nicht im Kontext einer Institution ebenso wenig wie er sie als etwas betrachtet, wozu ihn sein Studienabschluss befähigt, „mit dem er nichts anfangen konnte. Oder wollte […], nichts alberner als ein M. A. auf der Visitenkarte hinter dem eigenen Namen.“57 Die Universität ist für ihn Teil eines umfassenden kapitalistischen Zusammenhangs, in den er auch Banken, Unternehmen, Regierung und Verwaltung einschließt.58 Die Maschinenpistolen, mittels derer der Bundesgrenzschutz das Auswärtige Amt schützt, bezeichnet er als „[h]andliche deutsche Wertarbeit“ und verweist damit auf Waffenexporte deutscher Unternehmen.59 Angesichts zahlreicher Dienstwagen der Marke Audi vor dem Auswärtigen Amt assoziiert er weitreichende Verwicklungen von Unternehmen und Politik: „Was findet hier statt, eine Konferenz, die von der Automarke gesponsert wird? Catering vom KaDeWe und Prostituierte vom Escort Service Government, Rabatt bei Abnahme größerer Mengen?“60 Sein ganzer Zynismus gilt den Banken.
55
Ebd., S. 123.
56
Ebd., S. 220.
57
Ebd., S. 85.
58
Vgl. ebd. Es lässt sich eine Parallele ziehen zu Deleuzes Beschreibung der Universität in den Kontrollgesellschaften: „die Preisgabe jeglicher Forschung an der Universität, die Einführung des ‚Unternehmens‘ auf allen Ebenen des Bildungs- und Ausbildungswesens“ (Prostscriptum über die Kontrollgesellschaften, S. 261).
59
Peltzer: Teil der Lösung, S. 83.
60
Ebd., S. 84.
228 I Z USCHAUER DES L EBENS „Hast du bei denen Millionenschulden, wirst du zur Privataudienz empfangen, Bedenkenträger unter sich, die aus tiefer Sorge um die Arbeitsplätze nach einer Lösung für die bedauerliche Schieflage suchen. Polo Kombi statt Mercedes, ein erster Schritt aus der Krise.“61
Mit sarkastischer Distanz betrachtet Christian die Ökonomisierung des Alltagslebens in der Großstadt. Das kommerzielle Treiben auf der Kastanienallee stößt ihn ab, „ein Weltfragment aus Latte macchiato und kambodschanischen Reisgerichten, Essen vor Spiegelwänden, in denen sich einsame Gesichter beim geübten Hantieren mit den Plastikstäbchen zuguckten. Bin ich das? Wahrscheinlich, keine Ahnung.“62 Er registriert das Zugleich von Vereinzelung und Entindividualisierung ebenso kritisch wie die Veränderungen städtischen Wohnens im Zuge der Gentrifizierung. Über ihm lebt „ein uraltes Rentnerpaar, das sie noch nicht vertrieben hatten“, das Hinterhaus hingegen ist bereits „entmietet[]“.63 Neben der Ökonomisierung aller Lebensbereiche, die Christian auch im Bereich der Kultur und im Kunstbetrieb wahrnimmt, sind die Überwachung und Absicherung der Städte das zweite zentrale Thema seiner kritischen Beobachtung. „[E]ines Tages wird man auch in Städte nur noch reingelassen, wenn man vorher geröntgt worden ist, Achtung, da ist ein komischer Schatten auf dem Monitor: Herzschrittmacher oder Zeitzünder?“64 Der Gedanke evoziert Felix Guattaris Vorstellung abgeriegelter Innenstädte in den Kontrollgesellschaften, die Deleuze in seinem Aufsatz beschreibt: „Félix Guattari malte sich eine Stadt aus, in der jeder seine Wohnung, seine Straße, sein Viertel dank seiner elektronischen (dividuellen) Karte verlassen kann, durch die diese oder jene Schranke sich öffnet; aber die Karte könnte auch an einem bestimmten Tag oder für bestimmte Stunden ungültig sein; was zählt, ist nicht die Barriere, sondern der Computer, der die - erlaubte oder unerlaubte - Position jedes einzelnen erfaßt und eine universelle Modulation durchführt.“65
Einer Kontrolle, die sich dem menschlichen Einfluss zu entziehen beginnt, entsprechen auch Christians wiederholte Assoziationen einer Science-Fiction-Welt: Polizisten in ihrer Ausrüstung – „Schulterpolster und Beinschienen, glänzende Brustpanzer“ – vergleicht er mit Insekten, deren Vorgehen außerhalb der irdischen
61
Ebd., S. 167.
62
Ebd., S. 248.
63
Ebd., S. 51, 141.
64
Ebd., S. 83.
65
Deleuze: Postscriptum über die Kontrollgesellschaften, S. 261.
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Lebenswelt programmiert wird: „Chitinwesen, die hier regungslos stehen, weil es ihnen der Space Commander befohlen hat.“66 Er selbst – so situiert ihn der Text in seiner personalen Erzählhaltung – steht dieser als gänzlich technisiert, kontrolliert und ökonomisiert wahrgenommenen Lebenswelt in der Haltung des distanzierten Zuschauers gegenüber. Seine Position des kritisch-sarkastischen Beobachters wirkt allerdings nur teilweise frei gewählt, denn Christian empfindet, „[d]ass die Welt ein Fremdkörper sein kann“, fühlt sich, „als sei man aus der Welt gefallen.“67 Im Bild einer ohne ihn gedachten Aufführung kommt sein Eindruck der Fremdheit in einer unauthentischen Lebenswelt zum Ausdruck: „Christian kam sich deplaziert vor, am falschen Ort zur falschen Zeit, als sei er in ein Stück geraten, dessen Text ihm nicht mehr einfiel, in Kulissen, die für eine Aufführung ohne ihn gedacht waren.“68 Er selbst beschreibt sich als orientierungslos: „‚Ein bisschen verpeilt‘ […]. ‚Als hätten sie überall die Straßenschilder vertauscht. Man weiß im Prinzip, wo man ist, aber es heißt plötzlich anders.‘“ Er fühlt sich als desorientierter Herumtreiber, der nicht vorankommt: „[…] Ich dreh mich im Kreis, renn vor die Wand […].“69 Auf der Geburtstagsfeier seines besten Freundes wirkt er einsam: „Man stand in Grüppchen zusammen, zu zweit, zu dritt, redete, trank, nur Christian blieb allein auf der Couch sitzen. Keine Lust, dachte er, als es ihm auffiel, wusste nicht, was er denen zu sagen gehabt hätte. Und niemand schien etwas von ihm zu wollen, niemand, der auf die Idee gekommen wäre, ihm Gesellschaft zu leisten.“70
In Christians Verweigerungshaltung zeigt sich auch der Versuch, seine Angst abzuwehren – „[u]m nicht Sklave der eigenen Angst zu werden wie der Rest der Menschheit.“71 Seine Distanz gewinnt hier eine heteronomere Konnotation wie auch in seiner immer prekäreren Position des Ausgeschlossenen, in die ihn sein Geldmangel manövriert. Diese heteronome Distanz geht einher mit der Verstrickung in seine Lebenswelt, die vor allem im Finanziellen unabweisbar wird. Eingehende Zahlungen auf sein überzogenes Konto werden zum Ausgleich verwendet, so will es der Bankberater.72 Wegen einer herausgebrochenen Krone kann er
66
Peltzer: Teil der Lösung, S. 156.
67
Ebd., S. 34, 135.
68
Ebd., S. 48.
69
Ebd., S. 169.
70
Ebd., S. 172.
71
Ebd., S. 206.
72
Vgl. ebd., S. 167.
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nicht zum Zahnarzt gehen, seit Jahren ist er nicht mehr krankenversichert. Obwohl er sein Büro als „das Wesentliche“ bezeichnet, kann er die Miete nicht aufbringen, was zu ernsthaften Spannungen mit seinem Kollegen David führt, der wenig Verständnis für Christians „Durststrecke“ zeigt.73 In seinem Vergleich mit einer Prostituierten - „Sich in Zukunft wie eine Nutte bar bezahlen zu lassen“ – wird eine Außenseiterposition in ihrem Zugleich von Distanz und Verstrickung deutlich.74 Dies betrifft auch die Tatsache, dass er sich gezwungen sieht, Jobangebote wie „eine Tourismus-Broschüre über die Uckermark“ und die Mitarbeit an „Lucias Gastroführer“ anzunehmen, die er innerlich missbilligt, weil sie ihn in die abgelehnten Strukturen von Konsum und Ökonomisierung einbinden und seinem Selbstbild eines unabhängig denkenden und schreibenden Autors widersprechen: „Standesehre im Härtetest“, ein schlechtes Gewissen.75 Ausgegrenzt und zugleich verstrickt erscheint Christian auch durch seinen sozialen Hintergrund. Er ist in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen, sein Blick auf „eine Weddinger Großsiedlung im Stil der späten sechziger Jahre, sozialer Bunkerbau um Parkplätze herum“, weckt „nicht die heitersten Erinnerungen. An unangemeldete Besuche einer Fürsorgerin, die allein der Einschüchterung dienten, an nächtlichen Streit der Mutter mit den Nachbarn, die lautstark ihre Stütze versoffen.“76 Christian hält diese Erfahrungen auf Distanz, wenn er in seinen Erinnerungen von sich und seiner Familie spricht als „[e]in Mann, eine Frau, ein Kind.“77 Trotzdem rücken sie ihm nah: Als „[d]as alte Lied“ bezeichnet er eine Situation, die sich in seinen Träumen wiederholt: „Ein Mann, der sich irgendwie an einer Balkonbrüstung hochzuziehen versucht, ein Junge stemmt sich gegen die Tür, die Mutter ist bei der Arbeit.“78 Das Suchtproblem des Vaters – Christian erwähnt den Begriff „Co-Abhängigkeit“ –, die Verstrickung und Hilflosigkeit, die er und seine Mutter erlitten haben, wirken in ihm nach.79 Wiederholt wirft er die Frage auf, ob seine familiäre Geschichte Ursache seiner Bindungslosigkeit ist. Die Gründe für das Scheitern einer Liebesbeziehung vermutet Christian in seiner frühen Kindheit: „Als hätte man es einem bereits in der Wiege ausgetrieben.“80 Angesichts des Familienlebens seines Freundes Jakob fragt er sich, wie dem Einzelnen ein solches Leben zukomme – eine
73
Ebd., S. 63, 222.
74
Ebd., S. 109.
75
Ebd., S. 47; vgl. S. 278.
76
Ebd., S. 130.
77
Ebd., S. 444.
78
Ebd., S. 246.
79
Ebd., S. 444.
80
Ebd., S. 304.
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Frage, in der bei aller kritischen Distanz Bedauern und Sehnsucht durchklingen: „Ob man zu so einem Leben geboren wird? Es Vorsehung ist?“81 In vorgegebene Muster eingebunden fühlt sich Christian auch in seinen persönlichen Beziehungen. Er hat „Affären“, die er neben seinen Schulden als Teil des immer Gleichen sieht, aus dem es kein Entrinnen gibt: „Störgeräusche, Gläubiger, Affären, mögliche Affäre und laufende Affäre, das Hamsterrad unseres Lebens.“82 Er spricht von der Unausweichlichkeit der Wiederholung, die jede originäre Äußerung und Empfindung unmöglich zu machen scheint: „Als würde es nur noch Wiederholungen geben. Zitate von Zitaten, selbst wenn man die Originalversion gar nicht kennt […].“83 Umberto Eco beschreibt die Unausweichlichkeit der Wiederholung als eine zentrale Erfahrung der Postmoderne, die nur im ironischen Spiel zu überwinden ist: „Die postmoderne Haltung erscheint mir wie die eines Mannes, der eine kluge und sehr belesene Frau liebt und daher weiß, daß er ihr nicht sagen kann: ‚Ich liebe Dich inniglich‘, weil er weiß, daß sie weiß (und daß sie weiß, daß er weiß), daß genau diese Worte schon, sagen wir, von Liala geschrieben worden sind. Es gibt jedoch eine Lösung. Er kann ihr sagen: ‚Wie jetzt Liala sagen würde: Ich liebe Dich inniglich.‘ In diesem Moment, nachdem er die falsche Unschuld vermieden hat, nachdem er klar zum Ausdruck gebracht hat, daß man nicht mehr unschuldig reden kann, hat er gleichwohl der Frau gesagt, was er ihr sagen wollte, nämlich daß er sie liebe, aber daß er sie in einer Zeit der verlorenen Unschuld liebe. Wenn sie das Spiel mitmacht, hat sie in gleicher Weise eine Liebeserklärung entgegengenommen. […], beide spielen bewußt und mit Vergnügen das Spiel der Ironie. […] Aber beiden ist es gelungen, noch einmal von Liebe zu reden.“84
Für Christian mündet seine Analyse allerdings nicht in eine Freude am kreativen Spiel, sondern in die problematische Situation, dass ihm kein Bezug zu seinem Erleben gelingt, er die Abläufe seines Lebens als unauthentisch und fremdbestimmt empfindet. Das Problem der Beziehungslosigkeit ergibt sich für ihn als
81
Ebd., S. 171.
82
Ebd., S. 68.
83
Ebd., S. 81, 82, 83.
84
Eco, Umberto: Postmodernismus, Ironie und Vergnügen. Randbemerkungen zu Der Name der Rose (1983). In: Welsch, Wolfgang (Hg.): Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion. Weinheim: Acta Humaniora 1988, S. 75-78, hier S. 76.
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Resultat aus einer Lebenswelt, die den Menschen vollständig bestimmt, vereinnahmt und jede dauerhafte Bindung unmöglich macht. In einer Besprechung der Proust-Verfilmung Chantal Akermans, Die Gefangene (2000), schreibt er: „Liebe in Zeiten der Diskursanalyse, eines verschlissenen Alltags, prekärer Verhältnisse. Glaubt man den Bildern des Kinos der letzten zehn Jahre, von Laetitia Masson bis Wong Kar Wei, sind ihre Insignien Mobiltelefone und flackerndes Neonlicht, ihre Orte schäbige Hotels und Schnellrestaurants, wird Sex zu einer hektischen Verrichtung zwischen Tür und Angel. Wobei es fast schon gleichgültig ist, mit wem, als fände das Begehren kein Objekt mehr, an das es sich zu binden vermag, als würden die Fluchtlinien der Gegenwart zwangsläufig jede Beziehung durchkreuzen und schnell mit sich fortreißen.“85
Pointiert umreißt Rahel Jaeggi diese Verknüpfung von Gefühlen einer Fremdbestimmung, die sich keiner fremden Macht zuschreiben lässt, und der Bezugs- und Beziehungslosigkeit mit einem Entfremdungsbegriff, der beides erfasst: „Unfreiheit und Machtlosigkeit, aber auch eine charakteristische ‚Verarmung‘ der Beziehung zu sich und zur Welt.“86 Hoffnung auf Veränderung hat Christian nicht. Seine anfängliche Identifikation mit Demonstranten – „Die müssen aufpassen, dass die Bullen den Sack nicht von unten zumachen“ – weicht einer ironischen Distanz: „Ausgerechnet bei dem Wetter zu demonstrieren, unverschämt. Und nützen tut’s auch nichts, alter Erfahrungswert. […], einfach lächerlich, so viel Aufwand.“87 Seinen Kaffeedurst bei Starbucks stillend, kommentiert er: „Wenn schon, ich allein kann den Regenwald auch nicht retten. Oder was sie umweltmäßig so zerstörten, Schweinelöhne für die Angestellten, die den Gewinn des Konzerns ins Sagenhafte steigerten.“88 Seine abwehrende Reaktion auf einen Straßenmusiker versucht er zu relativieren: „Ich bin ungerecht? Ist man halt ab und zu.“89 Christians Ironie dient dazu, möglichst Distanz zu der ihn umgebenden Lebenswelt aufrechtzuerhalten. Die Resignation, die dabei anklingt, lässt seine Zuschauerposition als Rückzug erscheinen. Dafür sprechen auch seine von Nostalgie geprägten Erinnerungen an Hoffnungen auf grundsätzliche Veränderung, politisches Engagement an der Universität, Hausbesetzungen – „Alles erlebt, Drohbriefe und abgeklemmte Leitungen“ –, sein erstes Konzerterlebnis, The Clash in Düsseldorf: „You can push us, you can shoot us,
85
Peltzer: Teil der Lösung, S. 252.
86
Jaeggi: Entfremdung, S. 23, 74.
87
Peltzer: Teil der Lösung, S. 156, 157.
88
Ebd., S. 263.
89
Ebd., S. 124.
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but you have no answer to, ahh, the guns of Brixton. In der Menge vorne, berauscht, endlos beglückt, während Tausende von Stimmen in den Refrain einfielen. Know your rights.“90 Christian zitiert The Guns of Brixton der englischen Punkband The Clash, veröffentlicht auf dem Album London Calling (1979). Die kämpferische Haltung, die sich in dem Song des Bassisten Paul Simonon manifestiert, nimmt die Aufstände der 1980er Jahre in dem unterprivilegierten SüdLondoner Stadtteil vorweg. Christian erwähnt auch den Song Know your rights, der 1982 als Single herauskam und die faktische Rechtlosigkeit sozial benachteiligter Menschen und Gruppen anprangert. Seine Erinnerung an das The ClashKonzert Anfang der 1980er Jahre taucht wiederholt auf, wobei mit den zitierten Zeilen die Erfahrung, Teil einer kämpferischen und leidenschaftlichen Menge, einer Gegenkultur zu sein, im Mittelpunkt steht. In der Erinnerung ist sein erstes Konzert ein beglückendes, „denkwürdige[s] Erlebnis“, das er zu einer kollektiven Erfahrung Jugendlicher in den westlichen Ländern ausweitet: „[Z]wei Fünfzehnjährige im Neonlicht der Kaschemmen und Peepshows, Dosenbier trinkend und selbstgedrehte Zigaretten rauchend in einem Zustand nicht gekannten Glücks. In London, in New York würde es nicht anders sein, in all den großen Städten einer Gesellschaft, die ihre Zukunft schon hinter sich hatte, Straßen ohne Namen, in denen sich der Unrat türmte, und mittendrin sie, Outsider, die wussten, wo’s langging, geborene Rebellen.“91
Die rebellische Außenseiterposition ist geprägt von der Rock- und vor allem der Punkkultur der 1980er Jahre: Die Straßen ohne Namen rufen U2s Where the streets have no name (1987) auf, die Gesellschaft ohne Zukunft den Slogan der Punkbewegung No Future als Kampfansage an die Fortschrittsgläubigkeit der 1980er Jahre angesichts von Kaltem Krieg und nuklearer Aufrüstung. In seinen Erinnerungen an das Lebensgefühl der Zeit findet sich auch der Verweis auf Rolf Dieter Brinkmanns Tagebuch Erkundigungen für die Präzisierung des Gefühls für einen Aufstand. Die Verbundenheit Christians mit seinen besten Freunden Jakob und Martin erscheint rückblickend untrennbar verknüpft mit dem gemeinsam aufgebauten Abstand zur Normalität ihrer Lebenswelt: „Man kringelte sich, kugelte mitten in der Stadt übers Pflaster. Was glotzt ihr denn so, ihr Spießer?“92 Abgesehen von Momenten einer teils sehnsüchtigen, teils ironisch gebrochenen Nostalgie liegt seine jugendlich-begeisterte, kämpferische und kompromisslose Haltung ihm
90
Ebd., S. 141, 142; vgl. S. 139.
91
Ebd., S. 139.
92
Ebd., S. 397.
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fern. „Erst zehn Jahre her, und es kommt einem vor, als seien es hundert gewesen.“93 Inzwischen hat sich Christian in seiner Außenseiterposition des kritischen Beobachters ein Stück weit arrangiert: „[S]chiefzuliegen ist normal, die verhältnisse erfordern das geradezu. irgendwann hat man sich so daran gewöhnt, dass einem alles andere schräg erscheint, das ist nicht weiter tragisch, finde ich.“94 Beruflich entwirft er sich als den, der lediglich liefert, was andere wünschen: „Und wenn sie es wollen, kriegen sie es […]. And fuck it.“95 Angesichts der Bedeutungslosigkeit und Beliebigkeit dessen, was er als Arbeit übernimmt, wird alles indifferent und damit möglich. „Wenn alles egal geworden ist, kein Ruf, den man noch zu verlieren hätte.“96 Christian beschreibt sich nicht als Souverän seines Lebens, sondern als den, der auf Widerfahrnisse reagiert, sich mit ihnen arrangiert, um seine Grundbedürfnisse zu stillen und seinen Alltag aufrechtzuerhalten: „Geld auftreiben, Wohnung. […] sehen, worauf man sich in Zukunft einzurichten hätte. Praktisch betrachtet.“ In seiner Wiederholung wird deutlich, dass er Handeln und Handlungsziele auf die basale Selbsterhaltung reduziert, Veränderung erscheint unmöglich, privat wie politisch. „Genauso praktisch betrachtet, war jede höhere Miete im Augenblick utopisch, so utopisch wie die Weltrevolution.“97 Seine Anpassung wie sein Rückzug tragen Züge der Resignation, die auch in seiner sarkastischen Selbsttitulierung als „Illusionist“ oder als „Pazifist, der man nun mal ist“, durchklingen.98 Kritisch kommentiert wird diese ambivalente Position von seinem besten Freund Jakob sowie von seiner Exfreundin Carolin, die ihm vorwerfen, sich aus allem herauszuhalten, nur an sich und seine unmittelbaren Bedürfnisse zu denken. „‚Du machst es dir immer einfach, du drehst die Dinge so, wie sie dir in den Kram passen.‘ […] ‚[…] Du hast, was du willst, sonst kümmert dich wenig. […]‘“99 Zu Christians kritischer und zugleich resignierter Beobachterhaltung passt sein aktuelles Recherchevorhaben, in dem es um die Konfrontation diachroner Subjektivitätsentwürfe in einem Leben geht. Sein Interesse gilt den Protagonisten des italienischen Aufruhrs der 1970er Jahre, die unter Mitterand nach Frankreich gehen konnten und deren Auslieferung Berlusconi über zwanzig Jahre später in
93
Ebd., S. 42.
94
Ebd., S. 64, 65.
95
Ebd., S. 306.
96
Ebd., S. 155.
97
Ebd., S. 207.
98
Ebd., S. 168.
99
Ebd., S. 201, 303.
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der Gegenwart des Romans fordert. Christian berichtet Jakob von den „zweihundertfünfzig bis dreihundert Verdächtige[n]“, die sich „politische[n] Urteilen[n]“, [f]ragwürdige[n] Verfahren, die meist mit drakonischen Urteile[n]“ endeten, entzogen hätten.100 Sie seien nach Frankreich gegangen, wo sie auf der Grundlage der „Mitterand-Doktrin“ geduldet wurden, unter der Voraussetzung, dass sie nicht an tödlichen Anschlägen teilgenommen und dass sie dem bewaffneten Kampf entsagt hätten.101 Durch Regierungswechsel – Berlusconi in Italien und Chirac in Frankreich – sähen sie sich nach „zwanzig Jahre[n] Unauffälligkeit im bürgerlichen Leben“ von der Auslieferung bedroht.102 Christian geht es um das Nebeneinander und die Konfrontation von revolutionärer Vergangenheit und bürgerlichem Leben, wie „mancher, beziehungsweise manche, extrem hoher Frauenanteil, irgendwann in die Klandestinität wechselt, zurückkehrt, weitermacht wie zuvor“ und über zwanzig Jahre später wieder gesucht wird, „Leute, die vor zwanzig oder dreißig Jahren Risiken eingegangen sind, die sie heute wieder verfolgen.“103 Christian interessiert sich für diese Situation, in der die Untergetauchten in bürgerlichen Leben mit den Überzeugungen und Aktionen ihrer Vergangenheit konfrontiert werden, für den Umgang mit „[u]ngeschriebene[n] Kapitel[n] der Vergangenheit, die einen plötzlich mit dem eigenen Schatten konfrontieren, mit etwas, das man gründlich verdrängt hatte.“104 In zugespitzter Weise stellt sich hier die Frage nach Subjektivitätsentwürfen, ihrem transitorischen Charakter. Zwei Zustände des Ich geraten in Konfrontation: „[M]it fünfzig oder sechzig die Radikalität der eigenen Jugend um die Ohren gehauen zu bekommen, wie es einem sonst im Leben nicht widerfährt, das müsste ein Thema sein, Gefrierschnitt durch die Biographie“.105 Am Beispiel der Untergetauchten spürt Christian dem Nebeneinander einer kämpferischen Vergangenheit und einer eher passiven Gegenwart der Anpassung und des Rückzugs nach, das auch ihn und seine Lebenswelt prägt. Neben der individuellen Ebene beschäftigt ihn die grundsätzliche Frage, warum in der Lebenswelt der 1970er Jahre Veränderung gewollt war und möglich schien, während die Gegenwart alternativlos erscheine: „Wer sich erlaubt, das System abschaffen zu wollen, nicht bloß zu reparieren, sieht sich automatisch mit dem Vorwurf konfrontiert, verrückt zu sein, ein Fall für die Psychiatrie, ich glaube, das war früher, vor zwei,
100 Ebd., S. 34, 33. 101 Ebd., S. 34, 35. 102 Ebd., S. 35. 103 Ebd., S. 31, 170. 104 Ebd., S. 36. 105 Ebd., S. 350.
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drei Jahrzehnten, anders“.106 Mit Bezug auf u. a. Bertolt Brecht und R. W. Fassbinder entwirft Christian einen Horizont radikaler Kritik am Kapitalismus als eines gewalttätigen, den Menschen überformenden Systems, eine Kritik, die es, seiner Wahrnehmung nach, in dieser Form nicht mehr gibt.107 „Fünfundzwanzig Jahre her […] und so fern wie der Mond. […], ohne dass die Öffentlichkeit noch einen Begriff davon hätte, um was es einmal gegangen ist. Was die schweigende Mehrheit dachte, lautstarke Minderheiten, komplett verschwunden.“108 Die politische Entwicklung seit 1989 sieht er zwar als Auslöser dieser Situation, empfindet sie aber zugleich als unzureichende Erklärung: „Als sei der Osten die einzige Alternative gewesen. Als sei mit der Erledigung des Ostblocks endgültig auch jede Vision eines anderen Lebens von der Tagesordnung verschwunden.“109 Seine Faszination für die italienischen Aufstände der 1970er Jahre und für deren Akteure ist mit der Hoffnung verbunden, herauszufinden, warum die Protestbewegungen der 1970er Jahre gescheitert sind und ob sich Apathie und Anpassung der Gegenwart auch daraus erklären lassen. Deutlich wird dabei das Bedürfnis, dem eigenen Widerspruch zwischen kämpferischem Engagement in der Vergangenheit und sarkastischem Rückzug in der Gegenwart auf die Spur zu kommen, nach Alternativen und Auswegen zu suchen. Die Suche nach Lehren aus der Vergangenheit impliziert die Überlegung, ob und wie Gegenwehr und Widerständigkeit in der aktuellen Lebenswelt denkbar sind. Im Zentrum stehen Fragen nach der Rolle politischer Theorie, nach gesellschaftlicher Analyse und Zielvorstellungen, nach Moral und Maßstäben, nach praktischen Mitteln und der Legitimität von Gewalt: „Lehren, die sich ziehen lassen, Analysen, die unzutreffend waren, der Optimismus von Träumen, die sich in Albträume verwandelten. Wann, glauben Sie, ist der Einsatz von Ge-
106 Ebd., S. 258, 259. 107 Vgl. Peltzer: Teil der Lösung, S. 258. „Es hilft nur Gewalt, wo Gewalt herrscht“ (Brecht, Bertolt: Die heilige Johanna der Schlachthöfe. Bühnenfassung, Fragmente, Varianten. 3. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1976, S. 106). „Das Gangstermilieu ist sozusagen auch ein bürgerliches Milieu, nur mit umgekehrtem Vorzeichen, aber mit den gleichen bürgerlichen Idealen. Meine Gangster sind Opfer der Bürgerlichkeit und keine Rebellen – wenn sie das wären, müssten sie sich anders verhalten. Die verhalten sich im Prinzip genau so, wie sich der Kapitalismus und die bürgerliche Gesellschaft verhalten“ (R. W. Fassbinder, 1971, zitiert bei: http://www.basisfilm.de/Fassbinder/PMFassb.pdf). 108 Peltzer: Teil der Lösung, S. 258. 109 Ebd., S. 259.
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walt gerechtfertigt, je? […] Worin lag der Irrtum, nur in den Methoden oder schon im begrifflichen Rahmen, falschen Theorien im falschen Augenblick, im richtigen Augenblick, kann man in diesem Zusammenhang (einer Revolte, you name it) überhaupt von richtig oder falsch sprechen? Spielt Moral eine Rolle, welche Moral, woher nimmt (nahm) man die Maßstäbe?“110
Die neue Aktualität der zwanzig Jahre zurückliegenden Ereignisse in Italien, die mit Berlusconis Auslieferungsantrag gegeben ist, wird für Christian zum Anstoß einer Recherche, die ihn herausfordert. Er sieht die Möglichkeit, über einen Gegenstand zu schreiben, der ihm wichtig ist, der aufgrund seiner Aktualität die Chance hat, veröffentlicht zu werden, auf Interesse zu stoßen, und der ihm die Möglichkeit bietet, über die historischen Verwicklungen hinaus seine kritische Sicht der politischen Gegenwart darzustellen. Im Gespräch mit seinem Freund Jakob wird sehr deutlich, dass beider Sympathien denen gehören, die sich gegen die herrschenden Verhältnisse gewandt haben. Christian stellt einen fast identifikatorischen Bezug her, wenn er von den Sympathisanten und Unterstützern der italienischen Protestbewegung spricht.111 Berlusconis Interesse an der Auslieferung der unter Mitterand nach Frankreich geflohenen Verdächtigen betrachtet er als eine Maßnahme des „Dauerwahlkampf[es]“ ebenso wie die Konstruktion, die Linke werde aus Paris gesteuert.112 Die Tatsache, dass die Fälle gerade zu diesem Zeitpunkt wieder aufgenommen werden, deuten er und Jakob als Instrumentalisierung der Menschen für den politischen Erfolg Berlusconis: Ein „Exempel am Sündenbock statt einer Versöhnung mit Schlussstrich“, „hier sollen einige stellvertretend für ihre Generation büßen, für Irrtümer, die fast schon Konsens gewesen sind.“113 Mit distanziert-ironischer Identifikation begegnet Christian Jakobs Hinweis auf die Nähe seiner Überlegungen zu Verschwörungstheorien: Wer „in den schäbigen Kulissen am Regiehebel sitzt“, wisse er „sowieso“.114 Kokettierend bezeichnet er sich als „Eingeweihten“.115 Neben seinem inhaltlichen Interesse geht es Christian bei seiner Recherche auch um „eine schöne Story“, die sich rechnen könnte und deren Ingredienzien er selbstironisch benennt: „[…], da ist doch alles drin, ungeklärte Vorkommnisse, aktuelle Politik, menschliche Verstrickungen.“116 Sein
110 Ebd., S. 350, 351. 111 Vgl. ebd., S. 32. 112 Ebd., S. 35. 113 Ebd., S. 36, 37. 114 Ebd., S. 36. 115 Ebd., S. 28. 116 Ebd., S. 36.
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Freund Jakob bestärkt ihn: „‚Europäische Öffentlichkeit‘, sagte Jakob, ‚das könnte sie interessieren. […] Eventuell noch Kinder, die es betrifft, auf der Schiene ließe sich vielleicht was machen.‘“117 Auch als kritischer Journalist sieht Christian sich eingebunden in Verwertungszusammenhänge. Die Auseinandersetzung mit seinem Rechercheprojekt führt Christian aus seiner distanzierten Zuschauerposition heraus in eine Suchbewegung, die auf Annäherung und Verstehen zielt. „Ich bin gerade an einer Sache dran, die ich für groß halte […]. Fasziniert mich […] wie schon lange nichts mehr.“118 Der historischen Bewegung und den untergetauchten italienischen Aktivisten nähert sich Christian zunächst über Recherchen im Internet, die jedoch nur ein unscharfes Bild entstehen lassen, die Hinweise sind disparat, die Akteure unzählig. Deshalb sucht Christian nach konkreten subjektiven Erfahrungen. Aus dem Projekt ergibt sich mit seiner Suchbewegung die Suchbewegung des Romans nach Entwürfen von Subjektivität zwischen Rückzug und Widerstand. Christian ist die Lupe, durch die man Selbst- und Weltverhältnisse in Peltzers Roman überwiegend wahrnimmt, er ist die Sonde, durch die weitere Perspektiven ausgelotet werden.119 Zentral sind dabei Christians Jugendfreund Jakob, Dozent für Literaturwissenschaft und Familienvater, und der Romanistikprofessor Carl Brenner, über die Christian hofft, den Kontakt zu den Untergetauchten herstellen zu können, schließlich der Kontaktmann zu den Untergetauchten und die Studentin Nele Fridrich, in der sich die Subjektivitätsfrage für die Gegenwart aktualisiert. Aus der Kreuzung dieser Perspektiven und Lebensentwürfe ergibt sich ein komplexes Bild von Subjektivität zwischen Rückzug und Widerstand.
117 Ebd., S. 37. 118 Ebd., S. 170. 119 Es ist daher konsequent, dass der Roman in seiner personalen Erzählhaltung weitgehend Christians Perspektive übernimmt. Allerdings wird diese ergänzt durch Passagen aus Jakobs, Carls und zunehmend Neles Perspektive, dazu kommt die Sicht des Staatsschutzes, die sich in unterschiedliche Perspektiven teilt. Aus dieser Multiperspektivik ergibt sich ein Panorama subjektiver Wahrnehmungen und Erfahrungen, die einander bestätigen, hinterfragen oder auch in ihrem disparaten Nebeneinander jede Eindeutigkeit als unmöglich markieren.
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Jakobs Spagat: Anpassung und Eigensinn Jakob Schüssler, Christians Freund aus Schulzeiten, ist der Erste, den Christian in seine Pläne einweiht. Jakob geht sachlich an Christians Projekt heran. Er weist ihn auf die Nähe seiner Überlegungen zu Verschwörungstheorien hin, fragt ihn, ob er italienisch spreche und wirft die Frage auf, ob Christian vertrauenswürdig genug sei, „um an sie ranzukommen“. Sein Maßstab ist bestimmt von Umsetzbarkeit und finanzieller Perspektive, ihm geht es um die „Praktikabilität der Geschichte, ihre[n] ökonomischen Sinn, Medien, die sich anbieten“.120 Zwar reagiert er, ähnlich wie Christian, mit einer diffusen, ironisch gebrochenen Identifikation auf das Thema, bezieht sich ein in die Rede von „wir Revolutionäre“, seine Einbindung in Christians konkrete Recherchepläne aber betrachtet er skeptisch und voller Sorge.121 Dass sein Universitätskollege Carl Brenner in Christians Plänen die zentrale Rolle des Verbindungsmannes zu den Untergetauchten darstellt, stimmt ihn erschrocken, er schweigt „mit einem Ausdruck, der seinen Zügen etwas Starres verlieh.“122 Jakob fürchtet um Carls Position als Professor der Romanistik – um „unerfreuliche, unter Umständen dienstrechtliche Konsequenzen“ und um sein kollegiales Verhältnis, „Schwierigkeiten, die er sich aufhalsen könnte, Aspekte von Moral und enttäuschtem Vertrauen.“123 Sorgenvoll bittet er Christian um „Vorsicht“, um „Fingerspitzengefühl“ und „Diskretion“.124 Um seine Integrität gegenüber dem Kollegen zu bewahren, plant er, Carl im Vertrauen über Christians Pläne zu informieren – „Misshelligkeiten, die man vermeiden wollte, Irritationen im persönlichen, im universitären Verkehr“.125 Gegenüber Christian grenzt Jakob sich ab, er will nicht weiter in seine Recherche hineingezogen werden. Voller Unbehagen betont er, dass er lediglich „am Rand eine Rolle“ spiele und die Geschichte ihn nichts angehe.126 Zugleich hat Jakob das Gefühl überzureagieren, wirft sich „[ü]bertriebene Verantwortung, ein neurotisches Absicherungsbedürfnis“ als eine typische Reaktion vor und fordert sich zu einer „wohlwollenderen
120 Ebd., S. 37. 121 Ebd., S. 28, 31. 122 Ebd., S. 38. 123 Ebd., S. 93, 38, 39. 124 Ebd., S. 39, 94. 125 Ebd., S. 94. 126 Ebd., S. 93.
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Perspektive“ auf, die eine positive Reaktion Carls, „mit Neugier und dezenter Unterstützung“, in Betracht zieht.127 In dieser Ambivalenz deutet sich Jakobs Position zwischen Anpassung und Eigensinn an. Anders als Christian hat Jakob Familie und Beruf, er ist verheiratet, hat zwei kleine Kinder und strebt eine Universitätskarriere an. Jakob verkörpert einen bürgerlichen Intellektuellen. Aufgewachsen in wohlsituierten Verhältnissen ist er sein Studium engagiert und systematisch angegangen und hat sich für eine Karriere an der Universität entschieden. Er unterrichtet als Privatdozent und bereitet seine Habilitation für die Veröffentlichung vor. Die Ferien verbringt die Familie im Ferienhaus an der Ostsee, Weihnachten feiert man klassisch „mit Geschenkpapier und echten Kerzen.“128 Die Wohnung schmücken schwarze Ledersofas und eine Bücherwand, „ordentlich in Reih und Glied […], unten die Kunstbände und Kataloge“, auf der Empire-Kommode, einem Erbstück Severines, stehen gerahmte Fotos, die Genealogie der Familie: „[…] Väter und Mütter, Kinder und Kindeskinder über Generationen hinweg, Sommerfrische am Meer und vor Bergkulissen, mehr als ein Dutzend Gruppenaufnahmen und Portraits.“129 Christian, aus dessen Perspektive Jakob und seine Lebenswelt überwiegend dargestellt werden, bezeichnet Wohnungen wie Jakobs als „einstige und zukünftige Beletage“ und rückt sie damit in die Tradition etablierter Lebensentwürfe.130 Seine Ehefrau Severine hat Jakob während eines Erasmus-Semesters in Paris in der Cité Universitaire kennengelernt. Die einzige Liebesszene zwischen dem Ehepaar reproduziert – wenn auch spielerisch – bürgerlich-züchtige Moral- und Genderentwürfe: „‚[I]st der Platz hier frei?‘ ‚Möglicherweise‘, sagte Jakob und nahm ein Bein von der Couch. ‚Wenn Sie es versuchen wollen.‘ Severine setzte sich schräg auf die Kante, Waden und Knie züchtig geschlossen. ‚So?‘ ‚Haben Sie keine Scheu, Madame, ich bin ungefährlich.‘ ‚So?‘ ‚Ja, sie können sich auch anlehnen, ja, lehnen Sie sich zurück.‘ ‚Darf ich meinen Kopf…so?‘ ‚Ich bitte darum.‘ ‚Mir ist ganz warm, dieser Sommer…‘ ‚Sie sagen es, mir ist extrem warm.‘ ‚Wo?‘ ‚Überall, Madame, erlauben Sie?‘ ‚Aber ja, Monsieur.‘ ‚Ich wage es nicht.‘ ‚Vielleicht da.‘ ‚Da auch, ja.‘ ‚Und da?‘ ‚Was…was machen Sie denn?‘“131
Christian nimmt Jakob als gestandenen Mann wahr: „Wie er auf dem Futon saß, groß und selbstbewusst, vermittelte er den Eindruck, seinen Aufgaben gewachsen
127 Ebd., S. 39, 94. 128 Ebd., S. 171. 129 Ebd., S. 168, 186. 130 Ebd., S. 304. 131 Ebd., S. 311, 312.
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zu sein, sich einmal entschieden und diese Wahl bis heute nicht bereut zu haben.“132 Seinen bürgerlichen Lebensentwurf sieht er kritisch, empfindet ihn als statisch: „Sich Jakob in Begleitung einer anderen Frau vorzustellen war ebenso unmöglich wie der Gedanke, er würde nicht mehr unterrichten, Konferenzen besuchen, Monographien über Foucault und die deutsche Romantik schreiben.“ Von dieser festgelegten Lebensplanung grenzt er sich ab: „Verbindlichkeit, die beunruhigen konnte und Widerspruch hervorrief, beinahe gegenstandslose Streitereien.“133 Verunsicherungen scheint es in Jakobs Leben nicht zu geben, für Christian ist er der, „der nie die Übersicht verlor, selbst in den letzten Minuten eines in Springfluten von Alkohol abgesoffenen Abends.“134 Jakobs Versuch, immer die Kontrolle zu behalten, wird deutlich, als er heimlich wieder zu rauchen beginnt. „Severine bräuchte davon nichts zu erfahren. Doch im Augenblick schien sich alles zu häufen, eine Stressphase, die durchgestanden werden musste. […] Drei Zigaretten bis zum späten Nachmittag, das war vertretbar. […] Nummer vier, aber das hatte er im Griff. Unter Kontrolle, dachte er, kein Problem.“135
Diese kontrollierte und überlegene Haltung provoziert Christian, er hat das Gefühl, Jakob habe immer eine Antwort: „Einen Rat? […]. Du weißt doch sonst immer alles.“136 Sich abgrenzend verknüpft er sie mit Jakobs universitärer Position: Er spricht von „spöttischen Bemerkungen aus dem Mund des Herrn Privatdozenten“, von „seinem Professorengrinsen“ und seinen „[a]kademische[n] Übertreibungen“.137 Die Anthologie über Kriminal- und Agentenfilme aus der DDR, deren Präsentation er mit Jakob besucht, bezeichnet Christian spöttisch als „hyperakademisch und zugleich voller Insiderwitze, die bei einigen große Heiterkeit hervorriefen, Schenkelklopfen.“ Dass Jakob Polizeiruf 110-Folgen „durch die Mühle der Diskurstheorie gedreht“ hat, verschweigt er Christian in einer Geste der Distanzierung von seinem eigenen Projekt.138 Der Begriff der „Uniblase“ unterstreicht
132 Ebd., S. 34. 133 Ebd. 134 Ebd., S. 42. 135 Ebd., S. 158, 159. 136 Ebd., S. 97. 137 Ebd., S. 336, 271, 23. 138 Ebd., S. 336.
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Christians Wahrnehmung der akademischen Welt als abgehoben und in sich geschlossen.139 Diese Geschlossenheit bringt Jakob selbst zum Ausdruck in einem selbstironischen Bericht über seine Begegnung mit Severine: „Was man da lernt, ist bekannt, man lernt wen kennen, und darin besteht der Zweck. Severine in der Cité Universitaire, ein atmosphärisches Muss. Gattungen, die sich von selbst reproduzieren, ähnliche Interessen und ein Gleichklang der Meinungen. Was man für die Zukunft erhofft. Wissenschaft, in der man sich einen Platz zu erobern gedenkt.“140
Als er seine Studentin Nele zu seinem Geburtstag einlädt, fällt ihm auf: „Wenigstens eine Person unter dreißig […]. Sonst bleibt man wieder nur unter sich. Auch so eine Aussicht, die man am liebsten nicht wahrhaben will.“141 Obwohl Jakob hier nur über das Alter seines Umfeldes spricht, klingen Statik und Homogenität seiner Lebenswelt an. Er selbst sieht sich gefangen in Zwängen und festgelegten Abläufen. „Ich steige in die U-Bahn. Ich fahre sieben Stationen, ich laufe fünfhundert Meter, ich lege mich ins Bett. Ein Kind, das schreit, ein Kind, das in die Kita muss. Eine Prüfung. Ein Kolloquium. Im Penny-Markt fast den Verstand verlieren, Amok an der Schnäppchentheke.“142
Eine Sehnsucht nach Freiheit und Ausbruch deutet sich an, wenn er die Rahmenbedingungen für Freizeit und Geselligkeit festlegt: „Außerdem wäre allen klar, dass es dieses Jahr einen zeitlichen Rahmen gebe, sozusagen, écoutez-moi, keine Feier bis tief in die Nacht, kein Schlachtfeld hinterher in sämtlichen Räumen.“143 Bestimmend wirkt auch Jakobs berufliche Situation. An seiner Universität, die ein „Sparprogramm“ fährt, scheint sich dem Privatdozenten keine Perspektive zu bieten.144 Stellen in Regensburg und Mannheim, um die er sich bewirbt, würden eine Wochenendbeziehung mit seiner Familie bedeuten: „[E]r [würde, d. V.] sich ein kleines Apartment mieten, spätestens freitags säße er um zwei im Zug.“145 Wegen
139 Ebd., S. 171. 140 Ebd., S. 76. 141 Ebd., S. 159. 142 Ebd., S. 40. 143 Ebd., S. 157, 158. 144 Ebd., S. 76. 145 Ebd., S. 78.
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des Vorstellungsgesprächs in Regensburg kann Jakob nicht an der Beerdigung seines Schulfreundes Martin teilnehmen, wobei er gegenüber Christian diese Absage und das, was er glaubt, an seinem Freund versäumt zu haben, mit seiner Universitätskarriere verknüpft. „‚Ich kann nicht‘, brüllte Jakob […]. ‚Ich hab ein ScheißVorsingen am sechsundzwanzigsten, ihm nicht geschrieben, nicht angerufen, vielleicht hätte es etwas bewirkt‘“.146 Jakobs Karrierepläne bestimmen in dieser Situation gegen seinen Willen sein Verhalten: „Das kann man nicht verschieben. […] Die warten nicht auf mich. Die Kommission.“147 In Christians Wahrnehmung unterwirft er sich durchgängig seinem Wunsch, Professor zu werden. Jakobs Bedenken hinsichtlich der Kontaktaufnahme zu seinem Kollegen Carl Brenner empfindet Christian als „universitäre[] Schissigkeit“ und „[u]ngeahnte[n] Treueschwund“: „Wird man zwangsläufig so auf dem dornenreichen Weg zur Vereidigung?“148 Die etablierte Position Jakobs geht einher mit einer heteronomen Einbindung, die ihm selbst bewusst ist und die er durch den Vergleich seines Büros mit einer „Knastzelle“ unterstreicht.149 Zugleich erscheint Jakob als verantwortungsvoller Familienvater sowie engagierter und kritischer Hochschullehrer und Wissenschaftler. Die Betreuung seiner Studierenden nimmt er sehr ernst. Eine ehemalige Studentin seines Tutoriums zu Foucaults Überwachen und Strafen spricht davon, dass sie Jakob „sehr bewundert“ habe, „begeistert“ von ihm gewesen sei.150 Christian zollt Jakobs Intellektualität Bewunderung, er betrachtet ihn als „Genie […], oder wenn kein Genie, dann etwas Ähnliches“.151 Selbstironisch stimmt Jakob Christian zu, dass bei ihm „nur die Krone der Wissenschaft“ studiere.152 Mit viel Energie verfolgt Jakob seine Forschung, die, neben der deutschen Romantik und Kleist, Foucault und insbesondere Deleuze umfasst sowie die Philosophen, mit denen dieser sich auseinandergesetzt hat: Spinoza, Hume, Marx. Er fordert von sich, nicht „einen Fußbreit Boden preiszugeben, die Höhe der Theorie.“153 Sein neues Forschungsvorhaben über minoritäre Literaturen des 19. Jahrhunderts weist ihn als einen kritischen Wissenschaftler aus, der Bewegungen der Widerständigkeit in der Literatur nachforscht. Seine Arbeit ist inspiriert von Deleuzes / Guattaris Text Kafka. Pour une
146 Ebd., S. 397. 147 Ebd., S. 398. 148 Ebd., S. 199, 201. 149 Ebd., S. 76. 150 Ebd., S. 196. 151 Ebd., S. 92. 152 Ebd., S. 90. 153 Ebd., S. 158.
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littérature mineure (1975) / Kafka. Für eine kleine Literatur. Der Begriff der kleinen Literatur, den Deleuze / Guattari ausgehend von Kafka entwickeln, beschreibt ein grundsätzlich politisches, veränderndes, revolutionäres Potential von Literatur. Mit Referenz auf den Gebrauch des Pragerdeutschen durch die Prager Juden sprechen sie von der „Deterritorialisierung der Sprache“, durch die sich die „littérature mineure“ abgrenze von der „littérature majeure“ und damit dem Minoritären, von der Majorität Abgeschnittenen oder Unterworfenen, Möglichkeiten des Ausdrucks und Auswegs eröffne.154 Kennzeichen dieses Konzepts von Literatur seien außerdem die „Koppelung des Individuellen ans unmittelbar Politische“ und die „kollektive Aussageverkettung“, die Verbindungen zwischen minoritären Kollektiven bestätigende oder schaffende Wirkung dieser sich den majoritären Strukturen entziehenden Texte.155 Ein Vortrag über Kleists Penthiselea, den Jakob vorbereitet, ist aufschlussreich für seinen theoretischen Ansatz und sein Vorhaben, Widerständigkeit als geisteswissenschaftliche Position und Tradition zu vermitteln und relevant zu machen. Er schreibt über die „Amazonenkriegerinnen, deren natürliche Feinde die Stadtstaaten sind“ und die er als Nomaden versteht in einem Raum der Offenheit, Vielheit und Formlosigkeit jenseits der Sesshaften und ihres Systems von Herrschaft und Schuld im Namen des Vaters.156 Deleuze / Guattari beschreiben die Amazonen in Mille Plateaux (1980) / Tausend Plateaus als ein „Frauen-Volk ohne Staat, dessen Rechtsprechung, Religion und Liebesbeziehungen ausschließlich auf kriegerische Weise organisiert sind“ und das zwischen den Staaten stehe.157 Die „Kriegsmaschine“, die Kleist in seinem ganzen Werk dem Staatsapparat gegenüberstelle und die in Penthiselea zu den Amazonen übergegangen sei, ziele nicht auf Krieg, sondern zeichne sich durch ihre Exteriorität im Verhältnis zum Staatsapparat aus, durch ihre Wandlungsfähigkeit, die Vielfalt ihrer schöpferischen Verbindungsmöglichkeiten und ihre Intensität, sie verwirkliche Fluchtlinien und ermögliche ein Werden.158 Diese Gedanken des Widerstands gegen beherrschende Strukturen und Traditionen greift Jakob in seiner Analyse der Penthiselea auf. Sein Selbstverständnis als kritischer Wissenschaftler zeigt sich auch an seinem gesellschaftspolitisch interessierten Blick: An der Universität
154 Deleuze, Gilles / Guattari, Félix: Kafka. Für eine kleine Literatur. Aus dem Franz. v. Burkhart Kroeber. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1976, S. 27, 24. 155 Ebd., S. 27. 156 Peltzer: Teil der Lösung, S. 77. 157 Deleuze, Gilles / Guattari, Félix: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie. Band II. Aus dem Franz. v. Gabriele Ricke und Ronald Voullié. Hg. v. Günther Rösch. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997, S. 487. 158 Ebd., S. 485-488; S. 709: „Schrift und Musik können Kriegsmaschinen sein“.
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nimmt er Aushänge zu „Postfordismus und Tobin-Steuer“ wahr, Studierende, die „Le monde diplomatique“ lesen und das „neue Buch von Žižek über Lenin“.159 Die Erinnerung an seine jugendliche Eindeutigkeit und Kompromisslosigkeit wirkt bisweilen quasi-religiös überhöht, wenn er Joe Strummer, den Sänger von The Clash den „Gesegnete[n] der Revolte“ nennt. Emphatisch bekennt er sich während seiner Geburtstagsfeier unter Freunden zu dem Lebensgefühl dieser Jahre: „Das Ding war Charisma […]. Mir läuft es heute noch kalt den Rücken herunter, wenn ich Spanish Bombs höre, oder Sandinista, und ich schäme mich nicht dafür. Begreift das ruhig als öffentliches Geständnis.“160 Beide Alben stellen den Ruhm revolutionärer Bewegungen ins Zentrum, Spanish Bombs (1979) nimmt Bezug auf ETA und spanischen Bürgerkrieg (1936 bis 1939), Sandinista (1980) verweist auf die linke Guerilla-Bewegung in Nicaragua, die Sandinistas, die maßgeblich am Sturz des Diktators Anastasio Somoza Debayle im Jahr 1979 beteiligt waren. Jakobs Emphase gegenüber seinen Freunden wirkt angesichts seines bürgerlichen Lebensentwurfs widersprüchlich, die Nachfrage eines Kollegen treffend: „Haben die Kids aus Brixton die Clash gehört? Oder sind das nicht bloß Phantasmen der Mittelklasse von politischem Widerstand?“161 Widerständigkeit erscheint aus dieser Perspektive gesellschaftlich vereinnahmt, zum Trend gemacht und damit wirkungslos. Dass Jakobs Kollege Reinsdorf, ehemaliger Schlagzeuger in einer Speedmetal-Band, Forscher über „Geschlechtsumwandlung und Satanismus als Strategien der Subversion“, seine silbernen Totenkopfringe bei seinem Bewerbungsgespräch als akademischer Rat nicht abgenommen hat, wird ihm als widerständige Haltung „allgemein hoch angerechnet“, wie der Roman leicht ironisch kommentiert.162 In Jakobs Büro hängt ein Filmplakat von Rudolf Thomes Rote Sonne (1970). Der Film mit dem Untertitel „Lasst uns die Männer töten“, der im Kontext der 1968er- und der Frauenbewegung steht, erzählt die Geschichte vier junger Frauen in München, die vereinbart haben, nach fünf Tagen ihre Liebhaber umzubringen. Das Sprengstoffattentat, das die WG-Bewohnerinnen planen, wurde angesichts der wenig später erfolgenden Gründung der RAF als Vorgriff auf die eskalierende Gewaltbereitschaft gesellschaftskritischer Gruppierungen interpretiert.163 In Jakobs Version ist der Schriftzug Rote Sonne durch das Wort
159 Peltzer: Teil der Lösung, S. 76, 77, 78. 160 Ebd., S. 179. 161 Ebd., S. 180. 162 Ebd., S. 185, 178. 163 Vgl. Koebner, Thomas (Hg.): Filmklassiker. Beschreibungen und Kommentare. Band 3: 1963-1977. 5. überarb. u. erw. Aufl. Stuttgart: Reclam 2006, S. 285.
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„KinderBrei“ ersetzt.164 Neben der augenzwinkernden Anspielung auf Jakobs intensive familiäre Einbindung als Vater eines nächtens schreienden Kleinkindes verbinden und verdichten sich im ironischen Zitat der Ikonen kritische Abgrenzung und modische Attitüde, inoffensives Kokettieren mit einer als naiv ausgestellten Vergangenheit. Widerständigkeit erscheint als Design, als Widerstandsnostalgie, subjektiv wohltuend und objektiv tolerabel. Christian bezeichnet Jakob als „Kompromissler“.165 Er hat den Weg der Einbindung in die bürgerlichen und familiären Strukturen gewählt und es wirkt, als prägten und bestimmten diese ihn und sein Leben. Seine Ideen der Widerständigkeit verfolgt er im System der Universität auf theoretischer Ebene weiter und ist sich bewusst, dass er dazu innerhalb des Systems funktionieren muss, dass er sich den Gesetzen von Aufstieg, materieller Sicherheit etc. unterwirft. Darauf reagiert er mit gelegentlichem Unbehagen, ironischer Relativierung, nostalgischer Erinnerung. In seiner wissenschaftlichen Arbeit und seinem Lebensgefühl bleiben Linien einer kritischen Widerständigkeit erkennbar, die ihn durchziehen. In seinem emphatischen Bekenntnis zu The Clash bleibt deren Frage nach kämpferischer Gegenwehr aus dem Song White riot präsent: „Are you taking over / Or are you taking orders? / Are you going backwards / Or are you going forwards?“ Und wenn Jakob Christians Situation als andauerndes Unterwegssein mit sich wiederholenden Neuanfängen analysiert, kommt neben Zweifel und Kritik auch Respekt zum Ausdruck vor einem Lebensstil, der sich dem bürgerlichen Lebensentwurf weiterhin verweigert. Carls Rückzug: Karriere und Ausstieg Prof. Dr. Carl Brenner könnte, so hofft Christian, den Kontakt zu den Untergetauchten herstellen, deshalb sucht er das Gespräch mit ihm: „Weil du das als Einziger könntest. Und weil die Sache für mich gegessen ist, schlicht und ergreifend, wenn du ablehnst.“166 Entgegen Jakobs Erwartungen reagiert Carl mit Interesse auf Christians Recherche. Er ist bereit, das Projekt zu unterstützen, bietet einen finanziellen Zuschuss an und die Aktivierung seiner Kontakte: „Vielleicht ruft dich jemand an.“167 In der Frage des Nichtrauchers nach Zigarette und Feuerzeug deutet sich sein innerer Aufruhr an. Sein Umgang mit Christians Projekt macht eine fortdauernde Identifikation mit der politischen Bewegung der 1970er Jahre deutlich und zugleich den Versuch, seine Beteiligung zu verschweigen. „‚Die
164 Peltzer: Teil der Lösung, S. 90. 165 Peltzer: Teil der Lösung, S. 88. 166 Ebd., S. 261. 167 Ebd., S. 262.
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Frage ist, bist du sauber?‘ Als hätte er zu viel verraten, schob Carl rasch nach: ‚Wäre die entscheidende Frage für jemanden, der generell einem Plan wie dem deinen zustimmt. Der das sinnvoll fände, politisch.‘“168 Carls Herangehensweise ist genuin politisch. Mit Christians Projekt verbindet er die Hoffnung, die politische Bewegung der 1970er Jahre, die zum Teil auch seine Geschichte prägt, neu zur Sprache zu bringen und neu zu perspektivieren: „[…] Aber sich den Lügen der Sieger zu beugen, wäre Verrat an der Geschichte. Nicht nur der eigenen. […] Definitionsmacht und Wahrheit sind nie ein und dasselbe. Das Schweigen, das ist der Tod. […] Zum Schweigen verdammt zu sein. Nur noch die gegnerische Seite zu hören. Das ist auch eine Art von Inferno.“169
Der Romanistikprofessor Carl Brenner gehört einer anderen Generation an als Christian, „zwanzig, vierundzwanzig Jahre, die uns trennen, dachte Christian […]. Das war früher ein halbes Leben.“170 Christian hat den Kollegen seines Freundes Jakob in einer Bar kennengelernt, in einer durch Alkohol enthemmten Gesprächsatmosphäre. Es versucht, sich ein Bild zu machen, indem er das, was in dieser Situation ungeschützt zur Sprache kam, mit generationstypischen Erfahrungen verknüpft. Während des Krieges geboren, in Bremen und Köln aufgewachsen, erlebt Carl Brenner als prägende Erfahrung den Umgang der Erwachsenen mit den nationalsozialistischen Verbrechen, für deren Grausamkeit und Zerstörung niemand bereit war, die Verantwortung zu übernehmen, auch nur darüber zu sprechen. Der Versuch, sich von dieser „Verlogenheit“ abzusetzen ebenso wie vom Militarismus der Vorgängergeneration, von ihren Vorstellungen der Autorität, der Disziplin und des Fleißes, „gebellter Schulhofkommandos und beflissener Seminararbeiten über das Versmaß des Rolandslieds“, bestimmt maßgeblich die eigene Haltung. Es geht darum, die Gegenwart zu erleben und zu gestalten, eine neue Sprache für diese Wirklichkeit zu finden: „Die Suche nach einer Sprache, die ausdrückt, was einen bewegt. […], eine Sprache des Eingriffs und der Bedürfnisse.“171 Dazu gehören die Texte der Emigranten, oft nur erhältlich als Raubdrucke, an der Universität fielen ihre Namen nicht. Dazu gehört die Auseinandersetzung mit Horkheimer und Adorno, Sartre, Camus, Günter Anders. Auch musikalisch geht es um Abgrenzung und Neuorientierung: Während Herbert von Karajan,
168 Ebd., S. 258. 169 Ebd., S. 422. 170 Ebd., S. 261. 171 Ebd.
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ehemaliges NSDAP-Mitglied und erfolgreicher Dirigent während des Nationalsozialismus, Star der musikalischen Hochkultur bleibt und Schlager von Connie Froboess oder Freddy Quinn für die neue Unterhaltungsmusik stehen, hört Carl nachts auf dem niederländischen Sender Radio Hilversum Rock’n’Roll, als „Negermusik“ verpönt, amerikanischen Jazz von Ornette Coleman und Coltrane, Musik, die er im Radio nicht findet. Er definiert sich als Jazzer, trägt Rollkragen und Wildlederboots, glaubt an „[e]in Leben ohne Herrschaft und Zwang.“172 Als Promotionsstipendiat in Italien kommt er 1972 in Kontakt mit linken Protestgruppen. Er nimmt an Demonstrationen teil, versteckt für Kommilitonen Waffen und Munition und gibt sie weiter. Seine politische Haltung, die Positionierung gegen die herrschenden politischen Verhältnisse, prägt sein Selbstverständnis, „Linkssein“ ist eine „quasi ontologische Kategorie“, auch die Romanistik „eine Disziplin im Klassenkampf.“173 In der Familie seiner italienischen Freundin Lavinia ist er akzeptiert, seine politische Einstellung wichtiger als die deutsche Nationalität. Von der Radikalisierung der späteren 1970er Jahre distanziert sich Carl – „Ich war wieder in Deutschland, ich habe Zeitung gelesen“ –, eine Distanzierung, der ein bürgerlicher Aufstieg folgt, beides verbunden mit dem Gefühl des Scheiterns, mit Resignation:174 „Die Bewaffnung, die Morde, die Niederlage. Ein Weitermachen mit Dante und Leopardi, mit den Verlobten Manzonis und den bürgerlichen Aufsteigern Vergas. Wie viel Schönheit (und Trost) fand man in einer Zeile Stendhal, einer Zeile Baudelaire, den ästhetischen Prinzipalen der Restauration.“175
Carls ehemalige Freundin Lavinia wird Rechtsanwältin, Carl erhält eine Professur, zieht sich zurück in eine literarisch-ästhetische Gegenwelt. Am Institut für Romanische Philologie der Humboldt-Universität in Berlin ist er eine „Zierde der Fakultät.“176 Sein großes Büro lässt sich mit Jakobs Verschlag nicht vergleichen, sein Schreibtisch hätte „auch einem Manager gefallen […], plus dazugehörigem, ergonomischen Ledersessel. […] Papierstöße und ein Computer befanden sich in Griffweite auf einem schlichten eleganten Tisch mit Stahlrohrbeinen – so ließ es
172 Ebd. 173 Ebd., S. 93. 174 Ebd., S. 421. 175 Ebd., S. 261. 176 Ebd., S. 93.
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sich arbeiten.“177 Hochzeit und Hauskauf sind in Planung, Carl will seiner Sekretärin Gerlinde einen Heiratsantrag machen und seinen lange gehegten Plan umsetzen, ein abgelegenes Haus auf dem Land zu kaufen. Das Haus im Berliner Umland, für das er sich interessiert, gehört zu den „[b]egehrte[n] Objekte[n], die von Monat zu Monat teurer wurden.“178 Wenn Carl die Entwicklungen zusammenfasst – „Erste Eheschließung, erster Hauskauf, erstes Testament“ –, klingt es, als sei er endgültig in den Konventionen des Besitzbürgertums angekommen.179 Zugleich hat Carl eine kritische Distanz zu diesen Entwicklungen, die sich schon in seiner Abgrenzung von der Sprache des Immobilienhändlers ausdrückt: Er spricht über „[e]in Haus“, das „Objekt, in der Sprache des Immobilienhandels“ heiße.180 Über seinen Wechsel „in die Klasse der Grundeigentümer“ ist er selbst irritiert: „[E]s ist komisch, aber ich habe noch nie etwas besessen. Irgendwas zum Vererben, Wohnung oder so.“181 Seine berufliche Karriere und Position stehen in auffälligem Kontrast zu seiner äußeren Erscheinung. Nicht nur Christian muss sich bei seinem Besuch an der Universität erst von seiner Überraschung erholen und findet, dass Carl das Bild störe, „sich nicht recht in die Umgebung ein[füge, d. V.]; als hätte man ihn ins Bild kopiert, wie auf einer Collage Max Ernsts.“182 Auch der Makler, der für Carl ein Haus an der Oder suchen soll, zeigt sich irritiert, „Besoldungsstufe und Reputation, ein Geflecht von Vorurteilen, denen er so offenkundig nicht entsprach“, und muss „in seinem Weltbild eine Nische frei[]räumen.“183 Carl wirkt trotz Karriere und Ansehen fremd in seinem universitären Umfeld, dessen Betriebsamkeit und bürokratischem Formalismus er sich entziehen möchte. Sein Auftreten, das dem Bild des Altachtundsechzigers entspricht, „das ausgeleierte, ausgewaschene Sweatshirt, der graue Zopf und die grauen Bartstoppeln“, ist weder ironisches Zitat noch modische Attitüde, eher Ausdruck einer Kontinuität im Selbstverständnis.184 In seiner Widerständigkeit ist Carl von den 1970er Jahren geprägt und bleibt diesen verhaftet. Christian nimmt ihn wahr als einen „glucksende[n] Buddha in seinem offenen Hemd“, assoziiert ihn mit Aussteigerbewegungen nach Goa, Indien.185 Sein Vergleich mit Jerry García, dem
177 Ebd., S. 256. 178 Ebd., S. 352. 179 Ebd., S. 415. 180 Ebd., S. 406, 407. 181 Ebd., S. 407. 182 Ebd., S. 256. 183 Ebd., S. 353, 355. 184 Ebd., S. 256. 185 Ebd., S. 418.
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Frontmann der kalifornischen Band Grateful Dead, stellt den Bezug zur HippieBewegung her.186 Die Aktion seiner italienischen Freundin Lavinia, die einem Polizisten während einer Demonstration die Pistole aus der Hand gerissen habe, weckt bis heute Carls Bewunderung, „in seinem Kopfschütteln, seinem Tonfall drückten sich auch jetzt noch, in gleichem Maße, Missbilligung und Respekt aus.“187 Seine Heiratspläne kommentiert er selbstironisch mit Rückgriff auf antibürgerliche Stereotypen: „[…], glaubt ihr, wir schenken dem Staat meine Pension?“188 Carls Rückzug vom kämpferischen Engagement in die literarische Ästhetik erscheint wie eine innere Emigration als Ergebnis des Scheiterns. Für Christian ist Carl mehr als nur der Kontaktmann zu den untergetauchten Aktivisten der 1970er Jahre. Als aktiver Vertreter der Generation, die an die Möglichkeit einer grundsätzlichen gesellschaftlichen Veränderung glaubte, ist er Teil seiner Recherche, seiner Suche nach Erklärungen, vielleicht auch Alternativen zu der normierten Einbindung, zu Apathie und Rückzug, die er in seiner Umgebung und in seiner eigenen Zuschauerposition wahrnimmt. Mit der Darstellung Carls und seiner Wahrnehmung durch Christian rollt Peltzer ein Stück Zeitgeschichte auf, in deren Fokussierung sich Erklärungsversuche der vermeintlichen Alternativlosigkeit andeuten. Er konkretisiert in dieser Figur eine Position autonom konnotierter Distanz in einer historischen Situation, zeichnet sie nach als Distanznahme gegenüber majoritären Positionen der Verdrängung in der Nachkriegszeit, als Voraussetzung und Grundlage eines auf Veränderung und Gestaltung zielenden Engagements und konstatiert dessen Scheitern, das Scheitern eines Zugriffs, der der majoritären Macht eine Gegenmacht entgegenstellt. Christians Suche nach Erklärungen des Scheiterns ist eine Suche nach schlüssigen Lösungen, einer Art Gebrauchsanweisung für erfolgreiche und ethisch vertretbare Widerständigkeit, die er bei Carl Brenner ebenso wenig findet wie bei den Untergetauchten, zu denen Carl den Kontakt herstellt. Carl spricht kritisch und selbstkritisch über Irrtümer, die man zu spät begriffen, über „Fehler“, die man begangen habe und die er im Fehlen einer Ethik der Grenze, einer Ethik des Genug verortet: „In jeder Handlung steckt ein Konzept von Moral, eine praktische Moral, die oft bedeutsamer ist als die Praxis an sich. […] als Grenze, die man nie aus dem Auge verlieren sollte.“189 Christian versucht, diese Grenze gedanklich zu präzisieren: „Ist der Gebrauch von Waffen die Grenze? Die Bereitschaft, Tote in Kauf zu nehmen, oder der Vorsatz, gezielt
186 Vgl. ebd., S. 411. 187 Ebd., S. 418. 188 Ebd., S. 414. 189 Ebd., S. 259.
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zu töten, Steinwürfe, zerschlagene Fensterscheiben? […] Welche Grenzen?“190 Carl weicht aus, gefangen und befangen in der Ambivalenz von eigener Verstrickung, Sympathie und Verständnis für die Aufständischen und Erschrecken über die Eskalation der Gewalt. Christians Frage nach klaren Regeln der Gegenwehr weist er zurück. Eine praktische Handlungsalternative für die Gegenwart sieht er nicht. Der Kauf des Hauses ist gekennzeichnet von der Idee des Aussteigens, geographisches Pendant zu seinem inneren Rückzug. Das Haus liegt im Grenzgebiet zwischen Deutschland und Polen, die Landschaft wirkt, als würde sie schlafen, „die Illustration eines Traums, einer versunkenen Welt, die kein Industrieprinz mehr wachküssen wird zu irgendeiner Geschäftigkeit.“ Das „Urwaldgrün“ verweist auf das Ursprüngliche und Unregulierte des Landstrichs.191 Carl wünscht sich „Abgeschiedenheit“, er stellt sich das Haus als einen Fluchtort vor. In dem Begriff „Cordon sanitaire“, mit dem er das Acker- und Wiesenland um das Haus bezeichnet, kommt sein Bedürfnis nach einem Schutzraum in einer als bedrängend und feindlich empfundenen Umwelt zum Ausdruck.192 Unter dem Eindruck des Älterwerdens, der begrenzten verbleibenden Lebenszeit, betrachtet er das Haus in seiner Abgelegenheit als Chance, ein Außen für Momente zu schaffen, ein „[A]us der Welt“-Sein, das zeitweise gelebt werden kann: „[E]in Haus an der Oder mit einem verwilderten Garten, Sonnenblumen, Rhabarber, Weißdornhecken, einem Ziehbrunnen. Wie ein Versteck, in das man hineingeht nach Belieben und das man nach Belieben wieder verlässt. Wo man atmen kann, lesen, wo einen niemand bedrängt. Um Freunde zu beherbergen, um allein zu sein. Unterschlupf für jeden, der eines Unterschlupfes bedarf, sich ausruhen, Abstand gewinnen. Was zu tun bleibt, was zu schreiben bliebe, was man noch einmal anpacken möchte. Sich zutraut.“193
Die hier beschriebene Distanz ist durch das Bedürfnis gekennzeichnet, ein Stück Autonomie zu verteidigen, einen Freiraum des Denkens, der Auseinandersetzung mit sich selbst und der Verbundenheit mit Freunden. Das Haus und die Vorstellungen, die Carl, aber auch Christian mit diesem Fluchtort verbinden, gewinnen Züge einer Gegenwelt, oszillieren zwischen Idylle und Utopie: Christian empfindet den Ort als „paradiesisch“, wie einem „Bilderbuch“, einem „Märchenbuch“ entsprungen.194 Carl sieht ihn darüber hinaus als einen Ort der Begegnung, als
190 Ebd., S. 259, 260. 191 Ebd., S. 409. 192 Ebd., S. 354. 193 Ebd., S. 353, 355. 194 Ebd., S. 423, 409.
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Möglichkeit, Freunde aus unterschiedlichen Ländern und Lebensphasen zusammenzuführen, sich in Bezug zu setzen zu seiner Lebensgeschichte, zu Menschen und gemeinsamen Ideen, die ihm wichtig waren und sind. „Der große Innenhof – wäre genau der nicht ideal für ein Sommerfest, zu dem man alle Freunde einladen könnte, ein Wochenende im August, an dem man sich sehen, zwei, drei Tage lang reden würde, essen, trinken, tanzen, draußen schlafen, wer mag, in Zelten, die Alten im Haus, Platz für die Kinder […], aus Italien, Frankreich, Bernado und Isa aus der Schweiz, ein Klassentreffen, dachte er (schmunzelnd), hat uns das nicht gefehlt, zerstreut in Europa, wie wir heute sind?“195
Die hier entworfene Situation einer freien und offenen Kommunikation steht im Gegensatz zu dem im Gespräch mit Christian geäußerten Gefühl, „[z]um Schweigen verdammt zu sein“, das aus dem Zwang erwächst, die eigene Verstrickung geheim zu halten.196 Der Verdrängung der eigenen Geschichte, einer Fremdheit im Selbstverhältnis, steht das Bild der Verbundenheit mit den Freunden als befreiende Alternative gegenüber. In dem Wunsch, in Ruhe nachdenken zu können, ohne Druck und Vorgaben, mit alten Freunden entspannt reden zu können, zeigt sich neben der Anknüpfung an Vergangenes die Bereitschaft weiterzudenken, das Bedürfnis nach einer Orientierung, die an nach wie vor Relevantes anknüpft. Auch das Draußen, die Zelte referieren auf eine Beweglichkeit, die sich dem fest Gefügten entzieht und den Gedanken des Nomadischen aufgreift, dem auch Jakob in seinen durch Deleuze geprägten Untersuchungen nachspürt. Die Rituale der Untergetauchten: Erstarrung und Leerlauf Während Carls Rückzug ein Moment von Offenheit enthält, eine Widerständigkeit des Denkens, an der er festhält trotz und neben der Resignation, wirken die untergetauchten Aktivisten der italienischen Aufstände der 1970er Jahre, zu denen Christian mit Carls Hilfe den Kontakt findet, wie erstarrt in den Ritualen der Klandestinität und gewinnen nur vage Konturen. Ein erster Anruf, von Carl angekündigt, bleibt anonym: „Als sei es eine digitale Stimme, abgehackt.“197 Auch den
195 Ebd., S. 353, 354. 196 Ebd., S. 422. 197 Ebd., S. 279.
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Weg zum ersten Treffen weist Christian „[d]ie Stimme […], abgehackt, elektronisch verfremdet“.198 Der Treffpunkt auf der Stralauer Insel erscheint als NichtOrt, vom Verfall gekennzeichnet: „[D]ie Ödnis eines großen, eingeebneten Areals, auf dem in einiger Entfernung noch zwei einsame Gebäude zu sehen waren [...]. Es war eine Fabrikhalle […] ohne Tore mit kaputten Scheiben, Betonrampen, Eisentüren, rostigen Geländern, an manchen Stellen Kopfsteinpflaster, in dem sich Schienen verzweigten.“199
Der Mann, in dem die Untergetauchten einzig Gestalt annehmen, bleibt unbestimmt. „Aus dem Nichts aufzutauchen“ erscheint Christian als „seine Spezialität“.200 Christian nennt ihn den „Unbekannte[n]“, sein Alter ist kaum festzustellen: „Er hätte vierzig sein können oder auch fünfundvierzig […], wenn nicht älter.“201 Sein Kleidungsstil entspricht einer klassisch-eleganten Herrenmode – „als sei er irgendwo eingeladen. In besserer Gesellschaft“, sein Beruf bleibt Christian unklar: „Er hätte alles sein können, […], Rechtsanwalt, Consultant, Business Head.“202 Die Bewegung der 1970er Jahre scheint dem Unbekannten fernzuliegen, in den Gesprächen mit Christian bleiben persönliche Erfahrungen oder inhaltliche Bezüge unerwähnt. Kleine Hinweise ergeben sich aus Buchtiteln, die sie austauschen und die geheime Botschaften zu enthalten scheinen: Leonard Cohens Beautiful Losers (1966) und die Romane Jean-Patrick Manchettes aus den 1970er Jahren. Die Literatur erscheint als produktiverer Speicher der historischen Bewegung als der Beteiligte selbst. Den formalen Bezug zum Anlass des Treffens schafft eine Referenz des Unbekannten auf Italien, die Feststellung, Christian trage die Farben des Fußballvereins Juventus Turin. Dass die Straße in der Nähe des Pariser Hotels, in dem Christian auf den Interviewtermin mit den Untergetauchten warten soll, Boulevard Garibaldi heißt, entlockt dem Unbekannten „ein Lächeln, wie nach einer gelungenen Anekdote.“203 Christian insistiert auf seinem inhaltlichen Interesse an den Beteiligten und ihrer Situation sowie auf dem Aktualitätsbezug seiner Recherche:
198 Ebd., S. 323. 199 Ebd., S. 328. 200 Ebd., S. 373. 201 Ebd., S. 334, 329, 373. 202 Ebd., S. 463, 374. 203 Ebd., S. 374.
254 I Z USCHAUER DES L EBENS „[…] Moralische Empörung, um Geschichte zu entsorgen. Es geht nicht um Schuld oder Unschuld, sondern es handelt sich um den Versuch, das Eingeständnis zu erzwingen, dass alles falsch war und ist, was auch nur von fern die gegenwärtige Ordnung in Frage stellt. Als dürfe im Haus des Konkursverwalters auf keinen Fall das Wort Konkurs ausgesprochen werden. […]“204
Auf Christians Vermutung, ein angestrebter Prozess gegen die Untergetauchten diene dem Versuch, den Gedanken an die Möglichkeit gesellschaftlicher Veränderung grundsätzlich zu diskreditieren, reagiert der Unbekannte mit Lakonie: „‚Das war noch nie anders‘, sagte der Mann, während er auf sein Handy sah.“205 Aufmerksamkeit bringt er nur auf für technische Details und Abläufe. Er fragt nach dem Aufnahmegerät, mit dem Christian arbeite, und empfiehlt ihm eine große Zeitung, damit sein Name „einen gewissen Glanz“ bekomme.206 Er übermittelt ihm einen Gesprächstermin mit den Untergetauchten in Paris, fragt, ob er ein Auto besitze, nennt ihm das Hotel sowie einen günstigen Parkplatz in der Nähe. Die Kommunikationsabläufe, mit denen der Unbekannte Christian bekannt macht, sind aufwändig, „bewährte Mechanismen der Kontrolle.“207 Vor dem ersten Treffen muss er stundenlang S-Bahn fahren und erhält halbstündig neue Instruktionen. Informationen zu dem Treffen in Paris sollen ihm per Email zugehen: „Du richtest dir in einem Netzcafé einen Account ein, von dem aus du eine Mail, die an deine reguläre Adresse gegangen ist, beantwortest. Die zweite Mail schreibst du von einem neuen Account in einem neuen Café, nachdem du den ersten gelöscht und abgemeldet hast. Und so weiter. […] Eine Mail pro Account. Du kriegst eine, löschst alles und schreibst die Antwort unter einer neuen Adresse.“208
In der Sicherung dieser Abläufe nimmt Christian die Untergetauchten als „Perfektionisten“ wahr – eine Perfektion, die zum Teil paranoide Züge annimmt und vollkommen entleert wirkt von jenen politischen Inhalten, mit denen man in den 1970er Jahren die Verhältnisse verändern wollte.209 Der intertextuelle Verweis auf Kafka unterstreicht den verwalteten Leerlauf mit anonymen autoritären Strukturen, „der Torwächter, Türöffner, farblos wie ein Sachbearbeiter in einer Behörde
204 Ebd., S. 330, 331. 205 Ebd., S. 331. 206 Ebd., S. 330. 207 Ebd., S. 279. 208 Ebd., S. 331. 209 Ebd., S. 328.
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(was für ’ne Behörde denn?).“210 Christian kann nur die Forderung nach absoluter Folgsamkeit erkennen, „Verfügbarkeit, in jedem Moment bereit, ihren Anordnungen Folge zu leisten“.211 Er wird „bündig instruiert“, bewegt sich durch die Stadt, „[w]ie es ihm gesagt worden war“, wird aufgefordert, rund um die Uhr erreichbar zu sein.212 In Christians Geldwäsche-Vergleich – „Als würde man Schwarzgeld von Konto zu Konto schieben“213 – wird die beliebige Einsetzbarkeit solcher Abläufe und autoritärer Strukturen deutlich. Schließlich wird ihm ein Interview zugestanden, um eine „autorisierte[] Abschrift“ in die Medien zu bringen, die weitergehende subjektive Verarbeitung und Deutung bleiben ihm verwehrt: „keinen Artikel, keinen Bericht, keine Reportage“.214 Dass die Inhalte des Interviews keinen Eingang in den Roman finden, bestätigt den Eindruck des Leerlaufs: Antworten auf die Frage nach „Erfahrungen“, nach dem „[w]as man für wichtig hält“, sind bei den Untergetauchten nicht zu finden.215 Unerfüllt bleibt auch die Hoffnung, bei den Beteiligten Klarheit zu finden über die Bewegung und ihre Gegner, die Christian als undurchschaubar empfindet: „Ein Wirbel von Personen und Funktionen und Akronymen, für die man ein Lexikon des ideologischen Irrsinns benötigt hätte, Irrsinn des Staates und seiner Feinde.“216 Die Fahrt in einem fensterlosen Lieferwagen zu der Wohnung in Paris, in der das Interview stattfindet, „um zahllose Ecken“ – „unmöglich, sich die dauernden Richtungsänderungen zu merken“ –, weckt in Christian den Eindruck, „dass sie die ganze Zeit nur um zwei oder drei Blocks gekreist waren, auf der Spur des Unendlichkeitszeichens.“217 Jene, die Gesellschaft radikal und grundlegend verändern wollten, scheinen sich selbst im Kreise zu drehen, Gefangene ihrer leeren, formalistischen Abläufe und Strukturen zu sein. Das einzig „unverwechselbare[]“ Charakteristikum des Unbekannten – ein „gepflegte[r] Schnurrbart, den er über die Mundwinkel hatte wachsen lassen“– lässt ihn zugleich wie eine Karikatur der 1970er Jahre wirken: „eine von der Zeit versiegelte Mode aus einem anderen Jahrzehnt.“218 Wie ein Zitat aus
210 Ebd., S. 334. 211 Ebd., S. 371. 212 Ebd., S. 323, 372; vgl. S. 377, 454. 213 Ebd., S. 331. 214 Ebd., S. 463, 376. 215 Ebd., S. 260, vgl. S. 350. 216 Ebd., S. 211. 217 Ebd., S. 464, 465. 218 Ebd., S. 329, 374, 330.
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vergangenen Zeiten wirkt auch die Wahl der Urania-Weltzeituhr auf dem Alexanderplatz aus dem Jahr 1969 als Ort des zweiten Treffens.219 In der Gestalt des Mannes erscheinen die Untergetauchten wie Abziehbilder ihrer selbst und der 1970er Jahre, ihr eigener Mythos. Als Christian den Beatles-Song Sergeant Pepper’s Lonely Hearts Club Band von dem gleichnamigen Album aus dem Jahr 1967 als Klingelton des Unbekannten erkennt, der „wiederum zu seinem Schnurrbart passte“, fühlt er sich wie das Opfer einer Persiflage: „[A]lles fake, jeder hat’s kapiert, nur ich nicht.“220 Der Diminutiv von Don, „Donny 5“, den Christian als Mailnamen für die Korrespondenz mit den Untergetauchten wählt, unterstreicht den Eindruck einer Parodie krimineller Untergrundbewegungen ebenso wie der Absender der ersten Mail der Untergetauchten, „AEC-1“, der in der EDV auf die Hochverfügbarkeit eines Systems trotz Ausfall seiner Komponenten verweist.221 Die Vorstellungen, die Christian entwickelt, scheinen direkt einem Agentenfilm entsprungen: „Botschaften auf Zeitungsrändern, die man unauffällig in einen Müllkorb wirft, wo sie von den Kollegen vom Staatsschutz gefunden werden. […] An das Fenster der Schnellbäckerei herangewunken werden. […] Mir ist niemand auf den Fersen, ich bin allein. […] Er hatte erwartet, abgetastet zu werden (wie man sich das eben vorstellt).“222
Die Suche nach den Aktivisten ist im Hinblick auf Thematik und Struktur des Romans zentral. Sie liefert den Anstoß für Christian, sich aus seiner sarkastischen Zuschauerposition zu lösen. Als Suchbewegung strukturiert sie den Roman, führt die Figuren zusammen und setzt das Thema der Subjektivitätsentwürfe zwischen Rückzug und Widerstand. Die Untergetauchten liefern keine Antworten auf Christians Fragen – weder historisch noch aktuell. In ihrer ritualisierten Klandestinität variieren sie das Thema der Kontrolle als einer extremen Einbindung in erstarrte, fest gefügte Strukturen. Die Lebenswelt der 1970er Jahre lässt sich durch sie nicht verfügbar machen, über die Gegenwart nichts in Erfahrung bringen. Die Fragen aber, die sich aus Christians Recherche und seiner Beschäftigung mit ihrer Situation ergeben, bleiben und zielen weiter auf subjektive Reflexion und Stellungnahme bezogen auf Vergangenheit und Gegenwart widerständiger Subjektivität.
219 Vgl. ebd., S. 373. 220 Ebd., S. 376. 221 Ebd., S. 371, 369. 222 Ebd., S. 323, 325, 326, 463.
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Neles Aktion: Gegenwehr und Affizierbarkeit In Christians Begegnung mit der politischen Aktivistin Nele Fridrich wird die Frage nach Selbst- und Weltverhältnissen zwischen Rückzug und Widerstand für die 2000er Jahre aktuell. Nele, die mit allen Figuren verknüpft ist – Jakobs beste Studentin schätzt wie er Foucault und Deleuze; sie war wie Prof. Brenner zum Studium in Italien; mit Christian verbindet sie eine Liebesgeschichte – teilt mit den Roten Brigaden den Versuch der organisierten Gegenwehr angesichts herrschender Verhältnisse. Die Studentin der Literaturwissenschaft ist Teil einer Gruppe, die sich mit ihren Aktionen u. a. gegen Privatisierung, Ökonomisierung und Überwachung des städtischen Raumes, gegen die deutsche Asylpolitik, die nationale und globale Verteilung und Macht von Kapital richtet. Spielerisch-aufklärerisch tritt die Gruppe im Sonycenter sowie in der Galerie Lafayette auf. Die Objektive der Überwachungskameras auf dem U-Bahnhof Schinkestraße sprühen Nele, Holger, Jan und Jenny mit Farbe zu, drücken Klebstoff in die Münzschlitze der Fahrkartenautomaten und hinterlassen die Botschaft „Fährst du noch oder läufst du schon? BVG zum Nulltarif!“, die eine Ikea-Werbung, Wohnst du noch oder lebst du schon, ironisch aufnimmt.223 Eine weitere Aktion der Gruppe richtet sich gegen ein Lufthansabüro, auf dessen Schaufenster sie ihre Botschaft sprayen. Sie rufen auf, „gegen die Asylpraxis der Regierung und ihrer Helfershelfer Widerstand zu leisten“ und fordern von der Fluggesellschaft, ihre Beteiligung an Abschiebungen zu beenden: „Der Kranich ihres Vertrauens, des Schreckens. Mit einem Knebel im Mund die Leute ins Flugzeug gesteckt und dann ab in die heimatlichen Folterkeller. […] Mörderhansa. First class deportation class. Togo: Flug in den Tod. […] Sofort Schluss mit den Abschiebungen.“224
Die Gruppe reist auch zu den internationalen Protesten gegen die Weltbanktagung in Zürich, während derer es zu gewalttätigen Zusammenstößen zwischen der Polizei und den Demonstranten kommt, an denen Mitglieder der Gruppe, ausgestattet mit „Mollis […], Zwillen“ beteiligt sind.225 Hinweise auf Motivation und Ziele der Aktivisten ergeben sich aus den Äußerungen verschiedener Gruppenmitglieder: „Weil es einem stinkt, wie sie die Stadt umgestalten […]. Erlaubte Zonen,
223 Ebd., S. 55. 224 Ebd., S. 284, 152, 283. 225 Ebd., S. 264.
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verbotene Zonen, Einschränkung der Bewegungsfreiheit.“226 Kritisiert werden der Umbau der Innenstädte, der an den Interessen und Bedürfnissen der meisten Menschen vorbeigehe, die Errichtung riesiger Einkaufszentren und Bürogebäude durch private Investoren, eine Verschwendung der Mittel.227 Damit werde zugleich, so der Eindruck, an „der Vision eines Systems ohne Reibungsverluste“, einem „neuen Kapitalismus“ gebaut, Konsum und wirtschaftlicher Fortschritt kultisch überhöht und die Menschen ruhiggestellt.228 Die Hingabe an den Konsum wird abgelehnt, unter Menschenwürde versteht man „mehr […], als in Ruhe zu shoppen.“ Zudem sei diese Ruhe global gesehen ohnehin eine Illusion, man wolle nicht „in einer Festung leben […], einem Fort, das die Indianer der Armut belagern“.229 Unternehmen könne man dabei nicht mehr, „als in der Öffentlichkeit Alarm zu schlagen“, weil „die legalen Spielräume der Opposition“ durch Kontrolle und Überwachung zunehmend eingeschränkt seien.230 Eine ähnliche Kritik ist in Christians ironisch-distanzierter Wahrnehmung seiner Umwelt sowie in der Darstellung der Lebenswelt im Prolog erkennbar. Die Annäherung an Motive und gesellschaftliche Einordnung der Gruppe erfolgt auch aus der Perspektive der Polizei und des Staatsschutzes, die im Zusammenhang mit den Aktionen ermitteln und deren Einschätzungen der Situation sehr heterogen bleiben. Klaus Witzke, der in den späten 1960er Jahren zum Staatsschutz gekommen ist, „als Haschrebell, mit so einer Fellweste und Jesuslatschen“, ist in seiner Diagnose den 1970er und 1980er Jahren verhaftet.231 Er sieht die Aktionen im Zusammenhang mit einem wachsenden linken, gewalttätigen Widerstand, „ein[em] Aufflackern von […] bewaffnetem Kampf“ und erkennt „naturwüchsige Entwicklungen, die sich wiederholen“.232 Dabei hat er für die Motivation, die er zu erkennen glaubt, das Gefühl der Ohnmacht angesichts globaler Ungerechtigkeit, durchaus Verständnis. „[…] Was würdest du denn tun? […] Wenn du jung wärst, unzufrieden darüber, wie die Welt ist, empört über Armut und Hunger, grassierende Arbeitslosigkeit, und es dir dämmert, dass du eigentlich keine legalen Mittel hast, etwas zu verändern. Keine Massenbewegung, keine Partei, der du dich anschließen kannst. Stattdessen Mauscheleien der Politiker mit
226 Ebd., S. 299, 300. 227 Vgl. ebd., S. 151. 228 Ebd., S. 152, 153. 229 Ebd., S. 300. 230 Ebd., S. 299, 147. 231 Ebd., S. 361. 232 Ebd., S. 363.
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denen, die du für verantwortlich hältst, Bankiers, die im Monat so viel verdienen wie eine Million Afrikaner im Jahr. Das radikalisiert dich von allein.“233
Diese Analyse teilt Klaus Witzkes Vorgesetzter Eberhard Seidenhut „ganz und gar nicht“. Er sieht in den Aktionen „Einzelfälle, die wir nicht aufbauschen wollen. Die keinen Anlass bieten. Und die nicht zu vergleichen sind mit der Situation in den, sagen wir, siebziger Jahren.“234 Seidenhut erkennt „neue Bedrohungen“, die sich aus 9/11 ergeben.235 Er vertraut eher auf die Analysen und Methoden des jüngeren, karrierebewussten Beamten Oliver Damm. Oliver Damm identifiziert als Charakteristika der Gruppe ihre kurzen, präzisen Formulierungen, den „[u]northodox[en] […] Spaßfaktor“ und ihre „Namenlosigkeit“ als „Weigerung, sich irgendwie eine Identität zu geben“ und „Prinzip von dezentralen Strukturen, die keine Organisation anstreben. Streng antihierarchisch und meist ohne engeren Kontakt zu Gleichgesinnten.“236 Insofern grenzt er sie ab von den organisierten Gruppen der 1970er Jahre mit ihren kämpferischen, ideologischen Namen und Programmatiken, ihren ausführlichen Aufrufen und Bekennerschreiben: „Nichts von Machenschaften und so weiter […]. Womit sie üblicherweise ihre Anschläge begründen, die große Verschwörung in den Chefetagen, seitenlang. Konzerne, Ämter und Politik organisieren Hand in Hand die Repression des Volkes.“237 Damm sieht eine neue Generation des Widerstands entstehen, eine diffuse Bewegung mit geringem Organisationsgrad ohne einheitliche Ideologie, die versucht, global zu denken und vielfältige Ziele verfolgt, „von Klimaschutz bis Frauenrechte, Schuldenerlass für den Trikont, Initiativen gegen Genmanipulation“.238 Zentrale Botschaft sei der Widerstand gegen Verhältnisse, in denen Vermögen und Gewinn wenigen zuteil werden, ein Widerstand, dessen Inhalte Damms Einschätzung nach von großen Teilen der Bevölkerung geteilt werden. „Anschläge, für deren symbolische Bedeutung jeder eine Ader hat. Der Nachbar nebenan wie die Gleichgesinnten in allen Erdteilen. Sie müssen nur davon erfahren. […] Da sind welche, die lassen sich das nicht mehr bieten. Preiserhöhungen, Miete, Lohndumping. Und
233 Ebd., S. 362. 234 Ebd., S. 363. 235 Ebd., S. 360. 236 Ebd., S. 111. 237 Ebd. 238 Ebd., S. 112.
260 I Z USCHAUER DES L EBENS getroffen werden ausschließlich die Profiteure und ihre Agenturen, die Bevölkerung weiß, man ist auf ihrer Seite.“239
Nach Damms Analyse geht es Neles Gruppe vor allem darum, die Öffentlichkeit zu erreichen, wozu Medien, insbesondere das Internet genutzt werden. „Ein Signal senden, das auch medienmäßig gewürdigt wird. Multiplikation des Widerstands auf die anschaulichste Art. [...] Einerseits über das Netz, andererseits die Schlagzeilen der Massenpresse. Als Nachricht des Tages, die man im Kopf behält.“240 Der vielstimmige Eindruck einer Gruppe zwischen legitimem Widerspruch und terroristischer Aktion, zwischen dem Verhaftetsein in den 1970er Jahre und neuen Formen des Widerstands, zwischen einer Massenbewegung und vereinzelten Aktionen wird ergänzt durch Neles subjektive Perspektive, in der sich die Auseinandersetzung mit Möglichkeiten, Motivation, Entwurf und Wirkung von Widerstand aktualisiert. Neles Motivation der Gegenwehr erscheint als Gegenentwurf zu Christians Programm: Während Christian es als Verpflichtung ansieht, „[s]ich zu entziehen“, stellt Nele sich in einen größeren Zusammenhang:241 „Es gibt Verpflichtungen, denen man sich nicht mehr entziehen darf, übergeordnete Interessen und Ziele.“242 In ihrer kritischen Betrachtung der Umwelt liegt keinerlei ironische Distanz. Sie positioniert sich vielmehr mit rigoroser Entschiedenheit gegenüber allem, was sie als gesellschaftliche Missstände oder Ungerechtigkeiten wahrnimmt. Ihre Distanznahme zielt auf Veränderung und verbindet sich mit aktiver Einmischung. Sie reagiert impulsiv und emotional, wenn sie mit einem Standpunkt oder einer Beurteilung nicht einverstanden ist. Man sieht ihr die „Lust zu denken, die Lust am Geistesblitz“ an.243 Ihre „sorgsam“ geplante Aktion gegen die BVG geht sie immer wieder hochkonzentriert gedanklich durch, beschäftigt sich intensiv mit ihren widerstreitenden Aspekten.244 Das Vorhaben steht für sie am Beginn weiterer, wirkungsstärkerer Aktionen, von denen sie sich eine größere mediale Resonanz erhofft: „Kein großes Aufsehen, keine Schlagzeilen, aber immerhin, es war ein Anfang.“245 Nach vollendeter Tat erfasst sie Euphorie, ein „Hochgefühl“ angesichts
239 Ebd., S. 216, 217. 240 Ebd., S. 216. 241 Ebd., S. 206. 242 Ebd., S. 53. 243 Ebd., S. 271. 244 Ebd., S. 55. 245 Ebd., S. 52.
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des gelungenen Ablaufs, „perfekt, wie am Schnürchen.“246 Eine engagierte Beteiligung prägt insgesamt Neles Selbst- und Weltverhältnis. Der Roman zeigt sie als sehr naturverbunden. Sie liebt „Hitze und blendendes Licht […]. Das Meer, die Seen ihrer Heimat“, läuft barfuß durch Berlin, wünscht sich einen Garten „mit Obstbäumen und Brombeerhecken, Gras, das sie wild wachsen lassen würde“.247 Ihrer Familie ist Nele nah. Immer trägt sie eine Kette mit einem Anhänger ihrer Mutter um den Hals, die an MS gestorben ist, als Nele acht war. Auch an ihren Vater, der die Mutter während ihrer schweren Krankheit verlassen hat und über den niemand in der Familie mehr spricht, denkt sie, würde gern nach ihm fragen. Sie verurteilt sein Verhalten scharf und empfindet das durch ihre Familie erfolgte Kontaktverbot zugleich als rücksichtslos. Als sie sich in Bedrängnis fühlt, zieht sie sich in das Haus ihrer Schwester Hannah zurück, der sie auch für ihren Beistand in Kinderzeiten sehr dankbar ist. Was Nele fühlt, fühlt sie mit Intensität, was sie tut, tut sie mit großem Einsatz. Als Jugendliche war sie Bezirksvizemeisterin im Segeln und hat intensiv Cello gespielt. Die 23jährige Studentin der germanistischen und romanistischen Literaturwissenschaft schreibt an ihrer Abschlussarbeit über Jean Pauls Titan. Jean Paul ist „ihr absoluter Lieblingsautor“, „[v]on der Macht nicht zu vereinnahmen“, sie ist der festen Überzeugung, dass „jeder vernünftige Mensch“ ihn liebt.248 Mit großer Disziplin verfolgt sie ihr Projekt. Jakob, der ihre Arbeit betreut, bezeichnet sie als „seine beste Studentin“.249 Bücher und Filme, die sie liebt, spiegeln ihre Selbstwahrnehmung, ihren Blick auf die Lebenswelt, die Themen, mit denen sie sich auseinandersetzt. Über den Film Lameria (1994) von Gianni Amelio, der in Albanien nach dem Ende des kommunistischen Regimes spielt, hat sie die ganze Nacht mit einer Freundin diskutiert, weil „beide so aufgewühlt“ waren. Sie bewundert, wie es dem Regisseur in seinen Bildern der Flüchtlinge gelingt, die Einzelnen „aus einer Schlagzeile wieder in Menschen“ zu verwandeln.250 Porte Aperte (1990), ebenfalls von Amelio, resümiert sie auf der Rückfahrt vom Kino: den vergeblichen Kampf eines Richters gegen das „undurchdringliche[] Herrschaftsgefüge“, das „Dickicht aus Korruption und Eifersucht“ im faschistischen Italien der 1930er Jahre, gegen das er nicht ankommt, „schließlich aufgab, aufgeben musste, die wahren Schuldigen vor Gericht zu bringen.“251 Jean Pauls Vorschule der Ästhetik liest sie während eines Picknicks zum wiederholten
246 Ebd., S. 55. 247 Ebd., S. 56, 107. 248 Ebd., S. 268, 308. 249 Ebd., S. 79. 250 Ebd., S. 161. 251 Ebd., S. 162.
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Mal. Es ist der Text, in dem Jean Paul über die unüberwindbare Entfernung zwischen unendlichem Ideal und Endlichkeit reflektiert, ein Thema, das auch den Titan durchzieht.252 Bei Michel Foucault und Gilles Deleuze sucht sie Denkanstöße für Verständnis und Bewertung der Gegenwart. Diese Bereitschaft zu Teilnahme und Aneignung ist verbunden mit einem sehr energischen, auf Unabhängigkeit zielenden Selbstentwurf. Christians Konstruktion der Welt als etwas, das ihn zu vereinnahmen und bestimmen droht, setzt Nele eine Position autonomer Distanz und souveräner Gestaltung entgegen: „‚Wenn man nicht vorsichtig ist, gerät man in Schwierigkeiten.‘ [Christian, d. V.] ‚Man bereitet sich selber welche.‘ [Nele, d. V.]“253 Nele sucht nach klaren Standpunkten. Ihre Reflexion über den Schauspieler Walter Zechbauer, in dessen privater Bibliothek sie arbeitet, erweckt den Eindruck, dass sie ständig nach einer Wertordnung sucht: „[A]ndere steckten ihr Geld in Autos. Dann besser so.“254 Sein Einsatz für die Bekanntmachung schwieriger Autoren, erlaubt es Nele, den „Mist, in dem er mitspielte, zu ignorieren“.255 Zudem rechnet sie ihm an, dass er während seiner Arbeit in Hollywood „nie einen Nazi dargestellt“ hat, „all der verführerischen Dollars zum Trotz.“256 Dass sie allerdings in Zechbauers großem Reichtum zufrieden und unbeschwert leben könnte, schließt sie aus. Die Urheber der Idee großer Volieren in Einkaufszentren bezeichnet sie als „[e]lende Sadisten“, den Standort des Programmkinos Arsenal im Sonycenter als „krank“, „Pachtverträge und Baugenehmigungen gegen ein bisschen Kultur über den Parkdecks.“257 Mit rigoroser Abgrenzung geht Nele auf Distanz zu ihren Gegnern, die allerdings diffus bleiben, Gruppen, die sie umso unnachsichtiger verurteilt, je weniger sie konkret zu fassen sind. Eindeutig ist zum Beispiel Rasenmähen in ihren Augen Ergebnis eines scheinheiligen spezifisch deutschen Ordnungswahns. „[A]lle reif für die Anstalt. Ein ganzes Land, das es nicht erträgt, wenn etwas auch nur einen Millimeter vom Weg abweicht. Aber sich die Turnschuhe in Vietnam für Hungerlöhne zusammennähen lassen, in solchen Fabriken ohne Lüftung und Licht, damit haben sie kein Problem.“258
252 Vgl. Mayer, Hans: Das unglückliche Bewusstsein. Zur deutschen Literaturgeschichte von Lessing bis Heine. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989, S. 458, 459. 253 Peltzer: Teil der Lösung, S. 177. 254 Ebd., S. 100. 255 Ebd., S. 101. 256 Ebd., S. 99. 257 Ebd., S. 222, 161, 162. 258 Ebd., S. 107.
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W IDERSTAND I 263
Ihre Feindbilder erscheinen als Strategien distanzierender Gegenwehr, als Rückzug auf eine Position der Selbstbehauptung. Auf diese Position zieht sie sich in ihren persönlichen Beziehungen zurück, wehrt Nähe und Berührung ab, legt großen Wert auf ihre Eigenständigkeit, sei es im Verhältnis zu Freunden oder Arbeitgebern. Marcello, der sich in sie verliebt hat, beschließt sie „klipp und klar zu sagen, dass er aufhören soll, Briefe zu schicken, […], ich lese keine Zeile von dem Zeug.“259 In ihrem Nebenjob ist sie stets darauf bedacht, keinen privaten Kontakt zu ihrem Arbeitgeber entstehen zu lassen. „Sie fuhr hierher, um zu arbeiten, und nicht um jemandem Gesellschaft zu leisten. Das eine vom anderen sorgsam zu trennen war ihr wichtig“.260 Jakobs Hinweis, auf einen Aspekt in ihrer Arbeit zu verzichten, um den Rahmen nicht zu sprengen, empfindet sie als eine Zurückweisung, auf die sie trotzig reagiert: „Sie wusste, dass er im Recht war, trotzdem fühlte sie sich einen Moment lang zurückgestoßen, ihr schien der Exkurs plausibel zu sein. Schriebe sie ihn eben für sich, jedenfalls nicht damit zu Jakob und ihn um seine Meinung bitten, jetzt nicht mehr.“261 Ihr Einsatz in der Gruppe, ihre Vorstellung von Verantwortung und normativem Handeln sind auch Abgrenzung und Gegenentwurf zu ihrem als verantwortungslos empfundenen Vater. Trotz ihres Selbstkonzepts autonomer Distanz und souveränen Engagements erfährt Nele sich als verletzlich und ausgesetzt, eingebunden in einem heteronomen Sinne. Ihre politischen Aktionen involvieren sie in hohem Maße, die Anspannung verhindert den Nachtschlaf, es fällt ihr schwer, „ruhig zu bleiben, ruhig zu atmen.“262 Kinderlärmen im Park weckt in ihr den Gedanken an eine unbeschwerte Leichtigkeit, einen „Traum davon, wie es sein könnte“, der sie gegen ihren Willen zu Tränen rührt.263 Von ihrer Schwester fühlt sie sich durch eine, wie sie selbst sagt, „Nebensächlichkeit“ herausgefordert, muss sich herausgefordert fühlen, obwohl sie sie lieber abnicken würde.264 Ihr eigenes Cellospiel wird ihr unerträglich, weil die Musik in ihrer Reinheit und Körperlosigkeit ihre Grenzen überschreitet, sich „ihrer Beherrschung entzieht“: „Mitunter so beängstigend, dass sie sich fürchtete, in dieser Empfindung gefangen zu bleiben.“265 Ihre Affizierbarkeit zeigt sich im Nebeneinander von Selbstverpflichtung und einer „Bedrückung“, die die Konzentration erschwert und „die Luft zum Atmen“ nimmt, sie immer wieder trifft,
259 Ebd., S. 102. 260 Ebd., S. 104. 261 Ebd., S. 102. 262 Ebd., S. 52. 263 Ebd., S. 288. 264 Ebd., S. 357. 265 Ebd., S. 161.
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„als würde sie ständig in einem Winkel des Zimmers hocken und nur auf den richtigen Zeitpunkt warten. Um hervorzuspringen.“266 Nele leidet an Rückenschmerzen, die sie auf einen Haltungsschaden infolge des intensiven musikalischen Übens zurückführt. Die Schmerzen kommen häufiger, „so schlimm ist es lange nicht gewesen.“267 Der Orthopäde empfiehlt ihr eine Operation und sie hat „Angst, Angst vor dem Schnitt, Angst vor der Narbe, davor, sich mit dreiundzwanzig wie ein halber Krüppel zu fühlen.“268 In der steten Sorge um ihren Rücken klingt metaphorisch die durchgängige selbstkritische Auseinandersetzung auf der Suche nach einer aufrechten Haltung an. Dem Gefühl der Überforderung durch den eigenen Anspruch begegnet Nele mit einem disziplinierten Programm. Der Unsicherheit, die sie ob des Gelingens ihrer Abschlussarbeit immer wieder erfüllt, stellt sie ein konzentriertes Arbeitspensum entgegen, „vier bis fünf Stunden an den Bildschirm, draußen Pause machen, dann weiter. Unterbrechungen vermeiden, das Telefon aus der Wand.“269 Wenn ihr gelingt, was sie sich vorgenommen hat, „[d]en ersten Abschnitt einer selbstauferlegten Strecke bewältigt zu haben“, erfüllt sie dies „mit Genugtuung, mit einem lange vermissten Gefühl von Ruhe und Vollständigkeit“. Umgehende Gegenmaßnahmen ergreift Nele gegen ihre psychische Bedrückung: „Ins Freie zu gehen, half meistens schon, sofort auf die Straße, sobald sich die geringsten Anzeichen bemerkbar machten.“270 Auch gegen ihre Rückenschmerzen geht sie an, macht direkt nach dem Aufstehen Gymnastik, geht schwimmen, „hundert Bahnen würde sie heute schaffen – und nicht eher aus dem Becken steigen.“271 Ihre Versuche der Selbstbehauptung kommentiert ihre Schwester Hannah, der Nele im Unterschied zu sich selbst einen gewissen Pragmatismus zuspricht, mit der Bitte, sich nicht zu überfordern: „Anstrengungen, die es nicht wert sind, nichts dümmer als die Furcht, sein Gesicht zu verlieren. Weil man nämlich ein Gesicht nicht verlieren kann, Nase, Augen, Mund und Ohren.“272 Neles Anstrengungen gelten der Suche nach einer Haltung, die Anerkennung verdient, wobei sie selbst ihr Maßstab ist. Ihre Anspannung wird sehr deutlich in ihrer Schlaflosigkeit und dem Versuch, sich für die Nacht von ihrem strengen Selbstentwurf zu lösen: „[S]chlafen konnte man so nicht. Sie flüsterte ihren Namen,
266 Ebd., S. 160. 267 Ebd., S. 138. 268 Ebd., S. 149. 269 Ebd., S. 160. 270 Ebd. 271 Ebd., S. 225. 272 Ebd., S. 356.
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Nele, flüsterte ihn schneller und schneller, bis er sich in zwei sinnlose Silben verwandelte, die mit ihr nichts mehr zu tun hatten. Nele. Nele, Nele, Nele.“273 Ein Widerfahrnis während einer Demonstration im Zusammenhang mit der Weltbanktagung in Zürich affiziert Nele auf eine Art und Weise, die diesen Selbstentwurf nachhaltig verunsichert. In einer Situation, die sie in Todesangst als „Inferno“ beschreibt, wird das Mädchen neben Nele durch ein Einsatzfahrzeug der Polizei lebensgefährlich verletzt.274 Ihr Vergleich der knackenden Rippen mit dem Brechen einer „dünne[n] Latte“ betont ihr Erschrecken ebenso wie die Feststellung, dass das Mädchen „nicht den Hauch einer Chance“ hatte, zur Seite zu springen.275 Die Konfrontation mit der verletzlichen Ausgesetztheit des Körpers macht ihr die Gefahren bewusst, die mit den politischen Aktionen der Gruppe verbunden sind. Dass die Risiken, die der Rest der Gruppe bereit ist einzugehen, ebenso wie ihre Mittel für Nele nicht im richtigen Verhältnis zur Wirkung stehen, deutet sich schon vor der Fahrt nach Zürich an. Ein Mitglied der Gruppe fasst ihre Kritik an der Spray-Aktion gegen eine Lufthansa-Filiale resümierend zusammen: „Du denkst, das Risiko lohnt nicht. […] Du denkst, die Schwierigkeiten stehen in keinem Verhältnis zur Resonanz.“276 Neles Kritik gilt zunächst der mangelnden Wirksamkeit in der Öffentlichkeit, die der Roman bestätigt: Die Passanten wollen entweder „damit nichts zu schaffen haben“ oder vergessen den Vorfall sofort.277 In der Presse gibt es „[e]ine unbedeutende Meldung“.278 Der Staatsschutz nennt den Schaden lapidar einen Fall für die Versicherung. Die Unstimmigkeiten zwischen Nele und der Gruppe verschärfen sich in Bezug auf die Planung eines Anschlags auf das Ordnungsamt in Treptow. Im Kern der Auseinandersetzung steht die Frage der Mittel: Während Nele und eine weitere kritische Stimme dafür plädieren, das Ordnungsamt mit Farbe zu attackieren, wird der Rest der Gruppe Dienstwagen mit Benzin anzünden. Der Staatsschutzbeamte Oliver Damm kann in den Emails der Gruppe einen „Dissens“ darüber ausmachen, „wie man es mit Sicherheit vermeiden kann, dass irgendjemand zu Schaden kommt“.279 Nele gehört zu denen, für die diese Sicherheit von zentraler Bedeutung ist. Dafür spricht auch, dass sie in einem Gespräch mit Christian über einen IRA-Anschlag als erstes nach der Gefährdung von Menschenleben fragt:
273 Ebd., S. 138. 274 Ebd., S. 341. 275 Ebd., S. 341, 340. 276 Ebd., S. 223. 277 Ebd., S. 300. 278 Ebd., S. 301. 279 Ebd., S. 216.
266 I Z USCHAUER DES L EBENS „‚Die IRA hat mal versucht, das in die Luft zu blasen.‘ ‚Die Kaserne?‘ ‚Da sind Engländer drin gewesen.‘ ‚Und?‘ ‚Die haben nachts ein paar Bomben gezündet. Das war … die Sensation.‘ ‚Ist jemand zu Tode gekommen?‘ Er stutzte einen Moment, ihn erstaunte ihre Formulierung.“280
Neles Formulierung konturiert ihre Grenze, die sich nach den Erfahrungen in Zürich als unumgehbar manifestiert: Nicht nur wird niemand gezielt umgebracht, es darf auch während einer Aktion niemand gefährdet werden. Vor diesem Hintergrund rücken die Aktionen der Gruppe für Nele in ein neues Licht, sie zweifelt an ihrer Sinnhaftigkeit, kritisiert, es würden „Siege“ gefeiert, „die bei Licht besehen die Gefahr nicht lohnen“, die Aktionen seien „blind […], gewollt, ein leeres Zeichen“, reiner Selbstzweck, da „aus ihnen nichts folgt als: hat ja mal wieder gut geklappt.“281 Widerwillen und Unbehagen empfindet Nele gegenüber der zunehmenden Gewalttätigkeit der Aktionen sowie gegenüber sich verselbstständigenden Abläufen in der Gruppe, einer Dynamik, der sie sich ein Stück weit ausgeliefert fühlt. Die ohne ihre Beteiligung geplante schwere Brandstiftung in einer „Großküche im Wedding, in der Fertiggerichte für Asylanten, für Asylbewerber zubereitet werden“, bestätigt Neles Bedenken: Sie stellt eine weitere Eskalation dar und erweist sich zudem als gesteuert durch einen vom Staatsschutz eingeschleusten Mann: „Sein Verlangen nach Sprengstoff, Größenwahn […], … sein Drang, sich selbst im Vordergrund zu sehen. Als treibende Kraft, als der Erfahrenste.“282 Die Problematik, in der Nele sich gefangen fühlt – eine Eskalationstendenz, die eine zunehmende Eigendynamik gewinnt –, lässt sich parallelisieren mit Beobachtungen, auf die Christian in seiner historischen Recherche über die italienischen Aktivisten stößt und die Carl in seinem Rückblick ebenfalls andeutet. Der Staatsschutzmitarbeiter Klaus Witzke beschreibt sie mit Bezug auf die 1970er Jahre als strukturelles Problem von Gegenwehr: „‚Du fängst mit Autos und Fensterscheiben an, registrierst, wie wirkungslos das im Prinzip ist, und landest irgendwann, sehr folgerichtig, bei Anschlägen auf die vermeintlichen Urheber des Elends. Ein Kreislauf, den wir kennen.‘ […] naturwüchsige Entwicklungen, die sich wiederholen […].“283
280 Ebd., S. 430. 281 Ebd., S. 340, 404. 282 Ebd., S. 402. 283 Ebd., S. 362.
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Die Frage nach Möglichkeiten von Widerstand, der weder wirkungslos bleibt noch sich in dieser Spirale verfängt, wirft Nele in einer Auseinandersetzung mit Holger über die Aktionen während der Weltbanktagung auf. Sie stellt sich zunehmend die Frage nach Zielvorstellungen, fordert Aktionen, deren „Wirkungen, […] nicht innerhalb von zwei oder drei Tagen verpuffen“, überlegt, wie Widerstand strukturell aussehen könnte, welche Verbindungslinien sich herstellen ließen: „Wer vertritt welche Interessen, wer erkennt, dass er im herrschenden Block nichts verloren hat.“284 Der Begriff des herrschenden Blocks, den sie mit dem Zusatz „[g]anz unmodern“ relativiert, trägt ihr durch Holger die ironische Anrede „Frau Doktor Gramsci“ ein.285 Antonio Gramscis Begriff des historischen Blocks bezeichnet die Allianz, mittels derer die Hegemonie der dominanten Gruppe gebildet und aufrechterhalten wird, und zwar nicht nur durch Repression, Zwang und ökonomische Mittel, sondern in hohem Maße durch die Sicherung kultureller Deutungsmacht und die Herstellung und Aufrechterhaltung gemeinsamer Überzeugungen.286 Im Kontext einer gegenhegemonialen Bewegung bedarf es danach zunächst der Realisierung einer „intellektuellen Selbstvergewisserung als revolutionäre Klasse […] als kollektives Subjekt“, wobei Gramsci die Arbeiterklasse in ihrem Kampf gegen das Bürgertum in den Fokus nimmt.287 Die Notwendigkeit der Formierung eines Kollektivs der Gegenwehr und der Bildung gemeinsamer Positionen als Herausforderung an eine soziale Bewegung macht auch Nele aus, wendet aber nicht Gramscis Klassenverständnis an. Ihre Gruppen bleiben hinsichtlich ihrer Charakteristika und Ziele vage: Maßstab sei die Erkenntnis, „‚[d]ass es noch etwas Sinnvolleres gibt als Glotze und Niedertracht.“ Holger lehnt diese Überlegungen als pädagogisierend ab und widerspricht grundsätzlich Neles Versuchen, verbindliche Maßstäbe für die Legitimation von Gegenwehr und für ihre Zielsetzung zu finden – „[…], das ist Moral und nicht materialistisch.“288 Die Divergenzen lassen sich nicht klären. Holger, der an einem Konzept der Störung festhält, will situativen, spontanen Protest gegen herrschende Vorstellungen und Abläufe,
284 Ebd., S. 404, 405. 285 Ebd., S. 404. 286 Vgl. Gramsci, Antonio: Gefängnishefte. Band 8: Hefte 16-21. Hg. v. Klaus Bochmann, Wolfgang Fritz Haug und Peter Jehle. Hamburg / Berlin: Argument 1998, Heft 19, §§24, 26, 27; vgl. Sternfeld, Nora: Das pädagogische Unverhältnis. Lehren und lernen bei Rancière, Gramsci und Foucault. Wien u.a.: Turia + Kant 2009, S. 61, 62. 287 Merkens, Andreas: Antonio Gramsci. Erziehung und Bildung. Hamburg: Argument 2004. URL: http://www.wiso.uni-hamburg.de/fileadmin/sozialoekonomie/zoess/Einleitung_Gramsci-Reader1.pdf [20.05.2013], S. 16, 17. 288 Peltzer: Teil der Lösung, S. 405.
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ohne dabei langfristige Koalitionen oder Wirkungen im Blick zu haben, „einem bestimmten hegemonialen Konsens etwas entgegen[]setzen, hier und jetzt, ohne dass ich darauf schiele, ob man mir massenhaft applaudiert.“289 Er definiert sein Ziel der Verunsicherung gesellschaftlicher Akteure, „[…] das Bewusstsein vermitteln, dass sie ihre Schweinereien nicht mehr in aller Heimlichkeit aushecken können. […] Dieses Gefühl absoluter Sicherheit durchkreuzen.“290 Es geht ihm um die Markierung von Grenzen: „Weil man irgendwann einen Strich ziehen muss. […]“ Der Schluss des Gesprächs verweist den Einzelnen auf sich selbst zurück. „‚Und vielleicht ist das nicht genug.‘ ‚Das entscheidest du allein für dich.‘“291 Traurig, desorientiert verlässt Nele die Gruppe. Ihre Ratlosigkeit zeigt sich in dem Nebeneinander von trotziger Rigorosität, mit der sie ihre Vorstellungen vertritt, und ambivalentem Rückzug auf ein Reservoir traditioneller linker Gesellschaftstheorie, dessen sie sich bedient und von dem sie sich zugleich distanziert. Ihren Zwiespalt zwischen der Überzeugung, dass es „Verpflichtungen [gibt, d. V.], denen man sich nicht mehr entziehen darf“, und ihrer Unsicherheit artikuliert sie sehr vorsichtig in ihrem ersten Gespräch mit Christian.292 „[…] Sich mit den eigenen Gedanken unterhalten, kennst du so was nicht? […] Fast, als wäre man zwei Personen. Argumente und Gegenargumente, die in deinem Kopf, in deinem Innern, hin und hergehen. Wie von dir unabhängig. […] Man versucht die Welt von der Richtigkeit seiner Ansichten zu überzeugen, man entlarvt, klagt an. Allerdings sind Widerworte dabei nicht erlaubt. Störer fliegen sofort aus dem Saal.“293
Die Rigorosität ihrer Feindbilder, die ihr selbst bewusst ist, erscheint als ein Ergebnis ihrer Unsicherheit hinsichtlich eines Konzepts von Widerstand. Damit ist Nele mit ihrem individuellen Versuch eines auf Partizipation zielenden Entwurfs subjektiver Gegenwehr in eine Sackgasse gelangt.
289 Ebd., S. 404. 290 Ebd., S. 403. 291 Ebd., S. 405. 292 Ebd., S. 53. 293 Ebd., S. 194.
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E THIK DER V ERBINDUNG Liebe als Ereignis Ausgehend von ganz unterschiedlichen Positionen erreichen Christian und Nele einen ähnlichen Punkt der Verunsicherung und Fragehaltung. Beide spüren den Möglichkeiten und Bedingungen von Widerständigkeit in der Gegenwart nach, Christian ausgehend von einer Position der Beobachtung, Nele ausgehend von einer Position der Gegenwehr, Christian in Auseinandersetzung mit historischen Erfahrungen, Nele in der Reflexion ihrer gegenwärtigen Partizipation. Christian beginnt, seine Position sarkastischer Distanz zu verlassen, Nele wird ihr forsches Engagement fraglich, beide suchen nach Orientierung hinsichtlich der Frage der Legitimation und der Ausdrucksformen von Widerständigkeit. Ihre Begegnung entwirft Peltzer als ein Ereignis, das alles in Frage stellt und neu denken lässt – ganz explizit benannt wird „die Größe des Ereignisses“, zudem als „fast utopisch“ markiert.294 In der sich entwickelnden Liebesgeschichte lassen sich Peltzers Subjektivitätsentwürfe im Spannungsfeld zwischen Distanz und Einbindung neu akzentuieren, zeichnet sich der vorsichtige Entwurf einer relationalen Subjektivität ab, in dem sich das Private unmittelbar mit dem Ethischen und Politischen verknüpft. Ungewöhnlich im Kontext der Gegenwartsliteratur ist dabei nicht nur Peltzers Darstellung der Liebesgeschichte, die das Pathos nicht scheut, sondern auch der gewaltige Kontext, in den er Neles und Christians Begegnung stellt, das Potential, das er ihr als Ereignis verleiht. Damit setzt sich der Roman trotz selbstironischer Interferenzen deutlich ab von einer postmodern konnotierten, spielerischen Ironie.295 Die Grenzen zwischen Himmel und Erde scheinen sich aufzulösen, wenn Neles und Christians Blicke sich wiederholt „aus heiterem Himmel“ treffen, Nele Christian „überirdisch“ erscheint.296 Leidenschaftliche Sinnlichkeit prägt die Liebesszenen, kommt zum Ausdruck in der Hyperbolik ihres „endlose[n] Küssen[s]“.297 Ihr Begehren überfällt sie und führt sie in eine Sphäre jenseits der Sprache, es wird „ihre Erregung zu einer Folge sinnloser Silben […], Neles Name,
294 Ebd., S. 378, 175. 295 In seinen Poetikvorlesungen grenzt Peltzer sich explizit ab von „dem eitlen Augenzwinkern postmoderner Selbstreferentialität, der ‚Könnerschaft‘ literarischer Laubsägearbeiten, in denen so viel Leben wohnt wie in einem aufgeräumten Hobbykeller“ (Angefangen wird mittendrin, S. 143). 296 Peltzer: Teil der Lösung, S. 189, 275. 297 Ebd., S. 296.
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Christians Name, ein Gestammel, das allmählich in Koseworte überging.“298 Von großer Intensität sind zudem ihre Gespräche, die das Herzstück ihrer sich entwickelnden Liebesbeziehung bilden und in ihrer Idealität ein Pathos des Gelingens beschwören. „[…] in einem Gespräch, das ganz leicht war, so selbstverständlich wie zu atmen. […] Während sie unaufhörlich geredet hatten, einander zugehört hatten, ohne sich vor Blößen zu scheuen. […] Und sie redeten weiter, wie sie den ganzen Nachmittag und Abend geredet hatten, ohne Anstrengung, Wichtigtuerei, keine Differenzen, die man hätte verfolgen müssen. Nicht an einem so schönen, so gelungenen Tag.“299
Pathos verleiht Peltzer auch der Darstellung ihrer ersten sexuellen Begegnung auf einer Bank im Park, inszeniert als ein exzessives Bedürfnis nach Halt und Nähe angesichts absoluter existentieller Einsamkeit, „aneinandergeklammert, wie man sich nur fest aneinanderklammern kann, die ersten und die letzten Menschen, erste und letzte Atemzüge“.300 Dabei weist Neles und Christians Liebesgeschichte von Anfang an über das Private hinaus, die Thematik widerständiger Weltverhältnisse ist ihr grundlegend eingeschrieben: Die „Faust in den Rücken“ beim ersten Aufeinandertreffen weckt, auch wenn es sich um Neles Ellbogen handelt, die Assoziation des politisch-revolutionären Kampfes.301 Dass ihr Kontakt auf einer persönlichen Ebene beginnen kann, wird als Ergebnis eines Moments kritischer Selbstreflexion Christians inszeniert. Er hatte erwogen, die Einladung zu einem Beitrag in einem Lifestyle-Magazin anzunehmen, dessen Format er eigentlich ablehnt: „Popkultur mit Ziertüchlein, zeitgenössische Kunst der unstrittigsten Art“.302 Während er sich Vorwürfe macht, sich überhaupt auf ein erstes Treffen mit dem Herausgeber, „[e]in[em] flotte[n] Poser“, eingelassen zu haben, sieht er Nele, die aus dem Schwimmbad kommt: „Müßige Gedanken, fruchtlose Selbstbeschuldigungen, die jedoch der Grund dafür waren, dass er sie erblickte, überhaupt erblicken konnte, und sich nicht schon längst wieder auf dem Weg zum Görlitzer Bahnhof befand.“303 Sein innerer Widerstand gegenüber einem aus wirtschaftlicher Not geborenen Akt der Anpassung erweist sich in dieser konkreten Situation als fruchtbar, eröffnet ihm die Gelegenheit eines Cafébesuchs mit Nele. So verbindet
298 Ebd., S. 318. 299 Ebd., S. 270, 275. 300 Ebd., S. 294. 301 Ebd., S. 45. 302 Ebd., S. 226. 303 Ebd., S. 226, 227.
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sich die Anbahnung der Liebesgeschichte mit einer widerständigen Haltung. Die politischen Bezüge verdichten sich im gemeinsamen Interesse an Christians Recherche der italienischen 1977er Bewegung. Während dieser Recherche stößt Christian auf italienische Zeitungsartikel, um deren Übersetzung er Nele bittet, die mit Interesse auf sein Projekt reagiert und ihm ein Treffen vorschlägt – ihr erstes Rendezvous: „[E]s interessiert mich, was Du vorhast.“304 Paris, das Ziel ihrer gemeinsamen Reise, ist Teil der revolutionären Metaphorik des Romans. Mit der Marseillaise auf den Lippen widmet sich Christian einer Besprechung der ProustVerfilmung Chantal Akermans, nachdem er den Film mit Bruno Dusini, „de[m] Prior des Dokumentarfilms, nicht zu korrumpieren“ angesehen hat: „Allons enfants“.305 Den Ausblick aus der „neue[n], riesige[n] Gewerkschaftszentrale […] hinüber zum Ostbahnhof in die Straße der Pariser Commune“ kommentiert er ironisch, wobei ihm als Maßstab der Kritik die revolutionäre Pariser Regierung von 1871 dient.306 Nele besucht in Paris mit einem jungen Mann namens Hervé – französisch: des Kampfes würdig – das Café Marijan mit der „rote[n] Neonleuchtschrift“ und der „rote[n] Neonspirale über der Markise.“307 In Christian weckt seine Begegnung mit Nele die Assoziation des Sturms auf die Bastille, „wie in diesem einen kitschigen Lied, wo es heißt, dass sie über ihn kam wie der vierzehnte Juli über Paris.“308 Diese revolutionäre Bilderwelt, in der Peltzer seine Figuren situiert, wirkt wie ein ironisches Zitat, ohne aber die Suche der Protagonisten zu relativieren, ihre Versuche, „sich zu orientieren“.309 Vielmehr macht Peltzer Neles und Christians Begegnung zu einem Ereignis – im Sinne der philosophischen Entwürfe von Deleuze / Guattari – durch das Wagnis des Neuen und die Bewegung als einem Werden, die er ihnen einschreibt und die mit Verunsicherung, nicht mit Autonomie einhergehen.310 Vom ersten Aufeinandertreffen an finden Nele und Christian sich immer wieder in unbekannten Räumen. Bei ihrem
304 Ebd., S. 255. 305 Ebd., S. 248, 251. 306 Ebd., S. 206. 307 Ebd., S. 460. 308 Ebd., S. 202. 309 Ebd., S. 270. 310 Vgl. Deleuze / Guattari: Tausend Plateaus, S. 295; Deleuze, Gilles: Kontrolle und Werden. In: Ders.: Unterhandlungen 1972-1990. Aus dem Franz. v. Gustav Roßler. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993, S. 243-253, hier S. 244, 245; Deleuze, Gilles / Guattari, Félix: Was ist Philosophie?. Aus dem Franz. v. Bernd Schwibs und Joseph Vogl. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2000, S. 130: „Das Neue, Interessante […].
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Aufeinandertreffen in Jakobs Büro nimmt Christian einen „Raum ohne Schlupfloch und Fluchtweg“ wahr.311 Während Jakobs Party scheint um ihn und Nele ein neuer Raum zu entstehen, „dumpf klingende Partygeräusche von irgendwo da hinten, ein anderer Raum mit anderen physikalischen Gesetzen. Parallelsysteme ohne Übergang, die Dichte der Tiefsee“.312 Nicht nur Neles und Christians Räume entziehen sich gegebenen Gesetzmäßigkeiten, auch ihre Zeit entspricht diesen nicht: Sie bewegen sich in einer „sich taumelig drehende[n] Welt […]. Zeit ohne Zeit“, „[a]ls hätte sich die Geschwindigkeit verlangsamt, Lidschläge, die Sekunden dauern“, „Zeit, die einem nicht davonläuft, alle Zeit des Sonnensystems. Tage, Wochen, Jahre. Ewigkeit.“313 Mit ihrer Begegnung geraten Christian und Nele in Situationen, die ihnen neu und zunächst nicht zu bewältigen scheinen und die sie auf bisher unbekannte Art affizieren. Christian fehlen die Worte für Neles Blick: „Wie Nele ihn jetzt ansah … sämtliche Worte, mit denen Christian später ihren Blick zu beschreiben versuchte, empfand er als unzulänglich, zu schwach, verkürzend, als ihm nichts mehr einfiel, blätterte er im Duden, stieß auf sehnsuchtsvoll, brennend, bittend, fordernd, alles Adjektive, die sowieso schon auf seiner Liste standen, überwältigend, bezwingend, seinen Atem raubend.“314
Aus dem zufälligen Treffen in Kreuzberg ergibt sich eine Situation, die ein Betreten von Neuland signalisiert, als Nele entscheidet, Christian zur U-Bahn zu begleiten, „eine neue Situation […], die zu ungewöhnlich, zu überraschend war, um einfach weiterreden zu können. […], für die ihnen noch die richtigen Worte fehlten, Unbefangenheit, Normalität.“315 Eine Situation der Sprachlosigkeit und Verunsicherung folgt dem gemeinsamen Kinobesuch, eine „eigenartige Stimmung, die sie erfasst hatte, Nele erfasst hatte und ihn erfasst hatte. […] Eine Ratlosigkeit,
Nicht das, was wir sind, vielmehr das, was wir werden, was wir dabei sind zu werden, das heißt das Andere, unser Anderswerden“. 311 Peltzer: Teil der Lösung, S. 89. 312 Ebd., S. 193. Mit der „Dichte der Tiefsee“ klingt Deleuzes Konzeption des glatten Raumes „ohne Grenzen und Einfriedung“ an, den er im Unterschied zum gekerbten Raum der Sesshaften mit dem Nomadischen verbindet und in dem sich neue Möglichkeiten eröffnen: „Das Meer ist vielleicht der bedeutendste der glatten Räume“ (Deleuze / Guattari: Tausend Plateaus, S. 533; vgl. S. 523, 524). 313 Peltzer: Teil der Lösung, S. 317, 193, 273. 314 Ebd., S. 201, 202. 315 Ebd., S. 236.
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für die nicht der Film verantwortlich zu machen war.“316 Unsicher werden mit Neles und Christians Begegnung auch ihre Selbstentwürfe, zunächst, indem sie durch den Anderen angezweifelt werden. Nele nimmt Christian als unentschieden wahr, als jemanden, bei dem nicht sicher ist, ob man sich auf ihn verlassen kann. Er erscheint ihr als „Tagedieb“, der seine Zeit verbummelt, der sich „nicht entscheiden kann, was ihm wichtig ist“.317 Sie rechnet ihn zu den „Oberhippen“, die sich in ihren kreativen Berufen gefallen.318 Christian vermutet bei Nele einen „Behauptungswillen“ in „eine[r] Welt aus Kollisionen“, eine Abwehr der eigenen Affizierbarkeit: „[D]u kannst dir deine Ironie sparen, den Panzer, den du dauernd anlegst, als müsstest du dich vor mir schützen, vor der Welt, vor dem Leben.“319 Er sieht ihre Haltung ständiger Gegenwehr als vereinfachende Strategie: „Grantig […]. So kommt man prima durchs Leben.“320 Neles eindeutige Abgrenzungen kritisiert er in ihrer Binarität. „Keine Frage, sondern ein Bescheid vom Amt. Wenn du das nicht verstehst, ist Hopfen und Malz verloren – dann gehörst du zu den anderen. […], eine Laborratte, die es nicht besser gelernt und verdient hat.“321 In Paris prallen Neles und Christians Entwürfe ihrer Selbst- und Weltverhältnisse von Rückzug und Gegenwehr in einem heftigen Streit aufeinander. Nachdem Nele durch eine SMS erfahren hat, dass die Polizei ihrer Aktionsgruppe auf die Spur gekommen ist – „Die Polizei hat alles durchsucht, bleib weg“322 –, versucht sie, ihre Angst vor Christian zu verbergen. Ihre innere Aufgewühltheit entlädt sich in einem heftigen Angriff auf Christians Rechercheprojekt, mit dem sie versucht, ihre eigene Unsicherheit, ihre Zweifel an der Sinnhaftigkeit dieser Form politischer Widerständigkeit zu überspielen. Anknüpfungspunkt für ihre Vorwürfe ist auch die Ausstellung Alors, la Chine? im Palais de Tokyo, die Photographien, Installationen, Videos und Skulpturen von Absolventen der Pekinger Kunstakademie zeigt: „Mit Wanderarbeitern überfüllte Züge, Baustellen in Shanghai, Bergwerke in Mondlandschaften, Prostituierte in einem Nachtclub, ein langer Glaskasten, in dem Orden und Ehrenzeichen und Devotionalien und Kinderspielzeug aus der Maozeit zu Metallklumpen arrangiert und mit Kerzenwachs und Farbe beträufelt waren. Menschenmassen in Bahnhöfen, die
316 Ebd., S. 290. 317 Ebd., S. 224. 318 Ebd., S. 225; vgl. S. 103. 319 Ebd., S. 177, 231. 320 Ebd., S. 46, 177. 321 Ebd., S. 192. 322 Ebd., S. 458.
274 I Z USCHAUER DES L EBENS ihr Hab und Gut in riesigen Bündeln auf dem Rücken schleppten, hundertzwanzig Millionen, wie ein Text erläuterte […].“323
In einem rigorosen Rundumschlag parallelisiert sie die Situation der Untergetauchten mit der chinesischer Wanderarbeiter und Prostituierter, Christians Rechercheprojekt mit der Ästhetisierung konkreter Misere in der Ausstellung. Beides diskreditiert sie als Instrumentalisierung und Verantwortungslosigkeit. „Und dann auf Wiedersehen, und die Sache ist erledigt. Was aus all den Leuten wird, kümmert euch einen Dreck.“ Nele stellt sich in einem Akt hilfloser Selbstrechtfertigung auf die Seite der Untergetauchten, identifiziert sich mit denen, „die was riskiert haben“, die „man […] in die Enge getrieben hat“.324 Mit der aggressiven Abgrenzung gegenüber denen, die in ihrer unbeteiligten Beobachterhaltung auf Distanz bleiben, in einen solchen Konflikt also gar nicht geraten können, verteidigt sie eine Form aktiver Gegenwehr, die ihr im Grunde selbst problematisch geworden ist. Christian, der weder von Neles Engagement in der Gruppe noch von ihrer akuten Bedrängnis weiß, reagiert auf den Angriff mit einem Gegenangriff, indem er die Position, die Nele ihm und all denen zuschreibt, die sich aus ihrer Sicht einer konkreten widerständigen Praxis verweigern, in polemischer Weise überspitzt. „Ob Künstler oder Journalisten. Jeder sucht sich seine Opfer. […] Material […]. Für Geschichten, die einem selber nicht einfallen.“325 Er bestätigt ein zynisches Zerrbild ästhetischer und journalistischer Kommerzialisierung menschlicher Schicksale, das seinem Selbstverständnis als kritischer Journalist nicht entspricht und dessen Problematik er bereits in Gesprächen mit Jakob reflektiert hat. Seine polemische Abwertung der „Opfer“ als journalistisches Material bringt die Situation zum Eskalieren. Dissens und Distanz haben dieselbe Intensität wie die zuvor gezeigten, fast utopischen Momente der Nähe. In der Streitsituation ziehen sich beide auf unversöhnliche Extrempositionen von Einbindung und Distanz zurück, mit denen sie ihre tatsächliche Verunsicherung und ihre Selbstzweifel ausblenden. Dieser Streit ist das letzte inhaltliche Gespräch zwischen Nele und Christian. Danach zeigt der Roman beide allein, ausgesetzt, unsicher und suchend. Doch sind Verunsicherung und Suche in Teil der Lösung nicht resignativ zu verstehen. In Bezug auf die Begegnung Neles und Christians werden sie von Beginn an als Ereignis markiert durch den auktorialen Kommentar „da passiert was“.326 Dies betrifft auch Neles und Christians räumliches Miteinander. Während
323 Ebd., S. 446. 324 Ebd., S. 450. 325 Ebd., S. 451, 452. 326 Ebd., S. 87.
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die anderen Figuren fester in lokale Strukturen eingebettet sind, weisen die Schauplätze der Begegnungen Christians und Neles eine große Vielfalt auf. Ihr erstes Rendezvous findet im Görlitzer Park statt, der ehemals ein Bahnhof war. Sie treffen sich auch auf der Straße, besuchen das Kino International, lieben sich auf der Bank im Park, reisen nach Paris, eine Fahrt, die mit Neles Entdeckung durch den Staatsschutz auch das Kennzeichen der Flucht trägt. In einem Gespräch über Glück als „Außenseite eines Gefüges, das die Menschen eisern im Griff hat“, wird ihre Bewegung als Gegenentwurf zu einer Erstarrung entworfen, welche das Schöpferische verstellt.327 Nele fordert den skeptischen Christian auf, „keine Angst vor der Flucht zu haben, den Fluchtlinien zu folgen, und […] sich [nicht, d. V.] brav in der Warteschlange einzureihen.“ Das Außen referiert nicht, wie Christian zunächst ironisch vermutet, auf ein positivistisch bestimmtes „paradiesische[s] Außerhalb mit ultimativer Befriedigung“, ein unentfremdetes „Reich der Freiheit und Notwendigkeit“ im Sinne Karl Marx’.328 Mit dem Begriff der Fluchtlinie und der Forderung einer Bewegung, die sich vorgegebenen Strukturen, Machtzentren und -konzentrationen entzieht und neue Wege zu gehen versucht, nimmt Nele explizit Bezug auf Gilles Deleuze und Félix Guattari. Die Philosophen verwenden den Begriff der Fluchtlinie im Kontext ihrer Überlegungen zur Deterritorialisierung. „[…] Deterritorialisierung: D ist die Bewegung, durch die ‚man‘ das Territorium verlässt. […] das Verfahren der Fluchtlinie.“329 Dieser „Logik der Los-Lösung“ folgend, ist sie eine schöpferische Bewegung, die neue Territorien, neue Möglichkeiten erschließt.330 Das Außen als ein „Bereich unterhalb jener Wissensformationen des Sicht- und Sagbaren, die sich aus spezifischen Kräftekonstellationen (einem Diagramm der Macht) herauskristallisieren“,331 entzieht sich einer eindeutigen Definition. Nele versucht zu beschreiben, worum es bei ihrer Suche geht, welcher Mittel sie sich bedient und wogegen sie sich abgrenzt. „[…] Abstraktionsfähigkeit bedeutet für mich, im Meer der Gegenwart nicht unterzugehen. Sich nicht blöd machen zu lassen, nicht reflexhaft wie eine Laborratte auf Zumutungen zu reagieren, die jedem mit dem Ende drohen, der sie nicht pflichtschuldigst erfüllt. Sich hinten anstellen, von der Ziehung der Lottozahlen die Rettung erhoffen.“332
327 Vgl. Peltzer: Angefangen wird mittendrin, S. 126. 328 Peltzer: Teil der Lösung, S. 191. 329 Deleuze / Guattari: Tausend Plateaus, S. 703. 330 Balke, Friedrich: Gilles Deleuze. Frankfurt / New York: Campus 1998, S. 147. 331 Krause / Rölli: Mikropolitik, S. 88. 332 Peltzer: Teil der Lösung, S. 192.
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Die Aneinanderreihung von Negativ-Bestimmungen und Bildern zeigt die Schwierigkeit einer Konkretisierung dessen, was ihr mit der Außenseite vorschwebt. Nele fordert, davor nicht zu kapitulieren: „‚Ist nicht schwer‘, sagte Nele, leise, beinahe zärtlich und schaute Christian mit geneigtem Kopf an. ‚Man muss sich nur ein bisschen Mühe geben. […] Eine Sache des Wollens. Bereitschaft zur Analyse. Entweder nimmst du die Welt, wie sie sich darbietet, oder als Folge von Ereignissen, die Ursachen haben. Die miteinander zusammenhängen und Schieflagen erzeugen. Noch einfacher geht’s nicht.‘“333
Die zärtliche Geste wird gebunden an die Einladung zu einer widerständigen politischen Analyse ihrer Lebenswelt, womit die politische Dimension wiederum unmittelbar eingeht in die Liebesgeschichte. Neles und Christians Miteinander erscheint in diesem Kontext als schöpferische Bewegung im Wagnis des Neuen und in seiner Intensität, denen sie sich aussetzen und deren Linien sie weiter folgen. Diese Bewegung zeigt sich auch in ihrer gemeinsamen Freude über Neles Lust „an den Kurzschlüssen eines stetig wachsenden, sich ins Unendliche fortpflanzenden Wissens“, denen sie nachgehen, anstatt sich von der drohenden Unüberschaubarkeit erschrecken und einschüchtern zu lassen.334 Sie bedeutet aber keine flexible Beliebigkeit, sondern verknüpft sich bei Peltzer mit einer Ethik der Verbindung, einem ethischen Entwurf widerständiger relationaler Subjektivität. Verbindungslinien Die Möglichkeit, sich mit Anderen zu verbinden, ist in Teil der Lösung kein leichtes Glück. Schon das Motto des Romans stellt sie grundsätzlich in Frage: „Wir leben, wie wir träumen – allein. Joseph Conrad.“ Das Alleinsein wird Nele und Christian von Anfang an zugeordnet. Beide sind meist einzeln unterwegs, auf Jakobs Party erscheinen sie als Außenseiter, beider soziale Verbindungen sind im Scheitern begriffen: Nele verlässt ihre Gruppe, Christians Bürogemeinschaft löst sich auf, sein Jugendfreund, der Schauspieler Martin, begeht Selbstmord. Allein und verloren wirken sie nicht nur in Relation zu Anderen, sondern auch angesichts einer feindseligen Lebenswelt. Gemeinsam in der nächtlichen Stadt unterwegs, werden Nele und Christian als „kleine Schattenrisse in einer überdimensionalen
333 Ebd., S. 192, 193. 334 Ebd., S. 271.
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Landschaft aus erloschenen Fensterfronten und bleichen Satellitenschüsseln“ bezeichnet.335 Ihre Begegnung ist schmerzhaft und schwierig. Neles Ellbogen, den sie Christian bei ihrem ersten Aufeinandertreffen in den Rücken rammt, lässt ihn beinahe das Gleichgewicht verlieren. Bei ihrem nächsten Treffen in Jakobs Büro stößt Christian die Tür auf und trifft Nele mit der Klinke. Auch in der weiteren Interaktion gibt es immer wieder schmerzhafte Zusammenstöße. Christian verletzt Nele mit dem Ton, in dem er über ihre Arbeit redet: „Im Ton seiner Stimme lag etwas Schneidendes, ungewollt Strenges, das auf ihrem Gesicht Züge von Entgeisterung hervorrief.“336 Nele kränkt Christian mit ihren oft brüsken Zurückweisungen, er empfindet „ihre Zögerlichkeit […], ihre Art des Ausweichens“ als kränkend, hat den Eindruck, es sei bereits ein Affront, sie „ohne Erlaubnis anzuschauen.“337 Ihr verbaler Austausch ist häufig konfrontativ, „unwirsch“, „angriffslustig“.338 Die Spannungen von Abwehr und Verbindung manifestieren sich in einer zunächst spielerischen, dann zunehmend verbissenen körperlichen Kampfszene. „Er hatte sie jetzt so fest gepackt, wie er konnte, tausend Stecknadeln, die in ihr Fleisch stachen. Sie riss und zerrte, bis sie mit herumwirbelnden Haaren neben ihm kniete, dann – er ließ nicht locker – stürzte sie sich auf ihn. […] Manöver eines Ringkampfs, auf beiden Seiten zunehmende Verbissenheit. Irgendwann stieß Nele ihren Kopf vor seine Brust, schlug nach dem Knie, das über ihren Hüften war. Er schlug zurück, und ihre Fäuste prallten heftig gegeneinander.“339
In dieser Auseinandersetzung, die der Begriff der „Notwehr“ als existentiell ausweist, verdichtet sich die mit dem Wunsch nach Nähe verbundene Angst vor Selbstaufgabe, das Bedürfnis nach Selbstbehauptung.340 Die hyperbolische Darstellung dieses Liebeskampfes schafft auf intertextueller Ebene einen Bezug zu Kleists Penthiselea, die auch durch Jakobs Penthiselea-Aufsatz Eingang in den Roman findet. So wird der gewaltige Kontext, in den Peltzer die Liebesbeziehung stellt, nochmals betont. Aufgerufen sind mit dem todbringenden Kampf der Liebenden Penthiselea und Achill die Themen von Macht und Gegenmacht, von Gesetzen, die den Einzelnen unterwerfen, aber auch der Traum einer Überwindung
335 Ebd., S. 291. 336 Ebd., S. 233. 337 Ebd., S. 384, 176. 338 Ebd., S. 310, 443, 237. 339 Ebd., S. 383. 340 Ebd.
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dieser lebens- und glücksfeindlichen Strukturen, die Utopie liebevoller Verbundenheit und selbstbestimmten Glücks. Wie ein Zusammenschluss, der einer übermächtigen, lebensfeindlichen Welt abgerungen wird, wirkt auch Neles Griff nach Christians Hand in einer als trostlos und beklemmend inszenierten Umgebung. „Verwilderte Grundstücke, Maschendraht, eine düstere Industrieruine mit ausgebrannten schwarzen Fensterhöhlen, Plakatwände. Vor ihnen die Kuppel der Michaelkirche inmitten einer neuerlichen Siedlung von Plattenbauten, rechts die zwei silberhäutigen, wie eine Skulptur von unten angestrahlten Schornsteinkolosse des Heizkraftwerks Mitte, ein Gitterzaun um den gesamten Block, Videokameras. […] Als sie an einer Reihe geparkter Lieferwagen vorbeikamen, deren Aufbauten die Aussicht verstellten und den Bürgersteig in ein tieferes Dunkel tauchten, genau da, in diesem Moment, ergriff Nele plötzlich Christians Hand […], um die sie behutsam die ihre schloss.“341
Verbundenheit löst die Einsamkeit nicht auf, dies wird angesichts von Sterben und Tod wiederholt thematisiert: In Gedanken an den Freitod von Gilles Deleuze stellt Nele fest: „Man beendet das, das entscheidet jeder für sich allein.“342 Auf Martins Beerdigung beobachtet sie Christian: „Wieder völlig in sich versunken, ein Kern von Erinnerungen und Gefühlen. Mit sich allein. Wie allein ist man?“343 Neles Frage aber verschiebt die existentielle Aussage des Roman-Mottos zu etwas Graduellem. Dass Christian in dieser wiederum lebensfeindlichen Situation ihre Hand ergreift, unterstreicht die Hoffnung auf eine Verbindung, die aber prekär, fragil und schmerzhaft bleibt. Der Wunsch nach Nähe und Verbindung, der sich aus der Begegnung Christians und Neles ergibt, impliziert für beide eine gesteigerte Verunsicherung und Veränderung ihres Selbst- und Weltverhältnisses. In der Berührung mit Nele – „Keine Spielerin“, stellt Christian fest – geraten seine ironisch-distanzierte Verweigerung und resignative Anpassung ins Wanken. Christian erscheint „ratlos“, die „Dinge“ werden „unkalkulierbar“.344 Die Intensität und Ernsthaftigkeit, mit der Nele (er)lebt, faszinieren Christian von Anfang an, ihre „angeborene Nervosität“, die „Spannung“, mit der sie ihrer Welt begegnet, ihre involvierte Entschiedenheit, die ganz anders als seine ironische Distanz sind, ziehen ihn in ihren Bann.345 Ihre Gedanken über grundsätzliche Themen, die sie „ruhig, mit heller
341 Ebd., S. 292, 293. 342 Ebd., S. 459. 343 Ebd., S. 434. 344 Ebd., S. 195, 202, 177. 345 Ebd., S. 189.
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fester Stimme“ vorträgt, erstaunen ihn: „Das meint sie ernst, der Klang ihrer Stimme, ihr Gesicht.“346 Sie konfrontiert Christian mit Grundsatzfragen, spricht über Glück und Erfolg, fragt sich, was er politisch denkt und tut. Sie fragt, ob er Kinder habe, ob er Kinder wolle und bittet ihn, sie nie zu verlassen. Angesichts von Neles „Deutlichkeit“ erscheinen ihm seine unverbindlichen Kontakte zu anderen Frauen lächerlich.347 Seine berufliche Tätigkeit schönt er, indem er behauptet, er überarbeite einen Restaurantführer, und schämt sich dieses Projekts vor Nele dennoch. Mit Nele lässt er sich neu auf grundsätzliche Diskussionen über Erfolg und Glück ein: „[A]lso gut“.348 Im Kontakt mit ihr spürt er von Anfang an seine eigene Beteiligung und Verantwortung. Bei ihrer ersten Begegnung fühlt er sich „auf einmal für den Zusammenprall mitverantwortlich“.349 Dieses Gefühl der Verantwortung markiert der Roman durch eine explizite Wiederholung als zentral: „Wie schon vor der Bar auf der Schönhauser Allee fühlte sich Christian plötzlich für eine Situation mitverantwortlich, die sich seinem Einfluss entzog, die er nicht geschaffen hatte und die ihm egal sein konnte.“350 Dieser Affizierung beginnt Christian im Verlauf des Romans Raum zu geben, er beginnt, seine Distanz aufzugeben, sich auf Liebe, Nähe, eine neue Beteiligung einzulassen. Er liest Neles Mails, nachdem sie nach Zürich gereist ist, hört ihre Nachrichten, er versucht, Nele zu zeichnen, schreibt ihren Namen auf Papier, kauft sich ihre Musik, schwimmt in ihrem Schwimmbad – der Roman zeigt Christian traurig und sehnsüchtig. Nach dem Streit in Paris konfrontiert die Zuneigung zu Nele Christian mit seiner Angst, die er bisher wegzuschieben versuchte: „Ihn befiel die Angst, dass sie verschwunden sein könnte, panische Angst, dass sie nicht mehr da sein würde […]. Dass sie sich nie mehr sehen würden. […] Anflüge von Panik, von Entsetzen“.351 Auf der Suche nach ihr spürt Christian Nele auch gedanklich nach, wobei sich ihre Forderung an ihn als zentral herausstellt: „Du darfst mich nie verlassen.“352 Die Bedeutung, die er einem Geschenk für Nele zumisst, das Gefühl, „alles [hinge, d. V.] von einem Geschenk ab. Etwas, das er ihr überreichen könnte“, zeigt die Bereitschaft, sich neu einzubinden.353 Iris Därmann legt in ihrer Studie zur Gabe ausge-
346 Ebd., S. 190. 347 Ebd., S. 195. 348 Ebd., S. 191. 349 Ebd., S. 46. 350 Ebd., S. 186. 351 Ebd., S. 454, 468; vgl. S. 465. 352 Ebd., S. 467. 353 Ebd., S. 465.
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hend von Marcel Mauss’ Essai sur le don (1923/24) dar, dass die Gabe „vom Geber zum Empfänger führt, einen Weg zum Anderen bahnt“ und damit eine Beziehung stiftet.354 Es gebe folglich ohne solche Praktiken des Schenkens keine Bindung, „sondern nur ihr Gegenteil, die Indifferenz, die A-Sozialität, die Verbindungslosigkeit oder den Krieg.“355 Christian verlässt seine distanzierte Beobachterposition auch durch seine Versprechen, mit denen er sich in Relation zu Nele setzt. „[D]ass er sie … dass er sie liebe“, möchte er ihr „versichern“.356 Trotz seiner kritischen Distanz zu „Versprechungen, die man aus Liebe macht“, gibt er ihr innerlich das bedingungslose Versprechen, an ihrer Seite zu stehen.357 Er bezeichnet sich als ihren Mann, womit er, nachdem er Nele zuvor seine Frau genannt hat, das Versprechen vollendet, indem er sich verspricht. Friedrich Nietzsches Rede vom Menschen, „der versprechen darf“, ist geprägt durch die Vorstellung eines souveränen Subjekts, das zu seinem Versprechen stehen kann.358 Aus aktueller kulturwissenschaftlicher Sicht ist das Versprechen „Quelle[] der Verbindlichkeit menschlicher Lebensformen“,359 auch wenn kein Versprechen „eine wirkliche, absolute Gewähr dafür bieten [kann, d. V.], dass das Versprochene nicht verraten werden wird. Jedes Versprechen ist insofern ‚übermäßig‘, wie Derrida sagt. Es verspricht etwas über die Zukunft, der niemand je Herr wird.“360 Es geht aus dieser Perspektive mit dem Versprechen nicht um eine ungebrochene Souveränität des Subjekts, denn Fremdheit und Unverfügbarkeit von Subjektivität und Lebenswelt werden nicht negiert. Es geht um Verantwortung gegenüber dem Anderen – trotzdem –, in der Subjektivität sich konstituiert. In diesem Sinne ist weder Peltzers Referenz auf das Versprechen noch auf die Gabe harmonisierend zu verstehen, da Fremdheit Teil der Verbindung bleibt: Iris Därmann bezeichnet die Gabe als eine „dingliche Fremderfahrung des Anderen“, die „keine nahtlosen und
354 Därmann, Iris: Theorien der Gabe zur Einführung. Hamburg: Junius 2010, S. 165. 355 Ebd., S. 25. 356 Peltzer: Teil der Lösung, S. 454. 357 Ebd., S. 431. 358 Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse, S. 309. 359 Liebsch, Burkhard: Gegebenes Wort oder Gelebtes Versprechen. Quellen und Brennpunkte der Sozialphilosophie. Freiburg u.a.: Karl Alber 2008, S. 13. 360 Liebsch, Burkhard: Art. Kultur im Zeichen des Anderen oder Die Gastlichkeit menschlicher Lebensformen. In: Jaeger, Friedrich / Liebsch, Burkhard (Hg.): Handbuch der Kulturwissenschaften. Band 1: Grundlagen und Schlüsselbegriffe. Stuttgart / Weimar: Metzler 2004, S. 1-23, hier S. 20.
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intimen Beziehungen“ stiftet.361 Am Romanende erscheint Christians Position verändert im Eingeständnis seiner Hilflosigkeit und Traurigkeit: „Länger herumzulaufen war sinnlos, was also tun? Christian wusste es nicht. Als er zum dritten Mal an diesem Tag das Le Jean Bart betrat, schnürte ihm eine immense Traurigkeit seine Kehle zu.“362 Zudem lässt sich sein Entschluss, Nele ein Geschenk zu machen, ebenso wie der Wunsch, ihr ein Versprechen zu geben, als neue Bereitschaft der Einbindung, der Verantwortung, als eine Neukonstitution ethischer Subjektivität verstehen. Im Café auf Nele wartend sitzt er, ohne seine Brille zu tragen. Er ist kein Zuschauer mehr. Er ist involviert und bereit, sich einzubinden, sich gemeinsam mit Nele auf das Wagnis der Relationalität einzulassen. Neles Rückzug auf eine Position unabhängigen, selbstbestimmten Engagements gerät im Kontakt mit Christian ins Wanken. Ihre Angst vor der Liebesbeziehung als einer Gefährdung signalisiert der intertextuelle Verweis auf den Mythos von Orpheus und Euridyke: Nachdem sie sich im Park geliebt haben, besteht Nele darauf, allein nach Hause zu gehen, ohne dass Christians Blick ihr folgen dürfe: „Von hier gehe ich allein weiter. […] Guck mir nicht nach, wenn ich wegfahre. […] Egal, was ist, du drehst dich auf keinen Fall um.“363 Dennoch versucht sie immer wieder, auf Christian zuzugehen: „‚Ich, ich bin’s‘, sagte sie, zaghaft. […] ‚Ich … das war blöd vorhin. […] Nein, war blöd von mir. Ich war so …‘“.364 Von ihren Aktivitäten erzählt sie ihm zwar nichts, ihre Reise nach Zürich erklärt sie mit einer Lüge, ihre Verunsicherung danach versucht sie zu verbergen, doch sie gesteht sich ihr Wissen darum ein, dass er „das Recht hatte, die ganze Wahrheit zu erfahren.“365 Auch konfrontiert sie sich mit ihrer Sehnsucht nach ihm: „‚[…] also, ich [Christian, d. V.], mmh, ich hab dich vermisst.‘ Ich dich auch, dachte Nele (gestand sie sich ein), sehr“.366 Und sie stellt Nähe zu ihm her, indem sie seine Hand ergreift, ihm sagt, dass sie ihn wiedersehen wolle. Vorsichtig – in einer Erzählung in der dritten Person – vertraut sie ihm ihre Familiengeschichte an, gibt zumindest andeutungsweise ihre Verletzung und Wut preis und fragt ihn nach seiner Einschätzung des Verhaltens ihres Vaters. Auch beginnt sie, sich mit einer größeren Offenheit für Christians Selbst- und Weltentwurf zu interessieren. Nach dem Streit in Paris besucht Nele die Ausstellung des Künstlers Jean-Michel Basquiat, von der Christian ihr erzählt hat: „Hatte gesehen, was sie sehen wollte,
361 Därmann: Theorien der Gabe, S. 22, 24. 362 Peltzer: Teil der Lösung, S. 472. 363 Ebd., S. 297, 298. 364 Ebd., S. 316. 365 Ebd., S. 385. 366 Ebd., S. 367.
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für was er sich interessierte. Schön, gefiel ihr auch, na und?“367 Ihr Gang durch die Stadt wird trotz ihres Versuchs distanzierender Gleichgültigkeit von ihren Gedanken an Christian begleitet. Sich erneut auf eine Begegnung einzulassen, fällt ihr schwer: „Es war längst nach fünf, das wusste sie, ohne auf die Uhr zu schauen. Sich einfach an irgendeinen Ort bestellen zu lassen, das lief nicht.“368 In dem „Gefühl, als würde sie schwanken“, manifestiert sich ihre grundlegende Unsicherheit.369 Schließlich packt sie Christians Kamera, an der sie sich auf ihren Wegen durch Belleville geradezu festgehalten hat, in die Tasche, trennt sich von dem auch Distanz schaffenden Medium. Zunächst beobachtet sie Christian noch durch die spiegelnden Glasfenster des Cafés. Dann gibt sie auch diesen Sicherheitsabstand auf, wobei der Gedanke des Vertrauens leitend ist: „Vertraust du mir? Soll ich dir denn vertrauen?“370 Die Darstellung ihrer körperlichen Reaktionen unterstreicht die mit dem Vertrauen „riskierte Verletzlichkeit“,371 die Micha Brumlik als Ausdruck der „fragilen wie intersubjektiven Verfaßtheit der Angehörigen der Gattung Mensch“ versteht:372 „Nele wischte sich die Tränen von den Wangen und atmete laut ein und aus, fast ein Stöhnen. Ach Christian. Dann ging sie hinein.“373 Mit ihrer Frage und dem Modalverb sollen hebt Nele den Aspekt der Gabe hervor, die ihre Bereitschaft und das Risiko, Christian Vertrauen zu schenken, an seine Bereitschaft bindet, sich ihres Vertrauens würdig zu erweisen. So entsteht eine Situation, in der das Geben und Nehmen von Vertrauen eine Verbindung konstituieren und Vertrauen zusätzlich zum Risiko des Scheiterns auch eine Reduktion von Risiken bedeuten könnte.374 Mit Vertrauen, Versprechen, Gabe, Verantwortung stehen in der Begegnung Neles und Christians Konzepte im Mittelpunkt, in denen sich Subjektivität relational konstituiert, nicht aus Autonomie und Gestaltung heraus, sondern aus Unsicherheit und Bedürftigkeit, der eigenen und der des Anderen. Das Ende des Romans gewinnt über die persönliche Ebene hinaus eine größere, ethisch-politische Dimension. Dabei ist das Politische weniger als Politik im engen Sinne zu verstehen, eher dem Bereich der Ethik zuzuordnen als ein – wie
367 Ebd., S. 458. 368 Ebd., S. 469. 369 Ebd., S. 470. 370 Ebd., S. 472. 371 Annette Baier zitiert bei Brumlik: ‚Wenns soweit ist‘, S. 207. 372 Brumlik, Micha: Bildung und Glück. Versuch einer Theorie der Tugenden. Berlin: Philo 2002, S. 73. 373 Peltzer: Teil der Lösung, S. 473. 374 Vgl. Brumlik: ‚Wenns soweit ist‘, S. 207; Brumlik: Bildung und Glück, S. 71, 72.
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Manola Antonioli im Anschluss an Alain Badiou und Philippe Mengue mit Bezug auf Deleuze und Guattari formuliert – „für die gesamte menschliche Erfahrung wesentlicher Bestandteil, der auf die Erzeugung neuer individueller und kollektiver Subjektivierungsmodi zielt“.375 Für die Frage, wie solche durch Relationalität geprägten Selbst- und Weltverhältnisse aussehen könnten, spielen unterschiedliche Aspekte eine Rolle als Bezugspunkte von Peltzers ethisch-politischem Entwurf. Es wird deutlich, dass Neles Bedachtheit im Umgang mit Unabhängigkeit und Verbundenheit nicht nur Folge familiärer Verletzungen ist, sondern ihrer Vorstellung eines bewusst vorsichtigen Umgangs entspricht: „Nele verlangte keine Erklärungen, wie sie selbst keine gab. Sie für sich, er für sich, keine Nachfragen, versiegelte Geschichten. […] Filmschnipsel, die man nicht zusammenkleben wollte, ein tieferer Sinn, Anamnese. Als könnte man eine Person dann besser verstehen, als sei man nichts anderes als eine zwanzig, dreißig, hundert Jahre zurückliegende Vergangenheit.“376
Nele will Christian nicht auf seine Familiengeschichte, auf ein Bild, einen „private[n] Schatten“ reduzieren.377 Sie zweifelt, dass sich jemand allein aus seiner Geschichte heraus erklären und determinieren lasse, wobei der Begriff der Anamnese kritisch auf die Psychoanalyse verweist. Wenn sie die Filmschnipsel nicht zusammenkleben will, ist dies die Absage an ein Bild des Ganzen, zumal an eines, auf dass sie den Anderen festlegt. Diese Art des Zugangs zum Anderen evoziert die Vorstellung von Deleuze, „sich mit den unbekannten Bereichen des anderen [zu, d. V.] verbinde[n], ohne in sie einzudringen oder sie zu erobern“.378 Zu dieser Haltung vorsichtiger Teilnahme und behutsamen Anknüpfens, die darauf verzichtet, sich des Anderen zu ermächtigen, passt auch Neles Art, ihr Interesse an der Lektüre von Christians noch nicht abgeschlossenem Roman zu äußern, die der Text deutlich abhebt von dem „Professorengrinsen“, mit dem Jakob Christian auf seinen Roman anspricht. „‚Willst du denn?‘ Ein angedeutetes Nicken (und ein Lächeln), das so scheu und so zärtlich war, so neugierig und so fragend“.379 Gemeint
375 Antonioli, Manola: Fluchtlinien des Politischen: Über mikropolitische Gefüge und das Minoritär-Werden. In: Krause, Ralf / Rölli, Marc: Mikropolitik: eine Einführung in die politische Philosophie von Gilles Deleuze und Félix Guattari. Wien u.a.: Turia + Kant 2010, S. 7-25, hier S. 9. 376 Peltzer: Teil der Lösung, S. 430, 431. 377 Ebd., S. 431. 378 Deleuze / Guattari: Tausend Plateaus, S. 260. 379 Peltzer: Teil der Lösung, S. 271.
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ist mit dieser Vorsicht und Behutsamkeit des Anknüpfens nicht nur die private Relation zum Anderen. Nach dem Streit über ihre Entwürfe subjektiver Selbstund Weltverhältnisse in Paris beschließt Nele auf der Suche nach Orientierung, dem Wohnhaus von Gilles Deleuze einen Besuch abzustatten, und dieser Entschluss wird unmittelbar mit dem Verweis auf einen für sie zentralen Satz des Philosophen verbunden: „Was ist Philosophie? Der eine Satz“.380 Um welchen Satz es sich handelt, erfährt der Leser wenig später: „Wir fühlen uns nicht außerhalb unserer Epoche; wir schließen unablässig schändliche Kompromisse mit ihr. Dieses Schamgefühl ist eines der mächtigsten Motive der Philosophie. Wir sind nicht für die Opfer verantwortlich, vielmehr vor den Opfern. Les victimes. Responsable.“381
Deleuze grenzt die Verantwortung vor den Opfern ab von einem „unguten Schuldgefühl“.382 Er leitet sie im Anschluss an Primo Levis Auseinandersetzung mit dem Holocaust her aus der „Scham, ein Mensch zu sein“, einer Scham, die uns affiziert, uns „überkommt“ – „Scham, daß Menschen derartiges tun konnten, Scham, daß wir es nicht haben verhindern können, Scham, dies überlebt zu haben, Scham, erniedrigt oder herabgewürdigt worden zu sein“: „Nicht nur unsere Staaten, jeder von uns, jeder Demokrat ist zwar nicht für den Nazismus verantwortlich, wohl aber durch ihn besudelt.“383 Deleuze beschränkt diese Scham, durch die die Philosophie „zwangsläufig politisch“ werde, nicht auf Extremsituationen, sie trete ein „auch unter minder bedeutsamen Umständen, angesichts der Niedertracht und Vulgarität der Existenz, die die Demokratien heimsucht, angesichts der Ausbreitung dieser Existenzweisen und dieses marktgerechten Denkens, angesichts der Werte, Ideale und Ansichten unserer Epoche.“384
380 Ebd., S. 458. 381 Ebd., S. 460, 461; vgl. Deleuze / Guattari: Was ist Philosophie?, S. 125. 382 Deleuze / Guattari: Was ist Philosophie?, S. 123. 383 Ebd., S. 124, 125. 384 Deleuze: Kontrolle und Werden, S. 247; Deleuze / Guattari: Was ist Philosophie?, S. 125.
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Seine Überlegungen, an die er den Gedanken anschließt, es fehle „an Widerstand gegenüber der Gegenwart“, bestärken Nele in ihrer Suche nach einer widerständigen Position.385 Der Begriff der „Opfer“ bleibt in Peltzers Roman offen und zugleich unterstreicht Neles Wiederholung die Begriffe „Opfer“ und „Verantwortung“ als zentral. In Christians Wunsch, sich bei Nele zu entschuldigen, „dafür, was er gestern Abend im Streit von den Opfern gesagt hatte, die sich jeder für seine Zwecke suche“, deutet sich ein Orientierungspunkt, ein verbindender Minimalkonsens an, der in der „Verantwortung“ als einer Verbundenheit mit den „Opfern“ liegt.386 Verletzlichkeit und Leiden des menschlichen Körpers, die Nele grundlegend verunsichert haben, affizieren den Einzelnen, den, dem es widerfährt ebenso wie den, der es wahrnimmt und den es angeht.387 Sie markieren Anlass und Grenze des Widerstands. Die Anerkennung realen Leidens wird bei Peltzer zum Maßstab, eine Linie substanzieller subjektiver Erfahrung, die der postmodernen Literatur eine neue Akzentuierung verleiht.388 Konkreter wird Peltzers ethisch-politischer Entwurf durch die Verlagerung des Romans vom überwachten Zentrum Berlins nach Paris Belleville, einem internationalen Viertel, in dem viele Migranten leben. In einem Café verkauft eine „alte Vietnamesin“ Tabak, die Kellner sind zwei „mittelalte Araber“, die Gäste „zwei ältere arabische Frauen“ und „ein paar schwarze Jugendliche“.389 Durch die Wahrnehmung Neles und Christians, die beide durch Belleville streifen, entsteht die Repräsentation des internationalen Viertels: „[A]uf den Schildern arabische und chinesische Schrift, Schriftzeichen, Kohinoor Textiles (Stoffe für Saris), Boucherie Tizi Ouzou, Shalimar Bazar. […] Boucherie Musulmane, ein brausendes Durcheinander von Autos und Mopeds auf dem Kopfsteinpflaster, Menschenmassen, die auf den schmalen Trottoirs von Geschäft zu Geschäft, von Angebot zu Angebot
385 Deleuze / Guattari: Was ist Philosophie?, S. 126. 386 Peltzer: Teil der Lösung, S. 465. 387 Vgl. Waldenfels: Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, S. 42, 73. 388 Interessant in diesem Zusammenhang ist der Hinweis Peltzers während einer Lesung im Frankfurter Literaturhaus wie auch im Hamburger Literaturhaus im Winter / Frühjahr 2011 auf das Gedicht der dänischen Dichterin Inger Christensen alphabet, das er für sich in abgewandelter Form zitiere: Ja, die Armen gibt es, die Leidenden. Der Satz markiert Substanzielles als subjektive Erfahrung, deutet eine kritische Auseinandersetzung mit dekonstruktivistischen Diskursen an und die Frage, wie man über Leiden und Armut, Themen, denen die Sinnfrage eingeschrieben sei, reden könne, ohne in alte Jargons zu verfallen und ohne banal zu werden. 389 Peltzer: Teil der Lösung, S. 456.
286 I Z USCHAUER DES L EBENS drängten. […], gebratene Enten im Fenster eines vietnamesischen Restaurants. […] Supermarché Ruixin, Chinesisch.“390
In ihrem Hotel sind Nele und Christian „die einzigen Weißen, die anderen Gäste zumeist Frauen in farbenprächtigen Kleidern, die auf englisch und französisch und in afrikanischen Sprachen miteinander redeten“. Nele und Christian sind fremd – „[w]ie schnell man in die Minderheit gerät“, heißt es – und mit ihrer Bewegung doch in einen neuen Zusammenhang geraten.391 Diese Bewegung lässt sich als ein Minoritär-Werden lesen, das nach Deleuze / Guattari immer eine politische, nicht nur psychologische oder ethische Angelegenheit ist.392 In Tausend Plateaus rufen Deleuze / Guattari die „Epoche der Minderheiten“ aus, die sie definieren durch „das Werden oder die Fluktuation, das heißt durch den Abstand, der sie von einem bestimmten Axiom trennte, das eine redundante Mehrheit konstituiert (‚[…] der städtische Durchschnittseuropäer von heute‘, beziehungsweise […], ‚der einheimische Arbeiter, qualifiziert, männlich und über fünfunddreißig‘).“393
Sie nehmen dabei explizit Bezug auf „die unendliche Menge von Nicht-Weißen an der Peripherie“, wie sie auch Nele und Christian in Belleville umgeben.394 Das Minoritär-Werden zielt nicht darauf, ein majoritäres System zu stürzen oder sich ihm aufzuzwingen, sondern darauf, sich ihm zu entziehen, auf die Eröffnung neuer Möglichkeiten, auf Pluralität und „jene Mannigfaltigkeiten der Flucht oder der Strömungen.“395 Dies mache, wie Deleuze / Guattari in ihrer Auseinandersetzung mit dem Mai 1968 hervorheben, das Ereignis aus.396 „[…] Werden ist Schöpfung“, heißt es in Tausend Plateaus.397 Danach muss Widerstand nicht reaktiv, nicht als Gegenmacht gedacht werden – Peltzer verweist in seinen Poetikvorlesungen gerade auf die Gefahr dieser Gegenmacht als einer Blockierung der Fluchtlinien, als
390 Ebd., S. 455, 465, 468. 391 Ebd., S. 442. 392 Vgl. Deleuze / Guattari: Tausend Plateaus, S. 397. 393 Ebd., S. 650. 394 Ebd., S. 651. 395 Ebd.; vgl. Deleuze / Guattari: Was ist Philosophie?, S. 126; Antonioli: Fluchtlinien des Politischen, S. 23, 24. 396 Vgl. Deleuze / Guattari: Tausend Plateaus, S. 295; Deleuze: Kontrolle und Werden, S. 244, 245. 397 Deleuze / Guattari: Tausend Plateaus, S. 148.
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einer „Flucht in die üblichen Totalitarismen“ oder in „falsche[] Gewissheiten“.398 Vielmehr geht es gerade um die Leerstelle, die Situation, in der ohne Machtstreben und Programm Neues entwickelt wird. Es geht um ein „Revolutionär-Werden“, um die Schaffung neuer Verknüpfungen, einer neuen Kollektivität, die „immer eine schöpferische Minorität [ist, d. V.] und bleibt“, um das Generieren von Verbindungen, „die zum sozialen Handeln befähigen.“399 Vor diesem Hintergrund lässt sich die Markierung von Neles und Christians Begegnung als „fast utopisch“ mit Deleuzes / Guattaris Begriff revolutionärer Utopie verknüpfen, mit dem die Utopie in eine kritische Beziehung zur Gesellschaft tritt, eine Verbindung schafft zwischen der Philosophie und dem, „was es hier und jetzt im Kampf gegen den Kapitalismus an Realem gibt“.400 Als eine weitere Verbindungslinie zieht sich durch den Roman die zentrale Rolle von Bildung, Wissenschaft und Kultur, u. a. durch die mehrfache Nennung der UNESCO mit dem in ihrer Verfassung niedergelegten Programm: „Die weite Verbreitung von Kultur und die Erziehung zu Gerechtigkeit, Freiheit und Frieden sind für die Würde des Menschen unerlässlich und für alle Völker eine höchste Verpflichtung, die im Geiste gegenseitiger Hilfsbereitschaft und Anteilnahme erfüllt werden muss.“401
Die ironische Titulierung Neles als „Frau Doktor Gramsci“ verweist auf Antonio Gramscis Verknüpfung von Bildung und politischer Widerständigkeit, von Bildung als „kulturelle[r] Kraft“, die „das Bewusstsein des Menschen in ein aktivveränderndes Verhältnis zur Welt umzusetzen in der Lage ist.“402 Wenn Peltzer die Aspekte der Bildung und Kultur, des Minoritär-Werdens, der Fremdheit und Verunsicherung, der Verantwortung vor den Opfern und der behutsamen Teilnahme aufgreift, dann nicht im Sinne einer affirmativen Programmatik, eher als
398 Peltzer: Angefangen wird mittendrin, S. 127, 66; vgl. Krause / Rölli: Mikropolitik, S. 79-89. 399 Deleuze: Kontrolle und Werden, S. 249; Krause / Rölli: Mikropolitik, S. 137. 400 Peltzer: Teil der Lösung, S. 175; Deleuze / Guattari: Was ist Philosophie?, S. 116; vgl. Krause / Rölli: Mikropolitik, S. 98. 401 Verfassung der Organisation der Vereinten Nationen für Bildung, Wissenschaft und Kultur
(UNESCO).
URL:
http://www.unesco.de/unesco_verfassung.html
[20.05.2013]; vgl. Peltzer: Teil der Lösung, S. 61, 442, 454; vgl. S. 403: Auch Lewis Carols’ Sylvie und Bruno dient der widerständigen Aktion. 402 Sternfeld: Das pädagogische Unverhältnis, S. 75.
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„Teil[e] der Lösung“, als Bezugspunkte, Versuche von „sichtbar machen und hörbar werden“, Versuche des Anknüpfens und der Orientierung in einer offenen Suchbewegung.403 Das Ereignis von Neles und Christians sich entwickelnder Liebe, ihre Situation der Verunsicherung und Ausgesetztheit, die zentralen Begriffe der Verantwortung und der Opfer, deren Offenbleiben ebenso wie das der Widerstandsziele, der offene Ausgang des Romans gewinnen gerade auch vor dem Hintergrund von Deleuzes / Guattaris theoretischen Überlegungen, die den Roman auf intertextueller Ebene durchziehen, Ausstrahlungskraft. Peltzer fokussiert im Kontext von Verantwortung keine Form autonomer, die Welt souverän gestaltender Subjektivität, denkt Widerständigkeit nicht als Gegenmacht. „Heldenepen“, heißt es entsprechend an einer Stelle, seien nicht zu haben.404 Andererseits löst er Subjektivität auch nicht gänzlich in ein „Man“ auf, wie es sein Protagonist in seinem Romanprojekt in Orientierung an Deleuze versucht: „Sätze, in denen das Ego sich auflöst. […] Den Punkt erreichen, an dem man nicht mehr ich sagt, erzählt wird von einem ‚man‘. […]. Im tanzenden Staub des Sichtbaren, ein anonymes Gemurmel.“405 Widerständigkeit wird in Peltzers Roman als Ergebnis von Christians Recherche zunächst in vielstimmigen, auch ambivalenten Ansätzen deutlich, in Linien, die – teils in die Erstarrung führend, teils schöpferisch wirkend – den Einzelnen ebenso wie den Roman durchziehen, als Resignation, Vereinnahmung, Leerlauf, Gewalt, als Kritik, Suche, Phantasie und Verbundenheit. Mit Neles und Christians Begegnung zeichnet sich ein Entwurf ethischer Subjektivität ab, in dem Subjektivität vorsichtig reformuliert wird, ohne hinter ein erreichtes Reflexionsniveau – die Absetzung der Vorstellung eines autonomen, identitären, souveränen Subjekts – zurückzugehen. In Teil der Lösung wird der Entwurf einer Subjektivität in Bewegung erkennbar, die sich auf Verunsicherung, auf ein Werden einlässt. Es ist eine Subjektivität, die sich aus Fremd- und Unsicherheit, aus der eigenen Verletzlichkeit und Bedürftigkeit wie auch aus der der Anderen heraus konstituiert.
403 Peltzer: Angefangen wird mittendrin, S. 130. 404 Peltzer: Teil der Lösung, S. 452. 405 Ebd., S. 37, 137. In Unterhandlungen äußert sich Deleuze über das Subjekt: „Es ist die dritte Person, die man analysieren muss. Man spricht, man sieht, man stirbt. Ja, es gibt Subjekte, aber es sind tanzende Staubkörner im Staub des Sichtbaren und wechselnde Plätze in einem anonymen Gemurmel. Das Subjekt ist immer eine abgeleitete Funktion. Es geht hervor aus der Dichte dessen, was man sagt, was man sieht, und löst sich wieder darin auf“ (Deleuze, Gilles: Ein Portrait Foucaults. In: Ders.: Unterhandlungen 1972-1990. Aus dem Franz. v. Gustav Roßler. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993, S. 147-171, hier S. 155).
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Das Prekäre, in ständiger Veränderung Begriffene, das Peltzer als konstitutiv in diesen Entwurf einbezieht, wird dabei nicht idealisiert.406 Die Grenze der Dissoziation bleibt in der Figur des Schauspielers Martin, durch den Subjektivitätsentwürfe ebenso wie seine Zeit hindurchfluten, der sich in ihnen auflöst und sich das Leben nimmt, immer präsent. Widerständige Subjektivität wird akzentuiert als Verunsicherung und Fremdheit, das heißt heteronome Distanz, und als Verbindung, miteinander und mit den „Opfern“. So erscheinen Neles und Christians Selbst- und Weltverhältnisse am Ende umgewertet: Aus ihrer jeweiligen Distanz wird eine als schöpferisch konnotierte Verunsicherung und Fremdheit, aus ihrer Einbindung eine auf Verantwortung gründende Verbundenheit. Impuls subjektiver Widerständigkeit ist nicht das Wissen, wie es sein soll, sondern das Affiziertwerden durch das Leiden und die Überzeugung, diesem Leid nicht zustimmen zu können. Hiervon ausgehend den Fluchtlinien folgen, die eine Richtung anzeigen, ohne einen Zielpunkt vorzugeben, sich majoritären Strukturen entziehen, neue Möglichkeiten und Verbindungen suchen, ohne Machtstreben und ohne Dissoziation, erscheint als Kern eines vorsichtigen ethischen Entwurfs, der von Anfang an über das Private der Liebesbeziehung hinaus mit dem Politischen verbunden wird – eine literarische Reformulierung widerständiger relationaler Subjektivität.
406 Auf die Gefahr der Idealisierung verweist der Sozialpsychologe Jürgen Straub, der in manchen Ansätzen postmoderner Theoriebildung eine irreführende Gleichsetzung des „angeblich normalen Erscheinungsbild[es] des multiplen Menschen in postmodernen Gesellschaften“ mit der Krankheit Multiple Personality Disorder erkennt (Art. Identität. In: Jaeger, Friedrich / Liebsch, Burkhard (Hg.): Handbuch der Kulturwissenschaften. Band 1: Grundlagen und Schlüsselbegriffe. Stuttgart / Weimar: Metzler 2004, S. 277-303, hier S. 285). Vor diesem Hintergrund erscheint, z. B., die lapidare Bemerkung Wilhelm Schmids problematisch: „Daher diese andere Konzeption des Subjekts, die der Zersplitterung des Subjekts in eine Vielfalt Rechnung trägt, in eine ‚multiple Persönlichkeit‘, die andernorts in den Horizont des Krankseins gestellt wird, mit Tendenz zur Schizophrenie, zur Gespaltenheit, als wäre das nicht unser alltäglicher Zustand“ (Der Versuch, die Identität des Subjekts nicht zu denken. In: Barkhaus, Annette et al. (Hg.): Identität, Leiblichkeit, Normativität. Neue Horizonte anthropologischen Denkens. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1996, S. 370-379, hier S. 377).
Subjektivitätsentwürfe zwischen Entfremdung und Verantwortung
D ISTANZ
ALS
B EZIEHUNG IM
DEFIZIENTEN
M ODUS
Die Kategorie der Distanz, die ein Spannungsfeld vielfältiger Relationalität eröffnet, ermöglicht die genaue Analyse der Figuren in ihren distanzierten Zuschauerpositionen, wie sie in den untersuchten Texten im Kontext literarisch konstruierter gegenwärtiger Lebenswelten entworfen und ausgelotet werden. Die Zuschauerpositionen werden als eine komplexe Form subjektiver Relationalität erkennbar, als Bezugs- und Beziehungslosigkeit bei gleichzeitiger Verstrickung, die auf problematische, weil defizitäre Selbst- und Weltverhältnisse verweist und ethische Problematisierungen sowie Perspektiven einer ethischen Subjektivität in Relationen impliziert. Diesen zentralen Aspekt der Relationalität haben bisherige Forschungsansätze übersehen, die die Zuschauerpositionen der Protagonistinnen und Protagonisten als Einsamkeit, Dandyismus, Dekadenz oder Gleichgültigkeit umkreist, beschrieben und zugleich festgeschrieben haben. Mithilfe der analytischen Kategorie der Distanz lassen sie sich im Zusammenhang mit beiden Aspekten – mit Subjektivität und gegenwärtigen Lebenswelten – in ihrer komplexen Relationalität treffender und differenzierter erfassen. So gelingt ein Zusammendenken der Problematisierung distanzierter Zuschauerpositionen mit Perspektiven von Subjektivität. Die distanzierten Zuschauerpositionen, mit denen die Protagonistinnen und Protagonisten der untersuchten Texte Judith Hermanns, Christian Krachts, Katharina Hackers und Ulrich Peltzers sich, Anderen und ihren Lebenswelten begegnen, erweisen sich in der Analyse als Versuche, sich der Verstrickung in eine als bestimmend konstruierte Gegenwart zu entziehen und zu verweigern. Allerdings betonen die Texte mit diesen Versuchen gerade kein Beharren auf autonomen subjektiven Positionen. Vielmehr heben sie, indem sie ihre Figuren in Lebenswelten
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der Gegenwart situieren, in denen ihre Distanz als problematisches Defizit erscheint, die Relationalität dargestellter Subjektivität hervor. Diese Relationalität ist sowohl Distanz – Unfähig- und Unmöglichkeit, gelingende Beziehungen und Bezüge zu sich, zu Anderen und zu den Lebenswelten herzustellen –, als auch Einbindung im Sinne von Verstrickung und Bestimmtheit. Diese Konstellation scheint zunächst dem postmodernen Blick auf das Subjekt zu entsprechen, das unterworfen, sich selbst undurchschaubar, Produkt von Strukturen und Diskursen ist. Die untersuchten Texte aber stellen mit der Inszenierung der Zuschauerpositionen als Beziehung im defizienten Modus die Verschränkung von Distanz und Einbindung als Problem in ihr Zentrum, ein Problem, das so mit neuer Dringlichkeit und auf neue Art und Weise in den Fokus rückt. In Judith Hermanns Erzählungen aus den Bänden Sommerhaus, später und Nichts als Gespenster lässt sich die distanzierte Zuschauerposition der Protagonisten als Ratlosigkeit erfassen gegenüber sich, Anderen und ihren Lebenswelten. Die Figuren lassen das Leben passieren, haben keine Ziele und treffen keine Entscheidungen. Bindungen wie Familie, Geld oder Arbeit spielen keine Rolle. Das Reisen wird zur Metapher ungebundenen Unterwegsseins. Aus dieser Position ratloser Distanz heraus, vorgetragen als Berliner Lebensgefühl, werden jegliche Entscheidungen in der Schwebe gehalten, aufgeschoben, suspendiert. Strategien der Abwehr und des Sich-Entziehens dienen dazu, der Auseinandersetzung mit sich und der Lebenswelt auszuweichen, jegliche Art von Verbindlichkeit auszusetzen, Optionen offenzuhalten. Der Möglichkeitsmodus erscheint als ein Dauer-Standby, das Hermanns lakonischer Stil, ihre zahlreichen konjunktivischen Konstruktionen und der parataktische Satzbau unterstreichen. Dem Eindruck unbeteiligter Distanz allerdings widersprechen das stete Unwohlsein der Figuren, ihre Hilflosigkeit, Erschöpfung und Depression, ihr müdes Bedauern und ihr Gefühl des Ungenügens, ihre Enttäuschung, Traurigkeit und Verletztheit. Im Zugleich ihrer misslingenden Versuche, mittels Ausblendung und Abwehr eine Position der Distanz zu wahren, ihrem Verfangensein in den erstarrten Lebenswelten und der Unmöglichkeit, gelingende Zugänge zu finden, deutet sich die Problematik ihrer Zuschauerpositionen als Beziehung im defizienten Modus an. Diese konkretisiert sich im Kontext privater Beziehungen, in misslingenden Begegnungen, die ein Mangel an Empathie und Teilnahme prägt. Die – in der Forschung bisher übersehene – Dimension der Aggression, der Gewalt und des Erschreckens, die im Zusammenhang mit der Distanz inszeniert wird, unterstreicht die Problematisierung. Auch die Bedürftigkeit nach Zuwendung und Verbundenheit, die Suche und Sehnsucht nach einem anderen Leben markieren die distanzierte Ratlosigkeit als ein defizitäres Selbstund Weltverhältnis. Auswege allerdings werden als klischeehaft, nostalgisch, naiv, einfältig – unerfüllbar – markiert, der Status quo wirkt ausweglos. Auf der
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Ebene formaler Gestaltung wiederholt sich die thematische Grundkonstellation von Einbindung und Distanz durch die scheinbar affirmative Nähe und Identifikation mit dem Dargestellten und die nüchtern-lakonische Distanz der Darstellung, die den Leser zugleich einbinden und ihm den Zugang verwehren. In Christian Krachts Roman Faserland erweist sich die distanzierte Zuschauerhaltung des Ich-Erzählers als Pose, mit der er versucht, sich von jeglicher Teilnahme zurückzuziehen, seine Lebenswelt in Abscheu von sich zu weisen und eine überlegene Position unbeteiligten Abstands zu behaupten. Seine Distanzstrategien der Verweigerung, Distinktion, Provokation und des Ekels führen allerdings zu keinem Zuwachs an Autonomie. Die Kulisse der Selbstbehauptung kann nicht verbergen, dass er zutiefst verstrickt bleibt in die Strukturen des Faserlandes. Auch erweist sich die Pose als untauglich, sich seiner Hilflosigkeit zu erwehren, seines Leidens an der Fremdheit sich selbst gegenüber, an der zwischenmenschlichen Beziehungslosigkeit und der Unverständlichkeit seiner Lebenswelt. Das Zugleich von Verstrickung und Distanz wird erkennbar als Beziehung im defizienten Modus, wobei das Defizitäre sich ebenso auf den Erzähler wie auf die soziale Lebenswelt bezieht. Dies zeigt besonders die Rollo-Episode, in der der Ich-Erzähler sich explizit weigert, Verantwortung für den verzweifelten Freund zu übernehmen, diese aber als Desiderat präsent bleibt. Defizitär erscheint auch die Lebenswelt in ihrer Kontrastierung mit dem intensiven Wunsch des Ich-Erzählers nach Bezug und Verbindung, mit der Bedeutung, die er seinen Begegnungen verleiht und mit der Enttäuschung über ihr Misslingen. Konvulsive Anfälle von Übelkeit sowie Depression, Angst, Leere und ein hohes Maß an Aggressivität, die der Erzähler an sich und Anderen wahrnimmt, unterstreichen die Problematisierung der defizitären Beziehung ebenso wie seine Suche nach Kontakten, die die Reise antreibt, und seine Utopien weltflüchtiger Verbundenheit. Jedoch erweisen sich seine regressiven und nostalgischen Gegenentwürfe schon im Bereich der Vorstellung als kontaminiert durch die verhasste Lebenswelt. Der Erzähler ist hoffnungslos verstrickt in das Abgelehnte und Abgewehrte und zugleich hoffnungslos bedürftig nach Zuwendung und nach gelingenderen Zugängen zu sich und seiner Lebenswelt. Sein Verschwinden aus einem „Leben[], das neben einem so abläuft“1, erscheint folgerichtig. Die Ambivalenz, die sich aus dem Nebeneinander von Problematisierung und Ironisierung ergibt, ist ein Element formaler Gestaltung, das der Grundkonstellation des Romans – dem durchgängigen Bemühen des Ich-Erzählers, seine Lebenswelt auf Distanz zu halten – entspricht und diese zugleich vorführt.
1
Kracht: Faserland, S. 138.
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Während Krachts und Hermanns Darstellungen sich vor allem im privaten Bereich eines Status quo bewegen, wird die Position der Distanz in Katharina Hackers Roman Die Habenichtse (2006) herausgefordert durch die Kontextualisierung in Lebenswelten der Gegenwart, die nicht das unmittelbar Private fokussieren. Jakobs und Isabelles Distanz zu ihrem Erleben, die apathische Züge trägt, wird unterstrichen durch die Fokalisierung der Erzählperspektive, die variabel intern, aber hinsichtlich der Gedanken, Gefühle und Motivationen der Figuren sehr sparsam ist, sowie durch häufige Außenwahrnehmungen des Paares aus der Perspektive anderer Figuren. Sie stellt sich in der Analyse als Strategie heraus, mit der Jakob und Isabelle abwehren, was ihnen und Anderen widerfährt: Eigenes und fremdes Erleiden wird ausgeblendet, verdrängt, durch be- und feststehende Deutungsmuster verfügbar gemacht, abgewickelt und auf Distanz gehalten. Dahinter stehen Selbstkonzepte, die für diese Strategien konstitutiv sind. Jakob versucht, sich in Unabhängigkeit und Selbstbestimmung als autonomes Subjekt festzuschreiben und eine sichere Position zu behaupten. Isabelle sieht von jeglichem Versuch ab, ihr Leben selbst zu gestalten, sie lässt es vielmehr passieren, wobei sie unberührt zu bleiben sucht. In ihrer übersichtlichen und homogenen Berliner Lebenswelt scheinen Isabelles und Jakobs Haltungen der Distanz zu funktionieren, in England aber, wo die Lebenswelt des Leidens und der Gewalt den Protagonisten näher rückt, sie zutiefst in diese eingelassen sind, zeigt sich ihre Distanz, in der sich Abwehr mit Hilflosigkeit verbindet, als problematische, weil defizitäre Beziehung. Beider Selbstkonzepte werden fraglich, machen sie sie doch unfähig, auf sich selbst, das eigene Denken und Fühlen, auf Andere und auf ihre Lebenswelt einzugehen. In der Konfrontation mit einer Lebenswelt, die Teilnahme einfordert, erweisen sich ihre Zuschauerpositionen als existentielle Gefahr für Andere und auch für sich. Das Defizitäre dieser Positionen zeigt sich auch, wenn beiden widerfährt, was sie vermeiden, sie angezogen werden von dem, was sie auszublenden versuchen. In diesen Begegnungen werden Isabelles und Jakobs Distanzversuche zunehmend brüchig, beide sind unbehaust, bedroht, eine Situation, die der Roman als Folge ihrer Abwehr inszeniert und über das Private hinaus in den Kontext einer umfassenden globalen Bedrohung stellt. Isabelle und Jakob werden als Habenichtse erkennbar, die nichts erfahren und Leid und Bedrohung, mit denen der Text sie konfrontiert, nichts entgegensetzen können. Dagegen zeichnen sich im Abgewehrten und Verneinten, in intertextuellen Verweisen sowie in der Zeichnung weiterer Figuren Perspektiven gelingenderer Relationalität ab, die Isabelles und Jakobs Zuschauerpositionen als defizitäre Beziehung unterstreichen. Auch Ulrich Peltzers Protagonist in Teil der Lösung, der freie Journalist Christian Eich, steht seiner Lebenswelt als distanzierter Zuschauer gegenüber. Er ist
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weitgehend bindungslos und versucht, sich mit einer politisch reflektierten Verweigerung Strukturen der Vereinnahmung zu entziehen. Aus der Position eines kritischen Beobachters betrachtet er seine Lebenswelt mit Sarkasmus. Allerdings gelingt ihm dieser Rückzug kaum. In seinen Empfindungen der Fremdheit, Einsamkeit und Orientierungslosigkeit gewinnt die Distanz eine heteronomere Konnotation wie auch in der Position des Ausgeschlossenen im Verhältnis zu seiner Berliner Lebenswelt, in die ihn seine prekäre berufliche Situation und sein Geldmangel manövrieren. Diese Distanz geht einher mit einer Verstrickung, die vor allem im Finanziellen unabweisbar wird, auch in der Bestimmtheit durch seine soziale Herkunft sowie durch vorgegebene Muster, die in seinen Liebesbeziehungen jede authentische Empfindung unmöglich zu machen scheinen. Wenn Christian den Einzelnen als vollständig vereinnahmt und fremdbestimmt, ohne gelingenden Bezug zu seinem subjektiven Erleben beschreibt, wird die Gleichzeitigkeit von Distanz und Einbindung als Beziehung im defizienten Modus erkennbar. Mit dieser Situation hat sich Christian ein Stück weit arrangiert, er laviert zwischen Verweigerung, Resignation und Anpassung, um seinen Alltag aufrechtzuerhalten. Die Hoffnung auf Veränderung hat er aufgegeben, privat wie politisch, seine jugendlich-kämpferische Haltung liegt ihm fern. Doch Widerstandssehnsucht und -nostalgie, auch Ansätze der Widerständigkeit, die ihn und sein Umfeld geisteswissenschaftlicher Akademiker durchziehen, markieren Christians Rückzug als Ausdruck eines Defizits. Christian gerät in eine Suchbewegung, versucht, das Nebeneinander von und den Widerspruch zwischen kämpferischer Gegenwehr in der Vergangenheit und passivem Rückzug in der Gegenwart auszuloten, die er auch an sich und in seinem Umfeld wahrnimmt. Aus seinem Projekt ergibt sich die Frage, warum damals Veränderung möglich schien und gewollt war, während die Gegenwart alternativlos erscheine. Christian sucht nach Gründen für Rückzug und Sarkasmus, Apathie und Anpassung, eine Suche, die auf Annäherung und Verstehen zielt und die Überlegung impliziert, ob und wie sich widerständige Subjektivität in der Gegenwart denken ließe. Distanz in ihrem Zugleich mit der Vereinnahmung durch die Strukturen der Gegenwart wird zudem durch die Konfrontation mit einem Entwurf aktiven Engagements als eine defizitäre Beziehung markiert: Neles Motivation der Gegenwehr und ihre engagierte Beteiligung stellen, ohne einen eindeutigen Ausweg zu bieten, Christians Programm, sich einer Welt zu entziehen, die ihn zu vereinnahmen und zu bestimmen droht, in Frage. Distanz als relationaler Begriff nimmt mit den Figuren zugleich deren Lebenswelten in den Blick, und zwar als das, wovon die Figuren sich zu distanzieren versuchen, in was sie unauflöslich verstrickt sind, wozu ihnen der Bezug nicht gelingt. Die Texte inszenieren gegenwärtige Lebenswelten als beherrschend in den anonymen, den Einzelnen prägenden und bestimmenden Strukturen. Deutlich
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wird die Abwesenheit autonomer, geschlossener Figuren oder gar Helden. Die Pluralität gegenwärtiger Lebenswelten zeigt sich auf der Ebene formaler Darstellung in der Offenheit und konsequenten Mehrstimmigkeit der Texte. Hermanns Wahl der kurzen Erzählungen verleiht ihren Entwürfen durch die Vielzahl der Stimmen, Perspektiven und Orte den Charakter einer Skizzensammlung, die sich nicht vereindeutigen lässt. Die Unzuverlässigkeit von Krachts Erzähler sorgt ebenso wie das Mittel der Ironie für eine Unsicherheit der Perspektive. Hackers und Peltzers Romane sind multiperspektivisch und lösen die Spannungen, die zwischen den unterschiedlichen Perspektiven entstehen, nicht ins Eindeutige auf. Auch die ausgeprägte Intertextualität und -medialität verleiht den Texten unabschließbare Offenheit und verweigert Kohärenz. In ihrer Inszenierung distanzierter Selbst- und Weltverhältnisse als nicht gelingender Bezüge und Beziehungen üben die Texte eine – allerdings unterschiedlich ausgeprägte – Kritik an den Kontexten, in denen sie ihre Figuren situieren. Die Lebenswelten, die Judith Hermann entwirft, sind globalisiert, international uniform nach westlich-kapitalistischem Vorbild und sozial weitgehend homogen in der Darstellung einer jungen Künstlerund Bohèmeszene. Soziale, politische und historische Lebenswelten jenseits dieses europäischen oder gar globalen Mini-Kosmos spielen kaum eine Rolle und werden doch angedeutet, die Distanz der Figuren als eine Haltung, die in die Defensive führt, sich den größeren Zusammenhängen nicht stellt. Der begrenzte Kosmos trägt Züge dekadenten Verfalls und wirkt wie erstarrt in Klischeehaftigkeit, Abbildern und Wiederholungen. Die Metaphorik der Kälte, der Hitze und der Müdigkeit unterstreicht den Eindruck lähmenden Stillstands. Indifferenz wird erkennbar in den Strukturen der Lebenswelten, in ihrer Brutalität und in der Relativität aller Lebensoptionen. Die Figuren bleiben verfangen in diesen Lebenswelten, die sich durch ihr Verhalten weiter zementieren, in einem Ineinander von Struktur und Figur, in dem eigene Entwürfe unmöglich wirken. Christian Kracht entwirft eine deutsche Gegenwart der 1990er Jahre, eine disparate, abstoßende Nachwende-Republik. Auch diese Welt ist erstarrt in präexistenten Bildern, Phrasen und Diskursen, be- und feststehenden Deutungsmustern. Bestimmend wirken zudem die Marken- und Konsumorientierung der entworfenen kapitalistischen Gegenwart, ihre Tendenz zum dekadenten Verfall und ihre diffus nachwirkende nationalsozialistische Prägung. Dabei beschränkt sich die Perspektive des Ich-Erzählers auf das Territorium der alten Bundesrepublik, auf eine westdeutsche Wohlstandsgesellschaft, in deren fest gefügten Strukturen er trotz seines Widerwillens gefangen bleibt. Es gibt, wie auch bei Hermann, weder familiäre Bindungen noch berufliche Verpflichtungen oder wirtschaftliche Probleme, die Lebensstandard beziehungsweise Lebensunterhalt einer wohlhabenden Jugend gefährden. In der Wahrnehmung des Ich-Erzählers prägen Indifferenz, Vereinzelung,
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Wettbewerb, Betäubung, Leere und Angst den sozialen Raum, in dem jeder Kontaktversuch in Abbruch und Scheitern endet und Gesten der Nähe Spiel und Pose sind. Der Erzähler ist dabei nicht nur Opfer der bestimmenden Strukturen seiner Lebenswelt, sondern reproduziert diese durch sein Verhalten maßgeblich. Auch in Hackers Roman Die Habenichtse trägt die deutsche Hauptstadt Berlin als ein geschlossener Zirkel, in dem sich die Protagonisten immer im Bekannten bewegen, das Signum der Dekadenz. Hacker erweitert den Handlungsrahmen und stellt ihre Protagonisten in einen historisch-politischen Kontext vom Nationalsozialismus bis zum Irakkrieg. In dieser neuen Akzentuierung wird die distanzierte Beobachterhaltung des jungen deutschen Paares konfrontiert mit dem 11. September 2001, dem Londoner Leben vor den Anschlägen am 7. Juli 2005, mit den nationalsozialistischen Verbrechen in ihrem Nachwirken, mit Armut, Verwahrlosung und einer Kindesmisshandlung in der Nachbarschaft. Im Zentrum der Darstellung steht kreatürliches Leid, mit dem Jakob und Isabelle unmittelbar und medial vermittelt in Berührung geraten. Diese Signatur, die Hacker der Gegenwart einschreibt, bündelt sich als ein Pathos des Leidens in der Figur des geschundenen Mädchens Sara. Aus der Inszenierung des Leidens als Widerfahrnis für den Einzelnen und als Ergebnis von „Politik, Handlung, Willen“2 ergibt sich ein Spannungsfeld von Erleiden und verantwortungsvollem Handeln, in das die Protagonisten gestellt sind. Ulrich Peltzers Roman Teil der Lösung fokussiert anonyme Prozesse der Kontrolle und Ökonomisierung in globalisierten, kapitalistischen Lebenswelten, die alles und jeden zu erfassen und zu bestimmen scheinen und die als selbstverständlich hingenommen werden. Die Bürger Berlins sind angepasste Konsumenten in einer Oberflächenwelt, aus der es kein Entrinnen gibt und zu der doch kein Bezug gelingt. Dem stellt Peltzer ein Italien der 1970er Jahre entgegen, das von politischen Protesten, Massendemonstrationen und gewalttätigen Auseinandersetzungen geprägt ist. In diesem Spannungsfeld von umfassender Kontrolle und kämpferischem Aufruhr, das den Bezug zu Gilles Deleuzes Konzept der Kontrollgesellschaft und Michel Foucaults Analyse der Disziplinargesellschaft nahelegt, situiert Peltzer seine Protagonisten. Daraus ergibt sich mit Christians kritischer Beobachtung seines Umfelds geisteswissenschaftlicher Akademiker und seiner Recherche der Bewegung Brigate Rosse im Italien der 1970er Jahre der Fokus auf Subjektivitätsentwürfe zwischen Bewegungen des Rückzugs, der Anpassung und Versuchen kritischer Widerständigkeit. Die literarischen Entwürfe distanzierter Selbst- und Weltverhältnisse – die ausweichende Ratlosigkeit von Hermanns Figuren, der arrogante Abscheu des Kracht’schen Ich-Erzählers, die abwehrende Teilnahmslosigkeit von Hackers
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Hacker: Die Habenichtse, S. 182.
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Paar und der sarkastische Rückzug von Peltzers Protagonisten – lassen sich im Rahmen des mit der Kategorie der Distanz eröffneten Relationalitätsfeldes als komplexe Verknüpfungen beschreiben: Sie gehen aus von einer Position der Selbstbewahrung und Selbstbehauptung als einer distanzierten Zuschauerposition, die aber ihre heteronome Einbindung – ihre Verstrickung und Bestimmtheit – nicht zu verschleiern vermag. Die Strategien der Vermeidung, der Verweigerung, der Abwehr und des Rückzugs werden überlagert von misslingenden Versuchen, Bezüge und Beziehungen herzustellen – von heteronom geprägter Distanz. Anders als es zunächst erscheinen mag, erweisen sich die distanzierten Zuschauerpositionen auf unterschiedliche Weise als Gleichzeitigkeit von Distanz und Einbindung. Distanz wird als ein problematisches Defizit gelingender Beziehungen und Bezüge bei gleichzeitiger Verstrickung thematisiert. In dieser Gleichzeitigkeit wird die Bezugs- und Beziehungslosigkeit der Figuren zu sich, zu Anderen und zu ihren Lebenswelten als eine Beziehung im defizienten Modus erkennbar. Dieses Problem akzentuieren Schübe von Aggression und Gewalt, von Leid und einer umfassenden Bedrohung oder Vereinnahmung, die in direktem Zusammenhang mit der Distanz inszeniert werden, sowie die Suche und Sehnsucht nach einem anderen, gelingenderen Leben. Die distanzierten Positionen der Protagonisten im Kontext ihrer Lebenswelten werden, wenn auch als defizitär markiert, nicht moralisierend bewertet. Hermanns Protagonisten und Krachts Erzähler wirken ausgesetzt und verloren, ihnen gelingt kein Zugang zu ihrem Erleben. Auch die Zuschauerhaltung Isabelles und Jakobs angesichts des Leidens und Christians sarkastischer Zweifel an der Existenz eines Gegenentwurfs zum Status quo sind von Hilflosigkeit bestimmt. Als Selbst- und Weltverhältnisse, die sich im Zusammenspiel von Lebenswelt und Figur konstituieren, aber werden die Zuschauerpositionen als defizitäre Beziehungen zum Problem und es entsteht ein kritischer Impuls, der sich auf beide Komponenten dieser Relation richtet. In die Kritik geraten Lebenswelten, die die Figuren in ihren Strukturen der Indifferenz, Erstarrung und Dekadenz, der Ökonomisierung, Kontrolle, Bedrohung und Gewalt beherrschen, ohne ihnen gelingendere Bezüge und Beziehungen zu ermöglichen. In die Kritik geraten Figuren, die diese Lebenswelten der Bezugs- und Beziehungslosigkeit weiter zementieren durch ihre Vermeidung, ihre Abwehr und Verweigerung, ihren Rückzug. Trotz der durchgängigen Interdependenz von Figuren und Lebenswelten fokussieren Hermanns und Krachts Texte in ihrer Kritik eher Lebenswelten, die den Figuren kaum Möglichkeiten des Zugangs geschweige denn der Gestaltung bieten, während Hackers und Peltzers Kritik darüber hinausgehend die Figuren und ihre immer begrenzten Möglichkeiten stärker in den Blick nimmt. In allen untersuchten Texten geht es nicht darum, Subjektivität zu dekonstruieren, es handelt sich auch nicht um die für postmoderne Literatur als prägend
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geltenden selbstreferentiellen Spiele. Mit ihrer Problematisierung von und ihrer Suche nach Entwürfen von Subjektivität im Kontext gegenwärtiger Lebenswelten scheinen die Texten eher an Traditionen der Moderne anzuknüpfen, wobei sie nicht hinter die Postmoderne zurückgehen, diese vielmehr als Herausforderung annehmen. Hacker und Peltzer schreiben sich explizit ein in die Tradition der Zeitromane der Moderne. Hacker bezieht sich auf Theodor Fontane, auf seinen Altersroman Der Stechlin, diesen melancholischen Abgesang auf eine überschaubare, dem Einzelnen zugängliche, klar strukturierte Welt, der zugleich die Ahnung fundamentaler Veränderungen globaler Zusammenhänge enthält. Peltzers Schwerpunkt liegt auf der amerikanischen Moderne und Postmoderne, auf John Dos Passos und William Gaddis und ihrer Auseinandersetzung mit Großstadt und Ökonomisierung, deren Bemühen um den auch formalen Ausdruck der Simultaneität des Disparaten er aufgreift. Alle Autorinnen und Autoren konfrontieren ihre Figuren mit der verstärkt unüberschaubaren kapitalistischen, globalisierten und pluralistischen Welt der Postmoderne, auch die Distanz der Figuren ist in diesem Kontext anders. Zwar erscheint sie auch in literarischen Texten seit dem bürgerlichen Roman der Moderne zumeist nicht als Ausdruck gelingender Autonomie, verweist eher auf problematische Selbst- und Weltverhältnisse, allerdings gehen die Texte der Gegenwartsliteratur in ihrer Abkehr von der Vorstellung einer autonomen Distanz noch weiter: Diese Autonomievorstellung, wie sie die kulturwissenschaftliche Theoriebildung zu Distanzphänomenen bis weit in die Moderne hinein prägt, ist für die Gegenwartsliteratur nicht Zielpunkt eines potentiellen Gelingens, nicht Bezugspunkt einer Hoffnung oder auch lediglich der Trauer über einen Verlust, auch nicht Ursache einer Misere in ihrem Scheitern. Autonom konnotierte Distanz erscheint in den untersuchten Texten nur noch als eine problematische Zuschauerhaltung, mit der die Figuren versuchen, der umfassenden Verstrickung zu entgehen, Versuche, die sich in allen Texten als vergeblich erweisen: Krachts Erzähler kann die Pose des überlegenen Dandys nicht füllen und verschwindet. Hermanns Protagonisten bleiben verstrickt in bestehende Bilder, die sie ratlos betrachten. Hackers Jakob führt der Selbstentwurf als autonomes Subjekt in Bedrohtheit und Hilflosigkeit, auch Isabelles Konzept der Unberührbarkeit misslingt. Peltzers Nele wird in ihrem Rückzug auf eine Position autonomer Distanz nachhaltig verunsichert und Christian bleibt trotz seines Rückzugs auf die Position des kritischen Beobachters bestimmt durch seine Lebenswelt. Wenn Kracht, Hermann und auch Hacker an die Literatur um 1900 anknüpfen, indem sie den Figuren in ihrem ungebundenen Unterwegssein Züge des Dandytums, dekadenter Bohème und globaler Flanerie verleihen, werden diese literarischen Anlehnungen an die Jahrhundertwende-Distanz durch die Verstrickung der Protagonisten und, bei Kracht und vor allem bei Hacker, durch das Leiden an und das Leid
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in ihren Lebenswelten zersetzt, bei Hermann zumindest fraglich durch das stete Unwohlsein der Figuren. Das in der Literaturgeschichte zu beobachtende schwindende Vertrauen in die Idee eines selbstmächtigen Subjekts, die zunehmende Brüchigkeit einer Vorstellung von Autonomie und Souveränität, sei es im Namen eines humanistischen Ideals, einer elitären Geistigkeit oder ästhetischen Gegenwelt, bis hin zu deren gänzlichem Verlust im Verlauf der literarischen Moderne und ihrer zunehmenden Gestaltung einer Distanz zu Ich und Welt, die Ausdruck von Fremdheit, Unzugänglichkeit und Verstrickung ist, erscheint in der Gegenwartsliteratur verschärft. Die in das Selbstverhältnis eingekehrte Fremdheit sowie die Verstrickung in beherrschende Strukturen als Verlust, Mangel oder Scheitern autonomer Distanz, im modernen Roman noch zentrale Themen im Zusammenhang mit Positionen der Distanz, werden in den Problematisierungen der hier diskutierten Texte als unausweichlich gegeben angenommen. Dies unterstreicht die unaufgeregte, lapidare Form der Thematisierung in alltäglichen Lebensvollzügen. Hermann bezieht sich auf Raymond Carver,3 den nüchternen Beobachter des amerikanischen Alltags, und verleiht ihren Erzählungen durch die Lakonie der Sprache, die parataktische Syntax und die zahlreichen konjunktivischen Konstruktionen eine matte Ratlosigkeit, in der nichts Bedeutung zu erlangen scheint. Das Erschrecken über das Misslingen von Beziehungen sowie Leid und Gewalt wird aus den Texten heraus in den Leser verlagert, indem es angedeutet, an den Figuren aber kaum ablesbar wird. Kracht nimmt der Problematisierung mit der Inszenierung des informellen Plaudertons seines Ich-Erzählers, einer „literarisierten Oralität“, und dessen „sprachlich[em] Zu-sich-selber-in-Distanz-Treten“ sowie der karikaturistischen Überzeichnung des Erzählers und des Erzählten und durchgängigen Ironisierungen jede offensichtliche Emphase.4 Er schafft damit auf der Ebene der ästhetischen Gestaltung eine Distanz, die die Position des Erzählers spiegelt, vorführt und damit eine identifikatorische Lesart behindert. Hackers Perspektive der zwar internen, aber sehr sparsamen Fokalisierung, sowie der Raum, den sie Außenwahrnehmungen der Figuren durch beobachtende Andere gibt, übertragen die unbeteiligte Distanz ihrer Protagonisten auf die Ebene narrativer Ästhetik. Peltzer lässt seinen Protagonisten der Anonymität der Macht und der überbordenden Verwaltung der Welt mit resignativem Sarkasmus begegnen. Diese bilden unter ex-
3
Judith Hermann hat in Reden und Interviews immer wieder auf Carver referiert und schrieb das Vorwort zu seinem Erzählband Kathedrale (vgl. Hermann, Judith: On Carver. Ein Versuch. In: Carver, Raymond: Kathedrale. Erzählungen. Berlin: Berlin Verlag 2001, S. 9-16).
4
Döring: ‚Redesprache, trotzdem Schrift‘, S. 231.
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pliziter Bezugnahme auf Kafka den Kern der Inszenierung, werden aber nicht parabelhaft gefasst oder grotesk überzeichnet, sondern mit großer Nüchternheit und Genauigkeit als bestimmende Strukturen entworfen. Das „Verlorene[] Ich“5 (Gottfried Benn) ist Ausgangspunkt der Narration, nicht Gegenstand einer Klage, ebenso wie der sich selbst und seiner Lebenswelt fremd und distanziert gegenüberstehende und zugleich in sie verstrickte Einzelne. Dabei steht nicht die Frage nach den Ursachen der distanzierten Zuschauerposition im Mittelpunkt, die psychologisierend erläutert oder moralisierend bewertet würde, auch nicht die Frage nach Auswegen in eine Position autonomer Distanz oder die Frage nach den Gründen der Unverfügbarkeit autonomer Distanz. Es geht in den untersuchten Texten vielmehr darum, ausgehend von diesem – illusionslos, nüchtern und ohne nostalgische Hoffnung auf Rückgewinnung – konstatierten Faktum Lebensentwürfe durchzuspielen, Positionen und Perspektiven von Subjektivität auszuloten. Ihr Akzent liegt auf einer ethischen Problematisierung der Distanz: Sie fokussieren die Schwierigkeit der Protagonisten, sich zu sich selbst und zu ihrer Lebenswelt zu verhalten – die Pluralität und die vorgefertigten Bilder und Strukturen sowie die dominante Prägung und Vereinnahmung wahrzunehmen und doch in Beziehung zu treten, teilzunehmen und Möglichkeiten der Aneignung zu suchen, situativ Stellung zu beziehen und einzugreifen. Damit gehen sie über die im Kontext deutschsprachiger Gegenwartsliteratur als postmodern beschriebene Literatur hinaus und führen mit der Problematisierung und der Suche nach Entwürfen von Subjektivität eine modern-postmoderne Denkbewegung weiter. Auf der Ebene ethischer Problematisierung lässt sich zunächst das Nebeneinander von scheiternden Versuchen der Selbstbehauptung und -bewahrung und einer umfassenden Bezugs- und Beziehungslosigkeit bei gleichzeitiger Verstrickung in bestimmende Lebenswelten, das für die literarischen Entwürfe prägend ist, erfassen: Mittels der Situierung des Distanzbegriffs im Spannungsfeld der Relationalität wird dieses Nebeneinander als Zugleich von unverfügbarer autonomer Distanz, von heteronomer Distanz und heteronomer Einbindung erkennbar. Ausgehend von dieser Analyse bieten sich Anknüpfungspunkte zu aktuellen sozialphilosophischen Theorien, die das Ineinander von Distanz und Einbindung als Bezugslosigkeit bei gleichzeitiger Verstrickung analysieren. Die Verbindung von Distanz und Einbindung lässt sich, auch wenn mit anderen Begriffen gearbeitet wird, strukturell in Sophie Loidolts Entwurf eines Raumes der Indifferenz erkennen sowie in Rahel Jaeggis Rekonstruktion des Entfremdungsbegriffs als einer
5
Benn, Gottfried: Verlorenes Ich. In: Ders.: Gesammelte Werke in zwei Bänden. Band 1. Hg. v. Dieter Wellershoff. Wiesbaden: Limes 1973, S. 215-216, hier S. 215.
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Beziehung der Beziehungslosigkeit. Ähnlich wie diese Studie es in Auseinandersetzung mit den literarischen Entwürfen herausgearbeitet hat, sieht auch Loidolt das Phänomen, das sie als Indifferenz bezeichnet, nicht als Ausdruck von Autarkie, Narzissmus oder Coolness. Sie ordnet es auch nicht in den „postmoderne[n] Diskurs über Indifferenz“ ein, dessen „spielerische Leichtigkeit“ und Faszination für eine „neue[], kreativ-indifferente[] Haltung“ sich erschöpft habe.6 Stattdessen legt sie den Akzent auf problematische Selbst- und Weltverhältnisse nach der Postmoderne. „[D]ie Menschen sehen sich […] wieder mehr auf eine ‚Realität‘ zurückgeworfen, die ein ausschließlich ökonomisches Gesicht zu haben scheint (im Übrigen kein besonders schönes oder vertrauenerweckendes). Indifferenz aus Angst, Unsicherheit und Gefühlen des Scheiterns liegt m. E. heute näher als coole Gleichgültigkeit.“7
Skeptisch betrachtet Loidolt in ihrer Analyse misslingender subjektiver Bezüge bei gleichzeitiger heteronomer Einbindung die Möglichkeiten des Einzelnen, der, wie alle Anderen, in den Raum der Indifferenz eingelassen, „vom Indifferenzierungsgeschehen infiziert“ ist und diesem weder etwas entgegenzusetzen noch einen Bezug zu seiner Lebenswelt herzustellen vermag.8 Sie wirft die Frage auf, ob man nicht lernen müsse, „konstitutiv mit der Indifferenz“ zu leben, die sie aus der Überflutung mit „Ansprüchen und Informationen“ in der „kapitalistischen Konsum- und Massengesellschaft“ herleitet: „So lebt man in einem Raum der unendlich vielen und der immer lauter werdenden Beschallung, die einen zwangsläufig immer tauber macht. Diese unaufhebbare Deformation des intersubjektiven Zwischen ist kein im Prinzip behebbarer Mangel an Gerechtigkeit, Vertrauen, Verantwortung, sondern konstituiert möglicherweise unsere Gesellschaftsform auch in ihrer bestmöglichen Entwicklung.“9
Strukturelle Parallelen lassen sich ausgehend von den Ergebnissen der vorliegenden Analyse zudem ziehen zum Begriff der Entfremdung – bis in die 1980er Jahre zentrale Kategorie kritischer Analyse distanzierter und zugleich eingebundener Subjektivität –, der durch die postmoderne Kritik des essentialistischen Theorems
6
Loidolt: Indifferenz, S. 129.
7
Ebd.
8
Ebd., Fn. 12.
9
Ebd., S. 143.
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weitgehend aus der wissenschaftlichen Diskussion verschwunden ist. Der Gebrauch des Begriffs Entfremdung in literaturwissenschaftlichen Analysen ist aber ein Hinweis darauf, dass Phänomene, die mit dem Entfremdungsbegriff assoziiert werden, sich als persistent erweisen. In der Literatur seit den 1990er Jahren gewinnen sie eine zentrale Bedeutung, unterscheiden sich aber grundlegend von literarischen Entwürfen bis in die Moderne, in denen ein autonomes Subjekt noch zentraler Bezugspunkt war. Dadurch erwachsen Probleme aus dem unreflektierten Gebrauch des Entfremdungsbegriffs in der Auseinandersetzung mit postmodern geprägter Gegenwartsliteratur, die ein solches Subjekt nicht als Bezugspunkt annimmt. Mit dem klassischen Entfremdungsbegriff sind die literarischen Distanzphänomene der Gegenwart, durch die grundsätzliche Fragen nach Möglichkeiten von Subjektivität neu gestellt werden, nicht zu erfassen. Zu voraussetzungsreich ist er in seiner Vorstellung eines vorgängigen nicht-entfremdeten Zustands, die Aspekte der Heteronomie, des Nicht-Identitären, Unsicheren, Fremden und in Veränderung Begriffenen in Entwürfen von Subjektivität ausblendet.10 Auf die Rettung des Begriffs als zentralem Instrument der Gesellschafts- und Zeitkritik zielt Rahel Jaeggis Rekonstruktion der Entfremdung als einer Beziehung der Beziehungslosigkeit, einer Störung der Art, wie man sich zu sich und der Welt im Sinne von Aneignungsvollzügen in Beziehung setzt, die einen Mangel an gelingenden Bezügen trotz Verstrickung in konkrete Lebensabläufe impliziert.11 Jaeggis Beispiele für Entfremdungsprozesse zeigen deutliche Parallelen zu den untersuchten literarischen Entwürfen: Auf der individuellen Ebene beschreibt sie Entfremdung als die Situation, sich nicht mit den eigenen Bezügen und Beziehungen identifizieren zu können, „‚neben sich‘ zu stehen, von Wünschen beherrscht zu sein, von denen man sich gleichzeitig distanziert, Indifferenz, aber auch das Verwickelt-sein [sic!] in Lebensvollzüge, in die wir irgendwie hineingeraten zu sein scheinen und denen wir machtlos gegenüberstehen, obwohl es gleichzeitig wir selbst sind, die hier agieren.“12
Sie verweist auf die zunehmende Kommerzialisierung von Lebensbereichen sowie auf öffentliche Räume und Institutionen, mit denen sich der Einzelne nicht
10
Vgl. Honneth: Vorwort. In: Jaeggi: Entfremdung, S. 7; Oberprantacher: Entfremdung, S. 81.
11 12
Vgl. Jaeggi: Entfremdung. Jaeggi, Rahel: Was ist Entfremdung? Und was kann man dagegen tun, Frau Jaeggi? Interview. In: misik.at (2007), o. S. URL: http://www.misik.at/die-grossen-interviews/anders-leben.php [30.10.2012].
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identifizieren kann. Ihr Entfremdungsbegriff nimmt mit seiner Kritik beides in den Blick, Subjektivität und Lebenswelten. Dabei fokussiert Jaeggi die Art und Weise von Vollzügen, die Beziehungen und Bezüge zu Selbst und Welt. Während Loidolt Indifferenz in ihrer radikalsten Form als „keine soziale Beziehung, auch keine negative“, als „Negativität des Sozialen schlechthin“ setzt, erlaubt Jaeggis Verständnis von Entfremdung als „Beziehung der Beziehungslosigkeit“ eher die Frage nach gelingenderen Beziehungen.13 Explizit fragt Jaeggi nach Bedingungen, in denen es dem Einzelnen gelingen kann, „sich zu anderen – handelnd – in Beziehung zu setzen“, fasst Auswege in den Blick, die sich, ähnlich wie in den untersuchten Texten, vor allem in Hackers und Peltzers Romanen, auf Möglichkeiten gelingenderer Einbindung richten.14 Damit wird die Problematisierung von Subjektivität auch im Sinne der Suche nach Gegenentwürfen akzentuiert. Jaeggis und Loidolts sozialphilosophische Ansätze zielen wie der literaturwissenschaftliche Ansatz der vorliegenden Studie darauf, problematische Selbst- und Weltverhältnisse der Gegenwart in ihrer Komplexität zu erfassen – jene im Bereich gesellschaftlicher Analysen, diese Studie im Bereich literarischer Konstruktionen. Das analytische Konzept der Distanz, das die vorliegende Studie in Auseinandersetzung mit der Literaturgeschichte sowie philologischen, soziologischen und philosophischen Entwürfen entwickelt hat und dem die Spannung zwischen Distanz und Einbindung in ihrer Verknüpfung mit sowohl Autonomie als auch Heteronomie konstitutiv eingeschrieben ist, hat sich als geeignet erwiesen, die Phänomene in der Gegenwartsliteratur systematisch aufzugreifen, zu untersuchen und in ihrer Komplexität zu erfassen. In seiner Offenheit und Komplexität ist dieses Konzept für die Analyse der literarischen Entwürfe eher geeignet als ein Begriff – sei es Entfremdung oder Indifferenz –, der die Texte einem außerliterarischen Theorem unterwerfen würde. Es ist aus zeitdiagnostischer Perspektive aber aufschlussreich, dass die Bezugspunkte der literarischen Untersuchungsergebnisse zu der Problembeschreibung Sophie Loidolts und, vor allem, zu der Analyse Rahel Jaeggis vielfältig sind. Distanz als eine Beziehung im defizienten Modus, wie sie in zentralen Texten der Gegenwartsliteratur seit den 1990er Jahren als eine ethische Kritik subjektiver Selbst- und Weltverhältnisse erkennbar wird, lässt sich produktiv in Verbindung setzen mit einem Begriff der Entfremdung, wie Jaeggi ihn konzeptualisiert. Es geht dann um Entfremdung als defizitäre Beziehung, ohne dass ein vorgängiger Zustand der Autonomie, Souveränität, Identität und Harmonie gedanklich gesetzt würde und wiederzuerlangen wäre. Die Deutung der distanzierten Zuschauerposition als eine so verstandene Situation der Entfremdung
13
Loidolt: Indifferenz, S. 136; Jaeggi: Entfremdung, S. 19.
14
Jaeggi: Entfremdung, S. 258.
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unterstreicht die Problematisierung der Beziehung im defizienten Modus ebenso wie die Frage nach den Bedingungen gelingenderer Beziehungen und Bezüge und verleiht beiden – dank der gesellschafts- und zeitkritischen Stoßrichtung des Entfremdungsbegriffs – Nachdruck und Dringlichkeit.15 Mit der sozialphilosophischen Problematisierung von Entfremdung geht ebenso wie mit dem literaturwissenschaftlichen Fokus auf die literarische Problematisierung distanzierter Zuschauerpositionen eine Kritik des Status quo einher und damit „die Frage nach der richtigen Lebensform“,16 die nicht zu trennen ist von der Frage nach Positionen und Perspektiven von Subjektivität in einer postmodern geprägten Lebenswelt. Insofern ist ein Begriff von Entfremdung, der die Postmoderne nicht überspringt, sehr produktiv für eine kritische Literaturwissenschaft.
L ITERARISCHE P ERSPEKTIVEN ETHISCHER S UBJEKTIVITÄT Hermanns Figuren perpetuieren in ihrem gespenstischen Schweben den Status der Vorläufigkeit. Krachts Protagonist ist in seinen desaströs scheiternden Fluchtversuchen vom Verschwinden bedroht. Und doch verweist bei Hermann gerade die Inszenierung eines Defizits gelingender Relationen auf deren persistente Bedeutung, ohne dass Gestalt und Reichweite sich jenseits des in private Ausschnitte gefassten Gewesenen und Gegebenen konkretisieren würden. Es bleibt – trotz aller Unerfüllbarkeit und Ausweglosigkeit – eine Sehnsucht nach Verbundenheit und Teilnahme in erlebten Beziehungen und Bezügen bestehen, die Hoffnung darauf, dass sich etwas ereignen könnte, das miteinander und mit den Lebenswelten verbindet. Über eine diffus ersehnte gelingendere Relationalität, vor allem im Bereich persönlicher Beziehungen, weisen Hermanns Erzählungen aber nicht hinaus.
15
Dem Soziologen Hartmut Rosa ist insofern nachdrücklich zuzustimmen, wenn er vorschlägt: „Vielleicht sollten wir noch einmal über die Bedeutung des Begriffs ,Entfremdung‘ nachdenken“ (Hartmut Rosa zitiert bei Weber, Christian: Gemischte Gefühle: Entfremdung. Gehöre ich noch hierher?. In: Süddeutsche.de (2010), o. S. URL: http://www.sueddeutsche.de/wissen/gemischte-gefuehle-entfremdung-gehoere-ichnoch-hierher-1.1035083 [20.05.2013]).
16
Jaeggi, Rahel: Entfremdung vom Ich. Ferngesteuert durchs eigene Leben. Interview. In:
Spiegel
Online
(2009),
o.
S.
URL:
http://www.spiegel.de/wissen-
schaft/mensch/entfremdung-vom-ich-ferngesteuert-durchs-eigene-leben-a619354.html [30.10.2012].
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Auch bei Kracht liegen gerade in der Inszenierung des Scheiterns jeglicher Beziehungen und Bezüge, im Leiden des Erzählers und in seiner dringlichen Suche und Sehnsucht Beharrungsmomente eines gelingenderen relationalen Subjektivitätsentwurfs. Die Schlüsselepisode Rollo hält, obwohl durch den Ich-Erzähler abgewiesen, in dessen Negationen Verantwortung als soziale Verbindung präsent. Zudem verweist das Ende des Romans nicht nur auf das Verschwinden des Erzählers, sondern, im intertextuellen Verweis auf Rousseaus Träumereien, auch auf die Sehnsucht nach Verschmelzung, nach Ruhe und geglückter, umfassender Verbundenheit. Bei Hermann und Kracht werden die distanzierten und zugleich verstrickten Positionen der Figuren erkennbar als Beziehung im defizienten Modus, die ex negativo auf eine gelingendere Relationalität verweist. Aus dem konstatierten Mangel und aus der beharrenden Sehnsucht ergibt sich ebenso wie aus dem Leiden der Protagonisten und ihrer Suche nach glückenden Beziehungen und Bezügen eine ethische Perspektive, ohne diese Relationalität positiv auszuformulieren. Deutlich wird, was die Texte als unverfügbar abweisen: Die Rückgewinnung identitärer Eindeutigkeit, Authentizität, Autonomie und Souveränität und die Zuflucht in traditionelle, fest gefügte Entwürfe. So bleiben eine ethische Problematisierung, die stellenweise zwischen Lebensgefühl und Unwohlsein, Ironisierung und Leiden oszilliert, und diffuse Perspektiven gelingenderer Relationalität. Und doch deutet sich hier eine Auseinandersetzung mit subjektiver Relationalität an, die über den postmodernen Tod des Subjekts hinausweist. Hackers Protagonisten, deren distanzierte Position Hilflosigkeit ausdrückt, vor allem aber Abwehr des Leidens um sie herum und auch des eigenen Erleidens, werden in einer bedrohlichen Welt situiert und finden sich ihr zunehmend ausgeliefert. In ihren misslingenden Beziehungen und Bezügen scheinen, gerade im Abgewehrten und Negierten, Perspektiven des Gelingens auf. Im negativen Modus werden Konturen einer ethischen relationalen Subjektivität erkennbar. Diese zeichnen sich ab in intertextuellen Verweisen, u. a. – wenn das Gesicht des Anderen von Isabelle und Jakob ausgeblendet wird – auf Emmanuel Lévinas’ Ethik, die Subjektivität ausgehend von der Beziehung zum Anderen entwirft, dessen Gesicht zur Verantwortung ruft. Auch in sprachlichen Verneinungen hält Hacker Affizierbarkeit, Zuwendung und Verantwortung durchgängig präsent. Dieser Entwurf relationaler Subjektivität konkretisiert sich in Miniaturen gelingenderen Lebens, die der Roman mit weiteren Figuren als Gegenentwürfe zu Isabelle und Jakob andeutet. Er bietet dabei keine ethische Programmatik oder überindividuelle Maßstäbe an, sondern Situationen des Gelingens, die
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in ihrer Singularität bestehen bleiben und aus denen sich ungefähre Konturen ethischer Subjektivität ergeben.17 Es geht um die Empfänglichkeit für eigenes und fremdes Leid, auch für Schönes, um die Akzeptanz des Ungefähren, der eigenen Verletzlichkeit, Verstrickung, Fremdheit und Bedürftigkeit und der der Anderen. Es geht um Achtsamkeit, Vertrauen und Versöhnung, um die Unduldsamkeit angesichts unerträglichen Leidens, um Sorge und Teilnahme. Diese Subjektivität ist nicht autonom distanziert, sondern heteronom eingebunden und konstituiert sich im Eingehen auf das, was sie angeht. Allerdings markiert der Roman einen Grenzpunkt der Affektion: Das Nachbarskind Sara, das geschlagen wird, buchstäblich nicht wächst und auch im übertragenen Sinn nicht wachsen kann, zeigt die Situation, in der nur noch Leiden und Lähmung ist. Auch deutet der Roman Grenzen der Affizierbarkeit an, wo diese in eine fundamentalistische, sowohl selbstgewisse als auch selbstverleugnende Ethik des Mitleids umschlägt. Hackers Fokussierung des Leidens zielt nicht auf eine Heroisierung des Leidens, auch nicht auf einen Rückzug auf das Leiden. Leiden ist Signatur der Gegenwart und Maßstab verantwortungsvollen Handelns. Ausgehend davon geht es in Hackers Entwurf um ein Zulassen von Affektion als Grundlage von Selbstsorge und des Eingehens auf den Appell des Anderen. Von diesem Entwurf lässt sich ein Bezug herstellen zu dem Phänomenologen Bernhard Waldenfels, nach dem das Subjekt vorweg ein Patient ist, der bestimmten Erfahrungen unterworfen ist und nur im Eingehen auf das, was ihn trifft und in ihm wirkt, zu einem vermögenden Subjekt wird.18 Hackers Entwurf ethischer Subjektivität setzt sich ab von einer Denkbewegung, die das Subjekt als Unterworfenes entlarvt und dekonstruiert, er schreibt dieser Subjektivität auf der Basis grundsätzlicher Relationalität Perspektiven des Gelingens, Situationen autonomerer Einbindung zu, ohne sie neu zu ermächtigen, und konturiert damit das Spannungsfeld aktueller Subjektivitätsentwürfe. Mit der Analyse von Ulrich Peltzers Roman Teil der Lösung rückt die Frage nach Subjektivitätsentwürfen im Hinblick auf Möglichkeiten der Widerständigkeit in den Blick. Christians Begegnung mit der politischen Aktivistin Nele ist der Impuls, der das scheinbar archivierte Thema neu zur Diskussion stellt. Die durch diese Begegnung ausgelöste Verunsicherung von Christians und Neles Rückzügen auf eine Position kritischsarkastischer Beobachtung beziehungsweise autonomer Souveränität und die Suche nach neuen Entwürfen ihrer Selbst- und Weltverhältnisse sind nicht resignativ
17
Das Ungefähre unterstreicht Hackers multiperspektivische Schreibweise, die eindeutige Abgrenzungen zwischen den Figuren immer wieder verschwimmen lässt – ein Verfahren, das Subjektivität zudem als radikal kontingent markiert.
18
Vgl. Waldenfels: Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, S. 45; Busch / Därmann: Einleitung, S. 13.
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zu verstehen. Der Text verbindet sie explizit mit dem von Deleuze / Guattari verwendeten Begriff der Fluchtlinie. So rückt das Spannungsfeld von Erstarrung und Bewegung in den Blick, das die Philosophen im Sinne eines nomadischen Werdens als Deterritorialisierung im Gegensatz zur Segmentierung begrifflich umkreisen. Als Kern von Peltzers Entwurf widerständiger relationaler Subjektivität, die sich auf Verunsicherung, auf ein Werden einlässt – eines Entwurfs, der über das Private der Liebesbeziehung hinaus mit dem Ethisch-Politischen verknüpft wird – deutet sich die Abwendung von fest gefügten Positionen und die Suche nach neuen Möglichkeiten an, nicht im Sinne einer Gegenmachtbildung, vielmehr in einer offenen Suchbewegung. Peltzers literarische Reformulierung widerständiger Subjektivität geht nicht einher mit Selbstgewissheit. So wird Widerstand nicht als eine Position des Heroismus markiert, bleiben das Destruktive von Terror und Gewalt und die Verletzlichkeit des Körpers bewusst. Die Roten Brigaden stehen für eine Erstarrung in selbstgewissen Überzeugungen – „Flucht in die üblichen Totalitarismen“19 –, wie sie auch die Widerständigkeit der Gegenwart bedroht. Aber auch das Prekäre, in ständiger Veränderung Begriffene, das Peltzer als konstitutiv in seinen Entwurf von Subjektivität einbezieht, wird nicht idealisiert. Bei Neles und Christians Bewegung handelt es sich nicht um eine flexible Beliebigkeit, Peltzer verknüpft sie, ohne eine vorgefertigte Programmatik zu verfassen, mit einer Ethik der Verbindung. Mit der Begegnung Neles und Christians stehen Konzepte im Mittelpunkt, in denen sich Subjektivität relational konstituiert – nicht aus Autonomie und souveräner Gestaltung heraus, sondern aus Unsicherheit und Bedürftigkeit, der eigenen und der der Anderen – in Gesten der Gabe, des Vertrauens, des Versprechens und der Verantwortung als Verbindung mit den „Opfern“.20 Impuls subjektiver Widerständigkeit ist nicht das Wissen, wie es sein soll, sondern ein Affiziertwerden durch das Leiden und die Überzeugung, diesem Leid nicht zustimmen zu können. Die Verantwortung „vor den Opfern“, vor den Ausgeschlossenen, Benachteiligten und Leidenden in einer globalisierten, kapitalistischen Welt, so deutet sich am Ende des Romans an, nehmen Nele und Christian an – ein Entwurf ethischer relationaler Subjektivität, den Peltzer mit vorsichtiger Ernsthaftigkeit und zugleich nachdrücklichem Pathos zeichnet und mit dem er sich absetzt von einer mit spielerischer Ironie konnotierten literarischen Postmoderne. Alle hier untersuchten Texte problematisieren distanzierte Zuschauerpositionen und zeigen durch ihre Problematisierung respektive durch konkretere Gegenentwürfe Perspektiven der Affizierbarkeit, Zuwendung und Verantwortung auf,
19
Peltzer: Angefangen wird mittendrin, S. 127.
20
Peltzer: Teil der Lösung, S. 461; vgl. Deleuze / Guattari: Was ist Philosophie?, S. 125.
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die in den Bereich einer gelingenderen Relationalität hineinreichen und ethische Subjektivität konturieren, ohne die grundsätzliche Fremdheit, Verletzlichkeit, Verstrickung und Bedürftigkeit aufzuheben. Die grundlegende Relationalität dieser Subjektivitätsentwürfe unterstreichen Intertextualität und Intermedialität aller Texte, insofern auch ihre Textgewebe sich relational konstituieren, ein Verfahren, das Waldow als „dezidiert ethisches Anliegen [versteht, d. V.], indem andere Stimmen in den Text hineingeholt werden, ohne diese im neuen Kontext festzuschreiben“.21 In den untersuchten literarischen Texten werden Perspektiven einer relationalen Subjektivität angedeutet oder entworfen, die grundsätzlich eingebunden und zugleich distanziert ist, der aber, in aller Ambivalenz, Möglichkeiten einer gelingenderen Verbundenheit eingeschrieben sind und der – bei Hacker und Peltzer – Situationen von Autonomie in der Einbindung zugetraut und zugemutet werden – hier liegt der Ansatz einer programmatisch-ethischen Perspektive dieser Romane. Erkennbar wird eine Vorstellung von Subjektivität, die sich am ehesten durch die paradoxe Formulierung einer heteronom geprägten Autonomie beschreiben lässt.22 Die Texte erlauben es, die postmoderne These des Subjekts als eines vollkommen Unterworfenen und des Verlusts jeglicher subjektiver Gestaltungsmöglichkeit zumindest in Frage zu stellen. Dabei gehen Hackers und Peltzers Entwürfe nicht nur in ihren weiten gesellschaftlichen, historischen und politischen Perspektiven über Hermann und Kracht hinaus, sie umreißen auch konkreter Perspektiven ethischer Subjektivität, deren relationale Verfasstheit konstitutiv und die ungefähr, offen und fragil ist. Hackers und Peltzers Protagonisten wirken am Ende ausgesetzt, Peltzers Figuren scheinen bereit, sich neu einzubinden, wodurch Teil der Lösung ein optimistischeres Bild im Hinblick auf subjektive Gestaltungsmöglichkeiten zeichnet. Beide Romane entwerfen eine Subjektivität, die sich Festschreibungen entzieht, sich situativ neu verknüpft und ethische Konturen gewinnt in der Affizierbarkeit durch und der Verantwortung für das, was sie angeht, für sich und Andere, für Leidende, Unterlegene, Opfer. Während Hermann und Kracht bei einer ethischen Problematisierung der Bezugs- und Beziehungslosig-
21
Waldow: Ethik im Gespräch, S. 12; vgl. Jacob, Joachim / Mayer, Mathias (Hg.): Im Namen des Anderen. Die Ethik des Zitierens. Paderborn u.a.: Wilhelm Fink 2010.
22
Vgl. mit Bezug auf Michael Bachtins Theorie der Dialogizität: Böhm / Kley / Schönleben: Einleitung. Ethik – Anerkennung – Gerechtigkeit, S. 21.
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keit als eines Mangels und dem diffusen Wunsch nach gelingenderer Relationalität stehen bleiben, implizieren Peltzers und Hackers Romane mit ihrer ethisch orientierten Problematisierung singulärer Lebensentwürfe konkretere Perspektiven.23 Alle Texte entwickeln ihre ethischen Perspektiven weitgehend im negativen Modus. Für diese Ethik gilt das Gleiche wie für die relationale Subjektivität, mit der sie in direktem Zusammenhang steht: Fragil scheint sie eher im Scheitern auf als im Gelingen, sie deutet sich an im Abgewehrten und Verneinten, wird erkennbar in intertextuellen Verweisen. Die Texte zeigen sich hinsichtlich ethischer Entwürfe vorsichtig. Sie fragen nach dem Wie gelingenderen Lebens, ohne dieses positiv auszuformulieren, ohne eine objektive Moral zu bieten. Statt mit einer solchen Moral verknüpfen sie ethische Fragen nach dem misslingenden und dem gelingenden Leben unauflöslich mit konkreten Selbst- und Weltverhältnissen. Es geht ihnen nicht um Prinzipien, auch nicht um Gewissheiten, sondern um situative Wahrnehmung und Erfahrung. Sie bleiben offen, weniger am Ganzen, am System orientiert, mehr an individuellen Lebensformen und an konkreten Situationen, wobei sie die Frage nach Affizierbarkeit, Zuwendung und Verantwortung in ihr Zentrum stellen. Ethische Perspektiven der Affizierbarkeit und der Widerständigkeit bei Hacker und Peltzer werden nicht absolut gesetzt, vielmehr immer auch im Hinblick auf ihre Grenzen reflektiert – da, wo sie den Einzelnen überfordern oder ihn in seiner körperlichen Verletzlichkeit bedrohen, da auch, wo sie in neuen Gewissheiten zu erstarren drohen. Zum zentralen Maßstab ethischer Kritik an Selbstund Weltverhältnissen wie auch an den Lebenswelten wird das Leiden des Körpers in seiner Verbundenheit mit Anderen und mit seiner Lebenswelt. Hermanns Darstellung des Unbehagens und Krachts Fokus auf den sich erbrechenden Körper, dem die Gegenwart unerträglich ist, bleiben zwar diffus. Dennoch machen sie wie Peltzers Betonung der körperlichen Schmerzen seiner affizierten und affizierbaren Protagonistin und der Verantwortung vor den Opfern sowie Hackers Pathos des kreatürlichen Leidens den leidenden Körper zum Maßstab ihrer Kritik. Mit diesem Fokus auf das Erleiden konturieren die Texte substanzielle subjektive Erfahrungen der Relationalität als Verletzlichkeit, Bedürftigkeit und Verantwortung,
23
Zu diesem Verständnis von Ethik: Manola Antonioli, die Ethik im Anschluss an Phillippe Mengue als „begriffliche Ausarbeitung einer konkreten, individuellen und kollektiven Lebensform [versteht, d. V.], die nicht mehr von der Neuordnung des ökonomischen und politischen Systems (einer ‚Revolution‘) abhänge“ (Fluchtlinien des Politischen, S. 10).
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die der aktuellen deutschsprachigen Literatur in ihrer Auseinandersetzung mit Lebenswelten der Gegenwart eine neue ethische Akzentuierung verleihen.24 Peltzers Protagonistin Nele verwendet den Begriff der Post-post-Moderne, ein Schlagwort, das hilfreich sein könnte, um diese Entwürfe in eine literaturgeschichtliche Diskussion einzuknüpfen. So deuten die Texte auf vorsichtige Neuentwürfe hin, literarische Reformulierungen ethischer Subjektivität in Auseinandersetzung mit der Postmoderne, die keineswegs eine emphatische Neuermächtigung des Subjekts anstreben, aber es in seiner Unterworfenheit aufgreifen, um – noch im Scheitern – sein Potential auszuloten und ihm gerade auf der Grundlage seines Verstricktseins, seiner Verletzlichkeit, Bedürftigkeit und Fremdheit Verantwortung für das zuzusprechen, womit es verbunden ist und wodurch es sich konstituiert. Während das Ungefähre der Entwürfe sich bei Herrmanns und Krachts Inszenierungen aus der persistenten, aber diffusen Suche und Sehnsucht ergibt, gehört es zu Hackers und Peltzers ethischen relationalen Subjektivitätsentwürfen konstitutiv dazu: Peltzer greift in seinen Poetikvorlesungen Angefangen wird mittendrin an der Johann Wolfgang Goethe-Universität 2010/2011 in Auseinandersetzung mit philosophischen Überlegungen Gilles Deleuzes und Felix Guattaris den Begriff der Linie auf und beschreibt Subjektivität als „Effekte eines Zusammentreffens von Linien, die ruhelos die Gegenwart unserer Körper und unseres Denken durchqueren, aufeinander zulaufen und sich schneiden können oder auseinanderstreben mit der Geschwindigkeit einer Explosion. Und die das bilden, immer neu bilden, was Subjektivität heißt. Was wir so nennen und was erstaunliche Veränderungen erfahren hat, seitdem wir begonnen haben, uns damit, das heißt mit uns selbst, zu beschäftigen. Uns als Menschen zu entwerfen.“25
Peltzers Entwurf setzt der Vorstellung eines selbstmächtigen, identitären Subjekts die Vorstellung einer bewegten Subjektivität entgegen, „die sich ständig verändert, verlagert, neue Kombinationen ihrer Linien eingeht“ und die nur im Zwischen anzutreffen ist, „in der Flüchtigkeit ihrer Erscheinung zwischen einem Noch-nicht und einem Nicht-mehr.“26 Diese Subjektivität ist grundsätzlich relational, geprägt durch „die Gleichzeitigkeit sehr verschiedener Dinge, die in mich
24
Die Selbstvergewisserung über den Körper und die ihm eingeschriebenen Erfahrungen gewinnen unter dem Stichwort Embodiment zunehmend an Bedeutung.
25 26
Peltzer: Angefangen wird mittendrin, S. 36. Ebd., S. 10, 35. Peltzer greift in seinen Vorlesungen wiederholt Formulierungen Gilles Deleuzes auf: „Ja, es gibt Subjekte, aber es sind tanzende Partikel im Staub des Sichtbaren und wechselnde Plätze in einem anonymen Gemurmel. Das Subjekt ist immer
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eingehen und mich verlassen, die ich wahrnehme und umforme, genau wie sie das mit mir tun.“27 In ihrer Poetikvorlesung Linear gilt nicht mehr – über Gleichzeitigkeit in Texten und übers Nicht-Verstehen, die Katharina Hacker 2012 am Deutschen Institut der Johannes Gutenberg-Universität Mainz gehalten hat, spürt die Schriftstellerin dem literarischen Schreiben und dem Leben nach: „Ich rede vom Schreiben, ich rede vom Leben, beides gehört so sehr zusammen, daß ich die hier in der Akademie einmal diskutierte Frageskizze: Gesetze des Schreibens, Gesetze des Lebens – zu meiner eigenen Überraschung beantwortete: sie sind für mich eins.“28
In ihrer Annäherung an das Schreiben und das Leben stellt Hacker mit der Frage nach den Gestaltungsmöglichkeiten des Schreibenden zugleich die Frage nach Möglichkeiten von Subjektivität. Ihre Gedankenbewegung verbildlicht sie in der Vorstellung „eines Fadenknäuels mit Knoten“, in dem sich das Zugleich von „Prägung“ und „Entscheidung“, „Form“ und „Inhalt“, „Notwendigkeit“ und „Freiheit“ bündelt:29 „Die Bewegungen des Fadens sind nicht leicht zu verfolgen im Knäuel, und die Knoten sind dicht gezurrt.“30 Auf der Suche danach, „ob es Freiheit gibt“, ob und wie Subjektivität möglich ist, braucht der literarische Text die „Anwesenheit“ des Lesers, geprägt durch seine Augen, seine Intuition, seine Zeit und Erinnerung, sein Wissen.31 Hacker umkreist mit diesem Knoten im Fadenknäuel den Gedanken einer Gegenwärtigkeit, die sich mit vielfältiger subjektiver Wahrnehmung und Gestaltung verknüpft.32 Das poetologische Modell von Schreiben und Lesen, von Text und einem Leser, der durch seine Anwesenheit „Wortmöglichkeiten“ aktualisiert, präfiguriert ein ethisches Modell relationaler Subjektivität, das des Anderen bedarf, „wenn er erzählt, und ich empfinde, daß ich nicht verloren bin, weil ich mich doch – nicht auskenne in meinem Leben (oder in seinem Leben), aber Gesellschaft habe, mir selber Ge-
eine abgeleitete Funktion. Es geht hervor aus der Dichte dessen, was man sagt, was man sieht, und löst sich wieder darin auf“ (Deleuze zitiert bei Peltzer: Angefangen wird mittendrin, S. 34). 27
Ebd., S. 19.
28
Hacker: Linear gilt nicht mehr, S. 9.
29
Ebd., S. 10, 9.
30
Ebd., S. 10.
31
Ebd., S. 10, 16.
32
Vgl. ebd., S. 16.
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sellschaft leiste und andere zur Gesellschaft habe, in einer Art, verzeihen Sie mir, brüderlichen Anwesenheit, schwesterlichen Anwesenheit […]. Und so begreife ich etwas, von der Anwesenheit des Vergangenen oder Zukünftigen, von einem Aufbruch in etwas, das mehr Platz läßt für die Menschen, für das, was es über uns zu sagen gibt.“33
Der Aspekt der Relationalität, den die untersuchten Texte in ihren Subjektivitätsentwürfen fokussieren, findet auch in der aktuellen phänomenologisch orientierten philosophischen Forschung zur Subjektproblematik große Aufmerksamkeit. Der Phänomenologe Bernhard Waldenfels arbeitet in seiner „pathisch grundierten und responsiv ausgerichteten“ Phänomenologie des Fremden mit dem Begriff des Pathos, der mit Berührung – mit einer Affektion, die den Einzelnen angeht und in Mitleidenschaft zieht –, mit Verunsicherung und mit Fremdheit verbunden ist und auf eine Dimension jenseits der Vorstellung eines selbstmächtig agierenden Subjekts verweist.34 Nach Käte Meyer-Drawe konstituiert sich Subjektivität zwischen Selbstgebung und Selbstentzug, wobei der Mensch versuche, beide Aspekte in Anerkennung seiner Leiblichkeit für eine erträgliche Existenz zu organisieren.35 Norbert Ricken versucht diese Spannungen in seinem Entwurf relationaler Subjektivität zu konzeptualisieren und Subjektivität – sowohl jenseits des essentialistischen Verständnisses als auch jenseits der Vorstellung des Subjekts als eines bloß Bestimmten und Unterworfenen – in Spannungsverhältnissen von Selbstund Fremdbestimmung zu rekonstruieren.36 Er versteht Subjektivität nicht als „unbedingte Selbstsetzung, Aktivität und Spontaneität – mithin, [als, d. V.] das Vermögen, ‚von sich her anfangen zu können‘ (Kant)“37 –, sondern als bedingt, endlich, sozial situiert und auf Andere angewiesen.38 Darin ist sie „sich immer auch fremd, in sich gebrochen und entzogen“,39 eine „in sich selbst differente Figur“.40
33 34
Ebd., S 17. Waldenfels: Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, S. 34, 42, 43, 45; vgl. Waldenfels: Bruchlinien der Erfahrung, S. 15, 16; Busch / Därmann: Einleitung, S. 13; Busch: Ansteckung und Widerfahrnis, S. 70.
35
Vgl. Meyer-Drawe: Art. Subjektivität, S. 311; Meyer-Drawe, Käte: Illusionen von Autonomie. Diesseits von Ohnmacht und Allmacht des Ich. 2. Aufl. München: Kirchheim 2000.
36
Vgl. Ricken, Norbert: Subjektivität und Kontingenz. Markierungen im pädagogischen Diskurs. Würzburg: Königshausen & Neumann 1999.
37
Ebd., S. 15.
38
Vgl. Ricken: Art. Menschen, S. 168.
39
Vgl. ebd.
40
Ricken: Subjektivität und Kontingenz, S. 126.
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Subjektivität ist nach Ricken „selbstverwiesen wie selbstentäußert, ausgesetzt wie eingebunden und eigenständig wie angewiesen – Handelnde und Erleidende.“41 Er spricht im Anschluss an Meyer-Drawe und Waldenfels von „antwortende[n] Subjekte[n]“, die „unter Bedingungen der Anderen wie als Bedingung Anderer das eigene Leben führen […] müssen.“42 In dieser Reformulierung des Subjektivitätsbegriffs als grundsätzlicher Relationalität sieht Ricken die Möglichkeit, das Ende der Metaphysik „nicht nur melancholisch zu betrauern, sondern sich in und zu aller eigenen Differenz und Heterogenität – damit zu sich selbst – zu bekennen, ohne sich damit den Zwängen des Subjektdiskurses, sich selbst gänzlich kennen und erkennen zu müssen, um als Subjekt anerkannt werden zu können, auszusetzen.“43
Für Ricken deutet sich in diesem bescheidenen Subjektivitätsentwurf eine „andere, weit behutsamere Vision menschlicher Freiheit und Menschlichkeit“ an.44 Judith Butler betont den heteronomen Aspekt der Relationalität, wenn sie unter Bezugnahme auf Emmanuel Lévinas eine Ethik „aus der Sphäre des Ungewollten“, aus dem „primären Ausgesetztsein gegenüber dem Anderen“ entwickelt, eine Ethik, die veranlasst, „das selbstgenügsame, als Besitz verstandene ‚Ich‘ hinter sich zu lassen“ und die „Unerträglichkeit des Ausgesetztseins als Zeichen, als Erinnerungsposten einer geteilten Verletzlichkeit, einer gemeinsamen Körperlichkeit, eines geteilten Risikos“ zu begreifen.45 Zu einem solchen Subjektivitätsverständnis, das nicht essentialistisch von einem mit sich identischen, autonomen, souveränen Subjekt ausgeht, es allerdings auch nicht als gänzlich dekonstruiert und unterworfen belässt, sondern gerade aus seiner Verstricktheit, Unsicherheit und Fremdheit Ansatzpunkte für ethische Perspektiven und subjektive Gestaltungsmöglichkeiten entwickelt, lassen sich ausgehend von der Analyse der hier untersuchten literarischen Texte Parallelen ziehen. Das Potential der literarischen Entwürfe erweist sich darin, das Zwischen und das Ungefähre, das auch die philosophischen Entwürfe subjektiver Selbst- und
41
Ebd., S. 272.
42
Ricken: Art. Menschen, S. 167.
43
Ricken: Subjektivität und Kontingenz, S. 26, 27.
44
Ebd., S. 27.
45
Butler, Judith: Kritik der ethischen Gewalt. Adorno-Vorlesungen 2002. Erw. Ausg. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2007, S. 135, 180; vgl. Butler, Judith: Gefährdetes Leben. Politische Essays. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005, S. 154ff.
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Weltverhältnisse kennzeichnet, im Rahmen der offenen Möglichkeits- und Reflexionsräume, die Literatur aufgrund ihres fiktiven Charakters eröffnet, durchzuspielen und auszuloten.46 Es geht dabei nicht darum, eine eindeutige Ethik, eindeutige Antworten und Werte durch Literatur zu vermitteln. Vielmehr versetzt die „Dynamik der Unentschiedenheit und Offenheit“, über die Literatur verfügt, sie in die Lage, vielfältige und vieldeutige Positionen, Optionen und Entscheidungen zu verhandeln.47 Mit ihren Entwürfen greift sie „auf die unterschiedlichsten Wissenssegmente und wissenschaftlichen Diskurse zurück[].“48 „Das Sprachmaterial und seine narrative Strukturierung [können, d. V.] […] zu Generatoren eines ‚Möglichkeitssinns‘“ werden.49 Dies erlaubt es, literarische Texte als widerständige „Diskussionsbeiträge zu historisch und kulturell spezifisch gelagerten ethischen Problemkonstellationen“ zu verstehen.50 Vor diesem Hintergrund ist es eine zentrale Kompetenz und Aufgabe der Literaturwissenschaft, ethische Entwürfe der Literatur in den Fokus zu rücken und damit zugleich die historische Erfahrung, das prospektive und kritische Potential von Literatur und Literaturwissenschaft im Kontext der Diskussion um Subjektivitätsentwürfe auszuschöpfen und einzubringen.51
46
Vgl. Öhlschläger: Vorbemerkung, S. 11.
47
Ebd., S. 12.
48
Ette, Ottmar: Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft. Eine Programmschrift im Jahr der Geisteswissenschaften. In: Asholt, Wolfgang / Ette, Ottmar (Hg.): Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft. Programm – Projekte – Perspektiven. Tübingen: Gunter Narr 2010, S. 11-38, hier S. 18.
49
Öhlschläger: Vorbemerkung, S. 12; vgl. Ette: Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft, S. 37.
50
Böhm / Kley / Schönleben: Einleitung: Ethik – Anerkennung – Gerechtigkeit, S. 24. Es geht dabei keinesfalls um eine bloße Widerspiegelung einer Gesellschaft, keinesfalls um die Infragestellung des Eigensinns und der Eigengesetzlichkeit von Literatur; vgl. Menke, Christoph: Jenseits von Geistes- und Biowissenschaften. Vier kurze Bemerkungen zu Ottmar Ette „Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft“. In: Asholt, Wolfgang / Ette, Ottmar (Hg.): Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft. Programm – Projekte – Perspektiven. Tübingen: Gunter Narr 2010, S. 39-44, hier S. 44; Öhlschläger: Vorbemerkung, S. 11.
51
Vgl. Asholt, Wolfgang / Ette, Ottmar: Einleitung. In: Dies. (Hg.): Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft. Programm – Projekte – Perspektiven. Tübingen: Gunter Narr 2010, S. 9-10, hier S. 9, 10; Ette: Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft, S. 13; Menke: Jenseits von Geistes- und Biowissenschaften, S. 42.
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Die vorliegende Studie geht von Distanzphänomenen in der Gegenwartsliteratur aus und schlägt mit der analytischen Kategorie der Distanz einen theoretischen Rahmen für die kulturwissenschaftlich orientierte literaturwissenschaftliche Analyse vor. Durch den entwickelten Zugriff gelingt es, die unterschiedlichen Komponenten der Zuschauerpositionen freizulegen als komplexe Verbindungen im Zwischen von Distanz und Einbindung, Autonomie und Heteronomie, die nicht nur die Problematik von Selbst- und Weltverhältnissen in der Gegenwartsliteratur prägen, sondern zugleich literarisch entworfene ethische Subjektivität konstituieren. Das Spannungsfeld ist in der Lage, historisch spezifische Formen der Distanz zu erfassen und sie mit Entwürfen von Subjektivität zu verbinden. Daraus ergeben sich Forschungsdesiderate in historischer und vergleichender Perspektive mit der Zielsetzung, Distanzphänomene in ihrer Verknüpfung mit Subjektivitätsentwürfen differenzierter wahrzunehmen. Das entwickelte Spannungsfeld ist ein Beitrag zu einer kritischen Neufokussierung von Subjektivität in der kulturwissenschaftlich orientierten Literaturwissenschaft. Die Thematik der Relationalität, die die vorliegende Studie in den untersuchten Texten durch die analytische Kategorie der Distanz freilegt, öffnet den Blick für zwei neue Aspekte in der Gegenwartsliteratur: Zum einen für die ethische Problematisierung subjektiver Selbst- und Weltverhältnisse im Kontext gegenwärtiger Lebenswelten, die sich im Rahmen des entworfenen Spannungsfeldes mit einem nicht auf vorgängige Identität, Autonomie, Souveränität und Harmonie setzenden Begriff der Entfremdung verbinden lässt, zum anderen für vorsichtige Perspektiven ethischer relationaler Subjektivität in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur seit den 1990er Jahren, die die Forschung bisher nur in Ansätzen als Thema erkannt hat. Die Studie zeichnet damit eine neue thematische Linie innerhalb der vielstimmigen Gegenwartsliteratur und zielt darauf, diese in die zeitgenössische Literaturgeschichtsschreibung einzubringen. Dabei stellt sie die Texte wichtiger deutschsprachiger Gegenwartsautoren und -autorinnen zum ersten Mal in diesen thematischen Zusammenhang. Sie bricht, indem sie bereits in den 1990er Jahren ansetzt und Krachts und Hermanns Texte einbezieht, mit den Grenzen der in den letzten Jahren kanonisierten Strömung der Neuen deutschsprachigen Popliteratur und schlägt mit ihrer These einer ethischen Problematisierung und Suchbewegung eine Neudeutung zentraler Texte der 1990er Jahre vor, die sie durch die thematische Verknüpfung mit den Zeitromanen Hackers und Peltzers unterstreicht. Dadurch lassen sich Krachts und Hermanns Entwürfe distanzierter Selbst- und Weltverhältnisse als Deskription und Analyse eines Status quo, die sich überwiegend in privaten Lebensbereichen bewegen, gewissermaßen als ‚Vorläufer‘ der Zeitromane Hackers und Peltzers lesen, in denen die Position der Distanz herausgefordert wird durch die Kontextua-
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lisierung in Lebenswelten der Gegenwart, die nicht das unmittelbar Private fokussieren. Inwiefern sich in diesen literarischen Auseinandersetzungen mit distanzierten Selbst- und Weltverhältnissen, in der ethischen Problematisierung bis hin zu vorsichtigen Reformulierungen von Subjektivität, eine breitere Strömung in der Gegenwartsliteratur andeutet, bleibt abzuwarten. Die untersuchten Texte jedenfalls bestätigen den Eindruck, dass sich nicht nur die Literaturwissenschaft zunehmend ethischen Fragestellungen zugewandt hat, sondern dass auch die Literatur der letzten Jahre die Darstellung individueller Selbst- und Weltverhältnisse verstärkt mit der ethischen Frage nach dem gelingenden oder misslingenden Leben verknüpft.52 Diese ethische Orientierung lässt sich auch an den zahlreichen in den vergangenen Jahren erschienenen Manifesten ablesen, die Impulse für ethisch orientierte Suchbewegungen geben.53 Die Literatur – insbesondere der Roman – und mit ihr die Philologie haben sich seit Beginn des bürgerlichen Zeitalters als Spezialisten in der Aushandlung dessen erwiesen, was Subjektivität sein kann. Je fragiler und polyphoner sich Selbst- und Weltverhältnisse in der Gegenwart darstellen, desto mehr bedarf es der Fähigkeiten und Möglichkeiten der Literatur und einer kulturwissenschaftlich orientierten Literaturwissenschaft. Allein so kann die aktuelle Diskussion um Subjektivität und Ethik in Auseinandersetzung mit der postmodern geprägten pluralistischen Gegenwart produktiv geführt werden.
52
So auch Böhm / Kley / Schönleben, die 2011 feststellen, „dass die Literatur der letzten beiden Dekaden in unterschiedlichen westlichen Kulturräumen eine verstärkte Thematisierung der Fragen nach Ethik, Anerkennung und Gerechtigkeit aufweist“ (Einleitung: Ethik – Anerkennung – Gerechtigkeit, S. 24). Vgl. Bartl: Was bleibt vom Feuer?, S. 14; Asholt / Ette: Einleitung, S. 9.
53
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Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Lettre Rudolf Käser, Beate Schappach (Hg.) Krank geschrieben Gesundheit und Krankheit im Diskursfeld von Literatur, Geschlecht und Medizin 2014, 430 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-1760-3
Heinz Sieburg (Hg.) ›Geschlecht‹ in Literatur und Geschichte Bilder – Identitäten – Konstruktionen 2014, 262 Seiten, kart., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2502-8
Hans Stauffacher, Marie-Christin Wilm (Hg.) Wahnsinn und Methode Zur Funktion von Geniefiguren in Literatur und Philosophie September 2015, ca. 320 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2339-0
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Lettre Paul Fleming, Uwe Schütte (Hg.) Die Gegenwart erzählen Ulrich Peltzer und die Ästhetik des Politischen
Toni Tholen Männlichkeiten in der Literatur Konzepte und Praktiken zwischen Wandel und Beharrung
2014, 244 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2489-2
Juni 2015, 222 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3072-5
Leonhard Fuest Poetopharmaka Heilmittel und Gifte der Literatur
Florian Trabert, Mara Stuhlfauth-Trabert, Johannes Waßmer (Hg.) Graphisches Erzählen Neue Perspektiven auf Literaturcomics
Februar 2015, 148 Seiten, kart., 22,99 €, ISBN 978-3-8376-2830-2
Michael König Poetik des Terrors Politisch motivierte Gewalt in der deutschen Gegenwartsliteratur Januar 2015, 514 Seiten, kart., 49,99 €, ISBN 978-3-8376-2987-3
Clemens Peck, Florian Sedlmeier (Hg.) Kriminalliteratur und Wissensgeschichte Genres – Medien – Techniken April 2015, 248 Seiten, kart., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2887-6
Johanna Richter Literatur in Serie Transformationen des Romans im Zeitalter der Presse, 1836-1881 August 2015, ca. 240 Seiten, kart., ca. 32,99 €, ISBN 978-3-8376-3166-1
Armin Schäfer, Karin Kröger (Hg.) Null, Nichts und Negation Becketts No-Thing September 2015, ca. 290 Seiten, kart., ca. 35,99 €, ISBN 978-3-8376-2704-6
März 2015, 352 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2825-8
Martina Wernli Schreiben am Rand Die »Bernische kantonale Irrenanstalt Waldau« und ihre Narrative (1895-1936) 2014, 450 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 44,99 €, ISBN 978-3-8376-2878-4
Lars Wilhelmer Transit-Orte in der Literatur Eisenbahn – Hotel – Hafen – Flughafen März 2015, 344 Seiten, kart., zahlr. Abb., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2999-6
Sophie Witt Henry James’ andere Szene Zum Dramatismus des modernen Romans Oktober 2015, ca. 380 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2931-6
Gregor Schuhen (Hg.) Der verfasste Mann Männlichkeiten in der Literatur und Kultur um 1900 2014, 324 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2793-0
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