Das Stereotyp als Metapher: Zur Demontage des Antisemitismus in der Gegenwartsliteratur [1. Aufl.] 9783839422465

Was unterscheidet die Produktion von antisemitischen Stereotypen von einem dekonstruierenden Umgang mit ihnen? Paula Woj

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German Pages 310 Year 2014

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Inhalt
Danksagung
TEIL I: PROBLEM – GESCHICHTE – DESIGN
1. Einleitung
1.1 Forschungsüberblick als Problemaufriss
1.2 Zur Auflösung des Stereotyps: ein literaturgeschichtlicher Exkurs
1.2.1 Einige literarische Traditionslinien jüdischer Stereotype
1.2.2 Die Auflösung des Stereotyps in der Literatur des langen 18. Jahrhunderts
1.2.3 Exkurs: Die Haskala in Polen und das Stereotyp des Ostjuden
1.3 Das Stereotyp als Metapher – methodische Überlegungen
TEIL II: TEXTANALYSEN
2. Annäherungen an die Demontag stereotyper Konzepte
2.1 Gesellschaft als Metapher
2.1.1 KÖRPER: Jan Koneffke Paul Schatz im Uhrenkasten
2.1.2 MASCHINE: Mariusz Sieniewicz Żydówek nie obsługujemy
2.1.3 Zwischenergebnis I
2.2 Men sch als M et apher
2.2.1 PFLANZE I: Jonathan Safran Foer Everything Is Illuminated
2.2.2 PFLANZE II: Thomas Hürlimann Fräulein Stark
2.2.3 Zwischenergebnis II
2.3 Moral als Metapher
2.3.1 SCHACHSPIEL: Michael Chabon The Yiddish Policemen’s Union
2.3.2 WEG: Dariusz Muszer Die Freiheit riecht nach Vanille
2.3.3 Zwischenergebnis III
2.4 Eine Zusammenfassung aus der interkulturellen Perspektive
TEIL III: DER KATALOG
3. Strategien der Stereotypenauflösung
3.1 Erzählstrategien
3.1.1 Der unzuverlässige Erzähler
3.1.2 Narrative Ebene
3.1.3 Second Person Narration
3.2 Genre als Strategie
3.3 Sprache als Strategie
3.3.1 Ironie
3.3.2 Materialisierte Metaphern und idiomatische Wendungen
3.3.3 Groteske
3.4 Textstrukturen als Strategien
3.4.1 Manichäische Muster
3.4.2 Opfer-Täter-Dichotomie
3.4.3 Kontextualisierung und Intertextualität
3.5 Das Motiv als Strategie
3.5.1 Figuren
3.5.2 Verkleidungen, Rollenspiele, Metamorphosen
3.6 Ergebnis
TEIL IV: EINGRENZEN UND AUSLOTEN
4. Fluchtlinien und Abgrenzungen
4.1 Fluchtpunkt Aufklärung
4.2 Grenzlinie Gegenwart
5. Fazit
Literaturverzeichnis
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Das Stereotyp als Metapher: Zur Demontage des Antisemitismus in der Gegenwartsliteratur [1. Aufl.]
 9783839422465

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Paula Wojcik Das Stereotyp als Metapher

Lettre

Paula Wojcik (Dr. phil.) arbeitet am Forschungszentrum »Laboratorium Aufklärung« der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Ihr Forschungsprofil umfasst neuere deutsche, polnische, US-amerikanische, interkulturelle und jüdische Literatur.

Paula Wojcik

Das Stereotyp als Metapher Zur Demontage des Antisemitismus in der Gegenwartsliteratur

Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort. Die vorliegende Arbeit ist als Dissertation am Forschungszentrum Laboratorium Aufklärung der Friedrich-Schiller-Universität Jena, im Landesprogramm ProExzellenz des Freistaats Thüringen, entstanden.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Paula Wojcik Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-2246-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Danksagung | 7

TEIL I: PROBLEM – GESCHICHTE – DESIGN 1.

Einleitung | 11

1.1 Forschungsüberblick als Problemaufriss | 13 1.2 Zur Auflösung des Stereotyps: ein literaturgeschichtlicher Exkurs | 30 1.2.1 Einige literarische Traditionslinien jüdischer Stereotype | 31 1.2.2 Die Auflösung des Stereotyps in der Literatur des langen 18. Jahrhunderts | 46 1.2.3 Exkurs: Die Haskala in Polen und das Stereotyp des Ostjuden | 59 1.3 Das Stereotyp als Metapher – methodische Überlegungen | 66

TEIL II: TEXTANALYSEN 2.

2.1

Annäherungen an die Demontage stereotyper Konzepte | 87 Gesellschaft als Metapher | 93

2.1.1 KÖRPER: Jan Koneffke Paul Schatz im Uhrenkasten | 94 2.1.2 MASCHINE: Mariusz Sieniewicz ĩydówek nie obsługujemy | 108 2.1.3 Zwischenergebnis I | 119 2.2 Mensch als Metapher | 120 2.2.1 PFLANZE I: Jonathan Safran Foer Everything Is Illuminated | 121 2.2.2 PFLANZE II: Thomas Hürlimann Fräulein Stark | 134 2.2.3 Zwischenergebnis II | 149 2.3 Moral als Metapher | 150 2.3.1 SCHACHSPIEL: Michael Chabon The Yiddish Policemen’s Union | 151 2.3.2 WEG: Dariusz Muszer Die Freiheit riecht nach Vanille | 160 2.3.3 Zwischenergebnis III | 168 2.4 Eine Zusammenfassung aus der interkulturellen Perspektive | 170

TEIL III: DER KATALOG 3.

Strategien der Stereotypenauflösung | 181

3.1 Erzählstrategien | 183 3.1.1 Der unzuverlässige Erzähler | 184 3.1.2 Narrative Ebene | 190 3.1.3 Second Person Narration | 194 3.2 Genre als Strategie | 197 3.3 Sprache als Strategie | 200 3.3.1 Ironie | 201 3.3.2 Materialisierte Metaphern und idiomatische Wendungen | 208 3.3.3 Groteske | 211 3.4 Textstrukturen als Strategien | 217 3.4.1 Manichäische Muster | 217 3.4.2 Opfer-Täter-Dichotomie | 220 3.4.3 Kontextualisierung und Intertextualität | 222 3.5 Das Motiv als Strategie | 224 3.5.1 Figuren | 225 3.5.2 Verkleidungen, Rollenspiele, Metamorphosen | 231 3.6 Ergebnis | 235

TEIL IV: EINGRENZEN UND AUSLOTEN 4.

Fluchtlinien und Abgrenzungen | 239

4.1 Fluchtpunkt Aufklärung | 239 4.2 Grenzlinie Gegenwart | 253 5.

Fazit | 265

Literaturverzeichnis | 277

Danksagung

Ein Blick auf den langen Weg, der bei der Fertigstellung dieser Dissertation zurückgelegt wurde, erinnert vor allem daran, wie vielen Menschen ich die Tatsache verdanke, dass nun knappe dreihundert Seiten in gedruckter und gebundener Form vor mir liegen. Diese Arbeit profitierte maßgeblich von dem stetigen Austausch mit Prof. Dr. Stefan Matuschek, dem ich für eine exzellente Betreuung und Unterstützung danken möchte, wie sie in der akademischen Welt selten geworden ist. Prof. Dr. Andrea Meyer-Fraatz möchte ich für die Erstellung des Zweitgutachtens sowie die wertvollen Ratschläge aus slawistischer Perspektive danken. Besonderer Dank gebührt Prof. Dr. Michael Nagel, der mir von Beginn an mit inhaltlichen Ratschlägen ebenso wie struktureller und persönlicher Unterstützung zur Seite stand. Ebenso möchte ich Prof. Dr. Wolfgang Emmerich danken, dessen Rat in der Konzeptionsphase der Arbeit so wichtig für mich war. Ohne vorhergehende Recherchen, die ich während zweier Forschungsaufenthalte in Polen und in den USA durchführen durfte, wäre diese Arbeit nicht möglich gewesen. Finanziell wurden mir diese vom Deutschen Akademischen Austauschdienst ermöglicht. Für die Unterstützung auf dem Weg dorthin und vor Ort möchte ich Prof. Dr. Mark Gelber von der Universität Haifa, Prof. Dr. Arnold Heidsieck (†) und Helga Schwarz von der University of Southern California Los Angeles, Prof. Dr. Karol Sauerland von der Jan-Evangelista-PurkynČ-Universität in Ústí nad Labem, Dr. Cornelius Schnauber vom Max-Kade-Institut in Los Angeles sowie Georgiana Gomez und Ari Zev von der USC Shoah Foundation, Los Angeles meinen wärmsten Dank aussprechen. Die Fertigstellung der Arbeit wurde mir finanziell vom Forschungszentrum Laboratorium Aufklärung an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena ermöglicht. Auch für strukturelle Unterstützung in dieser Zeit möchte ich dem FZLA danken. Besonderer Dank gilt dabei Dr. Katharina Held, Dr. Andreas Klinger und unserem Jahrgangsleiter Prof. Dr. Dr. Ralf Koerrenz, die immer ein offenes

8 | DAS STEREOTYP ALS M ETAPHER

Ohr für die Belange der Doktoranden hatten. Das Erlebnis „Promotion“ wäre ohne meine Kolleginnen und Kollegen aus der Doktorandenschule Laboratorium Aufklärung jedoch nicht annäherend so erfolgreich und erinnerungswürdig gewesen. Die Korrektur einer Arbeit ist in gewisser Hinsicht der schwierigste Teil des Weges, er verlangt gute Begleiter, die unterstützend zur Seite stehen und dafür ihre eigene kostbare Zeit opfern. Für die vielen Stunden aufmerksamer Redaktionsarbeit und die schonungslose Kritik möchte ich Dominique Brühl, Heike Derwanz, Bianca Frohne, Sandra Frohne, Lena Kamau, Elisabeth Johanna Koehn und Nikolai Münch danken. Für das gewissenhafte Lektorat des Manuskripts und der Druckfahne danke ich Margit Pantke und Veronika Spinner. Nicht zuletzt möchte ich den Menschen danken, die mir diese ganze Zeit über ihren Zuspruch und ihre Geduld zukommen ließen. Vielen Dank an Patrick Ferrer y Wagner, an meine Mutter Joanna Petersen und an meine Schwester Maura Petersen. Das vorliegende Druckwerk ist die geringfügig veränderte Fassung meiner Dissertationsschrift, die im September 2011 an der Friedrich-Schiller-Universität Jena eingereicht wurde. Jena, im Februar 2013

Paula Wojcik

Teil I: Problem – Geschichte – Design

1.

Einleitung I am a Jew. Hath not a Jew eyes? Hath not a Jew hands, organs, dimensions, senses, affections, passions; fed with the same food, hurt with the same weapons, subject to the same diseases, healed by the same means, warmed and cooled by the same winter and summer as a Christian is? If you pick us, do we not bleed? If you tickle us, do we not laugh? If you poison us, do we not die? And if you wrong us, shall we not revenge? WILLIAM SHAKESPEARE/THE COMICAL HISTORY OF THE MERCHANT OF VENICE, OR OTHERWISE CALLED THE JEW OF VENICE

Shakespeares Shylock gehört zu den umstrittenen jüdischen Figuren der Literatur. Als skrupelloser Wucherer, der auf seinem Recht besteht, das grausame Pfand – ein Pfund Fleisch vom Körper seines Schuldigers – abzufordern, und in diesem ethisch fragwürdigen Ansinnen von der eigenen Tochter hintergangen wird, ist er bis heute eine vielzitierte Figur, die zahlreiche antisemitische Klischees in sich vereint: Er ist gierig, skrupellos, verstockt und für den Christen gefährlich. Zugleich ist er auch immer wieder als Gallionsfigur des Judentums ausgerufen worden: Im Gegensatz zu der philosemitisch gedeuteten, assimilierten Figur von Lessings Nathan steht er zu und besteht auf seiner jüdischen Identität.1

1

Vgl. beispielsweise Ernst Simon: „Lessing und die jüdische Geschichte“, in: ders., Brücken. Gesammelte Aufsätze. Heidelberg: L. Scheider 1965, S. 215-219, Hans Meyer: Außenseiter. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2007, Martin Yaffe: Shylock and the Jewish Question. Baltimore: Johns Hopkins Univ. Press 1997.

12 | DAS STEREOTYP ALS M ETAPHER

Der Gegenstand der vorliegenden Arbeit sind jüdische Stereotype, seien sie zu Figuren verfestigt oder Phantasmagorien von Charaktereigenschaften, körperlichen Stigmata oder Verschwörungstheorien. Im Gegensatz zu Ansätzen, die solche Stereotype in der Literatur diagnostizieren, widmet sich die Arbeit dem demontierenden Umgang mit ihnen. Ziel dabei ist es, von Einzeltextanalysen ausgehend, Möglichkeiten der Demontage des „Signifikant[en] ‚Jude‘“2 aufzuzeigen. Den Anlass für diese Arbeit und besonders für den starken Fokus, der auf methodische Fragen gelegt wird, geht über die Grenzen der Literaturwissenschaft hinaus, das Ergebnis erweitert dieselben. Die Frage, die den Ausgangspunkt der Überlegungen bildet, ist der – an sich trivialen – Feststellung geschuldet, wie schwer es ist, mit Antisemiten zu diskutieren, antisemitische Denkbilder zu entkräften und sie durch rationale Argumente zu destabilisieren. Dieser Gemeinplatz jeglicher Xenophobie-Forschung gilt selbstverständlich auch für die Produktion stereotyper Bilder in der Literatur. So war der mich leitende Verdacht, dass die Dekonstruktion von Stereotypen in literarischen Texten bereits genau dort ansetzen müsse: bei der Konstruktion der Grundlagen von Stereotypen. Die vorliegende Arbeit beweist, dass sich dieser Verdacht bestätigt hat. Sie beweist im Weiteren, dass den Untersuchungsgegenstand nicht zufälligerweise Belletristik bildet. Im Fazit meiner Überlegungen lege ich dar, warum es insbesondere ein Anliegen der Literatur und der Literaturwissenschaft sein muss, sich mit dieser Aufgabe zu befassen. Auf dem Weg dorthin werden sechs Romane einer eingehenden Analyse unterzogen, aus der ein Katalog von Demontagestrategien hervorgeht. Zuvor sollen im vorliegenden einleitenden Teil in einem Dreischritt Präliminarien für die weitere Untersuchung gesetzt werden: Im ersten Teil der Einleitung wird ein Forschungsüberblick geboten, der auch als ein Problemaufriss und Agens der Arbeit zu verstehen ist. Darauf soll im zweiten Teil ein literaturgeschichtlicher Abriss Facetten derjenigen Stereotype bis in die Aufklärung hinein vorstellen, auf die innerhalb der Arbeit wiederholt Bezug genommen wird. Der Einleitungsteil wird mit methodischen Überlegungen abgeschlossen, die die Grundlage der Einzeltextanalyse bilden.

2

Vgl. Christina von Braun: „Einleitung“, in: dies./Eva-Maria Ziege (Hgg.), Das bewegliche Vorurteil. Aspekte des internationalen Antisemitismus. Würzburg: Königshausen und Neumann 2004, S. 11-42, hier S. 18.

E INLEITUNG

1.1

F ORSCHUNGSÜBERBLICK

ALS

| 13

P ROBLEMAUFRISS

Seit Herbert Carrington 1897 seine Dissertation Die Figur des Juden in der dramatischen Literatur des 18. Jahrhunderts3 veröffentlicht hatte, zeichnet sich in der Germanistik eine Tendenz ab, jüdische Charaktere in der Literatur unter normativen Gesichtspunkten zu untersuchen. Nachdem bereits 1910 eine jüdische Perspektive auf Die deutsche Literatur und die Juden4 von Leo Geiger entworfen wurde, erlebte das Forschungsfeld unter anderem durch die Arbeiten von Adolf Bartels5 und Elisabeth Frenzel6 in der Zeit des Nationalsozialismus einen ideologisch begründeten Tiefpunkt. Doch auch wenn diese in der Gesinnung eindeutigen und ausdrücklich mit ihrem Zeitgeist konform gehenden Analysen nicht als Maßstab des Forschungsfeldes betrachtet werden können, so lässt sich der Hang zu wertenden Darstellungsweisen auch in den späteren Arbeiten der 1970er Jahre feststellen. Autoren wie Helmut Jenzsch oder Charlene Ann Lea begegnen dem Thema erneut mit Versuchen, jüdische Figuren auf der Bühne des 18. Jahrhunderts nach philo- oder antisemitischen Kriterien zu kategorisieren und gehen dabei selten über eine bloße Bestandsaufnahme hinaus.7 Bei Jenzsch entsteht zudem ein überaus positives Bild der aufklärerischen Literatur, da er Autoren wie Karl Bartholomäus Sessa oder Julius von Voß, deren Stücke ausgeprägt antijüdische Tendenzen aufweisen, nicht als Schriftsteller der Aufklärung klassifiziert und sie somit per definitionem nicht in seine Untersuchung einbezieht. In den 1980er Jahren findet ein Umdenken statt, und in den Arbeiten werden Ansätze verfolgt, jüdische Figuren nicht nur in Form motivgeschichtlicher Listungen zu betrachten. In seinem Aufsatz nimmt Horst Denkler einen ideolo-

3

Herbert Carrington: Die Figur des Juden in der dramatischen Literatur des 18. Jahrhunderts. Heidelberg: Buchdr. Pfeffer 1897.

4 5

Leo Geiger: Die deutsche Literatur und die Juden. Berlin: Reimer 1910. Vgl. Adolf Bartels: Lessing und die Juden. Eine Untersuchung. Leipzig, Dresden: Verl. Theodor Weicher 1918 und ders.: Jüdische Herkunft und Literaturwissenschaft. Eine gründliche Untersuchung. Leipzig: Verl. des Bartels-Bundes 1925.

6

Vgl. Elisabeth Frenzel: Judengestalten auf der deutschen Bühne. Ein notwendiger Querschnitt durch 700 Jahre Rollengeschichte. München: Dt. Volksverl. 1942.

7

Vgl. Helmut Jenzsch: Jüdische Figuren in deutschen Bühnentexten des 18. Jahrhunderts. Eine systematische Darstellung auf dem Hintergrund der Bestrebungen zur bürgerlichen Gleichstellung der Juden, nebst einer Bibliographie nachgewiesener Bühnentexte mit Judenfiguren der Aufklärung. Hamburg: Univ., Diss 1971, Charlene Ann Lea: The Image of the Jew in German and Austrian Drama 1800-1850. Amherst, Mass.: Univ. of Massachusetts, Diss. 1977.

14 | DAS STEREOTYP ALS M ETAPHER

gisch ‚entfärbten‘ Querschnitt eines Spektrums vor, der sich zwischen den Leitfiguren von „Christopher Marlowes Barrabas und William Shakespeares Shylock als Inkarnation des Bösen sowie von Gotthold Ephraim Lessings Reisendem samt seinem Nathan und Richard Cumberlands Shewa als Verkörperung des Edlen, Weisen und Guten bewegt“.8 Denkler berücksichtigt in seiner Analyse zwar hauptsächlich nach 1815 entstandene Dramen, doch schließt er auch verbreitete Stücke wie Ifflands Dienstpflicht von 1795 und Verbrechen aus Ehrsucht von 1784 in die Untersuchung ein. Dabei stellt er nicht nur die Phänomene vor, sondern erarbeitet auch die Funktion der Figuren, die Entwicklung der einzelnen Typen und die ambivalenten Tendenzen in Bezug auf die Charakterdarstellung. Ein gewisser Kategorisierungsdrang jedoch ist auch hier feststellbar, wenn komplex gestaltete Figuren wie Shakespeares Shylock eindeutig dem Typus des ‚gefährlichen Juden‘ zugeordnet werden und auf die Mehrdimensionalität des Charakters nicht systematisch eingegangen wird. Eine neue Sicht auf das Problem der Judenfiguren auf der Bühne zu Beginn des 19. Jahrhunderts bietet HansJoachim Neubauer an, indem er sich von der motivgeschichtlichen Herangehensweise seiner Vorgänger abgrenzt und eine differenzierte und ganzheitliche theaterwissenschaftlich orientierte Analyse der Figuren, aber auch ihrer Merkmale aus der Perspektive des „Rollenfaches Jude“ liefert.9 Figuren, wie die des ‚edlen Juden‘, der ‚schönen Jüdin‘ oder des ‚jüdischen Intellektuellen‘, die in der Öffentlichkeit überwiegend als positiv empfunden werden, stuft die Forschung als durchaus problematisch ein: Zu sehr verschwindet das Individuum hinter dem einprägsamen Klischee und zu stark ist die Gefahr, durch eine bloße Vorzeichenänderung das philosemitische Stereotyp in ein antisemitisches kippen zu lassen. Eine in historischer und systematischer Hinsicht kritische Auseinandersetzung mit einem solchen philosemitischen Stereotyp legt Florian Krobb mit seiner Studie der ‚schönen Jüdin‘ in der Literatur vor

8

Horst Denkler: „‚Lauter Juden‘. Zum Rollenspektrum der Juden-Figuren im populären Bühnendrama der Metternichschen Restaurationsperiode (1815-1848)“, in: ders./ Hans-Otto Horch (Hgg.), Conditio Judaica: Judentum, Antisemitismus und deutschsprachige Literatur vom 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg. Tübingen: Niemeyer 1988, S. 149-163. Im selben Jahr erscheint Gustav Kars: Das Bild des Juden in der deutschen Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts. Freiburg: Burg 1988, ein Jahr zuvor: Margit Frank: Das Bild des Juden in der deutschen Literatur im Wandel der Zeitgeschichte. Studien zu jüdischen Gestalten und Namen in deutschsprachigen Romanen und Erzählungen 1918–1945. Freiburg: Burg 1987.

9

Vgl. Hans-Joachim Neubauer: Judenfiguren. Drama und Theater im frühen 19. Jahrhundert. Frankfurt a. M./New York: Campus 1994.

E INLEITUNG

| 15

und verweist vor allem auf die negativen, exkludierenden und stigmatisierenden Implikationen dieses Figurentypus.10 Ebenso einschlägig sind die an der Schwelle von Literatur- und Kulturwissenschaft zu verortenden Arbeiten von Sander L. Gilman dieser kritischen Richtung zuzuordnen.11 Gilman stellt sich stetig der Aufgabe, die diskursiven Auswirkungen von körperlichen wie psychischen, antiwie philosemitischen Stigmatisierungsstrategien zu erörtern.12 Seit den 1980er Jahren nimmt die Auseinandersetzung mit jüdischen Figuren in der deutschsprachigen Literatur- und Sprachwissenschaft zu, was sich als ein Bemühen verstehen lässt, eine nach dem Zweiten Weltkrieg entstandene Forschungslücke zu schließen.13 Mit literarischen Figuren in der Literatur nach dem Zweiten Weltkrieg beschäftigt sich Christiane Schmelzkopf bereits 1983 in ihrer Dissertation,14 die sich, im Gegensatz zu der drei Jahre später entstandenen positivistischen Arbeit von Heidy M. Müller15 dezidiert und kritisch mit Autoren wie Alfred Andersch, Günter Grass oder Ilse Aichinger auseinandersetzt. Das Bestreben, dieses Thema aufzuarbeiten, hält auch zu Beginn der 1990er Jahre an16

10 Vgl. Florian Krobb: Die schöne Jüdin. Jüdische Frauengestalten in der deutschsprachigen Erzählliteratur vom 17. Jahrhundert bis zum 1. Weltkrieg. Tübingen: Niemeyer 1993. Zu der Gestalt der schönen Jüdin vgl. u. a. Livia Bitton-Jackson: Madonna or Courtesan? The Jewish Women in Christian Literature. New York: Seabury Press 1982 und Elvira Grözinger: Die schöne Jüdin. Klischees, Mythen und Vorurteile über Juden in der Literatur. Berlin/Wien: Philo 2003. 11 Vgl. beispielsweise Sander L. Gilman: Die schlauen Juden. Über ein dummes Vorurteil. Hildesheim: Claassen 1998. 12 Vgl. unter vielen kleineren Untersuchungen die Monographien S. L. Gilman: The Jew’s Body. New York: Routledge 1991 und ders.: Rasse, Sexualität und Seuche. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1992. 13 Hierzu die Sammelbände wichtiger Symposien: H. O. Horch/H. Denkler (Hgg.): Conditio Judaica und Stéphane Mosès/Albrecht Schöne (Hgg.): Juden in der deutschen Literatur. Ein deutsch-israelisches Symposium. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1988 sowie den Sammelband von Herbert Strauss/Christard Hoffmann (Hgg.): Juden und Judentum in der Literatur. München: dtv 1985. 14 Christiane Schmelzkopf: Zur Gestaltung jüdischer Figuren in der deutschsprachigen Literatur nach 1945. Hildesheim/Zürich/New York: Olms 1983. 15 Vgl. Heidy M. Müller: Die Judendarstellung in der deutschsprachigen Erzählprosa 1945-1981. Königstein: Hain 1986. 16 Als wichtige Erscheinungen in der ersten Hälfte der 90er Jahre neben J. Neubauer: Judenfiguren sind zu nennen: Ruth Klüger: Katastrophen: über deutsche Literatur. Göttingen: Wallstein 1994, weniger ausführlich Hans Schütz: Juden in der deutschen

16 | DAS STEREOTYP ALS M ETAPHER

und wird nach einem Einbruch in der Mitte des Jahrzehnts an dessen Ende fortgeführt.17 Zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist das Interesse an deutsch-jüdischen Themen in der Literaturwissenschaft so stark wie nie.18 Im Zuge dieser Entwicklung beginnt sich die neue Forschungsrichtung der literarischen Antisemitismusforschung zu behaupten. Den ersten Arbeiten, die aus heutiger Sicht als die Pioniere dieser Forschungsrichtung bezeichnet werden können, wie sie neben Christiane Schmelzkopf auch Nicoline Hortzitz19 mit ihrer sprachwissenschaftlichen Analyse judenfeindlicher Schriften des 19. Jahrhun-

Literatur. Eine deutsch-jüdische Literaturgeschichte im Überblick. München/Zürich: Piper 1992, Hans-Peter Bayerdörfer: Theatralia Judaica. Emanzipation und Antisemitismus als Momente der Theatergeschichte. Von der Lessingzeit bis zur Shoah. Tübingen: Niemeyer 1992, Matthias Richter: Die Sprache jüdischer Figuren in der deutschen Literatur (1750-1933). Göttingen: Wallstein 1995, Stefan Glenz: Judenbilder in der deutschen Literatur. Eine Inhaltsanalyse völkisch-national-konservativer und nationalsozialistischer Romane 1890-1945. Konstanz: Hartung-Gorre 1999. 17 Als mögliche Ursache für einen solchen Tiefpunkt wird die deutsche Wiedervereinigung und eine damit einhergehende Wahrnehmung einer neuen Periodisierung gesehen, in der der Holocaust in eine historische Ferne rückt und eine neu definierte nationale Identität, eine konsensuelle Ablehnung des Fremden verstärkt werden. Vgl. hierzu bspw. Frank Stern: „Die deutsche Einheit und das Problem des Antisemitismus“, in: Christine Kulke/Gerda Lederer (Hgg.), Der gewöhnliche Antisemitismus: zur politischen Psychologie der Verachtung. Pfaffenweiler: Centaurus 1994, S. 171-189. 18 Ein Beleg für das wiederentfachte Interesse sind die zahlreichen Sammel- und Tagungsbände, die seit dem Ende des 20. Jahrhunderts erschienen sind und sich ausschließlich mit Literatur und Judentum beschäftigen: Pól O‫ ތ‬Dochartaigh (Hg.): German Monitor. Jews in German Literature since 1945: German-Jewish Literature? Amsterdam/Atlanta: Rodopi 2000, Willi Jasper/Eva Lezzi/Elke Liebs/Helmut Peitsch (Hgg.): Juden und Judentum in der deutschsprachigen Literatur. Wiesbaden: Harrassowitz 2006, Michael Bogdal/Klaus Holz/Matthias N. Lorenz (Hgg.): Literarischer Antisemitismus nach Auschwitz. Weimar/Stuttgart: Metzler 2007 sowie Bände, in denen diese Thematik Eingang gefunden hat: Ch. v. Braun/E.-M. Ziege (Hgg.): Das bewegliche Vorurteil, Hanno Loewy (Hg.): Gerüchte über Juden. Antisemitismus, Philosemitismus und aktuelle Verschwörungstheorien. Essen: Klartext 2005, sowie das von Matthias N. Lorenz herausgegebene Themenheft von Text und Kritik: Judenbilder 180, IX (2008). 19 Vgl. Nicoline Hortzitz: ‚Früh-Antisemitismus‘ in Deutschland (1789-1871/72). Strukturelle Untersuchungen zu Wortschatz, Text und Argumentation. Tübingen: Niemeyer 1985.

E INLEITUNG

| 17

derts vorlegt, folgen Ruth Klügers Katastrophen20 und schließlich Martin Gubsers Literarischer Antisemitismus.21 Letzterer versucht am Beispiel bürgerlicher Schriftsteller des 19. Jahrhunderts Strategien des literarischen Antisemitismus zu synthetisieren und zu systematisieren und schafft damit einen bis heute gültigen Katalog derselben. Schließlich sind es vor allem die inhaltlichen und methodischen Auseinandersetzungen mit dem Œuvre des literarischen Antisemitismus von Mona Körte22, die dieses Forschungsfeld sowohl innerhalb der Literaturwissenschaft als auch der Antisemitismusforschung etablierten. Das Bestreben von Wissenschaftlern wie Körte oder Michael Bogdal ist es, auf die Gefahren einer historisierenden, stoffgeschichtlichen Betrachtung des Themas hinzuweisen.23 Eine solche unreflektierte und dennoch lange praktizierte Herangehensweise an den Gegenstand habe zur Folge, dass die Wissenschaft Stereotype positivistisch transportiere, ohne sie ausreichend zu problematisieren und zu reflektieren. Aus der kritischen Untersuchung von Figuren oder Stereotypen ergeben sich innerhalb der Literaturwissenschaft immer wieder Überschneidungen mit den Kulturwissenschaften, was bereits in den 1960er Jahren von den Gründern der neudefinierten komparatistischen Imagologie nach dem cultural turn proklamiert

20 R. Klüger: Katastrophen. 21 Martin Gubser: Literarischer Antisemitismus. Untersuchungen zu Gustav Freytag und anderen bürgerlichen Schriftstellern des 19. Jahrhunderts. Göttingen: Wallstein 1998. 22 Vgl. Mona Körte: „Das ‚Bild des Juden in der Literatur‘. Berührungen und Grenzen von Literaturwissenschaft und Antisemitismusforschung“, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 7 (1998), S. 140-150, dies: „Judeus ex machina und ‚jüdisches perpetuum mobile‘. Technik oder Demontage eines literarischen Antisemitismus?“, in: M. Bogdal/K. Holz/M. N. Lorenz: Literarischer Antisemitismus (2007), S. 59-73, dies: Die Uneinholbarkeit des Verfolgten. Der ewige Jude in der literarischen Phantastik. Frankfurt a. M.: Campus 2000. 23 Vgl. Michael Bogdal: „Literarischer Antisemitismus nach Auschwitz. Perspektiven der Forschung“, in: ders./K. Holz/M. N. Lorenz, Literarischer Antisemitismus (2007), S. 1-12. Eine ähnliche Absicht zeigt sich auch in Arbeiten, die von einer Beschäftigung mit der jeweiligen Nationalliteratur in diesem Kontext absehen und eine transkulturelle Perspektive einnehmen. Neben Körte vgl. etwa Hans-Peter Preußer: „Europäische Phantasmen des Juden: Shylock, Nathan, Ahasver“, in: Helmut Schmitz (Hg.), Von der nationalen zur internationalen Literatur. Transkulturelle deutschsprachige Literatur im Zeitalter globaler Migration. Amsterdam: Rodopi 2009, S. 337-358.

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wurde.24 Damit einher geht das bislang ungelöste Problem der Repräsentativität und des Anspruchs auf Vollständigkeit, welche einer systematischen Analyse der Literatur zu widersprechen scheinen. Dieser Vorwurf trifft nicht auf Arbeiten zu, die ein konkretes Stereotyp fokussieren und dessen kulturgeschichtliche und literarische Entwicklung in einigen Fällen über Jahrhunderte hinweg verfolgen, so die Untersuchungen zum ‚Ewigen Juden‘ von Körte oder zur ‚schönen Jüdin‘ von Krobb. Eine umfangreiche Darstellung eines ‚Phänomens Jude‘ oder jüdischer Figuren in ihrer gesamten Vielfalt in der Literatur scheint also ohne eine stoffgeschichtliche und damit unsystematische und erkenntnisarme Herangehensweise, die notwendigerweise eine Missachtung der Literarizität impliziert, bislang nicht möglich. Die Offenheit von Stereotypen, die in der Literatur der Aufklärung einsetzt, im 19. Jahrhundert eine lange Phase der partiellen Stagnation erfährt,25 um dann im ausgehenden 20. und 21. Jahrhundert erneut einen Höhepunkt zu erreichen, macht es, insbesondere in Bezug auf die heutige Literatur, nahezu unmög-

24 Vgl. Michael Schwarze: Artikel zur komparatistischen Imagologie, in: Ansgar Nünning (Hg.), Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Stuttgart/Weimar: Metzler 1998, S. 274-76, Thomas Bleicher: „Elemente einer komparatistischen Imagologie“, in: Janosz Riesz (Hg.), Literarische Imagologie – Formen und Funktionen nationaler Stereotype. Bayreuth: Ellwanger 1980, S. 12-24, Michael I. Logvinov: „Studia imagologica: zwei methodologische Ansätze zur komparatistischen Imagologie“, in: Germanistisches Jahrbuch GUS „Das Wort“. Moskau 2003, S. 203-220. 25 Zahlreiche Untersuchungen zur Literatur des 19. Jahrhunderts belegen eine ‚Verfestigung‘ der Stereotype. Die Werke von Julius von Voß oder Karl B. Sessa lassen sich dabei als Reaktionen auf die Figur des ‚edlen Juden‘ verstehen, die von Lessing etabliert wurde. Auch die Werke von Romantikern wie Achim von Arnim sind ein prägendes Beispiel dafür (Vgl. beispielsweise Stefan Niehaus: Geschichte der deutschen Tischgesellschaft. Tübingen: Niemeyer 2003, S. 204-271, Heinz Härtl: „Romantischer Antisemitismus. Arnim und die ‚Tischgesellschaft‘“. In Weimarer Beiträge (7) 1987, S. 1159 ff), ebenso wie die vielgelesenen Romane von Wilhelm Raabe (Der Hungerpastor, 1866) und Gustav Freytag (Soll und Haben, 1855). Vgl. hierzu: Hans Otto Horch: „Judenbilder in der realistischen Erzählliteratur. Jüdische Gestalten bei Gustav Freytag, Fritz Reuter, Berthold Auerbach und Wilhelm Raabe“, in: H. Strauss/Ch. Hoffmann, Juden und Judentum in der Literatur (1985), S. 140-171, M. Gubser: Literarischer Antisemitismus, Mark Howard Gelber: Aspects of Literary Antisemitism: Charles Dickens’ „Oliver Twist“ and Gustav Freytag’s „Soll und Haben“. Yale: Yale Univ., Diss. 1980, Florian Krobb: 150 Jahre „Soll und Haben”: Studien zu Gustav Freytags kontroversem Roman. Würzburg: Königshausen & Neumann 2005.

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lich, das literarische ‚Stereotyp des Juden‘ in seiner Genese, Geltung und Funktion angemessen zu betrachten. Da bei der Konstruktion jüdischer Figuren multiple stereotype Merkmale zugrunde liegen, erscheint es notwendig, neue Wege des Zugangs zu den Charakteren zu finden. Die literaturwissenschaftliche Forschung versucht, mit diesem Wandel Schritt zu halten, doch zeichnet sich bei der Herausbildung der Forschungsfelder und -themen eine bemerkenswerte – um nicht zu sagen befremdliche – Tendenz ab. Es bildet sich eine Konstellation heraus, die auf der einen Seite durch das Forschungsfeld der deutsch-jüdischen Literatur markiert wird. In diesem Feld wird vor allem die Debatte um den Begriff der deutsch-jüdischen Literatur und ihres Status‫ ތ‬innerhalb der deutschen Literatur ausgetragen, die in entsprechenden Variationen auch in Polen und den USA geführt wird. Während in Polen die Kategorie der polnisch-jüdischen Literatur erst in Annäherungen problematisiert wird,26 so ist in den USA das Gegenteil der Fall: das Feld längst etabliert, die Forschung umfangreich. Für die hier relevante Literatur der jungen (dritten) Generation der jüdisch-amerikanischen Autoren ist die 2007 erschienene Dissertation von Christiane Gottstein-Strobl zu nennen. Sie macht vor allem deutlich, dass Autoren wie Phillip Roth zwar auch heute noch intensiv produzieren, jedoch ihre wegweisende Kraft verloren haben und junge Autoren nicht mehr das Erbe von Thematiken der Marginalität und des Opferdaseins antreten wollen.27

26 Vgl. Mieczysław Dąbrowsk/Alina Molisak (Hgg.): Pisarze Polsko-ĩydowscy XX wieku. PrzybliĪenia. Warszawa: Elipsa 2006. 27 Vgl. Christine Gottstein-Strobl: The „pursuit of Jewishness“: Jüdisch-amerikanische Literatur der Gegenwart. Frankfurt a. M./London: IKO 2007. Zur gegenwärtigen Situation der jüngeren jüdisch-amerikanischen Literatur auch Susanne Klingenstein: „Tot oder lebendig? Überlegungen zur gegenwärtigen jüdisch-amerikanischen Prosaliteratur“, in: Beate Neumeier (Hg.), Jüdische Literatur und Kultur in Großbritannien und den USA nach 1945. Wiesbaden: Harrassowitz 1998, S. 123-140, Stephen Wade: Jewish-American Literature since 1945. An Introduction. Edinburgh: Edinburgh Univ. Press 1999, Daniel Walden: „New currents in Jewish American literature“, in: Studies in American Jewish literature 27 (2009) und bereits für den Umbruch in den 1970er Jahren einschlägig Ruth Wisse: „American Jewish Writing, Act II“, in: Commentary 61 (1976), S. 40-45. Einen Überblick über die amerikanisch-jüdische Literatur bieten Lewis Fried/Gene Brown/Jules Chametzky/Louis Harap: Handbook of AmericanJewish Literature. An Analytical Guide to Topics, Themes and Sources. New York et al: Greenwood Press 1988 sowie der aktuellere Band von Michael P. Kramer/Hana Wirth-Nesher: The Cambridge Companion to Jewish American Literature. Cambridge: Cambridge Univ. Press 2003.

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Neben Untersuchungen zur Literatur des jeweiligen Landes, die alle Variationen der Bindestrich-Identitäten der Autoren in den Blick nehmen, gibt es ein umfassendes Forschungsfeld zur Gattung der Shoahliteratur.28 Die Spuren der Shoah in der Literatur sowie die Analyse des spezifischen literaturwissenschaftlichen Feldes der Erinnerungsliteratur sind auch die beiden Zweige der polnischen Literaturwissenschaft, in denen eine intensivere Auseinandersetzung mit der jüdischen Thematik nachweisbar stattfindet: Während sich die Liste der Untersuchungen zu jüdischen Darstellungen in drei Veröffentlichungen zum Thema erschöpft,29 lassen sich seit 1997 immerhin fünf große Publikationen zum Thema der polnischsprachigen Holocaustliteratur ausmachen. Themenschwerpunkte sind zum einen die Auseinandersetzung mit der Gattung der Erinnerungsliteratur, zum anderen die Problematisierung der Darstellbarkeit des Holocaust im Text.30

28 Vgl. Stephan Braese: Die andere Erinnerung. Jüdische Autoren in der westdeutschen Nachkriegsliteratur. Berlin/Wien: Philo 2001, Ernestine Schlant: Die Sprache des Schweigens. Die deutsche Literatur und der Holocaust. München: Beck 2001, Norbert Otto Eke: Shoah in der deutschsprachigen Literatur. Berlin: E. Schmidt 2006, James E. Young: Writing and Rewriting the Holocaust. Narrative and the Consequences of Interpretation. Bloomington/Indianapolis: Indiana Univ. Press 1990. In einer aktuellen komparatistischen Studie problematisiert Ruth Franklin die Fiktionalität der Holocausterfahrungen: A Thousand Darknesses: Lies and Truth in Holocaust Fiction. Oxford et al: Oxford Univ. Press 2011. 29 Vgl. Mieczysław Inglot: Postaü ĩyda w literaturze polskiej lat 1822-1864 [Die Figur des Juden in der polnischen Literatur 1882-1864 – übers. v. P.W.]. Wrocław: Wydawn. Uniwersytetu Wrocławskiego 1999, Eugenia Łoch (Hg.): Literackie portrety ĩydów [Literarische Portraits von Juden – übers. v. P.W.]. Lublin: Wydawn. Uniw. Marii Curie-Skłodowskiej 1996, BoĪena Uminska: Postaü z cieniem. Portrety ĩydówek w polskiej literaturze od koĔca XIX wieku do 1939 roku [Gestalt mit einem Schatten. Portraits von Jüdinnen in der polnischen Literatur vom Ende des 19. Jahrhunderts bis 1939 – übers. v. P.W.]. Warszawa: Sic! 2001. 30 Vgl. Alina Brodzka-Wald/Dorota KrawczyĔska/Jacek Leociak: Literatura Polska wobec Zagłady [Die polnische Literatur und der Holocaust – übers. v. P.W.]. Warszawa: ĩydowski Instytut Historyczny 2000, Bartłomiej Krupa: Wspomnienia obozowe jako specyficzna odmiana pisarstwa historycznego [Erinnerungen aus Konzentrationslagern als spezifische Variante des historischen Schreibens – übers. v. P.W.]. Kraków: Towarzystwo Autorów i Wydawców Prac Naukowych Universitas 2006, Jacek Leociak: Tekst wobec Zagłady. O relacjach z getta warszawskiego [Der Text im Angesicht des Holocaust. Über die Berichte aus dem Warschauer Ghetto – übers. v.

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Neben diesen beiden genannten Feldern gewinnen, wie oben bereits beschrieben, Untersuchungen zum literarischen Antisemitismus zunehmend an Geltung in der deutschen Forschungslandschaft des 21. Jahrhunderts. In diesem Bereich liegt das Augenmerk der Wissenschaftler auf einzelnen, meist renommierten Autoren, wie Bernhard Schlink, Günter Grass oder Martin Walser. Klaus Briegleb richtet seine recht ambivalent rezensierte Anklage gegen die gesamte Gruppe 47.31 Die Werke dieser kanonischen deutschen Autoren sind dankbare Gegenstände der Erforschung des literarischen Antisemitismus, der von Schuldabwehrtendenzen über die Verkehrung von Opfer- und Täterrollen bis hin zur Produktion stereotyper Protagonisten reicht. Bemerkenswert an diesem Forschungsspektrum ist, dass Arbeiten zu jüdischen Figuren oder allgemein zum Thema Judentum, die nicht dem Ansatz der Antisemitismusforschung folgen, sich mit Autoren beschäftigen, die einen klaren und für das Verständnis der Werke grundlegenden jüdischen Hintergrund haben, wie es – unter sehr vielen anderen – etwa Esther Dischereit, Barbara Honigmann, Robert Schindel oder Maxim Biller sind. Daraus ließe sich zugespitzt die Maxime herauslesen, dass nur jüdische Schriftsteller adäquat über jüdische Belange schreiben und jüdische Figuren abbilden könnten. Eine solche Schlussfolgerung bedeutet jedoch zum einen, das ‚jüdische Thema‘ zu dem Anliegen einer bestimmten Gruppe (‚der Juden‘) zu machen und es auf diese Weise zu marginalisieren. Zum anderen impliziert sie auch, dass die Thematik für Autoren ohne jüdischen Hintergrund nicht zugänglich sei und sie nicht in der Lage seien, damit in einer dem Gegenstand entsprechenden Weise umzugehen. Die Annahme, dass nur jüdische Autoren in einer angemessenen Art und Weise über jüdische Belange schreiben können und dürfen, muss zwar als eine Perspektive verstanden werden, die kritisch den Status quo der jüdischen Themen in der deutsch-deutschen Literatur beleuchtet, jedoch darf der Eindruck eines solchen Dualismus, wie er zurzeit entsteht, nicht unkommentiert belassen werden. Es sollen in dieser Arbeit folglich

P.W.]. Wrocław: Leopoldinum 1997; Izabella Sariusz-Skapska: StosownoĞü i forma. Jak opowiadaü o Zagładzie? [Angemessenheit und Form. Wie über den Holocaust erzählen? – übers. v. P.W.] Kraków: Universitas 2005; Aleksandra Umbertowska: ĝwiadectwo-Trauma-Głos. Literackie reprezentacje Holokaustu. [Zeugnis-TraumaStimme. Literarische Repräsentationen des Holocaust – übers. v. P.W.] Kraków: Universitas 2007. Eine vergleichende Studie aus Deutschland legt Barbara Breysach vor: Schauplatz und Gedächtnisraum Polen: die Vernichtung der Juden in der deutschen und polnischen Literatur. Göttingen: Wallstein 2005. 31 Vgl. Klaus Briegleb: Missachtung und Tabu. Wie antisemitisch war die Gruppe 47. Berlin/Wien: Philo 2003.

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Werke sowohl jüdischer als auch nicht-jüdischer Autoren untersucht werden, in denen eine Auseinandersetzung mit jüdischen Stereotypen stattfindet. Es gilt dabei zu zeigen, dass ein angemessener Umgang mit der Darstellung jüdischer Figuren jenseits schablonenhaften Zitierens von Eigenarten und Verhaltensweisen oder schematischen Konstruktionen von Figuren und ihrer Umwelt nicht von einer religiösen, nationalen oder ethnischen Verortung des Autors abhängig ist. Das Anliegen der vorliegenden Arbeit ist es nachzuweisen, wie sich die Auflösung der jüdischen Stereotype in der Literatur des 21. Jahrhunderts manifestiert, indem sich der Fokus der Betrachtung bewusst von der Frage „wer spricht?“ auf die „wie wird gesprochen?“ verlagert.32 Da nicht nahegelegt werden soll, dass die Demontage von Stereotypen in der Literatur des 21. Jahrhunderts sich etwa als Metadiskurs zum spezifischen Vergangenheitsbewältigungsdiskurs in Deutschland lesen lässt, soll Literatur aus insgesamt drei Sprachräumen und vier Ländern – Polen, USA, Deutschland und Schweiz – das Korpus der Untersuchung bilden. In diesen Ländern haben sich spezifische, historisch begründete Formen des Verhältnisses zum Judentum entwickelt, die ebenso spezifische Formen des Antisemitismus produzieren und je eigene Strategien des Umgangs mit ihm hervorbringen. Wenn hier diese Spezifika auf Schlagworte gebracht werden, so dient dies der Anschaulichkeit und geschieht in vollem Bewusstsein der Tatsache, dass ein solches Darstellungsverfahren selbst Gefahr läuft, Homogenität dort zu behaupten, wo in Wirklichkeit komplexe soziale, kulturelle und politische Phänomene und Mechanismen existieren. Ein solches Schlagwort, das für Polen geltend gemacht werden soll, ist die Opferrivalität: ein Spezifikum des polnischen Antisemitismus, das das Leidensmonopol sowie den Opferstatus meint33, die in der nationalen Martyrologie für Polen reserviert werden. Diese Beobachtung wird durch Zahlen aus der empirischen Sozialforschung bestätigt, die in der Antisemi-

32 Wobei mit der Arbeit keineswegs ein neuerlicher „Tod des Autors“ im Sinne Roland Barthes‫ ތ‬impliziert werden soll, da die Frage „wie wird gesprochen?“ nicht von der nach dem „Wer?“ gänzlich abgekoppelt werden kann. Es geht vielmehr um die Verlagerung der Perspektive auf die Strategien und ihre Rezeption. 33 Vgl. Piotr Piotrowski: „Auschwitz vs. Auschwitz.“, in: Frank Grüner/Urs Heftrich/ Heinz-Dietrich Löwe (Hgg.), Zerstörer des Schweigens. Formen künstlerischer Erinnerung an die Rassen- und Vernichtungspolitik in Osteuropa. Köln et al: Böhlau 2006, S. 515-530 und Tomasz Konicz: „Der Zweite Weltkrieg im Geschichtsbild der polnischen Rechten“, in: Claudia Globisch/Agnieszka Pufelska/Volker Weiß (Hgg.), Die Dynamik der europäischen Rechten. Geschichte, Kontinuum und Wandel. Wiesbaden: VS 2011, S. 75-88.

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tismusforschung gemeinsam mit der Geschichtsforschung bislang federführend ist.34 Eine Auseinandersetzung mit antisemitischen Gehalten der polnischen Literatur lässt sich kaum nachweisen. Mieczysław Dąbrowski, der zusammen mit Alina Molisak auch einen Sammelband zu polnisch-jüdischer Literatur veröffentlicht hat,35 beschäftigt sich in seinem Buch Der Eigene/der Andere/der Fremde mit der literarischen Interferenz im Spannungsdreieck Deutsche-JudenPolen, was sehr deutlich in Romanen über die Stadt Danzig von Günter Grass, Stefan Chwin oder Paweł Huelle inszeniert wird. Die Frage nach strikt antisemitischen Gehalten wird jedoch – abgesehen von der Feststellung ihrer Existenz – der Anlage der Arbeit entsprechend nicht weiter verfolgt.36 Dass jedoch eine Konfrontation mit der Vergangenheit bereits begonnen hat, zeigt die heftig geführte öffentliche Debatte, die sich um die Bücher von Jan Tomasz Gross Nachbarn und Angst37 seit 2000 entfaltet.38 Während Polen in der Zusammenstellung

34 Zum polnischen Antisemitismus und dem Verhältnis Polen-Juden vgl.: Ireneusz Krzeminski: Czy Polacy są antysemitami? [Sind Polen Antisemiten? - übers. v. P.W.] Warszawa: Oficyna Naukowa 1996, Andrzej Zbikowski: ĩydzi, Antysemityzm, Holokaust [Juden, Antisemitismus, Holokaust – übers. v. P.W.]. Warszawa: Wyd. DolnoĞląskie 2001, Henryk Szlajfer: Polacy-ĩydzi. Zderzenie stereotypòw. Esej dla przyjaciòł i innych [Polen – Juden. Ein Zusammenprall der Stereotype. Essay für Freunde und Andere – übers. v. P.W.]. Warszawa: Scholar 2003, Robert Blobaum (Hg.): Antisemitism and its Opponents in Modern Poland. Ithaka/New York: Cornell Univ. Press 2005, Barbara Engelking, Helga Hirsch (Hgg.): Unbequeme Wahrheiten. Polen und sein Verhältnis zu den Juden. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2008. 35 Vgl. M. Dąbrowski/A. Molisak: Pisarze Polsko-ĩydowscy XX wieku. 36 Vgl. M. Dąbrowski: Swój/Obcy/Inny. Z problemów interferencji i komunikacji miĊdzykulturowej [Der Eigene/Der Fremde/Der Andere. Aus den Problemen der interkulturellen Interferenz und Kommunikation - übers. v. P.W.]. Izabelin: ĝwiat literacki 2001. 37 Jan Tomasz Gross: Nachbarn. Der Mord an den Juden von Jedwabne, übers. v. Friedrich Griese. München: Beck 2001, ders: Fear. Anti-Semitism in Poland After Auschwitz. An Essay in Historical Interpretation. New York, NY: Random House 2006. 38 Vgl. Jerzy Robert Nowak: 100 kłamstw J. T. Grossa o Īydowskich sąsiadach i Jedwabnem [100 Lügen von J.T. Gross über jüdische Nachbarn und Jedwabne – übers. v. P.W.]. Warszawa: Borowiecky 2001. Eine historische Rekonstruktion des Geschehens sowie der Debatte als eine Analyse des polnischen Antisemitismus liefert Karol Sauerland: Polen und Juden zwischen 1939 und 1968: Jedwabne und die Folgen. Berlin: Philo 2004.

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der untersuchten Länder also mit dem Prädikat ‚Opfer‘ bedacht werden kann, hat Deutschland den entgegengesetzten Status des ‚Täters‘. Mehr oder weniger gelungene Versuche der Vergangenheitsbewältigung kennzeichnen Deutschlands Verhältnis zum Judentum, was in einer sekundären Form des Antisemitismus, dem sogenannten Schuld(vorwurfs)abwehrantisemitismus39 einen negativen Ausdruck finden. In der Literatur findet demzufolge auch die oben erwähnte Auseinandersetzung auf einer Metaebene statt: Nicht nur der Zweite Weltkrieg, der Holocaust und die Schuld werden verhandelt, vor allem die dazugehörigen Diskurse werden auf ihre Konsequenzen für das Kollektiv wie das Individuum hin ausgeleuchtet. Die Debatten in den USA, denen an dieser Stelle ein wenig plakativ die Rolle des ‚Retters‘ in dieser Konstellation zugewiesen werden kann, kennzeichnet, ähnlich wie die Diskussionslage in Polen, dass der eigene Antisemitismus weitestgehend nicht aufgearbeitet wurde. Dies spiegelt der wissenschaftliche Umgang: In den neueren Studien wird vielmehr ein Nachdruck auf einen neuen islamistisch motivierten Antisemitismus und einen Antisemitismus im Kontext von Verschwörungstheorien gelegt.40 Die letzte Arbeit, die sich mit literarischem Antisemitismus befasst, ist die in zweiter Auflage 1978 erschienene Untersuchung von Louis Harap The Image of the Jew in American Literature.41Das letzte der untersuchten Länder, die Schweiz, trägt das Label des ‚Neutralen‘, und auch hier ist eine späte Auseinandersetzung mit dem eigenen Antisemitismus zu verzeichnen. Diese ist jedoch unvergleichlich lebhafter als in den USA, was Publikationen der letzten 20 Jahre belegen.42

39 Vgl. Wolfgang Benz: „Die Abwehr der Vergangenheit. Ein Problem nur für Historiker und Moralisten?“, in: Dan Diner (Hg), Ist der Nationalsozialismus Geschichte? Zu Historisierung und Historikerstreit. Frankfurt a. M.: Fischer 1987, S. 17-33. 40 Vgl. etwa Phyllis Chesler: The New Anti-Semitism. The Current Crisis and What We Must Do About It. San Francisco, Calif.: Jossey-Bass 2003. Der einzige mir bekannte umfangreiche, doch eher populärwissenschaftliche Sammelband zum US-amerikanischen Antisemitismus ist Jerome A. Chanes: Antisemitism in America Today: Outspoken Experts Explode the Myths. New York, NY: Carol Publ. Group 1995. 41 Louis Harap: The Image of the Jew in American Literature. From Early Republic to Mass Immigration. Philadelphia: The Jewish Publication Society of America ²1978. 42 Vgl. Patrick Kury: Über Fremde reden. Überfremdungsdiskurs und Ausgrenzung in der Schweiz 1900-1945. Zürich: Chronos 2003; in den folgenden Veröffentlichungen wird das Thema ebenfalls behandelt: Guy P. Marchal/Aram Mattioli (Hgg.): Erfundene Schweiz. Konstruktionen nationaler Identität. Zürich: Chronos 1992; Helena Kanyar/Patrick Kury (Hgg.): Die Schweiz und die Fremden 1798-1848-1998. Begleitheft

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Es lässt sich zusammenfassend konstatieren, dass sowohl Selbst- als auch Fremdverständnis, die sich in den beschriebenen Rollen verdichten, grundlegend für nationalspezifische Modi des Antisemitismus sind, denen eine lange Tradition und Verankerung des Judentums in der jeweiligen Kultur gegenüberstehen. Beide Traditionslinien (Tradition der jüdischen Kultur vs. Tradition der Judenfeindschaft) schlagen sich in ihrer landesspezifischen Ausprägung im Umgang mit dem Judentum in der Literatur nieder. Bei der Analyse der einzelnen Romane soll zwar der jeweilige nationale Entstehungskontext angemessen berücksichtigt werden, doch reicht die Gültigkeit der erarbeiteten Strategien über Grenzen der jeweiligen Nationalliteraturen hinaus. Im Ergebnis der Arbeit entsteht ein Katalog transnational gültiger Modi der Demontage von Stereotypen, deren Geltung in einem abschließenden Schritt auch historisch überprüft werden soll. Der Verdacht, die erarbeiteten Methoden seien ein Ausdruck der Postmoderne, soll durch einen gezielten Vergleich mit der Literatur des 18. Jahrhunderts abgewendet werden. Ein ansatzweise veränderter, sozialkritischer Umgang mit der Thematik kann zwar auch schon für einige Werke der Barockliteratur, wie diejenigen von Grimmelshausen,43 festgestellt werden, doch können diese nicht vor dem Hintergrund der Programmatik betrachtet werden, die Emanzipation der Juden voranzutreiben. So sind die Werke von Aufklärern – und hier allen voran Lessings – funktional auf die Aufgabe ausgerichtet, das althergebrachte Judenimage zu untergraben, und haben somit auch ein didaktisches Anliegen. Aus dieser Tatsache leitet sich der weitgehend geltende wissenschaftliche Konsens ab, die Lessing’schen Figuren und ihre Nachfolger, trotz ihres Facettenreichtums, auf die Eigenschaft ‚edel‘ zu reduzieren und sie dem Axiom ihrer pädagogischen Funktion zu unterstellen. Einzig Beate Orland unternimmt explizit einen kurzen Versuch, das Etikett ‚Stereotyp‘

zur Ausstellung in der Universitätsbibliothek Basel. Basel: Öffentliche Univ.Bibliothek 1998, Dominik Schnetzer: Bergbild und geistige Landesverteidigung. Die visuelle Inszenierung der Alpen im massenmedialen Ensemble der modernen Schweiz. Zürich: Chronos 2009, Philipp Sarasin/Andreas Ernst/Christof Kübler/Paul Lang (Hgg.): Die Erfindung der Schweiz 1848-1998. Bildentwürfe einer Nation. Katalog zur Sonderausstellung im Schweizerischen Landesmuseum Zürich. Zürich: Chronos 1998. 43 Vgl. Dieter Breuer: „Antisemitismus und Toleranz in der frühen Neuzeit. Grimmelshausens Darstellungen der Vorurteile gegenüber den Juden“, in: Hans Otto Horch (Hg.), Judentum, Antisemitismus und europäische Kultur. Tübingen: Francke 1988, S. 77-96, hier S. 88 und 92.

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im Hinblick auf die jüdischen Figuren in der Literatur des 18. Jahrhunderts zu hinterfragen.44 Zudem lassen sich beide Zeitabschnitte durch eine sie bestimmende Bewegung charakterisieren. Im 18. Jahrhundert vollzogen sich die Auflösung der altbekannten Strukturen eines rigiden Absolutismus und die Entwicklung einer bürgerlichen Gesellschaft, deren Werte und Normen sich zunehmend weniger an Geburt und Stand orientierten. Der Adel verarmte in vielen Fällen, und neue Schichten der Bevölkerung kamen an die Macht. Eine besondere Rolle fiel dabei den Juden zu. Viele der Bankiers kamen zu materiellem Reichtum, und Juden wurden insgesamt gesellschaftlich sichtbarer. Doch abgesehen von den wenigen, die Geld und dadurch einen eingeschränkten Einfluss besaßen, lebten die meisten in ärmlichen Verhältnissen jenseits der Gesellschaft. Der Ausschluss einer ganzen Bevölkerungsschicht aus dem Bürgerbegriff widersprach dem aufklärerischen Gedanken, weshalb sich Befürworter einer Emanzipation der Juden fanden, deren Argumente selbstverständlich nicht immer im altruistischen Denken wurzelten. Oft spielten utilitaristische und merkantilistische Faktoren eine entscheidende Rolle. Einen genaueren Hergang möchte ich im anschließenden Kapitel schildern. An dieser Stelle sei nur noch angemerkt, dass die Entstehung der ‚Judenfrage‘ im 18. Jahrhundert zusammen mit dem Aufstieg einiger Juden und ihrer zunehmenden Sichtbarkeit in der Gesellschaft Faktoren waren, die einen Umbruch im Verhältnis der Juden und Christen markierten. Eine formal ähnliche Grundsituation herrscht im 21. Jahrhundert vor, welches sich tiefgreifenden, durch die Globalisierung verursachten Veränderungen gegenübergestellt sieht, in denen abstrakte, anonyme Akteure auf einem ebenso abstrakt gewordenen Wirtschafts- und Finanzmarkt agieren. So werden auch heute Ängste, die durch die sich verändernde Weltordnung ausgelöst werden, in welcher die kulturelle, moralische und wirtschaftliche Vorreiterstellung der westlichen Kultur zunehmend in die Krise gerät, in dem Feindbild des Juden materialisiert, was zahlreiche wissenschaftliche Studien ebenso wie öffentliche Ausschreitungen belegen.45 Beide Epochen verbinden auch neuartige Möglich-

44 Vgl. Beate Orland: „Nicht nur Stereotypen... Von der Vielfalt jüdischer Romanfiguren im populären Roman der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts (Voß, Clauren, Seybold, Harring)“, in: H. O. Horch, Conditio Judaica (1988), S. 187-199. 45 Zum Antisemitismus der Globalisierungsgegner vgl: Thomas Haury: „‚...ziehen die Fäden im Hintergrund‘. No-Globals, Antisemitismus und Antiamerikanismus“, in: H. Loewy (Hg.), Gerüchte über Juden (2005), S. 69-100, Astrid Messerschmidt: „Antiglobal oder postkolonial? Globalisierungskritik, antisemitische Welterklärungen und der Versuch, sich in Widersprüchen zu bewegen“, in: H. Loewy (Hg.), Gerüchte über

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keiten der öffentlichen Kommunikation. Die Flut intellektueller und moralischer Zeitschriften im 18. Jahrhundert ist ein Novum, das veränderte Formen der öffentlichen Stellungnahme zu aktuellen Themen ermöglicht. Im 21. Jahrhundert ist das Internet etablierter Bestandteil der Informationsverbreitung, und es sind vor allem Blogs, Foren und soziale Netzwerke, in denen ein öffentlicher Austausch in einer neuen Dimension möglich wird. Dieser zeichnet sich durch eine ungewohnte Offenheit aus, da die Teilnehmer dieser Debatten in der Regel keine Intellektuellen sind46 und es auch zu unverhohlen geäußerten antisemitischen Positionen kommt.47 Auf der anderen Seite wird heute das Judentum nach einer Periode der fast vollkommenen Abwesenheit nach dem Zweiten Weltkrieg europaweit wieder zunehmend sichtbarer. In Polen beispielsweise ist die Zahl der Juden im Verhältnis zu Deutschland immer noch sehr gering, doch hat sie sich seit der letzten großen Auswanderungs- und Vertreibungsphase in Folge der antisemitischen Propaganda von 1968 deutlich erholt. Eine ähnliche Tendenz lässt sich in Deutschland bemerken, wobei die steigenden Zahlen auch auf die Zuwanderungswelle russisch-jüdischer Migranten seit Ende der achtziger Jahre zurückzuführen sind. Man könnte folglich von einem neuen jüdischen Selbstbewusstsein

Juden, S. 123-145, Götz Nordbruch: „Modernisierung, Anti-Modernismus, Globalisierung – Judenbilder, Verschwörungstheorien und gesellschaftlicher Wandel in der arabischen Welt“, in: Ch. v. Braun/E.-M. Ziege, Das bewegliche Vorurteil, S. 201-220. 46 In diesem Zusammenhang sprechen einige sogar von einem „Intellektuellenhass“ im Internet. Vgl. Adam Soboczynski: „Das Netz als Feind“, in: Die Zeit, 10.5.2009, S. 45. 47 Zum Antisemitismus im Internet vgl.: Tali Tadmor-Shimony: Antisemitism on the Information Superhighway: A Case Study of a UseNet Discussion Group. Analysis of Current Trends in Antisemitism. Bd.6. Jerusalem: Vidal Sassoon Internat. Center for the Study of Antisemitism 1995, Juliane Wetzel: „Die ‚Protokolle der Weisen von Zion‘ im World Wide Web. Die Vernetzung radikaler politischer Gruppen über antisemitische Verschwörungstheorien,“ in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 14 (2005), S. 179-194, Ralf Wiederer: Die virtuelle Vernetzung des internationalen Rechtsextremismus. Herbholzheim: Centaurus 2007, Paula Wojcik: „Von den Protokollen der Weisen von Zion ins World Wide Web“, erscheint in: Michael Nagel/Moshe Zimmermann (Hgg.): Judenfeindschaft und Antisemitismus in der deutschen Presse über fünf Jahrhunderte. Voraussichtlich 2013.

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in Europa, von Europa als einem „neue[n] ‚jüdische[n] Ort‘“48, vor allem aber von einer neuen jüdischen Präsenz in Kunst, Presse und Politik sprechen. Dennoch wird in den Literaturwissenschaften der jüdische Diskurs vorwiegend im Kontext des Fremden oder Anderen geführt.49 Theoretische Anleihen bezieht die Literaturwissenschaft dabei vor allem aus der Soziologie.50 Neben dem Sammelband von Peter Alter, Ekkehard Bärsch und Peter Berghoff51 beschäftigen sich seit Jahren insbesondere Zygmunt Bauman und auf dessen Arbeiten aufbauend rezenter Klaus Holz mit dem Problem der Unbestimmbarkeit des Juden als dem eindeutig Fremden oder eindeutig Eigenen.52 In die Literatur findet der Alteritätsdiskurs vor allem in Fragen nach dem Bild des anderen Landes oder dem Anderen der Literatur Eingang, worunter für gewöhnlich sogenannte Migrationsliteratur verstanden wird.53 Für die Untersu-

48 Vgl. Diana Pinto: „Europa – ein neuer ‚jüdischer Ort‘?“, in: Menora 10 (1999), S. 1534. 49 Vgl. hierzu auch H. Mayer: Außenseiter. 50 Vgl. Lutz Hoffmann: „Die Konstitution des Volkes durch seine Feinde“, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 2 (1993), S. 13-37 oder Werner Bohrleber: „Die Konstruktion imaginärer Gemeinschaften und das Bild von den Juden – unbewußte Determinanten des Antisemitismus in Deutschland“, in: Psyche 51, 6 (1997), S. 570-605. Konkrete politische und Gesellschaftsanalysen des Antisemitismus, die (auch) auf empirischen Daten beruhen, finden sich bei Werner Bergmann: Antisemitismus in öffentlichen Konflikten. Frankfurt a. M.: Campus 1997 oder gemeinsam mit Rainer Erb: Antisemitismus in der politischen Kultur nach 1945. Opladen: Westdeutscher Verlag 1990, sowie Lars Rensmann: Demokratie und Judenbild. Antisemitismus in der politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland. Wiesbaden: VS 2004. 51 Vgl. Peter Alter/Claus-Ekkehard Bärsch/Peter Berghoff (Hgg.): Die Konstruktion der Nation gegen die Juden. München: Fink 1999. 52 Vgl. Zygmunt Bauman: Moderne und Ambivalenz: das Ende der Eindeutigkeit. Aus dem Englischen übersetzt von Martin Suhr. Hamburg: Hamburger Ed. 2005, ders.: Modernity and Holocaust. Ithaca, NY: Cornell Univ. Press 1989, Klaus Holz: „Die Figur des Dritten in der nationalen Ordnung der Welt“, in: Soziale Systeme 1 (2000), S. 269-290, ders: Nationaler Antisemitismus. Wissenssoziologie einer Weltanschauung. Hamburg: Hamburger Ed. 2001, ders.: Die Gegenwart des Antisemitismus. Islamistische, demokratische und antizionistische Judenfeindschaft. Hamburg: Hamburger Ed. 2005. 53 Vgl. hierzu beispielsweise Werner Nell: Reflexionen und Konstruktionen des Fremden in der europäischen Literatur: literarische und sozialwissenschaftliche Studien zu einer interkulturellen Hermeneutik. Sankt Augustin: Gardez! 2001 oder Ruth Florack:

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chung jüdischer Figuren sind die Instrumentarien der Imagologie und auch der interkulturellen Germanistik oft nicht hinlänglich geeignet, da sich hier eine der Kernfragen der Alteritätsdebatte – ob das Andere, das Fremde ein Alter im Sinne einer Bezugnahme, also integrierend zu verstehen ist oder im Gegenteil, ob es sich um ein exklusives Fremdsein handelt, das eine Unvereinbarkeit unterstellt54 – als unzureichend erweist. Vielmehr sind es die von Sartre, Bauman, Kristeva oder Holz55 konstatierten Kategorisierungsschwierigkeiten und die subtilen Exklusions- und Inklusionsmechanismen, die eine Herausforderung darstellen. Da der Fokus der vorliegenden Untersuchung auf literarischen Texten liegt, die mit Stereotypen dekonstruierend, spielerisch und manipulativ umgehen, könnte leicht der Eindruck einer idealisierenden Tendenz zur gegenwärtigen Lage entstehen. Da es keineswegs in der Absicht der Arbeit liegt, einen solchen Anschein zu erwecken, werden in einem gesonderten Kapitel Beispiele vorgestellt, die sich in diesem Zusammenhang als ‚antiaufklärerisch‘ bezeichnen lassen. Die Begriffe ‚antiaufklärerisch‘ ebenso wie sein Opponent ‚aufklärerisch‘ werden hier bewusst in Anlehnung an den Epochenbegriff gewählt. Die Darstellung jüdischer Figuren in der Literatur des 18. Jahrhunderts war mehr als nur reflektierend und differenziert. Lessings Stücke berühren humanistische, idealistische und politische Debatten, und diese Konnotation haftet dem Begriffspaar ‚aufklärerisch‘ – ‚antiaufklärerisch‘ bis heute an. In Folge des zweiten Weltkrieges ist die Darstellung jüdischer Figuren in der Literatur erneut zum Politikum geworden, weshalb diese Begriffe auch im heutigen Kontext angebracht erscheinen. Innerhalb der Arbeit soll also eine Abgrenzung zu Literaturbeispielen vorgenommen werden, die Stereotype in unreflektierter Weise (re)produzieren und die auf diesem Wege dazu verhelfen, tradierte Vorurteile bis in die heutige Zeit aufrechtzuerhalten. Das Aufeinander-Beziehen dieser beiden Typen soll zu der Erweiterung des Geltungsbereichs der Arbeit einen Beitrag leisten, indem es eine

Bekannte Fremde. Zur Herkunft und Funktion nationaler Stereotype in der Literatur. Tübingen: Niemeyer 2007. 54 Vgl. Brigitte Schlieben-Lange: „Alterität als sprachtheoretisches Konzept“, in: dies. (Hg.): Themenheft „Alterität“. Zeitschrift für Literatur und Linguistik 28 (1998), S. 41-57, hier S. 46. 55 So wird der Jude von Holz als der „Dritte“, von Sartre als „visqueux“, von Kristeva als „abjekt“, von Bauman als „conceptual Jew“ bezeichnet. Vgl. K. Holz: Die Figur des Dritten, Julia Kristeva: Powers of Horror: an Essay on Abjection. New York: Columbia Univ. Press 1982, Z. Bauman: Modernity and Holocaust, S. 39, Jean-Paul Sartre: Réflexions sur la question juive. Paris: Gallimard 1976, S. 12.

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Schärfung der herausgearbeiteten Strategien garantiert und einen Rückschluss auf das Vorgehen derjenigen erlaubt, die sich unhinterfragt schablonenhafter Konstruktionen und Gemeinplätze bedienen. Abschließend wird die Arbeit in einer Auseinandersetzung an das weite Diskursfeld der Alterität versuchen, das Bild des Juden in der neuen ‚aufklärerischen‘ Literatur des 21. Jahrhunderts neu zu bestimmen. Bevor jedoch der Einstieg in die konkrete Analyse möglich wird, ist es notwendig, zwei Präliminarien voranzustellen. Im nächsten Schritt soll ein literaturgeschichtlicher Abriss der Manifestationen jüdischer Figuren im Spiegel des jeweiligen sozialen und geschichtlichen Kontextes erfolgen. Das daran anknüpfende anschließende Methodenkapitel wird sich mit der Methodenvielfalt der Felder der Imagologie, der interkulturellen Germanistik und der Komparatistik auseinandersetzen, um anschließend eine Alternative aus dem Bereich der kognitiven Linguistik vorzustellen.

1.2

Z UR AUFLÖSUNG

DES S TEREOTYPS : EIN LITERATURGESCHICHTLICHER E XKURS Dazwischen könnte wohl noch ein drittes liegen, was nicht Jude ist.“ „Der Teufel ist‫ތ‬s, der dazwischen liegt und ihrer Herr wird. – Wer die Erkenntnis des Teufels hat, der muß sich mit ihm herumschlagen. – Die gesamte Christenheit drängt die Juden in die Hölle. BETTINA VON ARNIM/DIE KLOSTERBEERE

Einen umfassenden diskursgeschichtlichen Überblick über die Entwicklung der christlich motivierten Judenfeindschaft bis zur Entstehung des modernen Antisemitismus zu präsentieren, wird an dieser Stelle und in der gebotenen Kürze nicht möglich sein. Der Anlage der Arbeit und der Fragestellung entsprechend, sollen Spuren einiger antijüdischer Vorstellungen und Vorurteile bis zur Aufklärung verfolgt werden. So werden in einem groben Abriss einige jüdische Figuren in der deutschen Literatur des Mittelalters und des Barock vorgestellt und dabei exemplarisch skizziert, wie ihre Existenz als Stereotyp in verschiedenen Gewändern und unter unterschiedlichen Vorzeichen bis heute fortgeschrieben wird. Dieses Panorama der Bilder in der voraufklärerischen Literatur wird anschließend um eine Schilderung der Sachlage in der Literatur der Aufklärung ergänzt. In diesem zweiten Teil erfolgt eine chronologische Darstellung von der begin-

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nenden Durchlässigkeit der verfestigten ‚Bilder vom Juden‘ um die Mitte des 18. Jahrhunderts, die im engen Zusammenhang mit der öffentlich geführten Debatte um die Emanzipation der Juden steht. Diese Debatte entwickelte sich in der Hochphase der 1780er Jahre zu einem Emanzipationsdiskurs, um dann im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts eine Stagnation und darauf folgende Regression zu erfahren. Die kurze Illustration dieser letzten Phase leistet einen Einblick in die diskursimmanenten Zusammenhänge zwischen der erstarkenden Präsenz der verfestigten Stereotype in der Literatur und der soziopolitischen Entwicklung und lässt damit einige Rückschlüsse auf die Entwicklung der antisemitischen Propaganda des Nationalsozialismus zu. Diese durch rassistische Argumente geprägten Stereotype sind bis heute im Umlauf geblieben und werden aufgrund ihrer Verbreitung und nachhaltigen Präsenz im Analyseteil der Arbeit relevant werden. Diese eklektische Darstellungsweise innerhalb des Kapitels mag den Vorwurf der mangelnden Differenzierung und Ausführlichkeit aufkommen lassen, dennoch ist ein solch schemenhafter Abriss für die Argumentation unumgänglich: Will gezeigt werden, wie die Auflösung der Stereotype in der Aufklärung beginnt und welche Gestalt sie im 21. Jahrhundert annimmt, ist es notwendig zu beleuchten, wie sich Vorurteile, vorurteilsbeladene Bilder sowie Strategien der Markierung und Stigmatisierung zu Stereotypen verfestigen. 1.2.1

Einige literarische Traditionslinien jüdischer Stereotype



Niemals jedoch machte er bei unseren Spielen mit, er stand immer abseits und hatte ganz entschieden keine Lust, einer von uns zu sein. […] Er war eher von kleinem Wuchs, sehr schmal und ging leicht gebeugt, und er hatte eine kränklich weiße Haut – den einzigen Kontrast dazu bildeten seine unnatürlich großen, weit geöffneten, sehr dunklen Augen. PAWEŁ HUELLE/WEISER DAWIDEK 

Der älteste religiös geprägte judenfeindliche Vorwurf ist der des Gottesmordes. An diesen reihen sich weitere, ebenso bekannte Anklagen, wie die des Wuchers, der Brunnenvergiftung, der Hostienschändung und des Ritualmordes. Aus diesen Beschuldigungen lassen sich die Eigenschaften der Verstocktheit und der Bosheit extrahieren, die sich im Laufe der Zeit in verschiedene jüdische Stereotype einschreiben, wie hier im Folgenden dargelegt werden soll.

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Die Idee jüdischer Bosheit manifestiert sich in extremis als Dämonisierung im Bild des Satan oder des Antichristen, wodurch Juden zu einer Bedrohung für die Christenheit stilisiert werden. In vielfältiger Weise wird die Vorstellung der Gefahr oder eines jüdischen Paktes mit dem Teufel in der Literatur des Mittelalters bearbeitet. Auf begrifflicher Ebene drückt sich die Dämonisierung in Beschimpfungen wie „Teufelskinder“ aus sowie in einer Schlangen- und Parasitenmetaphorik.56 Innerhalb der Figurenzeichnung findet Dämonisierung auf der körperlichen Ebene statt. So ist beispielsweise der Klumpfuß ein seit dem Mittelalter verbreitetes Attribut,57 das weit bis ins 19. Jahrhundert bei der Darstellung von Juden Verwendung findet. In antisemitischen Karikaturen von Propagandainstrumenten, wie der Zeitschrift Kikeriki, bleibt der jüdische Fuß nach der jüdischen Nase der am häufigsten dargestellte deformierte jüdische Körperteil.58 Zunächst als Mittel der Dämonisierung verwendet, wird der Klumpfuß gemeinsam mit weiteren Markern, wie der Hautfarbe oder der Körperhaltung, im 19. und 20. Jahrhundert zu einem Anzeiger des vermeintlich kranken, oft syphilitischen jüdischen Körpers. Wie Sander L. Gilman feststellt, war „die Assoziation der miteinander verknüpften Bilder vom lahmenden Juden und vom hinkenden Teufel mit dem Gang des Syphilitikers […] in der Kultur des ausgehenden 19. Jahrhunderts schon fest etabliert.“59 Eine Verbindung mit dem Teufel wurde auch anhand bestimmter Charaktereigenschaften hergestellt, zu denen vor allem Bosheit und Unehrlichkeit gezählt werden können. Als Beispiel eines Textes, in dem die Dämonisierung sich sowohl in der Tiermetaphorik als auch in der Darstellung von immenser und unangemessener Grausamkeit ausdrückt, soll hier die Legende vom Jüdel vorgestellt

56 Die Bezeichnung „Schlangengezüchte und Teufelskinder“ lässt sich beispielsweise bei Luther nachlesen. Nicoline Hortzitz listet Lexeme wie „Spinne“ und „Wurm“ auf. Zudem lässt sich eine ganze Reihe von Zuschreibungen finden, die um das Blutsaugen kreisen: „Blutegel“, „Blutsauger“, „Blutschlecker“ oder auch „jdm. etw. aussaugen“. Vgl. N. Hortzitz: Die Sprache der Judenfeindschaft in der frühen Neuzeit (14501700): Untersuchungen zu Wortschatz, Text und Argumentation. Heidelberg: Winter 2005, S. 202. 57 Vgl. S. L. Gilman: „The Jewish Foot. A Footnote to the Jewish Body“, in: ders., The Jew’s Body (1991), S. 38-59. 58 Vgl. hierzu: Regina Schleicher: Antisemitismus in der Karikatur: zur Bildpublizistik in der französischen Dritten Republik und im deutschen Kaiserreich (1871–1914). Frankfurt a. M. et al: Lang 2009, S. 57. 59 S. L. Gilman: „Salome, Syphillis, Sarah Bernhardt und die ‚Moderne Jüdin‘“, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 49, 2 (1997), S. 160-183, hier S. 167.

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werden. Die älteste vollständig überlieferte mittelhochdeutsche Fassung der in mindestens sieben Sprachen übersetzten Legende aus dem südbairisch-österreichischen Raum stammt aus dem 13. Jahrhundert, obwohl erste griechische und lateinische Zeugnisse bereits aus dem 6. Jahrhundert vorliegen.60 Die Autorenschaft ist unklar: Zwar meinte Robert Sprenger nachweisen zu können, dass die Urheberschaft des Jüdel Konrad von Heimesfurt zufalle,61 doch konnte dies von der heutigen Forschung nicht bestätigt werden.62 In der Fassung aus dem 13. Jahrhundert wird ein jüdisches Kind von seinem ehrgeizigen Vater auf eine christliche Schule geschickt. Der Entschluss der Vaters beruht auf dem Wunsch, das Kind zu einem Gelehrten auszubilden, der sich in Religionsdisputen gegen die Argumente der Christen umso besser verteidigen kann, als er diese studiert hat. Im Kontakt mit der christlichen Religion, wendet sich das Kind ihr jedoch nach und nach zu. Als Strafe für seine Abkehr vom Judentum kennt die Familie nur den Tod in den Flammen, vor dem das Kind auf wunderbare Weise von der Gottesmutter gerettet wird. Daraufhin lassen sich der Knabe, seine Mutter und mit ihnen viele Juden der Stadt taufen. Die Verstocktheit des Vaters, der das wunderbare Erlebnis nicht anerkennen will, wird von seiner Grausamkeit übertroffen, wenn er das eigene Kind dem Feuertod auszusetzen beschließt. Die Erbarmungslosigkeit wird hier mit dem abwertenden Attribut der Feigheit versetzt und so die negative Konnotation der Schilderung gesteigert: „dô vluhen die juden alle hin / daz sî niht sæhen die nôt, / wie ez den bitteren tôt, / erlite, der im bereitet was.“63 Obwohl die Juden des Dorfes zuvor noch einstimmig bekunden „ez ist niht bete, ez ist gebot“64 und damit das Todesurteil über das Kind bekräftigen, können sie anschließend der eigenen Kaltherzigkeit nicht standhalten und fliehen vor der Vollstreckung, was die Grausamkeit des Gebots zusätzlich unterstreicht. So ist das Christentum hier die Religion der

60 Vgl. Cordula Henning von Lange: „daz ez zu rucke trete von der ubeltete und Marien vervluchte. ‚Das Jüdel‘ – Judenfiguren in christlichen Legenden“, in: Ursula Schulze (Hg.), Juden in der deutschen Literatur des Mittelalters. Religiöse Konzepte – Feindbilder – Rechtfertigungen. Tübingen: Niemeyer 2002, 135-162, hier S. 137. 61 Robert Sprenger: „Die Legende vom Judenknaben“, in: Germania: Vierteljahrszeitschrift für Deutsche Alterthumskunde 27 (1882), S. 129-144, hier S. 137ff. 62 Vgl. Werner J. Hoffmann: Konrad von Heimesfurt. Untersuchungen zu Quellen, Überlieferungen und Wirkung seiner beiden Werke ‚Unser vrouwen hinvart‘ und ‚Urstende‘. Wiesbaden: Dr. Ludwig Reichert Verlag 2000, S. 7. 63 Das Jüdel. Abgedruckt in R. Sprenger: Die Legende vom Judenknaben, S. 130-135, hier S. 133. 64 Ebd.

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Gnade und des Lebens, während das Judentum als die Religion der Rache und der Barbarei dargestellt wird. Die jüdische Grausamkeit kommt besonders in der Anklage wegen Gottesmordes zum Ausdruck, der sich sowohl im Vorwurf des Hostienfrevels als auch in Ritualmordlegenden niederschlägt. Die seit dem 13. Jahrhundert bekannte und als Gerücht in die Welt gesetzte Bezichtigung der Hostienschändung, die zum katalytischen Moment zahlreicher Pogrome an jüdischen Gemeinschaften wurde, spiegelt in ihrer Anlage die Kreuzigung Christi wider.65 In der Marter der gestohlenen Hostie wiederholt sich der Transsubstantiationslehre gemäß die Marter des Leibes Jesu und folglich die Passion Christi.66 Sich in verschiedenen Texttypen manifestierend,67 besagt die Legende im Allgemeinen, Juden würden christliche Kinder töten, um aus ihrem Blut Mazzen herzustellen. Neben dem Vorwurf der Brunnenvergiftung und des bereits erwähnten Hostienfrevels war auch diese Beschuldigung ein beliebtes Mittel, einen Hass gegen Juden zu schüren, aus dem Kapital geschlagen werden konnte. Die Vorwürfe führten nicht selten zu Pogromen, nach denen das Vermögen der gestorbenen Juden konfisziert werden konnte. Dies thematisiert auch Heine im Rabbi von Bacherach: „Die Juden, hinlänglich verhaßt wegen ihres Glaubens, ihres Reichtums und ihrer Schuldbücher, waren an jenem Festtage ganz in den Händen ihrer Feinde, die ihr Verderben nur gar zu leicht bewirken konnten, wenn sie das Gerücht eines solchen Kindermords verbreiteten, vielleicht gar einen blutigen Kinderleichnam in das verfemte Haus eines Juden heimlich hineinschwärzten, und dort nächtlich die betende Judenfamilie überfielen; wo

65 Vgl. Björn Berghausen: „von Tegkendorff das geschicht waz den schlackhafftigen Juden ist worden zu lon. Das Lied von Deggendorf – Fiktion eines Hostienfrevels“, in: U. Schulze, Juden in der deutschen Literatur des Mittelalters (2002), S. 233-254. 66 Vgl. hierzu u. a. Karl-Erich Grözinger: „Die Gottesmörder“, in: Julius H. Schoeps/Joachim Schlör (Hgg.), Antisemitismus: Vorurteile und Mythen. München et al: Piper ²1996, S. 57-66, hier S. 63 f. 67 Vgl. zum Ritualmordvorwurf: Nicole Spengler: „das er in sijm leiden gheglicht ist der marter vnsers heren. Legendenbildung um Simon von Trient – Ein Ritualmordkonstrukt“, in: U. Schulze, Juden in der deutschen Literatur des Mittelalters (2002), S. 211-232 und Stephanie Olgemann: „Der juden grewlich missethat. Die Legende vom jüdischen Ritualmord am Beispiel des Endinger Ritualmordvorwurfs 1470“, in: Arne Domrös/Thomas Bartoldus/Julian Voloj (Hgg.), Judentum und Antijudaismus in der deutschen Literatur und an der Wende zur Neuzeit. Ein Studienbuch. Berlin: Jüdische Verl.-Anst. 2002, S. 85-120.

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alsdann gemordet, geplündert und getauft wurde, und große Wunder geschahen durch das vorgefundene tote Kind, welches die Kirche am Ende gar kanonisierte.“68

Nach Christina von Braun spiegelt die Vorstellung des Ritualmordes den genuin christlichen Ritus der Eucharistie wider, und faktisch lasse sich – ebenfalls nach Braun – ein Zusammenhang zwischen der Verkündung der Transsubstantiationslehre und einer Zunahme der Ritualmordanklagen feststellen.69 Auch in den Ritualmordlegenden erscheinen die Kinder als Märtyrer, in deren Leiden sich die Passion Christi wiederholt.70 Sowohl der Ritualmordvorwurf als auch der eng daran geknüpfte Vorwurf des Hostienfrevels sind Bausteine in der Konzeption von Juden als Christus- bzw. Gottesmördern. Noch einmal zurück zur Legende vom Jüdel: Das mirakulöse Erlebnis, das dem Kind zuteilwird, folgt auf einen frommen Dienst, welchen es der Gottesmutter erweist: Mit seinem besten Kleide wischt es Schmutz von einem Marienaltar, an dem es täglich auf dem Schulweg vorbeigeht. Der Schmutz wird von einer Spinne verursacht, die der Junge wegen der unangebrachten Tat schilt und sich dabei einer Tiermetaphorik bedient. Er schimpft die Spinne als „wurm“, was sich nach Cordula Henning von Lange aus dem Mittelhochdeutschen als „Wurm, Insekt, Schlange, Drache oder auch Teufel“ übersetzen lasse und somit nahelege, „in der Spinne nicht nur das kleine Tier zu erblicken, sondern ebenso den Teufel“.71 Da das Kind dem „wurm“ vorwerfe, eine „missetat“ zu begehen, die auf einem Irrtum basiere, eröffne sich nach Lange in diesen Versen ein weiterer Deutungshorizont: „Über die gedankliche Verbindungslinie einer Teufelsbuhlschaft der Juden steht die tumpheit des Spinnentieres in direkter Verbindung zur Charakterisierung der ihrem ‚Irrglauben‘ verhafteten Juden.“72 Eine deutliche Tiermetaphorik ist auch in Fastnachtsspielen und Schwänken von Hans Folz nachzuweisen, deren abwertende Bedeutung durch den semantischen Bereich des Fäkalen gesteigert wird. So in dem Nürnberger Fastnachtsspiel Ein Spil von dem Herzogen von Burgund aus dem 15. Jahrhundert, in dem auch das bekannte Motiv der ‚Judensau‘ aufgriffen wird, das bis heute als Relief oder Wasserspeier auf Kirchenfassaden prangt:

68 Heinrich Heine: „Der Rabbi von Bacherach“, in: ders., Sämtliche Schriften, hg. v. Klaus Briegleb, Band 1, München: Hanser 1975, S. 459-501, hier S. 462. 69 Vgl. Ch. v. Braun: Einleitung, S. 11 f. 70 Vgl. N. Spengler: Legendenbildung um Simon von Trient, S. 230 f. 71 C. Henning von Lange: ‚Das Jüdel‘ – Judenfiguren in christlichen Legenden, S. 154. 72 Ebd.

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„Ich sprich, das man vor allem ding / Die allergroßt schweinsmuter pring, / Darunter sie sich schmiegen all, / Saug ieder ein tutten mit schall; / Der Messias lig unter dem schwanz! / Was ir enpfall, das sol er ganz / Zusammen in ein secklein pinden / Und dann dasselb zu einem mal verschlinden.“73

Dieses und andere spätere Fastnachtsspiele von Folz bedienen sich einer derben Sprache und skatologischen Semantik.74 Die Tabubrüche und anzüglichen Witze haben das Ziel, die Juden selbst und ihren Glauben zu diffamieren.75 Da Juden an den ‚falschen‘ Messias glauben, werden sie ausgefeilten Bestrafungen unterzogen, unter denen die Verbannung aus der Stadt geradezu human erscheint. Weitere Motive der Erniedrigung sind „Zunge Herausreißen, Verbrennen, Ertränken bis hin zu obszön-skatologischen Phantasien“, wie dem oben beschriebenen Essen von Fäkalien.76 Im Gegensatz zu anderen Texten gibt es für jüdische Figuren in den Fastnachtsspielen keine Möglichkeit der Erlösung durch die Konversion. Es ist bei Folz nicht der falsche Glaube, der die Juden zwangsläufig verdorben sein lässt. Wenn sich ein Konversionswunsch äußert, so beruht er auf rein materiellen und profanen Gründen, wie finanziellen Vorteilen oder der Gier nach Schweinswürsten.77 Der schlechte Charakter ist somit nicht mehr eine Frage der Religionszugehörigkeit, sondern wird in einem ersten schwachen Rahmen als eine Frage der Volkszugehörigkeit etabliert.78

73 Hans Folz: „Ein Spil von dem Herzogen von Burgund“, in: Fastnachtspiele aus dem 15. Jahrhundert. Erster Theil, hrsg. von Adalbert von Keller. Stuttgart 1853, S. 169190, hier S. 184. 74 Vgl. Edith Wenzel: „Synagoga und Ecclesia. Zum Antijudaismus im deutschsprachigen Spiel des Mittelalters“, in: H. O. Horch, Judentum, Antisemitismus und europäische Kultur (1988), S. 51-75, hier S. 71 f. 75 Vgl. Regine Schiel: „Die giftigen würm das seit ir. Antijudaismus in Fastnachtsspielen des Nürnberger Meistersängers Hans Folz (Ende 15. Jahrhundert)“, in: A. Domrös/T. Bartoldus/J. Voloj, Judentum und Antijudaismus (2002), S. 147-178. 76 Vgl. Matthias Schönleber: „der juden schant wart offenbar. Antijüdische Motive in Schwänken und Fastnachtsspielen von Hans Folz“, in: U. Schulze, Juden in der deutschen Literatur des Mittelalters (2002), S. 163-182, hier S. 177. Auch bei Edith Wenzel: „Do worden die Judden alle geschant“. Rolle und Funktion der Juden in spätmittelalterlichen Spielen. München: Fink 1992, S. 253. 77 Vgl. ebd., S. 154 und 158 sowie H. Jenzsch: Jüdische Figuren in deutschen Bühnentexten, S. 71. 78 Vgl. hierzu etwa Winfried Frey: „Antijüdische Tendenzen in einem Fastnachtsspiel von Hans Folz“, in: Wirkendes Wort 32 (1982), S. 1-17, R. Schiel: Die giftigen würm

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In den spätmittelalterlichen Frankfurter Passionsspielen werden die Juden im heutigen Sinne als Materialisten entlarvt, was eine neue Figur im Reservoir des Judenhasses begründet. In Religionsdisputen erweisen sie sich nicht nur als verstockt, sondern, so Edith Wenzel, vor allem als Wucherer, die die theologischen Argumente der Propheten mit plumpen materiellen beantworten, „die in diesem sakralen Kontext geradezu blasphemisch wirken müssen.“79 Aus diesen Darstellungen kristallisiert sich gegen Ende des 15. Jahrhunderts das Stereotyp des Wucherers heraus, das im 19. Jahrhundert zum Stereotyp der Kapitalisten und schließlich im 21. Jahrhundert eine Metonymie des Globalisierungsprozesses wird.80 Ein weiteres Vorurteil ist die sogenannte jüdische Verstocktheit, die besonders deutlich im Bild des falschen Messiasglaubens eingefangen wird, worauf ich später detailliert eingehen möchte. Denn die am weitesten verbreitete Figur, die für dieses Vorurteil steht, ist der jüdische Gelehrte, der in Religionsdisputen trotz schlechterer Argumente auf dem Vorrang der jüdischen Religion besteht. Religionsdispute, in denen ein Schlagabtausch zwischen Verfechtern der jüdischen und der christlichen Religion stattfindet, sind seit den ersten Jahrhunderten nach Christi bekannt, wo sie Anhängern der christlichen Religion als Mittel zur Selbstkonstitution und Abgrenzung gegenüber der älteren Religion, dem Judentum, dienten. Meist ging es in diesen Adversus-Judaeos-Schriften81 darum, das

das seit ir, S. 163, Florian Rommel: „ob mann jm vnrehtt thutt, so wollenn wir doch habenn sein blutt. Judenfeindliche Vorstellungen im Passionsspiel des Mittelalters“, in: U. Schulze, Juden in der deutschen Literatur des Mittelalters (2002), S. 183-207, M. Schönleber: der juden schant wart offenbar. Zu antisemitischen (rassistischen, biologistischen) Strukturen in Argumentationen frühneuzeitlicher Texte allgemein vgl. N. Hortzitz: Die Sprache der Judenfeindschaft in der frühen Neuzeit und dies.: „[D]ieArt kan nicht nachlassen [...] (Rechtanus 1606) – rassistisches Denken in frühneuzeitlichen Texten?“, in: Aschkenas. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der Juden 8, 1 (1998), S. 71-104. 79 E. Wenzel: Synagoga und Ecclesia, S. 98. 80 So beschreibt Hanno Loewy die Demonstration anlässlich des Gipfels in Davos 2003, bei dem die Globalisierungsgegner einen Davidsstern trugen und um ein goldenes Kalb tanzten. H. Loewy: „Der Tanz ums ‚goldene Kalb‘“, in: ders., Gerüchte über Juden (2005), S. 9-24, hier S. 9. 81 Zur Adversus-Judaeos-Literatur im 14. Jahrhundert vgl. Manuela Niesner: „Wer mit juden well disputiren“: deutschsprachige Adversus-Judaeos-Literatur des 14. Jahrhunderts. Tübingen: Niemeyer 2005.

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Christentum gegen die argumentativen Angriffe der Juden zu verteidigen und weniger um einen Austausch. Ein solcher Religionsdisput ist auch Teil der Silvesterlegende aus dem 5. Jahrhundert, die erstmals in deutscher Sprache in der Kaiserchronik aus dem 12. Jahrhundert zugänglich gemacht wurde. Die Taufe Konstantins durch Papst Silvester war ein wichtiger Aspekt des mittelalterlichen europäischen Geschichtsbildes, und so war die Silvesterlegende in ihrer lateinischen Fassung flächendeckend verbreitet.82 In der Silvesterlegende disputiert Papst Silvester I. mit zwölf jüdischen Gelehrten und versucht, das Christentum gegen deren Vorwürfe zu verteidigen. Nachdem er die Argumente von elf der jüdischen Weisen erfolgreich kontern kann, scheut sich der zwölfte unter ihnen nicht, zum Übersinnlichen zu greifen, um die Überlegenheit der eigenen Religion zu beweisen.83 So tötet er auf dem Höhepunkt des Argumentaustauschs einen Stier, nur indem er ihm einen geheimen Namen zuflüstert. Daraufhin ruft Papst Silvester die Trinität an, den Stier wieder zum Leben zu erwecken. Es stellt sich heraus, dass der geheime Name – der hier eine deutliche Anspielung auf den geheimen Namen Gottes im Judentum ist – der Name des Teufels ist. Dessen Macht ist jedoch unvollkommen, da er nur Leben zu nehmen vermag, während der christliche Gott es schenken kann. Das Christentum bezeugt sich damit als die überzeugendere Religion, der Papst gewinnt im Alleingang den Disput, und die jüdischen Gelehrten, die heidnischen Richter sowie tausende weitere Juden lassen sich taufen.84 Das oben angesprochene Mittel der Dämonisierung der Juden findet hier Verwendung, wenn insinuiert wird, das Judentum stehe im Pakt mit dem Teufel. Daneben wird hier auch auf das Stereotyp des verstockten jüdischen Gelehrten zurückgegriffen, dem eine lange ‚Karriere‘ in Form des ‚schlauen‘ oder ‚listigen‘ Juden bevorsteht. Sander L. Gilman zeigt in seinem Buch Die schlauen Juden. Über ein dummes Vorurteil, wie beharrlich die Imago des intelligenten Juden in säkularisierter Form im Alltagsdenken, aber auch in wissenschaftlichen Diskursen bis in die heutige Zeit tradiert wird. Dort wird auch die antisemitische Dimension dieses oft philosemitisch verstandenen Klischees deutlich: Die jüdische Intelligenz wird oft als Schläue, Pseudointelligenz oder Spitzfindigkeit verstanden.85 Das zeigt auch Nicoline Hortzitz in ihrer Analyse der Sprache der Juden-

82 Vgl. Vera Milde: „si entrunnen alle scentlichen dannen. Christlich-jüdischer Disput in der Silvesterlegende der ‚Kaiserchronik‘“, in: U. Schulze, Juden in der deutschen Literatur des Mittelalters (2002), S. 13-34, hier S. 17. 83 Vgl. ebd., S. 13. 84 Vgl. ebd., S. 16. 85 Vgl. S. L. Gilman: Die schlauen Juden, S. 21.

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feindschaft in der frühen Neuzeit: Lexeme, die die Bewertungskomponente „verstockt“ besitzen, bewegen sich nicht nur auf der semantischen Ebene der Beharrlichkeit oder Dickköpfigkeit, sondern zielen inhaltlich auch auf Absonderung, Abstoßung und Abgrenzung.86 Ein weiteres im Mittelalter begründetes Stereotyp mit Langzeitwirkung ist die Gestalt des Ahasver, des ‚Ewigen Juden‘. Auch in der Idee des Ahasver ist der Ansatz der Exklusion angelegt, wenngleich in einer wesentlich komplexer entworfenen Figur als die bislang erörterten. Stefan Nied sieht im ‚Ewigen Juden‘ die letzte ausgeprägt stereotype Verdichtung, bevor es durch die Literatur der Aufklärung zur Kritik der starren und überkommenen Weltdeutungsmuster kommt.87 Die Legende vom Schuster Joseph Cartaphilus, der Jesus auf dem Weg nach Golgatha einen Rastplatz verweigerte und daraufhin zur ewigen Wanderschaft verurteilt wird, ist schon seit dem 13. Jahrhundert bekannt.88 In schriftlicher Form tritt sie jedoch das erste Mal Anfang des 17. Jahrhunderts als ein anonym verfasstes Volksbuch unter dem Titel Kurtze beschreibung und Erzehlung / von

86 Vgl. N. Hortzitz: Die Sprache der Judenfeindschaft in der frühen Neuzeit, S. 243-248. So beispielsweise „sich von jdm./etw. absondern“, „etw. von sich stoßen“ oder „jdm./etw. verwerfen“. 87 Vgl. Stefan Nied: „ich will stehen und ruhen, du aber solt gehen. Das Volksbuch von Ahasver“, in: U. Schulze, Juden in der deutschen Literatur des Mittelalters (2002), S. 257-278, hier S. 259. 88 Die älteste Fassung der Legende, in der Ahasver eindeutig zu erkennen ist, ist zu finden in der Quelle Ignoti Monachi Cisterciensis S. Mariae de Ferraria Chronica et Ryccardi de Sancto Germano Chronica priora, die zu Beginn des 13. Jahrhunderts in Bologna entstanden ist. Dort wird von dem armenischen Juden berichtet, der sich alle hundert Jahre auf dreißig Jahre verjüngen muss. Dies sei seine Strafe dafür, dass er, der bei der Passion Christi zugegen, diesen gewaltsam fortgestoßen und zur Eile angetrieben habe. Jesus habe ihm daraufhin geantwortet: ‚Ich gehe und du wirst mich erwarten, bis ich wiederkomme‘. Diese Chronik aus dem Kloster Ferraria gerät in Vergessenheit. Die nächste, fünf Jahre später verfasste Quelle ist Roger de Wendowers Chronica, Sive Flores Historiarum von 1228, in der zum ersten Mal von Cartaphilus berichtet wird. Wendowers Chronik wird in die Chronica Maiora des englischen Mönchs Matheus Paris aufgenommen und bleibt dadurch präsent. Vgl. hierzu: Wolfgang Pöhlmann: „Ahasver, der wandernde Jude. Eine europäische Legende“, in: Katarzyna Stokłosa/Andrea Strübind (Hgg.), Glaube – Freiheit – Diktatur in Europa und den USA: Festschrift für Gerhard Besier zum 60. Geburtstag. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007, S. 337-358, hier 345 f.

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einem Juden / mit Namen Ahasverus: Welcher bey der Creutczigung Christi selbst persönlich gewesen / auch das Crucifige uber Christum hab helffen schreyen unnd umb Barrabam bitten auch in das Bewusstsein größerer Massen.89 Erst in dieser bekanntgewordenen Fassung von 1602 trägt der Schuster den Namen Ahasver90 und wird als Jude identifiziert, der jedoch reuevoll ist, sein Geld verschenkt und sich auch sonst vorbildlich verhält. Dadurch entsteht eine Spannung zwischen dem Verhalten der Figur und ihrer jüdischen Identität, die Erwartungen und Assoziationen der Leser weckt.91 Diese Spannung wird um Elemente des Wunderbaren angereichert: So ist Ahasver nicht nur unsterblich, sondern hat unter anderem einen fliegenden Geist bei sich.92 Trotz dieser phantastischen Elemente soll die Geschichte auch den Schein des Realen erwecken. Zu diesem Zwecke werden authentifizierend wirkende Augenzeugen aufgeführt, die der direkten Lebenswelt der Leser entstammen.93 Unsterblich, heimatlos und zur Wanderschaft verdammt, trägt er die Last des Gottesmordes auf seinen Schultern und wird als der ‚Ewige Jude‘ oder ‚JuifErrant‘ im 19. Jahrhundert zum Sinnbild des jüdischen Volkes.94 Auf die Beliebtheit des Büchleins vom Juden Ahasver folgt die Beliebtheit der Figur und ihres tragischen Schicksals. In ihrer Arbeit zeigt Mona Körte,95 dass schon die ursprüngliche Legende vom ‚Ewigen Juden‘ eine massenhafte Verbreitung nicht nur im deutschsprachigen Raum fand.96 Ferner schildert Körte an ausgewählten Beispielen, wie sich die Gestalt in anderen Figuren im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert manifestiert. Die übernatürlichen Attribute sowie

89 So konstatiert Nied, dass die Größenordnung, in der das Volksbuch gedruckt wurde, sich im Verhältnis zu den Handschriften wie ein „Massenmedium“ ausnahm. S. Nied: ich will stehen und ruhen, du aber solt gehen, S. 259 und Avram Andrei Balenau bezeichnet das Volksbuch als „Bestseller“. A. A. Balenau: „Der ‚ewige Jude‘“, in: J. H. Schoeps/J. Schlör, Antisemitismus – Vorurteile und Mythen (1996), 96-102, hier S. 96. 90 Was de facto ein genuin christlicher Name ist. Zu den Vermutungen über diesen Fehler des Verfassers vom Volksbuch vgl. S. Nied: ich will stehen und ruhen, du aber solt gehen, S. 265 f und A. A. Balenau: Der „ewige Jude“, S. 97. 91 Vgl. S. Nied: ich will stehen und ruhen, du aber solt gehen, S. 270. 92 Vgl. ebd., S. 267. 93 Vgl. ebd., S. 268. 94 Vgl. Alfred Bodenheimer: Wandernde Schatten. Ahasver, Moses und die Authentizität der jüdischen Moderne. Göttingen: Wallstein 2002, S. 8 f. 95 Vgl. M. Körte: Die Uneinholbarkeit des Verfolgten. 96 Vgl. ebd., S. 71.

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die Verschriftlichung als Volksbuch trugen vermutlich zu der Beliebtheit der Figur in der Romantik bei. So begegnet der ‚Ewige Jude‘ dem Leser unter zahlreichen anderen Beispielen in Mittheilungen aus den Memoiren des Satan von Wilhelm Hauff oder in Halle und Jerusalem von Achim von Arnim. Bereits 1774 widmet Goethe dem ‚Ewigen Juden‘ ein gleichnamiges Versepos-Fragment. Mona Körte schließt in ihre Untersuchung dieser Figur auch literarische Beispiele ein, in denen sie Ahasver als „Schatten“ eine erfolgreiche Karriere bescheinigt. So sieht Körte Manifestationen des Ahasverischen beispielsweise in der mächtigen und undurchdringlichen Figur des Armeniers in Schillers Geisterseher, der dem Grafen Cagliostro nachempfunden ist, wie auch in den zahlreichen Gestalten der Untoten und Vampire, die in der literarischen Phantastik auftreten.97 Das Geschöpf Ahasver in der Deutung Körtes lässt sich als ein prägendes Beispiel der Auflösung von Stereotypen seit der Aufklärung lesen. Von der eigentlichen Figur bleiben nunmehr ihre Merkmale, die sich zu neuen Gestalten verdichten oder anderen Figuren eingeschrieben werden. Ahasver konkurriert sowohl in der Faszination, die die Figur durch die Jahrhunderte bei Schriftstellern und Publikum erweckt, der Langlebigkeit wie auch der Häufigkeit des Auftretens nur noch mit einem weiteren, ebenso ambivalent angelegten Stereotyp: der ‚schönen Jüdin‘. Hier ist es erneut die Literatur der Romantik, die auch diesen Topos für sich entdeckt und ihn mit der Aura des Übersinnlichen ausstattet. Möglicherweise trägt das tragische Moment, welches beiden Figuren innewohnt und Erzählstoff bietet, zur langanhaltenden Popularität bei. Im Gegensatz zur Ahasverus-Legende tritt die Figur der ‚schönen Jüdin‘ als literarisches Motiv relativ spät in Erscheinung. Doch bereits im Mittelalter, so beispielsweise in den Chroniken des Caesarius von Heisterbach, wird von Jüdinnen berichtet, die Mesalliancen mit christlichen Männern eingehen.98 Oft wird das in diesen Berichten verankerte Verführungsmotiv mit dem Bekehrungsmotiv verbunden.99 Besonders der Stoff der Erzählung vom falschen Messias hat in diesem Zusammenhang eine lange Tradition, die von Hans Folz, Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen und viel später von Jakob Wassermann fortgeschrieben wird. In der zwischen 1483 und 1488 gedruckten Reimpaardichtung

97 Vgl. ebd., S. 35 ff. 98 Vgl. C. Henning von Lange: ‚Das Jüdel‘ – Judenfiguren in christlichen Legenden, S. 148. 99 Florian Krobb beschreibt die Liebe zwischen der schönen Jüdin und einem christlichen Mann sowie die spätere Konversion als die bezeichnenden wiederkehrenden und handlungstragenden Elemente. F. Krobb: Die schöne Jüdin, S. 21.

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Von Der Iuden Messias von Folz wird die Geschichte um ein jüdisches Mädchen, das von einem christlichen Studenten verführt und geschwängert wird, mit derben erotischen Anspielungen versetzt, die nach Florian Krobb den Zweck der „Ridikulisierung der Jüdin und ihrer Glaubensgenossen“100 verfolgen. Nicht nur die erotische Komponente dient der Ridikulisierung, sondern auch die Schilderung des falschen Messiasglaubens der Juden, deren Verstocktheit sie daran hindert, Jesus anzuerkennen. So kann der Student nicht nur den Vater des Mädchens betrügen, indem er ihm im Schlaf einredet, seine Tochter habe den Messias empfangen, auch die gesamte jüdische Gemeinde glaubt an das vermeintliche Wunder. Bei Grimmelshausen erreicht diese Geschichte eine andere Dimension. In Das wunderbarliche Vogelnest trete die ‚schöne Jüdin‘ nach Krobb aus ihrer Anonymität heraus und wird eine Figur mit einer eigenen Familien- und Lebensgeschichte.101 Dieter Breuer möchte in den detailreichen Beschreibungen der jüdischen Gemeinde in Amsterdam eine fast aufgeklärte Haltung Grimmelshausens sehen. Seiner Argumentation folgend, ist die satirische Wiederholung der Klischees und Vorurteile ein Mittel, diese als solche zu entlarven. Die Einfalt der Gemeinde, die den Messias erwartet, prangere Grimmelshausen, so Breuer, an, verweise aber mit der Schilderung der Lebensumstände gleichzeitig auf Armut als Ursache der Naivität.102 Diese ‚aufklärerischen‘ Ansätze, die erste Spuren der Säkularisierung des Stoffes tragen, sind bei Folz noch nicht gegeben, sodass die Geschichte im Zeichen einer religiösen Auseinandersetzung um die ‚richtige‘ Religion steht. So unterstreicht Matthias Schönleber beispielsweise die „Parallelität und Gegenbildlichkeit“ zwischen der Geburt des vermeintlichen jüdischen Messias und der Geburt Jesu, die bei Folz „in kunstvoller Spannung“ inszeniert werden.103 In diesem religiösen Kontext eröffnet sich eine Dichotomie, die für das Bild der ‚schönen Jüdin‘ prägend ist: Schönleber identifiziert die Darstellung der schwangeren Jüdin als die einer „Anti-Maria“104, ein Bild, das von Jeanette Jakubowski in dem Gegensatz zwischen Maria und Eva eingefangen wird.105 In-

100 Ebd., S. 22. 101 Vgl. ebd., S. 26. 102 Vgl. Dieter Breuer: „Antisemitismus und Toleranz in der frühen Neuzeit. Grimmelshausens Darstellungen der Vorurteile gegenüber den Juden“, in: H. O. Horch, Judentum, Antisemitismus und europäische Kultur (1988), S. 77-96, hier S. 95 f. 103 Vgl. M. Schönleber: der juden schant wart offenbar, S. 167. 104 Ebd., S. 168. 105 Vgl. Jeanette Jakubowski: „Die Jüdin“, in: J. H. Schoeps/J. Schlör, Antisemitismus – Vorurteile und Mythen (1996), S. 196.

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nerhalb dieser Antithetik wird die Jüdin als Eva mit der Sünde assoziiert, was sich nach Jakubowski vor allem in drei Bereichen niederschlägt: der Umkehr der (in der Bibel festgeschriebenen) Geschlechterverhältnisse, sexuelle Hemmungslosigkeit und Geldgier, die sich im Bild der Prostituierten manifestieren. Die erste dieser Assoziationen, die als ein weibliches Streben nach männlichen Domänen und Rollen verstanden werden kann, kommt beispielsweise in dem Bild der jüdischen Salondame zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Mode. Den Salonièren wird der Vorwurf gemacht, sich in den Bereich der Bildung zu wagen, dort jedoch eher Karikaturen gelehrter Männer abzugeben, wie dies in den Travestien und Satiren des beginnenden 19. Jahrhunderts inszeniert wird, worauf im zweiten Teil dieses Kapitels eingegangen wird. Der zweite Vorwurf, der die sexuelle Hemmungslosigkeit betrifft, bietet Raum für männliche Phantasien und füllt eine Leerstelle aus, für die eine christliche Frauenfigur als Tabu gilt. Diese Projektion legt Jean Paul Sartre in seiner Beschreibung der ‚schönen Jüdin‘ als Opfer einer Schändung dar, indem er die sexuelle Vorstellung in die Nähe von Gewaltphantasien bringt und genau diese Verbindung von Erotik und Gewalt als kennzeichnendes Merkmal des Stereotyps bestimmt: „In den Worten ‚schöne Jüdin‘ liegt eine ganz besondere sexuelle Bedeutung, die sich stark unterscheidet von der ‚schönen Rumänin‘, ‚schönen Griechin‘ oder ‚schönen Amerikanerin‘. Sie strömen so etwas wie einen Geruch von Vergewaltigung und Massaker aus. Die ‚schöne Jüdin‘ ist die, welche die Kosaken des Zaren an den Haaren durch ihr brennendes Dorf schleifen; die auf Schilderungen von Auspeitschungen spezialisierte Literatur räumt den Jüdinnen einen Ehrenplatz ein. Aber man muss nicht in pornographischer Literatur suchen. Von der Rebecca aus Ivanhoe bis zu der Jüdin von Gilles über die Jüdinnen von Ponson du Terrail haben die Jüdinnen in den seriösesten Romanen eine wohl definierte Funktion: häufig vergewaltigt und geschlagen, gelingt es ihnen mitunter, durch den Tod der Schande zu entgehen, aber nur mit knapper Not; und die ihre Tugend bewahren, dienen untertänig oder lieben gedemütigt gleichgültige Christen, die sich mit Arierinnen vermählen. Mehr braucht es nicht, so meine ich, um den sexuellen Symbolwert der Jüdin in der Folklore zu charakterisieren.“106

Der letzte Vorwurf, der hier genannt werden soll, ist die vermeintliche Geldgier. Er trifft die jüdische Frau ebenso wie den jüdischen Mann, und bringt in Verbin-

106 Jean Paul Sartre: „Betrachtungen zur Judenfrage“, in: ders., Drei Essays. Frankfurt a. M.: Ullstein 1964, S. 33.

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dung mit dem Feld der Sexualität zwei weitere Motive hervor: die Prostituierte und den Mädchenhändler. Diese Beziehung von Judentum, Sexualität und Geld erörtert Christina von Braun in ihrer Darstellung der engen kulturgeschichtlichen Relation in der Entwicklung von Geldwirtschaft und Prostitution. Braun zeigt im Anschluss an Hobbes die „religiöse Dimension des Geldes“107, die in der Entsprechung der Materialisierungsfähigkeit des Geldes und der Transsubstantiationslehre begründet ist. In der kulturgeschichtlichen Parallelität sieht sie einen Beleg für die Rematerialisierung des zuvor abstrakt gewordenen Zeichens, einen Versuch also, das immaterielle Geld in eine „physiologische Wirklichkeit zurückzuführen“.108 Der Tausch von Fleisch/Körper gegen Geld, an dessen „Wechselstelle“109 sich der Jude befindet, ist ein genuin christliches Motiv, dessen Spuren im religiösen Tempeldienst Ausgang110 nehmen. Sie lassen sich nachverfolgen von der Figur des Judas, der aus Gier Jesus verrät, über Shakespeares Shylock, der sein fleischliches Pfand einzulösen fordert bis hin zu dem von Braun beschriebenen Vorwurf der Prostitution und des Menschenhandels, der bis heute im arabischen Raum anzutreffen ist. Sinnbild der Trias von Judentum, Sexualität und Geld ist Jud Süß Oppenheimer geworden, der, als bekanntester Wucherer in der Literatur nach Shakespeares Shylock, sowohl das Stereotyp des Geldjuden verkörpert als auch den skrupellosen Verführer, den hypersexuellen und, in späteren Bearbeitungen durch die Nationalsozialisten, auch den rasseschändenden Juden. Die weitere Linie im Ursprung dieses Phänomens der Sexualisierung jüdischer Figuren entwächst ebenfalls dem religiösen Boden. Sie lässt sich auf die körperbejahende Einstellung des Judentums zurückführen, welches – erneut nach Braun – von einer Trennung der Bereiche Fortpflanzung und Sexualität ausgeht und somit auch sexuelle Befriedigung unabhängig von der Fortpflanzung erlaube.111 Das daraus entlehnte judenfeindliche Stereotyp des hyperpotenten Juden gehörte seinerzeit zum Arsenal nationalsozialistischer Propaganda und spiegelte

107 Ch. v. Braun: Einleitung, S. 34. Christina von Braun widmet der Thematik des Geldes eine ganze Untersuchung: Der Preis des Geldes: eine Kulturgeschichte. Berlin: Aufbau-Verlag 2012, die für die vorliegende Arbeit jedoch nicht mehr erschöpfend rezipiert werden kann. 108 Ebd., S. 35-37. 109 Vgl. ebd., S. 36. 110 Vgl. ebd., S. 33. 111 Vgl. Ch. v. Braun: Säkularisierung und Sexualwissenschaft. Oldenburg: Bibliotheksund Informationssystem der Univ. 2002, S. 18.

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im Bild der sexuellen Vereinigung die Angst vor einer Vereinigung von Deutschen und Juden wider, die letztendlich eine Angst vor der Assimilation und der damit einhergehenden Unkenntlichkeit der Juden war.112 Diese Angst ist an ein weiteres Motiv der Judenfeindschaft geknüpft: die Idee der jüdischen Weltherrschaft. Vorstellungen jüdischer Übermacht lassen sich in ersten groben Zügen schon in spätmittelalterlichen Passionsspielen nachweisen.113 So lässt sich anhand von Quittungen für die stereotypen jüdischen Requisiten, wie es der rote Judenbart oder der Judenhut waren, sowie anhand der Nachweise über Lohnzahlungen nachvollziehen, dass jüdische Figuren eine zahlenmäßig sehr große Gruppe in den Spielen bildeten.114 Diese Inszenierung quantitativer jüdischer Übermacht bildet den Ansatz dessen, was sich erst im 19. Jahrhundert mit dem Erscheinen der Protokolle der Weisen von Zion als das Stereotyp der jüdischen Weltherrschaft herausbildet. Die in den als authentisch gehandelten Protokollen vorgestellten Pläne zur Weltübernahme sind bis heute ein beliebter Topos, sowohl im arabischen Raum, in dem die Protokolle weiterhin aufgelegt werden, als in modernen Verschwörungstheorien, die sich dank des Mediums Internet großer Verbreitung und nachhaltiger Beliebtheit erfreuen.115 Die im vorliegenden Kapitel bislang eingeführten Motive des teuflischen Juden, des jüdischen Körpers, des Wucherers, des Intellektuellen, des Christusund Ritualmörders, des ‚Ewigen Juden‘, der ‚schönen Jüdin‘ sowie der ‚jüdischen Weltherrschaft‘ in der vormodernen Literatur sind Ausdruck eines dicho-

112 Vgl. ebd. 113 Vgl. Winfried Frey: „Der vergiftete Gottesdienst. Zur Funktion von Passionsspielen in der spätmittelalterlichen Stadt am Beispiel Frankfurts am Main“, in: ders./Silvia Bovenschen/Stephan Fuchs/Walter Raitz/Dieter Seitz (Hgg.), Der fremdgewordene Text. Festschrift für Helmut Brackert zum 65. Geburtstag. Berlin/New York: De Gruyter 1997, S. 202-217. 114 Vgl. Thomas Bartoldus: „We dennen menschen die schuldig sind. Zum Antijudaismus im geistlichen Spiel des Mittelalters“, in: A. Domrös/T. Bartoldus/J. Voloj, Judentum und Antijudaismus (2002), S. 121-146, hier S. 125. 115 Vgl. Wolfgang Benz: „Die Protokolle der Weisen von Zion. Zur neuen Attraktivität der alten Verschwörungstheorie“, in: ders. (Hg.), Der Hass gegen die Juden. Dimensionen und Formen des Antisemitismus. Berlin: Metropol 2008, S. 49-67, ders.: Die Protokolle der Weisen von Zion. Die Legende der jüdischen Weltverschwörung. München: Beck 2007, J. Wetzel: Die „Protokolle der Weisen von Zion“ im World Wide Web, Michael Hagemeister: „Der Mythos der ‚Protokolle der Weisen von Zion‘“, in: Ute Caumanns/Matthias Niendorf (Hgg.), Verschwörungstheorien: anthropologische Konstanten – historische Varianten. Osnabrück: Fibre 2001, S. 89-102.

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tom konzipierten Weltbildes. Dieser Konzeption zufolge befanden sich Juden zwar außerhalb der Gesellschaft, doch konnten sie in diesem Außerhalb sicher verortet werden und mit allerlei Vorurteilen bedacht werden. Die gesellschaftlichen und ideologischen Veränderungen, die in der Epoche der Aufklärung in Bewegung gesetzt wurden, ließen sowohl dieses Weltbild als auch den Platz der Juden in ihm ins Wanken geraten. Die sich daraus ergebende Unsicherheit spiegelt sich in der Literatur der Epoche der Aufklärung wider. Während Autoren wie Lessing Werke verfassten, die den Geist der Aufklärung verkörperten und gegen das Vorurteil kämpften, gibt es Schriftsteller, die jene tradierten Stereotype, wie sie bislang skizziert wurden, weiterhin bewusst überlieferten. Beide Strategien waren Reaktionen auf die neue Präsenz von Juden in der bürgerlichen Gesellschaft und die Veränderung ihrer Wahrnehmung. Im folgenden Abschnitt soll demgemäß die Entwicklung der Stereotype in der Literatur der Aufklärung unter Berücksichtigung des soziohistorischen Kontextes am Beispiel der Berliner Juden entfaltet werden. 1.2.2

Die Auflösung des Stereotyps in der Literatur des langen 18. Jahrhunderts werd er frogen, was hast de gemacht uf de Welt? Bist de gewesen fleißig? Do werden mer zeigen, wos mer hoben gemacht. Perßente, wos mehr genummen, Wechselsche, wos mer hoben mit Profit gekaaft, Gold, Jeuwelen, Geschmeide, wos mer hoben gehandelt von de raichen Gois, un der Gott Obraham, Issak und Jakob wird alles nehmen fer sich, un wird uns schreiben, gute Xachven. KARL B. SESSA/UNSER VERKEHR

Schon im ausgehenden 17. Jahrhundert beginnt ein erster vorsichtiger Wandel in der Wahrnehmung und Darstellung von Juden. Nach dem Ende der Hamburger Barockoper, in der jüdische Figuren noch ihren stereotypen Rollenfächern verhaftet waren, wird die Figur des Juden durch die Übersetzungen der Dramen des dänischen Dichters Holberg auf der deutschen Bühne erneut eingeführt. Helmut Jenzsch vermutet, dass die Judenfiguren Holbergs zwar von der Barockoper inspiriert wurden, jedoch eine entscheidende Umgestaltung erfuhren:116 Der komi-

116 Vgl. H. Jenzsch: Jüdische Figuren in deutschen Bühnentexten, S. 88.

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sche Jude, der in der Barockoper einen eindeutig negativen Zug besitzt, wird bei Holberg in der Regel positiv besetzt. Diese Tatsache offenbare nach Jenzsch bereits den „Geist der Aufklärung“, der dann von Gellert und Lessing fortgeführt wurde.117 Dass diese ersten Tendenzen in der Aufweichung der antijüdisch geprägten Bilder nicht überbewertet werden dürfen, verdeutlicht die nachhaltige Popularität der 1700 verfassten Schrift Entdecktes Judentum des Hebraisten Johann Andrea Eisenmenger, in der er Vorwürfe wie Ritualmord und Brunnenvergiftung zu untermauern versucht. Doch auch die gesellschaftliche wie rechtliche Situation von Juden zu dieser Zeit lässt noch sehr wenig von den kommenden Veränderungen und Entwicklungen ahnen. „6 Ochsen, 7 Schweine, 1 Jude“118 – eine Anekdote besagt, diese Notiz sei dem Wachjournal eines Torstehers in Berlin im Jahre 1743 entnommen, dem Jahr also, in dem Moses Mendelssohn als bettelarmer 14-Jähriger in die Stadt kam. Obgleich der Wahrheitsgehalt dieser Anekdote zweifelhaft ist, so verdeutlicht sie eindringlich den Status der Juden im Berlin des 18. Jahrhunderts. Lange Zeit war es ihnen ausschließlich gestattet, durch das Vieh- und Warentor die Stadt zu betreten. Diese Situation wandelt sich langsam, denn die Juden rücken in das Zentrum einer öffentlichen Diskussion um ihre Stellung in der sich neu herausbildenden bürgerlichen Gesellschaft. Der Zerfall des Weltbildes, in dem die Juden ghettoisiert in einer Parallelwelt lebten und nur durch wenige Berührungspunkte wie den Handel in Kontakt mit Christen traten, fordert auch eine neue Konzeption, eine neue Vorstellung vom ‚Juden‘.119 In der Öffentlichkeit treten zunehmend jüdische Intellektuelle in die bis dahin christlich dominierten gesellschaftlichen und politischen Diskurse ein. Die Berliner Juden werden als Teil der bürgerlichen Gesellschaft sichtbar, bevor sie ihr rechtlich angehören. In der Emanzipationsdebatte erweist sich die Literatur als der aufklärerische Vorreiter. Bereits Mitte des 18. Jahrhunderts tritt ein neues Motiv einer jüdischen Figur in die Literatur: der sogenannte ‚edle Jude‘. In Gellerts Das Leben der schwedischen Gräfin von G*** von 1747 ist er ein nobler polnischer Jude,

117 Vgl. ebd., S. 89. 118 Zit. in: Amos Elon: Zu einer anderen Zeit. Porträt der jüdisch-deutschen Epoche 1743-1933. München: dtv 2005, S. 10. 119 Dass eine strikte Ghettoisierung der Juden und seltene Kontakte zwischen Juden und Christen erst im 15. Jahrhundert begannen, noch im 14. Jahrhundert der Kulturaustausch und das gemeinsame Alltagsleben durchaus viele Berührungspunkte aufwiesen, beschreibt Edith Wenzel: „Grenzen und Grenzüberschreitungen: Kulturelle Kontakte zwischen Juden und Christen im Mittelalter. Zur Einführung“, in: Aschkenas. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der Juden 14, 1 (2004), S. 1–7.

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der dem Grafen in der Not mit Geld aushilft und dessen „Freund und großer Wohltäter“ wird.120 Diese anonyme Figur untergräbt das Klischee des Wucherers, indem sie dem Grafen Geld gibt, ohne eine Aussicht zu haben, dass die Schuld je beglichen wird. Bei dieser Figur muss einschränkend konstatiert werden, dass dieser ‚edle Jude‘ als „Tugendzeuge“121 funktionalisiert wird: „Der edle Jude dient hier vor allem als Beweis, daß ein selbstlos-tugendhaftes Verhalten, das des christlichen Grafen nämlich, sogar unter den ungünstigsten Bedingungen die edelste Tugend zum Vorschein bringen kann.“122 So lässt es sich auch weiter mit Jürgen Stenzel annehmen, dass Lessing den Reisenden in seinem Einakter Die Juden als eine bewusste Polemik auf diesen Gellert’schen ‚edlen Juden‘ entworfen hat.123 Die jüdische Identität des im 1754124 veröffentlichten Einakter auftretenden Reisenden wird erst zum Ende des Stückes hin offenbart, sodass nicht nur die dramatis personae, sondern auch die Zuschauer ihren antisemitischen Vorurteilen aufsitzen. Die Stilisierung der jüdischen Figur erweckt ein deutliches Unbehagen bei Lessings Zeitgenossen, so bei dem Göttinger Orientalisten Johann David Michaelis:

120 Vgl. Christian Fürchtegott Gellert: „Das Leben der schwedischen Gräfin von G***“, in: ders., Werke. Bd. 2, hg. v. Gottfried Honnefelder. Frankfurt a. M.: Insel 1979, S. 66. 121 Vgl. Jürgen Stenzel: „Idealisierung und Vorurteil. Zur Figur des ‚edlen Juden‘ in der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts“, in: S. Mosès/A. Schöne, Juden in der deutschen Literatur (1987), S. 114-126, hier S. 124. 122 Ebd., S. 117. 123 Vgl. ebd., S. 120 sowie ders.: „Kommentar zu Die Juden“, in: Gotthold Ephraim Lessing, Werke 1743-1750 (Gedichte, frühe Lustspiele, Übersetzungen, Beiträge) hrsg. v. Jürgen Stenzel (=Gotthold Ephraim Lessing: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hrsg. v. Wilfried Barner, Klaus Bohnen, Gunter E. Grimm, Helmuth Kiesel, Arno Schilson, Jürgen Stenzel und Conrad Wiedemann, Band 1). Frankfurt a. M.: Dt. Klassiker-Verl. 1989, S. 1151-1166, hier S. 1153. 124 Der Untertitel des Stückes, „verfertiget im Jahr 1749“, veranlasste zu der Annahme, dass Lessing das Stück zu dem Zeitpunkt bereits beendet hatte und es fünf Jahre auf seine Veröffentlichung warten musste. Dagegen führt Hugh Barr Nisbeth in seiner Lessingbiographie an, dass Lessing höchstwahrscheinlich das Stück lediglich 1749 begonnen, jedoch bis zur Veröffentlichung daran gearbeitet habe. Vgl. H. B. Nisbet: Lessing. Eine Biographie. Aus dem Englischen übersetzt von Karl S. Guthke. München: Beck 2008, S. 93.

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„Der unbekannte Reisende ist in allen Stücken so vollkommen gut, so edelmütig, so besorgt, ob er auch etwann seinem Nächsten Unrecht tun und ihn durch ungegründeten Verdacht beleidigen möchte, gebildet, daß es zwar nicht unmöglich, aber doch allzu unwahrscheinlich ist, daß unter einem Volke von den Grundsätzen, Lebensart und Erziehung, das wirklich die üble Begegnung der Christen auch zu sehr mit Feindschaft, oder wenigstens mit Kaltsinnigkeit gegen die Christen erfüllen muß, ein solches edles Gemüt sich gleichsam selbst bilden könne.“125

Michaelis wehrt Jahrzehnte später auch vehement Christian Wilhelm von Dohms Schrift Über die bürgerliche Verbesserung der Juden ab und bedient sich in seiner Rezension desTraktats nahezu gleicher Argumente. So „wechselt Michaelis als aufgeklärter Theologe das Argumentations- und Diskursfeld und polemisiert nicht mehr religiös, sondern ethnizistisch und völkisch gegen die bürgerliche Verbesserung der Juden, indem er, ganz aufgeklärt, Kriminalstatistiken, demographische oder merkantilistische Argumente gegen ‚die Juden‘ als ‚Nation‘ auffährt.“126

Lessing wendet das Argument gegen seinen Reisenden und kontert gewohnt schlagfertig, dass Michaelis’ Vorwurf nur dann zutreffend sei, wenn die Veränderung der Lebensumstände der Juden – die Lessing seiner Figur des Reisenden ja einschreibe – sowie das Ende ihrer Unterdrückung nicht zu einer moralischen Verbesserung führen würden.127 Zudem führt er einen Brief Moses Mendelssohns an, in welchem dieser als Stellungnahme zu Michaelis’ Rezension die Figur eines vorurteilslosen und aufgeklärten Fremden erfindet und Michaelis damit den Stempel des Antiaufklärers aufdrückt: „Laßt einen Menschen, dem von der Verachtung der jüdischen Nation nichts bekannt ist, der Aufführung dieses Stückes beiwohnen; er wird gewiß, während des ganzen Stückes für lange Weile gähnen, ob es gleich für uns sehr viele Schönheiten hat. Der Anfang wird ihn auf die traurige Betrachtung leiten, wie weit der Nationalhaß getrieben werden könne, und über das Ende wird er lachen müssen. Die guten Leute, wird er bei sich denken, haben

125 G. E. Lessing: „Über das Lustspiel ‚Die Juden‘, im vierten Teile der Lessingschen Schriften“, in: Ders.: Werke 1743-1750, S. 489-497, hier S. 490. Im Folgenden mit der Sigle ÜL abgekürzt. 126 Christoph Schulte: „‚Diese unglückliche Nation‘ – Jüdische Reaktionen auf Dohms ‚Über die bürgerliche Verbesserung der Juden‘“, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 54, 4 (2002), S. 352-365, hier S. 356. 127 Vgl. ÜL, S. 491.

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doch endlich die große Entdeckung gemacht, daß Juden auch Menschen sind. So menschlich denkt ein Gemüt, das von Vorurteilen gereinigt ist.“128

Dieser Meinungsaustausch verweist bereits auf das Konfliktpotential, welches selbst fiktive Darstellungen von Juden in sich bargen, wenn sie jüdische Figuren fernab der üblichen Darstellungsmodi zeichneten. Die hier eingeleitete Diskussion wird auf literarischem und außerliterarischem Grund weitergeführt. Die Emanzipation der Juden lässt sich für den Untersuchungszeitraum grob in drei Phasen einteilen. Den Auftakt bildet das von einigen Historikern als folgenschwer eingestufte Entstehen einer ‚Judenfrage‘ in der Öffentlichkeit,129 die ich als die Phase der beginnenden Öffnung kennzeichnen will. Diese ist schwer konkret zu datieren, doch bildet sie sich um die Mitte des 18. Jahrhunderts heraus und geht mit der Entstehung einer differenzierteren Wahrnehmung der Juden einher. Der eigentliche Beginn der Emanzipation der Juden wird jedoch teilweise wesentlich früher angesetzt.130 Dieser Ansatz ist in der Aufhebung des Niederlassungsverbotes für Juden begründet, die 1669 in Berlin wegen des Bevölkerungsmangels, der nach dem Krieg in Preußen herrschte, durchgesetzt wurde.131 Doch auch ökonomische Gründe waren hier von Belang: So mussten etwa pro Kopf 2000 Taler für die Ansiedelung als Schutzjude in Berlin entrichtet werden, und für 8000 Taler konnten sich die Berliner Juden von der Pflicht freikaufen, ein Judenabzeichen zu tragen. Ihre Rechte waren gegenüber den Pflichten extrem eingeschränkt. Das Wachstum der jüdischen Bevölkerung in Berlin wurde als Bedrohung empfunden und gipfelte 1737 in einem Edikt, welches die Ausweisung aller Juden mit Ausnahme der einhundertzwanzig reichsten jüdischen Familien forderte.132 Die Tatsache, dass ein solches Dekret als notwendig erachtet wurde, verweist keinesfalls auf einen tatsächlichen extraordinären Anstieg der jüdischen Bevölkerung Berlins, die in Wirklichkeit prozentual gesehen immer noch sehr klein war. Es macht vor allem zwei Aspekte deutlich: Zum einen zeigt es die Angst vor einer solchen demographischen Entwicklung, zum anderen verdeutlicht es die überproportionale Sichtbarkeit der Juden. Waren die rei-

128 ÜL, S. 494. 129 Vgl. Reinhard Rürup: Emanzipation und Antisemitismus. Studien zur ‚Judenfrage‘ der bürgerlichen Gesellschaft. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1975, S. 13. 130 Jan David Sorkin datiert die Anfänge bereits nach dem 30-jährigen Krieg. Vgl. J. D. Sorkin: The Transformation of German Jewry, 1780-1840. Detroit, MI: Wayne State Univ. Press 1999, S. 41. 131 Vgl. A. Elon: Zu einer anderen Zeit, S. 20. 132 Vgl. ebd., S. 23.

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chen Juden als solche meist nur noch an ihren Namen erkennbar, so wurden besonders die armen und orthodoxen Juden wahrgenommen. Dieser Teil der Berliner Bevölkerung war es auch, der eigentlich zu der Entstehung der ‚Judenfrage‘ beitrug. Sie hatten durch Berufsverbote und den politischen Status kaum Chancen, eine Existenz aufzubauen. In der Bevölkerung galten sie als moralisch verdorben, als ein Übel und eine Bürde der Staatsgesellschaft.133 Ein solches Übel galt es zu beheben, was aus der Sicht von Aufklärern durch eine Verbesserung der Lebensumstände erreicht werden konnte.134 Mit der langsam beginnenden Verbesserung des Judenbildes in der Literatur findet ein Übertritt in die zweite Phase statt, die ich als die Phase des offenen Diskurses bezeichnen möchte und die im Zeichen einer von Kant geprägten Vorurteilskritik steht.135 Der Diskurs verläuft auf mehreren Ebenen. Auf politischem Niveau entwickelt sich nahezu ein Verwirrspiel aus Freiheiten und Verboten, die in Kraft gesetzt und wieder zurückgenommen werden.136 Dohms Schrift löste eine Lawine an Reaktionen sowohl aus dem christlichen wie auch dem jüdischen Lager aus. Die Debatte, die in 1780er Jahren ansetzt, ist elementar, da hier in nuce die Frage von Erhalt und Verlust der Identität verankert ist. Nicht nur Positionen des orthodoxen und aufgeklärten Judentums stehen sich unvereinbar gegenüber, auch unter den jüdischen Aufklärern, den Maskilim, herrscht keine einheitliche Meinung zu der Frage, wie weit die Integration gehen sollte. Der bis heute prominenteste Vertreter der Haskala, der jüdischen Aufklärung, Moses Mendelssohn bezog hier eine klare Position: „Sie [Mendelssohn und Naftali Hartwig Wessely] wollten Aufklärung, bürgerliche Verbesserung und jüdische Observanz binden und waren nicht bereit, den Preis der religiösen Anpassung für die bürgerliche Verbesserung zu bezahlen.“137 Grundlegend für die Forderung nach einer bürgerlichen Verbesserung war für Mendelssohn die

133 Vgl. R. Rürup: Emanzipation und Antisemitismus, S. 14. 134 Dafür plädiert Christian Wilhelm von Dohm in seinem Traktat Über die bürgerliche Verbesserung der Juden. Berlin/Stettin: Nicolai 1781, S. 45. 135 Vgl. Werner Schneiders: Aufklärung und Vorurteilskritik. Studien zur Geschichte der Vorurteilstheorie. Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog 1983. 136 Diese uneinheitliche und inkonsistente Gesetzgebung resultiert nach Rürup aus der spezifisch deutschen Herangehensweise an die Diskussion um die Stellung der Juden. Im Gegensatz zu Frankreich, das in einer liberal-revolutionären Konzeption 1791 mit einem Emanzipationsgesetz den Juden die sofortige Gleichstellung zusprach, gab es in Deutschland zunächst keine konkreten Reformen. Vgl. R. Rürup: Emanzipation und Antisemitismus, S. 17. 137 Ch. Schulte: Diese unglückliche Nation, S. 352 f.

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Sprache. Mit seiner Übersetzung des Pentateuchs ins Deutsche, die in hebräischer Schrift gedruckt wurde,138 legte er den Grundstein für eine Öffnung des Judentums und des innerjüdischen Diskurses.139 Seine Absicht, Deutsch und Hebräisch zu den gültigen Sprachen des Judentums zu erheben und das Jiddische als Dialekt zu verdrängen, kann als ein Schritt auf dem Weg zur Abwendung von der jüdischen Identität gedeutet werden. Es ist aber auch möglich, dieses Bestreben in einen allgemeineren Kontext zu reihen, in dem es in einer Linie mit den Bemühungen anderer Aufklärer steht, Regionaldialekte insgesamt abzuschaffen.140 Seine Bemühungen, das Hebräische als Alltagssprache zu fördern, verdeutlichen jedoch, dass Mendelssohn keineswegs eine Integration um den Preis der Aufgabe der Identität anstrebte. Paradoxerweise wurde er genau als das verehrt: als der unjüdische und assimilierte Jude.141 Und dies obwohl er im Streit mit Lavater 1769 seine Position so deutlich machte, wie es ihm möglich war.142 Dieses Fremdbild speiste unter anderem das Gerücht, Mendelssohn sei die direkte Vorlage für Lessings Nathan, den weisen Juden, der keine erkennbaren jüdischen Züge trägt.

138 Zur Tradition dieser Form des Druckes in der Aufklärung vgl. Thomas Kollatz: „Schrift zwischen Sprachen. Deutsch in hebräischen Lettern (1765-1820)“, in: Aschkenas. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der Juden 18/19, 2 (2010), S. 351366. 139 Vgl. Ch. Schulte: Diese unglückliche Nation, S. 359. 140 Vgl. Michael Maurer: „Verbürgerlichung oder Akkulturation? Zur Situation deutscher Juden zwischen Moses Mendelssohn und David Friedländer“, in: Anselm Gerhard (Hg.), Musik und Ästhetik im Berlin Moses Mendelssohns. Tübingen: Niemeyer 1999, S. S. 27-56, hier S. 44. 141 Vgl. A. Elon: Zu einer anderen Zeit, S. 68 f. 142 Johann Caspar Lavater forderte Mendelssohn in einem offenen Brief dazu auf, sich taufen zu lassen, falls es ihm nicht gelinge, die Wahrheiten der christlichen Religion zu widerlegen. Dazu Schulte: „Lavaters Aufforderung hatte Mendelssohn in ein Dilemma gebracht. Gelang die Widerlegung der christlichen Wahrheiten zu überzeugend, hätte der sich gegen seinen Willen den Ruf eines Freidenkers, gar Atheisten eingehandelt, der die herrschende Staatsreligion gefährdet. Damit hätte er die Duldung in Berlin […] riskiert. Gelang sie nicht überzeugend, war sein Ruf als Aufklärer und Jude dahin. Am Ende verweigerte Mendelssohn die Auseinandersetzung mit dem Hinweis, daß er als rechtloser Angehöriger eines unterdrückten Volkes sich ohnehin nicht frei äußern könne“. Ch. Schulte: Die jüdische Aufklärung. Philosophie, Religion, Geschichte. München: Beck 2002, S. 10.

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Die Assimilation der Juden galt vor allem unter den nicht-jüdischen Befürwortern der Emanzipation als Voraussetzung der bürgerlichen Gleichstellung. Dass dieses Vorhaben, die Emanzipationswürdigkeit am Assimilationsgrad messen zu wollen, immer nur die Alteritätsstellung der Juden befördern konnte und den Integrationsprozess behindern musste, zeigen Werner Bergmann und Rainer Erb in ihrem Buch Die Nachtseite der Judenemanzipation.143 Die literarische Bearbeitung scheint eine solche Position zu bestätigen. Bei näherer Betrachtung der beiden ersten ‚edlen Juden‘ in Lessings Die Juden und Gellerts Das Leben der schwedischen Gräfin von G** fällt vor allem auf, dass sie keinerlei Attribute besitzen, die sie als Juden erkennbar machen. In der Bühnentradition gab es unmissverständliche Merkmale, die eine Figur als jüdisch markierten.144 Neben der ostjüdischen Kleidung konnte dies auch eine orientalisch anmutende Kluft sein, die aus einem Judenhut oder einem Turban, dem Judenbart und Schläfenlocken bestand. Vor allem die Sprache, die meist ein Kauderwelsch aus Deutsch und Jiddisch war – in der Regel eine Kunstsprache, die dem Publikum das stereotype Mauscheln verdeutlichen sollte – war ein verbreitetes Mittel, eine Figur als jüdisch zu charakterisieren. Solche Marker finden sich bei Gellerts und Lessings Juden nicht, was zumindest im Hinblick auf Lessing eine lange Debatte in der Forschungsliteratur des 20. Jahrhunderts auslöste.145 Für beide ‚edlen Juden‘ lässt sich also konstatieren, dass sie nur dem Wort nach Juden sind. Sie wirken vollkommen assimiliert, was bei Lessing durch den unbedachten Ausruf des Bediensteten auf den Punkt gebracht wird: „Nein, der Henker! es giebt doch wohl auch Juden die keine Juden sind!“146

143 Rainer Erb/Werner Bergmann: Die Nachtseite der Judenemanzipation. Der Widerstand gegen die Integration der Juden in Deutschland 1780-1860. Berlin: Metropol 1989. 144 Vgl. zu Bühnenkonventionen und zum Rollenfach des Juden beispielweise Gunnar Och: Imago Judaica. Juden und Judentum im Spiegel der deutschen Literatur 17501812. Würzburg: Königshausen & Neumann 1995 oder den Sammelband von HansPeter Bayerdörfer (Hg.): Theatralia Judaica. Emanzipation und Antisemitismus als Momente der Theatergeschichte. Von der Lessingzeit bis zur Shoah. Tübingen: Niemeyer 1992. 145 Diese wird im Kapitel „Fluchtlinien und Abgrenzungen“ ausführlicher vorgestellt. 146 G. E. Lessing: Die Juden. Ein Lustspiel in einem Aufzuge. Verfertiget im Jahre 1749. In: G. E. Lessing, Sämtliche Schriften, herausgegeben von Karl Lachmann. 3., auf‫ތ‬s neue durchgesehene und vermehrte Auflage, besorgt durch Franz Muncker, Bd.1-23, Stuttgart, Leipzig, Berlin und Leipzig: Göschen 1886-1924 [Reprint Berlin: de Gruyter 1968], Band 1, S. 373-411, hier S. 411. In der hier im Folgenden zitierten

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Solche Juden, die keine sind, sind zu Beginn des 19. Jahrhunderts ein willkommener Gegenstand von Spott und Satire, wobei vor allem die Figur Nathans und ihre dramaturgischen Nachahmungen die maßgebliche Vorlage liefern. Eine solche veröffentlicht 1804 Julius von Voß unter dem Titel Der travestirte Nathan der Weise. Posse in zwei Akten mit Intermezzos, Chören, Tanz, gelehrtem Zweikampf, Mord und Todschlag, auch durch Kupfer verherrlicht.147 Voß bedient sich in seiner Travestie aus der Mottenkiste antijüdischer Ressentiments und Stereotype, indem er gerade das Assimilierte der Figur Nathan persifliert. Mit seinem Bühnenjiddisch konkurriert dieser als lächerliche Figur nur noch mit seiner Tochter Recha. Diese ist in ihrer Gestaltung als ein Seitenhieb auf die sogenannten Salonjüdinnen angelegt und verkörpert den Vorwurf der oberflächlichen Assimilation. Recha verfällt in unvorsichtigen Momenten ins Jiddische und legt ihre Halbbildung durch zahlreiche Fauxpas immer wieder an den Tag, wie hier: „Recha (im Abgehen mit ihm):

Doch Väterchen nach Kantischen Prinzipien Und denen die uns Fichte aufgestellt Habt ihr auf eurer Reise nicht gehandelt.

Nathan:

Nu, was dibberst du, wos geiht mich dos an?

Recha:

Das heißt Moral, die allerreineste Aus des Naturrechts Thesen deducirt Aus Thesen der Vernunft – und apriori Das heißt die Wissenschaft – (sie stockt)“148

Recha verirrt sich in den Theoriegebäuden der klassischen deutschen Philosophie, die sie nicht begreift und nur schlagwortartig und dekontextualisiert anbringt. Diese Beispiele verdeutlichen, dass auch die literarische Konstruktion positiver jüdischer Figuren in der Sattelzeit im Grunde auf der Darstellung ihrer Assimilationsfähigkeit beruht. Es wird eine simple Dichotomie aufgemacht, derzu-

Ausgabe des Klassiker-Verlages heißt es an dieser Stelle: „Nein der Henker! Die Juden sind großmütige Leute.“ G. E. Lessing: „Die Juden. Ein Lustspiel in einem Aufzuge. Verfertiget im Jahr 1749“, in: ders., Werke 1743-1750, S. 447–488, hier S. 487. Im Folgenden mit der Sigle DJ abgekürzt. 147 Julius von Voß: Der travestirte Nathan der Weise. Posse in zwei Akten mit Intermezzos, Chören, Tanz, gelehrtem Zweikampf, Mord und Todschlag, auch durch Kupfer verherrlicht. Berlin: Johann Wilhelm Schmidt 1804. 148 Ebd., S. 37 f.

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folge die ‚edlen Juden‘ nicht als solche erkennbar sind, und, umgekehrt, wer als Jude erkennbar ist, ist zumindest eine komische, meist eine lasterhafte oder sogar gefährliche Figur. Obwohl auch in der Aufklärung Autoren produzieren, die jüdische Figuren weiterhin als peripetieförderndes Moment oder „Tugendzeugen“ funktionalisieren, so entstehen auch zunehmend mehrdimensionale jüdische Charaktere. Ihnen werden ambivalente Charaktereigenschaften eingeschrieben, ihr Handeln wird psychologisiert. Ein Phänomen der Zeit und zugleich einschlägiger Beweis für den Ausbruch jüdischer Figuren aus ihren Rollenfächern sind Protagonisten, deren jüdische Identität bis heute nicht ausreichend geklärt ist, wie dies bei Schillers Räuber Spiegelberg der Fall ist.149 Eine solche Nichteindeutigkeit wird durch irritierende Hinweise erzeugt, wenn beispielsweise auf das beschnittene Geschlechtsorgan Spiegelbergs hingewiesen wird, die Beschneidung an anderer Stelle aber als krankheitsbedingt erklärt wird. Diese Besonderheit, die in dieser Deutlichkeit in der Literatur der Aufklärung zum ersten Mal auftritt, ist Katalogisierungsversuchen unzugänglich, da sie sich der grundsätzlichen Dichotomie Jude–Nichtjude entzieht. Es lassen sich auch Formen einer ausdrücklichen Negation von stereotypen Verhaltensweisen und Eigenschaften jüdischer Figuren nachweisen. So untergräbt Lessing das Stereotyp des Händlers und Wucherers mit der Figur des Nathan, indem er ihn geradezu verschwenderisch uneigennützig mit seinem Geld umgehen lässt. Der Diskurs, der in dieser zweiten Phase geführt wird, funktioniert also als literarischer Interdiskurs sowohl zwischen den einzelnen Texten, die jüdische Figuren mit einer bestimmten Tendenz zeichnen, als auch zwischen literarischen und außerliterarischen Texten, wie dies an der Debatte Lessing – Mendelssohn – Michaelis, später Dohm – Michaelis – Mendelssohn beispielhaft deutlich wurde. Zusätzlich existiert ein Intradiskurs innerhalb der einzelnen Texte, in denen in der Figurengestaltung heterogene Charaktereigenschaften zusammenlaufen. Um bei den bereits angeführten Beispielen zu bleiben, wäre Nathan ein solcher heterogener, ausdifferenzierter Charakter. Oberflächlich dem Rollenfach ‚Jude‘ und ‚Händler‘ zugeordnet, untergräbt die Figur dieses durch Freigiebigkeit, handelt also nicht rollenfachkonform. Die Abweichung von der Norm schlägt sich jedoch nicht nur, wie es im Fall des Reisenden in Die Juden noch festzustellen ist, in einer Vorzeichenänderung nieder, sondern führt zu einer Ambivalenz des

149 Zur Diskussion um die jüdische Identität von Spiegelberg vgl. beispielsweise H. Mayer: Außenseiter, S. 124, 147 und 168, G. Kars: Das Bild des Juden in der deutschen Literatur, S. 29 f. und L. Geiger: Die deutsche Literatur und die Juden, S. 126129.

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Charakters. Nathans Trauma, der seine Familie durch ein Pogrom verlor, gehört zur Vorgeschichte und wird im Plot des Dramas nur am Rande thematisiert. Diese Vorgeschichte aber bietet eine Erklärung für sein weiteres Handeln an: Er verheimlicht die christliche Herkunft seiner Tochter Recha und verhält sich ihr und der Umgebung gegenüber deshalb zunächst nicht integer. Dadurch wird die Kohärenz der Gestalt aufgelöst, und es scheint nahezu paradox, dass Nathan gleichzeitig die Ebenbürtigkeit der drei monotheistischen Religionen propagiert. Wären diese in der Tat gleichwertig, hätte Nathan Recha die Wahrheit offenbaren können und ihr die Entscheidung ihrer Konfession überlassen sollen. Die Tatsache, dass er dies vermeidet, könnte sein Toleranzstreben unglaubwürdig erscheinen lassen. Doch die für das Genre des Dramas nicht selbstverständliche Psychologisierung liefert durch den Verweis auf das vergangene Erlebnis eine Erklärung. Es wird also deutlich, dass Nathan nicht als ein anonymer Gegenentwurf zum Vorurteil funktionalisiert wird, sondern eine individualisierte Figur ist, deren Handlungen durchaus moralisch ambivalent sind, dabei jedoch durch seine Vergangenheit motiviert werden. Obwohl sich der Fluchtpunkt dieser Arbeit auf Lessing beschränken wird, sollen der Vollständigkeit halber noch einige weitere Pfade angeführt werden, auf denen Spuren der ‚voraufklärerischen‘ Stereotype weiterhin zu finden sind. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts kommen erneut antiaufklärerische Stimmen stärker zur Geltung, sodass der besondere Status der zweiten Periode dieser Debatte im Kontrast beleuchtet werden kann. Wie schon am Beispiel von Julius von Voß’ Travestie kurz demonstriert wurde, waren diese Stränge innerhalb der literarisch ausgefochtenen Emanzipationsdebatte der Aufklärung weiterhin präsent und erfuhren nach 1803, nach dem Erlass der Cabinetsordre in Ansehung der Druckschriften wider und für die Juden150, eine zunehmende Verbreitung auf literarischem Grund. Ein literaturhistorisch prominentes Beispiel, wie antisemitisches Denken in die literarische Welt zurückdrängt, ist die christlich-deutsche Tischgesellschaft des romantischen Kreises um Achim von Arnim. Mit dem Anbruch des Jahrhunderts beginnt also eine neuerliche Festigung der Stereotype. Doch auch auf der jüdischen Seite verändern sich die Positionen in der Frage der Assimilation. So wird die Nachfolge Mendelssohns als Wortführer der Maskilim von seinem Freund David Friedländer angetreten, der eine andere Vorstellung vom christlich-jüdischen Zusammenleben hat. Friedländer schwebt die Utopie einer Vernunftreligion vor, die nicht im Judentum verwirklicht werden könne, da

150 Dieses am 1.10.1803 erlassene Dekret sollte die Welle von Schriften eindämmen, die nach dem Erscheinen von Dohms Traktat publiziert wurden. Vgl. Ch. Schulte: Diese unglückliche Nation, S. 353.

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dieses zu viele nicht vernunftgemäße Rituale beinhalte. Auch seine jüdischen Zeitgenossen wenden sich zunehmend vom Judentum ab und suchen ihre Identität in einem neuen Dasein als Bildungsbürger.151 Dies ist auch der Zeitraum, in dem die bekannten Berliner Salons entstehen. Die neuen Momente, mit denen das Judentum von nun an assoziiert wird, sind Bildung und Geld. Nicht selten sind diese Salons Orte der Begegnung zwischen jüdischen Töchtern reicher Bankiers oder Kaufleute und verarmten Adels- oder Bürgersöhnen. Die so entstehenden Beziehungen und Ehen, die nicht selten mit einer Konversion der jüdischen Frauen enden, geraten in Verdacht einer gewissen beidseitigen Nutznießung, die in einem Tausch von gesellschaftlicher Position gegen Geld besteht.152 Die Literatur dieser Zeit ist übersät mit lächerlichen Figuren des jüdischen Parvenus sowohl weiblichen als auch männlichen Geschlechts. Das oben erwähnte Publikationsverbot von 1803 erstreckte sich nicht auf fiktionale Literatur, was flächendeckend ausgenutzt wurde. 1804 erschienen mehrere Theaterstücke mit antijüdischen Tendenzen. Meist handelte es sich dabei um Travestien von Nathan der Weise, wie diejenige von Julius von Voß.153 Ein anderes Stück, das 1815 zum großen Publikumserfolg wird, ist Alexander Bartholomäus Sessas Unser Verkehr. Die hier auftretenden jüdischen Figuren strotzen vor Parvenuhaftigkeit. Neben altbekannten Motiven, wie der Verwendung des Bühnenjiddisch und der Inszenierung von Eigenschaften wie Geldgier, werden Charaktereigenschaften eingeführt, die sich gezielt an der neuentstandenen Imago der Salonjüdin orientieren. So ist auch bei Sessa die Tochter des reichen Juden eine Karikatur auf die Salonièren. Hinter einem neuen bourgeoisen Namen, durch den aus Liebche eine Lyndie geworden ist, bemüht sich die Protagonistin, ihre Herkunft unkenntlich zu machen.154 Doch sie macht ihre Abwendung vom Judentum rückgängig, als der zunächst verschmähte Held des Stückes, der Jude Jakob, scheinbar zu Geld kommt. Sie ist augenblicklich bereit, ihn zu heiraten, gibt ihm dabei jedoch unmissverständlich zu verstehen, dass er nicht der einzige Mann in ihrem Leben bleiben wird. Dies ist eine Anspielung auf die

151 Vgl. J. D. Sorkin: The Transformation of German Jewry, S. 40 f. 152 Vgl. F. Krobb: Die schöne Jüdin, S. 77 ff. 153 Voß nimmt sich auch des Konversionsthemas an in: Bekehrungs-Anstalt für schöne Jüdinnen. Vgl. ebd., S. 71 ff. 154 Vgl. Karl Alexander Borromäus Sessa: Unser Verkehr. Eine Posse in einem Aufzuge nach der Handschrift des Verfassers. Zweite Auflage mit einigen Zusätzen. Leipzig: In Commission der Deutschen Buchhandlung 1815.

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Scheidungsaffären der realen Salondamen, die sich hier als Promiskuitätsvorwurf manifestiert.155 Sessas Stück fällt zeitlich in eine neue Etappe in der Diskussion der Judenfrage, die ich als eine Phase der Schließung bezeichnen möchte. 1806 erstarken nach der gegen Napoleon verlorenen Schlacht von Jena und Auerstedt die antijüdischen Positionen. Da die Emanzipation der Juden als ein Ideal der Französischen Revolution galt, wurde sie mit dem Feind und Besatzer, die Juden wurden dabei im Zuge der Frankophobie mit dem Feind identifiziert.156 Ein neues Nationalgefühl, das Leon Poliakov rückblickend als „Germanomanie“ bezeichnet,157 lässt das von Hardenberg durchgesetzte Emanzipationsedikt 1812 auf enormen Widerstand stoßen. Die Tatsache, dass es ungeachtet der Widerstände durchgesetzt wird, ist auf die finanzielle Lage Preußens zurückzuführen. Wenn auch die Vorarbeit der Aufklärer maßgeblich zur Entstehung eines solchen Edikts beigetragen hat, so sind es letztendlich wirtschaftliche Überlegungen, die mit der Finanzierung der preußischen Kriege zusammenhängen, die das Inkrafttreten vorantreiben. Die Angst des Staatsmanns richtet sich dabei auf die Gefahr der Auswanderung der Juden in den Westen: nach Hamburg, Münster oder Frankfurt.158 Da das Volksheer Freiwillige brauchte, wird auch das Image des Juden zweckgebunden neubesetzt und fortan nicht mehr mit dem Bild des Unmännlichen und Kampfunfähigen identifiziert.159 Diese semantische Neubesetzung bleibt jedoch nicht von großer Wirkungskraft.160 Ein neuer Topos, der auf dem alten Stereotyp des Wucherers aufbaut, verbreitet sich schnell und mit fatalen Folgen. Der anonyme Prozess der Kapitalisierung findet seine Personifizierung in der Figur des Juden. Die Juden werden als die neuen Herren beschworen und als Gefahr diagnostiziert. Die Breitenwirkung des neuen Stereotyps erreicht ihren späten und brutalen Höhepunkt in den Hep Hep-Unruhen von 1819. Diese

155 Vgl. ebd., S. 61. 156 Vgl. Klaus L. Berghahn: Grenzen der Toleranz. Juden und Christen im Zeitalter der Aufklärung. Köln et al: Böhlau ²2001, S. 263. 157 Vgl. Leon Poliakov: „Der germanische Ursprungsmythos als Grundlage des völkischen Antisemitismus“, in: Julius H. Schoeps/Alphons Silbermann (Hgg.), Antisemitismus nach dem Holocaust. Bestandsaufnahme und Erscheinungsformen in deutschsprachigen Ländern. Köln: Wissenschaft u. Politik 1986, S. 91-104, hier S. 95. 158 Vgl. K. Berghahn: Grenzen der Toleranz, S. 268. 159 Vgl. ebd. 160 Zum Stereotyp des kampfunfähigen Juden vgl. S. L. Gilman: The Jew’s Body, S. 38-59.

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Entwicklung macht vielen assimilierten Juden Berlins deutlich, wie trügerisch die Annahme war, ihre Anpassung würde an der Einstellung ihrer christlichen Mitbürger etwas ändern. Beispielhaft beschreibt Hannah Arendt diesen Prozess in der Biographie von Rahel Varnhagen, die erkennt, ihre jüdischen Wurzeln angesichts der Judenfeindschaft nicht mehr verleugnen zu können: „Rahel stand immer als Jüdin außerhalb der Gesellschaft, war ein Paria und entdeckte schließlich, höchst unfreiwillig und höchst unglücklich, daß man nur um den Preis der Lüge in die Gesellschaft hineinkam.“161 Literarischen Ausdruck findet das Dilemma in Michael Beers Tragödie Der Paria von 1829, in welcher ein indischer Paria samt seiner Frau Vorurteilen und der aus ihnen resultierenden Gewalt zum Opfer fallen, was das Schicksal der Juden im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts verbildlichen soll. In dieser letzten Phase werden frühantisemitische Muster etabliert deren Konjunktur im 19. Jahrhundert sich nicht nur mit der linguistischen Analyse von Hortzitz162 belegen lässt, sondern auch mit den Untersuchungen zur bürgerlichen Literatur dieser Zeit, die, unter anderen, Gubser, Klüger oder Gelber163 vorlegt haben. 1.2.3

Exkurs: Die Haskala in Polen und das Stereotyp des Ostjuden Es gibt vielleicht kein Land außer Polen, wo Religionsfreiheit und Religionshaß so im gleichen Grade anzutreffen wären. Die Juden genießen da einer völlig freien Ausübung ihrer Religion und aller bürgerlichen Freiheiten, haben sogar ihre eigene Gerichtsbarkeit. Von der andern Seite aber geht der Religionshaß so weit, daß der Name Jude zum Abscheu wird. SALOMON MAIMON/SALOMON MAIMONS LEBENSGESCHICHTE

161 Hannah Arendt: Rahel Varnhagen. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik. München: Piper 142006, S. 218. 162 Vgl. N. Hortzitz: ‚Früh-Antisemitismus‘ in Deutschland. 163 Vgl. neben zahlreichen anderen M. Gubser: Literarischer Antisemitismus, R. Klüger: Katastrophen, M. H. Gelber: Aspects of Literary Antisemitism. Aber auch Beiträge in den Sammelbänden von S. Mosès/A. Schöne: Juden in der deutschen Literatur (1988) und H. Strauss/Ch. Hoffmann: Juden und Judentum in der Literatur (1985).

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Die Zeit nach 1800 markiert in Polen den Beginn der Haskala, wo die ‚Judenfrage‘ ab 1815 in der breiteren Öffentlichkeit diskutiert wird. Einige der dortigen jüdischen Aufklärer, wie Jakub Tugendhold (1794-1871) und Abraham Buchner (1789-1869) sind von der deutschen Haskala geprägt und bereits Maskilim zweiter Generation. Wenn Christoph Schulte eine der Besonderheiten der jüdischen Aufklärung in Deutschland darin ausmacht, dass sie verspätet einsetzte und die Ideale der Aufklärung schneller und radikaler durchgesetzt wissen wollte,164 so baut die polnische Haskala nicht nur auf den Erfahrungen der europäischen Aufklärungsbewegungen auf, sondern auf denen der Haskala in Deutschland. Unter anderem deshalb geht die Aufklärung der jüdischen Bevölkerung in Polen gleich institutionelle Wege. Begünstigt wird dies durch eine relativ liberale und von Russland weitestgehend autonome Regierung Kongresspolens, die aus radikalen Aufklärern, ehemaligen Libertins und Freimaurern wie Józef Zajączek, Stanisław Staszic, Stanisław Potocki oder Julian Ursyn Niemcewicz besteht.165 So sind die Vertreter der polnischen Haskala in den jüdischen Abteilungen verschiedener Institutionen wie dem Zensurkomitee hebräischer Bücher, im Grundschulinspektorat, im Krankenhausvorstand oder als Lehrer an rabbinischen Schulen ansässig.166 Dies ist also keine Bewegung, die sich auf ideologischer Basis erst etablieren muss, sondern ein Programm, das durch Veränderungen in Bereichen wie Bildung, Produktivität (Landwirtschaft) und durch eine Kritik der Kahal, der jüdischen Gemeinden und ihrer teils korrumpierten und ungerechten Strukturen, die Verbürgerlichung der polnischen Juden vorantreiben sollte.167 Dies geschieht nicht uneigennützig und ist nicht unproblematisch: Die Situation im späten 18. und 19. Jahrhundert ist durch die Teilungen Polens geprägt. Teile Polens, die an Russland fielen, mussten sich mit der zaristischen Judenpolitik auseinandersetzen, die, gezielt liberal, die polnischen Juden an das Zarenreich binden sollte. Für die polnischen Nationalisten konnten dadurch die Juden ge-

164 Vgl. Ch. Schulte: Die jüdische Aufklärung, S. 18f. 165 Vgl. Marcin WodziĔski: Haskalah and Hasidism in the Kingdom of Poland. A History of Conflict, übers. v. Sarah Cozen. Oxford, Portland: The Littman Library of Jewish Civilization 2003, S. 38. Nach WodziĔski waren auch führende jüdische Aufklärer wie Samuel Münchheimer, Natan Glücksberg oder die Brüder Jakub und Józef Epstein Freimauerer (vgl. ebd.). 166 Vgl. ebd., S. 40. 167 Vgl. ebd., S. 48f.

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meinsam mit den Russen zum Feindbild stilisiert werden.168 Dieser Nexus zwischen Juden und Russen in seiner Funktion der nationalen Selbstbestimmung gegen die Juden wird später als der zwischen Juden und Kommunisten weitergeführt und manifestiert sich in dem Stereotyp der Judeäo-Kommune.169 Die gesellschaftliche und ökonomische Stellung der meist um die sogenannte Deutsche Synagoge in Warschau angesiedelten Maskilim war verhältnismäßig gut, weshalb sie kaum einen Zugang zu den Problemen hatten, mit denen Juden in kleineren, ländlichen Gemeinden konfrontiert wurden, in denen sie der Diskriminierung ihrer christlichen Nachbarn ausgesetzt waren.170 So ist auch in Polen die Haskala keine einheitliche Bewegung, auch hier brodelt der Streit zwischen Assimilitionisten und den Bewahrern der jüdischen Identität, auch hier muss sich die Bewegung gegen christliche Argumente behaupten. Zwar gilt auch hier Moses Mendelssohn als Vater der Haskala, doch ist der Einfluss David Friedländers besonders nach dessen Abhandlung Über die Verbesserung der Israeliten im Königreich Pohlen, die im Auftrag des Bischofs von Kujawy, Franciszek Malczewski, entstand, sehr groß. Malczewski trat als Repräsentant des Staatsrats (Rada Stanu) mit der Bitte an Friedländer, einen Kommentar zum geplanten Reformgesetz abzugeben, das die unsichere Situation der Juden rechtlich regeln sollte. In dem 1819 veröffentlichten Bericht schlägt Friedländer weitreichende Reformen vor: die Einführung obligatorischen Polnischunterrichts in den jüdischen Schulen, verpflichtende Kleiderordnung und eine radikale Beschneidung der Autonomie der Kahal.171 Friedländer prägte durch sein Traktat, in dem er seine Schilderung der polnischen Juden hauptsächlich der Autobiographie Salomon Maimons und seinen eigenen Reiseeindrücken entnimmt, entscheidend das Bild der abergläubischen und rückständigen Chassidim, das sich im Stereotyp des ‚Ostjuden‘ verdichtet. Die Kritik an der Lebensweise dieser orthodoxen Juden, die an Wunder glaubten, Amuletthandel be-

168 Vgl. Agnieszka Pufelska: Die „Judäo-Kommune“. Ein Feindbild in Polen. Das polnische Selbstverständnis im Schatten des Antisemitismus 1939-1948. Paderborn: Schöningh 2007, S. 38. 169 Neben der Arbeit von Agnieszka Pufelska vgl. auch Krystyna Kersten: Polacy – ĩydzi – komunizm. Anatomia półprawd 1939-1968 [Polen-Juden-Kommunismus. Anatomie der Halbwahrheiten 1939-1968 - übers. v. P.W.]. Warszawa: NiezaleĪna Oficyna Wydawnicza 1992 und Joanna Michlic: „ĩydokomuna: anti-Jewish images and political tropes in modern Poland“, in: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts 4 (2005), S. 303-329. 170 Ebd., S. 46. 171 Vgl. ebd., S. 73.

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trieben und einer Mischung aus kabbalistischen Lehren und neoplatonistischen Ideen nachgingen, wurde dankbar von christlichen Autoren wie Jan Alojzy RadomiĔski und Julian Ursyn Niemcewicz aufgegriffen.172 Letzterer verfasste 1821 einen Briefroman Lejbe und Siora, in dem sich all diese Motive und Vorurteile wiederfinden. In der an den Leser gerichteten Vorrede lässt Niemcewicz keinen Zweifel an seinem Standpunkt in der polnischen Judenfrage: „Fremdes Volk, das über die gesamte Fläche unseres Landes zerflossen ist, das ein Sechstel unserer gesamten Bevölkerung darstellt und nahezu die gesamte Bevölkerung kleinerer Orte, ein Volk, das nicht nur der Glauben, sondern auch die Sprache, Kleidung, Sitten trennen, ein Volk, das von dem rechten Orden Moses‫ ތ‬abgekommen, getränkt ist von dem wilden Aberglauben seiner Erbittertsten, die zivilen Gesetze nicht anerkennt, nicht die Gerichte, die Christen nicht als Nächste, nicht als Menschen, das seinen Jungen seit der Kindheit seinen Hass auf uns einschärft, kurz ein Volk, das ein gefährlichen statum in statu bildet.“173

In der Aufklärung sieht Niemcewicz offenbar eine Möglichkeit, diesen Staat im Staate aufzulösen und die Juden näher an die polnische Gesellschaft und ihre Strukturen zu binden – was als ein unidirektionaler Prozess zu verstehen ist. So beschreibt in seinem Roman die Jüdin Siora die eigene Aufklärung als Abkehr von der unvernünftigen und unpragmatischen Tradition und vor allem von der traditionellen Bildung und Sprache: „In drei Jahren haben mich Lejbes Bemühungen mich zu erleuchten mehr nützliche und vernünftige Dinge gelehrt als alle bachurs in sieben Jahren mühevollen Studiums über Büchern lernen, die, da sie selbst nicht verstanden, nie verstehen werden. Und wenn es keinen anderen Nutzen gäbe wie den, mein Lejbele! dass ich dir schreiben kann, meine Ge-

172 Vgl. M. WodziĔski: Haskalah and Hasidism, S. 73. 173 Julian Ursyn Niemcewicz: Lejbe i Siora, czyli listy dwóch kochanków (oder die Briefe zweier Liebenden). Kraków: Universitas 2004, S. 5.: „Lud obcy, rozlany po całej przestrzeni kraju naszego, składający szóstą czĊĞü ludnoĞci naszej ogólnej, a całą prawie ludnoĞü miast pomniejszych, lud oddzielny nie tylko wiarą, ale jĊzykiem, ubiorem, obyczajami, lud, co odbiegłszy prawego zakonu MojĪesza napoił siĊ dzikimi zagorzelcow swoich przesądami, nie uznaje praw cywilnych, ni sądow krajowych, nie uznaje chrzeĞcijan za bliĨnich, za ludzi, co z dzieciĔstwa wpaja w młodzieĪ swoją zawziĊtą ku nam nienawiĞü, słowem lud składający niebezpieczne statum in statu“[Übers. v. P.W.]

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fühle offenbaren kann, das ist eine unbegreifliche Wonne. Was hätte ich schon ausdrücken können in dieser verletzten deutschen Sprache, die mit hebräischen Lettern geschrieben und die wir die jüdische Sprache nennen? […] Die Muttersprache ist die Sprache der Erde, auf der der Mensch geboren: Wir sind in Polen geboren, Polnisch ist also unsere Muttersprache; diese sollen wir schreiben und in dieser sprechen.“174

Beide Zitate spiegeln die Angst vor der Andersheit der Chassidim, die sich hier als aktive Bedrohung für das abstrakte polnische ‚Wesen‘ und den konkreten polnischen Staat artikuliert. Zugleich liefert Niemcewicz eine Lösung durch die Aufklärung, die er als Assimilation begreift: das Annehmen der polnischen Sprache, der Sitten und der Gesetze. Das manifestiert sich in seinen Figuren, die dichotom gestaltet sind. Dem Aufklärer Lejbe, der durchweg positiv besetzt ist, wird der Chassid Jankiel gegenübergestellt, der genau den Typus verkörpert, den Niemcewicz in der Vorrede als einen „Erbittertsten“/„zagorzalec“ tituliert: einen durchtriebenen, religiösen Fanatiker. Jankiel und seinesgleichen wird unterstellt, das jüdische Volk absichtlich in ihrem Bann und in Unwissenheit zu halten, um es zu unterdrücken. Die judenfeindlichen Vorurteile finden hier ein konkretes Ziel, die religiösen Führer, während dem Rest der jüdischen Gemeinden jegliche Urteilskraft abgesprochen wird. Die hier artikulierten Vorurteile der Unvernunft und Barbarei, eines zivilisatorischen Rückstandes im Sinne der Aufklärung, sind auch genau diejenigen, die im Westen bis ins 20. Jahrhundert hinein auf ‚Ostjuden‘ projiziert werden. Als besonders hartnäckiger Beweis der Unvernunft erweist sich die Geschichte vom Messias Sabbatai Zwi, dessen sabbatinische Lehren im 17. Jahrhundert in Polen Verbreitung fanden. Diese historische Begebenheit wird in Jakob Wassermanns Roman Die Juden von Zirndorf literarisch ausgestaltet. Sabbatais Lehren, die im Text von den Figuren Zacharias Narr und der betörenden Zirle verbreitet werden, folgen blind die Fürther Juden. Auf dem Weg ins gelob-

174 Ebd., S. 10: „Przez trzy lata trudy Lejby nad oĞwieceniem moim nauczyły miĊ wiĊcej rozsądnych i potrzebnych rzeczy, niĪ siĊ nauczą wszystkie bachury nasze przez lat siedem mozolnego mĊczenia siĊ nad ksiĊgami, ktorych, Īe nie są zrozumiane, nie zrozumieją nigdy. Niech innej nie byłoby korzyĞci, jak ta, Īe miły mój Lejbele! Pisaü do ciebie, wynurzyü ci czucia moje mogĊ, jakaĪ juĪ niepojĊta rozkosz. I coĪ bym wyraziü mogła w tej pokaleczonej niemczyĨnie, pisanej hebrajskimi literami, którą my jĊzykiem ĩydowskim zowiemy? […] Rodowitym kaĪdego jĊzykiem jest jĊzyk tej ziemi, na ktorej siĊ człowiek urodził: my siĊ rodzili w Polszcze, polska wiĊc mowa jest ojczystą mową naszą; tą piszmy, w tej rozmawiajmy.“ [Übers. v. P.W.]

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te Land erfahren sie von Sabbatais Flucht nach Konstantinopel und seiner Konversion zum Islam und beenden enttäuscht ihre Reise in Zirndorf.175 Auch Wassermann projiziert die Leichtgläubigkeit und Unvernunft auf das jüdische Volk, zumal er nicht nur das Thema Sabbatai Zwi heranzieht, sondern auch die bereits genannte mittelalterliche Überlieferung vom falschen Messias aufnimmt. Diese Motive sind bei Wassermann jedoch nicht als Ausdruck eines ‚jüdischen Selbsthasses‘ zu verstehen. Der große historische Bogen, der zwischen der Vorgeschichte im 17. und der eigentlichen Handlung im 19. Jahrhundert gespannt wird, liest sich – wie Gunnar Och im Nachwort beschreibt – als eine Leidensgeschichte, in der „wiederholt der Verfolgung und Unterdrückung der Juden gedacht wird“.176 Das Judentum von Wassermanns Gegenwart ist gespalten in die verlorengegangene Tradition im Osten und das neue, assimilierte Judentum. „Der Jude wurde ein Kulturmensch und manche sagen zum Schein“177 – dieser Satz erfasst den Kern der jüdischen Problematik: Durch die Assimilation haben viele eine Anbindung an ihre Tradition verloren, und dennoch werden sie von der Gesellschaft, in der antisemitisches Denken gerade salonfähig wird, als maskierte Fremde wahrgenommen. Neben Wassermann machen in etwa derselben Zeit auch Joseph Roth, Arnold Zweig oder Karl Emil Franzos das Ostjudentum mit unterschiedlichen Vorzeichen zum Thema ihres literarischen Schaffens.178 Das Stereotyp, das mit dem Begriff ‚Ostjude‘ chiffriert wird, ist deckungsgleich mit dem ‚Betteljuden‘ oder ‚Kaftanjuden‘. Die Vorurteile, die sich hier verdichten, zählt Heiko Haumann auf: „Der schmutzige unzivilisierte Jude im verschlissenen, schlotternden Kaftan, mit dem bis auf die Schultern in Spiralen herabbaumelnden Schläfenlocken, nach Zwiebel und Knoblauch stinkend, der Bettler, Taschendieb und Zuhälter, stehe der Assimilation im Wege, ja sei für den Antisemitismus verantwortlich.“179 Neben diesen Begriffen existiert eine Metapher, die komplexer ist: der Luftmensch.180 Luftmensch wird als pejorative Fremdbeschreibung verwendet, aber

175 Jakob Wassermann: Die Juden von Zirndorf. Mit einem Nachwort von Gunnar Och. Cadolzburg: ars vivendi 1995. 176 Ebd., S. 282. 177 Ebd., S. 64. 178 Vgl. Eva Raffel: Vertraute Fremde. Das östliche Judentum im Werk von Joseph Roth und Arnold Zweig. Tübingen: Gunter Narr 2002. 179 Heiko Haumann: Geschichte der Ostjuden. München: dtv ²1990, S. 112. Assimilierte Juden wurden im Gegensatz zu den „Kaftanjuden“ als „Krawattenjuden“ bezeichnet. 180 Vgl. Nicolas Berg: Luftmenschen. Zur Geschichte einer Metapher. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2008, ders.: „Bilder von ‚Luftmenschen‘ – Über Meta-

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auch als eine ambivalent besetzte Selbstbeschreibung. In ihr kommen Erfahrungen der Armut und Wurzellosigkeit zusammen, sie nimmt jedoch auch auf die jüdische Gelehrtentradition Bezug.181 Besonders in Deutschland dienen die Begriffe dazu, ein klares Gegenteil zum deutschen Selbstbild zu konstruieren. Der umherirrende jüdische Nichtstuer oder Händler ist nach Trude Maurer eine Gegenprojektion zum Bauern, der als „Verkörperung des deutschen Volkscharakters im 19. Jahrhundert“ konzipiert ist.182 Wie in Deutschland so ist auch in Polen die Assimilation Voraussetzung für eine bürgerliche Gleichstellung, wenngleich es auch hier Stimmen gibt, die Juden als ein genuin fremdes Volkstum bezeichnen, da sie kein polnisches Blut hätten.183 In diesem Kapitel sollte zweierlei deutlich werden. Zum einen die besondere Rolle der Aufklärung für die Entwicklung der jüdischen Stereotype, zum anderen die Schwierigkeiten einer angemessenen Analyse des Gegenstandes, die der Auflösung der Stereotype geschuldet ist, die in ebendieser Aufklärung begann. Im folgenden Kapitel sollen mögliche Methoden im Hinblick auf ihre Eignung für die Analyse des vorliegenden Untersuchungsgegenstandes diskutiert sowie das Instrumentarium für das weitere Vorgehen vorgestellt werden.

pher und Kollektivkonstruktion“, in: Dan Diner (Hg.), Synchrone Welten. Zeitenräume jüdischer Geschichte. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2005, S. 199-224, Heiko Haumann: Geschichte der Ostjuden. München: dtv ²1990, ders. (Hg.): Luftmenschen und rebellische Töchter. Zum Wandel ostjüdischer Lebenswelten im 19. Jahrhundert. Köln et al: Böhlau 2003, hier insbesondere: Desanka Schwara: „Luftmenschen – Ein Leben in Armut“, S. 71-223. Obwohl der Begriff Luftmensch im Deutschen in Vergessenheit geraten ist, existiert er noch als „luftmensh“ im Englischen. Größen der jüdisch-amerikanischen Literatur wie Philip Roth und Saul Bellow machten ihn in ihren Arbeiten wiederholt zum Gegenstand. Vgl. N. Berg: Luftmenschen, S. 48. 181 Inhaltlich ausführlicher wird auf den Begriff in den Kapiteln 2.2.1. und 2.3.1. eingegangen. 182 T. Maurer: Ostjuden, S. 105f. 183 Vgl. H. Haumann: Geschichte der Ostjuden, S. 70.

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1.3

D AS S TEREOTYP ALS M ETAPHER – METHODISCHE Ü BERLEGUNGEN Saying the Cowboy need a Pearl Harbor like his man Schicklgruber need the Reichstag, so they let the dogs out. Ate commies, union people, most heavy on the Jews. AMIRI

BARAKA/POST-

AND

PRE-MORTEM

DIALOGUE

Der im vorhergehenden Kapitel dargelegte literaturhistorische Abriss verfolgte neben der Absicht, grundlegende Vorbedingungen der weiteren Analyse zu schaffen, vor allem auch das Ziel, die Vielfalt der jüdischen Topoi in der Literatur zu porträtieren und auf ihre Heterogenität hinzuweisen. Im Kontrast zu dieser Variationsbreite an Vorstellungen wurde (und wird) oft sowohl in der stereotypisierenden Alltagssprache als auch in biologistischen und Rassediskursen im Kollektivsingular von ‚dem Juden‘ gesprochen. Das verallgemeinernde Sprechen hat einen Ursprung in der Vorstellung eines als Substanz gedachten kollektiven jüdischen Wesens oder Charakters.184 Besonders problematisch erscheint dabei, dass die Gemengelage der Bilder nicht nur vielfältig, sondern vor allem auch ambivalent ist, sodass ‚der Jude‘ als Kapitalist und Kommunist, als weibisch und hyperpotent, als traditionsverbundener und rückständiger Ostjude wie auch als mondäner und degenerierter Urbantyp besetzt werden kann. Julia Schäfer beschreibt den Prozess, in dem sämtliche (in sich schon stereotype) Erscheinungsformen unter ein konstruiertes Paradigma gebracht werden, das anschließend als sogenannter jüdischer Typus begriffen wird, als einen gewaltsamen Akt. Da der Prozess der Zuweisung im Ergebnis nicht mehr sichtbar ist, „geriert er sich als repräsentatives Porträt“185 und impliziert somit Faktizität. Eine Untersuchung jüdischer Stereotype186 muss diesen Prozess der Zuweisung berücksichtigen und zeigen, welche Mechanismen bei der Generierung der

184 Vgl. P. Berghoff: „‚Der Jude‘ als Todesmetapher des ‚politischen Körpers‘ und der Kampf gegen die Zersetzung des nationalen ‚Über-Lebens‘“, in: ders./P. Alter/C.-E. Bärsch, Die Konstruktion der Nation gegen die Juden (1999), S. 159-172, hier S. 172. 185 Julia Schäfer: Vermessen-verlacht-gezeichnet. Frankfurt a. M.: Campus 2005, S. 109. 186 Unter dem Begriff „Stereotyp“ fasse ich jetzt und im Folgenden alle Formen antisemitischer Ressentiments, Denkbilder und Vorurteile zusammen. Der Notwendigkeit

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stereotypen Vorstellungen maßgeblich beteiligt sind. Das lässt sich im Ansatz in der Darstellung der historischen Genese bewerkstelligen. Doch weisen Herangehensweisen der historischen Stereotypenforschung oder der Imagologie hierbei deutliche Mängel auf, wie dies Heinz-Peter Preußer konstantiert: „Die Stereotype kippen, verkehren sich zum Gegenteil des Intendierten. Das ist genau der Punkt, an dem Mythen transkulturell gelesen werden können und nicht mehr dem weitgehend starren Schema von Hetero- und Autoimages folgen, wie es die herkömmliche Xenologie oder Interkulturalitätsforschung etabliert haben.“187

Die historische Stereotypenforschung liefert zwar einen Überblick der Motive und interessiert im Hinblick auf die Persistenz einzelner Stereotype, doch ist ihre Ausrichtung im vorliegenden Zusammenhang nicht hilfreich, wenn als „zentrales Anliegen die Untersuchung von Informationsgehalt und Realitätsbezug eines Stereotyps“188 dargelegt wird. Nach Ruth Florack dränge sich dabei der Eindruck auf, es gehe um „Meinungsforschung auf Basis literarischer Texte“.189 So kritisieren Jürgen Link und Wolf Wülfing auch die imagologische Image-/Mirageforschung vor allem auf ihre Ausrichtung auf die Realität hin, die sowohl innerdiskursive Bezüge vernachlässige als auch die „Applikation rein diskursiver Strukturen in die Realität“190 übersehe. So kann Imagologie, als eine Untersuchung der Genese und Wirkung nationenbezogener Hetero- und Autoimages verstanden,191 die explizit nach der „Darstellung fremder Länder, Völker und

der Differenzierung dieser Phänomene, auf die M. Schwarz-Friesel und J. Reinharz hinweisen (Die Sprache der Judenfeindschaft im 21. Jahrhundert. Berlin: De Gruyter 2012, S. 106-115), sei damit keinesfalls widersprochen, doch berührt sie nicht das Anliegen der Arbeit und ist für die Erarbeitung der Strategien zunächst unerheblich. 187 H.-P. Preußer: Europäische Phantasmen des Juden, S. 337. 188 Hans-Henning Hahn/Eva Hahn: „Nationale Stereotypen. Plädoyer für eine historische Stereotypenforschung“, in: Hans-Henning Hahn/Stephan Scholz (Hgg.), Stereotyp, Identität und Geschichte. Die Funktion von Stereotypen in gesellschaftlichen Diskursen. Frankfurt a. M. et al: Lang 2002, S. 17-56, hier S. 24. 189 R. Florack: Bekannte Fremde, S. 33. 190 Jürgen Link/Wulf Wülfing: „Einleitung“, in: dies. (Hgg.), Nationale Mythen und Symbole in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Strukturen und Funktionen von Konzepten nationaler Identität. Stuttgart: Klett-Cotta 1991, S. 7-15, hier S. 8. 191 Vgl. Manfred S. Fischer: „Literarische Imagologie am Scheideweg. Die Erforschung des ‚Bildes vom anderen Land‘ in der Literatur-Komparatistik“, in: Günther Blai-

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Kulturen in der Literatur“192 fragt, einen nur schwachen Beitrag zur leitenden Fragestellung der hier vorliegenden Arbeit leisten. Stoffgeschichtliche Untersuchungen von Stereotypen verweisen auf die historische Verankerung dieser zu Kollektivsymbolen gewachsenen Bilder und können zu Fragen nach deren Integrationsleistung führen. Doch eine Untersuchung von Strategien der Demontage heterogener Kollektivsymbole muss in einem breiteren diskursiven Zusammenhang geschehen. Zwar werden systemische Zusammenhänge auch innerhalb der komparatistischen Imagologie eingeräumt,193 doch ist die Einordnung statisch, nicht diskursiv. Sie geht von gesetzten Images aus, die ikonisch wirken. Wenngleich ihre Vielschichtigkeit konstatiert wird, so können die von Preußer beschriebenen Modifikationen und ihre Dynamik nicht von dieser Methode erfasst werden. Die in sich schon ambivalente Konstruktion der einzelnen Topoi mit den oftmals divergenten Eigenschaften erzeugt eine Offenheit des Stereotyps, die es einer Etikettierung unzugänglich macht. Vor allem jedoch zielt die Fragestellung der hier vorliegenden Arbeit auf eine andere Funktion von Literatur, sodass auch die in der interkulturellen Hermeneutik virulenten Fragen nach der Erkenntnisgewissheit und dem Verstehen des Fremden hier irrelevant erscheinen. Trotz des gemeinsamen konstruktivistischen Ansatzes scheint immer ein Zusammenhang von Realwahrnehmung und literarischer Umsetzung im Vordergrund der Methoden zu stehen. Die Grunddifferenz zur vorliegenden Arbeit besteht in der unterschiedlichen Fokussierung der Fragestellung. So orientiert sich die Analyse weniger am Umgang mit dem Fremden (also einer faktisch anderen Nation/Ethnie etc.) und der Frage nach Fremd- und Selbstbildern sowie ihrer gegenseitigen Abhängigkeit. Vielmehr werden hier Strategien verhandelt, mit denen sich die Literatur als Interdiskurs in den öffentlichen Diskurs einschalten kann: Durch literaturspezifische Mittel und Strategien vermag sie, das Kollektivsymbol ‚Jude‘ als kognitives Konzept, nicht als faktische Realität zu destabilisieren. Ein solches Vorgehen erfordert auch eine prinzipielle Beschäftigung mit Konzepten, die ein gegebenes Judenbild generieren. Das Konzept des Kollektivsymbols bietet das Ausgangspotential zu einer derart gelagerten Fragestellung. Die Entwicklung des Bildes vom ‚Juden‘, das

cher (Hg.), Erstarrtes Denken. Studien zu Klischee, Stereotyp und Vorurteil in englischsprachiger Literatur. Tübingen: Narr 1987, S. 55-71, hier S. 56. 192 Manfred Beller: „Das Bild des Anderen und die nationalen Charakteristiken in der Literaturwissenschaft“, in: ders. (Hg.), Eingebildete Nationalcharaktere. Vorträge und Aufsätze zur literarischen Imagologie. Göttingen: V & R unipress 2006, S. 2147, hier S. 21. 193 Th. Bleicher: Elemente einer komparatistischen Imagologie, S. 16.

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sich durch eine enorme Verbreitung zum Kollektivsymbol entfaltete, reicht zwar bis in die Antike zurück, doch sind uns seine einzelnen Bildvarianten heutzutage insbesondere von der Propaganda des 19. und frühen 20. Jahrhunderts her vertraut. Wiewohl Wolfgang Benz feststellt, „[d]ie Stereotypen vom Wucherer, vom Weltverschwörer, vom Geizhals, vom Krummbeinigen mit der Judennase, vom Fremden sind lebendig, ohne einer materiellen Konfiguration zu bedürfen“, so muss ergänzt werden, dass die planmäßige Verbreitung dieser Stereotypen im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert durch Hetzschriften, Trivialromane und Karikaturen einen wesentlichen Beitrag zur Verfestigung des Bildes zu einem Kollektivsymbol leistete, dem der Antisemitismus seinen Aufschwung zum „kulturelle[n] Code“194 verdankte. Mit Jürgen Link ließe sich sagen, dass das Kollektivsymbol ‚Jude‘ des ausgehenden 19. Jahrhunderts Teil des „synchrone[n] System[s] von Kollektivsymbolen“195 war, das sich aus disparaten Symbolen aus den Bereichen Biologie, Sexualität, Bakteriologie, Medizin, Religion (hier besonders Eschatologie) und Magie speiste und vor allem den Rassediskurs regelte. Das willkürliche und gleichzeitige Aufrufen der unterschiedlichen Bereiche im Diskurs, was sich in den heterogenen und ambivalenten ‚Bildern vom Juden‘ niederschlägt, bezeichnet Link als „Katachresen-Mäander“.196 Hans-Gerd Henke stellt in seiner Untersuchung zum ‚Juden‘ als Kollektivsymbol fest, dass die Stereotypenverbreitung Mitte des 19. Jahrhunderts in entscheidender Weise durch die Romane Soll und Haben von Gustav Freytag und Der Hungerpastor von Wilhelm Raabe beeinflusst wurde. Ruth Klüger hält insbesondere den letzteren, nach Freytags Vorbild entstandenen Roman für ein ausdrückliches Beispiel der Säkularisierung des Judenhasses und fasst zusam-

194 Vgl. Shulamit Volkov: „Antisemitismus als kultureller Code“, in: dies., Jüdisches Leben und Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert. 10 Essays. München: Beck 1990, S. 13-36. 195 Zum Begriff des „synchronen Systems von Kollektivsymbolen“ und dessen Beziehung zum Diskursbegriff vgl. J. Link/W. Wülfing: „Über ein Modell synchroner Systeme von Kollektivsymbolen sowie seine Rolle bei der Diskurs-Konstitution“, in: dies. (Hgg.), Bewegung und Stillstand in Metaphern und Mythen: Fallstudien zum Verhältnis von elementarem Wissen und Literatur im 19. Jahrhundert. Stuttgart: Klett-Cotta 1984, S. 63-99. 196 Zum Begriff des Katachresen-Mäanders vgl. Axel Drews, Ute Gerhard und J. Link: „Moderne Kollektivsymbolik – eine diskurstheoretisch orientierte Einführung mit Auswahlbibliographie“, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur. 1. Sonderheft Forschungsreferate (1985), S. 256-375, hier S. 265.

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men: „Das Melodram um Gut und Böse könnte nicht dicker aufgetragen werden und ist umstandslos auf christlich/jüdisch verteilt.“197 Die Verbreitung beider Werke trug zur Popularisierung eines Judenbildes bei, das ein entgegengesetztes Bild vom Deutschen implizierte, „die einen häßlich und hassenswert, die anderen schön und erhaben“.198 Das im 19. und frühen 20. Jahrhundert entstandene Bild vom ‚Juden‘ als Kollektivsymbol ist bis heute als ein solches im kollektiven Bewusstsein verankert, wie Untersuchungen zum gegenwärtigen Antisemitismus und aktuelle Debatten verdeutlichen. Wenn also beispielsweise Wissenschaftler wie John Mearsheimer und Stephen Walt in ihrem Buch Die Israel Lobby von 2007 ihre Politikkritik in das Gewand einer Verschwörungstheorie kleiden, so greifen sie auf die Idee der jüdischen Weltverschwörung zurück.199 Wenngleich den Autoren selbst dieser Bezug nicht klar sein sollte, so rufen sie damit bei den Rezipienten Vorstellungen auf, welche durch die seinerzeit sehr verbreiteten, angeblich authentischen Protokolle der Weisen von Zion ins kollektive Bewusstsein gelangten und dort bis heute wirken. Selbst Positionen wie die von Tony Judt, der den an Walt und Mearsheimer gerichteten Antisemitismusvorwurf für unsinnig hält,200 setzen sich dabei unweigerlich mit dem Stereotyp und seinen Implikationen auseinander. Es erweist sich als nahezu unmöglich, sich einem kulturell und diskursiv so tief verankerten Konzept zu entziehen. Zu ähnlichen Ergebnissen gelangt auch Henke in seiner Untersuchung, wenn er bezüglich des sozialdemokratischen Diskurses, hier exemplarisch durch die

197 R. Klüger: „Die Säkularisierung des Judenhasses am Beispiel von Wilhelm Raabes ‚Der Hungerpastor‘“, in: M. Bogdal/K. Holz/M. N. Lorenz, Literarischer Antisemitismus nach Auschwitz (2007), S. 103-110, hier S. 107. 198 Hans-Gerd Henke: Der ‚Jude‘ als Kollektivsymbol in der deutschen Sozialdemokratie 1890-1914. Mainz: Decaton 1994, S. 33. 199 Der Vorwurf ergibt sich unter anderem aus dem Mangel einer objektiven wissenschaftlichen Perspektive und einer stark vereinheitlichenden Tendenz: „Im Endeffekt wird aber jeder Versuch der Einflussnahme auf die amerikanische Außenpolitik, der im Sinne israelischer Interessen gedeutet werden kann, der ‚Israel-Lobby‘ zugeschrieben.“ Vgl. Thomas Risse: „Klassischer Zirkelschluss. Die Israel-Lobby: Eine Theorie der Verschwörung“, in: Süddeutsche Zeitung vom 18.09.2007, S. 14. Bemerkenswert ist, dass, obwohl Risse selbst den Antisemitismusvorwurf für nicht stichhaltig hält, er in seiner Überschrift die Assoziation zur Verschwörungstheorie aufruft. 200 Vgl. hierzu beispielsweise Tony Judt im Interview: „Natürlich gibt es eine IsraelLobby in den USA“, in: TAZ vom 12.9.2007, S. 12.

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Rede August Bebels in Köln repräsentiert, feststellt: „Obwohl diese in keiner Zeile eine antisemitische Intention erkennen läßt, sondern im Gegenteil zu den großen soziologisch fundierten Analysen des Antisemitismus gezählt werden kann, kommt sie doch nicht ohne Metaphern aus dem hegemonialen Diskurs aus.“201 Ein weiteres bemerkenswertes Phänomen ist offenbar die Tatsache, dass gesellschaftliche Tabuisierung von Themen, Positionen und Diskursen diese Topoi nicht aus dem kollektiven Bewusstsein zu tilgen vermag, sondern geradezu den umgekehrten Effekt besitzen kann. Wie George Lakoff und Elizabeth Wehling in ihrem Buch Auf leisen Sohlen ins Gehirn beschreiben, hat ein Denkverbot genau die umgekehrte Wirkung: Das Konzept des Untersagten wird augenblicklich ex negativo wachgerufen.202 Das Stereotyp ‚Jude‘ als Kollektivsymbol zu begreifen heißt, die gesellschaftliche Relevanz eines vorurteilsbeladenen Bildes anzuerkennen, das immer noch im kollektiven Bewusstsein verankert ist. Das Kollektivsymbol kann in Bezug auf den kollektiven Träger (Juden) als eine Konkretisierung des weiten und uneinheitlichen Stereotypenbegriffes verstanden werden: „Das Stereotyp stellt ein Konzept/Schema dar, das eine ‚Personengruppe‘ als soziale Kategorie zur Bedingung hat, die mit ‚Eigenschaften/Verhaltensweisen‘ als Merkmalen (Schemawerte) verbunden ist. Weder Träger allein noch die Merkmale gesondert sind als Stereotype anzusehen.“203

Das hier als eine „Wissensstruktur“204 definierte Stereotyp lässt sich als übergeordnete Kategorie verstehen, unter die das personengruppenbezogene Kollektivsymbol ‚Jude‘ fallen würde. Das Kollektivsymbol als ein Spezialfall des Stereotyps verweist auf die komplexe Struktur des Bildes des ‚Juden‘, die unvergleichbar großflächige (globale) Verbreitung wie auch die ihm innewohnende destruktive Kraft205 und lässt eine Begriffsschärfung zu. Die von Pümpel-Mader

201 H.-G. Henke: Der ‚Jude‘ als Kollektivsymbol in der deutschen Sozialdemokratie, S. 100. 202 Vgl. George Lakoff/Elisabeth Wehling: Auf leisen Sohlen ins Gehirn. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme 2008, S. 76 ff. 203 Maria Pümpel-Mader: Personenstereotype: eine linguistische Untersuchung zu Form und Funktion von Stereotypen. Heidelberg: Winter 2010, S. 12. 204 Ebd. 205 Magdalena Telus verweist auf die kognitive Funktion von gruppenbezogenen Stereotypen als Handlungsgrundlage. Vgl. M. Telus: „Einige kulturelle Funktionen grup-

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als konstitutiv (jedoch keineswegs konsensuell206) beschriebene TrägerMerkmal-Struktur ist dabei entscheidend. Zwar werden einige Merkmale des Stereotyps ‚Jude‘ auch anderen Gruppen zugeschrieben: So wird beispielsweise Hypersexualität sowohl Franzosen als auch Afrikanern unterstellt, und der Kapitalismusvorwurf ist fester Bestandteil nicht nur des Antisemitismus, sondern auch des Antiamerikanismus. Im Bild ‚des Juden‘ kommen diese und andere Vorstellungen ungeachtet ihrer Ambivalenz zusammen. Da der Prozess der Zuweisung von Merkmalen, wie wir oben gesehen haben, im Ergebnis nicht mehr sichtbar ist, wirkt die Träger-Merkmal-Struktur wie eine unauflösbare Einheit mit Symbolfunktion. Wie Christina von Braun konstatiert, lässt sich ‚der Jude‘ deshalb als Signifikat und Signifikant zugleich verstehen: „Der Antisemitismus kann, weil ‚der Jude‘ ein ‚Signifikant‘ ist, der mit beliebigen Bedeutungen versehen werden und die unterschiedlichsten Gefühle wecken kann, hinter den unterschiedlichsten Masken daherkommen – darunter auch der, dass der ‚assimilierte Jude‘ eine Maskierung sei, hinter der er sein ‚wahres Gesicht‘ verberge.207

Eine mögliche Strategie der Demontage von Stereotypen kann auf diese totalitär imaginierte Struktur abzielen. Die imaginäre Totalität von Träger und Merkmal wird dabei offengelegt und aufgelöst, wie es im Verlauf dieser Arbeit zu zeigen sein wird. Der Begriff des Kollektivsymbols verhilft also nicht nur einer Begriffsschärfung auf den Gegenstand hin, sondern ermöglicht es auch, seine Eigenheiten angemessen zu berücksichtigen und die Merkmalvielfalt und -diversität zu vereinen. Problematisch erscheint jedoch weiterhin die Analyse eines Konzepts, das so vielschichtig und ambivalent ist, wie das ‚des Juden‘. Wie sich im vorhergehenden Kapitel gezeigt hat, treten bereits in der voraufklärerischen Literatur Stereotype selten als Reinformen auf. Die zunehmende Komplexität des literarischen Schreibens bis in die Gegenwart hinein geht gänzlich von der Abbildung festumrissener Stereotype mit einer zugewiesenen Funktion weg, hin zu komplexen Charakteren, die dennoch als bloße Konglomerate stereotyper

penspezifischer Stereotype“, in: Zeitschrift für empirische Textforschung 1 (1994), S. 33-39, hier S. 34. Im Falle der jüdischen Stereotype besteht der Handlungsbedarf in der Abwehr oder der Exklusion. 206 Pümpel-Mader betont den fehlenden Konsens in der Forschung bezüglich einer einheitlichen Definition des Stereotypenbegriffes und stellt u. a. Positionen vor, die nur die Merkmale als Stereotype auffassen. Vgl. M. Pümpel-Mader: Personenstereotype, S. 12. 207 Ch. v. Braun: Einleitung, S. 18.

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Eigenschaften konzipiert sein können. Im Falle des Kollektivsymbols besitzt diese sich als imaginäre Totalität präsentierende Träger-Merkmal-Struktur metaphorischen Charakter.208 Die Totalität wird dabei durch die Verwendung von Metaphern erzeugt, die nicht mehr neu erscheinen, in ihrer Wahrnehmung also nicht irritieren. Diese konventionalisierten oder toten Metaphern werden als buchstäbliches Sprechen begriffen und können somit unerkannt in den alltäglichen Wortschatz eindringen. Sie täuschen dadurch das Vermögen vor, Realität objektiv und adäquat abzubilden. Dies lässt sich unter die Funktion der Komplexitätsreduktion der Kollektivsymbole fassen, die der Diskursintegration im Interdiskurs und damit einer weitreichenden Verständlichkeit verpflichtet ist: „Aufgrund ihres spezifischen Symbolcharakters erzeugen Kollektivsymbole rational wie auch emotional gefärbtes Wissen, weil und indem sie komplexe Wirklichkeiten simplifizieren, plausibel machen und damit in spezifischer Weise deuten.“209 Diese Möglichkeit der konventionalisierten Metaphern, komplexe und abstrakte Phänomene in vertraute und elementar verständliche Konzepte zu fassen, untersuchen George Lakoff und Mark Johnson in ihrem 1980 erschienenen Werk Metaphors We Live By, und sie vollführen damit gemeinsam mit anderen210 eine kognitive Wende der Metapherntheorie.211 Kognitive Metaphern werden von nun an nicht mehr als rein sprachliche oder gar pejorativ als deviante Erscheinungen begriffen, die ‚nur‘ uneigentliches Sprechen seien, sondern als aktiv an der Verarbeitung von Erfahrungen sowie an der Erkenntnisgewinnung beteiligte Phänomene. Entsprechend weit gefasst ist dabei der Metaphernbegriff, der unter anderem auch Alltagsanalogien umfasst. Der weite Geltungsbereich

208 Vgl. J. Link: Elementare Literatur und generative Diskursanalyse. München: Fink 1983, S. 27. 209 Margarete Jäger/Siegfried Jäger: Deutungskämpfe. Theorie und Praxis kritischer Diskursanalyse. Wiesbaden: VS 2007, S. 39. 210 Vgl. Andrew Ortony (Hg.): Metaphor and Thought. Cambridge: Cambridge Univ. Press ²1993 oder Richard P. Honeck/Robert R. Hoffmann (Hgg.): Cognition and Figurative Language. Hillsdale/NJ: Erlbaum 1980, um hier zwei der einflussreichsten Sammelbände zum Thema zu nennen. 211 Auf die kognitive Wirkung von Metaphern verweisen jedoch u. a. schon Max Black und Harald Weinrich. Olaf Jäckel weist die Idee eines kognitiven Verständnisses der Metapher schon bei Locke, Herder, Kant u. a. nach. Vgl. Olaf Jäckel: „Kant, Blumenberg, Weinrich: Some Forgotten Contributions to the Cognitive Theory of Metaphor”, in: Raymond W. Gibbs Jr./Gerard J. Steen (Hgg.), Metaphor in Cognitive Linguistics. Selected Papers from the Fifth International Cognitive Linguistic Conference Amsterdam, July 1997. Amsterdam/Philadelphia: Benjamins 1999, S. 9-27.

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des Begriffes macht eine Definition im Ausschlussverfahren einfacher: „to the extent that a concept is understood and structured on its own terms – without making use of structure imported from a completely different conceptual domain – we will say it’s not metaphorical.“212 Auf diese enorm erweiterten Begriffe des Metaphorischen und des Wörtlichen richten die Kritiker der Conceptual Metaphor Theory (im Folgenden als CMT bezeichnet) ihr Augenmerk. Diese vermeintliche Aufweichung ist auf die unterschiedlichen Ebenen zurückzuführen, die jeweils angesprochen werden, wie dies Juliane Goschler konstatiert: Auf der konzeptuellen Ebene sei die Unterscheidung zwischen konventionalisierten und nichtkonventionellen Metaphern hinfällig, wobei sie auf der linguistischen Ebene weiterhin bedeutend bleibe.213 Da jedoch eine literaturwissenschaftliche Arbeit kaum die linguistische Ebene unbeachtet lassen kann, soll die Verwendung des Metaphernbegriffes von Lakoff und Johnson innerhalb dieser Arbeit differenziert werden. Eine konzeptuelle Metapher soll folglich als ein übergeordnetes Konzept verstanden werden, dessen Struktur von einem anderen Konzept her zu verstehen ist und das sich überdies auf der sprachlichen Ebene in konventionalisierten Metaphern manifestiert. Die CMT untersucht die Fähigkeit dieser konzeptuellen Metaphern, kulturspezifische Weltdeutungen zu beschreiben, aber auch zu prägen und zu generieren. Zudem zeigen Lakoff und Johnson, wie diese Konzepte unser alltägliches Sprechen und Handeln beeinflussen. Um dies zu veranschaulichen, führen sie das Beispiel ARGUMENTIEREN IST KRIEG an. Diese konzeptuelle Metapher beleuchtet bestimmte Aspekte unseres Verhaltens in Debatten und verbirgt zur gleichen Zeit andere. Die „partielle Sichtbarmachung“214 ist ein konstitutives Merkmal konzeptueller Metaphern. ARGUMENTIEREN IST KRIEG lässt sich als basales Konzept verstehen, das sich aus den sprachlich verankerten metaphorischen Ausdrücken ableiten lässt, die wir in unserem Alltagssprechen über das Diskutieren verwenden.215 Eine solche Metaphernkette würde im vorliegenden Beispiel im Deutschen wie im Englischen wie folgt aussehen:

212 G. Lakoff/M. Turner: More than Cool Reason. A field Guide to Poetic Metaphor. Chicago: Univ. of Chicago Press 1989, S. 57. 213 Vgl. Juliane Goschler: Metaphern für das Gehirn: eine kognitiv-linguistische Untersuchung. Berlin: Frank & Timme 2008, S. 26. 214 G. Lakoff/M. Johnson: Leben in Metaphern. Konstruktion und Gebrauch von Sprachbildern. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme 142004, S. 21. 215 Im Unterschied zu den sprachlichen Manifestationen der konzeptuellen Metapher (den linguistischen metaphorischen Ausdrücken) werden die konzeptuellen Meta-

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„ARGUMENTIEREN IST KRIEG Ihre Behauptungen sind unhaltbar. Er griff jeden Schwachpunkt meiner Argumentation an. Seine Kritik traf ins Schwarze. Ich schmettere sein Argument ab. Ich habe noch nie eine Auseinandersetzung mit ihm gewonnen Sie sind anderer Meinung. Nun, schießen Sie los! Wenn du nach dieser Strategie vorgehst, wird er dich vernichten. Er machte alle meine Argumente nieder.“ „ARGUMENT IS WAR Your claims are indefensible. He attacked every weak point in my argument. His criticisms were right on target. I demolished his argument. I’ve never won an argument with him. You disagree? Okay, shoot! If you use that strategy, he’ll wipe you out. He shot down all of my arguments.“ 216

Nicht nur das Sprechen, auch unser Empfinden und soziales Handeln sind nach Lakoff und Johnson von dieser konzeptuellen Metapher durchdrungen, und wir verspüren nach einer Diskussion das Gefühl von Sieg oder Niederlage. Dieses Verständnis ist jedoch kulturell geprägt, sodass in einem anderen Kulturkreis das Konzept ARGUMENTIEREN von einem anderen Konzept her, wie beispielsweise TANZ, verstanden werden könnte.217 Konzeptuelle Metaphern lassen sich deshalb vor allem in der Politik finden, wo sie dazu dienen können, bestimmte Ideen durchzusetzen. Lakoff zeigt in einem Aufsatz, wie rasant sich nach dem 11. September 2001 die Metaphorik und das dazugehörige metaphorische Konzept veränderten. Wurde der Anschlag zunächst noch als Verbrechen bezeichnet, so bedienten sich die Sprecher binnen kurzer Zeit einer Kriegssemantik. So wurde direkt nach dem Anschlag von einem Verbrechen gesprochen. Es gab Opfer, Straftäter, die vor Gericht gebracht

phern als solche nicht verwendet. Vgl. Zoltàn Kövecses: Metaphor. A Practical Introduction. Oxford: Oxford Univ. Press 2002, S. 4-6. 216 G. Lakoff/M. Johnson: Leben in Metaphern, S. 12. und dies.: Metaphors We Live By. Chicago: Univ. of Chicago Press 2003, S. 4. 217 Vgl. dies.: Metaphors We Live By, S. 5.

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werden sollten. Diese Semantik beinhaltet Gerichte, Verhandlungen, Anwälte und vieles andere mehr. Binnen weniger Stunden, dominierte die Kriegssemantik. So wurde nun plötzlich von Feinden, Toten und Verletzten, Militärhandlungen und Kriegsmächten gesprochen.218 Der Wechsel des metaphorischen Konzepts lässt die anschließende politische Handlung gerechtfertigt erscheinen. Im Lichte des Konzeptes KRIEG ist der Angriff auf Afghanistan eine logische Konsequenz, die sich aus dem Konzept VERBRECHEN nicht ergeben hätte. Besonders wichtig im vorliegenden Zusammenhang ist die Unangreifbarkeit dieser Konzepte aus sich selbst heraus. So stellt es sich als Problem dar, wenn versucht wird, die Ideen oder Gesetzesvorschläge im Rahmen des bestehenden metaphorischen Konzeptes zu kritisieren. Eine Aussage wie „Ich bin gegen den Krieg gegen den Terror“ bestätigt die Tatsache, dass es einen Krieg gegen den Terror gibt, wirkt jedoch innerhalb des Konzepts unmoralisch und falsch, da sie denjenigen, der sie äußert, in den Verdacht geraten lässt, den Terror zu verteidigen.219 Die These der vorliegenden Arbeit geht nun davon aus, dass die Konstruktion des Juden als Kollektivsymbol in einem reziproken und dynamischen Verhältnis mit allgemeinen kulturellen Konzepten von Gesellschaft, Moral oder Individuum steht, die ihrerseits mithilfe von Kollektivsymbolen konzeptualisiert werden. Ebenso wie sich die meisten Konzepte, in denen wir leben, nicht aus sich selbst heraus verstehen lassen und in systemischem Zusammenhang mit anderen Konzepten stehen,220 lässt sich das Konzept JUDE nicht als hermetisch betrachten. Benachbarte oder übergeordnete Konzepte des Diskursfeldes haben einen entscheidenden Einfluss auf das Bild vom Juden. In dem Sammelband Die Konstruktion der Nation gegen die Juden zeigt Peter Berghoff in seinem Aufsatz ‚Der Jude‘ als Todesmetapher, wie die Imagination der Nation als lebenden Körper die metaphorische Stilisierung des Juden zu einer tödlichen Bedrohung ermöglichte und wie diese Metapher eine fatale Faktizität erlangte.221 Claus-

218 G. Lakoff: September 11, 2001. http://www.metaphorik.de/aufsaetze/lakoffseptem ber11.htm. Zuletzt bearbeitet 19.12.2009. (21.01.2010). Eine ganze Arbeit widmet dieser Thematik Susanne Kirchhoff: Krieg mit Metaphern. Mediendiskurse über 9/11 und den „War on Terror“. Bielefeld: Transcript 2010. 219 Vgl. G. Lakoff/E. Wehling: Auf leisen Sohlen ins Gehirn, S. 131 f. 220 Zur kulturellen Kohärenz vgl. G. Lakoff/M. Johnson: Metaphors We Live By, S. 22 ff. 221 Vgl. P. Berghoff: ‚Der Jude‘ als Todesmetapher.

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Ekkehard Bärsch222 behandelt im selben Band die religiöse Dimension des Nationalsozialismus und kommt zum Schluss, dass der heilsgeschichtlich ausgerichtete Nationalitätsbegriff auf eine Grunddichotomie von Gott und Satan oder Gut und Böse und einhergehende Erlösungsphantasien verweise; ein Ergebnis, das sich unter dem Paradigma des Mythos statt der Religion auch schon bei Ernst Cassirer nachlesen lässt: „There is always a negative and a positive pole in mythical thought and imagination. Even the political myths were incomplete so long as they had not introduced a demonic power. The process of deification had to be completed by a process that we may describe as ‚devilization‘.“223 Die Vielfalt der Konzepte, die zu einer Stigmatisierung oder Exklusion von Juden führen können, verdeutlicht zugleich die Vielzahl der Diskurse, die in die genannten Strategien einfließen. All diese Konzepte von Nation, Volksgemeinschaft oder Rasse sind metaphorisch strukturiert, in der Regel mit Hilfe von konventionalisierten Metaphern. Sie täuschen also Kohärenz vor und verbergen damit ihren Katachresen-Charakter, das heißt die Vielfalt und Ambivalenz der Kollektivsymbole, derer sie sich bedienen und dadurch unumgänglicherweise Bildbrüche produzieren. Bevor diese These hier weiter ausgeführt wird, soll darauf verwiesen werden, dass der Zusammenhang von CMT und der Theorie des Kollektivsymbols, der hier hergestellt wird, nicht willkürlich ist. In ihrem Forschungsbericht von 1997 setzen sich Jürgen Link, Ute Gerhard und Frank Becker mit den Korrelationen zur CMT auseinander. Sie konstatieren die Überschneidung des Metaphernbegriffs von Lakoff und Johnson mit dem Begriff des Kollektivsymbols, jedoch keine Deckungsgleichheit beider Begriffe: „Unter Aspekten terminologischer Konvertibilität ist zu vermerken, daß Lakoff/Johnsons ‚Metaphern‘ nur dann ‚Kollektivsymbolen‘ entsprechen, wenn sie für den Sprecher bewußte kohärente bildliche Vorstellung implizieren (Kriterium 2: Ikonität); meistens handelt es sich statt dessen allgemeiner um ‚symbolische Topiken‘ Das gilt insbesondere für

222 Vgl. Claus-Ekkehard Bärsch: „Die Konstruktion der kollektiven Identität der Deutschen gegen die Juden in der politischen Religion des Nationalsozialismus“, in: ders./P. Alter/P. Berghoff, Die Konstruktion der Nation gegen die Juden (1999), S. 191-223. 223 Ernst Cassirer: „The Myth of the State“, in: ders., Symbol, Myth, and Culture, hg. von D. P. Verene. London, New Haven: Yale Univ. Press 1979. S. 238.

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die elementaren räumlichen Dimensionen […], up-down, in-out, front-back, on-off, deepshallow, central-peripheral.“224

Die Abgrenzung zu den ontologischen und Orientierungsmetaphern225 von Lakoff und Johnson ergibt sich aus dem spezifischen Symbolbegriff, den sich die Theorie der Kollektivsymbolik aneignet. So muss das Symbol als Zeichen hinreichende Bedingungen erfüllen.226 Die Verbindung von Signifikant und Signifikat darf nicht arbiträr sein, sie muss durch gemeinsame Bezüge motiviert werden. Zudem muss das Zeichen zumindest das Potential einer Überschreitung des sprachlichen Systems auf das Ikonische hin haben.227 Auf dieses Kriterium, das in dem barocken Emblem und dessen pictura-subscriptio-Struktur verbildlicht wird, beziehen sich Link, Drews und Gerhard in der oben zitierten Auseinandersetzung mit der CMT. Neben dem weiteren Kriterium der Ambiguität ist vor allem das der semantischen Sekundarität zu erwähnen, derzufolge das Signifikat als ein Signifikant für ein weiteres Signifikat stehen muss, was im Grunde eine Metapher oder eine Metonymie beschreibt. Das Kriterium der „syntagmatischen Expansion des Symbolisanten zum Umfang einer Isotopie“228 lässt sich in dem

224 F. Becker/U. Gerhard/J. Link: „Moderne Kollektivsymbolik. Ein diskurstheoretisch orientierter Forschungsbericht mit Auswahlbibliographie (Teil II)“, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 22, 1 (1997), S. 83. 225 Orientierungsmetaphern haben ihren Ursprung in der natürlichen Raumorientierung des Menschen, die die Grundlage der physischen und kulturellen Erfahrung bildet. Besonders verbreitet sind Oben-unten-Konzepte (glücklich sein ist oben – traurig sein ist unten) oder Vorn-hinten-Konzepte (Die Zukunft liegt vor uns – die Vergangenheit ist hinter uns). Vgl. G. Lakoff/M. Johnson: Metaphors We Live By, S. 14 ff. Bei den ontologischen Metaphern wird ein abstraktes Konzept, wie Erfahrung, mit einem Sein-Charakter ausgestattet, dabei gibt es drei Gruppen: 1. Metaphern der Entität und der Materie, 2. Gefäß-Metaphern und 3. Personifikationen. Vgl. ebd., S. 25 ff; zu Personifikationen vgl. S. 33 ff. 226 Vgl: A. Drews/U. Gerhard/J. Link: Moderne Kollektivsymbolik, S. 260. 227 Vgl. ebd., S. 261 f. 228 Als Beispiel dafür bringt Jürgen Link die metaphora continuata am Bild der Eisenbahn: „Jede symbolische Verwendung dieses Signifikanten [Eisenbahn, P. W.] schließt mindestens einen rudimentären isotopischen Komplex ein, z. B. mindestens Lokomotive, Dampfmotor, Waggons, Schienen.“ Vgl. J. Link: „Zum Anteil der Kollektivsymbolik an der Sprachentwicklung im 19. Jahrhundert: Das Beispiel der Verkehrsmittel Kutsche und Eisenbahn“, in: Dieter Cherubim/Siegfried Grosse/Klaus J. Mattheier (Hgg.), Sprache und bürgerliche Nation: Beiträge zur deutschen und euro-

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Ansatz von Lakoff und Johnson in den einzelnen Aspekten einer Metapher wiederfinden, die nach Bedarf aktiviert werden und so gegebenenfalls zu der Entstehung neuer und auch kreativer Metaphern führen können. In der Tat werden für die vorliegende Untersuchung Orientierungsmetaphern und ontologische Metaphern kaum eine Bedeutung haben. Vielmehr werden Strukturmetaphern, die den genannten Kriterien entsprechen, einer genaueren Analyse unterzogen. Die Strukturmetaphern gehören zu den komplexen Formen innerhalb der Kategorie der konzeptuellen Metapher: „In this kind of metaphor, the source domain provides a relatively rich knowledge structure for the target concept. In other words, the cognitive function of these metaphors is to enable speakers to understand target A by means of the structure of source B.”229 Da die kulturelle Erfahrung die Basis der konzeptuellen Metaphern bildet, sie also kulturrelativistisch und konstruktivistisch zu denken sind und damit nur im gegebenen kulturellen Rahmen kohärent erscheinen, eignen sie sich besonders zur Untersuchung literarischer Bilder von Juden und vom Judentum in kulturellen Kontexten. Je nach kulturellem Kontext variieren auch die jeweiligen Wertvorstellungen, da „the most fundamental values in a culture will be coherent with the metaphorical structure of the most fundamental concepts in the culture“.230 Dennoch ergeben sich auch innerhalb einzelner Kulturen bereits Konflikte, die auf subkulturabhängigen Prioritäten und Orientierungen basieren. In diesem Zusammenhang erweist sich die Trennung der Ebenen von konzeptuellen Metaphern und den jeweiligen sprachlichen Ausdrücken als wichtig. Die jeweiligen sprachlichen Manifestationen der konzeptuellen Metapher können in den jeweiligen Kulturen, aber auch in den Sprachräumen divergieren, während sich die Konzepte ähneln. Trotzdem ist von einer Interdependenz zwischen Konzept und Ausdruck auszugehen,231 die nicht unberücksichtigt bleiben darf, da sie die Basis einer Strategie der Demontage von Stereotypen bilden wird. Dabei wird die Unterscheidung zwischen den konzeptuellen Metaphern, die während des Sprachgebrauchs aktiviert werden, und der Struktur der linguisti-

päischen Sprachgeschichte des 19. Jahrhunderts. Berlin/New York: de Gruyter 1998, S. 384-397, hier S. 385. 229 Z. Kövecses: Metaphor, S. 33. 230 G. Lakoff/M. Johnson: Metaphors We Live By, S. 22. 231 „There are various ways in which the linguistic expression of a conceptual metaphor can affect the appearance of the conceptual metaphor in question.“ Vgl. Gerard J. Steen: Understanding Metaphor in Literature: An Empirical Approach. London/New York: Longman 1994, S. 7.

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schen Metaphern, wie sie in Texten erscheinen, offensichtlich.232 Obwohl also der linguistische Ausdruck der Metapher von der konzeptuellen Metapher abhängig ist, ist er insofern als autonom zu bezeichnen, als er durch seine Variabilität Einfluss auf unser Verständnis der Metapher hat. Folglich kann er auch das gesamte Konzept beeinflussen und die kulturell und historisch abhängige Kohärenz auf die Probe stellen. Dadurch kann die verborgene Metaphernstruktur sichtbar gemacht werden, und die diskursiven Verhältnisse innerhalb eines Konzepts können neu bestimmt werden. Um das Beispiel von Berghoff zu bemühen, funktioniert die Metapher DIE JUDEN SIND EINE KRANKHEIT nur im Konzept DIE NATION IST EIN ORGANISMUS, wo sie die imaginäre Bedrohung des Kollektivs durch ‚die Juden‘ zu verbildlichen vermag. Metaphern konkurrierender Konzepte ebenso wie kreative Metaphern, die in diesem Kontext geäußert werden, bringen das gesamte Konzept aus dem Gleichgewicht. Eine antisemitisch aufgeladene metaphorische Aussage wie „für die Maschinerie des Kapitalismus sind die Juden das Öl“ ist kohärent, dagegen ist „für die Maschinerie des Kapitalismus sind die Juden das fehlende Bein“ eine Katachrese. Dieses katachrestische Bild basiert aber auf zwei unterschiedlichen konventionellen Metaphern und entspricht der bekannten Struktur des Vergleichs, erzeugt deshalb nur eine geringe Irritation, die in den Sprachalltag integrierbar ist. Eine kreative (wenngleich nicht besonders schöne) Metapher, in welcher die Metaphernstruktur offengelegt wird, könnte dagegen lauten „für das Feuer unseres Kapitalismus sind die Juden der Torf“. Die Metapher ist keine Katachrese, hier wird die Struktur des Vergleichs beibehalten, doch handelt es sich hierbei nicht um eine konventionelle Metapher. Obwohl die Aussage eine ähnliche bleibt („Die Anwesenheit von Juden wirkt sich positiv auf den Kapitalismus aus“), so irritiert die letzte Variante die gewohnten Denkstrukturen, weil sie nicht ad hoc verständlich ist und mehrere Interpretationen zulässt: Beschäftigen wir uns näher mit dieser Metapher, so kann Sie durchaus auch so verstanden werden, dass Juden dem Kapitalismus geopfert werden. Konventionalisierte Metaphern lassen neue Sichtweisen selten zu. Im Verlauf der Arbeit wird gezeigt werden, wie ein solcher Destabilisierungsprozess in der fiktionalen Literatur aussehen kann, wie verborgene metaphorische Strukturen offengelegt werden und welche Folgen dies für das Bild ‚des Juden‘ haben kann. Zur konkreten Darstellung der zugrunde liegenden konzeptuellen Metaphern in den einzelnen Werken möchte ich eine Erweiterung der CMT als Analysewerkzeug hinzuziehen.233 Obwohl die Conceptual Integration

232 Vgl. ebd., S. 8 f. 233 Die Kompatibilität der CMT mit der Blending Theorie (BT) erarbeiten Joseph

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Theory (CIT), die verkürzt auch als Blending Theorie (BT)234 bezeichnet wird, mittlerweile einen viel weiteren Anwendungsbereich gefunden hat als die Theorie der konzeptuellen Metaphern, so ist die CMT zusammen mit der Mental Space Theory ihr theoretischer Vorgänger.235 Die CIT macht sich unter anderem den an Lakoff und Johnson gerichteten Vorwurf zu eigen, ihr Metaphernbegriff sei unidirektional und übersehe damit das offensichtlichste Merkmal der Metapher, den blend.236 Damit ist das Ergebnis des kognitiven Vorgangs gemeint, währenddessen sich die Inhalte der beiden Felder, die bei Lakoff und Johnson als source und target domain, bei Fauconnier und Turner als input spaces bezeichnet werden, zu einem neuen Feld, eben dem blended space vermischen. Die Beziehung der beiden input spaces ist damit innerhalb der CIT bidirektional begriffen. Es gelangen selektiv Inhalte und Strukturen aus beiden inputs in den neuen space und bringen damit interaktional auch neue Strukturen (emergent structures) hervor: „Besides inheriting partial structure from each input space, the blend develops ‚emergent‘ contents of it’s own, which results from the juxtaposition of elements of the inputs.“237 Damit ist auch der wichtigste strukturelle Unterschied zwischen der CMT und der CIT benannt. Die traditionelle ZweiDomänen-Struktur von Bildspender und Bildempfänger wird zugunsten eines Netzwerkes aufgelöst, das aus mindestens vier mental spaces besteht.

Grady/Todd Oakley/Seana Coulson: „Blending and Metaphor“, in: R. W. Gibbs, Jr./G. J. Steen, Metaphor in Cognitive Linguistics (1999), S. 101-124. 234 Das Hauptwerk zur Blending Theory: Gilles Fauconnier und Mark Turner: The Way We Think. Conceptual Blending and the Mind’s Hidden Complexities. New York: Basic Books 2002. 235 „Blending Theory has been also applied to many other kinds of linguistic phenomena besides metaphor, such as counterfactuals and jokes and also to non-linguistic phenomena such as the design of computer interferences.“ M. Lynn Murphy/Anu Koskela: Key Terms in Semantics. London/New York: Continuum 2010, S. 38. 236 Vgl. William Croft/David Allen Cruse: Cognitive Linguistics. Cambridge et al.: Cambridge Univ. Press 2004, S. 207. 237 J. Grady/T. Oakley/S. Coulson: Blending and Metaphor, S 104, vgl. auch G. Fauconnier/M. Turner: The Way We Think, S. 42.

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Abb. 1: Conceptual Integration Network nach G. Fauconnier und M. Turner

JHQHULF VSDFH

LQSXW VSDFH,

LQSXW VSDFH,,

EOHQG

Dieses Netzwerk wird durch den generic space organisiert, der abstrahierte und schematische Informationen enthält, die jene Rahmenstruktur (frame structure) bereitstellen, die die input spaces teilen238 und die zugleich auch den Deutungsrahmen, also die domain bzw. den frame239 bilden können. Daneben gibt es mindestens zwei der schon genannten input spaces und einen blended space oder blend, in dem sich das Ergebnis des kognitiven Vorgangs manifestiert. Die mental spaces als eine „partial, temporary representational structure which speakers can construct when thinking or speaking of […] situations“240 erhalten ihre Struktur und Information aus dem stabilen und anhaltenden Wissen der Domä-

238 Vgl. G. Fauconnier/M. Turner: The Way We Think, S. 41 und G. Fauconnier: Mappings in Thought and Language. Cambridge: Univ. Press 1997, S. 167. 239 An dieser Stelle muss erläutert werden, dass die Elemente eines frame, wie er bei Fillmore verwendet wird (und der mit dem domain-Begriff identisch ist) auf Erfahrung beruhen. Bei den semantischen frames ergeben sich Überschneidungen zur Theorie der semantischen Felder, doch unterscheiden sich beide in einem entscheidenden Punkt. Die Idee der semantischen Felder geht davon aus, dass wir Begriffe eines Feldes nur durch Abgrenzung zu anderen, benachbarten Begriffen verstehen können. Es gibt jedoch eindeutige Beispiele, die dagegen sprechen: So gehen die frame semantics davon aus, dass die Wahrnehmung von Konzepten als Ganzes nur auf Erfahrung beruhen kann. Als Beispiel kann das Konzept Restaurant angeführt werden. In diesen frame gehören Elemente wie Gäste, Kellnerin, Rechnung, Trinkgeld, Bestellung etc.) – Elemente, die nur aus unserer Erfahrung mit Restaurants ableitbar sind. Vgl. W. Croft/D. A. Cruse: Cognitive Linguistics, S. 7 f, 10 und 15. 240 J. Grady/T. Oakley/S. Coulson: Blending and Metaphor, S. 102.

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nen. Das Netzwerk soll den integrativen Prozess sichtbar machen, welcher bei der Konzeption neuer Metaphern, Analogien, Allegorien, Vergleiche etc.241 zum Tragen kommt. Folglich wird der Untersuchungsrahmen der CMT, die sich hauptsächlich auf konventionalisierte oder bekannte und etablierte poetische Metaphern beschränkte, erweitert: „[The CIT] focuses on ability to combine elements from familiar conceptualizations into new and meaningful ones.“242 Entscheidend dabei ist, dass Bedeutung in diesem Zusammenhang kein stabiles und zuverlässiges Phänomen mehr ist, sondern im Gegenteil eine dynamische Aktivität,243 die sowohl der Arbeit des Schreibens als auch dem Akt der Rezeption zugrunde liegt. Eine durch Metaphern geschaffene, kurzfristige Irritation der gewohnten Konzepte kann folglich zu einer dynamischen Instabilität der gewohnten Bedeutung führen und so verfestigte Vorannahmen oder Vorurteile von idealisierten Kulturmodellen im Text untergraben. Im zweiten Teil der Arbeit soll dieses Modell in der Einzeltextanalyse als Werkzeug Anwendung finden, um die Strukturen der einzelnen metaphorischen Konzepte auszuleuchten. Dazu eignet sich das Modell denkbar gut, da es die emergenten Strukturen des blended space, in denen neue, den Stereotypen zugrundeliegenden Bedeutungsinhalte entstehen, sichtbar macht.

241 Der ganzheitliche Anspruch, all diese Stilmittel mit nur einem Modell erklären zu wollen, brachte der Blending-Theorie die Kritik der fehlenden Spezifikation und zu starken Verallgemeinerung ein. Vgl. J. Goschler: Metaphern für das Gehirn, S. 22. 242 J. Grady/T. Oakley/S. Coulson: Blending and Metaphor, S. 110. 243 Vgl. Margaret H. Freeman: „The Poem as a Complex Blend. Conceptual Mappings of Metaphor in Sylvia Plath’s ‚The Applicant‘“, in: Language and Literature Vol. 14, 1 (2005), S. 25-44.

Teil II: Textanalysen

2.

Annäherungen an die Demontage stereotyper Konzepte

„Henry […], der die ersten fünfzehn Jahre seines Lebens in der Bar seines Vaters mit Animierdamen, Zuhältern und abgebrühten Ex-Kazettniks verbracht hatte, ein moderner Wilder, der schmutzig redete, Frauen verachtete und nach dem fünften Weißwein, seinen besten Freund wegen einer Nichtigkeit den sechsten ins Gesicht kippte.“ MAXIM BILLER/DER ECHTE LIEBERMANN

In den vorangegangenen Kapiteln wurden Mechanismen der Stereotypisierung und Exklusion vorgestellt, die sich grob als Formen von Stigmatisierung und Kollektivierung zusammenfassen lassen. Wie das Zitat am Kapiteleingang zeigt, können jedoch auch augenscheinlich negative und genau diesen Mechanismen folgende Darstellungen jüdischer Figuren zur Demontage von Stereotypen beitragen. Die Technik einer solchen Demontage soll in den nächsten Kapiteln mit dem vorgestellten methodischen Werkzeug des Conceptual Integration Networks und der Conceptual Metaphor Theory anhand von sechs Romanen demonstriert werden. Den Ausgangspunkt bildet die Annahme, dass in den untersuchten Romanen durch die Verwendung sprachlicher Metaphern oder das Zitieren einzelner Diskursfelder metaphorische Konzepte aufgerufen werden, die in einem reziproken Verhältnis mit dem jeweiligen ‚Bild des Juden‘ stehen. Ziel ist es folglich zunächst, die konzeptuellen Metaphern herauszuarbeiten, welche in den Romanen das ‚Bild des Juden‘ bestimmen. Ferner wird zu untersuchen sein, wie die metaphorischen Konzepte innerhalb der Romane umgesetzt werden, welche Folgen für ein ‚Bild vom Juden‘ sich aus ihnen ergeben und letztlich, wie diese Bilder und Konzepte demontiert werden.

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Die Auswahl der Exempel ist für die Analyse grundlegend. In der Einleitung wurde bereits dargelegt, welchen Kriterien die Zusammenstellung der Herkunftsländer und Sprachbereiche folgt. Bei der Gestaltung des Korpus‫ ތ‬wurde der jüngeren Literatur besondere Aufmerksamkeit zuteil, Werken also, die im 21. Jahrhundert erschienen sind (das früheste ist Dariusz Muszers Die Freiheit riecht nach Vanille von 1999). Angestrebt wird zudem, die Beispiele möglichst breit zu fächern. So sind sowohl jüdische als auch nicht-jüdische Autoren in der Auswahl vertreten. An dieser Stelle muss angemerkt werden, dass es im Rahmen einer qualitativen Untersuchung nur eingeschränkt möglich ist, eine angemessene und aussagekräftige Variationsbreite zu erzielen. Dementsprechend versteht sich der Ansatz der Arbeit als zielweisend in der Herangehensweise einer transkulturell begriffenen Literaturwissenschaft, wobei im empirischen Sinne keine quantitative Repräsentativität behauptet werden soll. Ein weiteres Kriterium, das eine differenzierte analytische Basis garantieren soll, ist die Rezeption. In die Auswahl wurden sowohl Romane einbezogen, die von der Kritik geradezu gefeiert wurden als auch einige, die bei ihrem Erscheinen mit Antisemitismusvorwürfen zu kämpfen hatten, wie Thomas Hürlimanns Novelle Fräulein Stark oder Michael Chabons The Yiddish Policemen’s Union. In beiden Fällen ist es erkenntnisleitend herauszuarbeiten, worin diese Vorwürfe gründen und wie sich diese beiden Romane von denjenigen unterscheiden, bei denen diese Vorwürfe tatsächlich gerechtfertigt sind. Zudem werden neben erfolgreichen Romanen mit internationalem Bekanntheitsgrad, wie Jonathan Safran Foers Everything Is Illuminated, auch solche einbezogen, deren Erscheinen weniger aufsehenerregend war, wie Jan Koneffkes Paul Schatz im Uhrenkasten oder Dariusz Muszers Die Freiheit riecht nach Vanille.1 Allen ausgewählten Beispielen gemeinsam ist ihr Umgang mit dem Stereotyp. Das erfordert eine zentrale Position des Themas, das sich in einer Figur oder einem Diskursfeld manifestieren kann. Die Auseinandersetzung mit dem Stereotyp wird auf diese Weise zu einem Metaplot, der die Handlung rahmt. Wie zu erwarten, ist die Literaturfülle der infrage kommenden Romane in jedem der vier Länder unterschiedlich. Häufige Tendenzen in der polnischen nicht-jüdischen Literatur waren bis vor kurzem die Marginalisierung jüdischer Figuren und Themen, ihre Funktionalisierung zum Zwecke der Gesellschaftskritik2 oder der Schärfung eines (zumeist positiven) Selbstbildes.3 Bekannte Aus-

1

Wobei auch diese Romane in den Feuilletons einschlägiger Zeitungen oder Literatur-

2

An diesen relativ schematisch bleibenden Figuren werden antisemitische Tendenzen

zeitschriften rezipiert wurden. in der polnischen Gesellschaft verdeutlicht. So bei Ewa Markowska-Radziwiłowicz:

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nahmen davon waren Andrzej Szczypiorskis Die schöne Frau Seidenmann, 1986 unter dem Titel Początek [Anfang] in Paris veröffentlicht, sowie Paweł Huelles Weiser Dawidek aus dem Jahre 1987. In den letzten Jahren hat sich dies verändert. Nach der von Jan Tomasz Gross‫ ތ‬Arbeiten angestoßenen Debatte sind populärliterarische Werke nicht-jüdischer Autoren entstanden, die die gemeinsame Vergangenheit, aber auch ihre Verdrängung aus dem Nationalbewusstsein thematisieren, wie beispielsweise Noc Īywych ĩydów von Igor Ostaszewski.4 Eine auch in der polnischen Literatur vertretene Figur ist die ‚schöne Jüdin‘. Bei Artur Becker und Jerzy R. KrzyĪanowski tritt sie als eine jüdische Amerikanerin in Erscheinung, die auf der Suche nach ihrer Vergangenheit ist.5 Sie kann auch die Rolle einer berechnenden und damit gefährlichen Schönheit ausfüllen.6

Paprochy [Krümel – übers. v. P.W.]. Warszawa: Znak 2006 oder Janusz KrasiĔski: Przed Agonią [Vor der Agonie – übers. v. P.W.]. Krakòw: Arcana 2006. Eine echte Kritik findet jedoch nicht statt, denn in Paprochy wird auf die mögliche Tätigkeit des jüdischen Vaters bei der UB (Sicherheitsdienst) hingewiesen, was die negative Einstellung rechtfertigt und zudem das Vorurteil aufgreift, Juden hätten mit den sowjetischen Besatzern kollaboriert. In Przed Agonią wird der jüdische Schriftsteller ausgesprochen ängstlich dargestellt, wodurch das auch in Polen kursierende Vorurteil des feigen und nicht kämpferischen Juden referiert wird. 3  Vgl. Jan Jòzef SzczepaĔski: „Oswald, czyli Daniel“ [Oswald, also Daniel – übers. v. P.W.], in: Rozłogi. Krakòw: Wydawn. Literackie 2001, S. 49-61. Bei Iwona Smolka wird die Hilfsbereitschaft der Polen durch die Undankbarkeit der jüdischen Figur bekräftigt: „Po wojnie wyjechał do Anglii. Był doĞü znanym aktorem, wyglądał ja sto Īydòw, tyle mi o nimwiadomo. Potem siĊ juĪ nie odezwał, ale nie oczekiwali tego.“ [„Nach dem Krieg ist er nach England ausgewandert. Er wurde ein recht bekannter Schauspieler, er sah aus wie hundert Juden, und nur so viel weiß ich von ihm. Danach hat er sich nicht mehr gemeldet, aber niemand hatte es erwartet.“ – übers. v. P.W.] Iwona Smolka: Dom ĩywiołòw. [Haus der Urgewalten – übers. v. P.W.] Warszawa: Sic! 2000, S. 164. 4

Igor Ostaszewski: Noc Īywych ĩydów [Die Nacht der lebenden Juden – übers. v. P.W.]. Warszawa: W.A.B. 2012. Für den Hinweis möchte ich mich bei Dominika Gortych bedanken.

5

Vgl. Artur Becker: Die Zeit der Stinte. Novelle. München: dtv 2006 oder in der Kurzgeschichte „StraĪniczka skarbu“ [Die Hüterin des Schatzes – übers. v. P.W.], in: Jerzy R. KrzyĪanowski: Dekady. Opowiadania Lubelskie. [Dekaden. Erzählungen aus Lublin – übers. v. P.W.]. Lublin: Norbertinum 2006, S. 177-184.

6

Bis ins Geschmacklose überzeichnet bei Jacek Dąbała: Diabelska przypadłoĞü [Eine teuflische Begebenheit – übers. v. P.W.]. Warszawa: PaĔstwowy Inst. Wydawn. 2001.

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Die polnisch-jüdische Literatur ist oft eine Erinnerungsliteratur, sie beschäftigt sich vor allem mit den Themen Holocaust und Trauma, dem jüdischpolnischen Verhältnis (Hanna Krall), der jüdischen Geschichte in Polen (Henryk Grynberg) sowie mit der autobiographischen Aufarbeitung einer (teilweise spät entdeckten) jüdischen Identität (Roma Ligocka, Agata TuszyĔska, Marian MarzyĔski). In den für die vorliegende Untersuchung ausgewählten Romanen lässt sich ein neuer Zugang zum Thema Judentum erkennen. In Mariusz Sieniewiczs Kurzgeschichtensammlung ĩydówek nie obsługujemy (Jüdinnen werden nicht bedient) werden im postmodernen Stil Formen der Andersheit und Ausgrenzung verhandelt, wobei ‚die Jüdin‘ zum Pars pro Toto aller Phänomene der unerwünschten und oft aggressiven Andersheit, aber auch zum Memento stilisiert wird. Der Roman des polnischen Schriftstellers Dariusz Muszer ist ursprünglich auf Deutsch erschienen. Die Verortung des Autors zwischen Polen und Deutschland findet Eingang in die Geschichte und macht sie zum Beispiel einer interkulturellen Literatur. Hier hat die teils jüdische Figur unter anderem die Funktion, die verkappte, unter dem Deckmantel der Political Correctness hervortretende deutsche Ausländerfeindlichkeit der 1980er Jahre zu bezeugen; ihre Figurenzeichnung bleibt dabei jedoch nicht auf diese Funktion reduziert. Eine ausführliche Auseinandersetzung mit der US-amerikanischen Literatur, die sich mit jüdischen Themen beschäftigt, ist aufgrund ihrer Fülle an dieser Stelle nicht zu leisten. Festzustellen ist jedoch, dass auch hier die jüdischen Themen in der Regel von jüdischen Autoren verhandelt werden, deren Ikonen bis heute etwa Philip Roth, Saul Bellow, Bernard Malamud oder Cynthia Ozick sind. Jüdische Figuren sind jedoch auch in der apokalyptischen Trivialliteratur christlich-zionistischer Ausrichtung zu finden, die nicht nur ungeheuer populär ist, sondern auch dezidiert antisemitische Tendenzen aufweist.7 Die großen

Eher in einer Nebenhandlung kommt die berechnende Verführerin Sara Apfelbaum bei Monika Piątkowska: Krakowska ĩałoba [Krakauer Trauer – übers. v. P.W.]. Warszawa: W.A.B. 2006 vor, die umso mehr als negative Figur auffällt, als außer ihr in der Geschichte, die immerhin im Vorkriegskrakau spielt, keine Juden vorkommen. 7

So die Left Behind-Reihe von Tim LaHaye und Jerry B. Jenkins, die bislang 16 Bestseller, Verfilmungen und PC-Spiele umfasst. Im apokalyptischen Endkampf gibt es durchaus positive jüdische Figuren, die jedoch getauft sind. Die nicht getauften jüdischen Figuren sind im Bunde mit dem Antichristen. Diese offensichtlich antisemitische Tendenz wird verschleiert vom durch die christliche Rechte (zu der die Autoren zu rechnen sind) propagierten Anspruch der Juden auf Israel. Diese Forderung hängt keineswegs mit einer Solidarität mit Israel zusammen, sondern mit ihrem Glauben an ein christliches Postmillenium, das nur eintritt, wenn Israel ein jüdisches Land wird.

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Themen, die in der jüdisch-amerikanischen Literatur bis heute verhandelt werden, sind Auseinandersetzungen mit Fragen der doppelten oder hybriden Identität, der Geschichte der Juden in den USA, dem US-amerikanischen Antisemitismus und dem Holocaust und seinen Folgen. Obwohl sich der Roman Everything Is Illuminated von Jonathan Safran Foer auch als ein Roman über den Holocaust verstehen lässt,8 so ist er doch vielmehr ein Roman über die Suche nach der eigenen familiären Vergangenheit. Zwar stellt der Holocaust eine wichtige Zäsur in der Familiengeschichte dar, dennoch würde es eine Simplifizierung des komplexen Romans wie auch der jüdischen Geschichte in Europa bedeuten, beide auf den Holocaust zu reduzieren. Bei Foer wird dementsprechend mit dem Bild des entwurzelten, heimatlosen ‚Juden‘ gespielt. Der Roman The Yiddish Policemen’s Union von Michael Chabon ist, wie bereits erwähnt wurde, ein besonders ertragreiches Objekt der Analyse, da er Antisemitismusvorwürfe auslöste, die vor allem die negative Figurenzeichnung der jüdischen Figuren als Argument ins Feld führten. Neben dem Schweizer Beispiel von Thomas Hürlimann wurde ein weiterer deutschsprachiger Roman in der Auswahl berücksichtigt: Jan Koneffkes Paul Schatz im Uhrenkasten wurde bewusst Texten deutsch-jüdischer Autoren vorgezogen, die sich recht offen und aggressiv mit jüdischen Stereotypen auseinandersetzen, wie dies Maxim Biller oder Rafael Seligmann (und in Österreich beispielsweise Robert Schindel) tun. Obwohl beide Autoren in die hier getroffene Auswahl durchaus passen, so wurden und werden sie auf diese Auseinandersetzung hin bereits ausführlich analysiert.9 Diese Analysen betonen immer wieder die Zugehörigkeit der Autoren zur Gattung der deutsch-jüdischen Literatur. Es erscheint also vielversprechend, das Werk eines nicht-jüdischen Autors in die Untersuchung einzubeziehen und zu zeigen, dass eine Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus keineswegs nur ‚Sache‘ der jüdischen Autoren ist.

8

Vgl. Ulla Haselstein: „‚Rücksicht auf Darstellbarkeit.‘ Jonathan Safran Foers Holocaust-Roman Everything Is Illuminated“, in: Eva Horn/Bettina Menke/Christoph Menke (Hgg.), Literatur als Philosophie – Philosophie als Literatur. München: Fink 2003, S. 193-210.

9

So beispielsweise bei Sander L. Gilman und Hartmut Steinecke (Hgg.): Deutschjüdische Literatur der neunziger Jahre: die Generation nach der Shoah; Beiträge des internationalen Symposions, 26.-29. November 2000 im Literarischen Colloquium Berlin-Wannsee. Berlin: Schmidt 2002 oder Diana Teschler: Schreiben im Land der Täter. Jüngste deutsch-jüdische Literatur bei Maxim Biller und Rafael Seligmann. Saarbrücken: VDM-Verl. Dr. Müller 2007.

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Es kann natürlich der Einwand formuliert werden, ob und inwieweit die auf den kommenden Seiten analysierten Beispiele tatsächlich zu einer Demontage jüdischer Stereotype und antisemitischen Vorurteile beitragen können. So könnte der Vorwurf ins Feld geführt werden, dass auch das dekonstruierende Zitieren der Stereotype zu ihrem Fortbestehen beiträgt. Dazu muss jedoch relativierend vorgebracht werden, dass das Fortbestehen von anderen Seiten eindringlicher gesichert wird und eine Demontage von Stereotypen keineswegs durch ihr fortwährendes Verschweigen oder Tabuisieren zu erreichen ist. Dennoch ist es wichtig darauf hinzuweisen, wie sich Formen des Zitierens voneinander unterscheiden: Inwieweit lässt sich von einer bloßen Reproduktion sprechen, und wo findet ein reflektierter Umgang statt? Diese Unterscheidung leitet schließlich zu der Frage über, wo also das „Spiegelspiel mit Bildern aus dem Archiv des Antisemitismus im Dienst einer literarischen Abklärung des deutsch-jüdischen Verhältnisses“10 steht und welche Mechanismen dieser Abklärung zugrunde liegen. Die für die Untersuchung grundlegenden metaphorisch organisierten Konzepte, die durch die konzeptuellen Metaphern umschrieben werden, wurden anhand der jeweiligen Texte in einem „bottom upwards“-Vorgehen11 rekonstruiert. Diese Rekonstruktion ergab drei gesellschaftlich relevante, abstrakte und zugleich komplexe Felder, GESELLSCHAFT, INDIVIDUUM und MORAL, die entscheidenden Einfluss auf die Vorstellung und Gestaltung jüdischer Figuren haben. Der Versuch einer Komplexitätsreduktion dieser Begriffe mit Hilfe konzeptueller Metaphern ist für die Konzeption jüdischer Figuren folgenreich: Aus der Komplexitätsreduktion resultiert in den meisten Fällen ein dualistisch organisiertes Weltbild, in dem ein Widerstreit von ‚Gut‘ und ‚Böse‘ in Szene gesetzt wird. Exklusions- und Stigmatisierungsmechanismen produzieren jüdische ‚Andersheit‘, die in diesem Weltbild leicht zu verorten ist und sich mit bekannten stereotypen Figuren füllen lässt. Diese Mechanismen werden auf sehr unterschiedliche Weise in den sechs Textbeispielen verhandelt, es lassen sich jedoch gemeinsame Strategien extrahieren, deren Darstellung und Erörterung das Anliegen des dritten Teils sein wird.

10 Norbert-Otto Eke: „Im ‚deutschen Zauberwald‘. Spiegel- und Kippfiguren des Antisemitismus in deutschsprachiger Gegenwartsliteratur“, in: M. Bogdal/K. Holz/M. N. Lorenz, Literarischer Antisemitismus nach Auschwitz (2007), S. 243-261, hier S. 257. 11 Vgl. Monika Fludernik: „Naturalizing the Unnatural: A View from Blending Theory“, in: Journal of Literary Semantics 39 (2010), S. 1-27, hier S. 20.

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2.1

G ESELLSCHAFT

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Anhand der Texte Paul Schatz im Uhrenkasten von Jan Koneffke12 und Jüdinnen bedienen wir nicht von Mariusz Sieniewicz13 werden im vorliegenden Kapitel zwei unterschiedliche Konzepte von Gesellschaft in ihrer Wechselwirkung mit ‚Bildern vom Juden‘ untersucht. Diese Konzepte lassen sich mit zwei konzeptuellen Metaphern erfassen, die Gesellschaft als ein geschlossenes System präsentieren. Gesellschaft (oder Nation oder Volk), als KÖRPER und als MASCHINE gedacht, evoziert die Vorstellung von systemisch funktionierenden Ganzheiten, die einer permanenten Bedrohung der Störung (Funktionsstörung oder Krankheit) unterliegen. Mit der Rolle des Bedrohlichen kann in beiden Fällen ‚der Jude‘ besetzt werden. Die Handlung von Paul Schatz im Uhrenkasten ist zu einem entscheidenden Teil im Deutschland der Nazizeit angesiedelt, während die Kurzgeschichten in dem Band von Sieniewicz in einer kafkaesk gebrochenen Gegenwart verortet sind. Es lässt sich eine Koinzidenz zwischen den jeweiligen konzeptuellen Metaphern und dem Zeitpunkt der Handlung feststellen. Im Falle Koneffkes kommt eine konzeptuelle Metapher von Gesellschaft zum Tragen, die einen starken Bezug zum Nationalsozialismus aufweist, wohingegen das polnische Beispiel sich einer Metapher bedient, die sich am ehesten als Ausdruck einer industrialisierten, auf Effizienz bedachten Gesellschaft verstehen lässt. Trotz der klaren diskursiven Ausrichtung, die durch die Metaphern vorgegeben wird, werden in diesen wie auch den übrigen Werken implizit Fragen der Identität virulent sein. Die folgende Analyse verfolgt nicht den Anspruch, eine vollständige Auseinandersetzung mit sämtlichen konzeptuellen Metaphern zu liefern, die in den Textbeispielen verhandelt werden. Es werden lediglich die Konzepte aufgearbeitet, die sich in den Texten deutlich in linguistischen Metaphern oder dominanten Themenfeldern manifestieren und einen nachweisbaren Einfluss auf die Konzeption des Jüdischen haben.

12 Jan Koneffke: Paul Schatz im Uhrenkasten. Köln: DuMont 2000. Im Folgenden mit der Sigle PSU abgekürzt. 13 Mariusz Sieniewicz: ĩydòwek nie obsługujemy. Warszawa: W.A.B. 2006. Im Folgenden mit der Sigle ZO abgekürzt.

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2.1.1

K ÖRPER: Jan Koneffke Paul Schatz im Uhrenkasten wie gewisse Juden, die auch immer gekrümt einherzogen und darum K r ü ml i n g e hiessen – um Gott, der die ganze Erde ausfüllt, ein wenig Platz zu machen. JEAN PAUL/HESPERUS ODER 45 HUNDSPOSTTAGE

Darstellungen eines schönen jüdischen Körpers lassen sich fast ausschließlich in Beschreibungen der ‚schönen Jüdin‘ nachlesen. Der männliche Jude wird oft, wie hier bei Jean Paul, mit einem Buckel, einer eingefallenen Brust, Plattfüßen und der berühmten jüdischen Nase, dem sogenannten ‚Judensechser‘, karikiert. Auch andere Teile des Gesichts oder des Körpers oder ein Geschichtsausdruck können als deviant dargestellt werden, wie beispielsweise bei Bettina von Arnim, „wo der Jude mit blitzendem Mienenspiel, mit fixen Fingern und laufender Zunge um des zufälligen Gewinstes eines Kreuzers halber sich unzähligen Spottreden aussetzt“.14 Die Tatsache, dass hier zwei Autoren diese Klischees heranziehen, die keineswegs den antisemitischen Ausfällen der Romantiker um Achim von Arnim und seiner Deutschen Tischgesellschaft beipflichten, verdeutlicht eindringlich die Popularität der Bilder. In Jan Koneffkes Roman Paul Schatz im Uhrenkasten ist der jüdische Körper des Vaters die Projektionsfläche der Aversionen, die die deutsch-jüdische Titelfigur Paul Schatz gegen ihn hegt. Obwohl die Geschichte die gesamte Lebensspanne der Titelfigur bis zu ihrem Tod umfasst, so bildet die Kindheit im jüdisch geprägten Berliner Scheunenviertel der Vor- und Kriegszeit den inhaltlichen Schwerpunkt. In dieser Zeit wird das Weltbild des Kindes Paul Schatz durch eine Dichotomie im engsten Familienkreis bestimmt. Er lebt bei seinem herrischen deutschen Großvater, der den martialischen Namen Haueisen trägt und mit seinem Schlangenkopfstock und Rauschebart furchteinflößend wirkt. Als Gegenfigur zum Großvater ist der jüdische Vater, Joseph Schatz, konzipiert. Gegen ihn richtet sich der antisemitisch durchtränkte Hass des Großvaters und der ebenfalls in der Wohnung lebenden Tante Else und Nenntante Ida. Paul adaptiert die Abneigung des deutschen Teils seiner Familie auf den Vater und versucht, sowohl diesen als auch seine eigene jüdische Abstammung zu verleugnen.

14 Bettina v. Arnim: „Gespräche mit Dämonen. Gedichte, Märchen, Namen- und Sachregister“, in: Bettina von Arnims sämtliche Werke, Band 7. Hg. v. Waldemar Oehlke. Berlin: Propyläen 1922, S. 54.

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Das Verlangen nach einer Abgrenzung zum Vater resultiert aus dem Bild, das von Joseph Schatz entworfen wird. Der Großvater stilisiert ihn zum Inbegriff des Jüdischen: Er wird als ein aus Polen stammender Ostjude beschrieben, den Paul und sein Großvater nur „schimmeliger Schildermaler aus PrzemyĞl“15 nennen. Während Paul den Großvater in seiner Phantasie zu einem Logenmeister stilisiert und ihm unbegrenzte Macht zuschreibt, ist der Vater ein „Schwindler und Herzensbrecher“16, der die Mutter geschwängert hat und so das jüdische Blut in die Familie Haueisen brachte. Die Beschreibungen der Körperlichkeit des Vaters strotzen dementsprechend vor antisemitischen Klischees: „Nein, seinen Vater mochte er nicht. Er haßte Vaters feuchte Lippen, wenn er sie auf seinen Mund preßte, er haßte Vaters kriecherisches Wesen und sein fremdklingendes Deutsch, das klang, als habe er Schmalz im Mund. Er haßte seine behaarten Arme, wenn sie sich um seinen Hals legten, und verabscheute seine Spinnenfinger.17

Das Bild des Großvaters grenzt sich dagegen ausdrücklich von allem Jüdischen ab, wenn Paul beispielsweise dessen Bart beschreibt, „der vor seine Zehen fiel und ein Lieber-Gott-Bart war, kein Rabbinerbart, ziegen- und flatterhaft.“18 Dieses Lieber-Gott-Attribut soll auch auf die imaginierte Macht Karl Haueisens verweisen, die selbst nach seinem Tod in der Phantasie des Kindes ungebrochen bleibt: Paul stellt sich seinen Großvater als Logenmeister vor, der, die Uhrenzeiger verstellend, die Zeit zurückdrehen kann. Auf diese Weise vermag er Gott zu korrigieren und damit das über Pauls Umgebung hereinbrechende Kriegsunheil ungeschehen zu machen. Seinen Vater wähnt Paul dagegen als weinerlich, feige und verschlagen, doch sind dies nicht die einzigen Schwächen von Joseph Schatz. Über das Klischee des jüdischen Körpers und des jüdischen Charakters hinaus sind es vor allem Vermutungen über das Sexualverhalten des Vaters, die das Bild ergänzen und die Figur für den Sohn abstoßend erscheinen lassen. Das Kind übernimmt unhinterfragt die Gerüchte um dessen Hypersexualität, wenn es beim Anblick von dessen abgenutztem Sofa assoziiert, dass dieses „von tausend Liebhaberinnen behockt und behopst und verschlissen“19 sein müsse.

15 PSU, S. 45. 16 Ebd., S. 11. 17 Ebd., S. 31. 18 Ebd., S. 7. 19 Ebd., S. 124.

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Die tatsächlichen Fakten, die auf das Liebesleben des Vaters verweisen, bleiben vage. Hauptsächlich werden sie durch die Perspektive des Großvaters und der beiden Tanten erzeugt. Diese sind jedoch als Quellen mehr als unzuverlässig: Der Großvater ist bekennender Antisemit, dessen Tochter vom Juden geschwängert wurde, Tante Else eine verknöcherte Jungfer und die Nenntante wurde von eben diesem Juden verlassen und musste zusehen, wie er ihre Cousine schwängerte.20 Insgesamt gibt es im Roman nur einen konkreten Anknüpfungspunkt, der Rückschlüsse auf das tatsächliche Liebesleben des Vaters zulässt. So erlebt Paul, als er eine Zeit lang beim Vater wohnt, diesen an der Schwelle zweier Beziehungen. Als die erste scheitert, leidet der Vater so sehr, dass Paul zu dem Schluss kommt, dass es „in Wahrheit [] Vaters Herz [war], das brach. Das knirschte und knackte und krachte.“21 Sein Liebesleben wird von der näheren Umgebung als anormal wahrgenommen und mit dem Judentum in Verbindung gebracht. Seine Beziehungen werden stets unter die Prämisse einer sexuellen Unersättlichkeit gestellt und als spezifisch jüdisch gewertet. Die einzelnen stereotypen Vorstellungen der Verschlagenheit, Hinterhältigkeit und Hypersexualität hängen mit der Vorstellung des jüdischen Körpers zusammen. Hier kommt eine Denkweise zum Ausdruck, in der ein enger Zusammenhang zwischen Moralität und äußerer Erscheinung hergestellt wird, der seit der Aufklärung – und da besonders seit Johann Casper Lavaters physiognomischen Untersuchungen – geläufig ist. Im rassistischen Diskurs des Nationalsozialismus wird der metonymisch begriffene jüdische Körper zur Gefahr für den arischen stilisiert. Auf der sexuellen Ebene birgt der hyperpotente Jude die Gefahr der Verunreinigung der deutschen (arischen) Nation, was sich in der Vorstellung einer „Bastardierung […] [der] weißen Rasse“22 niederschlägt. Die Angst vor der ‚Verunreinigung‘ ruft jedoch eine zweite semantische Ebene auf, auf welcher der Diskurs aus dem Bereich der Sexualität in den Bereich der Bakteriologie/Virologie wechselt.23 Der kranke jü-

20 Vgl. ebd., S. 145ff. 21 Ebd., S. 45. 22 Adolf Hitler: Mein Kampf. Band I. München 1925, S. 357. 23 Hitler spricht in Mein Kampf in diesem Zusammenhang explizit vom „medizinische[n] Kampf“ (A. Hitler: Mein Kampf, S. 279). Auf das Judentum wird über Ausdrücke wie „feiger Parasit“, „Völkerparasit“, „Völkerkrankheit“ oder „Schmarotzer“ Bezug genommen. Durch die Verwendung von Metaphern aus der Bakteriologie und Epidemiologie wie „schädlicher Bazillus“, „Bazillenträger“, „Krankheitserreger“, „Seuche“, „Syphillis“, „Geschwulst“, „Unrat“, „Weltpest“, „schwarzer Tod“ oder „wandelnde Pestillenz“, „geistige Pestillenz“ erfolgt eine Gleichsetzung des Juden-

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dische Körper birgt eine (Ansteckungs-)Gefahr für den arischen (Volks-)Körper. Oder mit Gilman gesprochen: „Die Häßlichkeit ist ein Merkmal des kranken Mitglieds der Gesellschaft, das versucht, das Staatswesen zu infizieren.“24 Diese Gemengelage der Bilder wird in der Vorstellung der ‚jüdischen Nase‘ zusammengeführt, des Körperteils, der zum Pars pro Toto jüdischer Andersartigkeit geworden ist und mit Sexualität verbunden wird, worauf im Kapitel zu Thomas Hürlimanns Fräulein Stark genauer eingegangen werden soll. Die Kraft dieses Symbols lässt sich daran erkennen, dass es als Phantasmagorie eine so ausdrückliche Realität erlangte, dass es zur Herausbildung der Nasenchirurgie führte.25 Es verweist letztendlich auch auf das bekannteste Distinktionsmerkmal, welches stigmatisierend immer wieder herangezogen wird: Die Vorstellung des defekten jüdischen Körpers wird in der Regel auf den rituell beschnittenen Penis zurückgeführt,26 und so nimmt auch Paul den Kastrationsgedanken auf, als er erleichtert sein nicht beschnittenes Geschlecht den „kompletten Piephahn“27 und den ‚arischen Piephahn‘28 nennt. Die Sexualisierung der Juden wird in der angeblichen Hypersexualität des Vaters verbildlicht, die sich nahtlos in Pauls Bild vom kran-

tums mit den semantischen Feldern der Krankheit und der Unmenschlichkeit (Nachweise in aufgeführter Reihenfolge: A. Hitler: Mein Kampf, S. 334, S. 358, S. 68, S. 334, ebd., S. 62, S. 49, S. 85, S. 278, S. 61, S. 331, S. 46, S. 62, S. 40, S. 62.) Aus diesen

Beispielen

lassen

sich

die

Metaphern

‚Juden

sind

Tiere/Un-

geziefer/Unmenschen‘ und ‚Juden sind eine Krankheit‘ ableiten, wobei nur die letztere abgeleitete Metapher im Roman für die Konstruktion der jüdischen Figur Joseph Schatz bedeutend ist. Zur Wechselbeziehung beider Bereiche vgl. Andreas Musolff: Metaphor, Nation and the Holocaust. The Concept of the Body Politic. London/New York: Routledge 2010, insbesondere S. 24-28. 24 S. L. Gilman: „‚Die Rasse ist nicht schön‘ – ‚Nein, wir Juden sind keine hübsche Rasse!‘ Der schöne und der häßliche Jude“, in: ders./R. Jütte/G. Kohlbauer-Fritz, Der schejne Jid (1998), S. 57-74, hier S. 58. 25 Vgl. hierzu S. L. Gilman: „Are Jews White? Or, The History of the Nose Job”, in: ders., The Jew’s Body (1991), S. 169–193. 26 „Es ist ein beschädigter männlicher Körper, denn er ist vom Makel der Beschneidung gezeichnet.“ S. L. Gilman: „Der ‚Jüdische Körper‘. Gedanken zum physischen Anderssein der Juden“, in: Jüdisches Museum der Stadt Wien (Hg.), Die Macht der Bilder: antisemitische Vorurteile und Mythen. [Anläßlich der Ausstellung: Die Macht der Bilder: antisemitische Vorurteile und Mythen vom 27. April–31. Juni 1995 in der Volkshalle der Wiener Rathauses.] Wien: Picarus 1995, S. 169. 27 PSU, S. 29. 28 Ebd., S. 31: „Ich bin nicht beschnitten. Mein Piephahn ist arisch.“

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ken und moralisch schlechten Juden fügt, das ihm durch die Familie nahegelegt wird. Das Kind verarbeitet die Reden der Erwachsenen auf seine eigene Weise. In seiner Phantasie nimmt er den Begriff des Herzensbrechers wörtlich: „Als er einschlief, sah er Vater vor sich, maskiert und in einem schwarzen Mantel. Und nachts stahl sich Vater auf Katzensohlen an fremde Betten und holte zierlichstes Werkzeug aus seinem Fledermausmantel, Zange und Eisen und Hammer. Er stemmte einen Brustkasten auf, um sich ein Herz zu holen. Und wenn er es in seinen Fingern drehte, zerbrach er es. Es knackte, mehr nicht. Waren alle Juden Herzensbrecher? Oder bloß sein verschlagener Vater?“29

In dieses Bild des Herzensbrechers fließen die Motive der Schädigung und Schändung, die durch die nationalistische Propaganda Verbreitung fanden und ihr gemäß erscheint der Vater als schädigender und schadhafter Körper zugleich. Im Roman wird der Dualismus von „krank und gesund“ an weiteren Figuren aus Pauls Umgebung festgemacht. Als Repräsentant der ‚gesunden Rasse‘ gilt neben dem Großvater dessen Freund Doktor Schmidt, während die jüdischen Figuren dagegen kränklich und körperlich deformiert beschrieben werden. Darüber hinaus tritt der Großvater als Vertreter einer Gesellschaft auf, die moralisch integer und vital ist und die nur Platz für „lebenswertes Leben“30 bietet. Das dahinter stehende Weltbild bringt Doktor Schmidt auf den Punkt, als er erläutert, Macht sei „[e]ine saubere, kalt kalkulierte Operation! Mit einem Chirurgiemesser muß man in einen Gesellschaftsleib schneiden und seine morschen Organe entfernen!“31 Er selbst, der von Paul als „aus Draht und Eisen“32 bestehend wahrgenommen wird, und der unsterblich geglaubte Großvater erscheinen dabei als Vertreter einer solchen Gesellschaftsvorstellung. Dem diametral entgegengesetzt ist nicht nur der Vater, der sich noch bei der letzten Begegnung mit seinem Sohn gegen diese Fremdwahrnehmung zu wehren versucht und beharrlich „[b]in nicht krank, bin nicht krank!“33 daherredet, sondern auch andere Juden im Scheunenviertel. Besonders der weise und heiliggeglaubte Moshe Sternkukker legt eine leibverneinende Haltung an den Tag, die sich in seiner „zerbrechlichen Stim-

29 Ebd., S. 11f. 30 Der Großvater schlägt zu Pauls Entsetzen eine verletzte Fledermaus tot und sagt anschließend „na, na, das war kein lebenswertes Leben mehr!“ Ebd., S. 39. 31 Ebd., S. 62. 32 Ebd., S. 61. 33 Ebd., S. 261.

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me“34und seinem kränklichen Gesicht, „als sei es aus zerknittertem und vergilbtem Papier“35, spiegelt. Dieses von Doktor Schmidt verbalisierte und für die Konstruktion des Romans grundlegende Denkmodell unterliegt einem metaphorischen Konzept, demzufolge die Gesellschaft als ein Körper gedacht wird, was im folgenden Modell veranschaulicht werden soll: Abb. 2: Conceptual Integration Network GESELLSCHAFT IST EIN KÖRPER

34 Ebd., S. 56. 35 Ebd., S. 55.

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Die konzeptuelle Metapher GESELLSCHAFT IST EIN KÖRPER ergibt sich aus der Parallelität der Struktur beider input spaces. Die einzelnen Bestandteile des Konzepts von GESELLSCHAFT lassen sich im Konzept KÖRPER wiederfinden. Die Gleichsetzung der Elemente im blend lässt sich zu einer Isotopie erweitern, derzufolge die Machthaber als Ärzte für die Gesundheit des ‚Volkskörpers‘ oder ‚Staatskörpers‘ verantwortlich sind. Das abgeleitete Konzept DER MACHTHABER IST DER ARZT lässt sich weiter denken, wenn die Gewaltenteilung mit der medizinischen Arbeitsteilung strukturell verglichen wird. Demnach kann die Legislative als Forscher oder Chefärzte verstanden werden, die die Krankheiten erforschen, ihre Symptome definieren und so Diagnosen ermöglichen. Ärzte und Krankenschwestern befassen sich als Judikative mit den Patienten und fällen Urteile/Diagnosen über ihren Zustand und behandeln ihn, während die Exekutive als dasjenige Glied verstanden werden könnte, das die Patienten in das Krankenhaus einliefert, die Sanitäter. Die Vorstellung einer solchen Gewaltenteilung bringt erneut Doktor Schmidt zu Ausdruck: „Und Doktor Schmidt sagte: ‚Nein, ich bin kein Judenfeind. Ich habe bloß Mitleid mit dieser kranken Rasse. Niemals werde ich mir meine Finger an einem Juden schmutzig machen. Das erledigt sich von alleine‘ Von alleine? Paul kratzte sich am Ohr. Was hieß das? Mußten alle Juden an einem bestimmten Tag sterben? Fielen sie einfach um wie Eintagsfliegen?“36

Indem Paul die Aussage wörtlich nimmt und hinterfragt, wird ihre ganze Absurdität offenbar. Das durch Doktor Schmidt so kohärent vermittelte Bild der Gewaltenteilung, in dem ein nicht benannter Dritter sich ‚die Finger schmutzig macht‘, erfährt dadurch eine Irritation. Paul spricht in seiner kindlichunschuldigen Manier einen der großen Topoi des Nachkriegsdiskurses und der deutschen Schuldbewältigung an. Wie tief die Vorstellung einer höheren Macht verankert war, der die Schuld an der Judenvernichtung zufiel, zeigte die Debatte, die nach dem Erscheinen von Daniel Goldhagens Buch HitlerҲs Willing Executors im Jahre 1996 nicht nur unter Historikern entbrannte. Die Erweiterung der strukturellen Metapher zeigt ihre ideologische Bindung, die nur in bestimmten gesellschaftlichen Systemen möglich ist. Die Ausrichtung der Machthaber auf die Erhaltung der ‚gesellschaftlichen Gesundheit‘ bedeutet, dass Elemente, die schadhaft oder schädlich sind, eliminiert werden müssen. Im Sinne dieses Konzeptes ist beispielsweise Euthanasie der Integration von behinderten Menschen vorzuziehen und auch die Todesstrafe erscheint gerechtfertigt.

36 PSU, S. 52.

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Dass diese konzeptuelle Metapher unter einem anderen generic space auch alternativ verstanden werden könnte, zeigt der Versuch, MEDIZIN als strukturgebendes Feld beispielsweise durch ÖKOSYSTEM zu ersetzen. Ein Ökosystem setzt die Harmonie zwischen den einzelnen Organismen voraus, die nur durch eine ausgewogene Vielfalt erreichbar ist und in der jedes Element zum Fortbestehen des Ganzen beiträgt. GESELLSCHAFT IST EIN KÖRPER unter dem generic space ÖKOSYSTEM würde eine Gesellschaft beschreiben, die sich in Abhängigkeit von ihrer Umgebung weiterentwickelt und auf eine Koexistenz mit anderen Gesellschaften angewiesen ist. Eine solche Definition wäre geradezu gegenläufig zu der nationalsozialistischen Idee von der Überlegenheit einer Rasse, deren Fortbestand und Expansion die einzig wünschenswerten Ziele sind. Obwohl die konzeptuelle Metapher, wie sie hier kontextualisiert wird, an eine totalitäre, rassistische Gesinnung denken lässt, gehört ihr Gebrauch auch in der heutigen Alltagssprache zum festen Repertoire des Sprechens über Gesellschaft und wird beispielsweise in Bezug auf Kriminelle verwendet. Zur Konstitution einer konzeptuellen Metapher gehört – je nach Geltungsbereich – auch eine Verankerung in konkreten Handlungen oder Einrichtungen. So kann die Einrichtung des Gefängnisses im Zusammenhang mit der Metapher GESELLSCHAFT IST EIN KÖRPER als eine Quarantäneeinrichtung verstanden werden, in der ‚krank(haft)e‘ Elemente von den ‚gesunden‘ isoliert werden, um die Gesundheit des gesamten Organismus nicht zu gefährden. Im Roman wird diese Vorstellung besonders in den Ansichten Doktor Schmidts deutlich, der sich ausufernd der Organismusmetaphorik bedient, selbst wenn er sich nach dem Krieg von Hitler distanziert: „Was weiß der [Hitler] von totaler Revolution, vom Herrenmenschen, der sich seine Haut abzieht, seine verfaulten Organe ausbrennt. Was vom Maschinenorganismus, der keinen Schmerz empfindet. […] Eine Masse ist eine Ansammlung weiches Fleisch und zerbrechliche Knochen […].“37

Die konzeptuelle Metapher evoziert ein dualistisches Muster von Gesundheit, die sich hier im unzerstörbaren „Maschinenorganismus“ und in einer „Rasse mit Stahlhirn und Stahlherzen“38 manifestiert und der Krankheit und Schwäche entgegengesetzt wird. Auf der Figurenebene wird dieses Muster durch den ‚gesunden‘ arischen Großvater und den ‚kranken‘ jüdischen Vater repräsentiert. Dieses Muster geht von einer dualistisch organisierten Weltvorstellung aus, die im Ver-

37 Ebd., S. 128. 38 Ebd., S. 155.

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lauf der Handlung jedoch deutliche Brüche bekommt und inkohärent erscheint. Dies geschieht zunächst im Geltungsrahmen der Metapher, wenn nicht allgemeine Zweifel an der Richtigkeit einer solchen Gleichsetzung auftauchen, sondern nur Zweifel an der korrekten Zuordnung der Akteure in diesem Rahmen. Diese Zuordnung wird destabilisiert, als Paul seinen Vater bei Filmaufnahmen beobachtet, in dem dieser als Statist die Rolle eines SA-Mannes übernimmt. Als Paul sieht, wie er in der Rolle aufgeht und begeistert „Heil Hitler“ kreischt,39 läuft er weg. Im darauf folgenden Gespräch mit dem Sohn entlarvt der Vater dessen Motive: „Nimmst es mir krumm, was? Dein Vater, ein schimmeliger Schildermaler, der SA-Mann sein will. Paßt meinem Sohn nicht. Soll er bei seinen Leisten bleiben, Joseph Schatz, ein israelitischer Wurm, der bettelt: Zertrampelt mich, bitte, zertrampelt mich.“40 Eine scheinbar so problemlose Verwandlung des jüdischen Vaters in einen Nazi bereitet Paul Unbehagen. Der von ihm so eindeutig als jüdisch wahrgenommene Vater wird in den Augen der UFA-Leute nur auf die arischen Merkmale, „hatte graublaue Augen, war blond“41, reduziert und nicht als der abstoßende Körper erkannt, der er für Paul ist. Die interne Fokalisierung, die bis auf wenige Ausnahmen beibehalten wird, lässt die erzählte Welt in der subjektiven Verzerrung des Kindes erscheinen und verfolgt damit einen erkenntniskritischen Ansatz. Die vagen, perspektivisch oft verfälschten Andeutungen haben innerhalb der Konstruktion der Vaterfigur eine entscheidende Rolle. Sie zeigen eindrücklich, wie solche Metaphern Realität erzeugen können, denn die jüdische Erscheinung des Vaters ist für Paul real. Die Forschung zur Metaphorik der NSPropaganda stimmt weitestgehend in der der Annahme überein, dass die semantische Gleichsetzung von Juden mit Krankheit, Parasiten oder Untermenschen eine wichtige Rolle beim ‚Umschwung‘ zum eliminatorischen Antisemitismus besaß: „The imaginary used by the Nazis to legitimize their genocidal policies provides us with an extreme ‚test-case‘, so to speak, of a metaphor that was turned into the horrendous reality of World War and Holocaust.“42 Die narrative Strategie, die Koneffke mit der internen Fokalisierung verfolgt, wird durch die Wandlung des heterodiegetischen personalen Erzählers bekräftigt, der sich erst im zweiten Teil des Romans, als die Handlung ins Jahr 1968 springt, als homodiegetischer Ich-Erzähler zu erkennen gibt. Dadurch verringert sich seine Distanz zum Geschehen maßgeblich. Die phantastischen Elemente

39 Ebd., S. 130. 40 Ebd., S. 131. 41 Ebd., S. 130. 42 A. Musolff: Metaphor, Nation, and the Holocaust, S. 2.

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bekräftigen dies. Großvaters Tätigkeit als Logenmeister, der mit Hilfe seiner Uhren die Weltgeschicke ändert und das Grauen der Nazizeit ungeschehen macht, ist, ebenso wie das endlose Betrachten der Sterne, eine Realitätsflucht des Kindes. Trotz der älter werdenden Figur, bleiben diese magischen Elemente in Kraft, sind fester Bestandteil des Erinnerten, als einer narrativen, relativen und konstruierten Welt. Ebenso wie das narratologische Vorgehen trägt auch die Psychologisierung der Figuren zu einer fortschreitenden Instabilität der Zuschreibungen bei. So wird gelegentlich die Fokalisierung aufgelöst. In einer solchen Passage, in der der Vater fokalisiert wird, wird seine Einstellung zum zeitgenössischen traditionellen Judentum wiedergegeben, die ein Kind in seiner Komplexität gar nicht begreifen kann. „Nein, Joseph Schatz glaubte an keinen Gott und war nie in einem Bethaus zu finden, wo schnalzende, zischelnde und einen jammerhaften Singsang anstimmende Juden mit zernagten Pelzen und zerfressenem Filzhut und dreckigem Mantel eine Holzbank behockten und sich über ein Buch beugten, als wollten sie zu krummen Buchstaben werden. Wo ein Rabbi betete, ein Schlattenschammes mit einem Opferstock wedelte, ein Ofen bollerte und eine schmorige Hitze herrschte. Und er spottete, wenn ein chassidischer Rabbiner mit seinem flatternden Anhang ins Scheunenviertel einzog und in einer dreckigen Schankwirtschaft Hof hielt.“43

Aus dem Zitat lässt sich eine Form des jüdischen Selbsthasses herauslesen, der als Terminus durch Theodor Lessing 1930 zum Phänomen gemacht wurde. Unter anderem wurde die Haltung der assimilierten Juden, die insbesondere der Ostjudenzuwanderung in der Zwischenkriegszeit skeptisch gegenüberstanden, auf diese Weise bezeichnet.44 Joseph Schatz, der selbst als „schimmelig“ wahrgenommen wird, grenzt sich klar von anderen Juden, den chassidischen Ostjuden der nächsten Umgebung, ab. Seine Ostjuden-Vergangenheit hat er in PrzemyĞl zurückgelassen und wähnt sich nun progressiver als seine Nachbarn im jüdisch geprägten Berliner Scheunenviertel. Die hier beschriebene Form des jüdischen Selbsthasses schließt an die im vorangegegangenen Kapitel dargestellte innerjüdische Debatte zwischen Traditionalisten und Assimilationisten an. Die bereits in den Anfängen der Haskala entbrannte Diskussion verlor im 19. Jahrhundert nicht an Geltung und war zu Beginn des 20. Jahrhunderts ungebrochen präsent.

43 PSU, S. 32 f. 44 Vgl. Trude Maurer: Ostjuden in Deutschland 1918-1933. Hamburg: Christians 1986, S. 30.

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Der dabei zugrunde liegende Abgrenzungsmechanismus wird hier zweifach zitiert: Zum einen manifestiert er sich in dem Abscheu, die Paul seinem als nicht assimiliert wahrgenommenen Vater entgegenbringt, und zum anderen in der Geringschätzung, mit der dieser selbst seinen Nachbarn begegnet. Letztendlich müssen jedoch alle erkennen, dass die Nationalsozialisten keine Unterschiede machen. Die innerjüdische Debatte wird von den Nazis nicht wahrgenommen, und die Assimilation gilt als Maske, unter der sich der wahre Jude, der Ostjude, versteckt.45 Als Paul nach dem Tod des Großvaters Gefahr läuft, selbst deportiert zu werden, muss er erkennen, dass es nicht in seiner Macht steht, sich für eine Identität zu entscheiden – sie wird ihm per Gesetz aufoktroyiert. Er entdeckt, dass er seine jüdische Identität trotz vollständiger Assimilation nicht ablegen kann, da er laut Gesetz Jude ist und sich als solcher verstecken muss. Um dem bevorstehenden Schicksal der Deportation zu entgehen, wird er zu seinem Großonkel geschickt, der sowohl dem nationalsozialistischen Regime als auch dem Großvater, Karl Haueisen, ablehnend gegenübersteht. Dort wird er nicht nur als Arier ausgegeben, sondern er muss sich eine Sprachbehinderung aneignen, um zu großes Interesse an seiner Person zu vermeiden. Nun wird seine ursprüngliche Identität zu einer Maske, durch die eine Phantasmagorie des Jüdischen in Form der Behinderung durchschimmert, und Paul selbst wird zu dem, was gemäß seines frühen Weltbildes undenkbar erschien: einem versehrten arischen Körper. In der Distanz zu seinem Großvater gibt er anschließend auch seine antisemitischen Ansichten auf und wird nach Kriegsende gar Kommunist. Dabei erkennt er zunehmend, wie willkürlich, vielschichtig und fluktuierend die Identitäten, die er annimmt, sind. „Paul ließ sich seine Entscheidung nicht ausreden. Was war er nicht alles gewesen? Sohn eines schimmeligen Schildermalers, halber Israelit mit arischem Piephahn und Spitzel vom Zionistischen Rat, Pianist, Protestant und romantischer Deutscher, armes Kind und Familienschande und kleiner Herr Niemand und Uhrenfanatiker, der in Großvaters Fußstapfen treten wollte, und entsetzlicher Stotterer und Einsiedler, warum sollte er nicht Kommunist werden?“46

Anfangs voller Eifer der neuen Ideologie folgend, erlebt er konsterniert, wie sein alter Bekannter Doktor Schmidt, nun Genosse Schmidt, Parolen wie „Ein Volk muss zu einem Maschinenorganismus verschmelzen“ skandiert, von „faulende[r]

45 Vgl. S. L. Gilman: Die Rasse ist nicht schön, S. 60. 46 PSU, S. 246.

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Demokratie im Gesellschaftsleib!“ spricht, die amerikanische Gefahr heraufbeschwört, vom Negerheer faselt, wie er dies als NSDAP-Parteiabzeichenträger bereits getan hat und dafür im Saal umjubelt wird.47 Pauls Diagnose fällt dementsprechend aus: „Kommunismus ist Reichspost plus Stalin.“48 Doktor Schmidt verteidigt das Konzept von GESELLSCHAFT IST EIN KÖRPER nicht nur verbal, er verkörpert es geradezu: „Etwas Metallisches, Eisiges war um sein Greisengesicht. Und ich wußte, das war Doktor Schmidt. Er mußte es sein, erstes Exemplar einer zeitlosen und keine Schmerzen empfindenden und nicht mehr sterblichen Rasse.“49 Die Persistenz, die sich gegen die Veränderungen der Zeit zu wehren scheint, trägt entscheidend zur Demontage des Konzeptes bei. Es wird offensichtlich, wie beliebig die Rollenzuweisung innerhalb eines solchen Konzeptes ausfallen kann. Waren es in der NS-Zeit noch die Juden, die mit Krankheit assoziiert wurden, so fällt die Rolle nun den Kapitalisten zu: „Von fetten Maden zerfressener Kapitalismus!“, „Ein zahmes, zahnloses Volk, das sich Amerikas Willen beugt!“50 Die erfolgreiche Adaption des Konzepts in der Konkurrenzideologie steigert seine Unglaubwürdigkeit. Die Auflösung des Konzepts wird auf der Figurenebene an der Figur des Großvaters vollzogen: Es stellt sich im Verlauf der Handlung heraus, dass ihm, nicht Pauls Vater, die Schuld am Tod der Mutter zufällt. Von Joseph Schatz hingegen werden Details deutlich, die zwar seine Angst vor dem Großvater belegen und seine Feigheit bestätigen, doch auch auf seine Liebe zu Pauls Mutter schließen lassen: „Herr Joseph Schatz wagte nicht, bei Familie Haueisen anzuklopfen, um seine Frau zu beweinen. Nenntante Ida, die Wache beim Leichnam hielt, schleuste Pauls Vater ins Erkerzimmer, als Elsbeth und Haueisen schliefen. Zwei stumme Minuten durfte er sein Gesicht in Mutters Haar vergraben. Und sie konnten es einen Segen nennen, wenn Großvater sie nicht erwischte.“51

In dieser Szene der Trauer wird endgültig das Bild des Verführers untergraben, der seine Frau nur wegen der Schwangerschaft geheiratet hat. Im Gegenteil zeigt es einen verzweifelten Mann, der eine geliebte Frau verloren hat. Dementspre-

47 Ebd., S. 249. 48 Ebd., S. 250. 49 Ebd., S. 267 f. 50 Ebd., S. 249. 51 Ebd., S. 259.

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chend wandelt sich Pauls Traum, indem der Vater nicht mehr als Herzensbrecher erscheint, sondern verzweifelt versucht, die kaputten Herzen zu reparieren: „Joseph Schatz, der am Boden seines Zimmers zwischen zerbrochenen Herzen hockt und sie streichelt und in seinen Fingern dreht. ‚Ich muß sie reparieren‘, sagt Joseph Schatz. Und seine Brust klappt auf, und zierliches Werkzeug klappert zu Boden, eine silberne Zange, ein silberner Hammer.“52

Zusammenfassend lässt sich also feststellen, dass sowohl die Erzählstrategie als auch die psychologische Zeichnung der Figuren entschieden dazu beitragen, die ursprüngliche Zuordnung innerhalb der konzeptuellen Metapher GESELLSCHAFT IST EIN KÖRPER aufzuheben. Entsprechend den ambivalenten stereotypen Zuschreibungen der Zeit, sieht das Kind Paul in seinem Vater zunächst einen kranken Teil der Gesellschaft, der dennoch potent und mächtig genug ist, um den Rest des Körpers zu schänden und zu schädigen. Diese dualistisch organisierte Gleichsetzung des Vaters mit Krankheit und des Großvaters mit Vitalität wird durch die Mehrdimensionalität der Figuren instabil und letztlich in der hybriden Identität Pauls gänzlich aufgelöst. Die nationalsozialistische Ideologie, vor deren Hintergrund diese Metapher ihre fatale Konnotation erfährt, wird im Roman ad absurdum geführt. Dies geschieht beispielsweise durch humoristisch-makabre Elemente wie die Schädelvermessung des Wachtmeisters Schlicht: Als dessen Kopfform als die eines Neandertalers typologisiert wird, führt der Vermesser zur Ermunterung seine eigene Negerstirn ins Feld, woraufhin der betrübte Wachtmeister beide erschießt.53 Auch einige antisemitische Ausfälle Karl Haueisens gehören in diesen Bereich des Aberwitzigen und Bizarren: „‚Hitler! Ich wette, Hitler ist Jude‘, donnerte Haueisen, und Doktor Schmidt erwiderte boshaft, ‚wenn Hitler Jude ist, dann sind auch Sie einer.‘ – ‚Hitler ist Jude‘, beharrte Haueisen, ‚verschlagener kann keiner sein. Warum verspricht er, alle Juden auszumerzen? Um zur Macht zu kommen. Er ist ein Werkzeug, ja, ein menschliches Werkzeug, das sich schlaue Juden erdacht und im Labor erzeugt haben, in dampfenden Kolben, ein chemisch erzeugter Homunkulus. Und warum? Um uns zu vernichten.‘“54

Hier kommt auch das Motiv der jüdischen Weltverschwörung zum Tragen, das durch die Veröffentlichung Protokolle der Weisen von Zion außerordentliche

52 Ebd., S. 148. 53 Ebd., S. 134. 54 Ebd., S. 18 f.

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Popularität erlangte. Die Vorstellung Hitlers als jüdischem Homunkulus ist eine groteske Variation der Protokolle: Dort wird festgeschrieben, die Juden brauchten den Antisemitismus, um ihren „Gewaltkönig vom Blute Zion“55 an die Macht zu bringen. Die kindliche Phantasie erzeugt ein Bild, das die Absurdität dieser Vorstellung hervorbringt: „Endlich packte Hitler ein Weltschmerz, und er jammerte, Großvater Haueisen habe ja erkannt, was er sei, ein chemisches Erzeugnis, ein Homunkulus, ein vom Zionistischen Rat zusammengebackener Schreihals, und er, Paul, wisse von seinem Staatsgeheimnis, und Hitler bedeckte mit steifer Hand seinen Piephahn. ‚Wirst du mich verraten?‘“56

Indem Paul die kursierenden Allgemeinplätze in seiner Phantasie in konkrete Bilder bannt, werden satirische und groteske Momente erzeugt. Die Vorurteile, Theorien und konventionalisierten Metaphern sind in dieser materialisierten Form irritierend: Die Inkohärenzen dieser Denkbilder und der auf ihnen aufbauenden Weltdeutungen werden offengelegt und gleichzeitig als erratisch und zum historischen und ideologischen Rahmen relativ entlarvt. Neben den materialisierten Vorstellungen sind es vor allem die Mittel des Rollentausches, der satirischen Überformung und der wechselnden Erzählperspektive, die hier auf zwei Ebenen den Geltungsbereich der Metapher destabilisieren. Dies kann im Rahmen der Metapher auf der Figurenebene passieren, wenn die normative Besetzung der Rollen wechselt und die stereotypen Zuschreibungen an ‚den Juden‘ als arbiträr entlarvt werden. Es kann jedoch auch die gesamte Metapher demontiert werden, wenn ihre Repräsentationsfähigkeit in Zweifel gezogen wird: Ihre kulturelle Kohärenz wird aufgelöst, wenn ihre Implikationen beliebig von kulturellem und ideologischem Konzept in das geradezu entgegengesetzte übertragen werden können.

55 Jeffrey L. Sammons: Die Protokolle der Weisen von Zion. Die Grundlage des modernen Antisemitismus – eine Fälschung. Text und Kommentar. Göttingen: Wallstein ²2001, S. 46. Auf S. 56 heißt es dann: „Wir brauchen den Antisemitismus, um unsere Brüder aus den unteren Schichten zusammen zu halten.“ 56 PSU, S. 34.

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2.1.2

M ASCHINE: Mariusz Sieniewicz ĩydówek nie obsługujemy

„Eine Jüdin war die Idee. Bestens bekannt, augenscheinlich ungefährlich, seit Jahrhunderten dieselbe. Bei Sonnenuntergang schwebte sie über der Welt und rief ‚Tod! Tod!‘. Die Menschen sagen dann, es hängt was in der Luft.“57

Schon dieser erste Satz in Mariusz Sieniewiczs Kurzgeschichtensammlung Jüdinnen bedienen wir nicht deutet auf einen anderen Umgang mit dem Gegenstand hin. Sieniewicz, der der Richtung der sogenannten jungen, engagierten polnischen Prosa (proza zaangaĪowana) zugeordnet wird, verfolgt mit seiner Konzeption des Jüdischen einen gesellschafts- und kapitalismuskritischen Ansatz. Für das Verständnis der Interpretation ist es notwendig, auf den postmodernen Charakter des Textes hinzuweisen, der durch den hohen Abstraktionsgrad oft mehrere Übertragungen und damit längere Interpretationsketten erforderlich macht. Die einzelnen Geschichten werden vom im Titel vorgegebenen Leitmotiv der Jüdin zusammengehalten. Diese ist bis auf die letzte titelgebende Geschichte keine plastische Figur, sondern eine vage Vorstellung und eine kühne Metapher der Andersheit. Mal ist sie eine von Hochzeitsgästen begehrte Braut,58 mal ein verrückter Sohn, der mit Tabletten ruhig gestellt wird,59 mal ein Beamter,60 der, Obszönitäten flüsternd und in einen Big Mac onanierend, versucht, McDonaldsMitarbeiter aus der Façon zu bringen, mal ein untoter Hund61 und mal, wie im einleitenden Zitat, der Todesgedanke. Die Jüdin wird zum Synonym für Andersheit, die in den gewohnten Alltag dringt, und für die Irritation, die sie dort erzeugt. Sieniewicz greift mit dem Titel zwar das Stereotyp der ‚schönen Jüdin‘ auf, in den Erzählungen wird dieses Stereotyp jedoch zur bloßen Phantasmagorie. Der Autor legt selbst eine Deutung seiner Kurzgeschichten nahe: „Wir sind Fremde – Jüdinnen. Alle! Gegen die landläufige Meinung, gegen Gefühle, gegen das Geschlecht. Eifrig kreieren wir Scheingemeinschaften, mit den falschen Vorstellungen, dass wir in ihnen leben und verwurzelt sind. Derweil leben wir, ja durchaus, doch

57 ZO, S. 5. „ĩydòwką była myĞl. Doskonale znana, z pozoròw nie groĨna, od wiekòw ta sama. Unosiła siĊ o zmierzchu nad Ğwiatem i wołała ‚Ğmierü! Ğmierü!‘. Ludzie wtedy mòwią, Īe coĞ wisi w powietrzu.“ [Diese und folgende Übersetzungen: P.W.] 58 Panna młoda [Die Braut]. ZO, S. 27-30. 59 Mumin. ZO, S. 136-139. 60 UrzĊdnik [Der Beamte]. ZO, S. 79-81. 61 Pies [Der Hund]. ZO, 181-184.

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bis zur Schmerzgrenze der Andersheit. Wenn ich wirklich ein Mensch sein will, so muss ich das Bewusstsein besitzen, dass mich mehr von anderen Menschen trennt, als mich mit ihnen verbindet.“62

Das Jüdin-Sein als Pars pro Toto der Andersheit wird in fünf der Kurzgeschichten ausdrücklich artikuliert, die allesamt mit einer Näherbestimmung der Jüdin beginnen. Diese Bestimmungsversuche stehen miteinander in einem Dialog, nehmen aufeinander Bezug, streiten miteinander: „Moment, Moment. Was für kranke Annahmen. Die Jüdin ist ein Hund – ein riesiger Mischling von einem kleinen Hof“63, „Quatsch, die Jüdin war eine Braut“64, „Die Braut eine Jüdin? … Blödsinn. Es stellte sich als ein Mann von ziemlich durchschnittlicher Oberflächlichkeit als Jüdin heraus“65. Zwischen diesen kursiv hervorgehobenen, kürzeren Erzählungen sind im Wechsel längere eingeschoben, in denen die Jüdin nicht explizit genannt wird. Dieser regelmäßige, optisch unterstützte Wechsel verhilft, den Eindruck einer ganzheitlichen Erzählstruktur zu erzielen. Diese Struktur wird von der letzten Erzählung, die titelgebend für den Band ist, durchbrochen, wenn hier die Jüdin als tatsächliche Figur auftaucht. Dem zunächst noch männlichen Protagonisten wird an der Kasse die Bedienung versagt, weil er als Jüdin identifiziert wird. Während er noch beteuert, keine Jüdin zu sein, entdeckt sie plötzlich einen Davidstern auf ihrem Jackenärmel. Sie wird über Lautsprecher des Supermarktes als Sensation ausgerufen und von Gaffern umringt. Zwar entpuppt sich die Geschichte letztendlich als Traum, doch wird dieser als eine bevorzugte Wirklichkeit proklamiert. Die Du-Form in der Geschichte unterstreicht den zynisch appellativen Charakter: „Wach auf! […] Und es fängt wieder an, und du wirst erneut der Hauptdarsteller einer auswendig gelernten Wirklichkeit.“66

62 ZO, Rückumschlag. „JesteĞmy odmieĔcami-ĩydòwkami. Wszyscy! Na przekòr poglądom, uczuciom, płci. Gorliwie tworzymy ułudne wspòlnoty, z fałszywym przeĞwiadczeniem, Īe w nich Īyjemy i jesteĞmy zakorzenieni. Tymczasem Īyjemy, owszem, ale aĪ do bòlu innoĞci. JeĪeli chcĊ byü naprawdĊ człowiekiem, muszĊ mieü ĞwiadomoĞü, Īe wiĊcej mnie dzieli od ludzi niĪ z nimi łączy.“ 63 ZO, S. 181. „Zaraz, zaraz, co za chore przypuszczenia! ĩydòwka to pies – wielki mieszaniec z małego obejĞcia.“ 64 Ebd., S. 27. „Bzdura, ĩydòwką była panna młoda.“ 65 Ebd., S. 78. „Panna młoda ĩydòwką? ... A gdzie tam! Okazał siĊ nią pewien mĊĪczyzna o doĞü przeciĊtnej powierzchownoĞci.“ 66 Ebd., 248. „ObudĨ siĊ! […] I zacznie siĊ, i bĊdziesz na nowo głòwnym bohaterem wyuczonej na pamiĊü rzeczywistoĞci.“

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Dieser letzte Appell lässt keinen Zweifel an der Stoßrichtung von Sieniewiczs Kritik. Auch in den übrigen Erzählungen hat die Jüdin in ihrer abstrakten Rolle als irritierende Andersheit die Funktion zu mahnen, Verlogenheit aufzuzeigen und Gesellschaftskritik zu üben. In der Geschichte UrzĊdnik/Der Beamte macht es sich der titelgebende Beamte zur Gewohnheit, täglich bei McDonalds zu sitzen und den Passanten Obszönitäten zuzuflüstern. Da sein Verhalten durchaus von den Kunden bemerkt, von den Angestellten jedoch beharrlich ignoriert wird, beginnt er in einen Big Mac zu onanieren. Als auch diese Steigerung nicht gegen das sture Lächeln der trainierten Mitarbeiter ankommt, dringt er in die Küche ein, wirft sich nackt auf den Grill und taucht seinen Kopf in das siedende Fett. Doch auch diese Situation wird von den patenten Mitarbeitern gehandhabt, und die Geschichte bietet zwei mögliche Schlussvariationen an. Während in der einen Version der Protagonist ins Krankenhaus abtransportiert wird, wird in der anderen ein neues Happy Meal angeboten. In der Rolle der andersartigen Beobachterin ähnelt Sieniewiczs Jüdin dem, was Hannah Arendt als kennzeichnend für den Paria hervorhebt, „der außerhalb der Rangordnung der Gesellschaft steht und keine Lust hat, in sie aufgenommen zu werden“67. Durch die Andersartigkeit gebrandmarkt, steht der Paria außerhalb der Gesellschaft und beobachtet sie kritisch. In den Geschichten MyĞl/Der Gedanke68 und Pies/Der Hund fungiert die Jüdin in dieser Pariarolle als memento mori und als Gewissen. In Sieniewiczs Kurzgeschichten wird dem Jüdischen jedoch nicht nur eine Außenseiterrolle in der Gesellschaft zugeschrieben. Die jeweiligen Protagonisten stören mit ihrem Verhalten aktiv geregelte Abläufe und präsentieren öffentlich ihre körperliche und psychische Devianz und entsprechen damit dem, was Arendt als den rebellischen „bewussten Paria“69 definiert. In allen Geschichten des Bandes spielt körperliche Devianz eine entscheidende Rolle. Der menschliche Körper wird gemartert (Złota akszyn70, UrzĊdnik) und missbraucht (Panna młoda), er erleidet Krankheiten (Bòl brzucha…) und Behinderungen (Mumin). Der Körper ist jeweils Marker einer überlegenen oder

67 Hannah Arendt: Die verborgene Tradition. Essays. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2000, S. 54. 68 ZO, S. 5-8. 69 Vgl. H. Arendt: Die verborgene Tradition, S. 60-64. 70 Goldene Action. ZO, S. 31-77.

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unterlegenen Rasse71, Gegenstand sexueller Phantasien72 und wird an seine eigene Sterblichkeit erinnert (MyĞl). Die gestörte Ganzheit des Körpers steht zusammen mit der gestörten Psyche als Antagonismus zur als Ganzheit begriffenen und idealisierten Gesellschaft und ihren Institutionen. Die Devianzen des Körpers und der Psyche sind bei Sieniewicz Möglichkeiten, ein abgeschlossenes System zu irritieren. Die psychisch oder physisch Kranken sind defekte Teile eines Gesellschaftssystems, die das Funktionieren der Gesamtheit stören. So in der bereits vorgestellten Kurzgeschichte UrzĊdnik/Der Beamte: „Es ist schwer zu glauben, aber das Personal sah weiterhin nichts, hörte weiterhin nichts. […] Eines Abends erreichte ihn das Bewusstsein, dass er alle möglichen Griffe erschöpft hatte, Widerlichkeiten geflüstert hatte, Flüche, sich fast zu Tode onaniert hatte, und die Windmühle stand, wie sie stand, an ihren Flügeln kein Schnitt – ein Gegner ohne Verluste. […] Am nächsten Tag, gegen Mittag, drang er nach hinten, in die Küche ein. Nachdem er den überraschten Koch zur Seite gestoßen hatte, warf er sich auf das heiße Rost, auf den Toaster, auf die scharfen Schneiden, den Kopf tauchte er in das siedende Fett. […] Der Küchenchef schnappte sich mechanisch den Lufterfrischer, drehte die Musik lauter, die Verkäufer beeilten sich, in geschlossenen Reihen an den Kassen zu stehen und mit einer vollen Tonleiter ihrer Lächeln die Küche abzuschirmen. Die Menschen sahen nichts, das Personal konnte mit einer Prämie rechnen.“73

Die Kapitalismus- und Industrialisierungskritik, die hier im Bild des gegen Mühlen kämpfenden Don Quijote eingefangen wird, richtet sich gegen ein nach

71 O, kurna! W głowie wujnia! Aufgrund der Neologismen ist es kaum möglich, den Titel zu übersetzen. In etwa lautet er: O Scheiße! Im Kopf des Onkelins. ZO, S. 140180. 72 PosuĔ siĊ, posuĔ. Bo ciĊ posunĊ! [Rück mal, oder ich schiebe dich!]. Ebd., S. 9-26. 73 Ebd., S. 80 f. „Trudno uwierzyü ale personel nadal nie widział, nie słyszał nic.[…] Pewnego wieczoru, tuĪ przed zaĞniĊciem, dotarła do niego ĞwiadomoĞü, Īe wszystkie moĪliwe chwyty wyczerpał, wyszeptał ochydzctwa, przeklĊstwa, zaonanizował siĊ prawiĊ na Ğmierü, a wiatrak jak stał, tak stał, na skrzydłach ani jednego ciĊcia – przeciwnik bez strat.[…] NastĊpnego dnia, około południa, wtargnął na zaplecze, do kuchni. OdĊpnąchwszy zaskoczonego kucharza, rzucił siĊ na rozgrzane blaty, tostery, na krajalnice ostre, głowĊ w gorącym tłuszczu zanurzył. […] Szef kuchni machinalnie złapał odĞwierzacz, podkrĊcił muzyczkĊ, sprzedawcy czym prĊdzej stanĊli w zwartym szyku przy kasach i pełną gamą uĞmiechòw zasłonili zaplecze. Ludzie nie dostrzegli nic, personel mògł liczyü na premiĊ.“

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marktwirtschaftlichen Regeln funktionierendes System, das keine Störungen und Unterbrechungen zulässt, da dies seine Effektivität beeinträchtigen würde. Das Windmühlenbild, das im obigen Zitat heraufbeschworen wird, deutet auf eine konzeptuelle Metapher hin, die Organisationen oder Systeme als Maschinen erfasst. Linguistische Metaphern, wie ‚die Windmühlen/Räder (einer Institution) mahlen langsam‘, ‚Maschinerie des Tötens‘ als Metapher für den Krieg, ‚Mechanismus‘ für einen bestimmten Modus Operandi einer Organisation, ‚Uhrwerk‘ für eine störungsfreie Funktionsweise oder auch ‚Grundüberholung‘ für die Neustrukturierung eines Unternehmens sind sprachliche Manifestationen dieser konzeptuellen Metapher. Bei Sieniewicz ist die Gesellschaft als eine solche Maschine zu begreifen, als eine Windmühle, gegen deren Gewalt der Einzelne nicht ankämpfen kann. Die Metapher wird mehrfach durch die Metonymisierung der Figuren mittels ihrer Körperteile heraufbeschworen, wenn die scheinbar losgelösten Lächeln der Angestellten zu Werkzeugen verdinglicht werden, die das Geschehen zu verdecken vermögen. Sprachlich wird dies deutlich, wenn Metaphern materialisiert werden, wie in Die Braut: „Der eine nahm das Knie, der zweite den Hals und den Nacken, der dritte – das hochgesteckte Haar, der vierte – die Lippen, feucht, saftig, der fünfte – den straffen Bauch, der sechste – Solariumschenkel, der Rest weidete ungestraft die Augen.“74

Der Mensch bildet hier keine organische Einheit, sondern ist in seine Einzelteile zerlegbar. Im herkömmlichen Sprachgebrauch ist es zwar durchaus üblich, Körperteile zu personifizieren oder sie als Pars pro Toto für Sinne, Gefühle oder Charaktereigenschaften einzusetzen (beispielsweise: „Augen“ für den Sehsinn, „Herz“ für Gefühl, „Schenkel“ für Sexualität, „Arm“ für ausführende Kraft); hier wird dieses konventionelle Sprechen erweitert. Die neue Metapher, die hier geschaffen wird, nimmt Ursprung in der konventionellen Metapher SEHEN IST NEHMEN („Lesen“ als „Auflesen“). Diese wird in Die Braut erweitert, wenn die Gäste die einzelnen Körperteile mit nach Hause nehmen. Solche kreativen Metaphern, die durch Erweiterung der konventionellen entstehen,75 vermögen die gewohnte Sprachwahrnehmung zu irritieren. Die Bilder, die Sieniewicz hier her-

74 Ebd., S. 29. „Nad ranem odeszli goĞcie z rĊkoma pełnymi panny młodej. Jeden zabrał kolano, drugi szyjĊ i kark, trzeci – upiĊte włosy, czwarty – usta mokre, soczyste, piąty – sprĊĪysty brzuch, szòsty – solariowe uda, reszta napasła bezkarnie oczy.“ 75 Zu den Modi der Schöpfung neuer Metaphern vgl. George Lakoff, Mark Turner: More Than Cool Reason. A Field Guide to Poetic Metaphor. Chicago: Univ. of Chicago Press 1989, S. 67 ff.

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aufbeschwört, lassen Menschen als Maschinenwesen, Automaten erscheinen: Ihre Körper werden in einzelne Teile zerlegt und ihre Gemeinschaft ist eine von Automatismen determinierte Maschinerie. Wenngleich also hier Krankheit und körperliche Devianz tragende Themen sind, so wirken sie vielmehr als Funktionsstörungen eines Mechanismus. Eine in diesem Sinne verstandene Gesellschaft legt ihren Impetus auf die Funktionsfähigkeit und gleicht darin ebenfalls einer Maschine: Abb. 3: Conceptual Integration Network GESELLSCHAFT IST EINE MASCHINE

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Die Maschinen- oder Maschineriemetapher lässt sich grundsätzlich auf alle geschlossenen Systeme anwenden, die in einer methodischen, systematischen und geordneten Weise funktionieren wie einzelne Einrichtungen (Gerichte, Verwaltungen, Unternehmen), Regierungen oder ökonomische Systeme. Durch die Verwendung der Maschinenmetapher werden bestimmte Aspekte von solchen Systemen beleuchtet, die sich auf die Funktionsdynamik beziehen oder den Eindruck der Unpersönlichkeit des Systems in den Vordergrund stellen. In beiden Fällen vermittelt die Maschinenmetapher die Schwierigkeit des Zugriffs von außen auf den zugrundeliegenden Mechanismus. Ein solches Verständnis der Gesellschaft bedeutet, eben diese Eigenschaften der Unpersönlichkeit eines Systems, das automatisiert ist und das kaum Möglichkeiten des Einflusses bietet, hervorzuheben und beispielsweise den Gedanken einer sozialen Gemeinschaft zu verdecken. Sieniewicz kritisiert mit der Metapher eine Gesellschaft, in der ökonomische Prinzipien Vorrang vor moralischen Werten haben und in der beispielsweise einem Kranken wegen bürokratischer Vorschriften die Behandlung verweigert wird. Eine solche Kapitalismuskritik ist ein Merkmal der jüngeren polnischen Literatur, die sich kritisch mit der Konsumbegeisterung der 1990er Jahre auseinandersetzt.76 Im Unterschied zu dem vorangegangenen Beispiel GESELLSCHAFT IST EIN KÖRPER ist dies keine Metapher, die spezifisch mit der nationalsozialistischen Denkungsart in Verbindung gebracht wird. Folglich ist auch die Analogie des Jüdischen mit einem ‚Sandkorn im Getriebe‘, die Sieniewicz hier erzeugt, nicht pejorativ zu verstehen. Der Autor selbst legt durch seinen Kommentar eine affirmative Deutungsweise nahe, wenn er das Fremde und Andersartige zur konstitutiven Eigenschaft des Menschen erklärt. Trotz der konnotativen Umwertung können sich die Geschichten nicht dem Verdacht entziehen, eben das Jüdische als Pars pro Toto des Fremden zu deklarieren und damit ein stereotypes Merkmal aufzugreifen. Schon die Wahl des Titels, der auch Juden bedienen wir nicht hätte lauten können, nimmt eine tradierte stereotype Figur auf: die ‚schöne Jüdin‘. In der literarischen Tradition ist die Figur der Jüdin durch ihre äußere Erscheinung, ihre Religion oder auch durch ihr sexuelles Verhalten eine Fremde. In der Regel als eine exotische Schönheit dargestellt, steht sie immer außerhalb der Gesellschaft. In der Romantik wird ihre Alteritätsstellung durch Attribute des Geheimnisvollen, Unheimlichen und Magischen betont, wie dies beispielsweise in Achim von Arnims Die Majoratsherren passiert, wo die schöne Esther dem

76 Bei Sieniewicz wird dies in Aussagen wie „Polak i klient to jedno“ [„Ein Pole und ein Kunde sind ein und dasselbe“] überdeutlich. ZO, S. 206 f.

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Wahnsinn verfallen zu sein scheint und nachts mit Geistern spricht. Der unschuldige Jüngling verliert durch seine Liebe zu ihr ebenfalls nahezu seinen Verstand, worin ein weiteres Motiv der Figur offensichtlich wird: Als Fremde ist sie eine Gefahr für den Geliebten, die nur durch eine Anpassung gebannt werden kann. Die Literatur des Mittelalters kennt nur ein Mittel für eine glückliche Beziehung zwischen dem christlichen Jüngling und der ‚schönen Jüdin‘: die Konversion. Diese Lösung funktioniert jedoch nur dort, wo die Religion die Grundlage der Devianz ist, dort, wo das rassistische Paradigma greift, gibt es diese Option auf Erlösung nicht mehr: Die ‚schöne Jüdin‘ bleibt eine Fremde, und die Beziehung mit ihr ist zum Scheitern verurteilt. In einem hermetischen nationalen, religiösen oder rassisch definierten gesellschaftlichen System bleibt sie ein Fremdkörper. Die Alteritätsstellung ‚der Jüdin‘ in einer systemisch gedachten Gesellschaftskonzeption lässt sich nur auflösen, wenn, wie hier, der Gedanke einer geschlossenen Ganzheit kritisch beleuchtet wird. Bei Sieniewicz werden die Teile der Maschine, die scheinbar grauen und angepassten Bürger, zu Individuen, die jederzeit fähig sind, herrschende Vorstellungen von Normalität zu verlassen, unberechenbar sind und nur zufällig in den gegebenen Konstellationen leben. Sie sind oft entwurzelt, verlieren sich in Institutionen oder vergleichen sich mit der Gestalt des Sisyphos, in dessen Sinnlosigkeit des Daseins sie den Sinn des ihrigen erkennen. In den Erzählungen werden nicht nur Konstruktionen von ideal gedachten Ganzheiten in Form von gesellschaftlichen Systemen, von Obrigkeiten wie politischen Herrschern oder institutionellen und religiösen Autoritäten als fallibel präsentiert, sondern eine Kritik formuliert, die denen gilt, „welche in festen Rangordnungen leben, weil sie offenbar das, was die Natur großmütig gegeben, eingetauscht haben gegen die Götzen gesellschaftlichen Vorteils“77, wie Hannah Arendt den Parvenu zeichnet. Nicht nur der Kapitalismus wird mit der Maschinenmetapher scharf angegriffen, sondern auch die Nationalreligion, der Katholizismus, der bei Sieniewicz zu einer Religionsökonomie gerät. So wird in der Kurzgeschichte Złota akszyn/ Goldene Akszyn die christliche Leidenssymbolik als eine Art Unterhaltungsindustrie gezeichnet. Weder die Akteure dieser ‚Shows‘, die vor den Kirchen ihre verstümmelten Leiber präsentieren, noch die Passanten werden als mitfühlende Individuen dargestellt. Alles Handeln richtet sich nach marktwirtschaftlichen Leitsätzen, und die Figuren wirken dadurch entmenschlicht und maschinell. Die Performer sind Ausgestoßene, Bettler, die ihr körperliches Leid zur Schau stellen und Geld dafür verlangen. Ihre Existenz ist zugleich eine Manifestation von Ge-

77 H. Arendt: Die verborgene Tradition, S. 56.

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sellschaftskritik, sie haben die Rolle des Paria inne. Sie rekurrieren auf das Leid und das Leiden Jesu, der als der „Große Performer“78 und, als Anspielung auf die Haltung am Kreuz, als der „Große Schmetterling“79 betitelt wird. Der Opferkult des Christentums wird hier durch einen Parallelismus zu seiner größten Pervertierung in der Menschenvernichtung in den KZs in Beziehung gesetzt: „Der Meister liebte Kunst. Das einzige, was er hasste […] das war Bodyart. Im Fall von Bodyart wird der Körper verschwendet, zur Beute gehaltloser Experimente gemacht, ohne ein historisch-hysterisches Bewusstsein davon, dass auf diesem Feld die größten Triumphe die Auschwitzer Formale Schule feierte.“80

Das religiöse System der Kirche wird auf zweifache Weise aufgebrochen: Zum einen werden der Körperkult und die Zurschaustellung des Leidens zu einer pervertierten Kunstform überzeichnet, und zum anderen wird das Glaubenssystem als ein ökonomisches System dargestellt und so seiner spirituellen Grundlage beraubt. Dieser letzte Vorwurf ist dem polnischen Kontext geschuldet, in dem die Kirche immer noch politische Macht besitzt, sie schon zu kommunistischen Zeiten als wirtschaftlich prosperierender Zweig galt und so immer wieder von Kritikern dem Vorwurf der Gier ausgesetzt wurde. Auch die (National-)Sprache als ein ganzheitlich konzipiertes System wird konsequent aufgebrochen, was als ein Seitenhieb auf den polnischen Nationalismus verstanden werden kann. Zu dessen Spezifik zählt es, dass die polnische Sprache ebenso wie der Katholizismus die Bereiche sind, die sich im Zuge der Teilungen und Besatzungen des Landes als konstitutiv für das Nationalgefühl herausbildeten, als eine Identifikation mit dem Boden und dessen Grenzen unmöglich war. Die Geschlossenheit des sprachlichen Systems wird aufgebrochen, indem Neologismen, Soziolekte, kreative Metaphern und Fäkalsprache reichhaltig verwendet werden. Daneben lassen sich Wort- und Sprachspiele nachweisen sowie bewusst eingesetzte fremdsprachliche Begriffe aus dem Englischen und dem Deutschen. Im Falle der Fremdwortverwendung wird das Englische relativ wahllos benutzt, während das Deutsche nur in der letzten, der titelgebenden Erzählung des Bandes vorkommt, die als Kommentar zum Erzählband gelesen werden kann. Als Jüdin an der Kas-

78 ZO, S. 48. 79 Ebd., S. 53. 80 Ebd. S. 57 f. „Mistrz kochał sztukĊ. Jedyne, czego nienawidził […] to bodyart. W wypadku bodyartu ciało jest marnotrawione, oddane na łup jałowych eksperymentòw, bez historyczno-histericznej ĞwiadomoĞci, Īe na tym polu najwiĊksze triumfy ĞwiĊciła OĞwiĊcimska Szkoła Formalna.“

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se entlarvt, wird der Protagonist, der sich in seine Rolle als Jüdin langsam einfindet, von einem Mob beschimpft, der sich nach einiger Zeit nicht mehr nur über das Jüdische mokiert. Der Hass der Menge geht gegen alle Formen des Andersseins: gegen Homosexuelle („Schwule nach Holland“), gegen Feministinnen, Hexen, Amerika („Irak für die Iraker. Bush nach Washington“), gegen Liberale („Weg mit den Liberalen, dem Krebsgeschwür im Körper der Heimat!“), gegen Abtreibung („Abtreibung ist eine Sünde! Das ungeborene Leben schützen!“81). Die Menge skandiert zusammenhanglos, doch die Verbindung des Jüdischen mit dem Weiblichen wird als besondere Gefahr erkannt, die Gefahr des – und hier wird der deutsche Terminus gebraucht – „Ewigweibliche[n]“82. Dieses Ewigweibliche spiegelt in der Mischung aus Gefahr und Faszination das Verlangen nach dem Anderen, wie bei Cézanne, aber auch bei Goethe am Schluss von Faust II: „Alles Vergängliche / Ist nur ein Gleichnis; / Das Unzulängliche, / Hier wird’s Ereignis; / Das Unbeschreibliche, / Hier ist’s getan; / Das EwigWeibliche / Zieht uns hinan.“83 Die mit Faszination vermengte Gefahr, die das Zitat beschreibt, wird in Paul Cézannes Gemälde Das Ewig-Weibliche bildlich umgesetzt, wenn die geradezu leuchtende Nacktheit der Frau sich vor dem dunklen Hintergrund der männlichen Menge abhebt, in der deutlich der Bischof erkennbar ist. Das Ewig-Weibliche ist ebenso Mittelpunkt und Objekt des Begaffens wie der Empörung. Das Signifikat der ‚schönen Jüdin‘ verweist auf die Kopplung der Momente des Ewig-Weiblichen und des Jüdischen, durch die die Jüdin in einer doppelten Fremdheit auftritt. Die gehäufte Verwendung des Absurden und Grotesken bei Sieniewicz etabliert den Oneirismus als Gegenentwurf zur Maschinenmetapher und verfolgt damit konsequent den Pariatopos, der durch die „Verlegung der Akzente, [den] vehement natürlichen Protest des Paria, der das, was die Gesellschaft als Wirklichkeit aufgebaut hat, nicht anerkennen kann und ihr eine andere und in seinem Sinne mächtigere Wirklichkeit entgegensetzt“84. Die Maschinenmetapher wird hier nur in ihrer negativen Konnotation verwendet, mögliche positive oder neutrale Bedeutungsaspekte, wie sie beispielsweise Andrew Goatly beschreibt,85 werden bei Sieniewicz nicht berücksichtigt. Ihr Anderes, das Deviante und Stö-

81 Alle Zitate: ZO, S. 195 f. 82 Ebd., S. 193. 83 Johann Wolfgang Goethe: Faust. Der Tragödie zweiter Teil. Stuttgart: Reclam 1986, S. 214. 84 H. Arendt: Die verborgene Tradition, S. 56. 85 Vgl. Andrew Goatly: Washing the Brain. Metaphor and Hidden Ideology. Amsterdam/Philadelphia: Benjamins 2007, S. 101 f.

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rende wird dagegengesetzt und konnotativ aufgewertet. Die stereotype Alteritätsstellung des Jüdischen wird damit zu einem konstitutiven Moment des Widerstandes, zur notwendigen Bedingung der Individualität und einer würdigen Existenz. In diesem Sinne wird die Rolle der Jüdin analog zur Opferrolle Jesu‫ތ‬ konzipiert, wenn ihre Abführung von der Gestapo und der Weg durch das Einkaufszentrum deutliche Anleihen an das Motiv der Via Dolorosa aufweisen: „Mit schnellen Schritten geht ihr an Diverse vorbei, fünfte Station – du sinkst auf die Knie. […] aus dem Augenwinkel sieht du, wie ein Weib, das schweigend einen Schokoriegel fraß, langsam durch die Mauer der Sicherheitsleute dringt, und schon ist sie bei dir. […] Sie wischt dir mit einem Tuch das Blut von der Stirn, dann legt sie dir eine Colaflasche an die Lippen. Du trinkst gierig –gul! gul! Golgata! Gul, gul!“ 86

Diese doppelte Metamorphose von einem polnischen Mann in eine jüdische Frau und schließlich in eine Jesusfigur lässt Devianz auch zum bestimmenden Merkmal der christlichen Religionsgrundlage werden, verwischt die Trennlinien der Geschlechterzugehörigkeit wie auch der Religions- oder Volkszugehörigkeit. Die groteske Ästhetik lässt sich in diesem Zusammenhang als ein Metakommentar verstehen: Die inkohärente, oneiristische Textwelt wird immer wieder zur realen Welt in Beziehung gesetzt. Dies geschieht durch Anspielungen auf die Konsumwelt mit bestimmten westlich geprägten Marken, etwa McDonalds oder Coca Cola oder durch das Aufrufen bestimmter Traditionen, wie einer polnischen Hochzeit. So wird impliziert, dass die Brüche und Inkohärenzen der Textwelt genauso auf die reale Welt übertragbar sind, ebenso wie die an der Textwelt geübte Kritik. Die Demontage wird durch die Zweiebenen-Struktur der Erzählungen begünstigt. Auf der Metaebene kommunizieren verschiedene unmarkierte Erzählstimmen über die Definition der Jüdin. Hier wird vor allem die Beliebigkeit von Exklusionsbestimmungen deutlich, wenn die Jüdin als Konzept auf je unterschiedliche Figuren und Phänomene übertragen wird. Auf der diegetischen Ebene findet dagegen eine Auseinandersetzung mit dem Konzept der Gesellschaft statt, das solche Exklusionsmechanismen erst ermöglicht: dem Konzept einer reibungslos funktionierenden, entmenschlichten Konsummaschinerie.

86 ZO, S. 202. „Szybkim krokiem przechodzicie obok Diverse’a, stacja piąta – osuwasz siĊ na kolana. […] Kątem oka widzisz, jak baba, co Īarła milcząco batona, przechodzi wolno przez mur ochraniaczy i juĪ jest przy tobie. […] Ociera ci chustką krew z czoła, potem przytyka do ust butelkĊ koli. Pijesz zachłannie – gul!gul!Golgota! Gul, gul.“

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2.1.3

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Zwischenergebnis I

Die Untersuchung der Beispiele hat ergeben, dass die jeweilige Konzeption der Gesellschaft in unterschiedlichem Maße das Stereotyp des Juden beeinflusst. Beiden konzeptuellen Metaphern ist die Bestimmung des Juden als Außenstehendem und Fremdem gemeinsam. Während im Beispiel Koneffkes das Bild der jüdischen Bedrohung aus dem Nationalsozialismus aufgegriffen wird, nimmt Sieniewicz Bezug auf allgemeine und abstrakte Exklusionsmechanismen. In beiden Fällen gerät ein bestimmter Modus, Gesellschaft zu denken, in das Schlaglicht der Kritik. Eine solche Gesellschaftsvorstellung lässt sich zusammenfassend mit der Metapher des Maschinenorganismus verbildlichen. Ein so hermetisch und unbedingt funktionierend gedachtes Gesellschaftsbild führt zu zwei Formen von Andersheit: zu einer Andersheit, die als Fremdheit begriffen wird, und einer, die als Störung oder Devianz begriffen wird. Mit beiden Bedeutungen lässt sich ‚der Jude‘ füllen, wie die Textbeispiele verdeutlichen. Die Kritik an einem solchen Bild des Juden kann dabei bei der Metapher ansetzten oder sich mit ihren Implikationen auseinandersetzen, was in beiden Beispielen nachweisbar ist. Bei Sieniewicz wird der Geltungsbereich der Metapher an einer inkohärenten und grotesken Textrealität erprobt, während bei Koneffke die Metapher durch ihre Anpassungsfähigkeit und offensichtliche innere Instabilität an Glaubwürdigkeit verliert, wenn dieselbe Rolle wahlweise durch Juden, Amerikaner oder - allgemeiner - durch Kapitalisten besetzt werden kann. In beiden Beispielen werden auch Elemente des Grotesken sowie materialisierte und kreative Metaphern herangezogen, die Inkohärenzen, Unzulänglichkeiten und Beschränkungen der konzeptuellen Metaphern aufzeigen und das Stereotyp auf diese Weise destabilisieren.

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2.2

M ENSCH

ALS

M ETAPHER gekleidet wie polnische Juden in lang herabschlotternd schwarz-seidenen Kaftans und mit hohen Pelzmützen auf den spitzbärtigen Wackelköpfen. HEINRICH HEINE/DER DOKTOR FAUST



Ich schämte mich für den alten Mann, für seinen speckigen Anzug, die graugelben Haarbüschel unter der Kippa, die Tränensäcke, die Leberflecken auf der Stirn, die gebeugte Haltung, für den polnischen Akzent, den langweiligen Vortrag und die araberfeindliche Äußerung. Am liebsten wäre ich vor meine Klassenkameraden getreten und hätte ihnen erklärt, dass nicht alle Juden so seien wie dieser Mann. Einstein war Jude! Stefan Zweig, Moshe Dayan, Burt Lancaster und Woody Allen waren Juden. VLADIMIR VERTLIB/LETZTER WUNSCH

In diesem Teil werden zwei Romane untersucht, in denen eine Auseinandersetzung mit jüdischen Stereotypen stattfindet, die einer spezifischen Konzeption von Mensch bzw. Individuum entspringen. In beiden Beispielen, dem deutschsprachigen Fräulein Stark des Schweizers Thomas Hürlimann und dem amerikanischen Everything Is Illuminated von Jonathan Safran Foer, wird das Konzept MENSCH/INDIVIDUUM durch die Pflanzenmetapher strukturiert. Dabei stehen jedoch jeweils andere Aspekte des Bildspenders Pflanze im Vordergrund, die zwei unterschiedliche Definitionsparadigmen eröffnen. In Everything Is Illuminated findet die Auseinandersetzung mit dem Stereotyp des nomadischen, heimatlosen Juden statt, zu dessen Metonymie sich die Figur Ahasver verdichtet hat. Dieses Stereotyp ist an das morphologische Merkmal der Wurzel gebunden und wird im generic space von der Domäne BOTANIK organisiert. Obwohl in Fräulein Stark auch die Standortgebundenheit eine Rolle spielt, so liegt hier der Nachdruck auf der ‚Naturalität‘ der Pflanze, die sich als Authentizität niederschlägt. Dementsprechend geht die Struktur in diesem Fall von der Domäne NATUR aus, die Dudens Universalwörterbuch zufolge als „alles, was an organischen u. anorgani-

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schen Erscheinungen ohne Zutun des Menschen existiert od. sich entwickelt“87 bestimmt wird. In beiden Romanen wird auf einer Metaebene die Familiengeschichte der Protagonisten thematisiert. Die Suche nach dieser unbekannten familiären Vergangenheit bildet in beiden Beispielen einen wichtigen Teil des Plots, sodass auch hier die Auseinandersetzung mit Fragen der Identität einen inhaltlichen Rahmen bildet. Während in den ersten Beispielen Identität als ein arbiträres und fluktuierendes Konstrukt thematisiert wurde, wird in den kommenden das Angebot gemacht, das Identitätskonzept mit individueller, familiärer Vergangenheit zu befüllen. So wird Identität als etwas Gemachtes, Geerbtes oder Weitergegebenes, nicht als aktiv Gestaltbares gedacht. Zugleich findet eine Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Varianten statt, in denen Identität wahlweise genetisch, genealogisch, territorial oder national, in jedem Fall jedoch monolithisch, nicht hybrid aufgefasst wird. 2.2.1

P FLANZE I: Jonathan Safran Foer Everything Is Illuminated Something to do with the sense of placelessness. Maybe it didn’t matter if your beaten-up, arthritic body was in New York or Madison. Finally, the body is only the place we have. DANIEL STERN/IMPERATO PLACELESS

Jonathan Safran Foers Roman Everything is Illuminated88 ist das erfolgreichste und am breitesten rezipierte der hier erörterten Beispiele. Mehrere Erzählebenen verknüpfen Lebensgeschichten über Distanzen von Raum und Zeit, sodass sich ein Netz von Geschichten entspinnt, das von einer Fotografie zusammengehalten wird. Die Fotografie als ein Medium, das Vergangenes gegenwärtig zu machen vermag, ist der Ausgangspunkt der Erzählung. Der Protagonist, Jonathan Safran Foer, begibt sich auf die Suche nach einer Frau, die, wie die umseitige Aufschrift der Fotografie impliziert, Augustine heißt. Diese Frau hielt vermutlich Jonathans

87 Art. Natur: Duden – Deutsches Universalwörterbuch. Hg. und bearb. v. Wissenschaftlichen Rat und den Mitarbeitern der Dudenredaktion unter der Leitung von Günther Drosdowski. Mannheim 2. völlig neu bearbeitete und erweiterte Aufl. 1989, S. 1064. [Herv. P.W.[ 88 Jonathan Safran Foer: Everything is Illuminated. London/New York: Penguin 2003. Im Folgenden mit der Sigle EI abgekürzt.

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Großvater während des Krieges versteckt und rettete ihn so vor den Nazis. Dies sind die wenigen unsicheren Fakten, mit denen sich der Protagonist auf die Reise begibt. Auf dieser wird er von einem jungen Ukrainer, Alexander Perchov, dessen angeblich blindem Großvater, der die Rolle des Fahrers übernimmt, sowie der Hündin Sammy Davis Junior Junior begleitet. Der Roman besteht aus drei zusammenlaufenden Erzählsträngen, die unterschiedlichen Erzählformen und verschiedenen Perspektiven verpflichtet sind. Die eigentliche Geschichte der Reise erzählt Alex Perchov aus der IchPerspektive. Daneben schreibt die Figur Jonathan Safran Foer die Chronik seiner Familie im ukrainischen Trachimbrod von 1791 bis 1945, die von Alex wiederum in Briefen kommentiert wird. Die dritte narrative Ebene bilden eben diese Briefe an Jonathan, die gleichzeitig eine Metafunktion besitzen. In den Briefen wird der Erzählprozess reflektiert: „We are being very nomadic with the truth, yes?“89 schreibt Alex an Jonathan, ein Satz, der in Variationen wiederholt thematisiert wird. Alex versucht, Jonathan dazu zu bringen, die Figuren in seiner Geschichte besser darzustellen: „I beseech you to forgive us, and make us better than we are“90, bittet er und hofft, das unausweichliche Ende, die „Erleuchtung“91 der Vergangenheit des Großvaters, abwenden zu können: „And just as I am saving you, so you could save Grandfather. We are merely two paragraphs away. Please, try to find some other option.“92 Die Vorwürfe an Jonathan, er gestalte das Leben seiner Vorfahren nicht richtig, zeugen von Alex‫ ތ‬Wunsch nach einem Happy End der Chronik, das ihm in seiner eigenen Geschichte verwehrt wird.93 Die Briefe von Alex an Jonathan schlagen auch eine Brücke zwischen den beiden Erzählsträngen, wenn Alex Jonathans Chronik des Schtetl Trachimbrod in einem gestelzten und thesaurushaften Englisch, das mit umgangssprachlichem Jugendslang durchwoben ist, kommentiert.94 Die Auflösung einer traditionellen linearen Erzählordnung durch die verschiedenen Erzählebenen wird von einer Anordnung der Geschehnisse unter-

89 Ebd., S. 179. 90 Ebd., S. 145. 91 Vgl. ebd., S. 243. 92 Ebd., S. 224. 93 Vgl. ebd., S. 179. 94 Heiner Bus bezeichnet Alex‫ ތ‬Englisch als „Pidgin English“, was jedoch aufgrund der oft eher komplizierten und altmodischen Ausdrucksweise nicht vollends bestätigt werden kann. Vgl. H. Bus: „Jüdisch-amerikanische Literatur“, in: Hubert Zapf (Hg.), Amerikanische Literaturgeschichte. Stuttgart/Weimar: Metzler ³2010, S. 447-461, hier S. 458.

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stützt, die durch Zeitraffungen und Zeitdehnungen sowie durch Prolepsen und Analepsen einer linearen Chronologie entgegenwirkt. Beispielsweise liest Alex vor Listas Haus in Jonathans Tagebuch, wie er seinen Vater aus dem Hause jagt, eine Szene, die erst am Ende des Buches Teil der Diegese wird, durch das Tagebuch jedoch schon ihr Teil ist, ohne sich in ihr tatsächlich ereignet zu haben.95 Zudem wird mit der mangelnden Sprachkenntnis des Erzählers Alex eine Strategie aufgegriffen, die bereits Koneffke einsetzt. Dort nimmt der kindliche Protagonist Metaphern und Allgemeinplätze wörtlich und erzeugt dadurch eine sprachliche Irritation. In ähnlicher Weise findet sich diese Strategie bei Foer wieder, wo die unzureichende Sprachkenntnis den Nährboden zahlreicher Missverständnisse bereitet. Durch diese Figur eines ‚naiven Sprechers‘ gelingt es Foer von Beginn an, nicht nur komische Effekte zu erzeugen, sondern das Selbstverständnis des alltäglichen Sprachgebrauchs in Frage zu stellen: „‚Your train ride appeased you?‘ I asked. ‚Oh, God,‘ he said, ‚twenty-six hours, fucking unbelievable.‘ This girl Unbelievable must be very majestic, I thought.“96 Neben den Briefen des Dolmetschers Alex verknüpft auch das Motiv des Schtetls Trachimbrod narratologisch die Erzählstränge. Als das letztlich absente Ziel der Reise des Amerikaners und seiner ukrainischen Begleiter wird die Leerstelle in Jonathans Chronik mit einer in der Tradition der Ghettoliteratur oder prosaischer Geschichten wie Der Fiedler auf dem Dach stehenden Erzählung von einem jüdischen Schtetl im ausgehenden 18. Jahrhundert gefüllt. Hier beginnt die fabelhafte Familiengeschichte von Jonathans Geschlecht. Seine Urururururgroßmutter wird als Säugling aus dem Wasser des Brod gefischt, des Flusses, welcher durch das Dorf fließt. Die genauen Umstände, wie sie in den Fluss gelangt ist, sind nicht gänzlich geklärt: „It was March 18, 1791, when Trachim B’s doubleaxle wagon either did or did not pin him against the bottom of the Brod River.“97 Diese Beliebigkeit und Unsicherheit des vergangenen Geschehens ist kennzeichnend für den Roman. So wird diese Urururururgroßmutter vermutlich von der ebenfalls ertrunkenen Ehefrau von Trachim B im Wasser geboren, von einem Zwillingspaar aus dem Dorf erspäht und von einem Bewohner des Dorfes, Yankel D, aufgezogen. Diese phantastische Geburt samt dem einerseits biblischen Motiv eines Findlings aus dem Fluss und dem andererseits mythischen der aus den schäumenden Fluten steigenden Venus verweist auf den entscheidenden Strang im Roman, der sich mit der Ungewissheit der Herkunft beschäftigt. Die

95 EI, S. 160. 96 Ebd., S. 32. 97 Ebd., S. 8.

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Konstruktion der Erinnerung als Fiktion, die sich keineswegs mit den Fakten decken muss, erweist sich als die einzige Möglichkeit, die durch die Shoah erzeugte Leerstelle einer tatsächlichen territorial determinierten familiären Herkunft zu füllen. Die Wurzeln der Familie liegen oder liegen eben nicht in dieser Begebenheit, die geradezu aufdringlich auf Entwurzelung verweist. Der Geburtsakt aus einer toten Mutter im Wasser verbildlicht das Fehlen eines festen Bodens, in dem die Identität verankert sein könnte. Diese Ungewissheit und historische ‚Verwässerung‘ der Fakten wiederholt sich im Gründungsmythos der Stadt selbst. Wie das obige Zitat zeigt, sind die Ereignisse der Wassergeburt keineswegs belegt und schon die anwesenden Zeitgenossen sind sich der Vorgänge nicht mehr sicher. Dieser phantastische und zweifelhafte Vorfall bildet gleichzeitig das Entstehungsmoment des Dorfes Trachimbrod, das weder einen offiziellen Namen noch feste Grenzen hat: „As the ration of sacred to secular shifted […] so did the default line, drawn in chalk from Radziwell Forest to the river. And so was the synagogue lifted and moved. It was in 1783 that wheels were attached, making the shtetl’s ever-changing negotiation of Jewishness and Humanness less of a schlep.“98 Hier werden jegliche Vorstellungen von territorial gebundener Identität ad absurdum geführt, wenn weder Namen, noch Grenzen, noch Bauwerke unverrückbar und unveränderlich sind. Jonathans Reise ist eine Suche dieser unsteten Ursprünge, und sie bestätigt die Identitätsvorstellung, die auf Herkunft basiert. Innerhalb dieser Vorstellung werden das abstrakte Konzept MENSCH und seine Individualität durch das konkreter fassbare Konzept PFLANZE verständlich gemacht. Die Sinnbilder ‚Wurzel‘ und ‚Verwurzelung’ sind sprachliche Ausdrücke eines Konzepts, das Identität von einem familiären und ortsgebundenen Ursprung herleitet. Die folgende Abbildung zeigt die Strukturanalogie der beider Konzepte.

98 Ebd., S. 10.

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Abb. 4: Conceptual Integration Network DER MENSCH IST EINE PFLANZE

Im Zusammenhang mit Fragen der Identität von ‚Wurzeln‘ zu sprechen und ein Volk oder eine Familie als einen Stamm zu begreifen, ist eine in den meisten europäischen und außereuropäischen Sprachfamilien verbreitete Redeweise. In Everything Is Illuminated bildet die Frage der individuellen Verwurzelung im Diskursfeld der Identität ein zentrales Thema. Das Konzept DER MENSCH IST EINE PFLANZE unter dem generic space BOTANIK verweist auf eine Analogie, sogar eine Amalgamierung der Bereiche der Genetik, Genealogie und Identität, wodurch Letztere als rekonstruierbar und wissenschaftlich belegbar gedacht wird. Aus der Rahmenfunktion des generic space lässt sich ein ganz spezifischer Begriff von Identität folgern, der „das Biologische und Natürliche zuungunsten

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des Soziologischen und Kulturellen überbetont.“99 Eine Überbetonung, die zu den zentralen Argumenten einer antisemitischen Weltsicht gehört. Das Konzept DER MENSCH IST EINE PFLANZE impliziert eine Allgemeingültigkeit des biologistischen Modells, die keinen Raum lässt für eine narrative Identität, die von Generation zu Generation weitergegeben wird und sich in kulturellen und familiären Traditionen manifestiert. Die nationalsozialitische Rassenpolitik verdeutlicht, wie die Metapher auf einen pervertierten Höhepunkt getrieben werden kann, wenn statt des Narrativs Abstammungsbücher und Stammbäume zur Identitätsbestimmung dienen. Ahasver, der ‚Ewige Jude‘, der rastlos zum Wandern verdammt ist, entwickelt sich als säkularisiertes Motiv zur metonymischen Verfestigung der Vorstellung eines nomadischen Volkes.100 Im Verlauf des 19. Jahrhunderts wurde das jahrhundertealte Stereotyp um die metaphorische Beschreibung des „Luftmenschen“101 erweitert. Die Metapher vom Luftmenschen lässt sich im Sinne Jürgen Links und Ute Gerhards auf die binäre Opposition von Oben und Unten zurückführen. Diese basiert auf einer Vertikaldimension der Beschreibung von Nationalcharakteren, innerhalb derer Deutschland in der Regel mit ‚Tiefe‘ oder ‚Bodenständigkeit‘ assoziiert wird.102 Der Blut-und-Boden-Ideologie, die sich aus dem Konzept DER MENSCH IST EINE PFLANZE ableiten lässt, wurde das Stereotyp des Ahasver oder Luftmenschen gegenübergestellt. Besonders diese letzte Metapher weist bildhaft auf das Fehlen einer Verwurzelung im Boden hin. Als Beschreibung der zunehmend unsicheren ökonomischen Situation der verarmenden Ostjuden gebraucht, hielt ‚Luftmensch‘ zunächst als Selbstbeschreibung Einzug in die westliche jüdische Welt. Hier erhielt sie eine ambivalente Konnotation, da sie sowohl die Sehnsucht der assimilierten Juden nach einer genuinen jüdischen Identität zum Ausdruck zu bringen vermochte als auch die Hinwendung zum Gelehrtendasein oder eben die tatsächliche Wurzellosigkeit der kosmopolitisch orientierten Juden beschrieb. In den Fremdbeschreibungen, die mit dem zunehmenden Antisemitismus entstanden, erfuhr sie eine Bedeutungsverschlechterung und wurde pejorativ verwendet. Nicolas Berg fasst diesbezüglich zusammen: „Diese

99 Michael Titzmann: „Die Konzeption der ‚Germanen‘ in der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts“, in: J. Link/W. Wülfing, Nationale Mythen und Symbole (1991), S. 126. [Herv. i. O.] 100 Vgl. A. Bodenheimer: Wandernde Schatten, hier insbesondere S. 8 ff. 101 Vgl. Kapitel 1.3. 102 U. Gerhard/J. Link: „Zum Anteil der Kollektivsymbolik an den Nationalstereotypen“, in: J. Link/W. Wülfing, Nationale Mythen und Symbole (1991), S. 16-52, hier S. 44 f.

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Metapher enthält auf der einen Seite Elemente jüdischer Geschichtserfahrung und spornte auf der anderen Seite die Produktion antisemitischer Bilder und Phantasmagorien an.“103 In Everything Is Illuminated ließe sich vermutlich eher von Wasser- denn von Luftmenschen sprechen, wenngleich die Bedeutung beider Begriffe in dieselbe Richtung weist. Aus dem Wasser steigen gemeinsam mit der Großmutter verschiedene Alltagsgegenständen hoch, darunter ein Päckchen Pflanzensamen, das ein katachrestisches Moment erzeugt.104 Doch nicht nur die Samen schwemmen an die Oberfläche, sondern auch die Blütenblätter eines versunkenen Vergissmeinnichts, einer Pflanze, die in ihrem Namen das Erinnern trägt. In der Loslösung der Blütenblätter von der Wurzel wird plastisch die Trennung von Erinnerung und Verwurzelung demonstriert. Jonathans Suche nach der Geschichte seiner Familie in Trachimbrod erscheint in diesem Zusammenhang wie ein Auflehnen gegen den Vorwurf der mangelnden Verwurzelung und zitiert zugleich ein kulturelles Phänomen. In den USA zielt der Begriff der „roots industry“ 105 auf ein Paradigma, das sich vom überkommenen ‚race‘-Paradigma abhebt. Das ‚ethnicity‘-Konzept, das vorrangig von irischen und jüdischen Eliteintellektuellen propagiert wurde, sollte gesellschaftliche Anerkennung auch Gruppen garantieren, die sich in Glauben oder Gebräuchen von den dominierenden WASPs (White Anglo-Saxon Protestants) unterschieden.106 Die Suche der amerikanischen ‚Weißen‘ nach ihrer Identität in der Ethnizität bedeutet, dass Weißsein nicht mehr homogen und in Analogie zu Rasse begriffen werden kann, da es eine Fülle unterschiedlicher ethnischer Narrative der bislang unter WASP Subsummierten gibt: „From a room of white people, whiteness has disappeared; and it has disappeared, because a plethora of ethnic narratives have appeared, narratives whose whiteness is no longer at issue.“107 Dieses kulturelle Spezifikum wird im Roman aufgegriffen, wenn sich der Protagonist Jonathan auf eine solche heritage tour, eine Suche nach seinen Wur-

103 N. Berg: Luftmenschen, S. 205. 104 Vgl. EI, S. 9. 105 Vgl. Mita Benerjee: „Roots Trips and Virtual Ethnicity: Jonathan Safran Foer’s Everything is Illuminated“, in: Udo J. Hebel (Hg.), Transnational American Memories. Berlin, New York: de Gruyter 2009, S. 145-169. 106 Vgl. Lutz Niethammer (unter Mitarbeit von Axel Doßmann): Kollektive Identität. Heimliche Quellen einer unheimlichen Konjunktur. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2000, S. 474. 107 EI, S. 154.

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zeln begibt. Damit wird das dazugehörige Konzept DER MENSCH IST EINE PFLANZE aufgegriffen und zunächst bestätigt, doch wird dieses Grundgerüst im Verlauf der Geschichte auf mehreren Ebenen demontiert. Die Suche der Reisegruppe nach Augustine und dem ehemaligen Schtetl Trachimbrod scheitert doppelt. Augustine bleibt ein Mythos. An ihrer statt finden die Reisenden eine andere Frau, Lista, die Jonathans Großvater kannte und die sie zunächst für Augustine halten. Lista führt die Reisenden nach Trachimbrod. Das Ziel ist jedoch ein Nichts, denn das ehemalige Schtetl existiert nicht mehr – es wurde mitsamt den Bewohnern ausgelöscht. „I implore myself to paint Trachimbrod, so you will know why we were so overawed. There was nothing. When I utter ‚Nothing‘ I do not mean there was nothing except for two houses, and some wood on the ground, and pieces of glass, and children’s toys, and photographs. When I utter that there was nothing, what I intend is that there was not any of these things, or any other things. ‚How?‘ the hero asked. ‚How?‘ I asked Augustine. ‚How could anything have ever existed here?‘“108

Das Nichts, das den Protagonisten hier begegnet, weist dennoch Spuren der Vergangenheit auf. Eine Inschrift im Stein soll die Erinnerung an die Trachimbroder aufrechterhalten.109 Im Zusammenhang mit dem vorgestellten Konzept ist die Abwesenheit der Bäume, der metaphorischen Träger der konzeptuellen Metapher DER MENSCH IST EINE PFLANZE, wie sie sich beispielsweise in der Wendung Stammbaum manifestiert, ein wichtiges Bild. Der Boden, der Grund ist zwar da, doch ist in ihm nichts verwurzelt. Der Grund, der den Ursprung der Familiengeschichte Jonathans bedeuten müsste, hat keine Bedeutung, keinen Sinn. Diese beiden Aspekte, zum einen der Ursprung der Familie in einer Ortschaft, die ihre Genese aus dem Wasser bezieht und zum anderen das Ende der Suche nach der Herkunft in einer Einöde bilden zusammen ein Moment der Grundlosigkeit. Diese verweist sowohl auf das Fehlen eines festen Untergrunds als auch im kausalen Sinne auf die Abwesenheit einer Begründung. Das Wasser des Flusses als Ursprung des Lebens ist eine offene Provokation innerhalb des Konzepts DER MENSCH IST EINE PFLANZE. Die Genealogie der Familie nimmt im Fluss ihren Anfang, ebenso wie die Geschichte des Dorfes Trachimbrod. So wird diese doppelte Wassergeburt auch zum Ermöglichungsgrund der gesamten Erzählung. Doch nicht nur die Anfänge nehmen im Wasser den Ursprung, das Element schließt auch die Geschichte und wird so zum Rahmen der Erzählung.

108 Ebd., S. 184. 109 Vgl. ebd., S. 189.

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Im Wasser stirbt der Ururururururgroßvater Jonathans und auch der Großvater Alex‫ތ‬, der sich in einer Badewanne die Pulsadern aufschneidet.110 Letztendlich endet auch das Leben aller im Fluss, in einem apokalyptischen Bild, in dem die Zeitdimensionen amalgamiert werden und auch die Frau Brod und der Fluß Brod verschmelzen: “hundreds of bodies poured into the brod that river with my name I embraced them with open arms come to me come I wanted to save them all […] the frightened the desperate mass of babies children teenagers adults elderly all pulled at each other to survive but pulled each other into me drowning each other killing each other the bodies began to rise one at a time until I couldn’t be seen through all of the bodies blue skin open white eyes.“111

Das Lebensende, das im Christentum wie im Judentum traditionell mit der Erdbestattung verbunden ist, wird hier mehrfach in den Fluss verlagert. Auch der Beginn der Ehe von Brod und dem Kolker ist an den Fluss gebunden. Brod wird zur „Float Queen“112 gewählt und muss bei einem Fest auf dem Floß stehend Säcke in den Tiefen des Flusses versenken, welche von den Männern des Dorfes an die Oberfläche geholt werden. Der Gewinner, der den goldenen Sack herausfischt, ist ein junger Mann aus dem Nachbardorf Kolki. Im Verlauf der Geschichte wird er Brods Ehemann, mit dem sie eine ebenso merkwürdige wie traurige Beziehung führt.113 Die durch das Flussfest begonnene Bekanntschaft mit dem Ehemann führt zur Geburt der drei Söhne „all named Yankel“114 und bedeutet den Fortbestand der Familie. Im Gegensatz zum Fluss, der als Grund und als Begründungsmoment der Familie von Jonathan Safran gelten kann, bleibt der Boden transzendent und

110 Vgl. ebd., S. 242. 111 Ebd., S. 273. 112 Vgl. ebd., S. 91. 113 Durch einen Unfall in der Dorfmühle, bei dem ein Sägeblatt in seinen Kopf dringt, erfährt der Kolker eine Persönlichkeitsveränderung und wird seiner Frau gegenüber gewalttätig. Da sie ihn dennoch nicht verlassen will, lässt er sich in ein Zimmer sperren, aus dem er durch ein Loch in der Wand mit seiner Frau kommuniziert. Auch die Sexualität erfolgt durch dieses Loch. Nach einiger Zeit stirbt der Kolker, wird vergoldet als Statue im Dorf aufgestellt und dient fortan dank des Sägeblattes als Sonnenuhr. Ebd., S. 124 ff. 114 Vgl. ebd., S. 210. Auch hier wird noch einmal die Bedeutung von Namen als Identitätskriterium karikiert.

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symbolisch ein Mythos und ein Sehnsuchtsort. Der Boden als geographischer Ort ist Gegenstand von Sehnsüchten, die nicht erfüllt werden. Für Jonathan ist die Vorstellung Trachimbrods mit dem Wunsch verbunden, seine Wurzeln und letztendlich seine Identität zu finden. Für Alex ist Amerika ein Sehnsuchtsort, in dem er sich eine Zukunft für sich und seinen kleinen Bruder ausmalt. Es gibt eine Parallelität des Begehrens beider Protagonisten, in einem unbekannten Ort eine neue Identität zu finden, eine, die sich aus der Vorstellung einer unbekannten Vergangenheit, und eine, die sich aus der Vorstellung einer unbekannten Zukunft speist. Beide Sehnsüchte bleiben unerfüllt. Trachimbrod existiert nicht mehr, und alles, was der Protagonist von seinem Heimatort mitnehmen kann, ist ein symbolisches Häuflein Erde in einem Plastikbeutel.115 Auch Alex muss sich zum Schluss eingestehen, dass er niemals nach Amerika reisen wird,116 und das Land seiner Träume nur eine Phantasie aus dem Hochglanzheft bleiben wird.117 Für Alex zerplatzt zusätzlich die sicher geglaubte Vorstellung seiner eigenen Wurzeln in Odessa, als die Wahrheit über den Großvater ans Tageslicht kommt und sich herausstellt, dass diese in Kolki, dem Nachbardorf von Jonathans Vorfahren, liegen.118 Seine und Jonathans Familiengeschichten sind lose miteinander verwoben, sie laufen auf einander zu, den Konvergenzpunkt bilden dabei die alte Frau Lista und ihr Haus. An dieser Stelle löst sich jene instabile Dichotomie zwischen Juden und Nicht-Juden gänzlich auf, die durch die schon immer unstete „Jewish-Human fault line“119 im Schtetl in Frage gestellt wurde: „In the end, the Jewish/human fault line which was a fiction to begin with is fully erased, because the tragedy is that of the tourist as much as of the tour guide; it is that of Eliturned-Alex, Sasha’s grandfather, as much as that of the Jewish friend, Herschel, whom he condemned to his death in a burning synagogue.“120

115 Vgl. ebd., S. 187. 116 Vgl. ebd., S. 241. 117 Vgl. ebd., S. 104. 118 Vgl. ebd., S. 227. 119 Ebd., S. 10. 120 M. Benerjee: Root Trips, S. 164. Während in der Verfilmung von Everything Is Illuminated sich der Großvater selbst als Jude offenbart (worauf der Name Eli hinweisen würde), bleibt der Punkt im Buch eher unklar. Auf dem gemeinsamen Bild trägt nur Herschel eine Kippah, und es ist anzunehmen, dass der Großvater und seine Familie als Juden das Pogrom nicht überlebt hätten, sondern mit den übrigen Juden ermordet worden wären.

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„What is the good of something that you cannot find?“121, fragt Alex irritiert seinen Großvater, als dieser sich ob der Tatsache, dass Augustine nicht gefunden werden kann, erleichtert zeigt. Die Enttäuschung, die der Fund von Trachimbrod ausgelöst hat, lässt die Protagonisten erkennen, dass das Begehren im Lacan’schen Sinne unerfüllt bleibt und bleiben muss. Das Aufeinandertreffen der beiden Geschichten von Jonathans und Alex‫ތ‬ Familie in Listas Haus markiert zugleich das Zusammenlaufen der Erzählstränge der progressiven Dorfchronik und der regressiven Suche nach den Ursprüngen, die in der Erzählung von der Auslöschung des Schtetls ineinander münden. Das Haus ist eine museale Ansammlung von Gegenständen, die von den Dorfbewohnern hinterlassen wurden. Lista, eine Überlebende aus Trachimbrod, hat diese am Flussufer ausgegraben und in Schachteln gesammelt, die, jeglichen Kategorisierungsregeln trotzend, beschriftet sind. Eine solche Schachtel bekommt Jonathan, und in ihr befindet sich die Fotografie, die zur Enthüllung von Großvaters Vergangenheit führt. Dort lagert auch „The Book of Past Occurances“,122 auf dessen Grundlage Jonathan später die Chronik des Dorfes verfasst und die dort in Auszügen als „The Book of Antecedents“ abgedruckt wird. Zusammen mit den anderen Gegenständen und den Erzählungen Listas und des Großvaters wird es schließlich zur Grundlage für Jonathans freie Rekonstruktion der Geschehnisse. In diesem Licht gleicht die Suche nach Trachimbrod einer Safari oder einer abenteuerlichen Schatzsuche, und auch die Figurenkonstellation entspricht dem üblichen, wenngleich karikierten Personal einer solchen Reise in exotische Gefilde. Es gibt einen Führer, der jedoch (angeblich) blind ist und für seine Aufgabe nicht ausgebildet: „he was certified to operate an automobile, not to find lost history.“123 Hinzu kommt ein Übersetzer, der verschrobenes Englisch spricht und damit mehr Missverständnisse als Verständigung erzeugt, und schließlich der ausländische Auftraggeber, der wie ein Wissenschaftler alles Beobachtete in sein Tagebuch notiert, eintütet und seine kulturelle Fremdheit bezeugt, wenn er im ukrainischen Hinterland nach vegetarischem Essen verlangt. Und wie Abenteurer oder Jäger im Urwald verfolgt die Gruppe verblasste Spuren, um zu ihrem Ziel zu gelangen. Dieses eigentliche Ziel ist jedoch nicht das verödete Trachimbrod, sondern die Vergangenheit, die sie in dem musealen Haus finden:

121 EI, S. 245. 122 Das ist die falsche Übersetzung Alex‫ތ‬. Im dt: Buch der Geschehenheiten. J. S. Foer: Alles ist erleuchtet. Aus dem Amerikanischen von Dirk van Gunsteren. Frankfurt a. M.: Fischer 2005, S. 313. Im Folgenden als AE. 123 EI, S. 108.

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„And yet, there is a curious tension between the absence of Trachimbrod on a map and it’s presence in, or rather, as, Augustine’s house.“124 Auch die dort aufbewahrten Gegenstände, Fotografien und Texte sind Spuren, aus denen sich die Geschichte nur unvollständig erahnen lässt, ebenso wie die Spuren der toten Trachimbroder, die in der Erde am Ufer des Flusses ruhen: Sie zeugen von Abwesenheit und tragen dennoch immer auch das Bewusstsein der Anwesenheit in sich. 125 Die Spuren der Trachimbroder sind ein Beweis ihrer Existenz, aber auch ihrer Absenz, der so Materialität verliehen wird. Dieser Versuch, etwas Vergangenem eine materielle Struktur zu verleihen, wird von Foer bildlich umgesetzt im Versuch der Trachimbroder, ihre Erinnerungen in Stammbäume zu formen, um sie auf diese Weise verstehbar zu machen.126 Hier lässt sich in Anlehnung an Christine Gottstein-Strobl eine Eigenart der jüdischamerikanischen Gegenwartsliteratur der dritten Generation ersehen, die eine passive Dokumentationsfunktion älterer Holocaustliteratur um die aktive Kraft erweitert, das Gedächtnis zu strukturieren und zu rekonstruieren.127 Diese aktive Rolle des Narrativs an der Konstruktion von Erinnerung wird explizit von Alex wahrgenommen. Während er Listas Bericht über das Pogrom von Trachimbrod übersetzt, stellt er fest: „You cannot know how it felt to have to hear these things and then repeat them, because when I repeated them, I felt like I was making them new again.“128 Im Erzählen liegt die Kraft, Vergangenes gegenwärtig zu machen, es wieder entstehen zu lassen. Das Abwesende kann jedoch nur dann in den Spuren des Gewesenen materiell werden, wenn jemand diese Spuren zu lesen und zu deuten vermag. Darin liegt die Aufgabe der Reisenden in Everything Is Illuminated: Auf die Frage, ob der Ring für den Fall da sei, dass sie kommen, um ihn zu suchen, antwortet Lista: „No […]. The ring does not exist for you. You exist for the ring. The ring is not in case of you. You are in case of the ring.“129 Die Spuren sind nicht nur Beweise und Belege der Vergangenheit, die entdeckt werden können, falls nach ihnen gesucht wird. Vielmehr begründet sich nach diesem Zitat die menschliche Existenz in der Suche nach diesen Spuren, die selten die ‚großen Erzählungen‘ sind, sondern vielmehr die kleinen. Bei der Betrachtung des oben dargestellten Modells ist festzustellen, dass nicht nur die Standortgebundenheit der Pflanze im Roman nicht tragbar ist, son-

124 M. Benerjee: Root Trips, S. 162. 125 EI, 188 f. 126 Vgl. ebd., S. 259. 127 Vgl. Ch. Gottstein-Strobl: The „Pursuit of Jewishness“, S. 126. 128 EI, S. 185. [Herv. P.W.] 129 Ebd., S. 192.

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dern auch die Vorstellung des menschlichen Lebens als Kreislauf. Die Metapher DAS LEBEN IST EIN KREISLAUF impliziert eine Zirkularität, die im Roman durch Linearität ersetzt wird. Aus diesem Grund erweist sich die konzeptuelle Metapher DAS LEBEN IST EINE REISE als das weitaus tragfähigere Konzept, das im Plot selbst, dem eine richtige Reise zugrunde liegt, wörtlich umgesetzt wird. Diese Metapher schließt wiederum die Vorstellung des Menschen als eines Reisenden, eines Nomaden ein, eine Vorstellung, die auf Juden in Opposition zur Pflanzenmetapher projiziert wurde. Dass diese Vorstellung von Juden als einem nomadischen Volk, das, aus seiner Heimat vertrieben, zu einer ewigen Reise verdammt ist, in unterschiedlichen Kontexten aufgegriffen wurde, wurde bereits veranschaulicht. Im pejorativen Gebrauch unterstellt diese Vorstellung einen Mangel, der sich als kultureller Mangel verstehen lässt. Nicolas Berg zeigt ausführlich, wie die Metapher des Luftmenschen in diesem Zusammenhang als Devianzmarker begriffen wurde, obwohl sie auch eine affirmative Bedeutungsebene besaß und das Angebot eines anderen Verständnisses von Kultur machte: „Ein unbefangener Blick auf die zeitgenössischen Juden offenbarte eine spezifische Lebenswelt, die aber nicht lokal gebunden war, wie herkömmliche Vorstellungen vom Volkstum mit seinen Trachten und Gebräuchen. Jüdische Lebenswelten waren different, aber zugleich Teil einer anderen – universelleren – Form von Vereinheitlichung, und sie waren kompatibel mit kulturellen Bekenntnissen der Zugehörigkeit, solange sie nicht auf Abstammung und Herkunftsnachweis beruhen mussten.“130

Im Roman wird der Vorwurf des Mangels unterlaufen, da die Reise als Spurensuche die Lebensfülle der Trachimbroder an die Oberfläche bringt, die aus dem historischen Bewusstsein der postsozialistischen Ukraine verdrängt wurde und eine Leere hinterließ, die nun von Neuem gefüllt werden kann. The Book of Antecedents oder das Buch der Begebenheiten, wie es in der deutschen Übersetzung131 heißt, ist deshalb wie ein Palimpsest zu lesen: Die Begebenheiten der Vergangenheit überlagern sich und scheinen durch das spätere Geschehen hindurch. Dabei tragen sie auch die Gewissheit der zukünftigen Ereignisse in sich, was als ein Paradox erscheint, als eine neue Dimension, in der Vergangenheit und Zukunft zusammenfallen:

130 N. Berg: Luftmenschen, S. 33. 131 AE, S. 313.

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„Even the most delinquent students read The Book of Antecedents without skipping a word, for they knew that they too would one day inhabit its pages, that if they could only get hold of a future edition, they would be able to read of their mistakes (and perhaps avoid them), and the mistakes of their children […].“132

Das Aufeinandertreffen der über zwei Jahrhunderte verteilten Schicksale der Familienmitglieder im Book of Antecedents und später ihre Zusammenführung in der von Jonathan geschriebenen Chronik wiederholt sich in der Zusammenführung der Schicksale der jüdischen und nicht-jüdischen Familien von Jonathan und Alex. Dabei wird die Wurzellosigkeit als die Abwesenheit eines konkreten oder konkret geglaubten Ortes ihrer Herkunft konstitutiv. Sie ist kein Unterscheidungsmerkmal von Juden oder Nichtjuden mehr, denn die Schicksale aller sind durch den Krieg betroffen und die ortsgebundenen Wurzeln ausgelöscht; die Schicksale der Figuren überlagern sich in Raum und Zeit, werden eins: „We are talking now, Jonathan, together and not apart. We are with each other, working on the same story, and I am certain that you can also feel it. Do you know that I am the Gypsy girl and you are Safran, and that I am the Kolker and you are Brod, and that I am your grandmother and you are grandfather, and that I am Alex and you are you, and that I am you and you are me?“133

2.2.2

P FLANZE II: Thomas Hürlimann Fräulein Stark Ein Todesengel trat / Vor Ahasveros hin und sprach im Grimme: „Die Ruh hast du dem Menschensohn versagt; / Auch dir sei sie, Unmenschlicher! versagt, Bis daß er kömmt!!“ Ein schwarzer höllentflohner Dämon geißelt nun dich, Ahasver, / Von Land zu Land. Des Sterbens süßer Trost. Der Grabesruhe Trost ist dir versagt! CHRISTIAN F. D. SCHUBART/DER EWIGE JUDE

Das Erscheinen von Thomas Hürlimanns Novelle Fräulein Stark wurde im Jahr 2001 von gleich zwei Skandalen begleitet. Für Empörung sorgten in der Schweiz der autobiographische Hintergrund und vor allem die Figur des Onkel Jakob, in

132 EI, S. 196. 133 Ebd., S. 214.

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der sich der St. Gallener Stiftsbibliothekar Johannes Duft allzu realitätsnah und diskreditierend abgebildet sah.134 Im vorliegenden Zusammenhang ist jedoch der feuilletonistische Aufruhr, der nach dem Erscheinen des Textes in Deutschland entstand, von Interesse. Die Besprechung des Werkes in der Sendung Das literarische Quartett vom 17.8.2001 löste eine umfangreiche Feuilletondebatte aus, die eigentlich um das Versagen der Kritik kreiste.135 Marcel Reich-Ranicki warf Hürlimann in der Sendung vor, eine ausdrückliche Thematisierung der antisemitischen Problematik zu versäumen, die einen Kernstrang des Buches ausmache. Seine Weigerung, „das Wort ‚Jude‘ und ‚jüdisch‘ zu verwenden“136, führe dazu, dass dieser Strang von der Kritik (und laut Reich-Ranicki folglich von der Leserschaft) übersehen wurde und ein jüdisches Stereotyp unreflektiert verblieb. Die darauf folgenden Kritiken empörten sich solidarisch mit Reich-Ranicki über den angeblich antisemitischen Gehalt des Buches, wie hier Ursula März: „Thomas Hürlimann hat sich in der Haltung des Ironikers auf ein literarisch hoch anspruchsvolles Gebiet begeben, das Gebiet des parodistischen, gleichsam bauchrednerischen Spiels mit rassistischen Codes, dem er nicht gewachsen war.“137 Zu einem solchen rassistischen Code gehört der Verweis auf die Nase des Protagonisten, die an die Darstellung des ‚triebhaften Juden‘ gekoppelt wird. In

134 Als Replik verfasste Johannes Duft, der sich in Onkel Jakob zu eindeutig zu erkennen glaubte: Bemerkungen und Berichtigungen zum Buch Fräulein Stark von Thomas Hürlimann. St. Gallen 2001. Für Hürlimann ist die Vermischung von (auto)biographischen Elementen und Fiktion keineswegs eine neue Strategie. Schon in dem Stück Großvater und Halbbruder von 1981 ließ er den eigenen Großvater im Text auftauchen und sorgte damit ebenfalls für Aufsehen. Vgl. Charlotte Schallié: „Par distance und aus der Enkelperspektive. Thomas Hürlimanns entstellte Schweiz“, in: J. Barkhoff/V. Heffernen (Hgg.), Schweiz schreiben: zu Konstruktion und Dekonstruktion des Mythos Schweiz in der Gegenwartsliteratur. Berlin: De Gryter 2010, S. 215-229, hier: Anm. 1. Das Stück weist nicht nur unter diesem Aspekt Parallelen zu Fräulein Stark auf, es tauchen auch teilweise dieselben Figuren (Professor Birri) und Motive (der g’stampfte Jud) auf. 135 Vgl. bspw. Gunhild Kübler: „Thomas Hürlimann. Das zweifache Scheitern der Kritik. Ist Thomas Hürlimanns Erzählung ‚Fräulein Stark‘ antisemitisch?“, in: Weltwoche vom 23.08.2001, Ausgabe 34/01, http://www.weltwoche.ch/ausgaben/200134/artikel-2001-34-das-zweifache-sc.html (22.8.2011). 136 „Interview mit Marcel Reich-Ranicki: Ich bin nicht dazu da, Hürlimann zu belehren“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 01.09.2001, S. 47. 137 Ursula März: „Katzenhaft. Noch einmal Hürlimann“, in: Frankfurter Rundschau vom 21.08.2001, S. 17.

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der Tat wird die Nase als angeblich genetisches Merkmal und Moralanzeiger von der Haushälterin und Titelfigur Fräulein Stark wiederholt aufgegriffen. Über diesen Körperteil wird eine Verbindung zwischen den jüdischen Ursprüngen und der erwachenden Sexualität des Protagonisten gestiftet. Das Fräulein, eine „schlichte Variante“138, schwankt dabei zwischen Entrüstung und Faszination: „Gelt, sagte sie, und durch die Madonnenmaske blitzten plötzlich ihre Äuglein, du kannst die Spezialmischung riechen – du mit deiner Nase!“139 Diese Mischung aus Ablehnung und Faszination lässt sich als ein typisches Phänomen des Antisemitismus lesen. Insbesondere im Klischee der Hypersexualität der Juden vermengen sich solch ambivalente Empfindungen von Abscheu und Neid.140 Die Markierung und Ablehnung der Andersheit ist mit der Faszination vom Anderen verbunden, wie sie im Zitat deutlich wird. Im Folgenden soll dargelegt werden, dass die antisemitischen Klischees der jüdischen Nase und der jüdischen Sexualität im Roman zwar durchaus präsent sind, aber keineswegs den einzigen oder gar entscheidenden Strang in der Auseinandersetzung mit dem Nachkriegsantisemitismus der Schweiz bilden. Zudem wird sich zeigen, dass der Vorwurf Reich-Ranickis, Hürlimann würde das jüdische Thema nicht zur Genüge exemplifizieren, im Kern falsch ist, und dass Hürlimanns Strategie vielmehr eine entscheidende Rolle in der Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus zukommt. Neben dem Neffen ist der Onkel, ein Stiftsbibliothekar und getaufter Jude, die zweite Figur, an der Hürlimann seine Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus der 60er Jahre entwickelt. Sein Charakter ist problembewusster gezeichnet als der des Neffen, der sich mit antisemitischen Vorurteilen der Haushälterin konfrontiert sieht und diese weniger reflektiert als adaptiert. Seine Darstellung erfolgt in der Retrospektive des bereits erwachsenen Ich-Erzählers. Dieser schildert ihn mit einer sehr geringen Distanz als einen dekadenten, hedonistischen, doch gelehrten Mann, der seine jüdische Vergangenheit abgelegt hatte, sich taufen ließ und am liebsten „Monsignore“ tituliert wird. Die Leugnung des eigenen jüdischen Ursprungs löst in der Umgebung oft hämische Bemerkungen aus. So verführt das unausgesprochene Tabu zur heimlichen Verwendung seines jüdisch markierten Namens „Katz“141 durch die Angestellten der Bibliothek.

138 FS, S. 20. 139 Ebd., S. 30. 140 Vgl. hierzu Gerhard Henschel: Neidgeschrei. Antisemitismus und Sexualität. Hamburg: Hoffmann und Campe 2008. 141 Zur antisemitischen Prägung jüdischer Namen vgl. Diez Bering: Der Name als Stigma. Antisemitismus im deutschen Alltag 1812-1933. Stuttgart: Klett-Cotta

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„Und noch eine Eigenart hatten sie, doch war mir diese erst jetzt, da ich mich für den verwunschenen Geschlechtsnamen interessierte, aufgefallen. Die Hilfsbibliothekare haben das unausgesprochene Verbot immer wieder verletzt. Katz, flüsterten sie, hat Schiß vor der Stark, Katz ist verkatert, Katz hier und Katz da, doch wagten sie das nur, wenn sie den Stiftsbibliothekar in einer sicheren Entfernung wußten, hielten sogar dann die Hand vor den Mund und haben das Wort kaum ausgesprochen, eher gehaucht: Katz.“142

Name und „Nase“ werden als dauerhaftes und nichtablegbares Zeichen des Jüdischseins geführt. Was die Untergebenen nur im Geheimen wagen, dazu sehen sich die „Altherren“, die Freunde des Onkels aus dem Dorf, berechtigt. An einem Kneipenabend fordert Professor Birri den Stiftsbibliothekar zu einer Wette heraus. Er wettet, in der Stiftsbibliothek gebe es ein bestimmtes Wort ganz sicher nicht, worauf der Bibliothekar mit der Bezeugung, „an Bord der Bücherarche würden wir sämtliche Begriffe führen, alle von Aristoteles bis Zyste“143 eingeht. Darauf antwortet der Professor triumphierend: „Der g’stampfte Jud, sagte Tasso Birri, donnerndes Gelächter, auch vom Gastwirt, bring die Runde, Porter, der Katz bezahlt!“144 Die Kombination aus dem Begriff, der zwar ‚nur‘ für einen Brotaufstrich steht, dessen pejorative Konnotation dennoch nicht zu überhören ist, und der Nennung des abgelegten Namens wirken wie eine Mahnung, dass sich die Umgebung trotz Taufe und Amt sehr wohl der Herkunft des Bibliothekars erinnert. Wenn auch der übertriebene Alkoholgenuss die Ressentiments ans Tageslicht bringt, so wirkt die Reaktion des Onkels wie ein resignierter Kommentar zum Status quo der Gesellschaft: „Der Onkel schwieg“145, lautet der letzte, lakonische Satz des Kapitels. Sowohl Nase als auch Name sind Phantasmagorien des Jüdischseins. Sie wirken als indexikalische Verweise auf die Herkunft der assimilierten Figuren. Die nicht-jüdische Umgebung bemüht sich, diese Verweise aufrechtzuerhalten, die jüdischen Protagonisten und sich selbst an die Ursprünge zu erinnern. Dieses

²1988, ders.: „Gewalt gegen Namen. Ein sprachwissenschaftlicher Beitrag zur Geschichte und Wirkung des Antisemitismus“, in: Muttersprache. Zeitschrift zur Pflege der deutschen Sprache 99 (1989), S. 193-212, ders.: Fremdes und Fremdheit in Eigennamen. Heidelberg: Winter 1990, ders.: „Der ‚jüdische‘ Name“, in: J. H. Schoeps/J. Schlör, Antisemitismus – Vorurteile und Mythen (1996), S. 153-166. 142 FS, S. 40. 143 Ebd., S. 77. 144 Ebd. 145 Ebd., S. 78.

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Unbehagen angesichts der assimilierten jüdischen Figuren lässt sich mit einer konzeptuellen Metapher erfassen, die erneut den Menschen als Pflanze begreift, jedoch unter einem anderen generic space und mit einem anderen Fokus. Die Metapher lässt sich aus dem schweizerischen Identitätsdiskurs der Vorkriegsund Kriegszeit entwickeln, in dem eine um ihre eigenständige Identität bemühte Schweiz nach genuin schweizerischen Merkmalen und Eigenschaften suchte.146 Obwohl auch in der Schweiz rassentheoretisches Denken und eine darwinistische Deszendenztheorie von Volk und Nation Verbreitung fanden, waren es die schweizerische Topographie und vor allem die Alpen,147 die identitätsstiftenden Charakter besaßen. Der Begriff des Homo alpinus konnte als Alternativentwurf zur von Chamberlain geprägten Rasselehre herangezogen werden, die für die „Willensnation“148 Schweiz nur schwer geltend gemacht werden konnte: „In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben sich die um die Alpenmythen und die Mythen der Alten Eidgenossenschaften zentrierten nationalen Selbstbilder der Schweiz ‚versteinert‘: zum einen, indem sie zum unhinterfragbaren Fundament, zum granitenen Sockel der ‚nationalen Identität‘ geworden sind, zum Bild der Schweiz als eine ‚Felseninsel‘ im europäischen Ozean der Kriege […]. Zum andern aber ‚versteinerten‘ die nationalen Mythen, weil zum Beispiel der Glaube an die ‚Prägekraft‘ des ‚Bodens‘ und an die Verkörperung des Schweizerischen in einem genuinen sogenannten ‚Homo alpinus helveticus‘ die ‚nationale Identität‘ biologisch und geologisch zu untermauern schien.“149

Die Suche nach dem schweizerischen Wesen bedient mit dem Bild des Homo alpinus helveticus beide Möglichkeiten der Identitätsbildung. Obwohl sie mit der Alpenikonographie die topographische Zusammengehörigkeit untermauert, knüpft sie gleichzeitig mit der Geschichts- und Mythenrenaissance an die modernen Rassediskurse an, indem sie eine genealogische Linie impliziert. Eben diese Vermischung von Naturmythos und Rassemythos findet sich in der Kon-

146 „Was hält die Schweiz zusammen, warum ist sie eine Nation? Religion, Sprache und ‚Rasse‘ würden sie eher trennen?“ Ph. Sarasin/A. Ernst/Ch. Kübler/P. Lang: „ImagiNation. Eine Einleitung“, in: dies, Die Erfindung der Schweiz (1998), S. 21. 147 Zum Stellenwert und zur Verbreitung des Symbols vgl. Dominik Schnetzer: Bergbild und geistige Landesverteidigung – Die visuelle Inszenierung der Alpen im massenmedialen Ensemble der modernen Schweiz. Zürich: Chronos 2009. 148 Der Ausdruck „Willensnation“ verleiht dem „Wille[n] der Schweiz, trotz der Vielfalt ihrer Idiome geeint zu sein“, identitätsstiftenden Charakter. Ph. Sarasin/A. Ernst/Ch. Kübler/P. Lang: ImagiNation, S. 21 (zitiert nach Ernest Renan 1882). 149 Ebd., S. 28.

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zeption des Menschen als Pflanze in Hürlimanns Novelle. Zwar hat der Alpenmythos „vor allem den Effekt, dass Schweizerinnen und Schweizer einzig als Alpenbewohner erscheinen, letztendlich als im Boden verwurzelte Bauern, Sennen und Hirten“150, doch führt die Anreicherung dieses Bildes um genealogische Fragen zu einer Popularität des Sozialdarwinismus in der Schweiz der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.151 Einen solchen vertritt auch Professor Birri im Gespräch mit dem Protagonisten, als dieser ihm von seiner Zukunft auf einer Klosterschule berichtet: „Die Klosterschule […] ist eine Kaderschmiede. Da trennt sich die Spreu vom Weizen. Nur die Besten überleben. Nur die Stärksten, korrigierte er sich […].“152 Unter diesem sozialdarwinistischen Paradigma gehört ‚der Jude‘ zur Spreu. Die stereotypen Vorstellungen vom kränklichen und schwächlichen Juden, vom Betteljuden und Kulturzersetzer weisen ihm deutlich diesen Platz zu. Die Figur des Onkels wirkt wie eine Auflehnung gegen diese Verortung: Er tritt als Kulturmensch auf, der dieses Dasein bis ins Kleinste hinein zelebriert: „Im Eßzimmer, wo er am Kopf einer langen Tafel zu speisen pflegte, herrschte die Strenge des Klosters, das hohe Gewölbe war kahl vergipst, schwarz glänzten die Türen, und die Bilder zeigten überlebensgroß ehemalige Fürstäbte und Stiftsbibliothekare mit wachsbleichen, lippenlosen Geisteshäuptern. Aber vor dem Onkel war der Tisch mit Damast bedeckt, der Porzellanteller paßte zum Silberbesteck, und seinen Trollinger ließ er sich aus einer Kristallkaraffe eingießen.“153

Onkel Jacob frönt ausgiebig den lukullischen Genüssen und dem humanistischen Bildungsideal. Seine Belesenheit und Kenntnis alter Sprachen gibt er immer wieder zum Besten, um die weiblichen Gäste der Bibliothek zu beeindrucken: „Meine sehr verehrten Damen […] im Anfang war das Wort, dann kam die Bibliothek, und erst danach, also an dritter und letzter Stelle, kommen wir, wir Menschen und Dinge. Nomina ante res – die Wörter zuerst!“154 Obwohl dieser Habitus geradezu karikaturhaft einen christlichen Bildungsbürger beschreibt, wird er von der Umgebung als fremd und unschweizerisch wahrgenommen. Als Kontrapunkt wird die Haushälterin entgegengesetzt, die als

150 Ebd., S. 27. 151 Vgl. P. Kury: Über Fremde reden, S. 117 f. 152 FS, S. 76. 153 Ebd., S. 9. 154 Ebd., S. 34.

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ein wahrer Homo alpinus gezeichnet wird, eine Appenzellerin, Tochter eines „knorrigen Bauern“155 und einer „Analphabetin“156. Die Dichotomie, die hier anhand der beiden Figuren entworfen wird, basiert auf einem Authentizitätsentwurf, der sich mit der konzeptuellen Metapher DER MENSCH IST EINE PFLANZE erfassen lässt. Die Analogie von Mensch und Pflanze weicht in einigen entscheidenden Aspekten von derjenigen in Everything is Illuminated ab. Bezog sich die dortige Verwendung besonders auf das morphologische Merkmal der Pflanze, verwurzelt und folglich standortgebunden zu sein, so stehen hier vor allem die Eigenschaften der natürlichen und vom Menschen nicht beeinflussten Beschaffenheit und der evolutionären Auslese im Vordergrund.157 Sprachlichen Ausdruck findet die Metapher in alltäglichen Wendungen wie „jemandem gegen/wider die Natur gehen/sein“, „jemandem zur zweiten Natur werden“ oder „in der Natur von jemandem/etwas liegen“. Die Vorstellung des Menschen als Pflanze, die standortgebunden ist und durch ihren Standort evolutionär beeinflusst wurde, führt zu der Folgerung, dass der Mensch (oder die jeweilige Gesellschaft/Nation) ein Wesen besitzt, das ebenfalls von geographischen Eigenheiten geprägt ist. Da dieses Wesen die Natur des Menschen bildet, kann sich dieser nicht verändern, da Natur per definitionem nicht beeinflussbar ist.

155 Ebd., S. 10. 156 Ebd., S. 65. 157 „Die Natur erscheint selbstlos und tätig zum Wohle der Lebewesen. Mit ihr wird der menschliche Züchter kontrastiert: […] Dieses menschliche Handeln erhält im Gegensatz zum förderlichen Wirken der Natur einen negativen Anstrich.“, P. Kury: Über Fremde reden, S. 119.

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Abb. 5: Conceptual Integration Network Der Mensch ist eine Pflanze

Aus einer solchen Vorstellung der unveränderlichen und genetisch vererbbaren Natur speisen sich die Vorurteile und Verdachtsmomente gegen Onkel und Neffen. Die Richtigkeit ihrer Urteile sieht die Haushälterin durch ihre Kenntnis der Familie garantiert. Als der Onkel ihren Vorwurf der „unkeuschen Blicke“ als unwichtig abzulegen und die Haushälterin an ihren Platz zu verweisen sucht, gibt sie impertinenterweise Konter: „Fräulein Stark, hic est nepos praefecti, das ist der Neffe des Chefs. – Ja, unterbrach sie ihn, eben! Ihr Neffe ist ein kleiner Katz, da müssen wir besonders aufpassen.“158 Die Autorität, die der Onkel mit dem Hinweis auf seine Position heraufbeschwören will, erweist sich gegenüber dem Abstammungsargument des Fräuleins als zu schwach – seine höhere soziale Position ist ihrer moralischen unterlegen.

158 FS, S. 20.

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Es ist die Assimilationsthematik, verkörpert in der Figur des Onkels, mit der sich Hürlimann dem Antisemitismus annähert. Vor dem Hintergrund der konzeptuellen Metapher DER MENSCH IST EINE PFLANZE bekommt die Assimilation des Onkels eine spezifische Bedeutung und gerät in den Verdacht der fehlenden Authentizität. Von der Umgebung wird der assimilierte Onkel als nicht authentisch wahrgenommen. Sein Umfeld scheint überzeugt zu sein, dass die äußerliche Anpassung nur Fassade sei und der „Monsignore“ im Inneren immer ein „Katz“ bleibe. Sein Neffe erkennt den Fehler des Onkels in dessen angeblich falscher, bemühter und unnatürlicher Assimilation: „Jawohl, ich würde kämpfen. Ich wollte einer von ihnen werden, einer wie alle – eine Normalseele, die nur dann eine Schweinsbratwurst bestellt, wenn sie Schweinsbratwürste wirklich mag. Wie die Altherren. […] Diese Herren imponierten mir, und ich konnte nur hoffen, daß ich es schaffen würde, das Katzenhafte aus mir hinauszubeten.“159

Die Dazugehörigkeit zur schweizerischen Gesellschaft muss hart erkämpft werden in einem Kampf gegen das eigene Wesen. Wie Norbert Otto Eke hierzu konstatiert, spaltet diese Erfahrung die Identität des Protagonisten nachhaltig: „Er spaltet sich in der Folge auf in ein imaginäres Wunsch-Bild der Zugehörigkeit und das seinerseits nun nicht akzeptierte Fremdbild des durch das ‚Katzenhafte‘ (die unberechenbare Sexualität) bestimmten imaginären Juden, das ihm aus dem Spiegel entgegentritt und das er durch Triebunterdrückung abzuwehren sucht.“160

Trotz des religiösen Umfeldes ist eine Zugehörigkeit im Sinne der Konversion nicht gemeint. Denn obwohl er christlicher Würdenträger ist, lehnt das Fräulein den Lebensstil des Onkels ab. Der Gottesglaube von Magdalena Stark unterscheidet sich auch von dem formal wirkenden Glauben des Onkels und der Dorfbewohner: „War das Fräulein fromm? Vermutlich schon, doch muß es eine eigene, appenzellische und sehr weibliche Frömmigkeit gewesen sein. Vom blutigen Heiland wollte sie nichts wissen, das war eine Sache für Männer, ein dümmliches Geplänkel mit römischen Landsknechten und jüdischen Pharisäern. Die schwarze Madonna jedoch, die im hinteren Schiff

159 Ebd., S. 84. 160 N. O. Eke: Im ‚deutschen Zauberwald‘, S. 261.

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der Kathedrale eine Art Grotte bewohnte, suchte sie Morgen für Morgen auf, hier war sie zu Hause […].“161

In dieser Marienverehrung findet eine Annäherung von Haushälterin und Madonna statt: Sie „lächelten beide das gleiche Lächeln, die holzgeschnitzte Madonna und die stämmige Magdalena Stark“.162 Beide Frauen haben etwas Rustikales, Holziges, Baumhaftes an sich – die eine „schwarz“ und aus Holz geschnitzt, die andere stämmig, von einem „knorrigen“ Vater stammend. Die Naturmetaphorik wird durch den Ort, die „Grotte“, zusätzlich verstärkt, wodurch der christliche Glaube des Fräuleins den Eindruck heidnischer Verehrung weckt. Diese naturgebundene Religiosität zeigt sich besonders in einer frühkindlichen Erinnerung des Erzählers. Zu einem gemeinsamen Ausflug erscheint diese „im Wanderkostüm […], das Jägerhütchen keck vor dem Haarknoten: Auf, Bub, es geht in die Berge.“163 Dort angekommen, bietet sich dem Erzähler ein idyllisches Bild: „Ein paar verschneite Inseln lagen darin [im unendlichen Himmel, wie einem Ozean], das waren die höchsten Gipfel des Alpsteins, aber sonst gab es nichts im weiten Himmel, nur das Fräulein, mich und kreisende Dohlen über dem schwarzklobigen Kreuz. Es ist unsere Heimat, sagte sie leise.“164

Die Verbindung von Natur und Christentum in diesem Bild lässt sich im Anschluss an Patrick Kury wie folgt verstehen: „Die Schweiz – Christus gleich – solle ‚die Austreibung‘ der ‚unerwünschten Elemente‘ forcieren, um die ‚Reinheit des Volkstums‘ zu bewahren“165 und macht für den letzten Satz deutlich, wer hier als „wir“ begriffen wird. Das naturverbundene Fräulein verkörpert in ihrem Einssein mit sich selbst die Metapher DER MENSCH IST EINE PFLANZE. In der Stammkneipe des Onkels versuchen dessen gelehrte Trinkkumpane sie zu beleidigen und bezeichnen sie zunächst als Philister und schließlich als einen Besen, worauf sie kontert: „Weder bin ich ein Besen, sagt sie, noch bin ich ein Philister. Was denn sonst, höhnt die Corona. Und das Fräulein, voller Stolz: Meine Herren, ich bin eine schlichte

161 FS, S. 11. 162 Ebd. 163 Ebd., S. 113. 164 Ebd., S. 118 f. 165 P. Kury: Über Fremde reden, S. 135.

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Variante.“166 Der Onkel dagegen ist alles andere als eine solche „schlichte Variante“, er ist nicht nur gebildet, sondern besitzt auch einen Hang zum Luxus: „Dieser wandelte in Glockenröcken durch sein Bücherhaus, und die hatte am liebsten Hosen an. Er war ein Schmecker und Lecker, allerdings überzeugt, als Geisteskopf über die Ding- und Fleischeswelt erhaben zu sein, und sie gab sich als ehrliche Haut, als einfaches Gemüt.“167

In diesem Zitat wird an der Wendung „sie gab sich als ehrliche Haut“ zweierlei deutlich. Zum einen, dass sich das Fräulein als „einfaches Gemüt“ selbst konstruiert, und zum anderen, dass sie dies in bewusster Opposition zum Stiftsbibliothekar tut. Sie distanziert sich von seinem Habitus und verdächtigt diesen, eine Tarnung für das jüdische Wesen zu sein. Dieses jüdische Wesen des Neffen sieht sie durch dessen Nase und die erwachende Libido als erwiesen. Sie reduziert es auf das Klischee des hypersexuellen Juden, das sie in der jüdischen Nase manifestiert sieht.168 Obwohl der Protagonist zunächst noch dem Versuch der Denormalisierung skeptisch begegnet – „War meine Nase – anders?“169 – macht er sich den Vorwurf zunehmend zu eigen: „Die Stark hatte recht. Ich hatte eine Nase, und diese Nase wollte riechen, riechen! Aber ging es nicht allen so?“170 Die Unterstellung einer wesenseigenen moralischen Deformation führt zum Wunsch, diese aufzuspüren, und er hofft sie in der Familiengeschichte zu finden. Jedoch sucht er nicht nach den geographischen Wurzeln seiner Familie, sondern nach dem Wesen, das er an sich selbst weitergegeben glaubt. Die Tatsache, dass er von seinen Ahnen auffällig oft als vom „Geschlecht der Katzen“171 spricht, lässt durch die beabsichtigte Polysemie vermuten, dass er dieses Wesen in der Geschlechtlichkeit vermutet. Dem Protagonisten wird also auch hier die Funktion des ‚naiven Sprechers‘ zuteil, wenn er diese Polysemie nicht aufzulösen ver-

166 FS, S. 132. 167 Ebd., S. 11. 168 Zur Tradition des Symbols Nase als Potenzmarker bei Juden vgl. S. L. Gilman: The Jew’s Body, R. Erb: „Die Wahrnehmung der Physiognomie der Juden: Die Nase“, in: Heinrich Pleticha (Hg.), Das Bild des Juden in der Volks- und Jugendliteratur vom 18. Jahrhundert bis 1945. Würzburg: Königshausen & Neumann 1985, S. 107127, G. Henschel: Neidgeschrei. 169 FS, S. 32. 170 Ebd., S. 33. 171 Ebd., S. 36.

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mag und auch der „Katzenschwanz“172 ihn in seiner Doppeldeutigkeit beschäftigt. Tatsächlich findet er auf alten Fotografien seiner Tanten den Beweis, die Nase: „Zwischen den Augen wuchs ihnen ein böser Finger hervor, der sich bis zum fliehenden Kinn hinabzukrümmen versuchte. Es war aussichtslos – diese Nasen brachte er nie und nimmer an den Mann.“173 Ob diese Nasen wirklich sind oder nicht, bleibt ungeklärt und ist letztendlich irrelevant. Es bestehen jedoch ernste Zweifel am Wahrheitsgehalt, denn der Erzähler bekommt nur Fragmente zugespielt, gibt die Erzählung jedoch als kohärentes Ganzes wieder. Es liegt der Verdacht nahe, er habe die Familiengeschichte konstruiert, Lücken eigenhändig geschlossen, Emotionen und Beweggründe in die Figuren eingeschrieben und ihnen die jüdischen Marker angeheftet. Die Nase im Wortgebrauch des Fräuleins Stark steht metaphorisch für das Riechen und für die Sexualität, was bereits im ersten Kapitel der Textanalyse kurz angeführt wurde: „Als Sinn der Lust, der Begierde, der Triebhaftigkeit trägt das Riechorgan den Stempel der Animalität. Riechen und Schnüffeln erinnert an etwas Tierisches.“174 Ähnlich klingt dies bereits bei Adorno und Horkheimer an, die dem Geruchsinn eine dionysische Ebene verleihen, die im Gegensatz zu der individualisierenden und stigmatisierenden Funktion des „physiognomischen principium individuationis“175 der Nase zu stehen scheint, aber eben nur scheint, denn „[i]n den vieldeutigen Neigungen der Riechlust lebt die alte Sehnsucht nach dem Unteren fort, nach der unmittelbaren Vereinigung mit umgebender Natur, mit Erde und Schlamm.“176 Als eine Umschreibung ermöglicht „die Nase“, ebenso wie das Substitut „Verstoß gegen das Sechste“177, das Sprechen über Sexualität ohne deren ausdrückliche Benennung, was in der Wirkung dem entspricht, was Michel Foucault mit seiner Repressionshypothese beschreibt: „Die modernen Gesellschaften zeichnen sich nicht dadurch aus, daß sie Sex ins Dunkel verbannen, sondern daß sie unablässig von ihm sprechen und ihn als das Geheimnis geltend machen.“ 178

172 Ebd., S. 138. 173 Ebd., S. 62. 174 Ebd., S. 123. 175 Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2008, S. 193. 176 Ebd. 177 FS, S. 19. 178 Michel Foucault: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 61993, S. 49 [Herv. i. O.].

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Der Sexualitätsdiskurs brodelt unter den prüden St. Gallenern, und bezeichnenderweise beteiligt sich der Onkel als Einziger nicht daran. Besonders das Fräulein scheint überall diese Verstöße zu wittern und unterstellt ihrem Chef eine Affäre,179 die sich als bloßes Wortspiel herausstellt. Die angebliche Geliebte „Nares“ erweist sich als die Abkürzung des Credos „Nomina ante res“.180 Die Haushälterin wiederum zeigt sich in ihren Bemühungen um das „Seelenheil“ des Jungen als die Diskurstreibende, wenn sie wiederholt natürliche Reifeprozesse pathologisiert, aber vor allem auch vor dem Onkel thematisiert. Hürlimann verpackt diese Ambivalenz des Fräuleins in der Analogie zur Madonna. Ihr Gesicht wird als „Madonnenmaske“181 bezeichnet, was impliziert, dass diese etwas verdeckt. Nicht umsonst blitzen „durch die Madonnenmaske […] plötzlich ihre Äuglein“182 und verweisen auf das Dahinterliegende. Auch wird in der oben zitierten Beschreibung des Gebetes vor der schwarzen Madonna zum ersten und letzten Mal der Vorname des Fräuleins genannt. So wird ein biblischer Kontrast zwischen der Ikone Maria und der Figur Magdalena Stark eröffnet, denn Maria Magdalena war eben nicht die jungfräuliche Gottesmutter, sondern die Prostituierte. Die Ambivalenz der Figur Stark beschäftigt auch den Protagonisten nach einer durch eine Verwechslung entstandenen erotischen Berührung ihres Beines unter dem Tisch. Statt der Klage beim Onkel bietet ihm das Fräulein einen Gutenachtkuss.183 Nase und Name sind Phantasmagorien, denen der Protagonist durch seine Vergangenheitssuche eine Materialität zu verleihen sucht. Da seine Familiengeschichte von den lebenden Verwandten nicht thematisiert wird, hat der Protagonist kaum ein Bewusstsein davon. Seine Recherchen eröffnen ihm die ostjüdischen Ursprünge und eine Generationen dauernde Reise, die mit der Ankunft in der Schweizer Gesellschaft und der Assimilation endet und so einen Gegenentwurf zum Schweizer Identitätsentwurf präsentiert: „Zugleich schreibt die Überlieferungsgeschichte der Katzen implizit auch gegen die monolithische Lieblingserzählung der Schweiz an, die Ursprung und Kraftquell in den Innerschweizer Bergen verortet.“184

179 Vgl. FS, S. 155. 180 Vgl. ebd., S. 165. 181 Ebd., S. 30. 182 Ebd. 183 Vgl. ebd., S. 133. 184 Jürgen Barkhoff: „Die Katzen und die Schweiz. Zum Verhältnis von Familiengeschichte und Landesgeschichte in Hürlimanns ‚Familientrilogie‘“, in: Beatrice Sandberg (Hg.), Familienbilder als Zeitbilder. Erzählte Zeitgeschichte(n) bei

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Für den Onkel endet die Assimilation vor allem auch im Schweigen über die eigene Herkunft, sodass es wiederum die Haushälterin ist, die das Verborgene ans Tageslicht zu holen versucht: „Ein seltsamer Gedanke, zugegeben, eigentlich eine verkehrte Welt, der Stiftsbibliothekar verschloß die Papiere, die die Geschichte der Katzen enthielten, im Giftschrank, während die Stark dafür sorgte, daß sie mir Stück für Stück in die Finger gespielt wurden!“185 Sein Verdacht, die Haushälterin würde ihm die zuweilen tragische Familiengeschichte vorführen, um ihn „auf die richtige Bahn zu lenken, weg vom verwunschenen Geschlecht, hin zu all den Guten Braven Reinen, die weder schnuppern noch blicken“186, mag richtig sein, doch zeigt sich auch hier das Verlangen, das Geheime und Unterdrückte im Umlauf zu halten, es jedoch nicht direkt auszusprechen. Das jüdische Thema ist in der Nachkriegsschweiz zum Unsagbaren geworden, es lebt in Metaphern, Chiffren und Vorurteilen fort. Die Angewohnheit des Protagonisten, den Damen beim Schuhanziehen unter die Röcke zu lugen, wirkt wie eine Wiederholung dieses Themas, da auch er versucht, hinter etwas zu gelangen, das verhüllt ist. Die längst untergegangene Dessousfabrik der Familie verweist mit der Wortbedeutung „Dessous = darunter, Unterteil, Unterwäsche“187 ebenfalls in diese Richtung. Und wenn sich der Protagonist fragt: „Warum geschah alles im Verborgenen, unter Röcken, unterm Tisch?“188, dann wird er sich der Überführung von beidem – der Sexualität und des Judentums – aus dem offenen in einen verborgenen Diskurs bewusst. In diesem Sinne muss festgestellt werden, dass für die Konzeption des Romans die von Reich-Ranicki geforderte Ausdrücklichkeit geradezu destruktiv und zu der Absicht gegenläufig wäre. Die fortwährende Benennung durch den homodiegetischen Erzähler dessen, was den übrigen Figuren der Diegese auszusprechen versagt bleibt, würde den durch die interne Fokalisierung erzielten Effekt und die Atmosphäre der Unsagbarkeit zerstören. Das Fremdbild des ‚Juden‘, das auf Onkel und Neffen projiziert wird, hat vor allem den Zweck, ein Selbstbild zu stärken und dessen Paradoxien zu entschärfen. Die diesem Selbstbild immanente Naturbindung lässt sich nur unter dem Ausschluss der – insbesondere sexuellen – Triebe mit dem christlichen Selbstverständnis in Einklang bringen. Praktischerweise kann die Sexualität genau unter diesem christlichen Paradigma als Unterdrückungs- und Keuschheitsdiskurs

Schweizer Autoren vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Berlin: Frank & Timme 2010, S. 181-196, hier S. 189. 185 FS, S. 119. 186 Ebd., S. 119. 187 Ebd., S. 147. 188 Ebd., S. 131.

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am Leben gehalten werden. Das triebhafte Wesen des Menschen wird auf diese Weise nicht ‚dem Christen‘ zugeschrieben, sondern auf ‚den Nicht-Christen‘, ‚den Juden‘, übertragen, wie dies das Fräulein Stark so ausdrücklich und ausdauernd tut. Dabei findet jedoch nicht nur eine Reproduktion der Klischees statt, sondern vor allem bietet die Figur der Haushälterin zugleich die Möglichkeit der weiterreichenden Kritik. Indem sie naiv die Verlogenheit der Umgebung auf die beiden jüdischen Figuren projiziert, schafft sie es, diese unter den Röcken ans Tageslicht, ins Bewusstsein hervorzuholen und sie so der Reflexion des Protagonisten, aber auch des Lesers zugänglich zu machen. Innerhalb der konzeptuellen Metapher unter der Naturdomäne kommt der Authentizität als ‚Natürlichkeit‘ eine tragende Rolle zu. Der Weltdeutungsmechanismus, der so konstruiert wird, impliziert einen Dualismus von authentischen und ehrlichen Christen (Katholiken) und verlogenen, verschlagenen und unehrlichen Juden, deren angeblich fehlende Authentizität auf eine entsprechende moralische Disposition verweist. Dieses Vorurteil manifestiert sich in der Obsession des Fräuleins, Neffe und Onkel hätten einen wahren Charakter zu verbergen, der – und hier wird das nächste Stereotyp angeknüpft – ein durch und durch sexualisierter sei. Hürlimann negiert mit der Figur des Onkels offensiv das Stereotyp des hypersexuellen Juden. Ähnlich wie bei Koneffke wird ein sexuelles Interesse des Neffen nicht negiert, sondern die Absicht der Umgebung herausgestellt, dieses Interesse als anormal wahrzunehmen. Die Auseinandersetzung mit dem Stereotyp wird auch hier durch die Erzählsituation begünstigt. Das Kind übernimmt die Vorurteile der Dorfbewohner und des Fräuleins gegenüber seinem Onkel zunächst fraglos und auch der erwachsene Erzähler belässt sie unkommentiert. Tatsächlich wird die interne Fokalisierung hauptsächlich und konsequent beibehalten, wenn es um antisemitische Klischees und Vorurteile geht. Das irritiert insofern, als zu erwarten wäre, dass das erzählende Ich in seiner Distanz zum erlebenden Ich gerade diese Momente der Geschichte in einem kritischen Licht abbilde. Da dies nicht geschieht, erfolgt eine Brechung der Kontinuität in der Figur des Ich-Erzählers: Das erlebende und erzählende Ich fallen auseinander. Das erzählende Ich erweckt den Eindruck, nicht seine eigene Geschichte, sondern die eines Fremden zu erzählen. Durch dieses Auseinanderfallen von Erzählen und Erleben wird jedoch auch erreicht, dass die unkommentiert präsentierte Erlebniswelt des Protagonisten in ihrer Kindlichkeit deutlich wird. Die Welt des Erzählers und die Welt des Erlebenden stehen sich indirekt kontrastiv gegenüber. Hürlimann legt das Vorurteil als eine Projektion von Begierden und Tabus offen, wodurch die Projizierenden in das Kreuzfeuer der Kritik geraten und der Geltungsbereich der Metapher exemplarisch eingeschränkt wird. Damit wird zu-

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gleich deutlich gemacht, wie der Mechanismus eines durch die Pflanzenmetapher festgeschriebenen Weltbildes funktioniert: Die jeweiligen Selbst- und Fremdzuschreibungen basieren auf Mythen und Bildern, deren Kraft als Projektion um ein Vielfaches stärker ist als ihre Realität. Auf diese Weise gelingt es Hürlimann, das Authentizitätsdiktum der Pflanzenmetapher als Konstrukt offenzugelegen. 2.2.3

Zwischenergebnis II

Zusammenfassend zeigen sich zwei Strategien, wie in den vorgestellten Romanen mit den jeweiligen konzeptuellen Metaphern umgegangen wird. In Jonathan Safran Foers Everything Is Illuminated wird die konzeptuelle Metapher demontiert, indem Gegenmetaphern für das Individualitätskonzept etabliert werden. Statt der konventionalisierten Metapher der Pflanze und der Verwurzelung als Identitätsparadigma dominiert eine Wasser- und Reisemetaphorik. Es werden kreative konzeptuelle Metaphern geschaffen, und das statische Identitätskonzept wird dabei durch ein dynamisches ersetzt. Im inhaltlichen Zusammenhang erweisen sich diese dynamischen Konzepte als weitaus tragfähiger: Vor allem – aber nicht nur – jüdische Biographien im Nachkriegseuropa lassen nur in den seltensten Fällen eine Identitätskonstruktion über das Paradigma der territorialen Verwurzelung zu. In Thomas Hürlimanns Fräulein Stark hingegen findet eine Auseinandersetzung mit der Domäne der NATUR als konstitutive und organisierende Instanz statt, deren Polysemie grundlegend für die Pflanzenmetapher ist. Dabei wird die Metapher auf zwei Ebenen demontiert: zum einen, indem diese Polysemie von natürlich gegebenem und gewachsenem Dasein und Charakter des Menschen aufgelöst und zum anderen indem der Projektionsmechanismus der konzeptuellen Metapher offengelegt wird. Dabei wird das Natürlichkeitsparadigma als Authentizitätsparadigma in einen engen ideologischen Zusammenhang mit dem spezifischen schweizerisch-katholischen Milieu gestellt. Die daraus resultierenden Exklusionsmechanismen, die sich gegen die Juden richten, werden als Produkte eben dieses Milieus enthüllt. Diese Projektionen basieren auf Mythen der national-territorialen Identitätskonstruktion. Dabei ist die auf der Metaebene skizzierte Familiengeschichte ein direkter Gegenentwurf zur Pflanzenmetapher. Die Darstellung der Wanderschaft, an deren Ende erfolgreiche und gebildete Schweizer Nachkommen stehen, widerspricht offen der territorial gedachten Identitätskonstruktion. Sowohl Fräulein Stark als auch Everything Is Illuminated setzen sich mit einer Identitätskonstruktion des Individuums auseinander, die territorial durch die

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Pflanzenmetapher konzeptualisiert wird. Dabei wird in beiden Fällen der Zugang zum Konzept MENSCH und seiner Identität über die Vergangenheit und die individuelle Genealogie gesucht. Die Suche der beiden Protagonisten enthüllt den Prozess und den Charakter der Konstruktion einer statisch gedachten Identität. Dabei wird eine Trennschärfe der Begriffe Genealogie und Genetik eingefordert, wenn sich die überlieferten Familiengeschichten gegenüber den statischen, fossilen und nationalen Konzepten als die tragfähigeren Paradigmen der Individualität erweisen. Darin folgen sie dem Foucault’schen Genealogiebegriff, der sich gegen die Idee eines Wesensursprungs richtet: „Ausdrücke wie Entstehung oder Herkunft bezeichnen den eigentümlichen Gegenstand der Genealogie besser als Ursprung.“189 Für die Konzepte von Juden, die sich hieraus ergeben, bedeutet dies eine Um- und Aufwertung der in der Regel pejorativ gebrauchten Zuschreibungen die sich mit dem Stereotyp des ahasverischen Juden auseinandersetzen und sich in Vorstellungen der Luftmenschen, der Heimatlosigkeit, des Kosmopolitismus manifestieren. Waren diese Attribuierungen lange ein Mittel zur Exklusion, erweisen sie sich als kulturelle Modelle der westlichen Identitätskonstruktion, die sich von national- und religionsdeterminierten Mustern zu lösen suchen.

2.3

M ORAL

ALS

M ETAPHER

Die Analysegrundlage dieses Kapitels bilden zwei Beispiele, die sich im weitesten Sinne als Kriminalliteratur klassifizieren lassen. Thematisch sind dementsprechend die Felder Moral, Recht und Gesetz konzepttragend. In Dariusz Muszers Die Freiheit riecht nach Vanille190 macht der kriminalistische Strang inhaltlich nur einen Teil des Plots aus, daneben werden auch Migrations- und Identitätsthemen verhandelt. Michael Chabons The Yiddish PolicemenҲs Union191 ähnelt einem klassischen Detektivroman in Raymond-ChandlerManier, einen notorisch schlecht gelaunten und zuviel Alkohol konsumierenden Ermittler eingeschlossen.

189 M. Foucault: „Nietzsche, die Genealogie und die Historie“, in: ders., Schriften in vier Bänden. Band 2: 1970-1975. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2002, S. 166-190, hier S. 171. 190 Dariusz Muszer: Die Freiheit riecht nach Vanille. München: A1 1999. Im Folgenden mit der Sigle FV abgekürzt. 191 Michael Chabon: The Yiddish Policemen’s Union. New York/London: Harper Perennial 2008. Im Folgenden mit der Sigle YPU abgekürzt.

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Beide Romane setzen sich mit einem spezifischen Moralverständnis auseinander und beleuchten dabei das augenscheinlich klare Paradigma von Gut und Böse kritisch. Jüdische Identität einerseits und der Antisemitismus andererseits bilden auch hier den Hintergrund, sodass die moralischen Kategorien in diesem Rahmen erkundschaftet werden. Das Augenmerk der Demontage liegt auf der Projektion von moralischen Grundhaltungen und charakterlichen Eigenschaften auf jüdische Figuren. Bemerkenswerterweise kommen beide Romane trotz ihrer weltlichen Thematik nicht ohne phantastische, esoterische und religionsmystische Momente aus. Die Frage, wie sich diese Amalgamierung der kriminalistischen und mystischen Thematik im Zusammenhang mit dem thematischen Nukleus von Moral und Stereotyp lesen lässt, wird für das folgende Kapitel grundlegend sein. In der Auseinandersetzung mit ihr zeichnet sich eine Strategie im Umgang mit jüdischen Stereotypen ab, die auf das Erzeugen von Brüchen und Inkohärenzen in der Diegese abzielt. 2.3.1

S CHACHSPIEL: Michael Chabon The Yiddish Policemen’s Union ‚Ned’s Jews,‘ she called them, this one group within the wider community of the chosen. They were not the doctors of West End Avenue, not the tailors of Grand Street, not the rabbis of Borough Park nor the assimilated Jews of Great Neck, but the so called survivors of Europe. MELVIN JULES BUKIET/TONGUE OF THE JEWS Dunkelstes unter den dunkelsten Gesichtern, die schwärzesten der schwärzesten Haare und Augen, den leidenschaftlichsten und vom Traum getriebenen Geist unter allen feurigen, unstetigen Geistern besaß Izaak Todros. ELIZA ORZESZKOWA/MEIR EZOFOWICZ

Nach Michael Chabons pulitzerpreisgekröntem Roman The Amazing Adventures of Kavalier and Clay192 wurde auch The Yiddish Policemen’s Union in der Pres-

192 Michael Chabon: The Amazing Adventures of Kavalier and Clay. New York/ London: Harper Perennial 2000.

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se gefeiert. Unter das Lob mischten sich jedoch auch kritische Stimmen, die Chabon eine durchweg negative Darstellung jüdischer Figuren vorwarfen, wie etwa die New York Post: „‚The Yiddish Policemen’s Union‘ depicts Jews as constantly in conflict with one another, and its villains are a ruthless, ultra-Orthodox sect that resembles the Lubavitchers […]. Chabon, who is Jewish, depicts some of his Jewish characters as willing to do anything, including massacring other Jews, in the cause of Zionism.“193

Die Handlung des in der Tradition der Schwarzen Serie gehaltenen Detektivromans ist als Uchronie angelegt, in der der Staat Israel nicht existiert. Stattdessen greift Chabon einen realhistorischen Vorschlag auf, der 1940 von Roosevelts Innenminister gemacht wurde. Harold Ickes schlug vor, Alaska für die jüdischen Flüchtlinge zu öffnen. So gibt es im Roman eine Enklave in Alaskas Stadt Sitka, die von den USA gepachtet wurde und in der drei Millionen vor dem Holocaust geflohene Juden mit ihren Kindern und Enkeln im dauerhaften Konflikt mit den einheimischen Tinglit leben. Da in den Augen der Amerikaner die jüdischen Bewohner Sitkas zu stark zugenommen haben und der Pachtvertrag ausläuft, steht eine Revision an, während der ein großer Teil der Bewohner ausgewiesen werden soll. Neben dieser kontrafaktischen Darstellung von großer historischer und politischer Reichweite gibt es auch kleinere Verschiebungen in der Alternativwelt; so wurde beispielsweise Orson Welles’ Verfilmung von Joseph Conrads Herz der Finsternis realisiert. Vor diesem Hintergrund geschieht ein Mord, mit dessen Aufklärung der Detektiv Meyer Landsman betraut wird. Der tote vermeintliche Junkie erweist sich als der Sohn des wichtigsten Mannes in Sitka. Der Vater, Rabbi Heskel Shpilmann, ist Chef einer Sekte orthodoxer Juden, der Verbover. Neben den irdischen Problemen, wie Drogensucht und organisierter Kriminalität, nimmt der Plot auch religionsmystische Motive auf. Der tote Mendel Shpilman ist ein Tzaddik Ha-dor, der Gerechte einer Generation, der zum Messias bestimmt ist. Zu dieser Gemengelage der Motive tritt ein drittes hinzu, das sich als Leitmotiv durch die Handlung zieht. Das Schachspiel verbindet das Opfer mit dem Detektiv und stiftet zugleich eine Verbindung in die europäische Vergangenheit. So war der Tote ein begnadeter Schachspieler und lebte unter dem Namen des realen historischen Schachweltmeisters Emanuel Lasker. Auch

193 Richard Johnson/Paula Froelich/Bill Hoffmann/Corynne Steindler: “Novelist’s Ugly View of Jews”, in: New York Post. http://www.nypost.com/p/pagesix/item_ eRY qGj48hB4cCsvJDEaV2M;jsessionid=6B6C2C8DD71019C1A445A348F78F0718. (22.8.2011).

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Detektiv Meyer Landsman pflegt ein intensives – wenngleich kompliziertes – Verhältnis zu Schach. Schach verbindet Opfer und Täter und liefert das fehlende Indiz zur Lösung des Falles. In seiner Figurengestaltung der Einwanderer erster Generation referiert Chabon auf den Typus des (wienerisch-)jüdischen Schachspielers.194 Die Beschreibungen der Schachturniere in den Cafés Sitkas lassen sich als Reminiszenzen auf die europäische Heimat lesen, in der die schachspielenden „Luftmenschen“195 ihre Zeit verbrachten. Der Nachname des Opfers, Shpilman, steht in doppelter Weise im Zusammenhang mit dem Schachspiel. Der offensichtliche, wörtliche Bezug zum ‚Spiel‘ wird verstärkt durch einen möglichen historischen Bezug zum Schachspieler Rudolf Spielmann, der in Wien durch eine Technik bekannt wurde, die er 1935 in seinem Buch Richtig Opfern darlegt. Jenseits der Vermutung, ob die Querverbindung zwischen dem historischen opfernden Schachgenie Rudolf Spielmann und dem literarischen geopferten Schachgenie Mendel Shpilman vom Autor intendiert wurde, deutet die Polysemie eine Verbindung zweier Bereiche an. Das Schachspiel, das als Leitmotiv die Handlung begleitet, verweist im Kontext des DetektivromanGenres, der sich mit Fragen von Schuld und Verantwortung beschäftigt, auf ein Verständnis von Moral, das von der konzeptuellen Metapher MORAL IST EIN SCHACHSPIEL erfasst wird. In dieser konzeptuellen Metapher lassen sich Strukturmerkmale des Schachspiels, wie die dualistische Aufteilung von schwarz und weiß oder die Figurenkonstellationen, auf das Konzept von Moral übertragen.

194 Vgl. Michael Ehn/Ernst Strouhal: Luftmenschen. Die Schachspieler von Wien. Materialien und Topographien zu einer städtischen Randfigur 1700-1938. Wien: Sonderzahl 1998. 195 ‚Luftmensch‘ wurde mit der Zeit nicht nur für die armen Ostjuden verwendet, sondern vor allem für die Schachspieler, die die Cafés Wiens bevölkerten und im Verdacht standen, ihre Zeit mit Schach zu vergeuden statt zu arbeiten. Vgl. M Ehn, E. Strouhal: Luftmenschen. Auch N. Berg: Luftmenschen beschreibt, dass im Zuge dieser Entwicklung das Schachspiel als „jüdisches Spiel“ wahrgenommen wurde, S. 31 f.

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Abb. 6: Conceptual Integration Network MORAL IST EIN SCHACHSPIEL

Durch die konzeptuelle Metapher wird eine Strukturanalogie zwischen SchwarzWeiß und Gut-Böse erzeugt. Basis für diesen Dualismus ist eine ontologische Licht- und Helligkeitsmetaphorik, in der Helligkeit und Licht mit dem Guten und die Dunkelheit mit dem Bösen gleichgesetzt werden.196 Ursprünglich entstammt dieses Konzept dem religiösen Kontext, was Zoltán Kövecses unter anderem an der Kirchenbauweise festmacht: „Christian churches are built in such a way that they point towards the sky, the assumed place, where God lives, which

196 Schwärze und Dunkelheit und Nacht sind nach Kövecses Bildspender für Tod oder Trauer. Z. Kövecses: Metaphor, S. 44 und 48.

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assembles the metaphor GOD IS UP.“197 Die Orientierungsmetapher GOTT IST OBEN stellt Gott in einen assoziativen Zusammenhang mit Sonne, Licht und Helligkeit, und in seiner Nähe wird üblicherweise auch Moral verortet. 198 Die Farbmetaphorik, die zur Beschreibung des Rabbis und seiner Schergen Verwendung findet, wird im bewussten Gegensatz dazu verwendet, wenn diese pejorativ als „black hats“ bezeichnet werden. Im Lichte dieser semantischen Überfrachtung von Schwarz als der Farbe des Bösen, der Anspielung auf die traditionelle Bekleidung der orthodoxen Juden und der kriminellen Machenschaften der Gruppe der Schwarzhüte, lässt sich der Vorwurf der Autoren der New York Post lesen, die antisemitische Züge an der Figurengestaltung Chabons zu erkennen glauben. Auch in der folgenden Darstellung der Geschichte der orthodoxen Sekte dominiert die Dunkelheitsmetaphorik: „Then the entire sect was burned down in the fires of Destruction, down to a hard, dense core of something blacker than any hat. What was left of the ninth Verbover rebbe emerged from those fires with eleven disciples and, among his family, only the sixth of his eight daughters. He rose into the air like a charred scrap of paper and blew to his narrow strip between the Baranof Mountains and the end of the world.“199

Hier wird das Phönixmotiv zitiert und semantisch gebrochen, denn es steigt kein leuchtender Vogel aus der Asche auf, sondern ein verkohltes Stück Papier. Die Stilisierung des Rabbis und seiner Sekte zu einer verbrecherischen, in sich geschlossenen und säkulare Juden wie Nichtjuden verachtenden Gruppe beschwört antisemitische Verschwörungstheorien herauf, wie sie durch die bereits erwähnten Protokolle der Weisen von Zion verbreitet wurden. Auch Chabons Bösewichte schrecken vor nichts zurück, um ihre Macht zu stabilisieren und auszuweiten. Doch dieses Bild bekommt Brüche. Ein erstes Indiz dafür wird gleich zu Beginn der Handlung gelegt. Detektiv Landsman findet im Zimmer des Toten ein Schachbrett, auf dem eine unvollendete Partie zu sehen ist. Die Konstellation der Figuren gibt dem Protagonisten ein Rätsel auf, von dem er sich die Lösung seines Falls verspricht.

197 Ebd., S. 58. 198 Vgl. ebd., S. 210. 199 YPU, S. 99. [Herv. P.W.]

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„On the bedside table Lasker kept a chessboard. It looks like he had a game going on, a messy-looking middle game with Black’s king under attack at the center of the board and White having the advantage of a couple of pieces.“200

Leicht zu identifizieren scheint der schwarze König als Rabbi Shpilmann, der Vater des Opfers, und im Verlauf der Handlung zeigt sich tatsächlich, dass seine alleinige Macht in Sitka im Sinne des obigen Bildes zunehmend Brüche bekommt. Der Fall weitet sich global aus, dabei spinnt Chabon ein Netz aus Verweisen auf die aktuelle politische Lage im Nahen Osten.201 So kann das Verhältnis zwischen den jüdischen Bewohnern Sitkas und den Tinglit als satirisch überzeichnete Analogie auf dasjenige zwischen Israelis und Palästinensern in Israel verstanden werden. Auch lässt sich der Einfluss der Verbover auf die Politik Sitkas als eine Anspielung auf die Situation in Israel verstehen, wo den Orthodoxen ein enormer Einfluss auf politische Entscheidungen zugesprochen wird, der zur Verschärfung des Konfliktes füht. Dem Genre der Uchronie gerecht werdend, streut Chabon in The Yiddish PolicemenҲs Union Verweise auf realgeschichtliche Ereignisse ein. Zusammengenommen erscheint es, als hätte Chabon eine ansehnliche Zahl zirkulierender Gerüchte und Phantasien um mögliche jüdische Verschwörungen mit realpolitischen Ereignissen verwoben und verdichtet umgesetzt. Daraus ergibt sich eine Strategie, die in Analogie zu dem ‚naiven Sprecher‘ entwickelt werden soll. Chabon setzt Vorurteile und Stereotype bildlich um, wodurch ihre Klischeehaftigkeit verstärkt zum Ausdruck kommt, sie bizarr und irreal erscheinen. Die so erzeugte Irritation erfolgt erst in der Rezeption. In der Diegese erscheinen die Figuren und Handlungen vollkommen kohärent. Auf der Metaebene gelingt es Chabon durch reflexive Verzerrungen und Einwürfe des extradiegetischen Erzählers, die von ihm geschilderte Welt absurd erscheinen zu lassen. Ein prägendes Beispiel für ein solches Vorgehen ist die Beschreibung des Verbover Rabbis: „Rabbi Heskel Shpilman is a deformed mountain, a giant ruined dessert, a cartoon house with the windows shut and the sink left running. A little kid lumped him together, a mob

200 Ebd., S. 4. 201 Christoph Rodiek erklärt ein kohärentes Verweisungsmuster, das auf im Text „implizit repräsentierte[m] ‚kulturelle[m] Wissen[]‘ [beruht], gegen das die uchronischen Daten systematisch verstoßen“, zum grundlegenden Merkmal einer Uchronie. Ch. Rodiek: Erfundene Vergangenheit. Kontrafaktische Geschichtsdarstellung (U-chronie) in der Literatur. Frankfurt a. M.: Klostermann 1997, S. 28.

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of kids, blind orphans who never laid eyes on a man. They clumped the dough of his arms and legs to the dough of his body, then jammed his head down on top.“202

In dieser Entfremdung erscheint die Figur wie ein Schurke aus einem Comicheft, eine völlig unreale Figur, deren Bedrohlichkeit durch die Lächerlichkeit der Erscheinung deutlich gemindert wird. Die Verwendung von Klischees als bewusste Strategie wird vom Erzähler an einer anderen Stelle ironisch reflektiert, wenn es über die Machenschaften des Rabbis heißt: „He carried its logic to its logical end, the way evil geniuses do in cheap novels.“203 Die Ironie liegt augenfällig darin, dass Chabon sich sowohl mit der Wahl des Genres als auch der Figurengestaltung an eben diesen „cheap novels“ orientiert und aus ihnen zahlreiche Motive übernimmt. Insofern lässt sich Chabons Variante einer kontrafaktischen Geschichte nicht nur als ein ‚Was wäre, wenn Alaska ein jüdischer Zufluchtsort geworden wäre?‘ lesen, sondern auch als ein ‚Was wäre, wenn all die Gerüchte von einer jüdischen Verschwörung wahr wären?‘. Die Tatsache der Verflechtung beider kontrafaktischen Vorstellungen verweist sie an den gleichen Ort: außerhalb der Realität und des tatsächlich Geschehenen. Die Phantasien von Verschwörungsanhängern und Antisemiten, die diese als real und belegbar erachten, werden an die eindeutige Kontrafaktizität der geschichtlichen Ereignisse gereiht und so in den Bereich des Phantastischen verbannt. Die Schachspielmetapher bietet Möglichkeiten, die verfestigte Farbmetaphorik zu durchbrechen, indem die Farbzuordnung umverteilt wird. So stellt sich heraus, dass die große Verschwörung, der Mendel Shpilman und auch Landsmans Schwester zum Opfer fielen, von Washington aus geplant und von einer Organisation christlicher Zionisten gesteuert wird. Diese, metonymisch in der Figur Cashdollar auftretend, erscheinen mit ihrem göttlichen Auftrag im Rücken als die Weißen, die dem schwarzen König in der Szenerie auf dem Schachbrett die Macht streitig machen: „They duck and pull back, and in their parting, a tall, slim, fair-haired man stands revealed. The new arrival, fresh from the hold of his bright white floatplane. The hair is really something, like a flare of sunlight on a sheet of steel.“204 Da der hier strahlende Cashdollar einer der wirklichen Bösewichte des Romans ist, wird die wertbeladene Konnotation der Farbmetaphorik durchbrochen. Seine Beschreibung weist zudem klassische Merkmale des Stereotyps eines

202 YPU, S. 135. 203 Ebd., S. 99. 204 YPU, S. 268. [Hervorhebung P.W.]

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Ariers auf, der mit blauen Augen und blonden Haaren in einen Gegensatz zu den nicht nur schwarz gekleideten Orthodoxen, sondern auch zu dem ewig schluderig und dreckig auftretenden jüdischen Detektiv gestellt wird. Doch ist er, der im Sinne der MORAL IST REINHEIT205-Metapher ein Faible für Ordnung und Sauberkeit besitzt – „The last thing he wants is any hint of a mess“206 – eindeutig keine Figur eines Sauber-mannes. Die Schachmetapher bietet eine weitere Möglichkeit der Demontage. Die Erweiterung des Geschehens von der lokalen Ebene Sitkas auf ein globales Netz zwischen Alaska, USA, Nahost und Europa lässt die gesamte Situation komplexer und unüberschaubarer werden. Pauschale Schuldzuweisungen laufen innerhalb der Handlung zunehmend ins Leere, wenn die Beteiligten als Handelnde in einem größeren System erscheinen, in dem keiner als Alleinverantwortlicher ausgemacht werden kann. Im Sinne der Schachspielmetapher kann dieses weltpolitische System als ein Schachbrett beschrieben werden, in dem die Teilnehmer Figuren sind, deren Handlungen von den bereits getätigten Zügen abhängen. Ein solches Verständnis der Weltpolitik wird im Roman anhand der Figur Hertz Shemets vorgebracht, der als junger Mann für die Amerikaner gearbeitet hatte und entscheidend die Geschichte Sitkas beeinflusste: „Hertz Shemets had transferred his skills at feinting and attack to a much larger chessboard.“207 Die Idee der Moral als eines immerwährenden Kampfes von Gut und Böse (Weiß gegen Schwarz) wird in dieser Vorstellung unterminiert. Das Verantwortungsprinzip funktioniert nicht, da die Akteure austauschbar sind und jeder nur eine Rolle in dem globalen Spiel übernimmt. So erweist sich Cashdollar für die geschehenen Morde als nur im beschränkten Maße haftbar: „I am so very sorry about your sister. […] That was a bad call made by the man who preceded me in this job […]. And he paid for it. Not with his life of course.“208 Der Feind ist in einem Netz aus Verantwortlichkeiten und Zufällen nicht mehr eindeutig auszumachen. Allegorisch dafür ist die Erleuchtung, die Detektiv Landsman zur Lösung des Falles führt. Durch die Rekonstruktion der Partie aus dem Zimmer des Toten stellt sich heraus, dass hier ein Schachproblem verhandelt wurde: „‚They call that Zugzwang […]. Forced to move. It means Black would be better off if he could just pass.‘ ‚But you aren’t allowed to pass, are you? You have to do something, don’t you?‘“209 Inwieweit Chabon dieses Prob-

205 Vgl. Z. Kövecses: Metaphor, S. 210. 206 YPU, S. 268. 207 Ebd., S. 47. 208 Ebd., S. 365. 209 Ebd., S. 400. [Herv. i. O.]

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lem auf realpolitische Verhältnisse übertragen möchte, kann nur spekuliert werden. Entscheidend dagegen ist die Wende in der Konnotation der Schachmetapher. War es zu Beginn naheliegend, die Strukturanalogie von Gut und Böse als grundlegende Struktur von Moralität im Roman zu betrachten, so erweist sich das dichotome Weltbild der Komplexität der Welt nicht gewachsen. Wird die (Welt-)Politik als ein Schachbrett begriffen, so unterliegen die Spieler den Regeln des Zugzwanges: Sie müssen handeln und zwar in Abhängigkeit zu dem vorangegangenen Geschehen. Dies meint auch Cashdollar, wenn er erkennt: „But we aren’t telling a story. […] The story, Detective Landsman, is telling us. Just like it has done from the beginning. We’re part of the story. You. Me.“210 Daraus einen moralischen Relativismus oder Nihilismus ableiten zu wollen, wäre jedoch grundlegend falsch. Was negiert werden soll, ist die jahrhundertealte Vorstellung der jüdischen Weltverschwörung, die die Geschicke der Welt lenkt. Es wird durchaus eine Trennschärfe zwischen moralischem und unmoralischem Handeln erzeugt, sie wird jedoch nicht an Gruppenzugehörigkeiten ausgerichtet. Chabon legt die moralische Entscheidung in die Hände des Individuums: „‚Fuck what is written.‘ […] All at once he [Landsman] feels weary of ganefs and prophets, guns and sacrifices and the infinite gangster weight of God. He’s tired of hearing about the promised land and the inevitable bloodshed required for it’s redemption. […] ‚I don’t care what supposedly got promised. […] My homeland is in my hat.‘“211

Unter der Schachmetapher wird auch deutlich, dass nicht jeder Zug dem Zugzwang unterliegt und es dem Individuum überlassen ist, die Entscheidung zu treffen, bevor ausweglose Situationen entstehen. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Chabon unter Einsatz der satirischen Überformung die Absurdität von Stereotypen vorführt, die sich aus einer bestimmten Idee von Moral speisen. Die Wahl des Detektivromangenres ermöglicht dabei eine plakative Schwarz-Weiß-Malerei und ihre Demontage. Im Zuge der Auflösung der konzeptuellen Metapher wird die Unzulänglichkeit vereinfachender Denkschemata, die zur Vorstellung einer jüdischen Weltverschwörung führen, offengelegt. Nicht zuletzt garantiert die kontrafaktische Anlage des Plots eine Distanzierung und damit die Möglichkeit, das Surreale in doppelter Weise zu markieren.

210 Ebd., S. 365. 211 Ebd., S. 368.

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2.3.2

W EG: Dariusz Muszer Die Freiheit riecht nach Vanille Yes, there are two paths you can go by But in the long run There‫ތ‬s still time to change the road you‫ތ‬re on LED ZEPPELIN/STAIRWAY TO HEAVEN Auf diesem Plan, der im Stil barocker Prospekte gehalten war, leuchtete die Gegend um die Krokodilstraße in dem leeren weiß, mit dem auf geographischen Karten üblicherweise die Umgebung der Pole kennzeichnet, der Länder, die noch unerforscht oder deren Existenz nicht gesichtert ist. BRUNO SCHULZ/DIE ZIMTLÄDEN

Dariusz Muszers von der Kritik als „Schelmenroman“212 charakterisierter Roman Die Freiheit riecht nach Vanille, der zunächst auf Deutsch erschien und dann ins Polnische übersetzt wurde, ließe sich in die Sparte der Migrationsliteratur einordnen, was hier aus drei Gründen nicht geschehen soll. Zum einen gilt die Skepsis dem Terminus selbst, der in einer unzureichenden, fremdbestimmten und verallgemeinernden Weise ein Phänomen ‚Migrationsliteratur‘ konstatiert, welches in sich heterogen ist und in seiner Existenz als ein Phänomen zweifelhaft, zumal sich die Kategorie einer bedenklichen Variablen bedient: der Herkunft des Autors. Zum anderen besitzt diese Kategorie für die Ausführungen keine Relevanz und widerspricht zum dritten der Anlage der Arbeit, die Herkunft des Autors nicht zum Argument zu machen. Die Position des Ich-Erzählers im Roman ist die eines Beobachters oder eines Narren. In einer derb-obszönen und bewusst komischen Sprache kommentiert er aus seiner Distanz heraus das Leben in Deutschland und in Polen. Von Dirk Uffelmann wird dies als bewusste Strategie des Autors beschrieben, mit dem deutschen Publikum zu kommunizieren, was ihn in die Reihe von Schriftstellern wie Stefan Chwin oder Maria Nurowska stelle.213 Muszers Protagonist

212 Vgl. Peter Oberstein: „Provokante Ansichten. Autor Dariusz Muszer und sein Deutschland“, in: Süddeutsche Zeitung vom 14.10.2000, S. R. 6. 213 Vgl. Dirk Uffelmann: „Wątek Īydowski w literaturze polskiej wobec niemieckiego adresata [Das jüdische Thema in der polnischen Literatur für deutschen Lesers –

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weist keinerlei Bindung, weder zum Herkunfts- noch zum Referenzland, auf. Im Gegenteil, sein Verhältnis ist von einer demonstrativen Gleichgültigkeit geprägt, die Wahl seiner neuen Heimat begründet er mit materiellem Vorteil. Unter dem Postulat der Authentizitätsforderung bis heute gültiger normativer und transitiver Assimilationstheorien ist dies eine eindeutig falsche Assimilation.214 Die Hauptfigur Naletnik ist keine sympathische Figur, er ist Nihilist und Krimineller. Seine Selbstdiagnose „Ich bin das kleinste schwärzeste Arschloch im Universum“215 scheint sich im Verlauf der Handlung und seiner Lebenserzählung zu bewahrheiten. Der Roman lässt mehrere Lesarten zu: Als ungewolltes Kind einer Kindsmörderin übersteht er wunderbarerweise die Tötungsversuche der Mutter und wird von seiner Großmutter aufgezogen. Nachdem er im noch kommunistischen Polen eine Karriere als Versicherungsmitarbeiter und Staatsanwalt angetreten, geheiratet, zwei Kinder bekommen und sich anschließend von seiner Frau getrennt hat, reist er nach Deutschland aus, wo er auf ein besseres Leben hofft. Dieser harmlose Plot hat jedoch eine zusätzliche Ebene, die den Protagonisten in einem völlig anderen Licht dastehen lässt: Als Tierquäler und Kleindieb wird er als Erwachsener neben seinem Beruf zum leidenschaftlichen Spitzel der Kommunisten. In seiner Ehe verhält er sich nicht minder auffällig, wenn er seine Frau vergewaltigt und sein Kind misshandelt. Nachdem er aus Polen ausgewandert ist, lebt er in Hannover auf der Straße, wo er Ausländer überfällt und ausraubt. Angeblich ermordet er auch seinen eigenen Vater und wird am Ende als Serienmörder gesucht. Daneben gibt es noch die dritte, esoterischphantastische Ebene, derzufolge er als „Außerirdischer“ statt in Norwegen im sorbischen Grenzland zwischen Polen und Deutschland landet. In die Handlung mischen sich Visionen von gefiederten Außerirdischen und andere phantastische Ereignisse. Diese drei Erzählebenen lassen sich grob mit drei literarischen Genres identifizieren, die mit unterschiedlichen Fiktionalitätsniveaus spielen: Die traditionelle Migrationsgeschichte wird mit einem Kriminalplot unterlegt und durch Science-Fiction- oder Fantasy-Elemente bereichert. Auf seiner Reise bewegt sich der Protagonist von den geographischen Wurzeln weg und begibt sich zu den genealogischen hin, da er erst in der Fremde seine familiäre Identität entdeckt. Die Auseinandersetzung mit der Identitäts-

übers. v. P.W.]“, in: M. Dąbrowski/A. Molisak, Pisarze Polsko-ĩydowscy XX wieku, S. 454-473. 214 Vgl. Rogers Brubaker: „The Return of Assimilation?“, in: ders., Ethnicity Without Groups. Cambride/Mass./London: Harvard Univ. Press 2004, S. 116-131, hier S. 119 ff. 215 FV, S. 5.

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problematik erreicht einen Höhepunkt, als ihm offenbart wird, dass er jüdische Wurzeln besitzt. Diese Entdeckung hat zunächst keine besinnende oder kathartische Wirkung, vielmehr weiß der schelmische Erzähler sie geschickt zu nutzen. Als er in Deutschland von der Polizei aufgegriffen und schikaniert wird, zieht er seine neue Identität wie ein As aus dem Ärmel: „‚Ich bin Jude‘, sagte ich leise. […] ‚Oh Scheiße!‘ schrie der Mollige. ‚Scheiße, Scheiße, Scheiße!‘ schrie der mit dem Bart. ‚Was machen wir jetzt?‘ sagte der Dritte. ‚Tja‘, sagte ich. ‚Da ist die Kacke am Dampfen, wie man das so schön auf hochdeutsch sagt. Drei Polizisten haben einen von unseren jüdischen Mitbürgern verprügelt und mit einer Pistole bedroht. Einer von ihnen wollte ihn sogar richtig erschießen, nicht wahr? Ich sehe schon wunderbare Schlagzeilen in der Bildzeitung. Ihr seid erledigt. Alle drei.‘ ‚Mensch, warum hast du das nicht früher gesagt?‘ der Mollige war betrübt. ‚Wir dachten, du bist ein Scheißpole, ein Autoknacker, ein Dieb oder so was.‘ Die hatten jetzt richtig Schiß, und es machte mir Spaß, sie auf dem Boden winseln zu sehen. Zum ersten Mal spürte ich am eigenen Leibe, daß es überhaupt nicht schlimm ist, in Deutschland ein Jude zu sein. Jedenfalls tausendmal besser als ein beschissener Polacke.“216

Die Passage lässt sich als ein sarkastischer Kommentar zur deutschen Vergangenheitsbewältigung und Doppelmoral lesen. Gleichzeitig verdeutlicht der Abschnitt, wie abgebrüht der Protagonist ist. Die Verquickung von Fragen der Herkunft mit dem Verhalten der Hauptfigur zeigt, dass die Identitätsthematik im Feld der Moral verhandelt wird. Die Struktur, die der Bereich MORAL übertragen bekommt, entstammt dem Bild des Weges. Dies wird im Roman am Bild der Reise exemplifiziert: Die (Aus-)Reise aus Polen bildet als progressive Entwicklung die Grundlage und wird dabei von anderen Reisemotiven überlagert. Dazu gehören die phantastische Metareise des Außerirdischen auf die Erde sowie die metaphorische Lebensreise des Protagonisten von der Geburt bis zum Tod. Wird das Motiv der Reise als Domäne für den Roman zugrundegelegt, so lässt dies Rückschlüsse auf die Konzeption von Moral als Weg zu.

216 FV, S. 132.

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Abb. 7: Conceptual Integration Network MORAL IST EIN WEG

Die Vorstellung von Moral als Weg oder Pfad drückt sich gemeinhin in Bildern aus, in denen ein Weg beschritten wird. Dieser Weg kann ‚richtig‘ oder ‚falsch‘ sein, man kann auf ihm ‚bleiben‘ oder von ihm ‚abkommen‘. Wie schon die SCHACHSPIEL-Metapher, beinhaltet auch die WEG-Metapher das Element des ‚Scheideweges‘, an dem die Entscheidung für eine Richtung fällt. Im Hebräischen findet eine direkte semantische Überlagerung im Begriff der ‚Halacha‘ (ʤʫʬʤ) statt: Die als Anweisung zum richtigen Verhalten verstandene Auslegung der Thora trägt in sich die Wurzel des Verbs ‚gehen‘ (ʪʬʤ). In ihr manifestiert sich geradezu wörtlich das Konzept MORAL IST EIN WEG. Die WEG-Metapher legt ein spezifisches Verständnis von Moral und von moralischem Handeln nahe. In diesem Verständnis ist eine moralische Handlung durch den Lebensweg einer Person motiviert. Dabei kann die soziale oder ethni-

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sche ‚Herkunft‘ den Beginn des Weges markieren. Das impliziert eine Rekonstruierbarkeit, aber auch die Berechenbarkeit des moralischen Handelns bis zu den Ursprüngen. Was dabei impliziert wird, ist eine strenge Kausalität und Kohärenz des moralischen Verhaltens. Wo diese nicht gegeben ist, spricht man vom ‚Straucheln‘. Problematisch wird die Metapher, wenn Ungewissheit über die Herkunft, den Ausgangspunkt der Reise herrscht. Sind Parameter wie familiäre, soziale und geographische Herkunft bekannt, so erscheint eine Person bzw. ihr ‚Charakter‘ berechenbar. Diese Vorstellung manifestiert sich negativ in der Figur des ‚Ewigen Juden‘, Ahasver. Als unglückliche und gepeinigte Seele zum Umherwandern verdammt, bleibt er moralisch eine höchst fragwürdige Figur. In ihm verdichtet sich diese Vorstellung, dass eine unbekannte Herkunft prinzipiell ‚verdächtig‘ mache. Zuletzt wurde dies während der Debatte um Martin Walsers Tod eines Kritikers heftig diskutiert, denn auch dort wurde eine unklare Herkunft an ein anrüchiges Verhalten der jüdischen Figur geknüpft. Auch Muszers Protagonist kann sich diesem Verdacht nicht entziehen, denn als abstoßende Figur hat auch er keine verortbare Herkunft. Er wird in einem Niemandsland zwischen Polen und Deutschland geboren: „Im Laufe der Zeit zivilisierte man uns Sorben und deutschte uns ein […]. Allmählich vergaß man auch uns Sorben, so wie man alles vergißt, was man nicht versteht und nicht benötigt.“217 Dieser unklare Herkunftsort scheint von Beginn an den Charakter des Protagonisten zu prägen und evoziert ein monokausales Verhältnis von Ursprung und moralischer Veranlagung. Für den Charakter Naletniks liefert der Roman keine andere Erklärung: „Man sollte sich wirklich nicht wundern, daß aus mir ein Arschloch geworden ist. Schon beim Start hatte ich keine Chancen, aus meinem Leben etwas Großartiges zu machen. Ganz zu schweigen von der bedauerlichen Geschichte mit dem tödlichen Irrtum der Gefiederten, die mich statt nach Svingen in Südnorwegen nach Göritz in Westpolen verpflanzten.“218

Hier wird der Fatalismus thematisiert, der sich aus der Metapher MORAL IST EIN WEG ableiten lässt. Der darin enthaltene Kausalitätsgedanke räumt Unregelmäßigkeiten wie dem Zufall einen relativ kleinen Geltungsrahmen ein. Das Leben des Protagonisten ist jedoch ebenso akzidentiell und von einem Irrtum der „zu-

217 Ebd., S. 9. 218 Ebd., S. 116 f.

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fälligen Landung“219 bestimmt, wie es von einem herkunftsbedingten Determinismus andererseits gekennzeichnet ist. Im Unterschied zu André Ehrl-König aus Walsers Roman wird die Herkunft verbalisiert und reflektiert. Die Evidenz der Zuordnung des ‚Täters‘ zu einem unklaren Ursprung im ‚Osten‘ wird auf zwei Ebenen in Frage gestellt. Zum einen, indem die familiäre Abstammung von Naletnik aufgedeckt wird, und zum anderen, indem diese Entdeckung einen Antagonismus der Figur offenbart. Die Geschichten der Großeltern und Eltern geben allegorisch Aufschluss über den Charakter der Hauptfigur. Es stellt sich heraus, dass der Großvater väterlicherseits als Jude im Ghetto von dem Großvater mütterlicherseits, einem Nazi, erschossen wurde. Diesen Vorfall beobachtete Naletniks Vater, der zu diesem Zeitpunkt selbst noch ein Kind war. Von Rachegedanken getrieben, macht er den Wohnort des Täters ausfindig, wo er aber nicht den Mörder, sondern dessen Ehefrau und Tochter vorfindet. Er verliebt sich in die Tochter, doch werden seine Avancen abgewiesen, da sich Mutter und Tochter nicht mit einem „verfluchten Findling“220 ohne „richtige Wurzeln“ 221 einlassen wollen. Frustriert vergewaltigt er die Tochter und zeugt damit den Protagonisten, in dessen Person auf diese Weise die Rollen von Opfer und Täter zusammenkommen: „Als Opfer geboren zu sein, noch dazu auf einem sorbischen Opferstein, das ist wirklich nicht witzig. Noch weniger witzig ist es, einen jüdisch-polnischen Vater und eine deutschsorbische Mutter zu haben.“222 Hybride Identität als Anzeiger von Unmoral – ein solcher Schluss ließe sich nach der oberflächlichen Lektüre von Die Freiheit riecht nach Vanille ziehen, und ein solcher Schluss griffe eine jahrhundertelang tradierte antisemitische Vorstellung auf. Wie Klaus Holz beschreibt, gründet der Hass gegen Juden besonders im 19. Jahrhundert in dem, was in der sogenannten Postmoderne mit Homi K. Bhaba und der Verbreitung der Postcolonial Studies als hybride Identität etabliert wurde. Im Zusammenhang mit der im 19. Jahrhundert zunehmend erstarkten Idee nationaler Identität im Sinne eines ontologisch begriffenen, ethnisierenden „germanischen Wesens“223 werden deutsche Juden einer Kategorisierung unzugänglich, bedrohen sie sogar: „Der nicht-identische Jude bestreite

219 Ebd., S. 11. 220 Ebd., S. 116. 221 Ebd., S. 115. 222 Ebd., S. 117. 223 Vgl. Klaus Holz: „Gemeinschaft und Identität. Über den Zusammenhang nationaler und antisemitischer Semantiken“, in: W. Benz, Der Hass gegen die Juden (2008), S. 200.

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die nationale Identität und stecke hinter der Gesellschaft, die die Gemeinschaft, d.h. die der Nation angemessene Sozialform, zu ersticken drohe.“224 Eine solche Nicht-Identität verbildlicht Naletnik in überzeichneter Weise. Durch die Konstruktion der Figur wird das Stereotyp ad absurdum geführt. Sowohl die obszöne Sprache als auch die Beschreibungen exzessiver Gewalt leisten einen Beitrag dazu, das Stereotyp als solches zu markieren und Distanz zum Geschehen zu erzeugen. Diese Distanz wird unter anderem durch die Überlagerung der drei Genreebenen bewirkt, die immer wieder zu Brüchen in der Kohärenz der Handlung führt. Durch das Eindringen der esoterischen Momente in die Handlungsebene des Kriminalromans werden traumhafte Sequenzen erzeugt, die die Realität der Diegese in Frage stellen: „In dem Moment nahm ich das Messer und schnitt ihm die Kehle durch. Er wehrte sich überhaupt nicht. […] Seine Kehle war ordentlich durchschnitten, aber keine Spur von Blut. Doch etwas viel Wichtigeres entdeckte ich dabei: Auf dem Rücken hatte der Alte zwei kleine, weiße Flügel. In dem Moment bekam ich es mit der Angst zu tun.“225

Auch der Erzähler hat die Funktion, Distanz zu erzeugen, indem er sich in offensichtliche Widersprüche verstrickt und lügt. Durch diese Bruchstellen der Diegese scheinen dann Bilder hervor, in denen das deutsch-jüdisch-polnische Verhältnis reflektiert wird. Ohne die üblichen surrealen Verzerrungen oder sprachlichen Brechungen werden Stationen des jüdischen Leidens in Europa aufgeführt: der Holocaust, das 1946er Pogrom in Kielce sowie die antisemitische Kampagne in Polen von 1968: „Seit Jahrhunderten waren sich die meisten Europäer darüber einig, daß man dieses Volk ausrotten sollte, ein für allemal. In der Geschichte haben sie unzählige Versuche unternommen, diesen Wunsch zu verwirklichen. Doch erst den deutschsprachigen Stämmen, die Europa kurz während des letzten Weltkrieges beherrschten, war es gelungen, die Endlösung richtig zu planen und genau durchzuführen. Ja, dazu brauchte man Spezialisten! Europa fühlte sich zwar erleichtert, jedoch stolz war es nicht. […] Alle Stämme hüllten sich in tiefes Schweigen, wobei besonders schweigsam die Täter waren.“226

224 Ebd., S. 199. [Herv. i. O.] 225 FV, S. 138. 226 Ebd., S. 142 f.

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Obwohl der Protagonist ein Antiheld ist und seine jüdische Identität als „Auschwitzkeule“ gegen deutsche Polizisten schwingt, so sind die Kommentare zur jüdischen Geschichte in Europa voller Solidarität. Die jüdische Identität bietet die Möglichkeit der Katharsis, die der Protagonist noch nicht anzunehmen bereit ist. Schon zu Beginn des Romans, als er erfährt, dass seine Ehefrau Jüdin ist, stellt er rückblickend fest: „Damals verstand ich noch nicht, daß Schadaj, ihr jüdischer Gott, seit einiger Zeit versuchte, mir verschiedene Zeichen zu geben, mich auf den richtigen Weg zu bringen, einen Weg, der zu meinem Vater führte.“227 Der Weg zur jüdischen Identität wird als der „richtige“ beschrieben. Erst zum Ende des Romans hin, als er kurz vor seinem Tode steht, erkennt er seine hybride Identität an, indem er sich in einem symbolischen Akt vom Deutschtum distanziert und bewusst dissimiliert: „Dann schnitt ich mit dem Taschenmesser meine Tätowierung, meine RegistrierscheinNummer aus […]. Ich will auf jeden Fall vermeiden, daß man mich dort oben fälschlicherweise für einen echten Germanen hält. Ich bin ja nur ein Mischling, ein slawischgermanisch-jüdischer Köter, der den Weg des Außerirdischen gewählt hat, um zu überleben.“228

Abschließend soll auf den Verfremdungseffekt hingewiesen werden, der auch bei Muszer eine entscheidende Strategie darstellt. Wie in fast allen nun untersuchten Romanen ist dieser Verfremdungs- oder Irritationseffekt sprachlich und besteht unter anderem in der Materialisation von Metaphern. „Schon der Titel seines Romandebüts Die Freiheit riecht nach Vanille ist eine realisierte Metapher“229, schreibt Dirk Uffelmann und attestiert weiterhin die Verwendung von „Prosopopöien, Zeugmata und Neologismen“230 als Ausdrucksformen einer „rhetorischen Künstlichkeit“231 nicht nur Muszer, sondern erklärt diese zu grundlegenden Stilmerkmalen der sogenannten neuesten slawischen Migrationsliteratur. Dagegen spricht jedoch, dass sich diese als „rhetorische Künstlichkeit“ titulierten Phänomene in fast allen hier untersuchten Romanen nachweisen lassen, die von jüdischen wie nicht-jüdischen Autoren aus Deutschland, der Schweiz, den

227 Ebd., S. 26. 228 Ebd., S. 213. 229 Dirk Uffelmann: „Konzilianz und Asianimus. Paradoxe Strategien der jüngsten deutschsprachigen Literatur slavischer Migranten“, in: Zeitschrift für slavische Philologie 62 (2003), S. 296. 230 Ebd. 231 Ebd.

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USA und Polen stammen. Es wird also in den nächsten Kapiteln zu untersuchen sein, welche Funktion und Wirkung dieses Phänomen tatsächlich hat und wie es zur Demontage der Stereotype beizutragen vermag. 2.3.3

Zwischenergebnis III

Die Analyse beider Romane auf ihre Auseinandersetzung mit dem Themenkomplex Judentum-Moral-Antisemitismus hin ergibt zunächst, dass sich die inhaltlichen, formalen und stilistischen Strategien in den Textbeispielen ähneln. Sie laufen auf die Infragestellung eines Konzeptes von Moral hinaus, das klare Grenzen zwischen dem behauptet, was als schlecht, und dem, was als gut zu gelten hat, innerhalb dessen Moral also ontologisch, kohärent und kausal gedacht wird. Verkürzt lässt sich sagen, dass beide Romane gegen eine Vorstellung von Moral arbeiten, die mit der Idee eines wie auch immer gearteten, unveränderlichen jüdischen Charakters oder Wesens operiert. Diese Vorstellung ist zwar eng an rassistische Ideologien des historischen Kontextes des ausgehenden 19. Jahr hunderts gebunden, wie sie von Gobineau oder Chamberlain entwickelt wurden, doch finden sich sozialdarwinistisch fundierte Vorstellungen der Gesellschaft bereits im 18. Jahrhundert,232 und die Idee eines unveränderlichen ‚Judencharakters‘ lässt sich bereits in den spätmittelalterlichen Fastnachtsspielen von Hans Folz233 nachweisen. Konkret lassen sich mehrere Ebenen und Spielarten feststellen, auf denen die Auseinandersetzung ausgefochten wird. Zum einen ist dies die Trennung der Bereiche von Opfer und Täter. In beiden Fällen wird eine Korrektur der Vorstellung vorgenommen, die davon ausgeht, dass Opferstatus und moralische Integrität sich gegenseitig bedingen. Gegen diese verkürzte Wahrnehmung werden die jüdischen Figuren als komplexe und ambivalente Charaktere konstruiert. Formal findet in beiden Romanen eine Überlagerung der Genres statt. In The Yiddish Policemen’s Union wird das Genreamalgam aus Detektivroman und Uchronie wiederholt durch Anleihen aus dem Comicgenre durchbrochen, bei Muszer überlagert der Kriminalplot die Auswanderergeschichte und wird mit

232 Vgl. Raimond Reiter: Nationalsozialismus und Moral: die „Pflichtenlehre“ eines Verbrecherstaates. Frankfurt a. M. et al: Lang 1996, S. 47 f. 233 Wie in Kapitel 1.2 beschrieben, findet sich schon bei Folz ein Paradigmenwechsel, demzufolge Judentum sich nicht mehr ausschließlich religiös konstituiert. Der als berechnend und gierig gezeichnete jüdische Charakter bleibt nach der Konversion bestehen. Vgl. hierzu: R. Schiel: Die giftigen würm das seit ir, S. 154 und 158, und H. Jenzsch: Jüdische Figuren in deutschen Bühnentexten, S. 71.

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phantastisch-esoterischen Elementen verflochten. Die surrealen Einschübe bilden in beiden Beispielen ein Gegengewicht zum realistischen und oft brutalen Geschehen. Letztendlich sind in beiden Beispielen sprachliche Besonderheiten nachzuweisen, die sich vor allem als materialisierte Metaphern und realisierte Gemeinplätze identifizieren lassen. Eine wichtige Rolle spielt die Erzählperspektive. In Die Freiheit riecht nach Vanille führt der Ich-Erzähler den Leser durch Lügen in die Irre, sodass die Realität der Diegese zweifelhaft wird. Bei Chabon wird dies durch den personalen Erzähler erreicht, der zwar nicht bewusst verwirrt, doch durch die interne Fokalisierung dem Leser seine eingeschränkte Perspektive aufzwingt. All diese Auffälligkeiten lassen sich auf die Funktion zurückführen, Brüche in der Diegese zu erzeugen und dem Leser ihre Inkonsistenz zu signalisieren. Die jeweiligen konzeptuellen Metaphern werden durch diese Brüche auf eine Probe gestellt, der sie in der bestehenden Form nicht standhalten können. Indem ihre kulturelle Bindung offengelegt und ihre Deutung als perspektivisch und subjektiv gezeigt wird, kann die Insuffizienz exponiert werden, komplexe Konzepte und Phänomene adäquat abbilden zu können. Dabei wird eine grundlegende Differenz im Umgang mit der jeweiligen konzeptuellen Metapher deutlich, die auf zwei mögliche Praktiken verweist. In Chabons Text wird die Schachspielmetapher nicht grundsätzlich negiert und auch die aus ihr zu ziehenden Implikationen nicht. Die Auseinandersetzung erfolgt durch einen Paradigmenwechsel innerhalb der input spaces. Dabei wird die Struktur von Schwarz und Weiß abgelöst durch das ebenso schachspezifische Moment des Zuges, das eine Entscheidung voraussetzt und im Gegensatz zur statischen Farbverteilung dynamisch ist. Bei Muszer wird ein entscheidender Teil der Metapher in seinen Implikationen negiert. Die WEG-Metapher als Wissensstruktur, die über den Lebensweg Deutungs- und Rückschlusshilfen auf eine moralische Konstitution erlaubt, wird in einem Netz aus Ungewissheiten und Lügen als unzulänglich exponiert. Zusätzlich wird die konkrete Anwendung der Metapher auf Juden durch den Bedeutungswandel erreicht, der den jüdischen Weg als den ‚richtigen‘ beschreibt. Wieder erfährt also der Begriff des Jüdischen als Symbol der Heimatlosigkeit und der Hybridität eine konnotative Aufwertung, die jedoch nicht durch eine schlichte semantische Umwertung erreicht wird. Vielmehr wird diese Aufwertung durch die Demontage eines fossilen, dualistisch organisierten Konzeptes von Moral erreicht, das sich aus ebenso anachronistischen Vorstellungen von Herkunft und Charakter speist.

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2.4

E INE Z USAMMENFASSUNG AUS DER INTERKULTURELLEN P ERSPEKTIVE

Die Untersuchung der sechs Romane hat unter anderem aufzeigen können, dass sich bei der Darstellung von jüdischen Themen und Figuren sowie der Auseinandersetzung mit kulturell kodierten Stereotypen234 die Thematiken wie auch die Strategien der Auseinandersetzung in einem Spannungsfeld zwischen Intra- und Interkulturalität bewegen. Im folgenden Kapitel soll ein Resümee der Einzeltextanalysen erfolgen, das einige Bemerkungen zu lokalen/nationalen Eigenheiten in der Auseinandersetzung mit dem Judentum beinhaltet, jedoch vor allem interkulturelle Gemeinsamkeiten der Texte fokussiert. Dieses Kapitel versteht sich als Zwischenschritt im Übergang von den Einzeltextanalysen auf dem Weg zu einem Katalog der Strategien in der Demontage jüdischer Stereotype. Hier wird nicht nur eine Zusammenfassung geboten, sondern ein semantisches Feld und damit einhergehend eine Deutungsebene vorgestellt, auf der das ‚Bild des Juden‘ verhandelt wird. Anhand der Texte lassen sich einige Themen und Strategien erarbeiten, die spezifisch einem Land oder Sprachraum zugeordnet werden können, wobei einschränkend bemerkt werden muss, dass die Zahl der Romane keine im empirischen Sinne repräsentativen Rückschlüsse zulässt. Dennoch stellen sich erste Tendenzen heraus, die zu einem vorläufigen Raster gefügt werden können. Für die beiden deutschsprachigen Romane von Koneffke und Hürlimann lässt sich konstatieren, dass hier vor allem eine inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus in Deutschland beziehungsweise der Schweiz stattfindet. So ist der Hauptstrang der Handlung beider Beispiele in der Vergangenheit angesetzt. In Hürlimanns Fall ist dies die Phase kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, während bei Koneffke auch die Kriegs- und Vorkriegszeit den Rahmen bildet. Auch Figurenkonstellation und Erzählerposition sind vergleichbar. Der Erzähler ist in beiden Fällen Teil der Diegese und erinnert sich an seine Kindheit und frühe Jugend. Das Figurenensemble dieser Erinnerungssequenzen ähnelt sich ebenfalls in ihrer Verteilung und Funktion. Dichotom verteilt, gibt es jeweils eine Figur, die der antisemitischen Sichtweise unterworfen wird, so Onkel Jakob in Fräulein Stark und der Vater Joseph Schatz in Paul Schatz im Uhrenkasten, sowie eine Figur beziehungsweise Figurengruppe, die als Träger der antisemitischen Sicht identifiziert wird. In Paul Schatz im Uhrenkasten ist dies vor allem der Großvater, der dabei von den beiden Tanten in unterschiedlichem Maße unterstützt wird, in Fräulein Stark sind dies die titelgebende Haushälterin und

234 Vgl. hierzu S. Volkov: Antisemitismus als kultureller Code.

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die Bewohner des Dorfes. Der kindliche Protagonist agiert in beiden Beispielen im Dazwischen dieses Figurenarrangements als eine Art teilnehmender Beobachter. Die interne Fokalisierung erlaubt nur Einsicht in die Reflexion des Kindes. In beiden Texten ist dies eine wichtige Strategie im Umgang mit dem Antisemitismus. Die beeinflussbare Perspektive des Kindes und die zeitliche Distanz des mittlerweile erwachsenen Erzählers zum Geschehen gewährleisten einen kritischen Blick auf das Erzählte. Es wird deutlich, dass hier eine Auseinandersetzung mit dem Erlebten stattfindet und nicht nur bloße Reproduktion. Das jüdische Klischee erscheint also immer durch die kindliche Perspektive gebrochen, die durch Beeinflussung, phantastische Verfremdung und vor allem durch distanzierende Entwicklung gekennzeichnet ist. In den beiden US-amerikanischen Romanen lässt sich als Gemeinsamkeit beobachten, dass beide eine verlorengegangene jüdische Vergangenheit in Europa bildreich inszenieren. In Everything Is Illuminated wird dieser Vergangenheit ein eigener Erzählstrang gewidmet: die Chronik des Schtetls Trachimbrod. Chabons Roman ist durchflochten von Reminiszenzen auf die ‚alte Welt‘ Europa, in der das jüdische Leben in Caféhäusern blühte. Die Inszenierung fällt in beiden Beispielen als Kontrast zur Darstellung des gegenwärtigen jüdischen Lebens aus. Das moderne Dasein des Protagonisten Jonathan sowie das Leben der Juden in Sitka wirken wie Schatten der Vergangenheit: Auf ihre Schemen reduziert und ihrer Farbpracht beraubt, werden sie immer schwächer und drohen gänzlich zu verblassen. In Muszers Die Freiheit riecht nach Vanille sowie in Sieniewiczs Kurzgeschichtensammlung Jüdinnen werden nicht bedient wird das Judentum als Pars pro Toto der Fremd- und Andersheit verhandelt. Wollte man einen spezifisch polnischen Code des Sprechens über Juden ausmachen, so ließe sich sagen, dass das Judentum in der polnischen Literatur seinerseits zur Chiffre geworden ist. In beiden Romanen ist es als Tautologie der Fremdheit, Alterität und Ausgrenzung zu lesen. In Dariusz Muszers Text geschieht es über die Verwendung der Chiffre „Außerirdischer“: Diese steht sowohl für die Migrationserfahrung, für eine hybride Identität als auch für die gesellschaftliche Außenseiterposition des Mörders. Bei Sieniewicz wird in Variationen das Jüdischsein als Andersheit durch körperliche und psychische Devianz durchgespielt, durch Weiblichkeit oder Verdrängtes. Hier erfolgt die Auseinandersetzung nicht mit einem konkreten Antisemitismus oder jüdischen Stereotypen, sondern mit dem Abstraktum der Fremdheit und Andersheit. Im polnischen Kontext erscheint dies fast programmatisch, da hier spätestens nach den Vertreibungswellen seit 1968 das Judentum ein Abstraktum geworden ist und nicht grundlos von dem polnischen Antisemitismus als

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„Antisemitismus ohne Juden“235 gesprochen wird. Bei Sieniewicz wird dieser Status quo in der polnischen Gesellschaft ausdrücklich konstatiert, wenn die Jüdin zu sich selbst spricht: „Du bist die Einzige, die Letzte! ...Wie Jahwe im Himmel.“236 Neben den beschriebenen lokalen, innerkulturellen Spezifika wird in allen Texten ein Bereich verhandelt, der sich im Sinne Werner Nells als „Interferenzzone“237 beschreiben lässt. Solche Interferenzzonen eröffnen sich nach Nell dem interkulturellen literaturwissenschaftlichen Arbeiten und sind zugleich eine Möglichkeit des interkulturellen Zugangs zu Texten.238 Kennzeichnend für solche ‚Räume‘ sind eine „Doppelung der Perspektiven, der Wechselbezug von Schilderung und Reflexion, die Beschäftigung mit Grenzen und Räumen symbolisch codierter Überlagerungen“, die Nell paradigmatisch in der mittel(ost)europäischen Literatur und deutlicher noch in der galizischen jüdischen Literatur vertreten sieht.239 Ein solcher Interferenzraum bricht auf, wenn die Texte unter eine Domäne mit dem Hyperonym der REISE und ihren Hyponymen wie Wanderung, Fahrt, Flug, Zugfahrt oder Migration betrachtet werden, die in allen Texten unterschiedlich stark handlungsprägend sind. Auf diesen ‚Reisen‘ werden in den Romanen geographische, soziale, kulturelle und politische Räume durchschritten. Ganz explizit bildet die Reise des Protagonisten die Grundlage der Handlung bei Muszer und Foer. Während Muszers Figur aus Polen auswandert, um ein Leben in Deutschland zu beginnen, die Reise folglich einen Bruch im Lebenslauf erzeugt, so begibt sich Foers Protagonist auf eine Reise, die im Grunde folgenlos

235 Zum Antisemitismus ohne Juden in Polen vgl. beispielsweise Klaus Bachmann: „Antisemitismus“, in: Andreas Lawaty/Hubert Orłowski (Hgg.), Deutsche und Polen: Geschichte-Kultur-Politik. München: Beck 2003, S. 439-450, hier S. 444 oder Barbara Breysach: Schauplatz und Gedächtnisraum Polen, S. 353. 236 ZO, S. 206: „Ty jesteĞ jedyna, ostatnia! … Jak Jahwe na niebie.“ [übers. v. P.W.] 237 Zum Interferenzbegriff vgl. Werner Nell: „Interkulturelle Lektüren – interkulturelle Komparatistik. Verstehen und Anerkennen, Grenzerkundungen im Medium der Literatur“, in: ders./Bernd Kiefer (Hgg.), Das Gedächtnis der Schrift. Perspektiven der Komparatistik. Wiesbaden: Dt. Univ.-Verl. 2005, S. 141-176, hier S. 142. Die Vorstellung von interkulturellen Interferenzzonen erweist sich als geeignet, Gemeinsamkeiten zwischen den Romanen zu erarbeiten. Im Hinblick auf die Herausarbeitung von Strategien im Umgang mit jüdischen Stereotypen ist sie aus den im Methodenkapitel dargelegten Gründen nicht geeignet. 238 Ebd. 239 Vgl. ebd., S. 165.

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für ihn bleibt: Er kehrt schlichtweg in sein altes Leben zurück. Die geographische Reise wird in beiden Romanen von einer in die eigene Vergangenheit überlagert. In beiden Romanen ist diese Domäne auch für die Konstruktion der konzeptuellen Metaphern tragend. In den deutschsprachigen Romanen von Hürlimann und Koneffke besteht eine starke Analogie der Reisedomäne. Sie wird gedoppelt, indem sie für die jungen Protagonisten zum Ausgangspunkt eines einschneidenden Erlebnisses wird, und zugleich wird sie in den Reminiszenzen auf die Familiengeschichte wiederholt. In Paul Schatz im Uhrenkasten führt die Reise zum Großonkel, die Ausreise aus Berlin zu einem Perspektivenwechsel des Protagonisten. War seine Weltsicht vom antisemitischen und konservativen Großvater geprägt, so eröffnet sich Paul bei seinem Großonkel eine ganz andere Welt, in der Werte wie Bildung gegen nationalkonservative Vorstellungen erhoben werden. Zugleich wird an der Figur des Vaters die familiäre Herkunft aus Polen dargestellt und an ihr paradigmatisch die Ablösung von den jüdischen Wurzeln und der Prozess der Assimilation vergegenwärtigt. Die Konstellation im Roman Hürlimanns stellt sich ganz ähnlich dar. Hier wird die Reise des Neffen nicht ausdrücklich beschrieben, sie geht dem Geschehen voraus. Sie ist der Auslöser einer Auseinandersetzung mit den jüdischen Wurzeln und wird so eine Reise in die Geschichte der Familie. Auch diese unterliegt mit dem Motiv der Wanderung der ostjüdischen Vorfahren und ihrer Niederlassung der Reisedomäne. Besonders eindringlich werden dabei Motive des Ahasverischen heraufbeschworen, wenn das orientierungslose Umherirren der Familie im Nebel dargestellt wird, das mit der Ankunft im Westen endet: „Nebel. Aber dann wurde es heller, über den grauen Hügeln schwamm buttrig die Sonne, und die Schneiderwitwe Katz, die mit ihrem Karren und den sieben Kindern über Land zog, mußte immer wieder den Schweiß abwischen.“240 Wie auch schon bei Muszer bleibt der Ort der Herkunft schwammig und von einer Aura des Unbestimmbaren umgeben. Bei Foer muss der Ort erfunden und erzählt werden, da er in Realität nicht mehr existiert, während er bei Koneffke mit der Chiffre PrzemyĞl bedacht wird, die bei einer deutschen Leserschaft vermutlich keine konkreten Vorstellungen weckt. Es finden sich keine Rückblenden auf das Leben des Vaters in PrzemyĞl, keine Details aus diesem werden bekannt. Ein ähnliches Muster eines verschwommenen und uneindeutigen Herkunftsortes begegnet dem Leser in Michael Chabons Roman. Der Herkunftsort expandiert mit Europa zu einem ganzen Kontinent, die lokalen Eigenschaften werden dabei vereinheitlicht. So wird die Heimat vor allem durch Rückgriffe auf

240 FS, S. 53.

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den Holocaust thematisiert, aber auch auf die vom Schwinden bedrohte jüdische Kultur. Während die erste Generation der Einwanderer noch die Schach- und Caféhauskultur pflegt, geht diese den Jüngeren zunehmend verloren. Symbolisch wird die neue Zeit mit der Modernisierung des „Einstein Chess Club“ eingeführt: „They sealed off the main doors of the ballroom so that you could enter only through the back, off an alley. They pulled up the fine ashwood parquetry and laid down a demented checkerboard of linoleum in shades of soot, bile and surgical-scrub green. The modernist chandelier was replaced by banks of fluorescent tubes bolted to the high concrete ceiling.”241

Die Verwandlung des im europäisch-klassizistischen Stil erbauten, mondänen Hotels in ein pragmatisches, dem modernen Zeitgeist entsprechendes Gebäude zieht den Selbstmord des Besitzers nach sich, der in der Abschiedsnotiz schreibt: „I liked things better the way they were before.“242 Die Monumente der alten europäischen Kultur weichen zunehmend neuen Projekten, die keine Erinnerungen an die europäische Herkunft in sich tragen, zumal auch die Generation, die sich daran erinnern könnte, verschwindet. Das Reisemotiv wird hier als Wanderung des jüdischen Volkes thematisiert. Die Flucht der europäischen Juden vor dem Holocaust ist das Fundament der Geschichte. Zugleich wird eine weitere Reise in Aussicht gestellt, die ins Gelobte Land, nach Israel. Zwischen diesen globalen Volkswanderungen entwickelt sich auf der lokalen Mikroebene Sitkas der Plot des Kriminalromans. Alle Romane thematisieren neben den geographischen auch Reisen in Traum- und Phantasiewelten, in denen sich den Protagonisten neue Perspektiven eröffnen. Das Individuum wird aus seinem gewohnten Umfeld gerissen und in ein anderes gesetzt, in dem er eine Alteritätserfahrung macht und wo eine Auseinandersetzung mit der eigenen Identität stattfindet. In diesem metaphorischen Sinne lässt sich die Reise in Jüdinnen werden nicht bedient verstehen, wo eine Auseinandersetzung mit der polnischen Gegenwart in der Entwicklung vom Sozialismus zum Kapitalismus stattfindet. Immer wieder wird die neue westliche Ausrichtung des Landes sprachlich durch englische und deutsche Begriffe zum Thema. Oft findet die Handlung an Schauplätzen statt, die als symbolische Tempel des Kapitalismus gelten – im Supermarkt oder bei McDonalds. Auch das Heranziehen von Markennamen verdeutlicht metonymisch nicht nur die Ankunft in einem neuen ökonomischen und politischen Zeitalter, sondern deutet auch auf

241 YPU, S. 83. 242 Ebd.

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die geographische Verschiebung der Grenzen hin. Die ehemalige Ost-WestGrenze verläuft nicht mehr zwischen Polen und Deutschland, sie ist weiter in einen unbekannten Osten gewandert. Polen ist bei Sieniewicz ganz im Westen angekommen. Diese letzte Auseinandersetzung, die unter der Domäne der Reise verhandelt wird, ist paradigmatisch für alle bislang beschriebenen Reisen. In allen Romanen wird eine Polarität von Ost und West aufgriffen. Die Reise in den Westen ist progressiv zu verstehen. Die Reisenden machen sich auf in ein neues Leben. Bei Foer ist dementsprechend die Reise regressiv zu verstehen; Jonathan sucht keine Zukunft, sondern eine verlorengegangene Vergangenheit. Dies wird am Gegenbild von Alex, dem Dolmetscher, betont, der in Amerika das Land seiner Träume sieht und sich ein zukünftiges Leben dort ausmalt. Bei Chabon gerät die OstWest-Achse in Verschiebung, deutet jedoch auf die Konnotationen hin, die in dieser Achsenbildung liegen. Als US-Bundesstaat gehört Alaska zum Westen und steht für die neue Welt, wohingegen Europa nur als die alte Heimat im Osten Eingang in die Geschichte findet. Diese Polarität von Alt und Neu ist das grundlegende konnotative Merkmal der Polarität von Ost und West. In diesem Sinne lässt sich behaupten, dass die Romane unter der Domäne der Reise ein transnationales und transkulturelles Stereotyp verhandeln, indem sie sich mit dem Bild des rückständigen Ostens im Unterschied zum fortschrittlichen Westen auseinandersetzen. Die Ost-West-Achse ist seit dem 18. Jahrhundert ein bedeutendes semantisches Feld sowohl des innerjüdischen Diskurses als auch des Sprechens über Juden. Mit der Aufklärung und der jüdischen Haskala beginnen sich innerhalb des zuvor als monolithisch wahrgenommenen Judentums zwei Pole abzuzeichnen. Den aufgeklärten Juden des Westens, die mit ihrer Galionsfigur Moses Mendelssohn identifiziert werden, werden die orthodoxen Juden entgegengesetzt, die als dogmatisch und rückständig gelten.243 Die Abkehr der Maskilim von der Tradition wird im 19. Jahrhundert – wenngleich nicht einstimmig244 – vorangetrieben. Erst mit der Herausbildung der modernen nationalistischen und antisemitischen

243 Vgl. Arno Herzig: „Das Assimilationsproblem aus jüdischer Sicht (1780-1880)“, in: H. O. Horch/H. Denkler, Conditio Judaica (1988), S. 10-28, hier S. 14. 244 Und im unterschiedlichen Maße, wie dies die abweichenden Haltungen von Moses Mendelssohn und David Friedländer paradigmatisch verbildlichen. Vgl. A. Herzig: Das Assimilationsproblem aus jüdischer Sicht, S. 15. Jacob Katz betont, dass eine solche Kritik schon bei Spinoza nachweisbar ist, jedoch erst mit der Aufklärung eine Programmatik erfahren hat. Vgl. Jacob Katz: „Varianten des jüdischen Aufklärungserlebnisses“, in: H. O. Horch/H. Denkler, Conditio Judaica (1988), S. 1-9, hier S. 2.

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Bewegungen, die den Begriff ‚Ostjuden‘ in seiner pejorativen Verwendung übernehmen und ihren ideologischen Absichten gemäß zuspitzen, entwickelt sich von jüdischer Seite aus die Tendenz, sich auf die urtümlichen jüdischen Wurzeln zu besinnen.245 Autoren wie Kafka sehen in der Identität der Ostjuden das wahre Judentum und sind sich dennoch bewusst, dass für sie der Weg einer Rückkehr verschlossen bleibt, da „der Schlüssel, der eine Rückkehr in die Tradition ermöglichen würde, längst verloren ist“246. Dieser Ost-West-Diskurs wird seit der Aufklärung hauptsächlich in den Bereichen Religion, Identität und Moral (die ihrerseits eigene komplexe Diskursfelder bilden) ausgetragen, und in diesen drei Bereichen findet die Auseinandersetzung mit der stereotypen Ost-WestVerteilung von Attributen in den Romanen statt. Im Sinne Nells lässt sich der Ost-West-Diskurs als ein Interferenzraum verstehen, da hier, „in diesem textuellen Ineinander-Verschränken von Innen- und Außenperspektive, Traditionsbezug und aktueller Rezeption findet eine Überlagerung von Strukturen und Bezugsebene statt, deren Schnittmengen, Paradoxien und Lücken eben jene Reflexivität anstoßen, die […] die eigentliche Funktion des Diskursfeldes ‚Kultur‘ darstellt.“247

Im Folgenden soll aufgezeigt werden, welche Perspektiven die Romane auf die Ost-West-Dichotomie anbieten und wie diese in ihnen verschränkt und reflektiert werden. Vor allem soll gezeigt werden, dass dieses In- und Gegeneinander der Perspektiven sich in einen transnationalen Diskurs einzuschreiben vermag (oder diesen Diskurs begründet). Dieser lotet nicht nur die Grenzen von Ost und West aus, sondern auch die der qualitativen und normativen Zuschreibungen, die innerhalb der tendenziösen Achsenbildung als selbstverständlich gelten. In allen untersuchten Romanen wird eine affirmative gegen eine negative Perspektive ausgespielt. Die Wertantinomie von Ost und West wird dabei zum Teil in der gewohnten Konstellation geschildert, jedoch auch in ihr Gegenteil verkehrt. Bei Sieniewicz wird die Differenz zwischen dem sozialistischen Osten und dem kapitalistischen Westen aufgenommen und einer Umwertung unterzogen. Die freiheitverheißende kapitalistische Ordnung, die sich im postsozialisti-

245 Vgl. hierzu etwa Michael Brenner: „Wie jüdisch war die jüdisch-intellektuelle Kultur der Weimarer Republik?“, in: Wilfried Barner/Christoph König (Hgg.), Jüdische Intellektuelle und die Philologien in Deutschland: 1871-1933. Göttingen: Wallstein 2001, S. 131-140, hier S. 137. 246 Philipp Theisohn: Die Urbarkeit der Zeichen: Zionismus und Literatur: eine andere Poetik der Moderne. Weimar/Stuttgart: Metzler 2005, S. 214. 247 W. Nell: Interkulturelle Lektüren, S. 164.

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schen Polen zunächst unreflektiert zu verbreiten begann, wird hier in ihren negativsten Erscheinungsformen geschildert. Anonymisierung der Gesellschaft, Unmenschlichkeit des kapitalistischen Systems und die Vormachtstellung des Konsumgedankens sind bei ihm die Aushängeschilder des Westens. Dabei wäre es zu kurz gegriffen, Sieniewicz eine prosozialistische Gesinnung zu unterstellen: Der Sozialismus wird nicht als Alternative angeführt, und es gibt hier keine positive Rückbesinnung auf Vergangenes. Alternativen zum Ist-Zustand lassen sich nur ex negativo ableiten und hängen an keiner wirtschaftspolitischen Ordnung. Bei Foer findet eine Auflösung der Polarität von Ost und West statt, wenn der Protagonist sich auf eine Reise in den Osten macht, um dort seine Wurzeln zu finden und letztlich vor einem Nichts steht, einer vollkommen leeren Landschaft. Hier wird die Hoffnung, das ursprüngliche Judentum zu finden, bildlich persifliert. Um diese Lücke zu füllen, erschafft er in seiner Chronik einen idealisierten jüdischen Osten. Die durch die Reisedomäne angedeutete Linearität zwischen den statischen Punkten wird zugunsten einer dynamischen Grundstruktur abgelehnt. Der Rück‚stand‘ des Ostens weicht zugunsten einer eigenständigen Bewegung, die als Absage an das Klischee als erstarrtes Denken zu verstehen ist. Auch bei Chabon schwindet das klischeebehaftete Europa als Ort der Herkunft nicht nur, weil dessen Erinnerung in Alaska von der westlichen Ästhetik des Pragmatismus überlagert wird, sondern weil es selbst einer Dynamik unterliegt und das Vorkriegseuropa zunehmend zum Anachronismus wird. Hier wird auch die Absage an das Ende der Reise als statisches Moment deutlich. Die geplante Revision bedeutet ein Ende des jüdischen Lebens in Alaska, sodass dieses selbst zum Herkunftsort werden wird, vor dessen Folie sich ein neues in Israel entwickeln kann. Die Statik der Anfangs- und Endpunkte verliert ihre ontologische Qualität; sie verliert sich in der Dynamik der Geschichte. Auf diese Weise wird die Achse mit den Fixpunkten Ost und West aufgelöst und damit auch den einzelnen Diskursfeldern der Religion, Identität sowie Moral das immanente axiologische Spannungsfeld genommen. Der Werteverfall und -verlust, die im Kontext des aufklärerischen Rationalitäts- und Fortschrittsoptimismus im Osten beobachtet und im Zuge der scheiternden Assimilations- und Fortschrittserfahrung des ausgehenden 19. Jahrhunderts auf den Westen verlagert wurden, führt in den einzelnen Diskursfeldern zu einer Wertesynthese jenseits der Achsenbildung. Die Aufwertung des Ostens als Zeuge der genuinen jüdischen Identität bricht bei Foer zugunsten einer mobilen Identitätskonstruktion auf, deren Wurzeln im Individuum und seiner narrativen Genealogie, nicht im geographischen Raum zu suchen sind. Bei Koneffke, Muszer und Hürlimann wird das statisch-homogene Identitätskonzept zugunsten ei-

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nes hybriden negiert. Sowohl der Religions- als auch der Moralitätsdiskurs erleben unter der Spannungsauflösung eine Neuorientierung in ihrer Problematik, die sich nicht mehr in den Dichotomien von orthodox – aufklärerisch oder moralisch – amoralisch beschreiben lässt. Die Neuorientierung lässt sich auf einen neuartigen Umgang mit dem Thema der Fremdheit zurückführen, der sich durch eine „Aufsprengung der Dichotomien der Alterität“248 auszeichnet. Durch die Auflösung des Konnexes von Territorialität und Attribut verliert sich die erstarrte normative Konnotation, und auch der geographische Raum bekommt eine neue Bedeutung. Durch eine „Doppelung der Perspektiven“249, die durch das Zitieren von Klischees und ihre reflexive Brechung stattfindet, wird der normativ belegte geographische Raum von einer „ethnographischen Poetik“250 überlagert und ihm so die wertende Konnotation entzogen. Im Sinne Özkan Ezlis lässt sich feststellen, dass die Romane sich aus einem überholten Muster lösen und keine Differenzerfahrungen mehr verhandeln, wie sie Werner Nell noch für die Erfahrung der galizischen Juden als grundlegend sieht.251 In allen Romanen ist der ‚Osten‘ eine Chiffre für Vergangenes. Dabei transportiert diese Chiffre wenig von der Realität, sondern ist vielmehr von einer ethnographischen Poetik beherrscht, die auf idealisierten Vorstellungen basiert. Diese reichen zuweilen bis in klischeehafte Folklore, wie dies bei Foer am deutlichsten wird. Die Bilder der wandernden Vorfahren bei Hürlimann sind ebenso klischeehaft wie die der ostjüdischen Bewohner des Scheunenviertels bei Koneffke. Bei Chabon ist der ‚Osten‘ das alte Europa mit klassizistischen Hotels und Schachcafés. Muszer und Sieniewicz thematisieren weniger einen ‚jüdischen Osten‘ als das ehemalige sozialistische Polen, das bei Muszer mit Negativklischees von gegenseitiger Bespitzelung, Mangel und moralischer Verderbtheit gezeichnet wird. Die Alteritätsdichotomien, die in den einzelnen Diskursfeldern aufgemacht werden, verlieren sich in der Vergangenheit, in der sie verortet werden. Der ‚Osten‘, so unterschiedlich er in allen Darstellungsvariationen aufscheint, hat in allen Romanen eine Gemeinsamkeit: Es gibt ihn nicht mehr. Und mit ihm verschwindet auch die Aktualität der Zuschreibungen, sie werden zu Anachronismen.

248 W. Nell: Interkulturelle Lektüren, S. 164. 249 Ebd., S. 165. 250 Vgl. Ö. Ezli: Von der Identitätskrise zu einer ethnographischen Poetik. 251 Vgl. W. Nell: Interkulturelle Lektüren, S. 165.

Teil III: Der Katalog

3.

Strategien der Stereotypenauflösung

In diesem Kapitel werden einzelne Strategien der Demontage jüdischer Stereotype vorgestellt und erörtert, die sich aus der vorangestellten Textanalyse ergeben. Dazu soll zunächst der Blick auf die zugrunde gelegten konzeptuellen Metaphern gerichtet werden, aus denen sich die Stereotype generieren. Der heuristische Nutzwert der Methode ist evident geworden: Der Versuch, ein Stereotyp konkret zu fassen oder es in einem literarischen Text zu isolieren, scheitert an den Grenzen der Semantik. Da Stereotype und Klischees in der Regel semantisch überladen sind, die Bedeutungsebenen sich dabei nicht nur häufen, sondern auch divergieren, wird es unmöglich, eine Bedeutung zu destillieren. Die konzeptuelle Metapher hingegen eröffnet einen frame, der sowohl eine quantitative als auch qualitative Vielfalt von Stereotypen zu erfassen vermag und ohne eine Notwendigkeit der Etikettierung auskommt, die gezwungenermaßen zur Komplexitätsreduktion führen muss. Zudem lassen sich auf diese Weise Stereotype berücksichtigen, die nicht personengebunden, sondern struktur-, funktions-, methoden- oder technikengebunden sind. Die fünf in den Einzelanalysen erarbeiteten Metaphern lassen, in einem Mapping miteinander vernetzt, Gemeinsamkeiten erkennen. Lassen wir zunächst die konzeptuellen Metaphern von der ursprünglichen Textgrundlage gelöst Revue passieren: GESELLSCHAFT IST EIN ORGANISMUS GESELLSCHAFT IST EINE MASCHINE DER MENSCH IST EINE PFLANZE MORAL IST EIN SCHACHSPIEL MORAL IST EIN WEG Werden diese von ihrer Textgrundlage losgelöst betrachtet, so lässt sich die in den Romanen angelegte diskursgeschichtliche Bindung überbrücken. Sie er-

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scheinen nicht mehr an einzelne Epochen, Ideologien, Situationen oder Weltvorstellungen geknüpft, sondern ergeben zusammengenommen ein eigenes, kohärentes Weltbild (das für sich genommen natürlich auch zeit- oder ideologiegebunden sein kann). Es kristallisiert sich das Bild einer Weltvorstellung heraus, die sich insbesondere durch Berechenbarkeit auszeichnet. Diese ergibt sich zum einen aus klaren, festgeglaubten Strukturen von Ursache und Wirkung sowie wertgebundenen Dualismen. Die konzeptuellen Metaphern erlauben sowohl induktive Rückschlüsse auf Ursachen als auch deduktive Prognosen auf mögliche Wirkungen und Herleitungen von Antipoden. So impliziert die Verwendung der Schachmetapher zu WEIß immer SCHWARZ und umgekehrt, was sich, auf den Bereich der Moral übertragen, als eine Gut-böse-Struktur manifestiert. Die Maschinenmetapher kann unter anderem durch die Kausalität zwischen gestörter Funktion und fehlerhafter Komponente eine Gesellschaftsprognose herbeiführen, indem von einem nicht idealen Gesellschaftszustand auf fehlerhafte Teile der Gesellschaft wie Institutionen, Volksgruppen, Religionsgemeinschaften, Minderheiten als Ursache geschlossen werden kann. Zum anderen kann Berechenbarkeit behauptet werden, wenn feststehende, wesenhaft verankerte Eigenschaften herbeigeführt werden. Diese stehen strukturell in Wechselwirkung mit den beschriebenen Denkmustern und bilden das, was tautologisch als Identität im Sinne einer Gleichung verstanden wird: Ein Individuum, eine Gesellschaft/Nation oder ein System ist genau dann mit sich identisch, wenn es exakt die dem Individuum, der Gesellschaft/Nation, dem System zugeschriebenen Eigenschaften besitzt. Im konkreten Fall der Pflanzenmetapher ist das Vorhandensein von Wurzeln eine grundlegende definitorische Eigenschaft, die die Individualität und Identität einer Person begründet. Dem sich daraus ergebenden Strukturzwang folgend, wäre jemand ohne Wurzeln, also mit unklarer Herkunft, nicht in demselben Maße als Person anzuerkennen wie jemand, der diese Wurzeln besitzt. Dabei darf eine weitere Strukturbeziehung nicht übersehen werden, die für die Metaphernbildung selbst konstituierend ist: die Analogie. Diese lässt sich in unserem Zusammenhang als eine übergeordnete Beziehung verstehen, da sowohl die Kausal- als auch die Identitätsbeziehungen als Konsequenzen der Analogiebildung zu verstehen sind. Wenn nun im Folgenden der Blick auf Strategien der Demontage gelenkt wird, so ist festzuhalten, dass sich diese auf die genannten Bereiche konzentrieren: Demontiert werden Stereotype, die aufgrund des Fehlschlusses entstehen, dass Analogien, Kausalitäten und Identitäten nicht konstruiert, sondern notwendig und naturgegeben seien. Das bedeutet vor allem auch, dass die zugrundeliegenden konzeptuellen Metaphern, von denen viele bis heute konstitutiv für unser kulturelles Selbstver-

S TRATEGIEN DER S TEREOTYPENAUFLÖSUNG

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ständnis sind, keineswegs notwendigerweise Stereotype generieren. Vielmehr ist es die soziohistorische Kontextualisierung der Metapher, die die entsprechenden Konklusionen sowie die kollektiv determinierte individuelle Projektionsleistung nahelegt. Durch vermeintlich gegebene Identitäts- und Kausalbeziehungen bleiben die Stereotype, die sich in Wechselwirkung mit den Metaphernschemata herausbildeten, jedoch bestehen, auch wenn die Metapher selbst dekontextualisiert wird. So trägt die erste der vorgestellten konzeptuellen Metaphern, GESELLSCHAFT IST EIN ORGANISMUS, in der Beschreibung von Kriminellen, Terroristen oder sozialen Problemen bis heute, obwohl sie mehrfach für tot erklärt wurde.1 Unproblematischer in ihrer Bedeutung erscheint DER MENSCH IST EINE PFLANZE. Dies ist eine konzeptuelle Metapher, die bis heute einen wesentlichen Teil dazu beiträgt, wie wir Identität denken. Erst durch die einseitige und verallgemeinernde Identifikation (Juden = wurzellos) und eine wertkonnotierte Erweiterung (verwurzelt sein ist gut, wurzellos sein ist schlecht) führt die Metapher zum Stereotyp des ahasverischen, nomadischen Juden und dessen negativer Einordnung. In den folgenden fünf Kapiteln wird der Versuch unternommen, die sich in den Romananalysen herauskristallisierenden Strategien der Demontage zu systematisieren. Es soll im Zeichen der Systematisierung eine Typologie entworfen werden, die von den einzelnen Romankontexten abstrahiert und einen Katalog der Vorgehensweisen aufbereitet. Besonders im Fall der komplexeren, nicht personen- oder motivgebundenen Strategien soll ein besonderes Augenmerk auf die ‚Macht‘ gelegt werden, die notwendig geglaubten Beziehungsstrukturen von Kausalität und Identität zu hinterfragen, so die Träger-Merkmal-Struktur der Stereotype aufzulösen und die komplexitätsreduzierenden Mechanismen dualistischer Weltbilder zu unterminieren.

3.1

E RZÄHLSTRATEGIEN

Die Erzähltechnik kann als essentielles Mittel eingesetzt werden, um die Kausalität und Identität der Stereotypkonstruktion in Frage zu stellen, indem sie die Analogie, Kontinuität und Kohärenz von Wechselwirkungen der Stereotype mit den jeweiligen Sozialmetaphern unterbricht. Auch ermöglicht sie, durch die Auffächerung von Erzählebenen verschiedene Textwelten zu etablieren und einander gegenüberzustellen, wodurch die konzeptuellen Metaphern und die Stereotype kontrastiert werden und auf diese Weise ins Wanken geraten. Die Erzählerfigur

1

Vgl. A. Musolff: Metaphor, Nation, and the Holocaust, S. 137 ff.

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kann dabei als unzuverlässiger Erzähler auftreten, was mit einer bemerkenswerten Häufigkeit geschieht, oder auch, wie in den Erzählungen von Mariusz Sieniewicz, als ein in der zweiten Person mit dem Leser kommunizierender Erzähler. Beide Erzählerfiguren haben die Kommunikationsfunktion gemeinsam, die sowohl eine Nähe zum Leser zu erzeugen vermag als auch dessen Irreführung und Lenkung begünstigt, die sich im weiteren Verlauf ebenfalls als ein wiederkehrender Aspekt der Strategien gegen das Stereotyp erweisen wird. 3.1.1

Der unzuverlässige Erzähler

Die Rolle der Narratologie im literarischen Antisemitismus ist bislang kaum untersucht worden. Sie findet dann Beachtung, wenn eine besondere Kommunikationssituation zwischen Erzähler und Leser angenommen werden kann, wie im Falle der Ironie. Der Erzähler unterstellt durch die Verwendung ironischer Wendungen einen Konsens mit dem Leser. In Ausprägungen des literarischen Antisemitismus kann Ironie beispielsweise eine Übereinstimmung zwischen Erzähler und Leser im Bezug auf die Andersartigkeit der Juden vermitteln, die durch Übertreibungen ins Positive erreicht wird.2 Die Rolle des unzuverlässigen Erzählens in diesem Kontext ist von der Forschung nahezu unberücksichtigt geblieben,3 was auf die laut werdenden Vorwürfe der „mangelnde[n] theoretische[n] Präzision, methodische[n] Operationalisierbarkeit und typologische[n] Differenzen“4 an den Versuchen einer Definition des Phänomens in den letzten vierzig Jahren zurückgeführt werden kann. Die Instanz des unzuverlässigen Erzählers geisterte seit ihrer ‚Entdeckung‘ durch

2

Vgl. N. Hortzitz: Die Sprache der Judenfeindschaft in der frühen Neuzeit.

3

Barbara Beßlich zeigt in ihrer Studie, dass unzuverlässiges Erzählen als besonderes Merkmal der gegenwärtigen Erinnerungsliteratur gelten kann, die sich mit der Zeit des Nationalsozialismus auseinandersetzt. Vgl. B. Beßlich: „Unzuverlässiges Erzählen im Dienst der Erinnerung. Perspektiven auf den Nationalsozialismus bei Maxim Biller, Marcel Bayer und Martin Walser“, in: dies./Katharina Grätz/Olaf Hildebrandt (Hgg.), Wende des Erinnerns?: Geschichtskonstruktionen in der deutschen Literatur nach 1989. Berlin: Schmidt 2006, S. 35-52.

4

Gaby Allrath/Ansgar Nünning: „(Un-)Zuverlässigkeitsurteile aus literaturwissenschaftlicher Sicht: Textuelle Signale, lebensweltliche Bezugsrahmen und Kriterien für Zuscheibungen von (Un-)Glaubwürdigkeit in fiktionalen und nicht-fiktionalen Erzählungen“, in: Beatrice Dernbach/Michael Meyer (Hgg.), Vertrauen und Glaubwürdigkeit. Interdisziplinäre Perspektiven. Wiesbaden: VS 2005, S. 173-193, hier S. 176.

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Wayne Booth5 in den 1960er Jahren konzeptionell weitestgehend unausgereift durch die Literaturtheorie und wurde erst in jüngster Zeit mit einer fundierten theoretischen Auseinandersetzung bedacht.6 Der Blick dieser neueren Betrachtung wendet sich von der von Booth in seinem rhetorisch ausgerichteten Konzept angelegten Figur des implied author zu einer kognitiv-narratologischen, rezeptionsorientierten Betrachtungsweise. 7 Das bedeutet vor allem, dass die Einschätzung der Zuverlässigkeit des Erzählers relational von dem Wissenshintergrund des Rezipienten abhängig ist, von seiner kulturell-geschichtlichen Verortung in der Welt. Inkohärenzen können im Vergleich mit der eigenen Erlebniswelt erkannt und benannt werden.8 Der Text wird im Rezeptionsprozess naturalisiert, „also mit bereits existierenden Diskurstypen oder Modellen in Beziehung gesetzt“.9 Diese Definition von Naturalisierung orientiert sich an derjenigen von Jonathan Culler: „To naturalize a text is to bring it into relation with a type of discourse or model which is already, in some sense, natural and legible.“10 Zu den Voraussetzungen, die der Rezipient mitbringt, kommen die Daten des Textes hinzu, die mit einer Vielzahl von inter-, aber auch paratextuellen Signalen wie Titel, Untertitel, Vorwort auf einen unzuverlässigen Erzähler hinweisen können.11 Insgesamt gilt bei der Beurteilung der Zuverlässigkeit des Erzählers:

5 6

Vgl. Wayne C. Booth: Rhetoric of Fiction. Chicago: Univ. of Chicago Press 1961. Zu den neuesten Auseinandersetzungen mit dem unzuverlässigen Erzählen vgl. A. Nünning (Hg.): Unreliable narration: Studien zur Theorie und Praxis unglaubwürdigen Erzählens in der englischsprachigen Erzählliteratur. Unter Mitwirkung von Carola Surkamp und Bruno Zerweck. Trier: WVT 1998. Auch das Journal of Literary Theory widmet die Ausgabe (5) 2011 dem Thema Unreliable Narration.

7

Vgl. A. Nünning: „Unreliable Narration zur Einführung: Grundzüge einer kognitivnarratologischen Theorie und Analyse unglaubwürdigen Erzählens“, in: ders., Unreliable narration (1998), S. 3-39, hier S. 25.

8

Vgl. ebd., S. 23.

9

G. Allrath/A. Nünning: (Un-)Zuverlässigkeitsurteile aus literaturwissenschaftlicher Sicht, S. 177.

10 Jonathan Culler: Structuralist Poetics: Structuralism, Linguistics and the Study of Literature. London: Routledge 1975, S. 138. 11 Vgl. Dagmar Busch: „Unreliable narration aus narratologischer Sicht: Bausteine für ein erzähltheoretisches Analyseraster“, in: A. Nünning, Unreliable narration (1998), S. 41-58 und G. Allrath: „‚But why will you say that I am mad?‘ Textuelle Signale für die Ermittlung von unreliable narration.“, in: A. Nünning, Unreliable narration (1998), S. 59-79.

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„Eine Erzählerfigur wird dann als unzuverlässig interpretiert, wenn ihr Verhalten nicht den von den Leserinnen an den Text herangetragenen Erwartungshaltungen und Normalitätsvorstellungen entspricht. […] In Analogie zu lebensweltlichen Verhaltensmustern stellen dabei besonders die ‚Persönlichkeit‘ der fiktionalen Erzählinstanz und ihre ‚soziale Identität‘ […] zentrale Kategorien für die Beurteilung der Zuverlässigkeit dar.“12

Einem in diesem Sinne geradezu klassischen Fall des unzuverlässigen Erzählens begegnen wir in Dariusz Muszers Die Freiheit riecht nach Vanille. Naletnik ist ein aus dem Nirgendwo kommender Schelm, ein Kleinkrimineller, der also schon qua der „Persönlichkeit“ und „soziale[n] Identität“13 Zweifel an seiner Glaubwürdigkeit weckt. Dabei versucht er den Leser planmäßig in die Irre zu führen und sich mal gefährlich und amoralisch, mal gefühlvoll und rechtschaffen darzustellen. So wird der Leser über die Täterschaft bei dem Mord an seiner Familie bewusst im Unklaren gelassen. Nachdem der Ich-Erzähler berichtet, in welchem Zustand er seine Familie hinterlässt, gibt er sich bei der Begegnung mit der Polizei überrascht und gerührt, ist dann aber erleichtert, als die Polizei geht.14 Im Gespräch mit K. K. (dessen Existenz wiederum nicht geklärt ist) gibt er die Tötung dagegen indirekt zu: „Also doch! Ich hatte recht, du hast es getan, du hast deine Familie getötet.“15 Die Zweifel an der Figur werden durch die Fremdkommentare verstärkt, die über den Geisteszustand Aufschluss geben,16 was als ein deutliches textimmanentes Signal der Unzuverlässigkeit gilt.17 Auch traumartige, phantastische Sequenzen erlauben Zweifel an der geistigen Gesundheit des Erzählers. Es wird erkennbar, dass Naletnik versucht, sich in seinen Selbstzeugnissen als abgebrühten Kriminellen darzustellen, was durch plötzliche Gefühlsausbrüche und innere Monologe relativiert wird. Die bewusste Irreführung des Lesers wirkt hier geradezu wie ein planmäßiges Spiel mit der konzeptuellen Metapher MORAL IST EIN WEG. Diese impliziert, dass Moral einem strengen Kausalitätsgedanken unterworfen ist, demzufolge die Zukunft von der Herkunft/Vergangenheit her determiniert und das Dazwischenliegende linear und stringent imaginiert wird. Im Fall von Muszers Protagonist wurde bereits festgestellt, dass seine Herkunft aus einem Grenzland, einem Zwi-

12 G. Allrath/A. Nünning: (Un-)Zuverlässigkeitsurteile aus literaturwissenschaftlicher Sicht, S. 178. 13 Ebd. 14 Vgl. FV, S. 194 f und 197. 15 Ebd., S. 208. 16 Vgl. ebd., S. 189. 17 Vgl. hierzu A. Nünning, Unreliable Narration zur Einführung, S. 27.

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schenland, eine Absage an diese Metapher bedeutet und jegliche kausalen Schlüsse unmöglich macht. Dies wird auch durch die ständig wechselnde Perspektive von Opfer und Täter erreicht. Die Beteuerungen des eigenen schlechten Charakters wechseln sich mit Beschreibungen ab, in denen der Erzähler eine Opferperspektive einnimmt. Die Identitätsstruktur von Individuum = Täter oder Individuum = Opfer wird zugunsten einer multiplen, antagonistischen Identität unterminiert, wenn die Figur beides und zwar beides zugleich sein kann. Obwohl die Selbstdarstellung Elemente der Selbstoffenbarung beinhaltet, tragen diese nicht zu einem klareren Bild des Erzählers bei. Zwar kann der Eindruck gewonnen werden, dass die ursprüngliche Darstellung als skrupelloser Soziopath den Schilderungen seiner Emotionen angesichts der neu entdeckten jüdischen Identität oder der Reminiszenzen auf das jüdische Leiden nicht standhalten kann, jedoch bleibt bei diesen Letzteren unklar, wie glaubwürdig sie sind und welchen Einfluss sie tatsächlich auf die Persönlichkeit der Figur besitzen. Der Rezipient wird durch die vom Erzähler stellenweise gestreuten Informationen gelenkt und verwirrt, sodass es ihm unmöglich wird, ein Bild der Handlung zu bekommen. Die Stilisierung des Zusammenhanges von Herkunft und moralischer Disposition wird unglaubwürdig, da die Informationen des Textes der Eindeutigkeit zuwiderlaufen, die ein solcher Zusammenhang erfordert. In Jonathan Safran Foers Roman Everything is Illuminated wird die Unzuverlässigkeit des Erzählers sukzessive offenbart. Am Schluss des Romans gibt es eine Aufklärung, die als die ‚wahre‘ Version des Geschehens dargeboten wird und die vorangegangenen Darstellungen als falsch entlarvt. Wie in der Textanalyse dargelegt wurde, gibt es auf mehreren Ebenen ein solches Entlarvungsmuster: in Alex‫ ތ‬Selbstdarstellung, in der Vergangenheit des Großvaters und in der ‚Chronik‘, die sich als Fiktion erweist. Dies wird nicht nur durch Kontrastierung mehrerer Versionen und einen bloßgestellten auktorialen Erzähler, der sich als ein homodiegetischer Erzähler zweiter Ordnung erweist, erreicht, sondern auch durch Metareflexion des Schreibprozesses, wenn Alex Jonathan ausdrücklich bittet, den Plot zu ändern und ein anderes Ende zu erfinden. Zwar werden diesem von Beginn an Tatsachen verschwiegen und Lügen unterbreitet, doch wird ihm abschließend suggeriert, die tatsächliche Version zu kennen. Dramaturgisch wird diese Entwicklung von einem Wechsel der Atmosphäre begleitet, wenn die slapstickhafte Heiterkeit des Anfangs einer tragischen Stimmung zum Ende hin weicht. Auf der Erzählebene wird also die im Titel und auf der Handlungsebene angelegte „Erleuchtung“, die bereits auf die Absicht hindeutet, die Lesererwartung zu lenken, strukturell zugrundegelegt. Der Anfang lässt eine seichte Komödie erwarten, dennoch endet der Roman vielmehr als Tragödie. Ein solcher Bruch ist schwer zu verkraften, dies zeigt die Verfilmung des Romans, in der das

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Ende abgewandelt wird: Der Großvater erweist sich nicht als Verräter, sondern selbst als Jude, der dem Pogrom knapp entkommen konnte.18 Damit wird die tragische Erleuchtung geglättet. Im Roman wird der Leser nicht geschont, er wird in mehrfacher Hinsicht ‚erleuchtet‘, was nur möglich ist, weil er zuvor ‚hinters Licht‘ geführt wurde. Innerhalb der Analogie der Metapher DER MENSCH IST EINE PFLANZE wird so vor allem die Identitätsstruktur ironisiert. Zum Ende des Romans hin ist nämlich buchstäblich nichts mehr, wie der Erzähler es zu Beginn beschreibt, alles entpuppt sich als Konstruktion, Täuschung oder Trugbild. Die Ironie geht so weit, in ein Paradoxon abzugleiten, wenn die Existenz nur via negationis durch die Absenz greifbar wird und das Ist der Identitätsbeziehung durch sein Gegenteil, Ist-nicht, substituiert werden müsste. Die Identitätsverhältnisse im Roman, die Selbstdarstellungen wie die Rollenzuweisungen, werden in den letzten Sätzen vollständig aufgehoben, indem die Identitäten durcheinandergewürfelt werden.19 Durch die Entgrenzung der Rollen und Figuren erweisen sich auch die implizierte Kausalität und deren wertgebundene Konnotation, die auf eine Beziehung zwischen Wurzel und Identität schließen lassen will, als fallibel. Der Versuch, die Abstrakta Individualität und Identität durch Genealogie greifbar zu machen, scheitert im Lichte der Fluktuation von Identitäten, der Auflösung von Grenzen der Individualität im Sog der Geschichte sowie der metaphorischen Negation der Wurzelmetapher in der Abwesenheit des Dorfes. So wird in direkter Weise die Validität der konzeptuellen Metapher selbst angegriffen und unterminiert. Als letztes Beispiel soll hier die Demontage der konzeptuellen Metapher GESELLSCHAFT IST EIN ORGANISMUS durch das unzuverlässige Erzählen am Beispiel von Jan Koneffkes Paul Schatz im Uhrenkasten erörtert werden. Ungewöhnlich ist, dass dieser Erzähler kein Ich-Erzähler ist, ebenso wenig wie es die Erzähler bei Foer waren. Anlass zum Zweifel an seiner Glaubwürdigkeit gibt seine späte Selbstoffenbarung als homodiegetischer Erzähler zweiter Ordnung. Indem er vorgibt, ein personaler Erzähler zu sein und unmittelbar die Perspektive der kindlichen Reflektorfigur Paul Schatz wiederzugeben, täuscht er den Leser über die Distanz zum Geschehen hinweg. Diese Distanz ist emotional und zeitlich, da er nicht selbst in das Geschehen involviert ist, sondern die Geschichte seines Großvaters Paul erzählt. Doch nur aus dieser vorgetäuschten geringen Distanz wird die Handlung glaubhaft und nachvollziehbar. Sonst wird nicht ersichtlich, warum die mehrfach narrativ reflektierten Erlebnisse keine Spuren dieser Reflexion tragen. Bereits der Großvater hätte das vom Neffen Berichtete auf-

18 EVERYTHING IS ILLUMINATED (USA 2005, R: Liev Schreiber). 19 Vgl. EI, S. 214. Vgl. auch hier Kapitel 2.2.1.

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bereiten müssen. Hier fehlt jedoch jegliche nachträgliche Einordnung in das historische Geschehen, jede kritische Auseinandersetzung mit der Weltdeutung oder auch nur Analepsen. Dem Leser wird nur die Perspektive Pauls zugänglich gemacht, der er mangels Alternativen zu folgen gezwungen ist. Diese eingeschränkte Perspektive bedeutet vor allem eine selektive Wahrnehmung und ein unzureichendes Verständnis der Schrecken dieser Zeit, was Hannelore Schlaffer in der FAZ zu dem Urteil verleitete, Koneffke verharmlose diese.20 Genau diese eingeschränkte Perspektive ist jedoch Teil der Strategie. Indem der Erzähler kommentarlos die Perspektive des Kindes übernimmt, dessen Naivität keiner Korrektur aus der Distanz unterzieht, legt er sie in dieser Naivität und Unzuverlässigkeit offen. Die großväterlichen Ansichten werden im Lichte seiner kindlichen Einfältigkeit geradezu lächerlich gemacht. Das wird durch die spätere Distanzierung des älteren Pauls bekräftigt sowie durch eingeführte Alternativperspektiven, wie die des Vaters oder des UFA-Filmteams. Durch diese kurzen Episoden wird eine „multiperspektivische Auffächerung“21 in der Wahrnehmung der Vaterfigur erreicht, die der antisemitisch aufgeladenen Wahrnehmung die Glaubwürdigkeit raubt. Die Kohärenz des Weltbildes, dessen Strukturen sich mit der konzeptuellen Metapher GESELLSCHAFT IST EIN ORGANISMUS erfassen lassen, wird durch diese Auffächerung der Perspektiven gestört. Indem das dualistische Schema von GESUND und KRANK zerfällt, fallen mit ihm die Analogien von Akteur (Patient = Gesellschaft; Krankheit = Juden) und Aktion (Operation = Eliminierung) ebenso wie die mit ihnen verbundenen Kausalbeziehungen (auf die Krankheit folgt die Behandlung). Die zu Beginn des Romans etablierte stereotype Konzeption des jüdischen Vaters ergibt in einer anderen Weltdeutung keinen Sinn mehr, sie erscheint konstruiert und falsch. Zusammenfassend lässt sich nun feststellen, dass die den konzeptuellen Metaphern zugrundeliegende Analogiestruktur durch das unzuverlässige Erzählen aufgelöst wird. Dies geschieht durch das Erzeugen von Inkohärenzen der Diegese oder die Irritation von Kausal- und Identitätsverhältnissen, die innerhalb der Textwelt, aber auch im Prozess der Naturalisierung offenbart werden. Diese Irritationen werden in einem entscheidenden Maße durch den exponierten Erzählprozess angestoßen, der den Leser gegenüber dem Erzähler misstrauisch werden

20 Vgl. Hannelore Schlaffer: „Hornhaut am Fuß der Tante. Jan Koneffke schaut mit Kinderaugen auf die Vergangenheit“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 02.12.2000, Nr. 281, S. V. 21 A. Nünning: Unreliable Narration zur Einführung, S. 28.

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lässt. Zudem können intratextuelle Signale dazu verleiten, ein Misstrauen gegen den Erzähler zu wecken und die von ihm geschilderte Welt in Frage zu stellen. Der Naturalisierungsvorgang ist in Bezug auf die konzeptuellen Metaphern entscheidend. Wie in den methodischen Überlegungen gezeigt wurde, sind konzeptuelle Metaphern aus sich selbst heraus nicht angreifbar. Ein Versuch der Negation im gegebenen frame aktiviert diesen nur und lässt eine Aussage, die diesen zu negieren versucht, in der Regel als falsch erscheinen. Eine Demontage der Metapher aus ihrer inhärenten Logik heraus ist kaum möglich. Dieses durch die konzeptuelle Metapher umrissene Weltwissen zeichnet sich vor allem durch eine reduzierte Komplexität aus, die durch simpelste Analogiebildungen, Kausalbeziehungen und Identitätsverhältnisse erreicht wird. Indem abstrakten Phänomenen eine Materialität verliehen wird, werden sie leichter begreifbar. Die Reduktion wird jedoch der Komplexität von Gesellschaft, Identität und Moral, drei grundlegenden Konzepten der Moderne, nicht gerecht. Die Auflösung der Strukturen dieser Weltvorstellungen hat zur Folge, dass die jüdischen Stereotype keinen Sinn mehr ergeben, da auch ihre Verortung innerhalb der Konzepte unmöglich wird, wodurch das gesamte Stereotyp zu einer Kippfigur gerät. Aus ihrer Fuge im vereinfachten, manichäisch organisierten Konzept herausgelöst, verlieren die Stereotypen an Wirkungskraft, damit letztendlich an lebensweltlicher Bedeutung und bleiben nur als sinnentleerte, groteske Phantasmagorien bestehen. 3.1.2

Narrative Ebene

In drei Romanen lässt sich eine zweite narrative Ebene nachweisen. Vom Erzähler zweiter Ordnung wird eine abgeschlossene, handlungsrelevante Geschichte auf der metadiegetischen Ebene erzählt. In allen drei Fällen ist der Gegenstand die vergangene und machmal verlorengeglaubte Familiengeschichte. Sie deuten ein Kontinuum an, als dessen Teil sich die Protagonisten begreifen lassen, sie reaktivieren eine jüdische Vergangenheit oder stiften eine jüdische Herkunft. Die metadiegetische narrative Ebene ermöglicht es, intratextuell eine Kontrastwelt und mit ihr eine konkurrierende konzeptuelle Metapher einzuführen. Doch kann Demontage auch erreicht werden, indem die Implikationen der metaphorischen Konzepte negiert werden. In Jonathan Safran Foers Everything Is Illuminated wird auf der Metaebene die konzeptuelle Metapher DER MENSCH IST EINE PFLANZE geradezu karikiert. Die Handlung der Diegese zeigt den Protagonisten Jonathan Safran auf der Suche nach seinen Wurzeln, dem geographischen Ort der Herkunft seiner Familie – damit bewegt sie sich auffällig im Geltungsbereich der konzeptuellen Metapher.

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In der Familienchronik, die Jonathan Safran auf der Metaebene schreibt, wird diese Metapher durch die vorherrschende Wassermetaphorik ad absurdum geführt, wenn alle wichtigen Ereignisse im Leben der Charaktere mit dem Wasser im Zusammenhang stehen: Die Urururururgroßmutter wird aus dem Wasser geboren, sie wird als junges Mädchen zur schwimmenden Königin gewählt, ihr Gemahl ist der beste Taucher, ihr Schänder wird über dem Wasser gehängt, und schließlich ertrinken die Bewohner in einer apokalyptischen Szene in den Fluten des Flusses. Und so ist es der Fluss und nicht der Boden, der das Konzept der Herkunft determiniert. Zusätzlich ironisiert wird das Bedürfnis nach geographischer Determination durch die sich verschiebenden Grenzen und die wechselnden Namen, was auf der diegetischen Ebene in deren vollständigem Verschwinden gipfelt: Der Ort existiert nicht mehr, und sein Name wurde vergessen. Die Geschichte der Metadiegese bietet eine Kontrastfolie, vor der intratextuell ein Abgleich zwischen den beiden Welten ermöglicht wird. Der Versuch des Aufbegehrens gegen das Nomadische und Ahasverische, den der Charakter Jonathan mit seinen Bemühungen, Augustine und mit ihr seinen verlorenen Herkunftsort zu finden, wagt, erfährt eine geradezu buchstäbliche Negation auf der metadiegetischen Ebene. Die metaphorische Implikation der Wassergeburt übersteigert und verkünstelt das Stereotyp des wurzellosen Juden unverhohlen. Im Beispiel von Dariusz Muszers Die Freiheit riecht nach Vanille bietet die Geschichte des Vaters ebenfalls eine Kontrastfolie zur konzeptuellen Metapher MORAL IST EIN WEG. Während der Protagonist Naletnik alles daran setzt, den Leser über seine moralische Veranlagung im Unklaren zu lassen, scheinen die Verhältnisse in der Geschichte seiner Entstehung nicht fragwürdig, laufen jedoch den Prämissen, von denen eine am Bild des Weges ausgerichtete Moralvorstellung ausgehen muss, zuwider. Sowohl die Prämisse der Kausalität von Wegbeginn und Wegende als auch die der Identität und Stabilität des Charakters werden durch einen sich vom Opfer zum Täter bewusst wandelnden Vater negiert. Auf der metadiegetischen Ebene erweisen sich die Rollen von Opfer und Täter als unstet, wenn das unschuldige Kind zum Rächer und Vergewaltiger und die Tochter des Täters zum Opfer und schließlich zur Kindsmörderin werden. Die Geschichte verdeutlicht auch, dass der Weg sich ebenfalls nur individuell und situationsabhängig erschließen lässt und keineswegs immer gradlinig und linear verlaufen muss. Die Entwicklung scheint das Tun des Vaters zu rechtfertigen, instinktiv gesteht man ihm seine Rache zu und verurteilt ihn nicht, obwohl er ein Verbrechen begeht und ein unbeteiligtes Mädchen vergewaltigt. Hier werden folglich die starken Kausalitäts- und Kohärenzgedanken, auf denen die Metapher basiert, aufgelöst und individualisiert, wodurch die Kategorien von Richtig und Falsch ins Wanken geraten.

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In Thomas Hürlimanns Fräulein Stark entdeckt der Protagonist seine Familiengeschichte nach und nach, weil ihm die Haushälterin heimlich Papiere zuspielt, die sein Onkel geheim zu halten versucht hat. Auch diese Geschichte wird als eigenständige Handlung auf der metadiegetischen Ebene erzählt, die Fokalisierung wechselt hier: Sie geht auf den Großvater Joseph über, wodurch sich der Ich-Erzähler zu einem personalen wandelt. Gegenstand der Erzählung ist die Assimilationsgeschichte der Familie über Generationen hinweg: Als ärmliche, fahrende Händler kommen sie von einem nicht näher bestimmten „Osten“ her in der Schweiz an und lassen sich an einem zufällig gewählten Ort nieder. Von da an beginnt ein finanzieller und schließlich auch gesellschaftlicher Aufstieg der Kinder, bis ihre Enkel – Mutter und Onkel des Protagonisten – vollkommen assimiliert sind. Diese Assimilation in Person des Onkels weckt Unbehagen bei den Dorfbewohnern, die versuchen, die jüdische Herkunft ans Tageslicht zu holen. Während der Onkel als perfektes Klischee eines christlichen Priesters samt leichtem Hang zum Hedonismus und dem Herauskehren seiner humanistischen Bildung wirkt, zeichnet die Familiengeschichte ein ebenso klischeehaftes Bild nomadischer Ostjuden: heimatlose, arme, kinderreiche Händler. Die Ankunft in der nebeligen Ebene, in der schließlich der Vater verschwindet, scheint symbolisch zu sein für die Unmöglichkeit der Niederlassung: Der Boden, auf dem sie sich niederlassen könnten, ist nicht sichtbar, was sich analog zur Wassermetaphorik bei Foer lesen lässt. Die Entwicklung, an deren Anfang eine Sippe in jeder Hinsicht Fremder und Anderer und an deren Ende ein Schweizer Bildungsbürger steht, sprengt den Rahmen der Pflanzenmetapher. Die in dieser Metapher durch die Zugehörigkeit zum Schweizer Boden festgelegte Natur des Menschen erlaubt eine solche Wandlung nicht – aus diesem Grund sucht das nähere Umfeld des Onkels begierig nach den Zeichen der Andersheit. Je deutlicher der Onkel seine Zugehörigkeit, seine ‚Normalität‘ auslebt, wenn er beispielsweise seine Vorliebe für Schweinswürste kundtut, desto stärker scheint der Drang, die jüdische Herkunft ins Bewusstsein zu rufen. Hier wird deutlich, dass die durch die Metapher implizierte Natur des Menschen eine gesellschaftlich bedingte Konstruktion ist und kein genealogisch festgelegtes oder genetisch vererbbares Merkmal. Es ließe sich nun einwenden, dass bei der Gegenüberstellung der diegetischen und metadiegetischen Ebene und ihrer Funktion als Strategie zur Demontage von Stereotypen die im ersten Unterkapitel beschriebene Unzuverlässigkeit des Erzählers nicht bedacht wurde. Für alle drei Beispiele wurde festgestellt, dass die Glaubwürdigkeit der Geschichten durch ihren unzuverlässigen Erzähler zumindest zweifelhaft ist. Doch lassen sich auf der diegetischen Ebene externe Quellen nachweisen, auf die der Erzähler keinen Zugriff besitzt und die Rück-

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schlüsse auf eine Wahrscheinlichkeit der Darstellungen ermöglichen. So ist die Chronik des Schtetls Trachimbrod zweifelsfrei erfunden, basiert jedoch auf dem Book of Antecedents, das Jonathan Safran in Listas Haus bekommt und auch auf ihren Erzählungen. Bei Muszer erzählt Naletniks Schwester ihm die Geschichte seiner Familie, deren Glaubwürdigkeit durch die direkte Rede bekräftigt wird. Sie fungiert als externe Quelle und Beglaubigung der Familiengeschichte, ebenso wie die Familiendokumente, die dem Erzähler in Fräulein Stark zugespielt werden. Es kann zudem festgestellt werden, dass der unreliable narrator die Funktion der unterschiedlichen Erzählebenen nicht berührt. Die Bedeutung der metadiegetischen Ebene liegt nicht in ihrem Wahrheitsgehalt, sondern in ihrem Vermögen, eine alternative Realität zu präsentieren und die Geltung der Metapher abzuschwächen. Durch die Kontrastierung der diegetischen Ebenen werden Brüche der Metapher deutlich. Dabei zeichnet sich ein herausstechendes konstitutives Merkmal dieser Alternativdiegese ab: In allen drei Romanen werden die konzeptuellen Metaphern auf bildliche Weise überzeichnet. Konkret bedeutet dies, dass entweder die Metapher selbst, ihr Gegenteil oder ihre Implikation im Bezug auf das Klischee bildhaft umgesetzt werden. So wird bei Hürlimann das Stereotyp des wandernden Juden durch die Darstellung der im Nebel verlorenen Familie aufgegriffen, während bei Foer die WURZEL-Metapher durch die überdeutlich präsente WASSER-Metapher karikiert wird. Bei Muszer wird MORAL IST EIN WEG durch die Geschichte des Vaters ad absurdum geführt, wenn sich dieser als Opfer wörtlich auf einen Weg begibt, um an dessen Ende als Täter dazustehen. Durch die Kontrastierung der Diegesen wird es möglich, die aus sich selbst heraus unangreifbare Metapher im Text anzugreifen. Dadurch verlässt sich der Text nicht allein auf die Fähigkeit des Lesers, sein Weltwissen und seine jeweilige Sozialisation, um Inkohärenzen der Textwelt zu offenbaren. Der Leser kann sich als ein schlechter „Detektiv“22 erweisen, um den Terminus von Barbara Beßlich zu bemühen. Dann kann es – wie im Falle der Rezeption von Hürlimanns oder Koneffkes Werk – geschehen, dass die Signale des unzuverlässigen Erzählens nicht wahrgenommen werden und der Demontageprozess verpufft. Durch die Geschichte in der Geschichte werden intratextuell Möglichkeiten geschaffen, mehrere Welten in Konkurrenz zu setzen und unterschiedliche Deutungsmuster zu etablieren. Damit sollte es nicht nur dem detektivisch begabten, sondern auch dem einfach nur aufmerksamen Leser möglich sein, im Abgleich auf die Irritationen zu stoßen.

22 B. Beßlich: Unzuverlässiges Erzählen im Dienst der Erinnerung, S. 52.

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Die intratextuelle Welt enthüllt innerhalb des Textes einen weiteren Aspekt, der ebenfalls durch den Kontrast sichtbar wird. In der Diegese selbst sind jüdische Figuren wenig präsent. Das Judentum taucht bei Hürlimann und Muszer als eine Problematisierung, als ein Identitätskonflikt auf, während die jüdische Figur Jonathan Safran in der von Juden entvölkerten Ukraine wie ein Fremdkörper wirkt. Auf der metadiegetischen Ebene wird eine Normalität des jüdischen Lebens in Europa abgebildet, die es auf der diegetischen Ebene nicht mehr geben kann. 3.1.3

Second Person Narration

Die letzte der drei Erzählstrategien ist eine exponierte Form der Kommunikationsfunktion des Erzählers. Durch die Du-Form, in der der Erzähler den Leser anzusprechen scheint, gibt er sich als kommunikative Instanz zu erkennen. In Mariusz Sieniewiczs Jüdinnen bedienen wir nicht sprechen homodiegetische Erzähler nicht nur Protagonisten der Diegese an, sondern auch extratextuelle Adressaten. Die Erzählform in der zweiten Person scheint sich hier am Modell der Skaz-Literatur zu orientieren. Mit Wolf Schmid ließe sich hier der „ornamentale Skaz“ diagnostizieren, da der Erzähler bei Sieniewicz „die Vorstellung einer unpersönliche[n] Instanz hervor[ruft], die in verschiedenen Rollen und Masken auftritt“23. Dennoch spricht die starke Kundgabefunktion bei Sieniewicz gegen die rein ornamentale Bestimmung dieser Erzählform, deren Besonderheit vor allem darin liegt, dass der Adressat zu einer Figur der Diegese gemacht wird. Ihm wird dadurch eine Alteritätserfahrung simuliert: Er soll sich in die Rolle der Jüdin einfühlen. Um eine solche Alteritätserfahrung zu simulieren, eignet sich die Du-Form in besonderer Weise. Durch ihre Verwendung und das Entstehen einer Kommunikationssituation wird auf einen gemeinsamen Erfahrungshorizont von Erzähler und Adressat zurückgegriffen, der durch Anspielungen auf eine gemeinsame Geschichte und eine gemeinsame kulturelle und historische Verortung impliziert wird: Durch den Gebrauch explizit mit dem Zweiten Weltkrieg verbundener deutscher, jedoch dem Polnischen angepasster Vokabeln („Hende hoch“ oder „Fojer“24) wird beispielsweise die historische Erfahrung des Krieges zitiert. Dieses Potenzial, ein gemeinsames Weltwissen zu aktivieren, beschreibt Monika Fludernik:

23 Wolf Schmid: Elemente der Narratologie. Berlin/New York: de Gruyter 2005, S. 179. 24 ZO, S. 236.

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„The narrator is therefore the custodian of the community‫ތ‬s historical selfidentity. The crucial position of this narrator is mirrored linguistically in his reference to the community as ‚ours,‘ and in the self-referential inclusion of himself as a member of the narrated community. Unlike mere face to face conversation, the skaz model therefore reflects significantly on the homocommunicative nature of the narration: both the narrator and the audience share a fictional past, if only existentially, in the ‚realm of existence,‘ and not agentially as ‚characters‘ of the ‚plot‘.“25

Der oben beschriebene Prozess der Naturalisierung führt also zu einer übereinstimmenden Wahrnehmung von Text- und Erlebniswelt. Das wird durch die Reihenfolge der Erzählungen begünstigt, die zuerst alltägliche Lebensbereiche zitieren und die Fremdheitserfahrungen in diesen Bereichen beschreiben, um anschließend den Leser in eine identifikatorische Situation mit dem ‚Kuriosum‘ Jüdin zu versetzen. „Second person fiction utilizes this subversive potential for creating an unsettling effect – that of involving the actual reader of fiction, not only in the tale, but additionally in the world of fiction itself, an eerie effect that can be put to very strategic political use”26 Literatur, die sich diesen politischen Zweck zu Nutze macht, ist vor allem engagierte Literatur, wie Schwulen- und Lesben- oder Migrationsliteratur. Die Du-Form steigert mögliche Empathie und erzeugt zugleich das Bewusstsein des Lesers, ein Teil der beschriebenen Gemeinschaft zu sein, auch wenn er ihr nicht tatsächlich angehört.27 Sieniewicz verfolgt mit der Erzählform eine ähnliche Strategie. Durch Signale, die der angesprochene Leser seiner eigenen Lebenswelt zuordnen kann, wird ein gemeinsamer Erfahrungshorizont geschaffen, jedoch zugleich als korrupt und moralisch verdorben desavouiert. Dies wird beispielsweise in der Kurzgeschichte Die Braut/Panna młoda besonders deutlich, wenn eine polnische Bilderbuchhochzeit28 geschildert wird, wiederholt kulturspezifische Eigenheiten zitiert werden (wie die selbst zum Klischee gewordene saure Gurke zum Wodka), um anschließend die Bigotterie der Gäste und des Bräutigams darzustellen. Obwohl in dieser Erzählung keine Du-Form vorherrscht, kommuniziert der Erzähler mit

25 Monika Fludernik: „Second Person Fiction. Narrative You as addressee and/or protagonist“, in: Arbeiten aus Anglistik und Amerikanistik, Band 18, 2 (1993), S. 217247, hier S. 232. 26 Ebd. 27 Vgl. ebd., S. 233. 28 Eine solche traditionelle Hochzeit ist ein polnisches Kulturnarrativ. Als Kulisse der Gesellschaftskritik diente sie auch in dem Film: WESELE [Die Hochzeit] 2004 unter der Regie von Wojciech Smarzowski.

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seinem Publikum, indem er seine Meinung kundtut: „Ein verlogener Arsch, dieser Bräutigam. Nur so viel“29, lautet der letzte Satz der Erzählung, der optisch durch Zentrierung in einer separaten Zeile hervorgehoben wird. Die zugrundeliegende konzeptuelle Metapher GESELLSCHAFT IST EINE MASCHINE wird in ihren negativen Wirkungen ausgemalt: Das Fehlen der Individualität, Intoleranz gegenüber Fremdem und Anderem und die Abwesenheit von Menschlichkeit sind die tragenden Merkmale dieser Gesellschaft. Der in DuForm gerichtete Appell des Erzählers ruft dazu auf, diese Gesellschafts- und Alltagsstrukturen zu durchbrechen. Zugleich wird resigniert die Forderung „Wach auf!“30 ausgesprochen. Der Imperativ fordert zynisch, sich von der Traumwelt abzuwenden und in den Alltag zurückzukehren, was keineswegs die Aussage des Textes konterkariert, sondern die Schwierigkeit des Vorhabens einer selbstreflexiven und toleranten Gesellschaft betont. Die Form der zweiten Person vermag als implizite Aufforderung zur Rebellion die Erzählebenen durchbrechen. Die direkte Ansprache, verbunden mit den gestreuten Signalen im Text, führt zu einer Naturalisierung, in deren Zuge sich der Leser mit der Textwelt zwar identifizieren kann, diese jedoch nicht mit seinen Normen übereinstimmt. Er begreift sich als Insider, wenngleich die ihm präsentierte Welt völlig absurd und ungeheuerlich wirkt, und erkennt seine eigene Erlebniswelt in den Traumwelten, die der Erzähler kreiert. Dadurch wird die vom Erzähler intendierte Alteritätserfahrung begünstigt. Die mangelnde Distanz des Erzählers zum Geschehen und sein eigenes spürbares Engagement entwickeln eine Kraft, die im Spannungsverhältnis von Gewohntem und Absurdem eine Demontage der Wirklichkeit zu erzeugen vermag, sodass die klaren Dichotomien von Gut und Schlecht, Fremd und Eigen nicht mehr gelten. Dabei wird eine vollständige Identifikation mit dem Charakter/dem Erzähler verhindert, was sich als integraler Bestandteil der didaktischen Funktion des Textes lesen lässt. 31 Der Wechsel von Identifikation zur Abgrenzung wird durch die surrealen Elemente der Erzählungen begünstigt. Diese besitzen eine ähnliche Funktion wie die Brechungen im Brecht’schen epischen Theater, durch die eine reflexive Distanz geschaffen werden soll. Das reflexive Moment soll dabei jedoch nicht das Identifikationsmoment ersetzen. Vielmehr ist es die Gleichzeitigkeit beider Momente, welche die Funktion begünstigt: Der Leser fühlt sich einerseits angesprochen und erlangt das Gefühl, dass diese Textwelt seiner Erlebniswelt ähnelt, und erfährt in ihr zugleich das Gefühl der Andersheit und Fremd-

29 ZO, S. 30. 30 Ebd., S. 248. 31 Vgl. M. Fludernik: Second Person Fiction, S. 228.

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heit. Andererseits kann er diese individualisierte Alteritätserfahrung durch die erzeugte Distanz verallgemeinern und reflektieren.

3.2

G ENRE

ALS

S TRATEGIE

Am Beispiel von Michael Chabons The Yiddish PolicemenҲs Union soll im Folgenden erläutert werden, dass auch die Wahl des Genres in einem entscheidenden Maße zur Demontage von Stereotypen beitragen kann. So vermag der kontrafaktische Roman, um den es hier gehen wird, die Fiktionalität eines Textes zu exponieren. Darin erfüllt dieses Genre eine ähnliche Aufgabe wie der unzuverlässige Erzähler, mit einem entscheidenden Vorteil: Es erfordert einen aufmerksamen und geübten Leser, die textinhärenten Signale zu deuten und im Zuge der Naturalisierung die Unzuverlässigkeit wie auch ihre Folgen für die dargestellten Stereotype aufzuschlüsseln. Im Falle der Uchronie ist eine solch detektivische Leistung des Lesers nur minimal notwendig, denn in der Regel sind die veränderten Ereignisse derart prominent und die Veränderung derart deutlich, dass die Fiktionalität ausdrücklich belichtet wird, wie dies sonst nur im Science-FictionRoman oder im Fantasy-Roman passiert.32 Im Unterschied zu diesen beiden Genres knüpft der kontrafaktische Roman an die außertextuelle, meist historische Realität an, und auch seine Handlung folgt den Gesetzen dieser Realität.33 So ist es zwar für die Gattung kennzeichnend, ein geschichtlich bedeutsames Ereignis zu verändern und so innerhalb der Textwelt eine neue Realität zu entwerfen, die Regeln der realen Welt müssen jedoch auch in der Textwelt beibehalten werden. Das erzeugt eine gewisse erkenntnistheoretische Spannung: Die schlichte Frage „Was wäre, wenn…?“ wirft mögliche Entwürfe der Realität auf und zeigt damit gleichzeitig die Zufälligkeit, die Beliebigkeit oder die Konstruiertheit einer zusammenhängenden und sinnvollen Geschichtsschreibung und damit auch einer gemeinsamen, identitätsstiftenden Vergangenheit. Andreas Martin Widman stellt in seiner Analyse fest, dass beispielsweise im Gegensatz zum Trend des New Historicism, wo das Augenmerk von den historischen Großereignissen auf kleinere Nebenschauplätze der Geschichte verlagert wird und Geschichte folglich dezentralisiert wird, der kontrafaktische Roman immer noch mit Variationen von großen, gemeinhin als

32 Zur Verwandtschaft des kontrafaktischen Romans zu anderen Gattungen vgl. Ch. Rodiek: Erfundene Vergangenheit, S. 41ff. 33 Vgl. ebd., S. 32f.

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bedeutsam anerkannten Ereignissen spielt.34 Es muss jedoch festgestellt werden, dass ausgerechnet dieses Merkmal des kontrafaktischen Erzählens nicht als Eingeständnis an klassische Geschichtstheorien gelten kann, sondern es vielmehr das dekonstruktive Potenzial der Kontrafaktizität betont. Der Entwurf einer Alternativrealität, die von einem gemeinhin bekannten und identitätsstiftenden Ereignis ausgeht, ist in der Wirkung deutlich subversiver als im Bezug auf ein ‚privateres‘ oder weniger prominentes Ereignis. Eine solche Alternativrealität stellt sich in ihrer ganzen Konstruiertheit dar. Dadurch vermag sie den kritischen Blick auf die Konstruktion von historisch fundierten Sinngebungsverfahren lenken. In The Yiddish PolicemenҲs Union verbildlicht die Schachmetapher das weltumspannende Melodrama um Gut und Böse und erzeugt damit ein manichäisches Muster, dessen Personenbesetzung an eine antisemitische Verschwörungstheorie erinnert. Innerhalb der entworfenen Weltordnung versucht eine jüdische Gruppe die Weltgeschicke zu lenken, ein Kräfteverhältnis, das der ‚Mutter‘ der antisemitischen Verschwörungstheorien, den Protokolle[n] der Weisen von Zion, entnommen sein könnte. Ein solcher Weltentwurf zeichnet sich durch eine Komplexitätsreduktion aus, die differenzierte politische und ökonomische Kräfteverhältnisse auf einige wenige Nenner zu bringen vermag,35 und er besitzt zudem eine eigene überaus plausible Logik, die als „Hyperrationalität“ bezeichnet werden kann: „hyperrational, weil die Empirie, wie sie sich etwa dem Historiker darbietet, nie so einfach mit Ursachen, Folgen, Zusammenhängen erklärt werden kann, wie das im Rahmen von Verschwörungstheorien geschehen kann. […] Sie übertreffen die Rationalität an logischer Konsistenz und Kohärenz, sie weisen eine eigensinnige, hochrationale und hochoperationale Logik auf, weshalb man sie propagandistisch gut einsetzen kann.“36

In solchen Konstrukten lässt sich das Bedürfnis erspüren, das, was mit Lyotard als das „Ende der großen Erzählungen“ betitelt wird, zu negieren und alternative Meta-Erzählungen zu schaffen, die sowohl durch klare Strukturen als auch durch

34 Vgl. Andreas Martin Widman: Kontrafaktische Geschichtsdarstellung: Untersuchungen an Romanen von Günter Grass, Thomas Pynchon, Thomas Brussig, Michael Kleeberg, Philip Roth und Christoph Ransmayr. Heidelberg: Winter 2009, S. 132. 35 Vgl. Tobias Jaecker: Antisemitische Verschwörungstheorien nach dem 11. September. Münster: LIT 22005, S. 14. 36 Dieter Groh: „Verschwörungstheorien revisited“, in: U. Caumanns/M. Niendorf, Verschwörungstheorien (2001), S. 187-196, hier S. 191.

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eine strenge inhärente Logik einen Sinnstiftungscharakter besitzen und auf diese Weise zu Mythen avancieren können: „Praktikabel sind Mythen als Elemente von Ideologien, das heißt Realität wird durch Glauben substituiert, Fakten werden zu Fiktionen transformiert.“37 Verschwörungstheorien besitzen den Charakter einer Weltanschauung,38 und die in ihnen vorherrschenden Kräfteverhältnisse lassen sich mit der Schachmetapher bildhaft demonstrieren. Eine ähnliche Struktur und Wirkung lässt sich auch der Gattung des kontrafaktischen Romans zuschreiben, der ein Weltbild konstruiert, das große geschichtliche Ereignisse zugrundelegt und diese in einen alternativen und dennoch plausiblen Zusammenhang stellt. Chabons Roman weicht in der Struktur nicht von diesem Bestimmungsmerkmal ab und zeichnet ein Weltbild, in dem eine Gruppe mächtiger und krimineller Juden nicht nur die Geschicke Sitkas, sondern auch die der Welt zu lenken bestrebt ist. Zum Ende hin erweist sich diese Intrige freilich als eine Farce und die tatsächlichen Übeltäter als eine christliche Vereinigung, weshalb The Yiddish PolicemenҲs Union auch als Satire auf die gängigen antisemitischen Verschwörungstheorien gelesen werden kann. Es ist nicht nur dieses inhaltliche Moment, das die satirische Wirkung erzeugt. Es sind auch die strukturellen Parallelen, die im Vergleich von kontrafaktischer Erzählung und Verschwörungstheorie hervortreten: Es wird ein Weltmelodrama nach einem manichäischen Muster konstruiert, das dem Postulat der Komplexitätsreduktion unterliegt. Der entscheidende Unterschied liegt in der Exposition der eigenen Fiktionalität. Hier lohnt ein Blick zurück auf die methodische Grundlage der vorliegenden Arbeit. George Fauconnier und Mark Turner beschreiben in The Way We Think die konzeptuelle Integration, die hier als Blending vorgestellt wurde, als die grundlegende kognitive Operation, wenn es um die Erschaffung von nichtrealen Situationen geht.39 Insbesondere dem kontrafaktischen Denken kommt in diesem Zusammenhang im Anschluss an Nelson Goodman eine entscheidende Rolle zu, da es maßgeblich an der Produktion solcher nichtrealer Situationen beteiligt ist. In der Verschwörungstheorie findet eine Überlagerung von bekannten Fakten und bestehendem Weltwissen mit neuen Ursachen und Verursachern statt, wodurch eine alternative Version eines Weltgeschehens entworfen wird. Die

37 W. Benz: Die Protokolle der Weisen von Zion, S. 65. 38 Vgl. T. Jaecker: Antisemitische Verschwörungstheorien, S. 15. 39 Vgl. G. Fauconnier/M. Turner: The Way We Think, S. 217. Dazu zählen Fauconnier und Turner eine ganze Reihe von Handlungen: „Pretend, imitate, lie, fantasize, deceive, delude, consider alternatives, simulate, make models, and propose hypotheses“ (ebd.).

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Operation der Konstruktion – als Integration von realen Fakten und fiktiven Ursachen verstanden – wird dabei jedoch nicht nur verschleiert, sondern als eine Ent- oder Aufdeckung präsentiert, als das wahre Weltwissen. Der kreative Akt des Konstruierens wird als ein Akt des Entdeckens von Vorhandenem getarnt. In der Gattung des kontrafaktischen Romans findet ebenfalls eine Integration von Realem und Imaginärem statt. Indem die Ausgangsbasis der Uchronie ein realhistorisches Ereignis ist, knüpft sie an das Weltwissen der Leser an und spielt bewusst mit diesem. Die Konstruktion der weiteren Ereignisse oder Rekonstruktion der Ursachen bedient sich oft bewusst einer konstruierten Verschwörung oder Intrige,40 wie beispielsweise in Philip Roths The Plot Against America oder Thomas Pynchons Gravity’s Rainbow. Die Bezugnahme auf Fakten dient jedoch nicht, wie in Verschwörungstheorien, als Beleg der Wahrscheinlichkeit, sondern ist im Gegenteil als Irritationsmoment zu lesen. In The Yiddish Policemen’s Union wird die Verschwörung derart abstrus gezeichnet, dass kein Zweifel an ihrer Konstruiertheit besteht. Die motivischen Anleihen am Comicgenre verleihen den Protagonisten einen zusätzlichen Schein der Künstlichkeit. So entsteht eine umfassende Parodie einer Verschwörungstheorie: Die Wahl des strukturell verwandten Genres des kontrafaktischen Romans ermöglicht es, parallele Strukturen aufzugreifen und sie ins Absurde hinein zu modifizieren. Zugleich wird der fiktionale Charakter von Beginn an exponiert, sodass kein Zweifel besteht, dass hier fiktionale und reale Elemente miteinander verwoben werden. Die große Geschichte, die hier erzählt wird, wird bewusst unrealistisch gestaltet, wodurch der Verschleierungsakt entschleiert wird. Die Verbindung zwischen der konzeptuellen Metapher und dem Weltmelodrama, das aus dieser resultiert, wird auf diese Weise parodistisch aufbereitet, und das Stereotyp des jüdischen Weltenlenkers wirkt absurd und lächerlich.

3.3

S PRACHE

ALS

S TRATEGIE

Im folgenden Kapitel werden drei Möglichkeiten vorgestellt, durch Sprache und Sprachbilder Konzepte und die mit ihnen zusammenhängenden antisemitischen Stereotype zu demontieren. Vorrangig Ironie, Groteske und materialisierte und kreative Metaphern konnten als Strategien nachgewiesen werden, eine „rhetori-

40 Vgl. Peter von Matt: Die Intrige. Theorie und Praxis der Hinterlist. München/Wien: Hanser 2006.

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sche Künstlichkeit“41 zu erzeugen. Nun soll gezeigt werden, wie sich diese rhetorische Künstlichkeit in den Romanen manifestiert und welche Funktion sie in der Arbeit gegen das Vorurteil erfüllt. Und wie sie genutzt werden kann, um Vorurteilen entgegenzuwirken. 3.3.1

Ironie

Nicoline Hortzitz hat in ihren Untersuchungen zur Sprache der Judenfeindschaft in der Neuzeit wie auch zu Sprach- und Argumentationsstrukturen des Antisemitismus im 19. Jahrhundert die Ironie als eine der möglichen rhetorischen Strategien bestimmt, wobei diese vorrangig das Muster „Abwerten durch (vermeintliches) Aufwerten“, insbesondere in Vergleichen, aufweise.42 Auch Martin Gubser verweist im Anschluss an Hortzitz in seiner Analyse des literarischen Antisemitismus auf dieses sprachliche Mittel, das einen Konsens zwischen Leser und Autor oder Leser und Erzähler im Hinblick auf eine vermeintliche Andersheit der Juden zu signalisieren vermag.43 Doch Ironie kann ebenso wirksam klischeehaft verfestigte Strukturen und Bilder destabilisieren. An dieser Stelle soll nicht auf die zahlreichen Theorien zur Ironie eingegangen werden, dennoch werden einige grundlegende Prämissen solcher Theorien, die für diesen Teil der Arbeit von Bedeutung sind, erörtert. Vor allem soll im Folgenden die klassische Substitutionstheorie der Ironie,44 derzufolge eine ironische Aussage schlicht das Gegenteil des Gesagten meint, deutlich erweitert werden, da diese Definition im vorliegenden Kontext der Komplexität und Vielfalt des Gegenstandes nicht gerecht wird. Obgleich der seinerzeit durch Dan Sperber und Deidre Wilson erneuerte Zugang45 auch von zahlreichen kritischen Stimmen begleitet wurde,46 möchte ich einigen elementaren Annahmen dieser Theorie folgen, die einer Analyse der ironischen Verwendung von Konzepten entgegenkommen. So soll die von Wilson und Sperber in Bezug auf Ironie etablierte Un-

41 Der Terminus ist von Dirk Uffelmann übernommen, der ihn auf die sprachlichen Auffälligkeiten der Migrationsliteratur bezieht. D. Uffelmann: Konzilianz und Asianimus, S. 296. 42 N. Hortzitz: Die Sprache der Judenfeindschaft in der frühen Neuzeit, S. 462. 43 M. Gubser: Literarischer Antisemitismus, S. 85. 44 Vgl. Edgar Lapp: Linguistik der Ironie. Tübingen: Narr 1992, S. 15. 45 Vgl. Dan Sperber/Deidre Wilson: „Irony and the Use-Mention Distinction“, in: Peter Cole (Hg.), Radical Pragmatics. New York et al: Academic Press 1981, S. 295-318. 46 Vgl. die Darstellung der Kritik an Sperber und Wilson bei E. Lapp: Linguistik der Ironie, S. 78 ff.

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terscheidung von Gebrauch (use) und Erwähnung (mention) übernommen werden, sowie der weit gefasste Begriff des Echos,47 der Formen von „Reformulierungshandlungen“48 bezeichnet. Ironie ist nach Sperber und Wilson immer Erwähnung und nie Gebrauch, was bedeutet, dass entweder direkt vorangegangene Äußerungen in einer spontanen Reaktion tatsächlich ironisch wiederholt werden (spontanes Echo) oder sie verzögert oder auch antizipatorisch aufgegriffen werden, das Echo also nur noch in der Ähnlichkeit zum ursprünglichen Gebrauch besteht.49 Letztere bedeutet im vorliegenden Fall die echoartige Erwähnung von gängigen Werten und Normen oder auch ganzen Diskursen, deren Faktizität der Sprecher nicht nur feststellt, sondern seine Einstellung zu diesem Sachverhalt zu transportieren versucht.50 In allen Beispielen werden, wie die Einzelanalysen anhand der konzeptuellen Metaphern gezeigt haben, bestimmte Diskurse aufgegriffen, die unterschiedlichen Ideologien oder Weltbildern zugrundeliegen. Der Umgang mit den antisemitischen Klischees und Vorurteilen lässt sich – so die hier leitende These – als eine Ironisierung dieser Diskurse betrachten. In diesem Sinne ließe sich sagen, dass die konzeptuellen Metaphern Erwähnungen sind: Zitate von Normen, Weltdeutungsmustern und Diskursen. Diese Erwähnungen der Konzepte erfolgen nicht als bloße Zitate. Der Erzähler bezieht eine Position dazu: Er distanziert sich von ihnen, zeigt ihre Grenzen auf oder macht sie schlichtweg lächerlich. Die rhetorischen Möglichkeiten sowohl auf der sprachlichen als auch der Darstellungsebene erreichen auf der konzeptuellen Ebene eine ironische Wirkung in der Auseinandersetzung mit der konzeptuellen Metapher und dem Normensystem, dem sie entspringt. In Mariusz Sieniewiczs Jüdinnen bedienen wir nicht wird die Metapher der Gesellschaft als Maschine aufgegriffen. Es werden Situationen und Bilder produziert, die diese Metapher nahelegt: Bilder von uniform wirkenden Menschen, die standardisierte Handlungen ausüben, Bilder von grauem Alltag, Bilder, in denen Funktionalität gegen Mitleid und Menschlichkeit ausgespielt wird. Diese

47 Gebrauch/Use und Erwähnung/Mention werden von Sperber und Wilson wie folgt unterschieden. Im Satz: „Natasha is a beautiful child“ wird der Begriff Natasha gebraucht. Im Satz „‚Natasha‘ is a beautiful name“ wird der Begriff Natasha dagegen erwähnt. Vgl. Dan Sperber/Deirdre Wilson: „On Verbal Irony“, in: Raymond W. Gibbs, Jr./Herbert L. Colston (Hgg.), Irony in Language and Thought. A Cognitive Science Reader. New York: Lawrence Erlbaum Associates 2007, S. 35-55. 48 E. Lapp: Linguistik der Ironie, S. 77. 49 Vgl. D. Sperber/D. Wilson: On Verbal Irony, S. 43. 50 Vgl. ebd., S. 54.

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Bilder lassen die semantische Breite der konzeptuellen Metapher und ihrer Implikationen erschließen, die aus einem gemeinsamen gesellschaftlichen Erfahrungshintergrund erwachsen. Historische Erfahrungen totalitärer Regime, aber auch Beispiele aus der Kunst und Literatur wie George Orwells 1984 oder Aldous Huxleys Brave New World spiegeln ein Weltwissen, aus dem der Leser schöpfen kann. So ist es gesichert, dass die evozierte Maschinenmetapher eine Reihe von weiteren Metaphern wie ‚Rädchen im System‘ oder auch ‚Sandkörner im Getriebe‘ mitführt. Die konzeptuelle Metapher aktiviert also einen umfassenden frame, dessen Elemente sich aus bekannten historischen Tatsachen wie fiktiven Utopien/Dystopien zusammensetzen. Innerhalb dieser semantischen Breite ist den Elementen immer gemeinsam, dass die Funktionsfähigkeit der Maschine kritisch dargestellt wird und sich eine spontane Sympathie des Rezipienten für die ,Sandkörner‘, Störenfriede, Underdogs und Revolutionäre, einstellt. Der Erzählband Jüdinnen bedienen wir nicht vermag einen Konsens über die Vorstellung der Gesellschaft als Maschine zwischen Erzähler und Leser zu schaffen. Die Kommunikation erfolgt durch die Wahl der Erzählform wie auch durch die Darstellungsverfahren, in denen der Gegenstand in seinen negativsten Ausprägungen gezeigt wird. Der Leser ist dabei durch sein kulturelles und historisches Weltwissen vorgeprägt, er teilt mit dem Erzähler ein „cognitive environment“51. Diese gemeinsame Prägung leistet einen entscheidenden Beitrag zur Übereinstimmung mit der Position des Erzählers, da sich beide einig darüber sein können, dass eine solche Gesellschaft nicht wünschenswert ist. Durch den Titel des Erzählbandes von Mariusz Sieniewicz wird die Kontextualisierung der Metapher erreicht. Es wird deutlich, dass das sprichwörtliche Sandkorn die Jüdin ist – in ihrer doppelten Fremdheit als Frau und Jüdin. Die Verbindung der von ihr hervorgerufenen Gesellschaftsvorstellung und antisemitischen Implikation wird auf diese Weise zum Gegenstand der Ironie und vermag so das Stereotyp der Fremdheit zu destabilisieren. Wenn Hortzitz schreibt: „Konsens zu erzielen und ‚Meinung zu bilden‘ sind als expressive und affektive Stilmittel in besonderem Maße geeignet, insofern sie sowohl Gefühle ansprechen als auch erzeugen. Die ganze Palette stilistischer Ausdrucksmöglichkeiten […] haben auch judenfeindliche Autoren stets genutzt, um vorurteilshafte Inhalte zu vermitteln“52,

so wird deutlich, dass Ironie als ein sowohl expressives wie affektives Stilmittel auch geeignet sein kann, gegen das Vorurteil zu arbeiten. Der Konsens der anti-

51 Ebd. 52 N. Hortzitz: Die Sprache der Judenfeindschaft, S. 20.

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semitischen Literatur und Propaganda, demzufolge Juden als Fremde einzuschätzen sind, weicht hier einer Übereinkunft über die Bedeutungsveränderung von Fremd- und Anderssein. Die kommunikative Situation, die durch die Verwendung und das Verstehen der Ironie entsteht, macht dem Rezipienten nicht nur das Gesagte, sondern auch dessen Implikaturen im Zuge der Interpretation zugänglich.53 Der rhetorische Kniff, den der Erzähler hier abschließend anwendet, besteht darin, die kommunikative Situation auszunutzen, um den Leser letztendlich vorzuführen. Nachdem dieser die Ironie der Gesellschaftsdarstellung verstanden hat, versteht er auch die Implikatur, die in einer Anklage seiner selbst besteht, die durch die direkte Anrede, die ihrerseits einen zynischen Unterton enthält, noch verstärkt wird: „Und es fängt wieder an, und du wirst erneut der Hauptdarsteller einer auswendig gelernten Wirklichkeit.“ 54 Nachdem der Leser durch die präsentierten Bilder die ironische Sichtweise einer solchen Gesellschaft mit dem Erzähler zu teilen geneigt ist, eröffnet ihm Letzterer, dass er selbst Teil einer solchen Gesellschaft ist und hier weder Vergangenes noch Dystopie zitiert, sondern die Realität ironisch abgebildet wurde. Durch die Erwähnung (mention) der konzeptuellen Metapher, die in einem engen Zusammenhang zu einer totalitären Gesellschaftsordnung steht, und die Ausschmückung dieser Bedeutungsvariante der Metapher wird ein Distanzierungseffekt erreicht, der sich umso stärker entfaltet, als hier nicht ein totalitäres Regime, sondern ein überzeichnetes demokratisch-kapitalistisches System der Gegenwart abgebildet wird. Wie bereits angedeutet wurde, liegt in den bislang präsentierten unterschiedlichen konzeptuellen Metaphern ein stärkeres Potenzial, bestimmte historische Umstände, Ideologien oder Weltbilder hervorzurufen als andere, die kontextuell relativ ungebunden sind und sich so anpassungsfähiger zu bestimmten zeitlichen und gesellschaftlichen Umständen verhalten. Zu diesen semantisch weniger eindeutig besetzten Metaphern gehören die beiden vorgestellten Metaphern zur Moral. Sowohl MORAL IST EIN WEG als auch MORAL IST EIN SCHACHSPIEL rufen nicht die gleichen Vorstellungen auf wie beispielsweise die beiden Gesellschaftsmetaphern, in denen Gesellschaft als Maschine oder als Organismus konzeptualisiert wird. Die binäre Struktur von Chabons Roman The Yiddish Policemen’s Union ruft durch die reichhaltige Verwendung von Schwarz- und Weißmarkern im Zusammenhang mit eindeutig zuschreibbaren ethischen und rechtlichen Verhaltenswei-

53 Vgl. D. Sperber/D. Wilson: Irony and the Use-Mention Distinction, S. 309. 54 ZO, S. 248. „I zacznie siĊ, i bĊdziesz na nowo głòwnym bohaterem wyuczonej na pamiĊü rzeczywistoĞci.“

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sen die konzeptuelle Metapher MORAL IST EIN SCHACHSPIEL hervor. Dabei wird zunächst kaum Zweifel an der Verteilung der moralischen Disposition auf die Farben gelassen: Die Bösen sind die im orthodoxen Schwarz gekleideten Verbover Juden. Hier wird folglich das kulturell geprägte Wissen um die Zuordnung von Schwarz und Böse aufgegriffen und im weiteren Verlauf des Romans ad absurdum geführt, wenn sich die mit apollinisch anmutenden Helligkeitsattributen bestückten Christen als die wahren Übeltäter erweisen. Die Schachmetapher in ihrer üblichen Bedeutung wird ironisiert, indem vor allem ihre Unzulänglichkeit exponiert wird. Im Unterschied zu Sieniewiczs Erzählungssammlung geschieht dies auf der strukturellen Ebene, und der Erzähler gibt sich nicht zu erkennen. Es wird vielmehr auf das Wissen des Lesers bewusst Bezug genommen, sodass über die Reformulierungshandlung einer auf gemeinsamen kulturellen Grundlagen basierenden Farbmetaphorik eine Kommunikation stattfindet. Hyperbolisch wird die Niedertracht der in Schwarz Gekleideten betont, um dann durch die Wendung im Roman, die diese Farbmetaphorik in ihr Gegenteil verkehrt, das kulturell geprägte Wissen ironisch als Konstrukt zu präsentieren. Die Ironie hat hier ebenso wie im Beispiel Sieniewiczs die Funktion, den Leser zu lenken. Indem die Entschleierung, die Offenbarung der wahren Übeltäter, erst mit der fortgeschrittenen Handlung des Romans erfolgt, folgt Chabon der antisemitischen Implikation der konzeptuellen Metapher und identifiziert die schwarztragenden Juden mit den Gesetzesbrechern. Erst durch die Auflösung wird dem Leser klar, wie weit er selbst mit der Farbmetaphorik mitzugehen bereit war und zu welchen Schlüssen sie ihn verleitete. Die ironische Haltung zu dieser Farbmetaphorik und ihren Implikationen führt zu einer Distanzierung von einer solchen Moralauffassung. Es kann hier folglich ein Zwischenfazit gezogen werden: Einer der möglichen Einsatzbereiche von Ironie auch in der literarischen Kommunikation ist es, eine versteckte Kritik am Gegenüber zu äußern. Darin zeigt sich das Potenzial dieser Strategie im Kampf gegen Formen des Antisemitismus, die sich in der gesellschaftlichen Mitte entfalten, deren Träger sich selbst selten als Antisemiten wahrnehmen oder bezeichnen und ihre oft geradezu fanatischen Meinungen als legitime Kritik denken.55 Die Kritik derart latenter Vorurteile erfolgt mit dem

55 Bestätigt wird das im Tagungsband von Monika Schwarz-Friesel/Evyatar Friesel/Jehuda Reinharz (Hgg.): Aktueller Antisemitismus – ein Phänomen der Mitte. Berlin/New York: de Gruyter 2010. Insbesondere das von M. Schwarz-Friesel geleitete Projekt, im Zuge dessen Briefe an die israelische Botschaft und an den Zentralrat der Juden auf ihre antisemitischen Gehalte hin analysiert werden, liefert ein bemerkens-

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Mittel der Ironie diplomatischer: Der Autor zitiert Gemeinplätze und drückt seine kritische Einstellung ihnen gegenüber aus. Der ironisierende Akt zeigt diese Konzepte in der Regel in einem lächerlichen Licht: Sie erbringen die versprochene Leistung der Weltdeutung nicht und bei dem Versuch, ihren Geltungsbereich genauer zu beleuchten, wirken sie absurd, zuweilen sogar grotesk. Wie sich bislang gezeigt hat, kann dieser Effekt durch eine verstärkt exponierte Erzählerfigur erwirkt werden, die auf der Metaebene einen Dialog mit dem Leser beginnt, oder auch strukturell durch das Erzeugen von Oppositionen. Die letztere Variante kommt auch zum Einsatz, wenn keine Lenkung des Lesers stattfindet. In Jan Koneffkes Paul Schatz im Uhrenkasten beispielsweise wird die binäre Opposition von Ariern und Juden ironisch gewendet und grotesk überspitzt. Infolgedessen erscheinen die Metapher GESELLSCHAFT IST EIN ORGANISMUS und die mit ihr verbundenen antisemitischen Implikationen lächerlich und unglaubwürdig. Hier gibt es jedoch kein Entschleierungsmoment, das dazu dient, den Leser mit der eigenen Wirklichkeit oder den eigenen Vorurteilen zu konfrontieren. Es wird vielmehr demonstriert, wie wandelbar und anpassungsfähig solche Konzepte sein können. Anhand der Figur des Dr. Schmidt, der problemlos und selbstsicher dieselbe konzeptuelle Metapher aus dem nationalsozialistischen in ein sozialistisches Umfeld überführt, wird die Persistenz bestimmter Vorstellungen ironisch ausgeleuchtet. Gerade die Tatsache, dass das Echo des nationalsozialistischen Konzepts von der Figur des Romans völlig ohne Ironie und Reflexion in ein ideologisch entgegengesetztes übertragen wird, ist ein Hinweis auf die ironische Haltung gegenüber dem Konzept. Es wird gezeigt, dass die der Metapher innewohnenden Elemente der Krank-Gesund-Dichotomie nicht kontextuell gebunden sind und an unterschiedlichen Orten, in unterschiedlichen Milieus und zu verschiedenen Gelegenheiten angebracht werden können, wann immer es gilt, einzelne Gruppen zu diffamieren oder auszuschließen. Der kritische Impetus trifft hier die Naivität von Massen, die sich unkritisch von Rhetorik blenden lassen und nicht erkennen, dass hinter augenscheinlich disparaten Ideologien oft dieselben Agitatoren mit denselben Agitationstechniken stecken. Die Ironie in dieser Kritik wird zusätzlich gesteigert, wenn im Stil des Entwicklungsromans der Reifungsprozess des Protagonisten in Wechselwirkung mit den historischen Ereignissen und den politischen Entwicklungen dargestellt wird. Die fehlende Distanzierung zum Antisemitismus wird fast plakativ durch die Figur des Kindes symbolisiert, dessen geistige Entwicklung noch keine kritischen Gedanken zulässt. Indem sich der reifere Paul dem Sozialismus zuwendet

wertes Bild dieses „Antisemitismus der Mitte“. Kürzlich dazu erschienen: M. Schwarz-Friesel/J. Reinharz: Die Sprache der Judenfeindschaft im 21. Jahrhundert.

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und schließlich als Erwachsener alle politischen Gesinnungen abzulehnen scheint, wird implizit eine Hierarchie der Ansichten vermittelt, deren Höhepunkt ein bis ins Kauzige hineinreichender Individualismus ist. Im vorliegenden Zusammenhang erscheint es interessant, einen Blick auf Thomas Hürlimann zu werfen, dem vorgeworfen wurde, er sei als Ironiker mit seinem Roman Fräulein Stark gescheitert, und sei, so Ursula März, dem „parodistischen […] Spiel mit rassistischen Codes“56 nicht gewachsen. Wie schon im zugehörigen Analysekapitel des Werks erörtert wurde, ist eine solche Einschätzung nur als Fehlinterpretation zu verstehen. Insbesondere die Annahme des Scheiterns der Ironie bei Hürlimann ist ein offensichtlich falscher Schluss. Ein Beispiel hierfür ist die Figur des Onkels, dem seine Umgebung zwanghaft seine jüdische Herkunft ins Bewusstsein zu rufen versucht, der jedoch in den Beschreibungen des Erzählers und der Wahrnehmung der übrigen Figuren vielmehr dem Klischee eines christlichen Pfarrers zu entsprechen scheint. Die Beharrlichkeit, mit der das Fräulein und die Dorfbewohner versuchen, den völlig assimilierten Bibliothekar durch das Zuschreiben jüdischer Merkmale zu diffamieren, lässt sie lächerlich wirken. Die bis ins Karikaturhafte gesteigerte Assimilation des Onkels verdeutlicht, dass die antisemitischen Vorurteile nur als Phantasmagorien begreifbar sind. Sowohl die Distanz zum Konzept als auch eine kritische Haltung gegenüber dem unbewältigten Antisemitismus der Nachkriegsschweiz sind dabei unübersehbar. Auch in Jonathan Safran Foers Everything Is Illuminated findet eine ironische Auseinandersetzung mit der Pflanzenmetapher statt. Die Ironie entsteht bildlich, wenn die Pflanzen- bzw. Bodenmetapher ironischerweise über ihr semantisches Gegenteil Erwähnung findet. Wie im vorigen Kapitel gezeigt wurde, geht die Ironie so weit, das Verlangen nach der Existenz eines Herkunftsortes zu parodisieren, wenn der Ort nur in der absoluten Absenz thematisiert wird. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Ironie in der Auseinandersetzung mit antisemitischen Stereotypen einen kritischen Impetus besitzt, der sich auf die Vergangenheit, aber auch auf die Gegenwart beziehen kann. Eine mögliche Strategie der Kritik ist die Konfrontation von Konzepten mit unterschiedlichen historischen Umständen, wodurch ihre Anpassungsfähigkeit verdeutlicht, vor allem aber ihre semantische und strukturelle Unstabilität bei gleichzeitiger Persistenz hervorgehoben wird. In allen Fällen liegt dabei ein Distanzierungsmoment vor, das in einer kommunikativen Situation als Kritik an einer bestimmten Leserfigur verstanden werden kann.

56 U. März: Katzenhaft. Noch einmal Hürlimann, S. 17.

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3.3.2

Materialisierte Metaphern und idiomatische Wendungen

Die linguistische Metapher führt Hortzitz als ein sprachliches Mittel des Antisemitismus an, dessen „Strategie der Entmenschlichung“ bereits in der Neuzeit darin bestehe, als „bildlicher Vergleich“ Juden in Tier-, Krankheits- oder Pflanzenmetaphern zu beschreiben und zugleich „Dispositionen zum entsprechenden reaktiven (‚Abwehr‘-)Handeln“57 vorzugeben. Solche Metaphern bestehen als Kollektivsymbole – insbesondere durch ihre zunehmende Verbreitung im 19. Jahrhundert – und können bis heute in neuen Kontexten und Abwandlungen aufgerufen werden.58 Im Folgenden soll aufgezeigt werden, dass ein spezifischer Umgang mit der Metapher auch eine Strategie sein kann, die zu einer kritischen Haltung gegenüber diffamierenden Metaphern führt. In vier der untersuchten Romane wurde ein ‚naiver Sprecher‘ nachgewiesen, der jedoch nicht mit dem ‚unzuverlässigen Erzähler‘ zu verwechseln ist, obwohl die Unzuverlässigkeit des Erzählers aus Naivität resultieren kann.59 Der naive Sprachverwender ist immer eine Figur der Diegese, die auch der homodiegetische Erzähler sein kann. In Jonathan Safran Foers Everything is Illuminated und Dariusz Muszers Die Freiheit riecht nach Vanille sind die sprachlichen Missverständnisse der Figuren auf eine mangelnde Sprachkenntnis zurückzuführen. Der Protagonist bei Jan Koneffke ist ein Kind, das sprachliche Konventionen, idiomatische Wendungen und vor allem ideologiespezifische Ausdrücke gerade erst erlernt. Thomas Hürlimanns jugendlicher Protagonist wird mit dem lokalspezifischen Code konfrontiert, mit dem die Themen ‚Judentum‘ und ‚Sexualität‘ verschlüsselt sind. So haben sie alle eine ‚Sprachbarriere‘ gemein; sie verstehen Begriffe und Wendungen nicht auf Anhieb. Ihre dadurch häufigsten sprachlichen Auffälligkeiten lassen sich grob als materialisierte (tote) Metaphern oder realisierte idiomatische Wendungen bestimmen. George Lakoff und Mark Turner isolieren in ihrem Buch More Than Cool Reason unterschiedliche Modi, die bei der Schöpfung kreativer linguistischer

57 N. Hortzitz: Die Sprache der Judenfeindschaft in der frühen Neuzeit, S. 466. 58 Im Zusammenhang mit dieser Tatsache wird in der Antisemitismusforschung die Diskussion geführt, inwieweit nun tatsächlich die Rede von einem ‚neuen‘ Antisemitismus sein kann, da die bekannten Inhalte an neue Situationen angepasst werden. Vgl. dazu M. Schwarz-Friesel/E. Friesel/J. Reinharz: „Aktueller Antisemitismus als ein Phänomen der Mitte – Zur Brisanz des Themas und der Marginalisierung des Problems“, in: dies. (Hgg.), Aktueller Antisemitismus (2010), S. 1-14, hier S. 2 f. 59 Vgl. William Riggan: Picaros, Madmen, Naifs and Clowns: the Unreliable FirstPerson Narrator. Oklahoma: Univ. of Oklahoma Press 1981.

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Metaphern zum Tragen kommen. Lakoff und Turner bestimmen auf der Grundlage ihrer Lyrikanalyse folgende vier Modi: „Extending“, „Elaborating“, „Questioning“ sowie „Composing“.60 Die kreative Metapher ist dabei nicht nur als Sprachspiel oder Ornament zu verstehen – vielmehr besitzt sie einen sprach- und erkenntniskritischen Impetus: „Going beyond normal use of a conventional metaphor to point out, and call into question, the boundaries of our everyday metaphorical understandings of important concepts.“61 In den hier untersuchten Romanen lassen sich zwei der vier Modi ausmachen. Die Erweiterung (Extending) der Metapher wird in Paul Schatz im Uhrenkasten geradezu mustergültig betrieben. Pauls kindliche Phantasie führt ihm die unbedacht formulierten Ideen und Metaphern der Erwachsenen bildlich vor Augen. Die Metaphern, politischen Ideen oder umgangssprachlichen Wendungen werden in diesen Phantasiebildern realisiert und zeigen sich dort in ihrer Skurrilität. So eröffnet die metaphorische Bezeichnung des „Herzensbrechers“ dem Kind eine Bilderwelt, in der sein Vater sich nachts „maskiert und in einem schwarzen Mantel […] auf Katzensohlen an fremde Betten“ stiehlt, „zierlichstes Werkzeug aus seinem Fledermausmantel“ holt, die Brustkästen aufstemmt, „um sich ein Herz zu holen“ und es zu zerbrechen. 62 Dieses Bild wird erweitert: Der Vater sitzt nun auf dem Boden und versucht das Herz zu reparieren.63 Dieses Gegenbild bricht das ursprüngliche Bild auf. Die tote Metapher wird zunächst materialisiert und anschließend erweitert, sodass ihre Metaphorizität exponiert wird. Die Materialisierung der Metaphern, zu deren Beispielen auch Dariusz Muszers Titel „Die Freiheit riecht nach Vanille“ gezählt werden kann, evoziert einen Irritationseffekt, indem sie den üblichen Gebrauch von Metaphern gewissermaßen konterkariert. Wurde die Metapher ehemals als devianter Sprachgebrauch oder reine Ornamentik betrachtet, so wird dies in dem Beispiel implizit negiert, da der Leser nicht mehr ad hoc erkennt, was metaphorischer und was wörtlicher Ausdruck ist. So verweist der metaphorisch anmutende Titel bei Muszer auf die tatsächliche Vorliebe des Protagonisten für Vanillepudding64 und auf die Tatsache, dass der erste Duft, den er in Deutschland wahrnimmt, eben Vanille ist. Am Bahnsteig riecht er ihn und stellt fest, „[d]raußen merkte ich sofort, wonach die

60 G. Lakoff/M. Turner: More than Cool Reason, S. 67 ff. 61 Ebd., S. 69. 62 PSU, S.11 f. 63 Ebd., 148. Vgl. Kapitel 2.1.1. 64 Vgl. FV, S. 61.

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Freiheit roch. Sie roch nach Vanille.“65 Daneben dienen sprachliche Missverständnisse zuweilen der Situationskomik, bilden jedoch immer ein Irritationsmoment. Bei Muszer oder Foer stehen diese Momente, die durch sprachliche Fauxpas entstehen, in keinem direkten Zusammenhang mit einer Auseinandersetzung mit antisemitischen Stereotypen.66 Neben diesen punktuell gestreuten Sprachirritationen gibt es auch Fälle, in denen das Sprachspiel den Roman durchdringt und im Zusammenhang mit der jüdischen Thematik steht. So verselbstständigt sich in Thomas Hürlimanns Fräulein Stark der abgelegte Nachname der Familie „Katz“, indem er zunächst an sein tierisches Signifikat rückgekoppelt und dieses anschließend metaphorisch gebraucht wird, wenn vom „Geschlecht der Katzen“67 die Rede ist, vom „Katzenschwanz“68, oder der Ausdruck als Eigenschaft, das „Katzenhafte“69, verwendet wird. „Katz“ ist als Signifikant für den Onkel eine Chiffre für zwei der Themen, die in der katholischen Nachkriegsschweiz tabuisiert werden: Juden und Sexualität. Diese Chiffre verwenden alle aus der Umgebung des Onkels, doch nur der junge Neffe erweitert sie metaphorisch. Die Figur stellt auf diese Weise unbewusst, doch für den Leser offenkundig, die eingebürgerte Verwendung des abgelegten Namens in Frage und sensibilisiert für ihre pejorative Konnotation. Es wird auf die chiffreartige Verwendung eines Namens hingewiesen und dank der unbedarften Reflexion durch den Protagonisten werden ihre Grenzen offenbart. Die Materialisierung des Signifikats trägt dazu bei, die selbstverständliche, automatisierte Verwendung des Begriffes, wie sie die Figuren in der Umgebung des Onkels pflegen, zu entstellen und sie ihrer Normalität zu berauben. In dem Kontext ist dies ein entscheidender Schritt zur Demontage des Konzepts, denn die Chiffre lebt von ihrer Normalität in doppelter Hinsicht: Zum einen gehört ihr Gebrauch offensichtlich zum Alltagssprechen über den Onkel, und zum anderen wirkt sie als Signifikant für ihn und gleichzeitig für das Judentum so selbstverständlich, dass niemand den impliziten Inhalt kritisch zu betrachten vermag. Auch bei Koneffke bezieht sich die Materialisierung und Erweiterung der Metapher auf eine jüdische Figur, den Vater, der als Herzensbrecher tituliert wird. Wie im Analysekapitel zum Roman bereits erörtert wurde, basiert dieser Vorwurf auf dem Stereotyp des hypersexuellen Juden. Die Metapher des Herzensbrechers verschlüsselt chiffreartig dieses sexuell aufgeladene Bild. Die Ma-

65 Ebd. S. 34. 66 Vgl. bspw. FV, S. 49 oder EI, S. 32. 67 FS, S. 36. 68 Ebd., S. 138. 69 Ebd., S. 84.

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terialisierung der Metapher durch das Kind bietet einen neuen Blick: In Pauls Version sieht man einen comichaft skizzierten Dieb mit langem Mantel und Maske, der mehr aus Tollpatschigkeit als Bosheit das Herz zerbricht. Dieses Bild befreit die Metapher aus dem rassistischen Kontext, indem sie von Pauls Familie verwendet wird. In der Erweiterung liegt eine für diesen Kontext nicht kalkulierte Tätigkeit, in deren Zuge das Herz repariert wird. So wird die Metapher des Herzensbrechers, die im Zusammenhang mit den übrigen antisemitischen Äußerungen des Großvaters und der Organismusmetapher zu einer rassistischen Chiffre umgedeutet wird, in einer unschuldigen Deutungsvariante vorgelegt. Auch hier wird also die zur Normalität gewordene Verwendung der Metapher demontiert. Damit wird ein wichtiger Mechanismus des Antisemitismus exponiert, nämlich die Verwendung bestimmter pejorativer Begriffe im Bezug auf Juden derart Normalität werden zu lassen, dass die Verbindung zwischen Signifikat und Siginifikant natürlich, normal und nicht konstruiert wirkt. Es lässt sich eine Ähnlichkeit in der Funktion der sprachlichen Irritationen, die durch die materialisierten/realisierten Metaphern hervorgerufen werden, und des ‚unzuverlässigen Erzählers‘ feststellen. Beide erzeugen Inkohärenzen in der Textwelt und haben eine kommunikative Funktion. Im Falle des sogenannten ‚naiven Sprechers‘ ist die Funktion deutlicher darauf gerichtet, Allgemeinplätze durch ihr naives Zitieren zu hinterfragen. Der Träger des ‚naiven Sprechens‘ ist nicht beabsichtigt unzuverlässig – er ist ein Fremder und als Fremder bietet er einen unbefangenen Blick auf konsensuelle Denkmuster, Sprach- und Verhaltensweisen. Ein solcher Blick des Fremden ist besonders im Hinblick auf zu Stereotypen verfestigte Denkschemata ein kritisches Instrument, mit dem die Normalität dieser Denknormen hinterfragt werden kann. In diesem Zusammenhang erfährt der Fremde eine konnotative Umwertung, er ist kein Eindringling oder Störfaktor, sondern ein notwendiger Teil einer sich selbst reflektierenden Gesellschaft. 3.3.3

Groteske

In allen untersuchten Romanen lassen sich groteske Elemente nachweisen, deren Funktion und Gewichtung jedoch unterschiedlich gestaltet sind, wobei eine weitläufige Definition des Grotesken zugrundegelegt wird. Wie die in diesem Kapitel analysierten Formen der Ironie wird auch das Groteske als eine Kommunikationshandlung begriffen,70 die als textinterne Handlungsaufforderung an den Leser

70 Vgl. Norbert Franz: Groteske Strukturen in der Prosa Zamjatins: syntaktische, semantische und pragmatische Aspekte. München: Sagner 1980, S. 32.

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gedeutet werden kann.71 Die Dechiffrierungsleistung des Lesers geschieht vor dem Hintergrund seiner sozio-kulturellen Prägung.72 Auch hier erfolgt also der kognitive Akt der Naturalisierung,73 der im Kapitel zum unzuverlässigen Erzählen ausgeführt wurde. Inhaltlich basiert das Groteske auf der Vermischung von heterogenen Elementen und dem daraus entstehenden Kontrast. Darunter lassen sich klassische Formen des Grotesken fassen, in denen konkrete Elemente des Menschlichen und Tierischen vermengt werden, Belebung von Materiellem, Vermenschlichung von Tierischem sowie Verdinglichungen von Lebendigem – folglich alle Formen der Metamorphose – stattfinden. Daneben kann sich das Groteske auch in Zuständen des Wahnsinns ausdrücken oder sich in absurden Welten oder Normenwidrigkeiten manifestieren. Dies sind nur wenige Möglichkeiten von Konfigurationen des Grotesken, die jedoch auf ein grundsätzliches Motiv dieser Gestaltung verweisen: die Paradoxie, die sich nach Kayser als „Spiel mit dem Absurden“74 verstehen lässt oder auch als eine „Koinzidenz von Gegensätzlichem“75. Die Funktion, die dem Grotesken dabei zukommt, geht darüber hinaus, das „Dämonische in der Welt zu bannen“76 oder das Abbild von „realen, deformierten Verhältnissen“77 zu sein. Vielmehr leistet sie eine „Zersetzung der mental geformten Wirklichkeit“78 und besitzt damit die Macht, genormte und automatisierte Denkweisen zu hinterfragen.79 Diese für den hier zu verfolgenden Zweck gestraffte Zusammenfassung dessen, was unter Strukturen, Motive und Funktionen des Grotesken zu fassen ist, soll im Folgenden an den konkreten literarischen Beispielen auf ihre Funktion als Strategie zur Demontage jüdischer Stereotype und antisemitischer Denkweisen hin untersucht werden.

71 Vgl. ebd., S. 33. 72 Vgl. ebd. 73 Vgl. A. Nünning: Unreliable Narration zur Einführung, S. 25. Vgl. hierzu die Erläuterung zu Beginn des Kapitels 3.1.1. 74 Wolfgang Kayser: Das Groteske. Seine Gestaltung in Malerei und Dichtung. Oldenburg/Hamburg: Stalling 1957, S. 202. 75 Manfred Schumacher: Das Groteske und seine Gestaltung in der Gothic Novel. Untersuchungen zu Struktur und Funktion einer ästhetischen Kategorie. Frankfurt a. M. et al: Lang 1990, S. 141. 76 W. Kayser: Das Groteske, S. 202. 77 Vgl. Wolfgang Jansen: Das Groteske in der deutschen Literatur der Spätaufklärung. Ein Versuch über das Erzählwerk Johann Carl Wetzels. Bonn: Bouvier 1980, S. 80. 78 M. Schumacher: Das Groteske und seine Gestaltung in der Gothic Novel, S. 121. 79 Vgl. ebd., S. 120.

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In zwei der sechs Romane existiert eine Parallele, was die Objekte des Grotesken betrifft. Sowohl in Jan Koneffkes Paul Schatz im Uhrenkasten als auch in Michael Chabons The Yiddish Policemen’s Union wird ein Bösewicht, eine mächtige und gefährliche Figur, mit einem grotesk-lächerlichen Element ausgestattet. Im Traum, der nach Kayser als charakteristische Schaffenshaltung des Grotesken gilt, erscheint Paul Schatz ein verzerrter Hitler.80 In Pauls Traum werden die Aussagen seines Großvaters, Hitler sei ein jüdisches Produkt, in einer Schlafwirklichkeit realisiert, wo er als beschnittener Homunculus auftaucht.81 Der künstlich geschaffene Mensch, wie der Automat eine groteske Figur,82 erscheint hier in einer verstärkt absurden Vorstellung, wenn in ihm Elemente zusammenfinden, die in der Textrealität in einer binären Opposition zueinander entworfen werden. Die unterwürfige Haltung dieser als Monster in die Geschichte eingegangenen Figur ist nicht nur eine Verschmelzung der – in der antisemitischen Logik – antagonistischen Begriffe des Semitischen und des Arischen, sondern auch eine Komposition zweier gegensätzlicher Aspekte des „Erhabenen und des Lächerlichen“83, wobei Erhabenheit hier auf das Ausmaß der Gräueltaten der historischen Figur und ihre Bedeutung in der Geschichte zielt und ohne eine positive Konnotation zu verstehen ist. Ähnlich ist die Wirkung der als Pizzaboten agierenden Gestapomänner in Mariusz Sieniewiczs Jüdinnen bedienen wir nicht.84 Auch hier erweckt das textimmanente Moment der Komik ein Unbehagen, da es um das Wissen um die katastrophale Rolle im historischen Kontext ergänzt wird. Ganz ähnlich wird mit der Figur des Verbover Rabbis in Michael Chabons The Yiddish Policemen’s Union verfahren. Der Herrscher über die jüdische Enklave, der alle Fäden in der Hand zu halten scheint, wird als ein Teigklumpen geschildert, den kleine Kinder geformt haben.85 Der Effekt dieser Vorstellung wird über die mentale Zusammenführung der Bereiche des Menschlichen und des Dinglichen erreicht. Dadurch wirkt die Figur ihrer menschlichen Form beraubt und scheint sich in ihrem Körperfett wörtlich zu verlieren. Dieselbe Struktur der Zusammenführung von Dinglichem und Menschlichem liegt auch einem Motiv in Jonathan Safran Foers Everything is Illuminated zugrunde. Hier findet eine Vermischung der organischen und anorganischen Elemente auf der Ebene

80 Vgl. W. Kayser: Das Groteske, S. 193. 81 PSU, S. 34. Vgl. Kapitel 2.1.1. 82 Vgl. W. Kayser: Das Groteske, S. 213. 83 M. Schumacher: Das Groteske und seine Gestaltung in der Gothic Novel, S. 141f. 84 Vgl. ZO, S. 239. 85 YPU, S. 135.

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der Textwirklichkeit statt, wenn der Kolker, der Ehemann Brods, einen Arbeitsunfall erleidet und infolge dessen mit einem Sägeblatt im Kopf fortleben muss. Dieser Umstand führt nicht nur zu zahlreichen Einschränkungen und ihrerseits absurden Entwicklungen des Ehelebens, sondern auch dazu, dass er nach seinem Tode als Bronzestatue auf dem Marktplatz aufgestellt wird und dank des Sägeblattes in seinem Kopf als Sonnenuhr fungiert. Die Verschmelzung des Menschen mit einer Maschine führt zu ihrer Vergegenständlichung und Verewigung. Bevor auf die Funktion der grotesken Elemente eingegangen wird, welche durch die „Koinzidenz des Gegensätzlichen“ hervorgerufen wird, soll eine zweite Gruppe vorgestellt werden, in der das Groteske nicht an konkreten Motiven oder gar Figuren festgemacht werden kann, sondern sich vielmehr in den „Schaffenshaltungen“ Traum und Wahnsinn äußert. Besonders in Mariusz Sieniewiczs Jüdinnen bedienen wir nicht herrscht eine Atmosphäre vor, die sich durch einen Oneirismus auszeichnet, der in der letzten Erzählung mit der Aufforderung „Wach auf!“ explizit gemacht wird. In den Traumwelten tauchen körperlich deviante Gestalten mit übergroßen Händen oder Köpfen, mit verstümmelten Körpern, sprechende Tiere oder Verrückte auf. Hinzu kommen die Maschinenmetaphern, mit denen die automatisiert handelnden Menschen und unmenschlich funktionierende Gesellschaften beschrieben werden. Bemerkenswert ist daran, dass sich in diese Reihe grotesker Figuren die titelgebende Jüdin reiht, obwohl sie in die obige Reihung keineswegs passt, da sie eben keinerlei groteske Züge trägt und ihre dortige Präsenz den Projektionscharakter von wertenden Zuschreibungen betont. Auch in Dariusz Muszers Die Freiheit riecht nach Vanille werden groteske Elemente in eine Textwelt eingebaut, in der (Tag-)Träume und Wahnvorstellungen einen wesentlichen Bestandteil der Handlung ausmachen. Neben Engelsmenschen und Außerirdischen gibt es auch Momente, in denen das Groteske eine ganz klassische, burleske und ins Fäkale reichende Form annimmt.86 Die Traum- und Wahnwelten, in denen sich der Protagonist bewegt, sind Kontrapunkte zu einer konventionellen Auswanderungsgeschichte. In ihnen finden Normenverletzungen der Moral und der Wahrnehmung statt. In Thomas Hürlimanns Fräulein Stark ist es vor allem das wiederkehrende Motiv der verselbstständigten Nase, die nicht nur einen eigenen Willen zu haben scheint, dem der Protagonist machtlos unterworfen ist, sondern auch eine Art eigener Genealogie besitzt und Assoziationen an Gogols absurde Kurzgeschichte Die Nase weckt. Die Nase, die bei Hürlimann riechen will,87 „zwischen den Au-

86 FV, S. 94. 87 Vgl. FS, S. 33.

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gen […] [wie] ein böser Finger hervor[wächst]“88 oder „an den Mann“89 gebracht werden will, erweckt den Eindruck, sie wandere durch die Generationen. Dabei ist sie an ein weiteres belebtes Element gekoppelt: den Namen „Katz“, der wiederholt als Chiffre in Form eines realisierten Signifikanten, der ‚Katze‘, auftritt. In der Verbindung beider sich verselbstständigender Objekte wird eine Gesellschaftskritik formuliert. Dem Grotesken kann zweierlei Funktion zugewiesen werden. Zum einen erscheint es als „spielerische oder kapriziöse Groteske“90 mit einem gewissermaßen ornamentalen Charakter. Daneben entsteht das Groteske auch durch die Verbindung von komischen und tragischen Elementen, die eine „unaufhebbare Spannung“91 erzeugen. Diese zweite Gruppe vermag stärker als die erste die Mischung aus Befreiung und Angst zu erzeugen,92 die den unheimlichen Charakter des Grotesken bestimmt. Dieser letztgenannten Gruppe lassen sich die Romane von Chabon, Koneffke, Hürlimann und einige Motive bei Sieniewicz zuordnen, in denen sich eine direkte Verbindung des Grotesken zur Thematik des Antisemitismus nachweisen lässt. Hier zeigt sich auch die Funktion des Grotesken als Mittel zur Demontage der Stereotype besonders deutlich. Die Diegese der Romane ist derart gestaltet, dass die Reflexion der Antisemitismusthematik nicht auf den ersten Blick ersichtlich wird, was die Antisemitismusvorwürfe beweisen, mit denen sich sowohl Hürlimann als auch Chabon und – im geringeren Maße – auch Koneffke konfrontiert sahen. Die Stereotype oder stereotypen Eigenschaften stören die Diegese nicht, im Gegenteil, sie tragen zu ihrer Kohärenz bei. Sie erscheinen als natürliche Konsequenzen der einzelnen konzeptuellen Metaphern, die die Figurengestaltung oder den Plot dominieren. Gerade dieses unauffällige Einfügen von aus heutiger Sicht ungeheuren Gedankenbildern in die Diegese kann Beklommenheit auslösen. Kurz soll rekapituliert werden, wie sich das Tragikomische in den drei Romanen zusammensetzt. In Michael Chabons The Yiddish Policemen’s Union wird die Figur des Rabbi Shpilman als ein groteskes Bild dargestellt. Die lächerliche Erscheinung der Figur widerspricht ihrer Macht. Doch das eigentlich tragi-

88 Ebd., S. 62. 89 Ebd. 90 Philip Thomson: „Funktionen des Grotesken“, in: Otto F. Best (Hg.), Das Groteske in der Dichtung. Darmstadt: Wiss. Buchges 1980, S. 103-115, hier S. 108. 91 Ebd. S. 105. 92 Vgl. Michael Steig: „Zur Definition des Grotesken: Versuch einer Synthese“, in: O. F. Best, Das Groteske in der Dichtung, S. 69-84, hier S. 69 ff.

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sche Moment ist nicht das Wissen um die Verbrechen dieser Figur, sondern um ihre Herkunft, um die nahezu vollständige Auslöschung ihrer Gemeinde und Familie im Holocaust. Die Darstellung der Figur als gefährlich und lächerlich zugleich wird um ein tragisches Element angereichert, dem deutliche Berührungspunkte zu den Thematiken der Shoah und des Antisemitismus anhaften. Ganz ähnlich verhält es sich mit der Hitlerphantasie des Protagonisten bei Jan Koneffke. Die lächerliche Vorstellung des um Gnade bettelnden Hitler geht einher mit dem Wissen um die Monstrosität der Verbrechen, deren er schuldig ist. Letztendlich ist dieses Zusammentreffen von Lächerlichem und Tragischem auch mit der Struktur in Fräulein Stark vergleichbar, denn auch hier sind die beiden Elemente, die sich verselbstständigen und belebt werden – die Nase und der Name – als eindeutige Marker des Jüdischen bekannt und von der antisemitischen Propaganda negativ besetzt. So wird auch bei Hürlimann im Grotesken eine Verbindung zwischen einem komischen Element und dem Antisemitismus hergestellt, weshalb mit Kayser konstatiert werden kann, dass das Groteske hier in der Tat eine Funktion als „Gestaltung des ‚Es‘“93 besitze. Die Bilder und Schrecken des Antisemitismus und der Judenverfolgung, die bis heute politische, gesellschaftliche, sogar ästhetische und Identitätsdiskurse beherrschen, werden in diesen drei Romanen in lächerliche Figuren oder Elemente gebannt, dadurch jedoch keineswegs selbst der Lächerlichkeit preisgegeben. Vielmehr verhelfen sie, Brüche in der kohärent wirkenden Diegese zu erzeugen, wodurch genormte „Denk- und Betrachtungsweisen hinterfragt“94 werden. Diese Aufgabe kommt auch dem Grotesken in den Beispielen der ersten Gruppe zu, die sich aus den Romanen Muszers, Foers und Sieniewiczs zusammensetzt und in der die grotesken Elemente einen eher spielerischen Charakter besitzen, jedoch auch die Funktion haben, die Kohärenz der Textwelt zu hinterfragen. Ihre Funktion als Strategie lässt sich folglich analog zu der materialisierter Metaphern begreifen. Dies wird umso deutlicher, als die automatisierten Denk- und Betrachtungsweisen als Formen von Wirklichkeitsbildung oft selbstverständlich von ähnlichen stereotypen antisemitischen Vorstellungen ausgehen, wie sie in den Romanen dargeboten werden. Phantasmen jüdischer Andersartigkeit oder jüdischer Macht, die bis heute in philo- oder antisemitischer Besetzung durch Presse, Literatur oder Politik kursieren,95 werden in den Romanen mit grotesken Zügen versehen und ihrer-

93 W. Kayser: Das Groteske, S. 199. 94 M. Schumacher: Das Groteske und seine Gestaltung in der Gothic Novel, S. 120. 95 Vgl. hierzu neben dem bereits erwähnten Tagungsband von M. Schwarz-Friesel/E. Friesel/J. Reinharz: Aktueller Antisemitismus (2010) unter vielen anderen Belegen zu der Persistenz des Antisemitismus in der Bevölkerung und in politischen Diskursen

S TRATEGIEN DER S TEREOTYPENAUFLÖSUNG

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seits der Lächerlichkeit preisgegeben, einem Lachen, das jedoch mit dem Wissen um die Tragweite der Thematik unbehaglich bleiben muss.

3.4

T EXTSTRUKTUREN

ALS

S TRATEGIEN

Als eines der deutlichsten Muster, an dem literarischer Antisemitismus festgemacht werden kann, lässt sich ein Manichäismus ausmachen, der sich vor allem in der bürgerlichen Literatur des 19. Jahrhunderts in chiastisch angeordneten Lebensläufen von Juden und Nichtjuden manifestiert.96 Im folgenden Abschnitt soll gezeigt werden, wie dieses Muster aufgegriffen und strukturell verhandelt wird. Neben dem manichäischen Muster wird auch das verwandte Muster eines strukturellen Rollenwechsels, die Umkehr von Tätern und Opfern analysiert. Letztlich wird die Rolle der Kon- und Intertextualität als Strategie in einem neu reflektierten Umgang mit der jüdischen Thematik herausgearbeitet. 3.4.1

Manichäische Muster

Martin Gubser beschreibt die Konstruktion von manichäischen Grundmustern als einen der klassischen Indikatoren für die Präsenz von literarischem Antisemitismus auf der strukturellen Ebene und weist seine Gegenwart bei Autoren des 19. Jahrhunderts wie Gustav Freytag, Wilhelm Raabe oder Carl Spindler nach.97 Auch Hans Mayer weist eine „Kontrapunktik der Biographien“98 als beliebtes Mittel der bürgerlichen Schriftsteller aus, und Ruth Klüger beschreibt die chiastische Struktur in den Romanen des beginnenden 20. Jahrhunderts.99 Freilich

auch Ph. Chesler: The New Anti-Semitism, W. Bergmann/R. Erb: Antisemitismus in der politischen Kultur nach 1945, W. Bergmann: „Nationalismus und Antisemitismus im vereinigten Deutschland“, in: P. Alter/C. E. Bärsch/P. Berghoff, Die Konstruktion der Nation gegen die Juden (1999), S. 137-155, L. Rensmann: Demokratie und Judenbild, Beata Kosmala: „Das Bild der Juden nach der Shoa: ‚Bewegliche Vorurteile‘ im polnischen Diskurs“, in: Ch. v. Braun/E.-M. Ziege, Das bewegliche Vorurteil (2004), S. 153-174; Ireneusz Krzeminski: Czy Polacy są antysemitami?, ders.: Antysemityzm w Polsce i na Ukrainie. Report z badaĔ. Warszawa: Scholar 2004. 96 Vgl. M. Gubser: Literarischer Antisemitismus, S. 86 ff. 97 Vgl. ebd. 98 H. Mayer: Außenseiter, S. 381. 99 Ruth Klüger zeigt dies an dem überaus populären Trivialroman Am grünen Strand der Spree (1955) von Hans Scholz. Der Beschreibung von Gräueltaten, die Juden an Ju-

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kann dieses Muster „der parallelen Lebensläufe zweier Protagonisten“100, das in der oben geschilderten Forschung als literarisches Muster zur Diffamierung von Juden vorgestellt wurde und das eine „Antithese eines deutsch-‚arischen‘ und jüdischen Daseins“101 etabliert, auch in philosemitischer Absicht verwendet werden, wie dies der polnische Schriftsteller Andrzej Korybut-Daszkiewicz in seinem Roman Joresz konstruiert.102 Die Antithetik der weiblichen Figuren wird ins Klischeehafte stilisiert: Die jüdische Protagonistin ist gütig, tolerant und leidensfähig, während die polnische Katholikin dogmatisch, übellaunig und herrisch ist. Die Kontrapunktik wird soweit betrieben, dass beide Frauen gleichzeitig schwanger werden, im selben Krankenzimmer liegen und gleichzeitig gebären. Auch die philosemitische Konstruktion ist mit Klischees beladen und etabliert einen Gegensatz Jude–Nichtjude mit veränderten Vorzeichen. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass die im Analysekorpus der Arbeit untersuchten Romane die kontrapunktische Struktur übernehmen und sie demontieren. Dies ist keine neue Strategie in der Demontage von Stereotypen, sie lässt sich beispielsweise explizit in Edgar Hilsenraths 1977 (in den USA bereits 1971) erschienenem Roman Der Nazi und der Friseur nachweisen. Die zu erwartende Identität der stereotyp überzeichneten Charaktere wird darin verkehrt: Der strahlend schöne ‚Arier‘ erweist sich als Jude, während der mit den antisemitischen Attributen „schwarze Haare, Froschaugen, eine Hakennase, wulstige Lippen und schlechte Zähne“103 ausgestattete Max Schulz ein Deutscher ist, der später aufgrund seines Aussehens erfolgreich die Rolle seines Freundes Itzig einnimmt. Ein auf körperlichen Klischees basierender Chiasmus von Ariern und Juden wird vor allem in Jan Koneffkes Paul Schatz im Uhrenkasten aufgenommen und demontiert. Paul nimmt seinen Vater als körperlich deviant wahr und spricht ihm Merkmale zu, die einem nationalsozialistischen Propagandaflugblatt entnommen zu sein scheinen: „Spinnenfinger“, „behaarte Arme“, „feuchte Lippen“104 – fehlt nur die obligatorische Nase. Diese werden an entsprechende Charakterzüge gekoppelt, die sich in dieser körperlichen Erscheinung widerspiegeln: Schwäche und Verschlagenheit. Die Demontage findet durch die Entlarvung der perspektivischen Gebundenheit dieser optischen Wahrnehmung statt, wenn ein UFA-

den begehen, steht ein deutscher Retter gegenüber, ein ‚scheener Herr aus Daitschland‘. Vgl. R. Klüger: Katastrophen, S. 11. 100 M. Gubser: Literarischer Antisemitismus, S. 87. 101 H. Mayer: Außenseiter, S. 385. 102 Vgl. Andrzej Korybut-Daszkiewicz: Joresz. Warszawa: Muza 2007. 103 Edgar Hilsenrath: Der Nazi und der Friseur. München: Piper 1998, S. 24. 104 PSU, S. 31.

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Filmteam Joseph Schatz als Statisten für die Rolle eines SA-Mannes erwählt. Hier wird deutlich, dass Paul gewisse Körperteile im Sinne der Propaganda zum Inbegriff des Jüdischen stilisiert und andere, die als arisch geltenden graublauen Augen und blonden Haare, ausblendet. Diese sich körperlich manifestierende Kontrapunktik, die Paul mit der Erwähnung seines „arischen Piephahns“ immer wieder belebt, ist ein Derivat der konzeptuellen Metapher GESELLSCHAFT IST EIN ORGANISMUS. Der durch die Metapher eröffnete frame KÖRPER wird im Roman wiederholt in der antithetischen Struktur thematisiert. Die Metapher gibt jedoch nicht nur den frame vor, sondern auch eine axiologische Struktur, derzufolge das Gesunde positiv und das Kranke negativ zu werten ist. Die Arbitrarität dieser Besetzung wird durch die Anpassung der Metapher an den politisch linken Kontext verdeutlicht, in dem sie von Doktor Schmidt zitiert wird. In diesem Kontext sind die Kommunisten und die Amerikaner als Pars pro Toto des Kapitalismus die neu gewählten Pole. Ein solches Derivat der konzeptuellen Metapher ist auch die Schwarz-WeißAufteilung in Michael Chabons The Yiddish Policemen’s Union. Hier erreicht die Kontrapunktik durch die Verwendung von Helligkeits- und Dunkelheitsmetaphern sowie Attributen manichäische Ausmaße. Die Schachmetapher eröffnet diese Antithetik, die auch hier nach dem bekannten Muster besetzt zu sein scheint. Die Beschreibung des Rabbis und seiner Sekte ist maßgeblich von der Farbe Schwarz beherrscht, während der Vertreter der christlichen Zionisten als leuchtende Apollonfigur erscheint. Bei Chabon findet eine Loslösung der Farbmarkierungen von der moralischen Disposition statt. Beide sind Ganoven, und die Figur des christlichen Zionisten erweist sich dabei als die weitaus üblere. Es findet eine Defragmentierung des Klischees statt, indem die Figur des christlichen ‚Saubermannes‘ nicht nur negativ besetzt wird, sondern Eigenschaften zugeschrieben bekommt, die eigentlich dem schwarzen Part zugesprochen werden: Er ist mitverantwortlich für eine weltumspannende Intrige, seine Organisation zieht Fäden im Hintergrund und mordet skrupellos, um eine neue Weltordnung zu etablieren. Diese Eigenschaften, hinter denen zunächst der mit ebenfalls genügend krimineller Energie ausgestattete Verbover Rabbi vermutet wird, werden von dem Klischee des kriminellen Juden abgekoppelt und auf die Figur des christlichen Zionisten übertragen. Zu bemerken ist hier jedoch, dass keine philosemitisch geprägte Umkehr der Rollen zu verzeichnen ist. Der Rabbi entwickelt sich nicht zu einer unschuldigen, liebenswerten Figur. Entscheidend dabei ist, dass weder seine kriminellen Handlungen noch sein unsympathisches Auftreten als genuin jüdische Merkmale stigmatisiert werden.

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3.4.2

Opfer-Täter-Dichotomie

Eine weitere Struktur, die der kontrapunktischen ähnelt, lässt sich als Dichotomie von Opfern und Tätern beschreiben. Der Grund für die separate Behandlung dieses Schemas liegt darin, dass gerade nicht die Einhaltung, sondern die Umkehr dieser antithetischen Struktur ein verbreitetes Argumentationsmuster des Antisemitismus ist. Zumeist manifestiert sich diese Struktur im Vorwurf, Israel bediene sich in seiner Palästina-Politik nationalsozialistischer Praktiken.105 Prominent geworden sind diese Vorwürfe durch die Möllemann-Karsli-Affäre von 2002.106 Das Schema liegt auch einer Argumentationsstruktur zugrunde, die typisch für den sekundären Antisemitismus ist. In dieser Argumentationsweise wird versucht, die deutsche Schuld am Holocaust zu relativieren, indem eine angebliche jüdische Schuld am geschwächten deutschen nationalen Selbstbewusstsein heraufbeschworen wird. Diese Form der Schuld(vorwurfs)abwehr107 wurde im Zuge der Hohmann-Affäre108 von 2003 diskutiert. Die Täter-Opfer-Umkehr schlägt sich in Dariusz Muszers Die Freiheit riecht nach Vanille vor allem strukturell im Kriminalplot nieder. Die Thematik der deutschen Schuld und ihrer Verarbeitung wird hingegen deutlich verhandelt. Dies wird in der oben bereits umfassend zitierten Episode deutlich, in der Naletnik von der Polizei festgenommen und zunächst als Pole misshandelt wird. Als

105 Zur Verbreitung dieses Denkschemas vgl. T. Jaecker: Antisemitische Verschwörungstheorien, S. 116 ff und Jasmin Waibl-Stockner: „Die Juden sind unser Unglück“: antisemitische Verschwörungstheorien und ihre Verankerung in Politik und Gesellschaft. Wien et al: LIT 2009, S. 345 ff. 106 Die Möllemann-Affäre nahm ihren Ausgang, als Jürgen Möllemann dem Landtagsabgeordneten der Grünen, Jamal Karsli, anbot, in die Landtagsfraktion der FDP zu wechseln. Karsli hatte zuvor Israels Politik mit der NS-Politik verglichen und der Regierung Israels vorgeworfen, Trinkwasser zu vergiften, was starke Parallelen zum antijüdisch geprägten Vorwurf der Brunnenvergiftung aufwies. Vgl. hierzu L. Rensmann: Demokratie und Judenbild, S. 446 ff und W. Benz: Was ist Antisemitismus? München: Beck 2004, S. 146 ff. 107 Vgl. W. Bergmann: „‚Störenfriede der Erinnerung‘. Zum Schuldabwehr-Antisemitismus in Deutschland“, in: M. Bogdal/K. Holz/M. N. Lorenz, Literarischer Antisemitismus nach Auschwitz (2007), S. 13-36 oder L. Rensmann: Demokratie und Judenbild. 108 Am 3.10.2003 hielt der CDU-Bundestagsabgeordnete Martin Hohmann eine Rede zum Nationalfeiertag, in der er die Frage aufwarf, ob nicht Juden auch ein Tätervolk seien. Vgl. W. Benz: Was ist Antisemitismus?, S. 155 ff.

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er sich vor den Polizisten als Jude ausgibt, sind diese über ihr Verhalten bestürzt und fürchten die Konsequenzen, die es, sobald bekannt geworden, nach sich ziehen könnte. Die spezifisch deutsche Form der Schuldbewältigung wird polemisch aufgearbeitet, indem ihre einseitige Gebundenheit präsentiert wird: In Bezug auf Juden wird peinlich auf die Einhaltung der Political Correctness geachtet, während im Bezug auf andere Fremde Vorurteile und Abneigung an der Tagesordnung sind. Die konzeptuelle Metapher MORAL IST EIN WEG impliziert in Verbindung mit der Metapher DAS LEBEN IST EIN WEG eine Monokausalität vom Geburtsort als dem ursprünglichen Wegbeginn und der moralischen Fortentwicklung. Die letztgenannte konzeptuelle Metapher wird durch den Handlungszeitraum des Romans evoziert, der exakt das Leben des Protagonisten von seiner Geburt bis zu seinem Tod beschreibt, während die erstgenannte sich aus diesem Lebenslauf ergibt, der als ein ständiges Wanken zwischen moralisch normkonformem und deviantem Verhalten geschildert wird. Dabei wird wiederholt mit den Begriffen und Konzepten von Opfer und Täter gespielt. Bei der Geburt auf einem Opferstein fast das Opfer der eigenen Mutter werdend, wandelt sich der Protagonist zu einer moralisch fragwürdigen Figur. Seine Täterschaften sind jedoch nicht sicher, und auch seine Identität setzt sich aus Opfern und Tätern zusammen, die sich nicht nur an den Nationalitäten festmachen lässt, denen er angehört, sondern auch an den Lebensläufen seiner Vorfahren. Dieses Spiel, das Ungewisse der Identität, das Changieren zwischen den bipolaren Rollen ist eine Absage an Argumentationsweisen, die sich der MORAL IST EIN WEG-Metapher bedienen und von wesenhaften, unveränderlichen Charaktereigenschaften ausgehen. Diese Ungewissheit der Rollen begegnet dem Leser auch bei Jan Koneffke, wo der Großvater als zunächst positiv besetzte Figur demontiert wird, indem sich herausstellt, dass er Pauls Mutter in den Selbstmord trieb. Bei Michael Chabon wurde im vorigen Kapitel die Unbeständigkeit moralisch motivierter Wertungen und ihrer Rollenverteilung bereits beschrieben. Die Opfer-Täter-Umkehr, eine derzeit wichtige Argumentationsstruktur dessen, was als ein ‚neuer Antisemitismus‘ bezeichnet werden kann, wird durch ständige Rollenwechsel oder Rollenverschmelzung in den Romanen so weit betrieben, dass sie eine völlig andere Dimension erreicht als die durch die ursprüngliche Konstellation intendierte. Anstatt zu einer Verfestigung von Rollen und Identitäten zu führen, verdeutlicht sie vielmehr ihren fluktuierenden Charakter. Binäre Oppositionen, die eine Grundlage dieser Struktur bilden, können der Konstruktion und den Entwicklungen der Charaktere nicht gerecht werden.

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3.4.3

Kontextualisierung und Intertextualität

In Chabons The Yiddish Policemen’s Union und Muszers Die Freiheit riecht nach Vanille besteht ein deutlicher Kontrast zwischen Figurenrede und -gestaltung und deutlichen Anspielungen auf den Holocaust und das Leiden der Juden. Muszers Protagonist wird von seiner jüdischen Identität überrascht, und genauso überraschend sind für diesen Schurken die Reminiszenzen auf die jüdische Vergangenheit. Diese Reminiszenzen sind zum Teil relativ allgemein bleibende Bezüge, es werden jedoch auch ausdrücklich reale Ereignisse zitiert. Hier wird ein historischer Kontext aufgerufen, mit dessen Hilfe das kulturelle Wissen des Lesers aktiviert wird. Den Begriff des kulturellen Wissens definieren Ansgar Nünning und Birgit Neumann als „die Gesamtheit kollektiv geteilter Annahmen über die Wirklichkeit, d. h. über gesellschaftlich prävalente Themen, Werte, Normen, Selbst- und Fremdbilder.“109 Die historische Kontextualisierung eröffnet also eine ganze Reihe an Diskurselementen, die mit der Shoah in Verbindung gebracht werden: die historischen Fakten, die moralische Wertung, die Ursachen und Folgen. In Die Freiheit riecht nach Vanille wird der Diskurs der Judenvernichtung durch die Konfrontation Naletniks mit einer Überlebenden aufgerufen, die das Pogrom in Kielce 1946 miterlebt und dort ihren Vater verloren hat.110 Die Unwissenheit des Protagonisten lässt sich als eine Kritik an der polnischen Vergangenheitsbewältigung lesen: Die Schuld für das Pogrom wird in der Regel schlichtweg an die sowjetischen Besatzer weitergereicht, die Tat wird relativiert.111 Naletniks Reaktion auf die Offenbarung seiner Gesprächspartnerin steht im Gegensatz zur sonstigen Empathieunfähigkeit des Protagonisten. Nachdem Frau Singer erklärt, sie möchte nicht mehr über ihre Erlebnisse reden, konstatiert er: „Mir ging es genauso, denn heute hatte ich mich schon genug für die anderen geschämt.“112 Der Aufenthalt in der Wohnung von Frau Singer, die eine Nachba-

109 A. Nünning/B. Neumann: „Kulturelles Wissen und Intertextualität: Grundbegriffe und Forschungsansätze der Kontextualisierung von Literatur“, in: dies./Marion Gymnich (Hgg.), Kulturelles Wissen und Intertextualität. Theoriekonzeptionen und Fallstudien zur Kontextualisierung von Literatur. Trier: WVT 2006, S. 3-28, hier S. 6. 110 Vgl. FV, S. 143 f. 111 Zum Pogrom in Kielce 1946 und der polnischen Vergangenheitsbewältigung vgl. K. Kersten: Polacy, ĩydzi, komunizm und BoĪena Szaynok: Pogrom ĩydòw w Kielcach 4 lipca 1946 [Das Pogrom an den Juden in Kielce am 4 Juli 1946]. Warszawa: Bellona 1992. 112 FV, S. 144.

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rin von Naletniks verstorbenem Vater ist, ist eine Begegnung mit der jüdischen Leidensgeschichte: „Söhne und Töchter des ostjüdischen Volkes hingen über mir, und ihre Blicke drangen in meinen Kopf wie ein Gewissenswurm. […] Alte Menschen, Leichen, Leichen, nichts als Leichen.“113 Diese zwanghaft wirkenden Vorstellungen stehen im Kontrast zur sonstigen Selbstdarstellung der Figur. Die Kontextualisierung geschieht auch durch intertextuelle Bezüge, die als Motto jedem Kapitel vorstehen. Neben Beispielen der Weltliteratur von Shakespeare, Nabokov oder Bram Stoker lassen sich weniger bekannte Werke der Trivialliteratur, Serienzitate, Haikus, Bibelzitate, Märchen- und Legendenausschnitte entdecken. Dazwischen befinden sich judenfeindliche Bekundungen Luthers114 ebenso wie Zitate Scholem Alejchems, die Prophezeiung des Rabbi David Moshe von Czortkow.115 Die augenscheinlich beliebige Aufstellung verweist auf die Zugehörigkeit der jüdischen Themen und Autoren zur sogenannten westlichen Literatur und Kultur, aber auch auf die Persistenz judenfeindlicher Positionen in ihnen. Die historische Kontextualisierung sowie die intertextuellen Bezüge erzielen eine Zweiteilung der Botschaft: Die Verbrechen der Nationalsozialisten sind monströs und unvergleichlich, das Jüdische ist es nicht. Die Absicht der Normalisierung des Jüdischen führt nicht zu einer Nivellierung des Verbrechens. In den Beispielen wird keine „Sprache des Schweigens“ gesprochen, wie sie Ernestine Schlant angesichts des Umgangs mit dem Holocaust in der Nachkriegsliteratur konstatiert. Die beiden Momente der historischen Kontextualisierung und Intertextualität schaffen es, die oft übersehene Diskrepanz beider Phänomene herauszuarbeiten, die bis heute zu einer Stigmatisierung der Juden und der jüdischen Kultur philo- wie antisemitischer Prägung führt. Den Textstrukturen liegt in einer antisemitischen Verwendung ein Zweischritt zugrunde: Zunächst werden durch Kollektivierung Ihr- und Wir-Gruppen geschaffen, im zweiten Schritt wird die Ihr-Gruppe diffamiert und stigmatisiert, während die Wir-Gruppe aufgewertet wird. Die Demontage des Musters kann durch eine Übertragung von Attributen der Wir-Gruppe auf die Ihr-Gruppe oder durch eine semantische Umdeutung der Stigmatisierung erreicht werden. Die textstrukturellen Strategien werden folglich nicht schlichtweg verneint, sondern demontiert und auf diese Weise reflektiert. Im Ergebnis ist die Auseinandersetzung mit ihnen im unterschiedlichen Maße sichtbar: Während in einigen Texten eine solche Struktur bewusst konstruiert und anschließend dekonstruiert wird

113 Ebd., S. 143. 114 Vgl. ebd., S. 129. 115 Vgl. ebd., S. 111.

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(Koneffke), so ist der Schaffensvorgang in anderen Texten selbst nicht sichtbar, ergibt sich jedoch aus einer intratextuellen Betrachtung oder der intertextuellen Einordnung in das Gesamtwerk des Autors.

3.5

D AS M OTIV

ALS

S TRATEGIE

Auf der semantischen Ebene die Demontage jüdischer Stereotype voranzutreiben, erscheint als Möglichkeit produktiver Auseinandersetzung: Auf dieser Ebene sind die deutlichsten Codierungen anti- und philosemitischer Vorurteile zu finden, die sich besonders in der Figurengestaltung, deren äußerlichen Merkmalen und Attributen sowie der Charakterzeichnung manifestieren. Andererseits birgt die Arbeit auf dieser Ebene auch die Gefahr, zwar eine adäquate Figurenzeichnung zu erreichen, gleichzeitig aber neue Klischees zu produzieren. Das zeigt sich an den Werken der älteren Generation jüdisch-amerikanischer Schriftsteller, in denen einerseits eine durch die Innensicht gekennzeichnete Darstellung des jüdischen Lebens erfolgt, die Figuren plastisch und psychologisch ausgreift sind. Hier entstehen jedoch andererseits kulturbezogene Stereotype des amerikanisch-jüdischen Milieus, so beispielsweise die jüdische Frau betreffend: Jewish American Princess, Jewish Angry Woman, Jewish Mother oder auch Intellectual Jewish Woman116. Ihre Relevanz für Genderforschung geht zwar einer für die literarische Antisemitismusforschung voran, aus ihrer Popularität lässt sich jedoch die Problematik der figurenbezogenen Darstellung ersehen: Jede Figur hat im Falle eines Erfolges das Potenzial, ins Stereotyp zu entgleiten. Auf dieser Ebene können zwei Figuren ausgemacht werden, die zu einer Demontage von Stereotypen maßgeblich beitragen, von denen eine tatsächlich die Gefahr des Klischeehaften in sich birgt. Zudem hat sich ein Motiv heraus-

116 Zu den Stereotypen jüdischer Frauen vgl. beispielsweise: Riv-Ellen Prell: „Rage and Representation. Jewish Gender Stereotypes in American Culture“, in: Faye Ginsburg/Anna Lowenhaupt Tsing (Hgg.), Uncertain Terms: Negotiating Gender in American Culture. Boston: Beacon Press 1990, S. 248-264, Anna Petrov Bumble: „The Intellectual Jewish Woman vs. the JAP in the Works of American Jewish Women Writers“, in: Studies in American Jewish Literature 19 (2000), S. 26-37, Gladys Rothbell: „The Jewish Mother: Social Construction of a Popular Image“, in: Steven M. Cohen/Paula E. Hyman (Hgg.), The Jewish Family: Myths and Reality. New York: Holmes & Meier 1986, S. 118-128 oder Elvira Grözinger: „The Jewish Mother in der amerikanischen Literatur nach 1945“, in: B. Neumeier, Jüdische Literatur und Kultur in Großbritannien und den USA (1998), S. 141-158.

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kristallisiert, das in unterschiedlichen Erscheinungsformen anzutreffen ist, sich jedoch im weitesten Sinne als das Motiv der Verkleidung oder des Rollentausches beschreiben lässt. 3.5.1

Figuren

Aus der Gestaltung jüdischer Figuren folgende stereotype äußere Merkmale und Charaktereigenschaften lassen sich motivgeschichtlich bis ins Mittelalter verfolgen. Der nachhaltige Erfolg, mit dem sich solche einst eingeschriebenen Merkmale und Eigenschaften zu eigenständigen Figuren verdichten, beweist die Persistenz von Gestalten, die ihre Attribute schon in der Bezeichnung tragen: ‚Die schöne Jüdin‘, ‚Der edle Jude‘, ‚Der Wucherer/gierige Jude‘, ‚Der komische/lächerliche Jude‘ – diese Liste ließe sich weit fortführen.117 Im folgenden Abschnitt sollen zwei Figurentypen vorgestellt werden, die in sehr unterschiedlicher Weise einen Beitrag zur Demontage von Stereotypen leisten. Im ersten Fall des ‚naiven Sprechers‘ handelt es sich um eine Figur, deren Bedeutung vorwiegend in ihrer Funktion und weniger in ihrer Konstruktion liegt. Ihre Gestaltung erfolgt ausschließlich unter dem Aspekt der Naivität, aus der sich ihre Funktion als unschuldig-kritisches Organ ableitet. Die Funktion der zweiten Figur, des wehrhaften Juden, basiert dagegen auf ihrer Konstruktion. Diese erfolgt in bewusster Abgrenzung zu dem bekannten Stereotypenapparat, droht zuweilen selbst ins Klischee abzugleiten und schafft es dennoch, (vorläufig) keines zu werden. Der „naive Sprecher“ In den vorangegangenen Kapiteln wurde bereits ansatzweise eine Figur vorgestellt, die in der Regel eine erkenntniskritische Funktion besitzt: der naive Sprecher. Diese Figur ist als Charakter der Handlung oder als homodiegetischer Erzähler immer Teil der Diegese. Als Erzähler ist sie oft mit einem unzuverlässigen Erzähler deckungsgleich. Diese Deckungsgleichheit ergibt sich aus einer Unzuverlässigkeit, die aus der Naivität resultiert, welche durch das Alter oder den kulturellen Kontext der Figur begründet ist. Die Naivität des Sprechers offenbart sich hauptsächlich (jedoch nicht ausschließlich) in der unreflektierten Verwendung materialisierter Metaphern, die in der Rezeption zur Infragestellung von sprachlichen Allgemeinplätzen oder konsensuell normalisierten Sprach- und

117 Vgl. hierzu den Überblick über die Forschungsliteratur im Kapitel ‚Forschungsüberblick als Problemaufriss‘.

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Gesellschaftsbildern führt. Der naive Sprecher zeichnet sich folglich nicht nur durch einen unorthodoxen Zugang zur Sprache aus, sondern auch durch einen unkonventionellen Blick auf die gesellschaftliche Normalität. Dieser unkonventionelle Blick wird durch die Außenseiterstellung ermöglicht, die sich mit der Position des Paria bei Hannah Arendt vergleichen lässt. Während Arendt die Pariarolle paradigmatisch für ein reflexiv-kritisches Judentum sieht, sind es in den hier vorgestellten Romanen nicht nur jüdische Figuren, die den Blick von außerhalb wagen. Es sind auch Kinder, die Fremde in der Erwachsenenwelt sind, Migranten, denen die kulturelle und sprachliche Normalität fremd ist, oder Charaktere, die sich in einer ihnen fremden Sprache bewegen müssen. Ihr Merkmal ist die Unschuld gegenüber dem Sprachkonsens, eine Eigenheit, die Hannah Arendt als kennzeichnend für den Typus des Schlemihl-Paria ausmacht:118 „Solche Heiterkeit, die der Unbekümmertheit des Paria geschuldet ist, kann dem in die Realitäten verstrickten und für sie mitverantwortlichen Bürger schwerlich zugemutet werden.“119 Arendts Paria, „der außerhalb der Rangordnung der Gesellschaft steht und keine Lust hat, in sie aufgenommen zu werden“120, unterscheidet sich darin entscheidend von den naiven Sprechern in den Romanen. Diese nehmen keinesfalls freiwillig die Rolle außerhalb der Gesellschaft an: Hürlimanns Protagonist möchte wie die Dorfbewohner werden, Paul Schatz möchte sein wie sein Großvater, und Alex in Foers Everything Is Illuminated möchte nach Amerika und dort vor allem reich und erfolgreich sein. Sie alle hegen den Wunsch, dazuzugehören, sie haben etwas Parvenuhaftes an sich, bevor sie ihren Irrtum erkennen und letztendlich ihr Anderssein akzeptieren. Der ‚naive Sprecher‘ ist kein Rebell, er ist fremd und arglos dabei. Die Konventionen der Mehrheit sind ihm unbekannt. Seine Kritik zeigt keinen Willen, Umstände zu ändern, zu revolutionieren. Vielmehr besitzt er als Kunstfigur eine Mittlerfunktion zum Leser, denn seine Naivität erhält ihren erkenntniskritischen Impetus erst in der Rezeption. Er wirkt also vielmehr als ein Irritationsmoment, das dem Leser Kritik vermittelt, ohne selbst kritisch sein zu wollen, zu können. In seiner Funktion als Mittel zur Demontage antisemitischer Stereotype ist er damit eine äußerst wirkungsvolle Strategie. Die Figur besitzt ein didaktisches Potenzial, ohne belehrend zu wirken. Das Bewusstlose, Unschuldige seiner Wahrnehmung trägt dazu bei, dass sich der Leser nicht ausdrücklich dahin gelenkt fühlt, kritisch sein zu müssen. Durch den ‚naiven Sprecher‘ kann eine Auf-

118 Vgl. H. Arendt: Die verborgene Tradition, S. 52. 119 Ebd., S. 57. 120 Ebd., S. 54.

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gabe der Kultur- und Gesellschaftkritik erfüllt werden, ohne dass diese aus einer moralisch überlegenen Position heraus vermittelt wird. Mit dieser Figur gelingt, was dem ‚edlen Juden‘ versagt blieb: In Lessings Dramen Die Juden und Nathan der Weise als eine komplexe und keineswegs nur makellose Figur etabliert, die durchaus fähig ist, aufklärerisch geprägte Kritik zu vermitteln, erreicht der ‚edle Jude‘ als eine eindimensionale, nur auf ihre unanfechtbare moralische Integrität reduzierte Figur in zahlreichen Nachahmungen das Gegenteil.121 Die Travestien edler und gebildeter jüdischer Figuren, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts verstärkt aufkommen, lassen erkennen, dass die erdrückende Tugendhaftigkeit und Korrektheit das Ziel verfehlt: Ihre didaktische Absicht wird abgelehnt und parodiert.122 Der „wehrhafte Jude“ Warum? Weil der Jude feige ist, hört man häufig. Aber diese Antwort ist nicht die richtige. Wohl gibt es sehr viel Feiglinge unter den Juden des Ostens, und es wäre auch seltsam genug, wenn dem nicht so wäre. KARL EMIL FRANZOS/MOSCHKO VON PARMA

Neben der nicht notwendigerweise jüdischen Figur des ‚naiven Sprechers‘ gibt es auch jüdische Figuren, deren Gestaltung sich explizit gegen bisherige stereotype Konzeptionen wendet. Die Figurenkonzeptionen reichen nach Martin Gubser von der ambivalent besetzten ‚schönen Jüdin‘, über den eben genannten ‚edlen Juden‘123 bis hin zum ‚gefährlichen Juden‘.124 Bei anderen Autoren lassen sich ähnliche Figurentypen

121 Zu den Bearbeitungen des edlen Juden vgl. die Dramenauflistung bei H. Jenzsch: Jüdische Figuren in deutschen Bühnentexten, S. 142 ff. Er führt insgesamt zwölf Autoren an, neben Lessing unter anderem Dramen der beiden Gebrüder Stephanie, Ifflands oder Cumberlands. 122 In der Vorrede mokiert sich von Voß über die Deutschen, die „an jede Lectüre die Anforderung des ewigen Belehrens“ heranführen. J. v. Voß: Der travestirte Nathan, S. XI. 123 Dem edlen Juden ähneln die ‚ehrlichen Juden‘ und ‚guten Juden‘ in ihrer philosemitischen Ausrichtung. Vgl. H. Jenzsch: Jüdische Figuren in deutschen Bühnentexten, S. 131 ff und S. 137 ff. 124 Vgl. M. Gubser: Literarischer Antisemitismus, S. 103-123.

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nachweisen, die um konkretere Gestalten wie den ‚komischen Juden‘125, ‚Wucherer‘126, ‚(Klein)Händler‘127, ‚Kuppler‘, ‚Fädenzieher‘, ‚Salonjüdin‘ und ‚Parvenu‘128 oder die komplexere Figur des ‚Ahasver‘129 ergänzt werden. Im Folgenden soll eine Figur vorgestellt werden, die zwar durchaus Elemente dieser Figuren in sich trägt, jedoch eine sichtbare Neuerung im Katalog jüdischer Figuren in der Literatur bedeutet: der wehrhafte Jude. Diese Figur ist keineswegs so klischeehaft gemeint, wie ihre Bezeichnung hier anklingt. Sie ist auch kein Sonderfall, sondern entwickelt sich vielmehr zum Trend und läuft dabei sicherlich Gefahr, ähnlich dem ‚edlen Juden‘, selbst einmal ein Klischee zu werden. In Quentin Tarantinos Inglorious Basterds, in dem eine Gruppe jüdischer Rächer Nazis verfolgt und auf brutale Weise zur Strecke bringt, wird die Konzeption der Figur auf die Spitze getrieben, und sie wirkt dabei zwar unbestritten cool, dennoch auch eindimensional. In den hier untersuchten Romanen ist die Wehrhaftigkeit der jüdischen Figuren sensibler dargestellt, als dies im Film der Fall ist. Eine solche wehrhafte jüdische Figur lässt sich in drei der sechs untersuchten Romane nachweisen. In Dariusz Muszers Die Freiheit riecht nach Vanille wird der Figurentyp durch den Vater des Protagonisten verkörpert. Dieser rächt sich an dem Mörder seines Vaters, indem er dessen Tochter ausfindig macht und sie schwängert – eine Rache, die das Ziel verfehlt, da der Mörder längst seine Familie verlassen hat und von der Schande seiner Tochter nicht erfährt. Auch in Mariusz Sieniewiczs Erzählungen sind die Außenseiter nicht wehrlose Ausgegrenzte. Sie erheben sich aktiv gegen die Maschinerie einer Gesellschaft, die sie zu Außenseitern werden lässt. Sie werden begafft, verfolgt und ausgeschlossen, dennoch vermögen sie – wenngleich nur für den Moment – Störungen zu verursachen, Abläufe zu verkomplizieren, auf Mängel des Systems durch ihre Anwesenheit hinzuweisen. Sie kämpfen den Kampf gegen Windmühlen, doch sie kämpfen ihn.

125 Vgl. E. Frenzel: Judengestalten auf der deutschen Bühne, S. 34; H.-J. Neubauer: Judenfiguren, S. 90, Ch. A. Lea: The Image of the Jew, S. 78. 126 Vgl. E. Frenzel: Judengestalten auf der deutschen Bühne, S. 23., H. Jenzsch: Jüdische Figuren in deutschen Bühnentexten, S. 71 und 126ff. 127 Vgl. H.-J. Neubauer: Judenfiguren, S. 41, H. Jenzsch: Jüdische Figuren in deutschen Bühnentexten, S. 110f. 128 Vgl. E. Frenzel: Judengestalten auf der deutschen Bühne, S. 76. 129 Vgl. Edgar Rosenberg: From Shylock to Svengali: Jewish Stereotypes in English Fiction. Stanford, Calif.: Stanford Univ. Press 1960, S. 187 ff oder Mona Körte: Die Uneinholbarkeit des Verfolgten.

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In Michael Chabons The Yiddish Policemen’s Union gibt es gleich mehrere Figuren, die sich als wehrhaft oder stark bezeichnen lassen. Der eigentlich schwächlich-verlottert wirkende Detektiv Meyer Landsman erweist sich zum Schluss als willensstark und gibt den Erpressungsversuchen der christlichen Zionisten nicht nach. Auch Rabbi Shpilmann ist ein starker Charakter, der jedoch mit einer Grenzgängerschaft der Figur spielt: dem Stereotyp des mächtigen, intrigenspinnenden Juden. Zwar ist der Charakter tatsächlich ein solch intrigenspinnender Bösewicht, dennoch verkommt er dabei nicht zum Klischee. Die tragische Geschichte, Momente der Selbstreflexion und eine damit kontrastierende groteske Erscheinung bewirken, dass keine bloße Stereotypenreproduktion stattfindet. Auch bei der Gestaltung der Figur Meyer Landsmans wird mit Klischees gespielt, wobei keine tradierten antisemitischen Stereotype herangezogen werden. Hier dienen vielmehr der Chandler’sche Detektiv Philip Marlowe oder der Comicdetektiv Dick Tracy als Vorlagen. Diese beiden haben vor allem gemeinsam, dass sie unbestritten harte Kerle sind: Sie lieben schöne Frauen und ihre Waffen, sind dabei unbezähmbare Junggesellen, latente Alkoholiker und von der Welt und den Menschen desillusioniert. Sie sind das Gegenteil moderner jüdischer Klischees, die in der Regel aus Variationen der Phänotypen des verweichlichten, nervösen Intellektuellen oder des durchtriebenen Finanziers bestehen. Eine starke jüdische Figur erscheint bis heute als eine Abnormität: Im Klischeearsenal sind schlaue und durchtriebene Juden vertreten, manchmal sind sie sogar mächtig, doch resultiert die Macht nie aus Stärke. Die angebliche Unfähigkeit von Juden, in einem ‚ehrlichen‘ körperlichen Kampf zu bestehen, manifestiert sich in Bildern des unsoldatischen Juden.130 Die Fähigkeit, sich zu wehren, würde voraussetzen, dass es eine Notwendigkeit der Gegenwehr gibt, dabei ist die Existenz eines Aggressors gegen Juden ein Strukturelement, das keinem jüdischen Stereotyp eigen ist. Wie schwach auch immer, so sind Juden die Aggressoren, ihre Aggressivität basiert auf Hinterlist und Tücke. In diesen Beispielen sind sie dagegen tatsächlich Opfer, jedoch Opfer, die versuchen sich zu widersetzen. Die Wehrhaftigkeit hat in den vorgestellten Fällen freilich ein tragisches Element, da sie nicht zum Ziel führt. Die Rache von Naletniks Vater gelingt nicht, da die Zielperson nie von ihr erfährt; die Beschwörungsformeln, die die Jüdin ihren Peinigern entgegenschleudert, erweisen sich in Hinsicht auf den an-

130 S. L. Gilman: The Jew’s Body. Hier das Kapitel: The Jewish Foot. A Footnote to the Jewish Body. Dort beschreibt Gilman die Verbindung zwischen der Vorstellung eines degenerierten jüdischen Körpers und der angeblichen Untauglichkeit der Juden zum Wehrdienst, die Jahrhunderte anhielt.

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dauernden Zustand der Unterdrückung als wirkungslos, und auch die Standhaftigkeit von Landsman ist in Anbetracht der unausweichlichen Auflösung Sitkas vergebens. Im Folgenden soll die Figurenbezeichnung des ‚wehrhaften Juden‘ derjenigen des ‚starken Juden‘ vorgezogen werden, da die erstere das externe Aggressionsmoment integriert. Dies verhält sich im Übrigen auch bei der massakrierenden Truppe in Tarantinos Film so: Sie werden zu Mördern, da sie mit einer existenziellen Bedrohung konfrontiert werden. Die Notwendigkeit der Gegenwehr wird durch die Skrupellosigkeit des Oberst Landau (Christoph Waltz) gleich in der ersten Szene des Films dargestellt, in der dieser von einem französischen Bauern die Auslieferung der sich bei ihm versteckenden jüdischen Familie erzwingt und diese töten lässt. Eine der Töchter entkommt und beginnt später ihre eigene Vendetta gegen die Nazis – hier erneut also das Rachemotiv. Das Besondere an der Figur des ‚wehrhaften Juden‘ ist, dass sie in jeder Erscheinungsform Sympathien zu wecken vermag. Die Tat des Aggressors ist so ungeheuerlich, dass der Leser oder Zuschauer die Rache oder die Reaktion nicht nur rechtfertigt, sondern ihr auch ein Gelingen wünscht. Umso bemerkenswerter ist die Tatsache, dass die Protagonisten scheitern. Dieses Scheitern trägt entscheidend dazu bei, dass es bei der Figur des ‚wehrhaften Juden‘ nicht zu einer Verfestigung des Bildes kommt. Auch dies ist in Inglorious Basterds ähnlich konstruiert: Schon der Titel weist auf eher gebrochene Helden hin, ebenso die misslingenden Intrigen der Truppe unter der Leitung des überheblich-dümmlichen Leutnant Aldo Rein (Brad Pitt), deren letztendlicher Sieg über den fiesen Hans Landa und die Vernichtung des Kaders der Nazi-Oberen mehr dem Glück und der jüdischen Rächerin Shosanna (Mélanie Laurent) als dem Verstand und der Stärke zu verdanken sind.131 Ein siegreicher Held ist ein Klischee, ein unvollkommener, tölpelhafter oder scheiternder zunächst nicht. Die Figur des ‚wehrhaften Juden‘ hat sicherlich wie auch der ‚edle Jude‘ gut 200 Jahre zuvor das Potenzial, ein philosemitisches Klischee zu werden. In den hier untersuchten Beispielen wird sie jedoch ironisch oder tragisch gebrochen, es ließe sich hier von einem Typus sprechen, keinem Stereotyp. In ihrer Funktion ist sie jedoch bemerkenswert: Sie schafft es, eine starke jüdische Figur zu propagieren, die jedoch das von außen kommende Aggressionsmoment integriert und auf diese Weise sowohl gutmenschelnden Opferstereotypen als auch antisemitischen Bildern jüdischer Verschwörungsmacht entgegenarbeitet.

131 INGLORIOUS BASTERDS (USA/Deutschland 2009, R: Quentin Tarantino).

S TRATEGIEN DER S TEREOTYPENAUFLÖSUNG

3.5.2

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Verkleidungen, Rollenspiele, Metamorphosen

Masken, Rollenspiele oder Verwechslungen sind beliebte Mittel und Topoi der literarischen Intrige und Kabale; in der Postmoderne werden sie zu Metaphern postkolonialer, fluktuierender und hybrider Identitäten. Dieser Abschnitt soll das Motiv der Verkleidung im weitesten Sinne in fünf der sechs der Arbeit zugrundegelegten Texte analysieren und zeigen, welche Rolle der Verkleidung im Hinblick auf Identitätskonstruktionen und die Versuche der Identitätszuweisung zukommt und welche Wirkung diese Identitätsspiele innerhalb der Auseinandersetzung mit den Konstruktionen des Jüdischen entfalten. Durch (Ver-)Kleidung gesetzte Zeichen des Jüdischen hatten eine lange Tradition nicht nur in der Gesellschaft, sondern auch auf der Bühne. Judenhut oder Judenbart waren untrügliche Marker einer jüdischen Figur und unverzichtbare Bestandteile des Rollenfaches Jude. Auch die Sprache, das Bühnenjiddisch, diente dazu, eine Figur als jüdisch zu maskieren. Dieses Bestreben der Kennzeichnung greift mit der Abschaffung der auf dem vierten Laterankonzil von 1215 beschlossenen Kleidervorschriften für Juden zunehmend auf den Körper über und nimmt dabei herabsetzende Züge an.132 Die Darstellung eines hässlichen, deformierten jüdischen Körpers zeichnet sich neben der allseits bekannten Nase (dies erst seit dem 19. Jahrhundert) durch Plattfüße und Krummbeine, durch eine Schwärze des Körpers aus.133 Gubser erarbeitet in seiner Analyse zusätzlich ein „mit Vorliebe rotes, auf jeden Fall aber struppiges Haar […], dunkle, unheilversprechende Augen und eine gebogene Habichts- oder Adlernase; […] Gedrungenheit, Schmächtigkeit oder Fettleibigkeit […] nicht selten deformierte krumme Beine und krallenartige Hände“134. In einer solchen Kostümierung, die sich in den zahlreichen Karikaturen der nationalsozialistischen Propaganda als das ‚Bild des Juden‘ in Umlauf befand, nimmt Paul Schatz seinen Vater Joseph wahr. Wie bereits dargelegt, ist diese Wahrnehmung durch die antisemitischen Sichtweisen der nächsten Umgebung beeinflusst und wird keineswegs von allen Figuren im Roman geteilt. Der Vater unternimmt einen Rollenwechsel, der krasser nicht sein könnte: Er verkleidet sich als SA-Angehöriger. Nun ist dieser Rollenwechsel nicht nur ein Beleg für die suggestive Kraft des antisemitischen Denkens und die Konstruiertheit gesellschaftlicher Rollen durch Kleidung, sondern auch ein kurzlebiger Akt der Be-

132 Reiner Erb setzt den Beginn dieser Tendenz im 17. Jahrhundert fest. Vgl. R. Erb: Die Nase. 133 Vgl. S. L. Gilman: Die jüdische Nase. 134 M. Gubser: Literarischer Antisemitismus, S. 128.

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freiung. Das Dasein der Juden im Nazi-Deutschland zeichnet sich nicht nur durch gesellschaftliche Stigmatisierung und Herabsetzung aus, sondern vor allem auch durch erdrückende staatliche Repressionen. Der sonst so schwächliche Vater steht in seiner Rolle als Nazischerge folglich auch für einen Akt der Loslösung von den restriktiven Gesetzen, für einen Wechsel von der Seite der Machtlosigkeit zur Macht. In diesem Sinne lässt sich auch der Vorwurf des Vaters an den Sohn verstehen: „Nimmst es mir krumm, was? Dein Vater, ein schimmeliger Schildermaler, der SA-Mann sein will. Paßt meinem Sohn nicht. Soll er bei seinen Leisten bleiben, Joseph Schatz, ein israelitischer Wurm, der bettelt: Zertrampelt mich, bitte, zertrampelt mich.“135 Hier wird also die Kostümierung des Nicht-Juden, des Nazis, gewählt, um zumindest für einen Augenblick frei zu sein von der Verkleidung ‚Jude‘, die auf die Person projiziert wird, und frei zu sein von den Gesetzen, unter die eine Figur in dieser Verkleidung fällt. Etwa in der Hälfte der untersuchten Romane wählen jüdische Figuren eine Verkleidung als Nicht-Juden. Dies kann wie bei Koneffke nur für eine kurze Zeit der Fall sein oder Teil einer Assimilationsstrategie wie bei Onkel Jakob in Hürlimanns Fräulein Stark und bei Naletnik in Dariusz Muszers Die Freiheit riecht nach Vanille. Onkel Jakob wirkt durch die Verkleidung und seinen Habitus nicht zufällig wie die Karikatur eines katholischen Priesters. Seine Beschreibung wird zu der eines christlichen Geistlichen stilisiert, was die mangelnde Akzeptanz durch seine Umgebung kontrastiv beleuchtet. Die Freiheit, die er durch seine berufliche Rolle zu erlangen vermeint, wird konterkariert, da gerade seine assimilierte Lebensweise in seiner Umgebung das Bedürfnis weckt, an die jüdische Identität zu erinnern. Auch Muszers Protagonist verkleidet sich. Als „Mischling“ wird er in die deutsche Gesellschaft aufgenommen, und diese Aufnahme besiegelt er mangels anderer Ausdrucksmöglichkeiten mit dem Eintätowieren seiner RegistrierscheinNummer.136 Sich als Neu-Deutscher eine Nummer einzutätowieren verweist einerseits auf die Tätowierungen von KZ-Insassen und andererseits auf die eintätowierten Blutgruppen der SS-Angehörigen. Diese symbolische Nähe, die zwischen den antagonistischen Rollen durch das Tattoo erzeugt wird, thematisiert Edgar Hilsenrath in Der Nazi und der Friseur, wenn der SS-Mann Max Schulz sein Blutgruppenzeichen in die KZ-Nummer seines verstorbenen jüdischen Freundes Itzig ändert und damit nach dem Krieg dessen Identität annimmt. In-

135 PSU, S. 131. 136 Vgl. FV, S. 76.

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dem Naletnik sich selbst tätowiert, ist er Opfer und Peiniger zugleich, und ebenso rituell, wie die Metamorphose des „Mischlings“ in einen „echten Germanen“ stattfindet, wird auch das Abnehmen der Maske zelebriert.137 In drei der fünf Fällen findet also eine Verwandlung eines Juden in einen Nicht-Juden statt. Das ist umso interessanter, da die Kostüme, die hier gewählt werden, klischeehaft die zwei Institutionen darstellen, die seit Jahrhunderten für die Judenverfolgung verantwortlich sind: die Kirche und den (insbesondere nationalsozialistischen) Staat. Die Befreiung aus der Rolle des Opfers erfolgt durch die Verkleidung als Verfolger und Unterdrücker. Die Verwandlung in Sieniewiczs Erzählung Jüdinnen bedienen wir nicht erfolgt vom Nicht-Juden in eine Jüdin. Der Rollenwechsel ist auf die Absicht gerichtet, eine Alteritätserfahrung zu simulieren und gleichzeitig darauf hinzuweisen, wie unbegründet und beliebig eine Stigmatisierung erfolgen kann. Die Tatsache der Verwandlung in eine Jüdin wird folgerichtig zunächst nur über das Auftauchen eines Davidsterns oder, wie es hier heißt, eines Zionssterns („Gwiazda Syjonu“138) auf der Schulter signalisiert. Die darauffolgende Metamorphose ist nicht sichtbar, findet nur im Akt des An- und Erkennens statt und wird nicht von anderen eindeutigen Zeichen des Jüdischen begleitet. Im letzten Fall folgen die Metamorphosen einem anderen Muster. In The Yiddish Policemen’s Union lässt sich vielmehr ein Verwechslungsspiel nachweisen als eine Verkleidungsthematik. Die Rolle der klischeehaften Bösen in Schwarz kommt letztendlich den mit Licht- und Helligkeitsattributen auftretenden Christen zu. Die Verwechslung dient dabei also der Inszenierung von Moral. In dieser Inszenierung wird ein klassisches Spiel mit dem Vorurteil und dem kulturellen Konsens getrieben und im gleichen Zug das Klischee des gefährlichen Juden konterkariert. In allen fünf Beispielen ist die Tendenz einer Negation des objektiv existierenden jüdischen Kostüms erkennbar. In Koneffkes Roman, in dem die Deformation und Alterität des jüdischen Körpers am deutlichsten thematisiert wird, wird sie auch explizit negiert. Indem die Filmcrew am Vater ausschließlich seine ‚arischen‘ Attribute wahrnimmt, wird die Sicht Pauls als Projektion entlarvt. In den ersten vier Beispielen wird das Ablegen der jüdischen Identität als ein assimilatorischer Schritt geschildert, während auf ihre Annahme eine Alteritätserfahrung folgt. Was dabei jedoch immer wieder deutlich in Erscheinung tritt, ist die Tatsache, dass die jüdische Alterität konstruiert ist. Indem die Verkleidungen und Rollenwechsel reibungslos funktionieren und nur das Wissen der anderen

137 Ebd., S. 213. 138 ZO, S. 191.

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um die eigentliche Identität wie bei Koneffke oder Hürlimann ein Erkennen des Jüdischen gewährleistet, wird deutlich zum Ausdruck gebracht, dass die Sichtbarkeit nur durch den Blick des anderen erfolgt. In der Unsichtbarkeit zu verschwinden ist das Ziel der kulturellen Verkleidungen, was dann als Assimilation bezeichnet wird. Das Paradoxe in den Romanen von Koneffke, Hürlimann und Muszer liegt darin, dass, um diese Unsichtbarkeit zu erreichen, eine Verkleidung, ein selbst zum Klischee gewordenes Kostüm notwendig ist. Der Blick des anderen ist es, der das Jüdische sichtbar macht, es erst überhaupt zu dem Jüdischen, dem Sichtbaren und dem Fremden macht. Diesem Blick hält kein Versuch der Assimilation stand, er ist nicht nur schlicht sehend, er ist auch wissend. Das drückt treffend der Protagonist in Louis Begleys Matters of Honor aus: „All the same, so long as there are people who care whether I am a Jew pretending to be a Gentile, I have to remain a Jew, even though inside I feel no more Jewish than a smoked ham. If the question is asked, I’m obliged to say that I’m a Jew [.]“ 139 Dieser in Harvard durch seine roten Haare und merkwürdigen Kleider140 auffallende Jurastudent Henry White ist eigentlich der polnische Flüchtling Henryk Weiss, dessen lebenslange Identitätsproblematik der Roman vor dem historischen Hintergrund des Amerika der 1950er Jahre und des latenten Antisemitismus an den Universitäten behandelt. Nachdem er in seinem Studium um Anerkennung gekämpft hat und diese später als ausgesprochen erfolgreicher Anwalt auch erlangt, verschwindet er in der Unsichtbarkeit: Er bricht seine früheren Kontakte ab und lebt mit einer neuen Frau als Henri Leblanc in Frankreich, wo niemand um seine jüdische Identität weiß. Die Identitätsproblematik wird vor allem von außen oktroyiert: Ein ‚normales‘, folglich der Majorität der Gesellschaft entsprechendes Aussehen wird bei Juden als ein Akt der Unaufrichtigkeit gewertet („ein Jude, der vorgibt“) – das wird besonders auch in Fräulein Stark thematisiert, wenn die Haushälterin insgeheim sowohl den Onkel als auch den Neffen einer verdeckten, moralisch verdorbenen Natur bezichtigt. In den Romanen, wobei Chabons Roman in diesem Zusammenhang eine Ausnahme darstellt, sind die Verkleidungen und Rollenspiele Mittel, diesen Vorwurf der Unaufrichtigkeit zu relativieren. Das geschieht, indem die Subjektivität und Abhängigkeit von der jeweiligen Perspektive inszeniert wird, wie dies bei Koneffke und Sieniewicz am deutlichsten geschieht. Insbesondere der erfolg-

139 Louis Begley: Matters of Honor. New York: Ballantine Books 2007, S. 31. Im Deutschen: Ehrensachen. Übers. v. Christa Krüger. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2007. 140 „His clothes were wrong; they looked brand-new. The jacket and trousers were of an odd color.“ Ebd., S. 4.

S TRATEGIEN DER S TEREOTYPENAUFLÖSUNG

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reiche, weil unerkannte Wechsel zwischen den zunächst in Opposition konzipierten Rollen von Opfer-Peiniger, Arier-Jude, Jude-Katholik ist dabei die Eichmarke für die eingeschränkte Geltung der Kategorien. Die Romane testen die Grundlagen der Wahrnehmung von Andersheit und bescheinigen ihnen Willkür. Daneben wird jedoch auch die Bürde zum Thema, die diese Willkür für die Betroffenen bedeutet. Was Henry White in Begleys Matters of Honor so treffend ausdrückt, treibt auch Joseph (und schließlich auch Paul) Schatz bei Jan Koneffke und den Onkel und Neffen in Fräulein Stark um. Sie sehen sich schutzlos dem Blick ihrer Umgebung ausgesetzt, die in ihnen vor allem ‚den Juden‘ sehen will und jeden Versuch der Assimilation mit Hohn ahndet. In diesem Blick der Anderen werden Konstruktionen von Wir- und Ihr-Gruppen und deren vermeintlichen Eigenheiten auf Individuen projiziert, ohne Rücksicht auf deren Persönlichkeit und Selbstwahrnehmung. Das ist auch ein Thema in dem Roman, der in diesem Abschnitt bislang unberücksichtigt blieb, Everything Is Illuminated, in dem der in die Ukraine reisende Jonathan nur in seiner Andersheit als Vegetarier wahrgenommen wird. Das Individuum verschwindet in den imagologischen Zuschreibungen und kann seine Individualität und Freiheit von diesem Blick nur in der Unsichtbarkeit suchen, wie Paul Schatz, der aus Angst vor dem Blick der Nazis ein „kleiner Herr Niemand“141 werden will. Von den Erfolgen und dem Scheitern dieser Suche nach der Freiheit der Individualität erzählen die Geschichten, indem ihre Protagonisten rituelle Markierungen anlegen und ihre Geltung erproben.

3.6

E RGEBNIS

Zusammenfassend lassen sich zwei Ebenen der Demontage ausmachen. Auf der Zeichenebene wird diese durch die Offenlegung und Auflösung der TrägerMerkmal-Struktur erreicht. Wie im Methodenkapitel bereits dargelegt wurde, entsteht diese Struktur durch einen Zuweisungsprozess, der im Ergebnis nicht mehr sichtbar ist und sich als imaginäre Totalität präsentiert. Dieser Zuweisungsvorgang kann sichtbar gemacht werden, indem er durch unzuverlässiges Erzählen oder groteske Elemente exponiert wird. Die Auflösung der Struktur wird erreicht, wenn durch Rollentausch oder das Spiel mit manichäischen Mustern die Zuweisung von Eigenschaften an einzelne Akteure als arbiträr und die Struktur selbst auf diese Weise als Konstruktion entlarvt werden.

141 PSU, S. 135, 219, 250.

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Die Auswirkungen der Demontage auf der semiotischen Ebene lassen sich auf der semantischen nachweisen und erweitern. Konkret zeichnet sich dabei das gemeinsame Ziel ab, den denormalisierenden142 Tendenzen von jüdischen Stereotypen entgegenzuwirken. Dabei lassen sich drei essentielle Modi synthetisieren: die Herstellung einer Kommunikationssituation mit dem Leser, das Herausfordern eines Aktes der Naturalisierung und das Moment der Komik. Die Modi können kumulativ innerhalb einer Strategie eingesetzt werden oder auch vereinzelt auftreten. Sie verhelfen dazu, Brüche in der Diegese zu erzeugen, die zur Kritik verleiten, eine Kritik am Gegenüber oder an der bestehenden Gesellschaftsordnung üben und vor allem konzeptuelle Metaphern demontieren, die bestehende Denknormen maßgeblich beeinflussen. In dem Bestreben, die Denormalisierung aufzuheben und eine Normalisierung zu erreichen, begeben sich die Romane auf eine Gratwanderung, indem sie Gefahr laufen, revisionistischen Denkmustern Einzug zu gewähren. Durch eine scharfe Trennung zwischen der Normalität des Jüdischen und der Monstrosität der Shoah wird dies gezielt vermieden. Immer wieder wird die Singularität des jüdischen Leidens betont, indem der historische Kontext auf der diegetischen, metadiegetischen oder extradiegetischen Ebene aufgerufen wird. Dabei lässt sich ein qualitativer Unterschied zwischen den beschriebenen Normalisierungsbestrebungen und Forderungen nach einem Schlussstrich feststellen, die dem heutigen europäischen Judentum die Leidenserfahrung als eine entscheidende historische Konstante der (kollektiven) Identität absprechen wollen.

142 Dieser Begriff orientiert sich an Jürgen Link: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird. 3., ergänzte und überarbeitete Auflage. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006.

Teil IV: Eingrenzen und Ausloten

4.

Fluchtlinien und Abgrenzungen

In diesem Teil soll der Geltungsbereich der erarbeiteten Strategien abgesteckt und zugleich auf den Prüfstand gestellt werden. Das bedeutet einerseits, einen diachronen Vergleich anzustellen und andererseits auf der synchronen Ebene Abgrenzungen zu schaffen. Durch die Analyse von Fluchtlinien in die Vergangenheit soll gezeigt werden, dass die herausgearbeiteten Strategien, wenngleich sie postmoderne Züge tragen, keineswegs ein Phänomen der Postmoderne sind. Der Blick auf die Aufklärung als die Zeit, in der eine neue Form der Auseinandersetzung mit dem Judentum im Werden begriffen war, soll im ersten Teil dieses Kapitels zeigen, dass ein Großteil der benannten Strategien auch dort anzutreffen ist. Wenngleich, was die einzelnen Phänomene betrifft, gut zwei Jahrhunderte literarischer, politischer und gesellschaftlicher Entwicklung bedacht werden müssen, so hat sich die Funktion kaum verändert hat. Als Fluchtpunkt dieses Vergleiches mit der Aufklärung soll ein oft unterschätzter Einakter des noch jungen Lessing hinzugezogen werden: Die Juden. Im zweiten Teil dieses Kapitels werden Abgrenzungen auf der synchronen Ebene geschaffen, die dazu verhelfen, Darstellungsmodi jüdischer Figuren und Themen aufzuspüren, die in der Gegenwartsliteratur immer noch zur Produktion antisemitischer und vorurteilsgeladener Bilder führen. Damit wird antizipatorisch auf die naheliegende Kritik eingegangen, die einwenden könnte, dass die vorgestellten Strategien ein allgemeines Merkmal der Gegenwartsliteratur seien und nicht spezifisch der Demontage jüdischer Stereotype dienten.

4.1

F LUCHTPUNKT AUFKLÄRUNG

Auf die vorgestellten Strategien zurückblickend, könnte der Eindruck entstehen, dass sie in der Funktion eindeutige Züge postmoderner Darstellungsweisen tragen. Da wird Individualität gegen kollektiven Konsens ausgespielt, in Rollen-

240 | D AS STEREOTYP ALS M ETAPHER

spielen deuten sich hybride Identitäten an, unzuverlässige Erzähler spielen mit dem Leser und seiner Erwartungshaltung. Wenn im Folgenden Fluchtlinien in die Aufklärung gezogen werden, so soll keinesfalls unterstellt werden, dass die Phänomene, die als Strategien herausgearbeitet wurden, unveränderlich fortexistieren. Es soll auch nicht behauptet werden, dass die Phänomene heutzutage nicht von den Entwicklungen des 19. und 20. Jahrhunderts beeinflusst wurden. In ihnen spiegelt sich nicht nur die kontinuierliche Auseinandersetzung mit den Inhalten wider, sondern es schlagen sich zu jeder Zeit auch diskursgeschichtliche Eigenheiten nieder. So geht es vielmehr darum zu zeigen, dass einige Strategien bereits in dem aufklärerischen, auf literarischer Ebene geführten Toleranzdiskurs zu finden sind und dort eine analoge Funktion besitzen, die sie auch in der Gegenwartsliteratur erfüllen. Somit ist das Phänomen der Demontage von Stereotypen nicht nur Folge einer ‚dekonstruktivistischen Wende‘. Mit der Herausarbeitung solcher Konstanten ließe sich zeigen, dass einige Funktionen und die Verfahren ihrer Vermittlung eben doch transkulturelle und historische Kontinuität besitzen, wenngleich sie kontextgebunden und auch ein postmodernes Phänomen sind. Aus diesem Grunde wurde in der vorliegenden Arbeit der Terminus ‚Demontage‘ dem ebenfalls naheliegenden der ‚Dekonstruktion‘ vorgezogen, der konnotativ ausdrücklich mit der Postmoderne zusammenhängt. Die Entscheidung, als Fluchtpunkt ausgerechnet das weniger beachtete Lessing-Stück Die Juden zu wählen und nicht den sich in diesem Kontext geradezu aufdrängenden Nathan, erfolgt aus zwei Gründen. Zum einen erscheint es reizvoll, einen Text hinzuziehen, der als eines der ersten Beispiele einer positiven jüdischen Hauptfigur in der deutschen Literatur gelten kann. In der Zeit der Gestaltung dieser Figur zwischen 1749 und 1754 existierte weder ein Fundus von Argumenten einer jahrelangen öffentlichen Diskussion um die Emanzipation der Juden noch zahlreiche literarische Vorläufer, auf die Lessing hätte zurückgreifen können, weshalb das Stück als ein tatsächlicher Fluchtpunkt zu verstehen ist. Vor diesem Einakter gibt es kein Beispiel, in dem so explizit, nuanciert und urteilssicher eine Auseinandersetzung mit Vorurteilen gegen Juden und ihren Grundlagen stattgefunden hat. Zwar erschien bereits 1747/48 ein ‚edler Jude‘ in Gellerts Das Leben der schwedischen Gräfin von G***, doch folgte diese Figur noch einem tradierten Schema. Ihre Funktion bestand darin, als „Tugendzeuge“1 aufzutreten und vor allem die Macht der Tugend und die Güte der christlichen Figur herauszuarbeiten. Mit Jürgen Stenzel lässt sich annehmen, dass Lessing dieses Motiv des ‚edlen Juden‘ als polemisierende Replik gegen die Funktionali-

1

J. Stenzel: Idealisierung und Vorurteil, S. 124.

F LUCHTLINIEN

UND

A BGRENZUNGEN

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sierung durch Gellert übernahm.2 Zum anderen gibt es den durchaus berechtigten Einwand, Nathan sei im Grunde ein Stück, das sich für die Emanzipation der Juden aus religiöser Sicht ausspreche, indem es die Religionsgleichheit propagiere, was im Lichte des Entstehungskontexts des Dramas, dem Streit mit dem Hamburger Pastor Melchior Goeze und dem daraus resultierenden Schreibverbot für Lessing, durchaus plausibel erscheint. Oder wie es der Lessingforscher Karl S. Guthke formuliert: „Denn im ‚Nathan‘ wird die Frage der Gleichstellung ja mehr als religionsphilosophisches Problem gesehen, in den ‚Juden‘ hingegen als sozialpolitisches, zivilrechtliches.“3 Im Gegenwartsroman scheinen Religionsfreiheit und -gleichheit in Identitätsfragen an Bedeutung zu verlieren, wobei dies auch regional/national zu differenzieren ist.4 Grundsätzlich behandelt die jüdische wie nicht-jüdische Gegenwartsliteratur das Thema Judentum vielmehr unter den Paradigmen von ‚Rasse‘ als Reflexion auf den Nationalsozialismus oder ‚Identität‘ als postnationalem Phänomen/Problem, weshalb das Lustspiel Die Juden als Fluchtpunkt nicht nur wegen des avantgardistischen Charakters vielversprechend erscheint. Vor der Analyse der Motive soll in Kürze der Plot des Einakters vorgestellt werden: Ein Baron wird von einem geheimnisvollen Reisenden vor einem Überfall gerettet. Die Schurken sind zwei Bedienstete des Barons, die sich für den Überfall mit Judenbärten verkleiden und damit zahlreiche antisemitische Kom-

2

Vgl. ebd., S. 120 sowie ders.: Kommentar zu Die Juden, S. 1153.

3

Karl S. Guthke: „Lessing und das Judentum oder Spinoza ‚absconditus‘“, in: ders., Das Abenteuer der Literatur. Studien zum literarischen Leben der deutschsprachigen Länder von der Aufklärung bis zum Exil. Bern/München: Francke 1981, S. 123-143, hier S. 130.

4

In Polen beispielsweise sind es gerade ältere Autoren nationalkatholischer Prägung, die Religion als Assimilationsparadigma verhandeln. So beispielsweise in der Kurzgeschichte des Reisejournalisten und Schriftstellers Jan Jòzef SzczepaĔski Oswald, also Daniel, wo ein geradezu klassischer Konversionsplot die ‚natürliche‘ Überlegenheit des Katholizismus als Nationalreligion präsentiert. Vgl. Jan Jòzef SzczepaĔski: Oswald, czyli Daniel, Erstveröffentlichung in „Tygodnik Powszechny“ vom 20.8.1995. Oswalds Figur und seine Lebensgeschichte sind der authentischen Figur des Konvertiten Oswald Rufeisen entlehnt. Vgl. dazu auch P. Wojcik: „‚Ein Abstraktum ohne gesellschaftliche und geschichtliche Bindung.‘ Jüdische Assimilation im literarischen Diskurs in ihren Anfängen und heute“, in: Özkan Ezli/Andreas Langenohl/Valentin Rauer/Claudia Marion Voigtmann (Hgg.), Die Integrationsdebatte zwischen Assimilation und Diversität. Grenzziehungen in Theorie, Kunst und Gesellschaft. Bielefeld: Transcript 2013, S. 263-286.

242 | D AS STEREOTYP ALS M ETAPHER

mentare im Stück evozieren. Der namenlose Reisende, der ein Musterbeispiel an Tugend, Bescheidenheit, Bildung und Edelmut ist, entlarvt die Intrige. Aus überschäumender Dankbarkeit will der Baron dem Reisenden seine Tochter zur Frau geben, doch dieser muss ablehnen und ist daraufhin gezwungen, seine jüdische Identität zu offenbaren, die eine Heirat unmöglich macht, worauf der Baron verstört reagiert: „Ein Jude? grausamer Zufall! […] So giebt es denn auch Fälle, wo uns der Himmel selbst verhindert, dankbar zu sein?“5 Lessings Toleranzstück liegt eine Intrige mit einem Kriminalplot zugrunde. Der Überfall auf den Baron wird von dessen eigenen Untergebenen mit den sprechenden Namen Martin Krumm und Michel Stich verübt, zwei ausgemachten Bösewichten, die sich gegen ihren Herrn verschwören und dabei auch dessen Tod in Kauf nehmen.6 Charakteristischerweise impliziert auch dieser Kriminalplot eine Dichotomie von Opfern und Tätern. Wie dies bei Dariusz Muszer und noch deutlicher bei Michael Chabon gezeigt wurde, wird die Dichotomie in einer antisemitischen Argumentation monolinear an Juden und Nichtjuden gekoppelt und mit einer moralischen Wertung verbunden. Die Verkleidung der Banditen legt die Täterschaft von Juden nahe, was bereitwillig von den dramatis personae akzeptiert wird, so beispielsweise wenn der Baron sein Urteil fällt und bekundet, die Juden seien „die allerboshaftesten, niederträchtigsten Leute.“7 Die Vorurteile werden nicht nur vom Diener des Reisenden Christoph und Martin Krumm geäußert, sondern ebenso von dem gebildeten und durchaus sympathischen Baron, was ihre Präsenz in allen gesellschaftlichen Schichten bekräftigt. Es drängt sich folglich die Frage auf, wie ein solches standesunabhängiges Vorurteil im Einzelnen beschaffen ist. Wie in den Romanen von Hürlimann, Koneffke, Chabon und Sieniewicz zielt das Vorurteil auf die äußere Erscheinung, auf die Physis (Gesicht oder Körper) oder spezifische Marker. Bei Lessing werden beide Dimensionen thematisiert, wenn sich die Räuber mit Judenbärten verkleiden, sich somit im historischen Kontext unmissverständliche Zeichen des Jüdischseins anlegen und das Vorurteil immer wieder über physiognomische Eigenheiten begründet wird. Wenn der Baron also sagt: „Und ist es nicht wahr, ihre Gesichtsbildung hat gleich etwas, das uns wider sie einnimmt? Das Tückische, das Ungewissenhafte, das Eigennützige, Betrug und Meineid, sollte man sehr deutlich aus ihren Augen zu lesen glauben“8, dann ist dies genau der reziproke und monokausale Schluss

5

DJ, S. 486.

6

Vgl. ebd., S. 449.

7

Ebd., S. 461.

8

Ebd., S. 460.

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von der äußeren Erscheinung auf die moralische Disposition. Dieser Schluss wird durch das hier zugrunde liegende metaphorische Konzept ermöglicht, innerhalb dessen die moralische Disposition des Menschen, sein Charakter also, anhand seiner äußeren Erscheinung imaginiert wird. Dies soll noch einmal anhand der Conceptual Integration Networks illustriert werden: Abb. 8: Conceptual Integration Network DER CHARAKTER IST DER KÖRPER

Die beiden hier entscheidenden Elemente aus dem generic space sind GESTALT mit einer Innen-Außen-Orientierung und einer Orientierung im Raum (aufrechter Gang, linke und rechte Seite des Körpers) sowie EIGENSCHAFTEN. Letztere lassen sich allgemein auf eine Interaktion mit der Umwelt festlegen, in denen bestimmte Charaktereigenschaften oder körperliche Merkmale zum Tragen kommen. Im input space KÖRPER sind diese Elemente auf die Physis ausgerichtet. Im input space CHARAKTER taucht dieselbe Struktur auf und bezieht sich auf ein Dasein als soziales Wesen. Die Strukturelemente aus dem Feld Körper, der als

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einer der häufigsten Bildspender gilt,9 helfen folglich, das abstrakte Konzept des individuellen Charakters näher zu bestimmen. Im blend kommt es zu einer Integration und Interaktion der beiden spaces. Hier geschieht auch das, was Lakoff und Johnson als „the power of evaluation“10 bezeichnen. Aus dem space der äußeren, körperlichen Erscheinung wird die Wahrnehmung von schön oder nicht-schön, so subjektiv diese sein mag, entnommen und auf die Bewertung des moralischen Verhaltens übertragen.11 Lessings Reisender ist ein Kulturmensch, der höflich und gebildet ist. Besonders seine Besonnenheit und Selbstkontrolle, mit deren Hilfe er seine Affekte, Vorurteile und Verdächtigungen reflektiert, sowie sein Mut lassen ihn als einen aufrechten Mann erscheinen. Während die Besonnenheit als Affektkontrolle einer äußerlichen Gestalt entspricht, die die innen brodelnden Gefühle beherrscht, ist die Tapferkeit im Herzen angesiedelt, damit also eine innere, emotionale Eigenschaft. Sowohl die innere als auch die äußere charakterliche Integrität finden eine Entsprechung in der körperlichen Erscheinung des Reisenden: „DER BARON O! Sie kränken mich. Wie können Sie auf dergleichen Verdacht kommen? Ohne ein Kenner der Physiognomie zu sein, muß ich Ihnen sagen, daß ich nie eine so aufrichtige, großmüthige und gefällige Miene gefunden habe, als die Ihrige.“12 Und weiter im Sinne des Konzepts „DAS FRÄULEIN Ei seht! Man sollte nicht glauben, daß ein so ehrliches Gesicht auch spotten könnte.“13 Seiner Figur wird eine Vorstellung vom Juden gegenübergestellt, die gegensätzlich konzipiert ist. Bereits die Judenbärte, mit denen die beiden Räuber verkleidet sind, weisen auf eine Rohheit und Wildheit hin, die sich auch auf das Wesen ausdehnen. So bezeichnet Martin Krumm, der eigentliche Räuber, Juden in einem Tiervergleich als „ochsenmäßig geschwind“14. Der Baron spricht in seinem eingangs zitierten Urteil ein weiteres Detail des Konzeptes CHARAKTER = KÖRPER an, wenn er den Charakter der Juden „sehr deutlich aus ihren Augen zu lesen“ meint und damit die Augen als Indikator der moralischen Konstitution

9

Vgl. Z. Kövecses: Metaphor, S. 16.

10 G. Lakoff/M. Johnson: Metaphors We Live By, S. 65. 11 Diese Metapher ist auch grundlegend für die Wahrnehmung und Schilderung des Vaters in Jan Koneffkes Paul Schatz im Uhrenkasten, wo sie in Beziehung zu der konzeptuellen METAPHER GESELLSCHAFT IST EIN ORGANISMUS einen größeren Geltungsbereich besitzt: Der ‚hässliche‘ Körper ist nicht nur Ausdruck einer individuellen Verdorbenheit, sondern einer, die das ganze Kollektiv bedroht. 12 DJ, S. 461. 13 Ebd., S. 458. 14 Ebd., S. 453.

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annimmt, was sich heute noch auf der sprachlich metaphorischen Ebene nachweisen lässt, wenn die Augen als ‚Tor zur Seele‘ bezeichnet werden. Zudem sind die Juden gemäß den Vorurteilen der Figuren im Stück nicht fähig, innerhalb der christlichen Gesellschaft angemessen moralisch und gesetzeskonform zu handeln. „Ein Volk, das auf den Gewinnst so erpicht ist, fragt wenig darnach, ob es ihn mit Recht oder Unrecht, mit List oder Gewaltsamkeit erhält. – – Es scheinet auch zur Handelschaft, oder deutsch zu reden, zur Betrügerei gemacht zu sein. Höflich, frei, unternehmend, verschwiegen, sind Eigenschaften, die es schätzbar machen würden, wenn es sie nicht allzusehr zu unserm Unglück anwendete –“15

Es zeigt sich also, dass die deviante äußere Erscheinung der Juden eine entsprechende moralische Haltung wie auch das damit verbundene Handeln in der Gesellschaft impliziert. Die abschließende Wendung des Stückes, in welcher der edle Reisende sich als Jude entpuppt und der Christ als Räuber und Mörder entlarvt wird, zerstört den Konnex zwischen moralischer Verderbtheit und Judentum, indem sie exemplarisch das Merkmal der Hässlichkeit von ihrem Träger abkoppelt. Der Baron muss letztendlich eingestehen: „Alles, was ich von Ihnen sehe, entzückt mich“16, und nimmt damit erneut die konzeptuelle Metapher auf, wenn er genau diesen Ausdruck an Stelle der möglichen ‚Alles, was ich von Ihnen weiß…‘ oder ‚Alles, was Sie getan haben…‘ verwendet. Damit bestätigt er einerseits die Metapher, widerlegt jedoch zugleich das mit ihr verbundene dichotome Weltbild, demzufolge die Juden hässlich und verdorben, die Christen hingegen schön und tugendhaft seien. Diese Wandlung wird von Lessing sorgsam vorbereitet. Jenseits der offensichtlichen Bekundungen über die Rechtschaffenheit des jüdischen Reisenden werden die Implikationen der konzeptuellen Metapher vor allem durch die Dienerfiguren ad absurdum geführt. Gleich im zweiten Auftritt begegnet der Reisende Martin Krumm, einem der Räuber, der versucht, jeden Verdacht von sich abzulenken, seine Ehrlichkeit beteuert und zugleich Juden als „gottloses diebisches Volk“17 beschimpft. Seinen Worten entgegengesetzt wird dabei das Handeln, als er dem Reisenden unterdessen eine silberne Tabakdose stiehlt. Umso fehlgeleiteter erscheint in diesem Lichte die Einschätzung Krumms durch den

15 Ebd., S. 460. 16 Ebd., S. 487. 17 Ebd., S. 454.

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Baron: „Was ich von meinem Vogte halte? – – Ich halte ihn für einen ganz ehrlichen und rechtschaffnen Mann.“18 Auch der Diener des Reisenden, Christoph, der sich zunächst lautstark über die entdeckte jüdische Identität seines Herren entrüstet, weist in seiner Haltung auf eine moralisch nicht ganz einwandfreie Disposition hin. Im vierten Auftritt ist der Reisende auf der Suche nach ihm und findet ihn betrunken vor. In seinem ersten Auftritt taumelt Christoph.19 Der wankende Gang steht in gleich zwei Zusammenhängen mit moralischem Verhalten. An der konzeptuellen Metapher TUGEND IST OBEN20 gemessen, die auf der Erfahrung der aufrechten Körperhaltung basiert, bedeutet das Taumeln eine Abweichung von der Aufrichtigkeit. Stärker wird dies an der konzeptuellen Metapher MORAL IST EIN WEG deutlich. Das Taumeln macht es unmöglich, auf dem Weg des moralischen Verhaltens zu bleiben, sodass die Gefahr besteht, zu ‚straucheln‘ und ‚von dem richtigen Weg abzukommen‘. Ähnlich lässt sich das Konzept zu der Figur des Vogts in Beziehung setzen, dessen Name „Krumm“ auf eine ‚biegsame‘ Auslegung der moralischen Normen hindeutet. Christoph ist im Gegensatz zum Räuber und Mörder Krumm eher ungefährlich in seiner Einfalt, sein innerer Taumel wird am deutlichsten in der Einstellung gegenüber seinem Herrn. Nachdem er sich selbstgerecht über die offenbarte jüdische Identität des Reisenden entrüstet, lässt er sich im nächsten Augenblick durch ein Geschenk vom Gegenteil überzeugen: „Nein, der Henker! Die Juden sind großmüthige Leute. Sie sind ein braver Mann. Topp, ich bleibe bei Ihnen! Wer weiß, ob mir ein christlicher Herr auf solche Rede eine silberne Dose geschenkt hätte. War ich nicht ein Narre?“21 Ein letzter Aspekt, auf den in diesem Zusammenhang eingegangen werden soll, ist die Maskierung. Die Maskierung als das Verhüllen des Körpers, das einem Verhüllen der Absichten gleichgesetzt wird, findet sich im Stück zweimal. Zum einen wird auf die Vermummung der vermeintlich jüdischen Räuber hingewiesen. Diese ist gewissermaßen sinnlos, da die Räuber schon mit Judenbärten verkleidet sind, ihr Gesicht also bereits verhüllt haben. Umso deutlicher wird die Funktion der Maske als Anzeiger von Amoral. So erkennt der Vogt auch genau, wie gefährlich die Frage des Reisenden ist:

18 Ebd., S. 479. 19 Vgl. ebd., S. 455. 20 Vgl. G. Lakoff/M. Johnson: Leben in Metaphern, S. 23-25. Beispiele für diese Metapher aus der Alltagssprache: „hohe Gesinnung“, „hohe Standards“, „aufrechter Charakter“, „niederträchtig“, „unter der Würde“, „untergraben“, „in den Abgrund der Verderbtheit fallen“. 21 DJ, S. 487.

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„DER REISENDE Was höre ich? Vorhin war der Vogt einfältig und höflich, jetzo ist er unverschämt und grob. Welches ist denn Eure rechte Larve? MARTIN KRUMM Ei! Das hat Sie der Geier gelernt, mein Gesicht eine Larve zu schimpfen. Ich mag mit Ihnen nicht zanken, – sonst – – (er will fort gehen.)“22

Schon der bloße Verdacht der Maskierung kommt einer Anklage gleich, das weiß der Vogt und erbost sich über die Formulierung. Ein solches Urteil über die Maskierung, die hier im Sinne von nicht authentischem Verhalten und damit verbundener Unehrlichkeit begriffen wird, fällt Kant: „Der, welcher sich so stellt, als ob er sich vor dem Spiegel beurteilen wolle, wie es ihm lasse, oder so spricht, als ob er sich […] sprechen höre, ist eine Art Schauspieler. Er will repräsentieren und erkünstelt einen Schein von seiner eigenen Person; wodurch, wenn man diese Bemühung an ihm wahrnimmt, er im Urteil anderer einbüßt, weil sie den Verdacht einer Absicht zu betrügen erregt.“ 23

Das Zitat weist auf eine Wende hin, die im Übergang von der höfischen zur bürgerlichen Kultur stattfand und in deren Zuge sich das neue Ideal des authentischen, ungekünstelten Verhaltens verbreitete.24 So ist der Reisende erschüttert, als er erfährt, dass sich sein Diener eine Scheinbiographie für ihn ausgedacht hat. Selbst in die Position gelangt, mit einer nicht authentischen Biographie ‚maskiert‘ zu sein, macht ihn das sprach- und ratlos: „Unverschämter Lügner, Ihr habt mich in eine Verwirrung gesetzt, aus der – –“.25 Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Lessing in seinem Einakter Varianten des Umgangs mit der konzeptuellen Metapher CHARAKTER IST EINE KÖRPERLICHE ERSCHEINUNG durchspielt. Lessing demontiert das aus den Zuweisungen entstehende manichäische Muster auch, indem er die Verhältnisse von Opfern und Tätern umkehrt. Dies geschieht induktiv, indem die Tat der jüdischen Räuber als Finte der Christen dargestellt wird, diese also die eigentlichen Täter sind und zugleich der einzige Jude des Stückes nicht nur ausgesprochen tugendhaft ist, sondern selbst zum Opfer des Christen Krumm wird, der ihm seine Tabakdose entwendet.

22 Ebd., S. 476. 23 Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Hamburg: Meiner 2000, S. 16. 24 Vgl. dazu Achim Geisenhanslüke: Masken des Selbst. Aufrichtigkeit und Verstellung in der europäischen Literatur. Darmstadt: Wiss. Buchges. 2006. 25 DJ, S. 482.

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Der Kriminalplot, der hier das „Problemstück“26 umspinnt, ist geradezu exemplarisch dazu geeignet, Oppositionen aufzubauen und sie anschließend aufzulösen, Figuren Verdächtigungen aussprechen zu lassen, die ihre Vorurteile bloßlegen, und mit den Rollen von Opfern und Tätern zu spielen. Doch die Gemeinsamkeit zwischen den Gegenwartsromanen und dem Ansatz Lessings beschränkt sich nicht auf den Kriminalplot oder die manichäische Struktur. Es lässt sich eine Methode beobachten, die deutlich stärker dem postmodernen Erzählen zugeschrieben wird: die Kommunikation und vor allem das Spiel mit dem Leser/Zuschauer. Wenngleich einschränkend zugestanden werden muss, dass der Gattungsunterschied zwischen Epik und Dramatik hier den Vorwurf hervorrufen könnte, diese Strategien seien im Hinblick auf ihre jeweiligen Gattungseigenheiten inkommensurabel, so kann dagegen eingewendet werden, dass das gemeinsame Ziel und die übereinstimmende Wirkung diese Parallele durchaus rechtfertigen. Bei der Darstellung der unterschiedlichen Strategien auf der narrativen Ebene wurde die gemeinsame Absicht deutlich, den Leser zu lenken, ihn hinters Licht zu führen, um ihn anschließend zu ‚erleuchten‘ und zugleich Kritik an ihm zu üben. Diese kommunikative Strategie betreibt Lessing in Die Juden meisterhaft, was durch einen Plot begünstigt wird, der erzählerische Züge trägt und dessen Handlung in ein größeres Kontinuum eingeordnet werden kann. So wird über den Reisenden nicht nur bekannt, dass er aus Hamburg kommt, auch die starke realweltliche Kontextualisierung des Stückes – auf die ich später noch eingehen möchte – bestärkt den Eindruck realistischen Erzählens. Die durch die Entwicklung im Stück begünstigte Lenkung und Täuschung des Rezipienten zeigt sich bereits im Titel des Stückes Die Juden. Wie Karl S. Guthke feststellt, lässt der Titel gemäß den Konventionen der französischen Typenkomödie, mit der sich Lessing in der Entstehungszeit von Die Juden intensiv auseinandersetzte, erwarten, dass die titelgebenden Juden die Außenseiter des Stückes sind: ablehnenswerte, komische Figuren. Bei Lessing sei also mit dem Titel Die Juden der Gegenstand des Vorurteils angesprochen, was Guthke zu der Klassifizierung des Einakters als „Problemstück“ statt als „Lustspiel“ führt.27 Letztendlich erweisen sich die Christen als die eigentlich komischen Figuren.28 Nicht nur der Titel ist eine Irritation gegen ein weit verbreitetes Vorurteil, auch die Gestaltung der Figur des Reisenden als Bildungsbürger, der schwere

26 K. S. Guthke: G. E. Lessing: Die Juden. In: Dramen vom Barock bis zur Aufklärung. Stuttgart: Reclam 2000, S. 275-294, hier S. 282. 27 Vgl. ebd. und S. 278. 28 Ebd., S. 290.

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Truhen mit Büchern auf seiner Reise mit sich führt.29 Die späte Enthüllung dieser durch und durch assimilierten Figur als Juden verstärkt die Wirkung der zuvor geäußerten Vorurteile und falsifiziert sie umso deutlicher, was die jüdische Figur nach Jürgen Stenzel zu einer idealisierten „Falsifikationsinstanz“30 des Vorurteils mache. Lessing wurde vielfach vorgeworfen, er lasse nur einen assimilierten (idealisierten) Juden als edlen Juden gelten, Vorwürfe, die durch die Gestaltung Nathans bestärkt werden.31 Die Debatte wurde schon 1929 von Ernst Simon als Antwort auf die allgemeine jüdische Lessing-Euphorie anlässlich dessen 200. Geburtstags angestoßen. Dieser wirft Lessing vor, er wolle „die Juden […] durch Assimilierung eindeutschen und einmenschen.“32 In der Tat lässt sich die Identität des Reisenden in Die Juden nicht erkennen, erst zum Schluss erinnert sich der Diener Christoph an Verhaltensweisen, die auf die Halacha hinweisen: Es wird von einer Abneigung gegen Schweinefleisch und ansonsten nur von einigen nicht näher bestimmten „Alfanzereien“33 gesprochen, die sein Herr an den Tag lege. Die assimilierte und idealisierte Figur des ‚edlen Juden‘, deren Schicksal als Klischee mit ihrem erneuten Auftritt und dem Erfolg als Nathan der Weise besiegelt war, ist in diesem frühen Stück eine Neuerung, eine „befremdliche Novität“34 auf der deutschen Bühne. Die Resonanz auf das Stück bestätigt diesen Eindruck, wenn der Göttinger Orientalist Johann David Michaelis die Figur aufgrund ihres assimilierten und tugendhaften Auftretens für unwahrscheinlich hält.35 Nun kann man Lessing schwerlich die Epigonen der Figur in seiner Nachfolge vorwerfen, bleibt also der Vorwurf, die Gestaltung fordere eine solche Nutzung geradezu heraus. Dagegen lässt sich argumentieren, dass der edle Jude nicht nur in seiner Funktion als „Idealisierung gegen das Vorurteil“36 einen Sinn hat, sondern dass die Figur keinesfalls auf ihre Eigenschaft als ‚edel‘ reduziert

29 Vgl. DJ, S. 466 f. 30 J. Stenzel: Idealisierung und Vorurteil, S. 124. 31 Vgl. H. Mayer: „Der Weise Nathan und der Räuber Spiegelberg“, in: ders., Außenseiter, S. 327-349. 32 E. Simon: Lessing und die jüdische Geschichte, S. 218. 33 DJ, S. 487. 34 W. Barner: „Vorurteil, Empirie, Rettung. Der junge Lessing und die Juden“, in: Bulletin des Leo Baeck Instituts. Band 69 (1984), S. 29-51, hier S. 33. 35 Lessing zitiert die Rezension von Michaelis in: G. E. Lessing: „Über das Lustspiel Die Juden, im vierten Teile der Lessingschen Schriften“, in: ders., Werke (1989), S. 489497, hier S. 490. Im Folgenden mit der Sigle ÜDJ abgekürzt. 36 J. Stenzel: Idealisierung und Vorurteil.

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werden kann und somit kein eindimensionales Stereotyp liefert. Als ein Beleg dafür lässt sich die mitnichten edel-zurückhaltende Vehemenz anführen, mit welcher der Reisende seine Meinung vertritt und sich auch vor einem ironischlakonischen Konter am Ende des Stückes nicht scheut. Nachdem der Baron naiv ausruft: „O wie achtungswürdig wären die Juden, wenn sie alle Ihnen glichen!“, so nimmt der Reisende das Kompliment nicht etwa dankend an, sondern antwortet zwar resigniert, aber dennoch bissig: „Und wie liebenswürdig die Christen, wenn sie alle Ihre Eigenschaften besäßen!“37 Eine ganz ähnliche chiastische Struktur findet sich später im Nathan, wenn dieser auf des Klosterbruders unbedachten Ausruf „Nathan! Nathan! Ihr seid ein Christ! – Bei Gott, Ihr seid ein Christ! Ein beßrer Christ war nie!“ kontert: „Denn was / Mich Euch zum Christen macht, das macht Euch mir / Zum Juden!“38 Es lässt sich also durchaus sagen, dass der ‚edle Jude‘ aus der Feder Lessings – sei er der Reisende oder Nathan – die Anlage zum ‚wehrhaften Juden‘ besitzt. Dieser wehrhafte Jude kämpft zwar nicht mit Fäusten oder Waffen um Gerechtigkeit und Anerkennung, doch tut er dies mit Worten, wenn er recht deutlich zum Ausdruck gibt: „Und Ihnen die Wahrheit zu gestehn: ich bin kein Freund allgemeiner Urtheile über ganze Völker – – Sie werden meine Freiheit nicht übel nehmen. – Ich sollte glauben, daß es unter allen Nationen gute und böse Seelen geben könne.“39 Und sogar deutlicher noch, wenn er in die für einen edlen und zurückhaltenden Juden doch recht einseitige und polemisierende Betrachtung verfällt: „Vielleicht ist dieser Kerl, so dumm er ist, oder sich stellt, ein boshafterer Schelm, als je einer unter den Juden gewesen ist. Wenn ein Jude betriegt, so hat ihn, unter neunmalen, der Christ vielleicht siebenmal dazu genöthiget.“40 Dieser Jude ist entschlossen, nicht nur edel zu sein, sondern seinen Prinzipien der Völker- und Religionstoleranz treu zu bleiben, wobei einschränkend zugestanden werden muss, dass er sich dennoch zunächst als Jude versteckt, da er die Reaktionen der Umgebung fürchtet. Andererseits wäre ohne diese Furcht des ansonsten so standhaft daherkommenden Reisenden der Effekt verfehlt, den Les-

37 DJ, S. 487 f. 38 G. E. Lessing,: „Nathan der Weise“, in: ders., Werke 1778-1780: Fragmentenstreit, Nathan der Weise, hg. v. Klaus Bohnen und Arno Schilson. (=Gotthold Ephraim Lessing: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hrsg. v. W. Barner, Klaus Bohnen, Gunter E. Grimm, Helmuth Kiesel, Arno Schilson, J. Stenzel und Conrad Wiedemann, Band 9), Frankfurt a. M.: Dt. Klassiker Verl. 1993, S. 483-666, hier S. 597. Im Folgenden mit der Sigle NdW abgekürzt. 39 Ebd., S. 461. 40 Ebd., S. 454.

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sing mit seinem späten Coming Out erreicht. Dieser Effekt zielt vor allem auch auf eine Kritik an der gesellschaftlichen Realität: Hier sitzt „[d]as christliche Publikum […] auf der Anklagebank“.41 Wie in den einzelnen Strategien erörtert wurde, wird die Kritik des Lesers oder die der gesellschaftlichen Umstände durch das Erzeugen eines gemeinsamen kulturell-historischen Kontextes befördert, da so von der Textwelt auf die außertextuelle Welt verwiesen werden kann. Um diesen Effekt zu erreichen, wird kulturelles Wissen aufgerufen und/oder auf anerkannte Werte und Normen angespielt, indem historische Begebenheiten, kulturelle oder soziale Tatsachen, lokale oder globale Eigenheiten zitiert werden, die eine gemeinsame kulturelle Basis bezeugen sollen. Auch bei Lessing finden sich Verweise auf eine außertextuelle Realität. Nicht nur der „pessimistisch-realistische Schluß“42 des Stückes, in dem auf die Heiratsverbote zwischen Christen und Nichtchristen eingegangen wird, beschwört die realen Verhältnisse herauf. Ebenso deutet die Reaktion Christophs auf ein Moment der sozialen Ungleichheit hin. Wenn sich dieser echauffiert „[n]un komm ich erst von meinem Erstaunen wieder zu mir selber. Was? Sie sind ein Jude, und haben das Herz gehabt, einen ehrlichen Christen in Ihre Dienste zu nehmen? Sie hätten mir dienen sollen. So wär es nach der Bibel recht gewesen“43, so ist dies eine Anspielung auf die Verbote für Juden, Christen als Diener zu beschäftigen. Zudem wird auf Ereignisse wie die Pulverturmexplosion von Breslau angespielt, bei der Mitglieder der jüdischen Gemeinde ums Leben kamen.44 Während sich dieser letztere Hinweis als ein Versuch verstehen lässt, an reale Ereignisse anzuknüpfen, so sind die Anspielungen auf diskriminierende Gesetze mehr als bloße Zitate des kulturellen Wissens. Ihr Heranziehen bedeutet angesichts der perfekt assimilierten Figur des Reisenden auch immer eine Kritik der zeitgenössischen Gesellschaft und ihrer herabwürdigenden und exkludierenden Tendenzen, die im Nathan nachdrücklich auf den Punkt gebracht wird: „Sind Christ und Jude eher Christ und Jude, / Als Mensch?“45 Wie für die Gegenwartsromane festgestellt wurde, so ist es auch das Ziel Lessings, gegen denormalisierende Tendenzen seiner Zeit zu arbeiten und den vermeintlich ‚anderen‘ Juden als einen gewöhnlichen Menschen darzustellen, wobei das gewöhnlich im Sinne eines idealen, aufklärerischen Bildungsbürgers

41 W. Barner: Vorurteil, Empirie, Rettung, S. 42. 42 K. S. Guthke: Die Erfindung der Welt. Globalität und Grenzen in der Kulturgeschichte der Literatur. Tübingen: Francke 2005, S. 100. 43 DJ, S. 487. 44 Vgl. DJ, S. 453. 45 NdW, S. 521.

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zu verstehen ist. Lessing geht es nach eigener Aussage darum zu zeigen, dass die soziale und rechtliche Situation der Juden ihre Ungleichheit bedinge, nicht umgekehrt die Stellung in der Gesellschaft ein naturgemäßer Zustand sei. Die „Verachtung und Unterdrückung“ seien schuld an den Verhältnissen und der Status quo, der dadurch hervorgerufen werde, ließe den Reisenden in Michaelis’ Worten „unwahrscheinlich“ erscheinen. Würde die soziale und rechtliche Gleichstellung erreicht und „wenn sich ein Jude im Stande befindet, die Verachtung und Unterdrückung der Christen weniger zu fühlen, und sich nicht gezwungen sieht, durch die Vorteile eines kleinen nichtswürdigen Handels ein elendes Leben zu unterhalten“46, so wäre die Figur des Reisenden keineswegs ein abwegiger Einzelfall, sondern eine mögliche jüdische Biographie. Alles andere sei vorurteilsgeladenes und unaufklärerisches Denken: „Besteht man aber darauf, daß Reichtum, bessere Erfahrung, und ein aufgeklärterer Verstand nur bei einem Juden keine Wirkung haben könnten: so muß ich sagen, daß dieses eben das Vorurteil ist, welches ich durch mein Lustspiel zu schwächen gesucht habe; ein Vorurteil, das nur aus Stolz oder Haß fließen kann, und die Juden nicht bloß zu rohen Menschen macht, sondern sie in der Tat weit unter die Menschheit setzt. Ist dieses Vorurteil nun bei meinen Glaubensgenossen unüberwindlich, so darf ich mir nicht schmeicheln, daß man mein Stück jemals mit Vergnügen sehen werde.“47

Normalität kann bei Lessing also ganz gezielt als soziale und religiöse Gleichheit verstanden werden, mehr noch als „Gleichheit der Chance“48. Die Absicht der Normalisierung, die bei Lessing noch konkret auf eine soziale Ungleichheit und Benachteiligung abzielen kann, wird in der postmodernen Gegenwart zum Kampf gegen eine Phantasmagorie. Die Ungleichbehandlung, die in Gesetzen und Normen greifbar war, verliert sich heute in kruden Vorstellungen von Andersheit, die sich aus heterogenen Angstbildern und nicht verbalisierten Schuldgefühlen speisen. Obwohl das Objekt der Demontage dadurch folglich immer schwerer fassbar ist und das Vorurteil viele ambivalente und disparate Gesichter besitzt, so sind die Mittel, derer sich Literatur bedienen kann, um dessen Gültigkeit anzugreifen, bemerkenswert konstant geblieben. Wenn sich also feststellen lässt, dass bei Lessing ein Übergang stattfindet von dem bloßen Zitieren tradierter, judenfeindlich konnotierter Motive und Strukturen, die judenfeindliche Äußerungen befördern, zu einer Kritik von real-

46 ÜDJ, S. 491. 47 Ebd. 48 K. S. Guthke: Lessing und das Judentum, S. 131.

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weltlichen Zuständen und geläufigen Meinungen, so ist dies ein Vorgang der Konstruktion mit anschließender Demontage, welcher auch den untersuchten Gegenwartsromanen zugrundeliegt. Der Feind muss identifiziert werden, das Stereotyp oder Vorurteil zitiert, um anschließend angegriffen und seiner Geltung beraubt zu werden. Dabei sind geläufige Muster, die mit binären Oppositionen arbeiten, wie sie in einem Kriminalplot par excellence konstruiert werden können, eine sehr brauchbare Möglichkeit, diese aufzurufen und zu unterwandern.

4.2

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Im folgenden Abschnitt soll nun eine Abgrenzung zu literarischen Beispielen der Gegenwart vorgenommen werden, in denen verallgemeinernde, stereotypisierende und diffamierende Tendenzen im Umgang mit Juden nachweisbar sind. Als Beispiele einer solchen Vorgehensweise werden die Kurzgeschichten Die Beschneidung49 und Das Mädchen mit der Eidechse50 aus dem Erzählband Liebesfluchten von Bernhard Schlink dienen. Das Heranziehen eines Beispiels der Gegenwartsliteratur soll vor allem die Persistenz von Klischees und Stereotypen bis ins 21. Jahrhundert hinein verdeutlichen. Zugleich widerlegt es die Vermutung, die erarbeiteten Ergebnisse seien für die Literatur der sogenannten Postmoderne uneingeschränkt gültig. In Kürze soll zunächst der Inhalt der Kurzgeschichte Die Beschneidung von Bernhard Schlink vorgestellt werden, der 1995 für seinen Roman Der Vorleser51 große nationale und internationale Anerkennung erfuhr, der 2008 in einer deutsch-US-amerikanischen Produktion verfilmt wurde.52 Doch schon Der Vorleser schien trotz des Erfolges und Lobes ein nicht ganz unproblematisches Werk zu sein, das durchaus Kritik erntete, die sich vor allem auf die Darstellung der ehemaligen KZ-Aufseherin Hanna Schmitz konzentrierte, die durch ihren Analphabetismus nicht als Täterin, sondern als Opfer erscheint: „Dass Schlink erstens die Täter zu Opfern, zweitens die Zweite Generation zu Opfern dieser Opfer und zugleich zu den Opfern der Anklage der tatsächlichen Opfer macht, und

49 Bernhard Schlink: „Die Beschneidung“, in: ders., Liebesfluchten. Zürich: Diogenes 2000, S. 199-256. Im Folgenden mit der Sigle DB abgekürzt. 50 Ders.: „Das Mädchen mit der Eidechse“, in: ders., Liebesfluchten, S. 7-54. Im Folgenden mit der Sigle ME abgekürzt. 51 Ders.: Der Vorleser. Zürich: Diogenes 1995. 52 DER VORLESER (USA/Deutschland 2008. R: Stephen Daldry).

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dass drittens letztere im Buch so gut wie gar nicht vorkommen – all dies hat Schlink den Vorwurf der Exkulpation der Täter und der Relativierung der Schuld eingetragen.“53

Der Zweite Weltkrieg und der Holocaust werfen auch in Schlinks Kurzgeschichte Die Beschneidung einen langen Schatten auf die Gegenwart und beeinflussen maßgeblich die Beziehung zwischen dem jungen deutschen Jurastudenten Andi und der amerikanischen Jüdin Sarah. Die Erfahrung der Shoah spaltet die Liebenden immer wieder, lässt sie ihre Individualität einbüßen, indem beide in den Rollen der Repräsentanten von Täter- und Opferkollektiven auftreten. Während die jüdischen Protagonisten sich in ihren Rollen sichtlich wohl fühlen, wird Andi in seine Zugehörigkeit zum Täterkollektiv gedrängt, die sich offenkundig nicht mit seiner – ersehnten – Identität verträgt. Sarah, ihre Familie und ihre Freunde lassen Andi immer wieder spüren, dass er Deutscher ist und dass damit Einschränkungen und Verpflichtungen verbunden sind: „Er wurde ärgerlich. […] Durfte er als Deutscher nicht denken, daß die jüdische wie jede Religion davon lebt, daß sie freiwillig gewählt wird, und stirbt, wenn sie es nicht mehr wird? Glaubte Rachel, die jüdische Religion sei etwas Besonderes? Die Juden seien tatsächlich das auserwählte Volk?“54

53 Martin N. Lorenz: „‚Political Correctness‘ als Phantasma. Zu Bernhard Schlinks ‚Die Beschneidung‘“, in: M. Bogdal/K. Holz/M. N. Lorenz, Literarischer Antisemitismus nach Auschwitz (2007), S. 219–242, hier S. 228. Zum Vorleser vgl. auch: William Collins Donahue: Holocaust Lite. Bernhard Schlinks „NS-Romane“ und ihre Verfilmungen. Bielefeld: Aisthesis 2011; ders.: „Der Holocaust als Anlass zur Selbstbemitleidung. Geschichtsschüchternheit in Bernhard Schlinks ‚Der Vorleser‘“, in: Stephan Braese (Hg.), Rechenschaften: juristischer und literarischer Diskurs in der Auseinandersetzung mit den NS-Massenverbrechen. Göttingen: Wallstein 2004, S. 177-197, Martin Swales: „Sex, shame and guilt: reflections on Bernhard Schlink’s Der Vorleser (The Reader) and J. M. Coetzee’s Disgrace“, in: Journal of European Studies 33 (2003), S. 7-22, Omer Bartov: „Germany as a Victim“, in: New German Critique, Special Issue on the Holocaust 80 (2000), S. 29-40, Joseph Metz: „‚Truth Is a Woman‘: Post-Holocaust Narrative, Postmodernism, and the Gender of Fascism in Bernhard Schlink‫ތ‬s ‚Der Vorleser‘“, in: The German Quarterly 77, 3 (2004), S. 300-323, Bill Niven: „Bernhard Schlink‫ތ‬s ‚Der Vorleser‘ and the Problem of Shame“, in: The Modern Language Review 98, 2 (2003), S. 381-396. 54 DB, S. 211.

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Mehr noch sind es die Opfer, die jüdischen Figuren der Geschichte, die diese Rollendichotomie nicht nur befördern und diskursiv im Umlauf halten, sondern dabei auch die Position des Anklägers annehmen. Indem Schlink dagegen die fortschrittliche, weltoffene und tolerante Figur Andi stellt, erscheinen die jüdischen Figuren im Sinne des Klischees als ‚verstockt‘: Sie weigern sich anzuerkennen, dass im ausgehenden 20. Jahrhundert der Krieg lange vorbei ist und die jungen Deutschen ganz anders sind als ihre Eltern und Großeltern. Dieses Klischee wird ebenso beiläufig produziert, wie der Vorwurf des jüdischen Auserwähltseins im obigen Zitat erhoben wird. Die sich hier anbahnende Dichotomie wird umso ausgeprägter dargestellt, als Andi zunehmend die Möglichkeit genommen wird, seine Sichtweise auf die Verhältnisse zwischen Deutschen und Juden nach der Shoah zu äußern. Nach Martin N. Lorenz wirft die Geschichte durchgehend die Frage auf, „wer sprechen darf und somit Gehör findet“.55 Während Andi immer wieder an die (so die Andeutung) engen Grenzen der Political Correctness gerät und seine Meinung einem – von den anderen Figuren immer wieder bestätigten – Redetabu opfern muss, können Sarah und ihre jüdische Familie alles frei heraus artikulieren und selbst Ansichten äußern, die Andi rassistisch anmuten und die aus seinem Mund kein Verständnis gefunden hätten. So antwortet Rachel, Sarahs Schwester, auf die Frage, was das Schlimmste sei, das ihren Kindern zustoßen könne: „Das Schlimmste wäre, wenn die Buben einmal eine Frau heiraten würden, die nicht Jüdin ist.“56 Andis zunächst stumme Reaktion auf diese Aussage lässt keinen Zweifel an seiner Betroffenheit: „Er wußte nicht, was er sagen, was er denken sollte. War, was Rachel gesagt hatte, das Gleiche, wie wenn für ihn das Schlimmste wäre, wenn sein Sohn eine Nichtdeutsche heiraten würde, eine Nichtarierin, eine Jüdin, eine Schwarze? Oder ging es um Religion?“57 Sarahs Selbstbezüglichkeit in der Beziehung ist derart ausgeprägt, dass sie Andis Opfer des Schweigens und des Beschneidens der eigenen Identität nicht würdigt, es meist nicht einmal bemerkt. Dies wird zum Ende der Geschichte hin symbolisch durch das körperlich dargebrachte Opfer der tatsächlichen Beschneidung verdeutlicht, das ihr ebenfalls entgeht. Der Leser wird Zeuge der gestörten Kommunikation zwischen Andi und Sarah. Durch die vorwiegend interne Fokalisierung des nicht-jüdischen Protagonisten wird er jedoch selbst zum Kommunikations- oder Ansprechpartner, der Teil an Andis nicht tabuisierten Gefühlen und Gedanken hat. Es entsteht der Ein-

55 M. N. Lorenz: ‚Political Correctness‘ als Phantasma, S. 232. 56 DB, S. 210. 57 Ebd.

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druck, der Leser müsse Andis Sichtweise bestätigen, was durch die häufig vorkommenden rhetorischen Fragen und Bezugnahmen auf einen beim Leser vorausgesetzten Erfahrungshorizont und -hintergrund erreicht wird.58 Die inneren Monologe haben nicht nur eine Identifikations- sondern auch eine Kommunikationsfunktion: Es wird ein Konsens zwischen Andi und dem Leser und zugleich ein Dissens mit den jüdischen Figuren impliziert. Die Strategie des Schweigens macht seine Sichtweise unangreifbar: Er entzieht sich der Konfrontation und dem kommunikativen Austausch mit den jüdischen Protagonisten. Dem Leser werden nicht nur Andis Ansichten einseitig präsentiert, auch die Ansichten und Argumente der Figuren werden durch seine Kommentare gefiltert. Im Unterschied zu den Strategien der Demontage, die auf der narrativen Ebene mit Brechungen und Verfremdungen arbeiten, lässt sich bei Schlink diagnostizieren, dass die Perspektive zu keinem Zeitpunkt gebrochen wird und Andis Gedanken und Urteile weder durch den Erzähler kritisch beleuchtet werden noch ein Kohärenzbruch die Kritik von außen befördert. Die literarische Strategie zielt vielmehr darauf ab, einen Konsens zwischen dem Protagonisten Andi und dem Leser unauffällig zu erzeugen und keinesfalls die Subjektivität seiner Darstellung zu exponieren, wodurch die Geschichte kohärent und realistisch wirkt. So lässt diese Erzählweise keinen Zweifel an dem latent aggressiven Verhalten, das Andi seitens der jüdischen Protagonisten erfährt. Obwohl sein Denken und Handeln unaufhaltsam um die problematische Konstellation zwischen ihm selbst und den jüdischen Figuren kreist und er versucht, sich möglichst sensibel auf diese einzustellen, wird er im Gegenzug immer wieder mit Klischees wie dem deutschen „Reinheits- und Ordnungswahn“59, mit Vorwürfen und Pauschalurteilen wie „das ist deutsch“60, „das ist der Deutsche in dir“61 sowie argumentativen Totschlägern wie „also doch!“62, „das fragst du?“63 konfrontiert. Er wird für etwas angegriffen, wofür er nichts kann: für seine Herkunft. Dies deutet auf eine Täter-Opfer-Umkehr hin, wenn er als Deutscher immer wieder das Gefühl hat, seine Herkunft entschuldigen zu müssen, auf sie reduziert zu werden und

58 Bei Lorenz lässt sich diesbezüglich noch ergänzen, dass Andi „vernünftigvermittelnde Position“ in Streifragen annimmt und ihn dies, zusammengenommen mit der Fokalisierung seiner Person und den gemeinsamen Erfahrungsbezügen, als Identifikationsfigur aufbaue. M. N. Lorenz: ‚Political Correctness‘ als Phantasma, S. 236. 59 Vgl. DB, S. 230. 60 Ebd., S. 234. 61 Ebd., S. 239. 62 Ebd., S. 226 63 Ebd., S. 211.

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trotz ihr gemocht zu werden: „‚Alle haben dich gemocht. […] Was sollen sie dich mit deiner Geschichte plagen? Dass du Deutscher bist, wissen sie.‘ Angesichts dessen ist alles andere irrelevant?“64 Sarah ist in ihrer Argumentation unsachlich und ungerecht. Dennoch kann Andi sich nicht von ihr trennen; wenn er gehen will, verhindert sie dies: „Er blieb. Sarah warb zu sehr, als daß er hätte gehen können.“65 Zusammengenommen erscheint sie sowohl in ihrer Art der Gesprächsführung wie auch in der Form ihrer Sexualität aggressiv-maskulin. Auf diese Weise wird die Vorstellung eines jüdischen Aggressors mit der einer jüdischen Femme fatale verwoben. Beiden Vorstellungen liegen tradierte Stereotype zugrunde, und beiden ist gemeinsam, dass von ihnen eine Bedrohung ausgeht und das Gegenüber als Opfer den Aggressionen, der Gefahr und/oder der Verführung ausgesetzt wird. Hier wird nicht in einer spielerischen oder demontierenden Weise mit den Opfer- und Täterrollen umgegangen, indem ihre Konstruiertheit und Unzuverlässigkeit als Denkmuster herausgestellt wird oder indem ihre Vertauschung bewusst konventionelle Stereotype unterwandert, wie dies beispielsweise bei Lessing der Fall ist. Im Gegenteil werden die Rollen homogen und einseitig konstruiert, wenn die verbale und sexuelle Aggression stets von jüdischer Seite kommt. Das Themenkonglomerat aus Vergangenheitsbewältigung, Kollektivschuld und einer verführerischen weiblichen jüdischen Figur findet sich auch in einer anderen Kurzgeschichte aus demselben Erzählband, in Das Mädchen mit der Eidechse. Der Mittelpunkt der Geschichte ist ein Gemälde, auf dem das titelgebende Mädchen zu sehen ist. Dieses Bild, das sich im Besitz der Familie des namenlosen Protagonisten, eines deutschen Jurastudenten, befindet, begleitet seine Kindheit und sein Studentenleben. Schon als Kind verspürt er eine Anziehung, die von dem Bild ausgeht, eine Faszination, die sich in eine Form der Besessenheit steigert, die erst durch einen radikalen Abgrenzungsschritt beendet werden kann. Obwohl kindlich geschildert, scheint das „Judenmädchen“66, wie es von der Mutter des Protagonisten bezeichnet wird, durchaus sexuelle Reize zu besitzen, die den Studenten bannen. Zugleich ist das Bild Beweis und Zeuge einer unrühmlichen Vergangenheit des Vaters, der beschuldigt wird, als Richter im NSRegime „einen Offizier zum Tode verurteilt zu haben, der Juden dem Zugriff der Polizei entzogen hat.“67 Da das Gemälde einem Werk des jüdischen Surrealisten René Dalmann ähnelt, wirft seine Präsenz die Frage auf, wie es in den Besitz des

64 Ebd., S. 206. 65 Ebd., S. 237. 66 ME, S. 7. 67 Ebd., S. 44.

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Vaters kam. Dieses Geheimnis wird nicht gelüftet, aufgedeckt wird jedoch, dass seine Mutter vom Vater vergewaltigt wurde, dieser eine Affäre mit einer Jüdin hatte, die entweder dem Mädchen auf dem Bild ähnelt oder dieses Mädchen tatsächlich darstellt. Das Bild übt also in zweifacher Hinsicht Macht auf den Studenten und seine Familie aus: Zum einen ist es Zeuge einer dunklen Familiengeschichte, die sich dem Jungen nach und nach eröffnet, und zum anderen beherrscht es seine sexuellen und romantischen Phantasien. Die Macht des Bildes wird wiederholt beschrieben. Schon im Arbeitszimmer des Vaters „beherrschte [es] […] den ganzen Raum“68 und später, in der Studentenwohnung, scheint das Mädchen mit der Eidechse die Beziehungen des jungen Mannes zu vereiteln, als lasse es keine Konkurrenz zu. Der Protagonist versteckt das Bild, wenn er Frauenbesuch hat, und wenn er es anschließend wieder aufhängt, so tut er dies mit den Worten: „Ja, Mädchen mit der Eidechse, jetzt ist alles wieder in Ordnung“.69 Die abschließende Verbrennung des Bildes ist ein Versuch, sich von dessen Macht als „beherrschende, kontrollierende Instanz, der Opfer dargebracht werden mußten“70 zu befreien, mit der dunklen Familiengeschichte zu brechen, deren Memento das Bild darstellt, und der erotischen Besessenheit ein Ende zu machen. Die sexuelle Faszination wird nicht als Projektionsleistung des Protagonisten geschildert, sondern rührt von dem Mädchen her, das als eine verführerische Lolita gezeichnet wird. Dieser Eindruck wird schon zu Beginn der Geschichte in einer ersten unverhältnismäßig ausführlichen Beschreibung deutlich: „Das Mädchen trug einen dunkelroten Rock und über einem hellgelben Hemd ein dunkelgelbes Oberteil, wie ein Mieder mit Bändern am Rücken locker geschnürt. Viel von der Kleidung und vom Körper ließ der Felsbrocken nicht sehen, auf den das Mädchen seine rundlichen Kinderarme gelegt und sein Kinn gestützt hatte. Es mochte acht Jahre alt sein. Das Gesicht war ein Kindergesicht. Aber der Blick, die vollen Lippen, das sich in die Stirn kräuselnde und auf Rücken und Schultern fallende Haar waren nicht kindlich, sondern weiblich. Der Schatten, den das Haar auf Wange und Schläfe warf, war ein Geheimnis, und das Dunkel des bauschenden Ärmels, in dem der nackte Oberarm verschwand, eine Versuchung. Das Meer, das sich hinter dem Felsbrocken und einem kleinen Stück Strand bis zum Horizont streckte, rollte mit schweren Wellen an, und durch dunkle Wolken brach

68 Ebd., S. 26. 69 Ebd., S. 53. 70 Ebd.

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Sonnenlicht und ließ einen Teil des Meeres glänzen und Gesicht und Arme des Mädchens scheinen. Die Natur atmete Leidenschaft.“71

Trotz ihrer offenkundigen Unschuld ist die Beschreibung erotisch aufgeladen, und das Kind wirkt wie eine Verführerin. Hinzu kommt die Verbindung mit dem Exotischen und Orientalischen, die besonders seit der Romantik populär geworden war.72 Und tatsächlich erinnert die Beschreibung des Mädchens an diejenige Leas, der Schwester des Jud Süß, in Wilhelm Hauffs gleichnamigem Roman.73 Das orientalische Auftreten evoziert wiederum Assoziationen an die biblische Salome, deren orientalische Erotik aus den Gemälden von Gustave Moreau (1871), Henri Regnault (1870) oder Franz von Stuck (1906) bekannt ist. Salome ist eine gefährliche Verführerin und wie Judith, Delila oder die bösartige Jesabel das Klischeevorbild der schönen Jüdin, deren Verführungskunst und sexuelle Anziehung den christlichen Mann das Leben oder die Kraft kosten kann. Und so leidet der Protagonist aus Das Mädchen mit der Eidechse zunehmend unter deren Präsenz: „Er litt stärker, als er erwartet hatte. […] Er sprach mit dem Mädchen. Daß er ohne sie besser dran wäre. Daß sie ihm ganz schön was eingebrockt habe. Daß sie ihn jetzt ruhig freundlicher anschauen könne. Ob sie stolz darauf sei, die Nebenbuhlerin erfolgreich aus dem Feld geschlagen zu haben? Sie brauche sich nichts einbilden.“74

Der extreme Akt der Verbrennung, mit dem sich der Protagonist letztendlich aus den ‚Fängen‘ der schönen Jüdin befreit, ist in seiner Symbolik fragwürdig. Wie Mueller schreibt: “the German male’s ‚acting out‘ by burning the image of a Jewish female in order to release his stalled sexual and romantic aspirations,

71 Ebd., S. 8. 72 Vgl. F. Krobb: Die schöne Jüdin, u. a. S. 19. Vgl. auch S. L. Gilman: „Salome, Syphilis, Sarah Bernhardt and the ‚Modern Jewess‘“, in: The German Quarterly 66, 2 (1993), S. 195-211, hier S. 206: „And this is because she is constituted as biologically different. She is an ‚Oriental‘.“ 73 Vgl. Wilhem Hauff: „Jud Süß“, in: ders., Werke, hg. v. Hermann Engelhard. Sonderausgabe u. unveränderte Neuaufl. d. Ausgabe der IG Cotta’schen Verlagsbuchhandlung. Band 2, Essen: Phaidon 1981, S. 167. Vgl. hierzu auch F. Krobb: Die schöne Jüdin, S. 127. 74 ME, S. 31.

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begs for an exploration of sexist prejudices that are intertwined with antisemitism.”75 Eine ähnliche Konstellation einer sexuellen Phantasie mit antisemitischen Zügen lässt sich in Die Beschneidung lesen; auch hier wird die Schönheit der Jüdin Sarah betont: „Du hast das schwärzeste Haar, das ich jemals gesehen habe, und die frechste Nase und den aufregendsten Mund, zugleich so sinnlich und so klug, daß ich’s immer wieder nicht fassen kann.“76 Auch Sarahs Schönheit ist klischeehaft gefährlich. Ihre sexuelle Ausstrahlung ist ein entscheidender Grund, weshalb sich Andi nicht von ihr trennen kann, obwohl seine eigene Integrität zunehmend darunter leidet. Auch sie tritt dabei als Verführerin auf, deren Sexualität maskuline Züge trägt: „Sie erwartete ihn in einem kurzärmligen Männerhemd, das knapp über den Po reichte. Sie sah verführerisch aus und verführte ihn, ehe er die Angst haben konnte, mit der er beim ersten Mal nach der Beschneidung gerechnet hatte.“77 Ihrer Verführungskunst bringt er nicht nur das selbstauferlegte Opfer des Schweigens, sondern auch das Opfer der tatsächlichen Beschneidung der eigenen Männlichkeit, womit die Diagnose der Gefahr, die von der Verführerin ausgeht, bestätigt wird: „But such seductresses are dangerous – they kill non-Jewish men like Holofernes.“78 Obgleich die Darstellungsweisen der Jüdin in kulturgeschichtlicher Perspektive im Gegensatz zur Darstellung des jüdischen Mannes oft „ambiguously identifiable“79 zu sein scheinen, so wird sie bei Schlink mit symbolisch eindeutigen Merkmalen ausgestattet: orientalisch (zumindest fremdartig und farbprächtig) anmutende Kleidung, dunkle Locken, weibliche, lockende Erscheinung und männliche Intelligenz. Diese Marker sind ambivalent, da sie durchaus ein ansprechendes Bild erzeugen, dieses Bild jedoch immer das einer Fremden, einer gefährlichen Fremden ist: „If indeed the body of the Jewish male is marked and made visible by the signs of his pathology, the woman‫ތ‬s beauty is a visible sign of her danger to all human beings.“80 Es werden in Die Beschneidung weitere Anknüpfungspunkte an Stereotype eröffnet: des verstockten Juden, des jüdischen Zusammenhaltes/der jüdischen

75 A. C. Mueller: „Forgiving the Jews for Auschwitz? Guilt and Gender in Bernhard Schlink’s Liebesfluchten“, in: The German Quartlery 80, 4 (2007), S. 511-530, hier S. 519. 76 DB, S. 218. 77 Ebd., S. 253. 78 S. L. Gilman: Salome, Syphilis, Sarah Bernhardt and the „Modern Jewess“, S. 204. 79 Ebd., S. 195. 80 Ebd., S. 211.

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Kungelei (Sarah hat in New York offensichtlich nur jüdische Freunde und Bekannte) oder auch Vorstellungen von einer jüdischen Exklusivposition in der Geschichte. Matthias N. Lorenz verweist zudem auf die Familiengeschichte Sarahs, die vor stereotypisierenden Elementen strotzt, „[v]om Klischeebild ‚sekundärer‘ jüdischer Arbeit […], über alle Unglücksfälle, aus denen diese Familie jedes Mal sogar im Gegensatz zu ihrer Umwelt gestärkt hervorgeht, bis hin zur Bereicherung in Krieg und Krise sowie rätselhaften Geschäftspraktiken und Reichtum.“81 Hier wird eine deutliche Träger-Merkmal-Struktur nach protonormalistischen Kritierien82 erzeugt und beibehalten, die zu einer Stigmatisierung der jüdischen Figuren führt, mit dem Effekt, dass sie aus dem Bereich des ‚Normalen‘ und Wünschenswerten ausgeschlossen erscheinen. Dabei spielt immer wieder die Konstruktion der kulturellen Andersheit über eine körperliche Andersheit eine wichtige Rolle. Dass dies kein literarischer Einzelfall ist, beweist Lorenz in seiner Dissertation über Martin Walser. Er erkennt in Walsers Konstruktion der Figur des André Ehrl-König in Tod eines Kritikers83, deren abstoßender Körperlichkeit und sexueller Perversion, die „Konstruktion nationaler Identität über Auschwitz – und gegen die Juden“.84 In diesem Zusammenhang ist es durchaus bemerkenswert, dass diese Verbindung von körperlicher und kultureller Andersheit bereits von Lessing durchbrochen wurde. In Die Juden koppelt er ganz explizit das protonormalistische Stigma der ‚Anormalität‘, den Judenbart, von dem jüdischen Reisenden ab und entlarvt die Bedeutung dieses Zeichens als eine kollektive Phantasmagorie. Zurück zum Titel der Geschichte von Schlink. Wie wir bereits gesehen haben und wie Lorenz dies genau aufzeigt, so meint er nicht nur eine Beschneidung im wörtlichen Sinne, die der männliche Protagonist über sich ergehen lässt, sondern auch eine metaphorische Beschneidung seiner Persönlichkeit in der Beziehung zu Sarah: „So schnitt er seine Liebe immer kleiner zu. Über die Familie reden war heikel, über Deutschland, über Israel, über die Deutschen und die Juden, über seine Arbeit und ihre, von der das Gespräch wieder leicht auf seine kam.“85

81 M. N. Lorenz: ‚Political Correctness‘ als Phantasma, S. 235. 82 Vgl. zum Begriff des Protonormalismus in Abgrenzung zum flexiblen Normalismus J. Link: Versuch über den Normalismus. 83 Martin Walser: Tod eines Kritikers. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2002. 84 M. N. Lorenz: „Auschwitz drängt uns auf einen Fleck.“ Judendarstellung und Auschwitzdiskurs bei Martin Walser. Mit einem Vorwort von Wolfgang Benz. Stuttgart/Weimar: Metzler 2005, S. 483. 85 DB, S. 237.

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Im weiteren Kontext steht diese Beschneidung der Rede auch für die Beschneidung der deutschen Identität Andis, die wiederum mit der tatsächlichen Beschneidung symbolisiert wird, und lässt sich paradigmatisch für das ‚Schicksal‘ der Deutschen nach dem Holocaust verstehen. Der beschnittene Penis wird zum Symbol der beschnittenen deutsch-männlichen Integrität. Dieser Befund soll vor dem Hintergrund der Strategie untersucht werden, die von mir als ‚materialisierte Metapher‘ etikettiert wurde. Der Titel Die Beschneidung ist zunächst wörtlich gemeint, er nimmt Bezug auf den real beschnittenen Penis, als Symbol für die Bereitschaft, sich auf die jüdische Welt Sarahs einzulassen, eine Geste, die Sarah nicht einmal wahrnimmt. Als Metapher jedoch eröffnet ‚die Beschneidung‘ Kontexte und Assoziationen, die an Diskurse der Vergangenheitsbewältigung und des deutsch-jüdischen Verhältnisses anschließen. In diesem Zusammenhang erzeugt die Metapher eine ganze Reihe von antijüdischen Bedeutungen, die bis hin zu einer Täter-Opfer-Umkehr reichen.86 Hier entwickelt die Metapher ihre volle suggestive Kraft. Der Vorgang der Übertragung wird verschleiert, nicht exponiert, wie dies bei den materialisierten Metaphern geschieht. Indem die Metapher der Beschneidung das deutsch-jüdische Verhältnis beschreibt, evoziert sie als metaphorisches Konzept eine Reihe negativer Bedeutungen und Zuschreibungen. So erzeugt sie ein dichotomes Bild mit den Akteuren des beschnittenen (Deutschen) und den beschneidenden (Juden). Was von einer solchen Rollenverteilung zu halten ist, macht der Text unzweifelhaft deutlich. Allein die Überlegungen Andis vor seiner geplanten tatsächlichen Beschneidung lassen eindeutige Schlüsse auf diese metaphorische Beschneidung (und die eben erwähnte Rollenverteilung) zu. So wehrt er sich entschieden gegen die Vorstellung, das Ritual von einem jüdischen Mohel vollziehen zu lassen. „Ohne Ritual ging es nicht. Aber sich in einem Ritual von einem Mohel unter Lokalanästhesie die obere Vorhaut ab- und die untere zerschneiden, die Haut unter die Eichel schieben und die Wunde aussaugen lassen, seinen Körper zu religiöser Verfügung stellen, sein Geschlecht vor jemandem entblößen, mit dem ihn nichts verband, keine Liebe und keine Nähe des Patienten zum Arzt und kein Vertrauen von Kumpel zu Kumpel, es von ihm befummeln und verstümmeln lassen, sich womöglich nicht nur dem Mohel, sondern dem Rabbi und irgendwelchen Ältesten, Zeugen und Paten präsentieren, das Ganze mit runtergelassener Hose oder ohne Hose in Socken, und danach stehen und warten, bis das Ritual zu Ende ist, während die Wirkung der Spritze nachlässt und das dick verbundene, in die

86 Dieses Muster weiß Lorenz auch an Schlinks nichtfiktionalen Texten zu belegen. Vgl. M. N. Lorenz: ‚Political Correctness‘ als Phantasma, S. 237 ff.

F LUCHTLINIEN

UND

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Hose gezwängte Glied zu schmerzen beginnt und die abgeschnittene Vorhaut blutig in einer rituellen Schale liegt – nein, dazu war er nicht bereit.“87

Andis Vorstellung der traditionellen jüdischen Berit Mila strotzt vor Kastrationsund Vergewaltigungsängsten, sie wird blutig, schmerzhaft (trotz der Lokalanästhesie) und barbarisch geschildert. Es wird deutlich, dass eine Beschneidung durch einen Juden offenbar unerwünscht ist. Der jüdische Part wird als nicht fähig dargestellt, die Operation der Beschneidung für den Deutschen angemessen durchzuführen. Überträgt man nun das gesamte Konzept der Beschneidung mit seinen einzelnen Elementen, wie den eben dargestellten Akteuren, der Aktion des Beschneidens und dem Objekt der Beschneidung auf das deutsch-jüdischeVerhältnis nach dem Holocaust, so zeigt sich die oben erwähnte Parallelität von männlichem Glied und deutscher Identität. Die jüdischen ‚Beschneider‘ werden zu einer substanziellen Gefahr dieser Identität. Zudem wird die Vorstellung genährt, dass die Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit von Juden aufoktroyiert und im Verlauf wie im Ergebnis gelenkt werde, da es wie die Beschneidung ein jüdisches Ritual sei. Der jüdische Weg ist für den Deutschen der falsche: Er entschließt sich, die Operation von einem befreundeten deutschen Chirurgen durchführen zu lassen, der die Kastrationsangst bestätigt: „Was willst du mit einer Religion, die dir als erstes den Schniedelwutz abschneidet?“88 Auch der Vergleich, den Andi anstellt, zeigt, dass die Beschneidung (auch hier im wörtlichen wie metaphorischen Sinne) höchst problematisch ist: Er stellt das Ritual nicht nur in eine Reihe mit der Taufe, dem Eintritt der Nonnen ins Kloster oder der Rekruten ins Militär, sondern vergleicht es auch mit der Stigmatisierung von KZ-Häftlingen89 und fragt sich: „Was ist das für eine Religion, der das Symbol der Überantwortung nicht genügt, die die Überantwortung vielmehr körperlich untilgbar vollzieht? Die der Kopf verraten mag, der aber der Körper auf immer und ewig die Treue halten muß?“90 Diese Passage selbstgerechter religionskritischer Reflexion erinnert stark an die antijüdische Abgrenzung des Christentums vom Judentum: Der jüdische unbeugsame Gott klingt in diesen Worten an. Im Hinblick auf den Vergangenheitsbewältigungsdiskurs lässt sich ein direkter Bezug herstellen, demzufolge die Juden eben nicht den christlichen Weg der Vergebung wählen.

87 DB, S. 245. 88 Ebd., S. 246. 89 Vgl. ebd., S. 246 90 Ebd.

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Hier zeigt sich deutlich, wie ein metaphorisches Konzept versteckt und suggestiv Botschaften transportieren und Weltbilder aufbauen kann, die in sich kohärent und stabil sind. Wie Lorenz dies nach einer Analyse von Martin Walsers Tod eines Kritikers konstatiert, so wird auch bei Bernhard Schlink der „Wunsch nach einer homogenen unbelasteten also Identifikation zulassenden Identität stiftenden Nation“91 deutlich. Der Versuch, dafür das Stigma des Tätervolkes abzulegen92, geht dabei mit der Stigmatisierung des Opferkollektivs einher. Wie Ruth Klüger schreibt, entsteht hier ein „Weltmelodrama“93, ein Kampf um die Identität, bei dem die Deutschen die Opfer und Verlierer, die Juden hingegen die Täter und Gewinner sind. Auf diese Weise zeigt sich, wie eine realistische, ungebrochene Erzählweise, verfestigte und homogen konstruierte Rollen und ihre dichotome Verteilung wie auch eine konventionelle Verwendung von Metaphern die Fortschreibung jüdischer Stereotype begünstigen können.

91 M. N. Lorenz: Auschwitz drängt uns auf einen Fleck, S. 483. 92 Vgl. ebd. 93 R. Klüger: Die Säkularisierung des Judenhasses, S. 107.

5.

Fazit

Der Anlass für die vorliegende Arbeit ergab sich aus einer Leerstelle in der Erforschung jüdischer Figuren in der Literatur, die sich zwischen den Forschungsfeldern der deutsch-jüdischen Literatur, der Imagologie und der literarischen Antisemitismusforschung auftut. Da insbesondere die Letztere bereits zahlreiche erhellende Arbeiten bereitstellt, die Weisen verhandeln, wie antisemitische Gehalte und Klischees in der Literatur codiert und transportiert werden, stellte sich hier die Frage nach dem Vorgehen von Texten, die eine umgekehrte Absicht verfolgen: Welche Strategien und Mechanismen lassen sich in Werken nachweisen, in denen antisemitische Stereotype demontiert werden? Die Beantwortung der Frage sollte nicht antizipatorisch durch die Wahl einer bestimmten Literatur beeinflusst werden, und so wurde eine möglichst breite analytische Basis gewählt, die es ermöglichen sollte, einen systematischen Einblick in die Strategien der Demontage jüdischer Sterotype zu bekommen. So wurde nicht nur international mit Beispielen aus der polnischen, deutschen, schweizerischen und US-amerikanischen Literatur gearbeitet, sondern auch mit Werken jüdischer wie nicht-jüdischer Autoren. Auch die Rezeption der Romane spielte bei der Auswahl eine Rolle: Es wurden sowohl sehr positiv aufgenommene Romane untersucht als auch jene, die bei ihrem Erscheinen mit Antisemitismusvorwürfen zu kämpfen hatten. Diese Arbeitsweise stellt eine Herausforderung an die Methode, da eine internationale Literaturauswahl und eine Fragestellung, die darauf abzielt, transnationale Strategien und Modi der Demontage zu erarbeiten, weder in den Modellen der Imagologie noch in den Theorien der interkulturellen Germanistik ein hinreichendes Werkzeug finden. Aus diesem Grund empfahl es sich, nicht auf die Bilder selbst zu blicken, sondern ihre Grundlagen näher zu untersuchen, die sich auf basale, metaphorisch organisierte Konzepte, wie sie George Lakoff und Mark Turner beschreiben, zurückführen lassen. Die Konzepte wurden bottom upwards anhand der Texte re-

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konstruiert. Die Rekonstruktion ergab drei Konzepte, die Einfluss auf das jeweilige Bild des Juden haben: Gesellschaft, Mensch und Moral. Diese komplexen und abstrakten Phänomene werden metaphorisch von anderen Konzepten her strukturiert. Aus dieser Strukturübertragung ergaben sich fünf konzeptuelle Metaphern, anhand derer das Bild des Juden untersucht wurde: DIE GESELLSCHAFT IST EIN ORGANISMUS, DIE GESELLSCHAFT IST EINE MASCHINE, DER MENSCH IST EINE PFLANZE, MORAL IST EIN SCHACHSPIEL und MORAL IST EIN WEG. Die Wahl einer Methode aus dem Feld der kognitiven Linguistik sollte weniger dem Trend eines cognitive turn Rechnung tragen als dem Gegenstand selbst. Die Bilder von Juden, die sich zu Stereotypen verdichten, haben keinen Realitätsbezug. Gerade weil antisemitische Stereotype Phantasmagorien sind und keine realen Entsprechungen besitzen, bedarf es einer Methodik, die diesen besonderen Status berücksichtigt und den Prozess nachvollzieht, in dem die Bedeutung dieser ‚Bilder vom Juden‘ generiert wird. Die Hauptthese der Arbeit ging also davon aus, dass die Konstruktion der Bilder vom Juden, die sich in Stereotypen und Kollektivsymbolen manifestieren, in einem reziproken und dynamischen Verhältnis mit den genannten kulturellen Konzepten steht. Die sich daraus ergebende Argumentation erfolgte in drei Schritten: Zum einen wurden in Einzelanalysen metaphorische Konzepte erarbeitet, die in den jeweiligen Textbeispielen das grundlegende Bild des Juden generierten. Anschließend wurde die Wechselwirkung dieser Konzepte mit den jüdischen Figuren oder jüdischen Themen im Text analysiert. Als Werkzeug dieser Analyse diente das Modell des Conceptual Integration Network, das von Gilles Fauconnier und Mark Turner als Kern ihrer Theorie entwickelt wurde. Dieses Netzwerkmodell veranschaulicht die Antwort auf eine von Lakoff und Johnson nicht endgültig ausgearbeitete Frage: Wie genau erlaubt es die Projektion zweier Bereiche, das Ergebnis dieser Projektion, die Metapher, als ein semantisch angereichertes Konstrukt wahrzunehmen?1 Das lässt sich für die vorliegende Fragestellung wie folgt übersetzen: Die Analyse hat gezeigt, dass die metaphorische Organisation der einzelnen Konzepte zwar per se nicht mit Bildern des Jüdischen im Zusammenhang steht, aber dennoch kohärent mit ihnen ist und einen prägenden Einfluss auf diese ausübt. Um dieses Bild herausarbeiten zu können, ist es notwendig, die Metapher semantisch zu erweitern und ihre Implikationen im Hinblick auf das Thema herauszuarbeiten, was von den Einzeltextanalysen im ersten Teil geleistet wurde.

1

Vgl. M. Fludernik: Naturalizing the unnatural, S. 9.

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Im zweiten Teil der Arbeit wurden aus diesen Einzeltextanalysen zwölf Strategien extrahiert, die sich in fünf literaturwissenschaftlichen Kategorien bewegen: Narratologie, Gattung, Sprache, Textstruktur und Motivik, die zusammenfassend darauf abzielen, Inkohärenzen der Konzepte aufzuzeigen oder selbst zu erzeugen sowie die Träger-Merkmal-Struktur der Stereotype aufzulösen. Um die Kohärenz eines metaphorischen Konzeptes aufzulösen, kann ein konkurrierendes Konzept eingeführt werden, wodurch es von außen angegriffen und destabilisiert wird. Im Methodenkapitel wurde erläutert, dass metaphorische Konzepte aus sich heraus kaum angreifbar sind. Solange sich die Begrifflichkeiten im Rahmen der Metapher bewegen, bestätigen sie das zugrundeliegende Konzept. Doch auch das Einführen von kreativen Metaphern kann Inkohärenzen erzeugen, denn sie irritieren die Wahrnehmung und verschleiern nicht ihre metaphorische Struktur. In einigen der Strategien lässt sich auch eine Kommunikationssituation mit dem Leser nachweisen. An diesen kann sich ein Appell oder eine Kritik richten, er wird durch die Erzählhaltung gelenkt, gelegentlich bewusst in die Irre geführt. In einem dritten und letzten Schritt wurde der Geltungsbereich dieser Strategien exemplarisch abgesichert, was diachron durch einen Rückblick in die Epoche der Aufklärung, genauer zu Lessings Einakter Die Juden, geleistet wurde. Dieser Vergleich verdeutlichte, dass bereits in dem frühen Stadium des Diskurses um die Judenemanzipation analoge literarische Strategien nachzuweisen sind und folglich die Demontage jüdischer Stereotype kein Produkt einer postmodernen dekonstruktivistischen ‚Mode‘ ist. Zugleich wurde auf der synchronen Ebene in einem Vergleich mit zwei Textbeispielen von Bernhard Schlink nachgewiesen, wie die erarbeiteten Strategien, in ihr Gegenteil verkehrt, dazu verhelfen können, Bilder und Weltbilder zu produzieren, deren Gehalte Züge des literarischen Antisemitismus tragen. Nach dieser Zusammenfassung stellt sich nun die Frage, was mit dem vielzitierten ‚Bild vom Juden‘ passiert ist und welche grundlegenden Veränderungen es erfahren hat. Es läge nahe, sich hier zwei mögliche Lösungswege vorzustellen. Eine Möglichkeit könnte der assimilatorische Weg bieten, der darin besteht, jüdische Figuren mit ihrer Umgebung verschmelzen, sie als Juden unkenntlich werden zu lassen. Diese Strategie wurde beispielsweise Lessing durchaus zum Vorwurf gemacht, wie die skizzierte Debatte im Kapitel Fluchtpunkt Aufklärung belegt. Die andere Möglichkeit könnte im Weg des Paria liegen, dessen im Grunde paradoxe Position außerhalb der Gesellschaft, in der er lebt, eine fruchtbare Wirkung hat. Als ‚außenstehender Insider‘ kann der Paria seine Umwelt viel schärfer und kritischer ausleuchten. Beide Möglichkeiten der Darstellung scheinen immer wieder in der Konzeption der jüdischen Figuren in den unter-

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suchten Romanen auf. Dennoch wird keine der beiden als die endgültige Lösung vorgeschlagen. Die Erfahrung der Vergangenheit hat die Problematik dieser Lebensentwürfe gezeigt: Sie orientieren und verhalten sich zu dem Bild der Mehrheitsgesellschaft. In den hier eingeführten Termini ließe sich sagen, dass beide Lebensentwürfe die grundlegenden metaphorischen Konzepte der Mehrheitsgesellschaft bestätigen. Problematisch wird dies, wenn der semantische Gehalt dieser Konzepte erweitert wird. Die Analysen haben gezeigt, dass die meisten vorgestellten konzeptuellen Metaphern vordergründig in keinem unmittelbaren Bezug zu Juden stehen, im Hinblick auf das vorliegende Thema also recht unschuldig erscheinen. Erst diese Anreicherung eröffnet Anbindungspunkte, die unterschiedlich besetzt werden können. Zur Erläuterung ein Beispiel: Die konzeptuelle Metapher GESELLSCHAFT IST EIN ORGANISMUS enthält unter anderem die Elemente von KRANK und GESUND. Welchen Gruppen oder Individuen diese Attribute zugeschrieben werden, ist arbiträr und vom Kontext oder Zeitgeist abhängig. So funktioniert die Metapher im Hinblick auf Verbrecher, geistig oder körperlich deviante Personen, ethnische Minderheiten oder – recht aktuell – Terroristen. Und ebenso lassen sich weitere Implikationen der Metapher erweitern: Der Ort, an dem der erwünschte Gesundheitszustand des Organismus erreicht werden kann, kann ein Krankenhaus oder ein Gefängnis sein, wo eine Heilung angestrebt wird, oder eine Todeszelle oder ein Konzentrationslager, wo die Eliminierung der kranken Teile des Organismus erfolgt. Dieses Beispiel soll verdeutlichen, dass die Ausrichtung der eigenen Lebensentwürfe an den Konzepten der Mehrheitsgesellschaft nicht steuerbar, geradezu unberechenbar ist, da diese Konzepte selbst dynamisch, beeinflussbar und äußerst anpassungsfähig sind. Kriege, Katastrophen oder andere einschneidende Umbrüche und Veränderungen können dabei als Katalysatoren dienen. Die Lösung liegt also nicht darin, ein Bild vom Juden zu finden, das sich in irgendeiner Weise relativ zur Majorität verhält, sondern ein Bild zu zeichnen, das selbst dynamisch ist und sich in einem ständigen reziproken Verhältnis und Austausch mit der Majorität befindet. Das wird nur möglich, wenn das Judentum normalisiert, jedoch nicht assimiliert wird. Normalisierung kann hier nicht bedeuten, einen Schlussstrich unter die Vergangenheit zu ziehen und bei einer ‚Stunde Null‘ zu beginnen. Und so muss an dieser Stelle nochmals die Unterscheidung zwischen der Normalität des Judentums und der Anormalität der Shoah bekräftigt werden. So unterwandern die Romane in der Hauptsache denormalisierende Strategien in der Darstellung jüdischer Figuren oder in der Auseinandersetzung mit jüdischen Themen. Im historischen Abriss wurden vormoderne Formen der Mar-

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kierung von Juden aufgezeigt, die ihre Andersheit begründen oder sichtbar machen sollten. Neben tatsächlicher Stigmatisierung geschah dies auch durch das Erwecken von Assoziationen (beispielsweise mit dem Teufel) oder durch Anbindung an verschiedene Diskurse wie den Geld- oder Sexualitätsdiskurs. Im 18. Jahrhundert trugen vor allem Aufklärer wie Lessing oder Mendelssohn dazu bei, dass Juden nicht mehr als stigmatisiert und im protonormalistischen Verständnis als ‚anormal‘ galten.2 Lessing zeigte in Die Juden, wie jegliche Stigmata zu vorschnellen und allgemeinen Urteilen verleiten und schuf zugleich eine Figur, die völlig frei von solchen Markern war. Dass dies eine Ungeheuerlichkeit war, zeigen sowohl der Streit mit Michaelis nach dem Erscheinen von Die Juden als auch Jahrzehnte später die Reaktionen auf Nathan. Obwohl das Drama als mustergültiges Toleranzstück begrüßt wurde, zeigen die Travestien des Nathan, woran sich selbsternannte Aufklärer wie Julius von Voß tatsächlich störten: an der assimilierten Erscheinung der jüdischen Figuren des Stückes. Dieses ‚normale‘ Auftreten der jüdischen Figuren traf die Travestie von Voß‫ތ‬, der die stereotypisierende Darstellung in der Einleitung seines Stückes wie folgt rechtfertigt: „Ich bitte es mir aber von einer löblichen Judenschaft aus: mich nicht, weil ich einen anderen als den Lessingschen Nathan darstellte, in die Rubrik ihrer Feinde zu verzeichnen. Das Loschon = kaudesch und gewisse Hausgebräuche können keinem Israeliten anstößig werden, da sie Nachlaß der Väter sind.“3

Gier, sprachliche Mängel, Halbbildung und Verstocktheit werden als „Nachlaß der Väter“ bezeichnet. Die physisch (man mag nur das Titelbild des travestirten Nathan betrachten) wie psychisch stigmatisierenden Eigenschaften werden als Faktum gehandelt und unterstellen implizit der Lessing’schen Darstellung eine nicht realistische Idealisierung. „Ich suche an meinem Kanefaß nicht blos die Gelegenheit zum Farciren, sondern auch die auf, wo man Wahrheiten sagen und Sitten zeichnen kann; was denn der Natur dieser

2

Link unterscheidet „zwei fundamental verschiedene normalistische Strategien“ zur Produktion von Normalität. Die historisch frühere protonormalistische Strategie zielt auf die „maximale[] Komprimierung der Normalitäts-Zone“ durch festgesetzte Grenzen. Die spätere flexibel-normalistische Strategie zielt dagegen auf eine „maximale Expandierung und Dynamisierung der Normalitäts-Zone“. Vgl. J. Link: Versuch über den Normalismus, S. 53f. [Herv. i. O.]; vgl. auch die Übersichtstabelle auf S. 57 f.

3

J. v. Voß: Der travestirte Nathan, Vorrede S. XIII.

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Schriftgattung [Travestie, Erg. v. P.W.] zufolge, hier viel kecker und unverschämter geschehen darf, als sonst im repräsentabeln dramatischen Fach.“4

Hier wird deutlich, dass auch auf der literarischen Ebene ein Kampf um die Deutungshoheit in der Frage der Normalität der Juden entbrennt. In dieser Frage ist das 18. Jahrhundert eine besonders heiß umkämpfte Phase, da sich hier der Normalismusbegriff mit seinen Strategien der Normalisierung und Denormalisierung ausformiert. Wie Jürgen Link feststellt, ist „die Normalität nicht als ahistorische, jederzeit parate, anthropologisch konstante Kategorie aufzufassen, sondern als historisch spezifische, von der westlichen Moderne nicht ablösbare Emergenz seit dem 18. Jahrhundert. […] Normalitäten sind niemals statische […], sondern stets dynamische […] soziale Gegenstände.“5 Lessing kritisiert durch sein Spiel mit den Stigmata in besonders fortschrittlicher Weise protonormalistische Strategien in der Konstruktion der Normalität, die von einer unverrückbaren Grenze, der „Stigma-Grenze“6 des Normalen, ausgeht. Das Bemühen der hier vorgestellten Autoren um eine „entmythologisierte Normalität“7 des Jüdischen bezieht sich stärker auf Stigmatisierungsstrategien, die durch die Anbindung an bestimmte Konzepte und Diskursfelder funktionieren. Wie oben bereits angedeutet wurde, kann die Rolle des Juden innerhalb dieser Konzepte und Diskursfelder relativ arbiträr besetzt und so können „Modernisierungs- und Abstraktionsschübe“ an Juden delegiert und sie zugleich dafür beschuldigt werden.8 Das entspricht der Diagnose Links in Bezug auf die Wechselwirkungen zwischen der „Emergenz des Normalismus“ und den „Wachstumsdynamiken“: „Die Emergenz des Normalismus fällt, wie die Untersuchung im Einzelnen zeigen wird, nicht zufällig mit dem take-off [im 18. Jahrhundert, Erg. v. P.W.] der modernen, symbolisch exponentiellen Wachstumsdynamiken zusammen. Beides steht vielmehr in einem funktionalen Zusammenhang, der sich antizipierend und in Kürze so kennzeichnen lässt: Der Normalismus stellt Dispositive kompensierender Ver-Sicherung (Sicherheit) gegen

4

Ebd., S. XII f.

5

J. Link: Versuch über den Normalismus, S. 39.

6

Ebd., S. 57.

7

N. O. Eke: Im ‚deutschen Zauberwald‘, S. 253. Diese „entmythologisierte Normalität“ bezeugt Eke deutsch-/österreichisch-jüdischen Autoren. Sie ist ein Gegenentwurf zur „Deckerinnerung der Normalität mit ihrer unguten Melange aus Schamabnutzung und Schuldabwehr, wie sie etwa Martin Walser aufs Neue zu errichten trachtet“.

8

Vgl. Ch. v. Braun: Einleitung, S. 35.

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die Risiken eines hyperdynamischen, symbolisch exponentiellen Wachstums zur Verfügung. Wenn man die zahlreichen Wachstumskurven der Moderne symbolisch als Fortschrittskurve zusammenfaßt, dann haben wir es mit einer engen strukturellen Symbiose zwischen Fortschrittskurve und ihrer normalistische[n] Ver-Sicherung zu tun […]. Anders gesagt: Soll der Fortschritt nicht aus dem Ruder laufen, muß er ständig normalisiert werden.“9

Diese Normalisierung des Fortschritts kann in der Denormalisierung ihrer Akteure bestehen, wie dies für die Entstehung des Geldhandels gilt. Auch die sich im Zuge der Globalisierung mehrenden antisemitischen und antiamerikanischen Stimmen sind ein Hinweis auf die Neigung, potenzielle Verantwortliche für die Folgen bedeutender Umbrüche antizipatorisch auszumachen und so klar strukturierte Weltbilder mit eindeutig bestimmbaren Schuldigen zu schaffen. Sowohl körperliche Markierungen als auch Formen der Stigmatisierung, die durch Anbindung an bestimmte Diskursfelder erreicht werden, bauen auf einem dichotom organisierten Weltbild und einem konstruierten Kampf von Gut und Böse auf. Die Position des Bösen in diesem Kampf kann willkürlich besetzt werden und sich nach Bedarf verändern, doch wird sie in der Regel mit Akteuren besetzt, die innerhalb der Gesellschaft eine alteritäre Rolle innehaben. Diese Rolle Juden zuzuschreiben, erweist sich als besonders nachhaltig und kann je nach Deutungsstandpunkt durch ihren Status als „der Fremde“10, als „die Figur des Dritten“11 begründet werden oder weil Juden „aus ihrer Denktradition heraus […], zwischen Geld und Zeichen streng unterscheiden gelernt hatten“12 und so besonders erfolgreich im Umgang mit diesem abstrakten Medium seien. Obwohl die Besetzung der Rollen je nach historischem oder ideologischem Kontext also durchaus variieren kann, bleibt die bipolare Ordnung der Welt in diesen Vorstellungen von Umbrüchen unangetastet und statisch. Als Gegenentwurf zu solchen komplexreduzierenden Weltdeutungen lässt sich die Domäne der REISE verstehen, die alle Romane miteinander verbindet. Durch sie wird ein dynamisches Weltbild eingeführt, in dem die Bewegung und nicht die Statik das begründende Moment ist. Die Dynamik kennzeichnet nicht nur tatsächliche (Migrations-)Bewegungen, sondern auch die Fluktuation der Identitäten wie auch Veränderungen der gesellschaftlichen, beruflichen und fa-

9

J. Link: Versuch über den Normalismus, S. 39.

10 Z. Bauman: Moderne und Ambivalenz, S. 92. „Es gibt Freunde und Feinde. Und es gibt Fremde.“ 11 K. Holz: Die Figur des Dritten, S. 269-290. 12 Ch. v. Braun: Einleitung, S. 34.

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miliären Rollen und erfasst damit das grundlegende Merkmal der Moderne. Gut und Böse sind keine dichotom feststehenden Größen, sondern nur kontextuell und relativ ermittelbar. Bewegung und Dynamik sind es auch, die das heutige Bild des Juden bestimmen: Dieses Bild kann sich in seiner Normalität nur in einem dynamischen Austausch mit anderen Bildern entwickeln, nicht in einem Annäherungs- oder Abgrenzungsverhältnis. Die Bewegung ist dabei nicht unidirektional zu verstehen, sondern reziprok. Die ersten Anzeichen solcher Bewegungen sind an Zuschreibungen festzustellen, die seinerzeit mit der Absicht verwendet wurden, Juden zu diffamieren, heutzutage jedoch als Selbstdefinitionen gebraucht werden. So beispielsweise der Vorwurf des Kosmopolitismus, der sich aus dem Stereotyp des ahasverischen Juden oder des Luftmenschen speiste und im Widerspruch zur deutschen Bodenständigkeit und zum ausgeprägten Nationalgefühl konstruiert wurde. Heute ist der Kosmopolitismus wichtiger Bestandteil von postnationalen Identitäten. In den Beispielen von Jan Koneffke und Mariusz Sieniewicz kann diese Bewegung sehr klar nachvollzogen werden: Die jüdische Identität, die lange Zeit als unbestimmt (Bauman), viskos (Sartre) oder abjekt (Kristeva) galt, wird in den Beispielen zum Paradigma moderner Identität. Auch der Mut, neue jüdische Figuren wie den ‚wehrhaften Juden‘ zu schaffen, ist ein Teil dieser reziproken Annäherung. Dieser jüdischen Figur werden Eigenschaften wie Mut oder Kampfgeist zugeschrieben, was eine sehr bewusste Abgrenzung von gängigen Konstruktionen jüdischer Stereotype ist. Hier liegt auch der Kern der Replik auf den möglichen Vorwurf, der an die hier vorgestellten literarischen Beispiele gerichtet werden könnte, die Auseinandersetzung mit jüdischen Stereotypen bedeute auch immer ihr Zitieren, was zu ihrem Fortbestehen im kollektiven Bewusstsein beitrage. Dagegen kann geltend gemacht werden, dass sowohl das nachweisbare Fortbestehen antisemitischer Ressentiments als auch die Konjunktur antisemitischer Verschwörungstheorien13 zur Genüge verdeutlichen, dass Tabuisierung bestimmter Denkbilder als Strategie im Kampf gegen den Antisemitismus nicht ausreichend ist. Aufklärung ist ein wichtiges Mittel, das, früh zur Geltung gebracht, einen großen Anteil an der Veränderung des Bildes vom Juden hat. Jedoch ist es nicht ausreichend, auf die

13 Vgl. hierzu W. Benz: Die Protokolle der Weisen von Zion, T. Jaecker: Antisemitische Verschwörungstheorien, J. Waibl-Stockner: Die Juden sind unser Unglück, Wolfgang Wippermann: Agenten des Bösen. Verschwörungstheorien von Luther bis heute. Berlin: be.bra-Verl. 2007, sowie die Sammelbände von U. Caumanns/M. Niendorf: Verschwörungstheorien sowie H. Loewy: Gerüchte über Juden.

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Schule als einzige Institution der Aufklärung zu verweisen, wenn bedacht wird, dass der sich neu herauskristallisierende „Antisemitismus der Mitte“14 zumeist von gebildeten Schichten der Bevölkerung getragen wird. Hier kann die Literatur einen besonderen Beitrag leisten. Als ein Interdiskurs begriffen, ließe sich konstatieren, dass Literatur komplexe und scheinbar inkommensurable Inhalte aus den spezifischen historischen, politischen und soziologischen Diskursen, Erinnerungs-, Identitäts- und Schuldbewältigungsdiskursen komplexreduzierend zu übersetzen und zusammenzuführen vermag und es auf diese Weise einer breiten Öffentlichkeit ermöglicht, Teil an diesen Diskursen zu haben. Dass dies auch für den Bereich der Normalität gilt, betont Jürgen Link: „Spezialdiskurse und ihre Praktiken produzieren spezielle, sektorielle Normalitäten (z. B. medizinische, psychologische, soziologische) – die Interdiskurse integrieren diese verschiedenen Normalitäten zu allgemein kulturellen Vorstellungen von Normalität, zu einer Art Querschnittskategorie des Normalen – diese Querschnittskategorie schließlich erweist sich als selbstverständlicher Orientierungsmaßstab moderner, okzidentaler Subjekte im Alltag.“15

Die hier vorgestellten Literaturbeispiele verfolgen durchaus eine didaktische Absicht, die in der immerwährenden Arbeit an dem Bild vom Juden in der Öffentlichkeit besteht. Sie wehren sich gegen Weltdeutungen, die auf dem Formieren „semantische[r] Wir-Gruppen“16 basieren. Auch das, was Monika SchwarzFriesel als „verbale Re-Klassifikationsstrategien“17 des neuen Antisemitismus bezeichnet, wird in den Romanen so ausdrücklich unterlaufen, dass sich geradezu von verbalen Re-Re-Klassifikationsstrategien sprechen ließe. Hier zeigt sich, dass Literatur in dieser Sache als Interdiskurs mehr leisten kann, als dies die einschlägigen Expertendiskurse vermögen. Um diese These auszuführen, möchte ich kurz auf den Stereotypenbegriff Hilary Putnams eingehen. Sein Konzept unterscheidet sich von denen der Sozialpsychologie, der Geschichtswissenschaft, der Linguistik oder der Imagologie, insbesondere, da es von wertbeladenen Konnotationen befreit ist, wie sie der herkömmliche Begriff mit sich führt. So geht Putnam davon aus, dass wir als gewöhnliche Sprachbenutzer von allen Dingen, über die wir sprechen, Stereoty-

14 M. Schwarz-Friesel/E. Friesel/J. Reinharz: Aktueller Antisemitismus. 15 J. Link: Versuch über den Normalismus, S. 20. 16 K. Holz: Nationaler Antisemitismus: Wissenssoziologie einer Weltanschauung. Hamburg: Hamburger Ed. 2001, S. 540. 17 M. Schwarz-Friesel/E. Friesel/J. Reinharz: Aktueller Antisemitismus, S. 6.

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pe haben, die lediglich abstrahierte Abbildungen oder Konzepte der realen Phänomene sind. Diese Stereotype reichen zur Orientierung und Kommunikation im Alltag aus und entstehen notwendigerweise durch eine Art linguistischer Arbeitsteilung, die Putnam in der „Hypothesis of the universality of the division of linguistic labor“ zusammenfasst.18 Dieser Arbeitsteilung zufolge gibt es Experten, die eine genaue Bestimmung von Phänomenen vornehmen können, während der durchschnittliche Sprachverwender in der Regel nur eine minimale Kompetenz benötigt, um die Bedeutung der meisten Dinge zu erfassen, sie weiterzugeben und über sie zu sprechen. Ein Stereotyp ist eine solche minimale Kompetenz, ein Minimalkonsens, der von Kultur zu Kultur und von Gegenstand zu Gegenstand variieren kann.19 Blicken wir zurück zu unserem Gegenstand, dem vielzitierten ‚Bild vom Juden‘, so erweist es sich als auffällig, dass noch heute ein Kampf um die Deutungshoheit dieses Bildes bestritten wird. Je nach Standpunkt, Interesse oder Ideologie wird versucht, den Begriff philosemitisch, antisemitisch, historisch, theologisch oder individualistisch auszulegen, und jeder Vertreter einer dieser Positionen gibt sich als Experte des Feldes aus. Bis in die Aufklärung hinein galten Kirchenvertreter als Experten für das im religiösen Sinne begriffene Judentum, in deren Hand die Bestimmung des jüdischen Stereotyps und vor allem auch sein Verhältnis zu dem, was als ‚normal‘ zu gelten hatte, lag. Mit der Aufklärung beginnt die Autorität der Kirche in dieser Frage schwächer zu werden, und es mischen sich andere Stimmen ein. Vor allem Disziplinen wie Philosophie oder Literatur nehmen an dem Diskurs teil und machen der Kirche ihre Definitionsmacht streitig. In diesem Sinne ließe sich konstatieren, dass Lessing und andere Aufklärer wie Christian Konrad Wilhelm von Dohm oder Moses Mendelssohn den Versuch unternommen haben, das jüdische Stereotyp in den Köpfen ihrer Zeitgenossen grundlegend zu verändern und es in den Bereich des Normalen zu überführen. Die schematisierten Eigenschaften, aus denen sich das Stereotyp bis zum Erscheinen der ersten sogenannten edlen Juden in Gellerts Gräfin oder in Lessings Die Juden zusammensetzte, lassen sich auf Verstocktheit, Gier und moralische Verderbtheit reduzieren. Lessings Nathan, ebenso wie der Reisende aus Die Juden sind also auch als der Versuch zu verstehen, dem Begriff eine

18 Hilary Putnam: Mind, Language, and Reality. Philosophical Papers Volume 2. Cambridge: Cambridge Univ. Press 1995, S. 228. 19 Vgl. ebd., S. 249. So können solche Experten genau die chemische Zusammensetzung von Gold benennen, während dem gewöhnlichen Sprecher das Wissen um das Stereotyp, nach dem Gold ein gelbes, wertvolles Mineral ist, vollkommen ausreicht. Es findet folglich eine Art der Filterung von Informationen vom Experten zum Nutzer statt.

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neue Zuschreibung zukommen zu lassen. Insbesondere die Popularität Nathans, seine breite Rezeption wie auch die vielen Nachahmer des edlen Juden in seiner Nachfolge, konnten dazu verhelfen, eine Bedeutungsveränderung mit dem Ziel einer Verbesserung herbeizuführen. Die Entwicklungen des 19. und 20. Jahrhunderts und die Entstehung des Kollektivsymbols ‚Jude‘ in der semantischen Besetzung, wie wir es heute kennen, zeigen, welche Niederlage das Anliegen der Aufklärer erlebte. Sie zeigen aber auch, dass die antisemitische Literatur (wie auch die Presse) dieser Zeit einen enormen Anteil an der Verbreitung der verfestigten Bilder hatte. Wenn die vorliegende Untersuchung deutlich macht, dass sich in der Literatur des 21. Jahrhunderts transnational gültige Strategien nachweisen lassen, die zu einer Normalisierung des ‚Bildes vom Juden‘ beitragen, so wird dies möglich, weil Literatur als Interdiskurs in dieser Frage ein enormes Mitspracherecht besitzt. In diesem Sinne ließe sich durchaus von einer neuen aufklärerischen Literatur sprechen, die ihr Potenzial nutzt, um eingefahrene Klischees, Denkbilder und Stereotype zu demontieren.

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Rudolf Käser, Beate Schappach (Hg.) Krank geschrieben Rhetoriken von Gesundheit und Krankheit im Diskursfeld von Literatur, Geschlecht und Medizin August 2013, ca. 378 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1760-3

Malte Kleinwort, Joseph Vogl (Hg.) »Schloss«-Topographien Lektüren zu Kafkas Romanfragment Juli 2013, ca. 300 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2188-4

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Hans Stauffacher, Marie-Christin Wilm (Hg.) Wahnsinn und Methode Zur Funktion von Geniefiguren in Literatur und Philosophie September 2013, ca. 300 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2339-0

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Johanne Mohs Aufnahmen und Zuschreibungen Literarische Schreibweisen des fotografischen Akts bei Flaubert, Proust, Perec und Roche Oktober 2013, ca. 350 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 37,80 €, ISBN 978-3-8376-2491-5

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Takemitsu Morikawa Japanizität aus dem Geist der europäischen Romantik Der interkulturelle Vermittler Mori Ogai und die Reorganisierung des japanischen ›Selbstbildes‹ in der Weltgesellschaft um 1900 März 2013, 322 Seiten, kart., 38,80 €, ISBN 978-3-8376-1893-8

Jan Wilm, Mark Nixon (Hg.) Samuel Beckett und die deutsche Literatur Juli 2013, ca. 200 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-8376-2067-2

Februar 2013, 324 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-2099-3

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Zeitschrif t für interkulturelle Germanistik Dieter Heimböckel, Ernest W.B. Hess-Lüttich, Georg Mein, Heinz Sieburg (Hg.)

Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 3. Jahrgang, 2012, Heft 2

2012, 208 Seiten, kart., 12,50 €, ISBN 978-3-8376-2087-0 Die Zeitschrift für interkulturelle Germanistik (ZiG) trägt dem Umstand Rechnung, dass sich in der nationalen und internationalen Germanistik Interkulturalität als eine leitende und innovative Forschungskategorie etabliert hat. Sie greift aktuelle Fragestellungen im Bereich der germanistischen Literatur-, Kultur- und Sprachwissenschaft auf und versammelt aktuelle Beiträge, die das zentrale Konzept der Interkulturalität weiterdenken. Die Zeitschrift versteht sich bewusst als ein interdisziplinär und komparatistisch offenes Organ, das sich im internationalen Wissenschaftskontext verortet sieht. Lust auf mehr? Die Zeitschrift für interkulturelle Germanistik erscheint zweimal jährlich. Bisher liegen 6 Ausgaben vor. Die Zeitschrift für interkulturelle Germanistik kann auch im Abonnement für den Preis von 12,50 € je Ausgabe bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]

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