Das Geschlecht der Kritik. Studien zur Gegenwartsliteratur [1. ed.] 9783967075342, 9783967075359


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German Pages 237 [240] Year 2021

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Titel
Impressum
Inhalt
Einleitung
Peter C. Pohl und Veronika Schuchter — Die Ausweitung einer Kampfzone. Geschlecht, Literatur und Kritik nach 1989
Männliche Wertungsmacht – Kontinuitäten und Strategien
Michael Pilz — »Ein rechter Kerl wird immer mit dem Weibe fertig!« Virilität und Macht im literaturkritischen Diskurs der programmatischen Moderne
Stefan Neuhaus — Die ›männliche‹ Wiedervereinigung: Literatur und Kritik nach 1989
Veronika Schuchter — Adam und Eva der Literaturkritik: Literaturkritik als Männlichkeitsdiskurs
Aktuelle Debatten
Tobias Unterhuber — Von Schlappschwänzen, Schulbuben und Knabenwindelprosa. Virilität in der Popliteraturdebatte der 1990er
Nicole Seifert — Misogynie in der Literaturkritik. Wie Autorinnen besprochen wurden und werden
Brigitte Schwens-Harrant — Kritik der Jagd- und Schießgesellschaft
Genres, Medien, Techniken
Gerda E. Moser — »Alles, was Frauen und Männer lieben!?« Literaturtipps und Konstruktion von Geschlecht in den Publikumszeitschriften Bunte und Playboy
Marc Reichwein — Der Literaturbetrieb als visuelles Regime. Zur Poetik der Unsichtbarkeit bei Elena Ferrante
Andrea Werner — Das Autor*innenfoto als visueller Kommentar zum Literaturbetrieb
Kristina Petzold — Critical Princess. Formen diskursiver und performativer Geschlechtlichkeit in deutschsprachigen Buch-Blogs
Gegenstrategien
Martina Wernli — Figuren der Umkehrung. (Gegen-)Kanon, Auszählen und Gender in sozialen Medien
Renate Giacomuzzi — Das unbekannte Geschlecht. Wirkung und Funktion verschleierter Geschlechtsidentität am Beispiel der Rezeption Elena Ferrantes in der deutschsprachigen Presse
Peter C. Pohl — Die Debütantin. Über weibliche Erscheinungsweisen in der Gegenwartsliteratur (Glaser, Torik, Fehn)
Beiträgerinnen und Beiträger
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Das Geschlecht der Kritik. Studien zur Gegenwartsliteratur [1. ed.]
 9783967075342, 9783967075359

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Peter C. Pohl / Veronika Schuchter (Hg.)

Das Geschlecht der Kritik

Das Geschlecht der Kritik Studien zur Gegenwartsliteratur

Herausgegeben von Peter C. Pohl und Veronika Schuchter

Gefördert durch den Forschungsschwerpunkt »Kulturelle Begegnungen – Kulturelle Konf likte« der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck. Wir bedanken uns außerdem beim Land Tirol und der Stadt Innsbruck für die Unterstützung.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abruf bar. ISBN 978-3-96707-534-2 E-ISBN 978-3-96707-535-9 E-Book-Umsetzung: Datagroup int. SRL, Timisoara Umschlagentwurf: Thomas Scheer Umschlagabbildung: Lesende Frau auf Parkbank / Kol. Foto @ akg-images / Glasshouse Images Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © edition text + kritik im Richard Boorberg Verlag GmbH & Co KG, München 2021 Levelingstraße 6a, 81673 München www.etk-muenchen.de Satz: Olaf Mangold Text & Typo, 70374 Stuttgart Druck und Buchbinder: Laupp & Göbel GmbH, Robert-Bosch-Straße 42, 72810 Gomaringen

Inhalt

Einleitung

Peter C. Pohl und Veronika Schuchter Die Ausweitung einer Kampfzone. Geschlecht, Literatur und Kritik nach 1989 7

Männliche Wertungsmacht – Kontinuitäten und Strategien

Michael Pilz »Ein rechter Kerl wird immer mit dem Weibe fertig!« Virilität und Macht im literaturkritischen Diskurs der programmatischen Moderne 22 Stefan Neuhaus Die ›männliche‹ Wiedervereinigung: Literatur und Kritik nach 1989 31 Veronika Schuchter Adam und Eva der Literaturkritik: Literaturkritik als Männlichkeitsdiskurs 46

Aktuelle Debatten

Tobias Unterhuber Von Schlappschwänzen, Schulbuben und Knabenwindelprosa. Virilität in der Popliteraturdebatte der 1990er 65 Nicole Seifert Misogynie in der Literaturkritik. Wie Autorinnen besprochen wurden und werden 80 Brigitte Schwens-Harrant Kritik der Jagd- und Schießgesellschaft

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Genres, Medien, Techniken

Gerda E. Moser »Alles, was Frauen und Männer lieben!?« Literaturtipps und Konstruktion von Geschlecht in den Publikumszeitschriften Bunte und Playboy 106 Marc Reichwein Der Literaturbetrieb als visuelles Regime. Zur Poetik der Unsichtbarkeit bei Elena Ferrante 119 Andrea Werner Das Autor*innenfoto als visueller Kommentar zum Literaturbetrieb 135 Kristina Petzold Critical Princess. Formen diskursiver und performativer Geschlechtlichkeit in deutschsprachigen Buch-Blogs 159

Gegenstrategien

Martina Wernli Figuren der Umkehrung. (Gegen-)Kanon, Auszählen und Gender in sozialen Medien 177 Renate Giacomuzzi Das unbekannte Geschlecht. Wirkung und Funktion verschleierter Geschlechtsidentität am Beispiel der Rezeption Elena Ferrantes in der deutschsprachigen Presse 196 Peter C. Pohl Die Debütantin. Über weibliche Erscheinungsweisen in der Gegenwartsliteratur (Glaser, Torik, Fehn) 213 Beiträgerinnen und Beiträger

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Die Ausweitung einer Kampfzone Peter C. Pohl und Veronika Schuchter

Die Ausweitung einer Kampfzone Geschlecht, Literatur und Kritik nach 1989 Fünfjahrespläne sind nicht mehr in Mode. Aber wenn man aus literaturwissenschaftlicher Sicht die Veränderungen in den Blick nehmen will, die sich im Verhältnis von Geschlecht, Literatur und Kritik nach 1989 ergeben haben, bieten sich Fünfjahresschritte als heuristische Hilfsmittel an. Mit ihnen lassen sich Querschnitte einziehen und anhand außerordentlicher Ereignisse auf den Feldern der Politik und der akademischen Diskussionen Kontinuitäten und Rupturen beobachten, die unseren Gegenstandsbereich mittelbar und unmittelbar betreffen. Neben diesen von außen kommenden, dynamisierenden oder gegenläufigen Ereignissen lassen sich zudem im Längsschnitt übergreifende Aspekte benennen, die das Verhältnis von Geschlecht, Literatur und Kritik intern regulieren. Dazu zählen ebenso kurzfristige Debatten und langfristige Diskurse wie technologische Transformationen und mediale Innovationen. Die Aufsätze in diesem Band sind größtenteils aus einer virtuellen Tagung im Oktober 2020 in Innsbruck hervorgegangen und positionieren sich in diesem, von synchronen und diachronen Variablen charakterisierten Koordinatenfeld. Sie untersuchen jeweils einen Zeitpunkt (wie ›Wendezeit‹), ein Thema (das Debüt), ein Medium (Autor*innenfotografie) oder eine/n Autor/in (wie Elena Ferrante oder Marlene Streeruwitz), konzentrieren sich auf diskursive Muster (Männlichkeitsstrategien; den Versuch, die Autorin zum Schweigen zu bringen), auf Debatten (Popliteratur), mediale Formate (Publikumszeitschriften) und technische Aspekte (Blogs, Instagram). Sie decken demnach zahlreiche Areale ab, erlauben in der Zusammenschau jedoch keineswegs eine umfassende Einsicht in den Gegenstandsbereich. Doch obgleich zahlreiche Lücken bleiben – die zu schließen, wir hoffentlich Anregung geben – kann man eine grundlegende Tendenz feststellen: Seit 1989 hat sich ein sozialer Konf likt ausgeweitet, in dem politische, wissenschaftliche und ästhetische Interessenslagen einst verbunden waren oder kollidieren konnten. Und im Zentrum dieser initialen Kampfzone stand der Feminismus. Der Feminismus war der Ausdruck des sichtbarsten emanzipatorischen Anliegens seit Ende der 1960er Jahre. Die zweite Frauenbewegung und deren literaturwissenschaftliche Vertreterinnen diskutierten Fragen nach der

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Peter C. Pohl und Veronika Schuchter

Repräsentation von Frauen in der Gesellschaft und Literatur, nach der Wertung und spezifischen Ästhetik weiblichen Schreibens. Jedoch lassen sich mit Regula Venske und Sigrid Weigel »Ungleichzeitigkeiten zwischen politischer und literarischer Bewegung des Feminismus«1 konstatieren, die das Verhältnis von Geschlecht, Literatur und Kritik auch in die 1990er Jahre hinein prägten. Während die auf Gleichbehandlung drängenden politischen Akteurinnen eine Teilhabe sozialer Macht als möglich erachteten, fanden sich in Literatur, Publizistik und Wissenschaft Strömungen, die eine gemeinsame Wirklichkeit von Männern und Frauen infrage stellten.2 Viele der später unter Differenzfeminismus rubrizierten Ansätze unterstrichen die Bedeutung von Sprache für die soziokulturelle Konstruktion der (Geschlechter-) Wirklichkeit. Es ging dabei nicht um den Ort von Frauen in Literatur(geschichte) und Gesellschaft oder um ›Frauenliteratur‹ im Stile einer Verena Stefan oder Karen Struck. Vielmehr waren Anschlüsse an das ›Parler femme‹ im Stile Luce Irigarays oder die ›Écriture féminine‹ einer Hélène Cixous vorhanden, an Verfahren, die an linguistischen, psychoanalytischen und philosophischen Analysen geschult waren und die symbolische Ordnung als phallisch zentriert erachteten.3 Zwar mag in der ›phallogozentrischen Ordnung‹ männliche Deutungsmacht naturalisiert und Weiblichkeit mit dem ›Makel‹ des ›Widersinnigen‹, ›Alogischen‹ und ›Nicht-Intelligiblen‹ versehen sein, zugleich erlaubten diese Zuschreibungen, ein anderes und avantgardistisches Selbst- und Schreibverständnis zu entwickeln. Die Literatur von Autorinnen wie Ingeborg Bachmann, Marlen Haushofer, Elfriede Jelinek oder Unica Zürn wurde in dieser Perspektive als Schreiben innerhalb und außerhalb des Symbolischen aufgefasst. Vor- und Nachteil dieses Ansatzes seien in pointierter Form hervorgehoben: Denn der Guerillakrieg in der symbolischen Ordnung bot den Vorteil eine progressistische Utopie zu imaginieren, 1

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Regula Venske und Sigrid Weigel: ›Frauenliteratur‹  – Literatur von Frauen. In: Klaus Briegleb und Sigrid Weigel (Hg.): Gegenwartsliteratur seit 1968. Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur von 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, hg. von Rolf Grimmiger. Bd. 12. München 1992, S. 245–276, hier S. 248. Die Autorinnen heben dabei zwei ›Ungleichzeitigkeiten‹ hervor: die zwischen Literatur und Politik und die zwischen Literatur und Theorie. Die Zeitschrift Die Schwarze Botin war der publizistische Ausdruck dieses avantgardistischen Feminismus. Vgl. hierzu einige der grundlegenden und übersetzten Publikationen: Hélène Cixous: Die unendliche Zirkulation des Begehrens. Berlin 1977; Dies.: Weiblichkeit in der Schrift. Berlin 1980; Luce Irigaray: Waren, Körper, Sprache: der ver-rückte Diskurs der Frauen. Übersetzt von Eva Meyer und Heidi Paris. Berlin 1976; Dies.: Unbewusstes, Frauen, Psychoanalyse. Übersetzt von Eva Meyer. Berlin 1977; Dies.: Speculum. Spiegel des anderen Geschlechts, übers. Xenia Rajewsky, Gabriele Ricke, Gerburg Treusch-Dieter und Regine Othmer. Frankfurt a. M. 1980.

Die Ausweitung einer Kampfzone

in der ein ganz Anderes nach der Überwindung der hierarchisierenden Differenz möglich schien. Es fehlte aber an konkreten Ansatzpunkten im Hinblick auf die praktische Veränderung der vorhandenen politischen Realität, die ja unhintergehbar männlich blieb. Dieses Missverhältnis von Symbolischem und Realem, Kulturellem und Politischem sollte sich nicht verstärken. Vielmehr verringerte sich die Ungleichzeitigkeit von Theorie und Politik, von Literatur und Gesellschaft in den Jahren 1989 bis 2021. Verfahren und Themen, die in kulturellen Nischen, an wissenschaftlichen Rändern und in sozial exkludierten oder marginalisierten Gruppen zirkulierten, wanderten in den Mainstream. Dies ist jedoch keineswegs dem Erfolg von Theorie, Kultur und Literatur allein, sondern auch einer grundlegenden Transformation des sozioökonomischen Systems zu verdanken.4 Man kann sie mit kultursoziologischen und kulturphilosophischen Analysen als Effekt des ›Ästhetischen‹, ›Kognitiven‹ oder ›Neuen Geist des Kapitalismus‹ und einer ›Singularisierung der Gesellschaft‹ verstehen, als Resultat einer zunehmenden Kulturalisierung der Ökonomie und Ästhetisierung von Gesellschaft.5 Innerhalb der Kulturalisierung und Ästhetisierung des Sozialen kam es zur Aufwertung authentischer und/oder besonderer Lebensstile. Marginalisierte, unbekannte, künstlerische und subkulturelle Gruppen, deren politische Anliegen und deren symbolische Strategien fanden größere, aber nicht mehr nur politische Beachtung. Da wäre zunächst an die Schwulen- und Lesben- und später die gesamte LGBTIQBewegung zu denken, die sich früh symbolischer Mittel, wie Parodie und Pastiche, bediente und die durch Events wie den CSD mediale Aufmerksamkeit erhielt; sodann sind Anfänge eines intersektionalen Feminismus und die Etablierung von Diversitätsstrategien zu verzeichnen, Veränderungen, die das Kategorienspektrum auf Aspekte wie die ethnische Herkunft erweiterten. Die gender-bezogenen Machtverhältnisse wurden so durch die all4

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»Abgetrennt voneinander und von der Gesellschaftskritik, die sie miteinander verbunden hatte, wurde so manche Hoffnung der Neuen Frauenbewegung in den Dienst eines Projekts gestellt, dass [sic] unserer größeren, ganzheitlichen Vision der gerechten Gesellschaft zutiefst widersprach. Utopische Wünsche entwickelten eine Art Doppelleben, als Stimmungslagen, die den Übergang zu einer neuen Kapitalismusform legitimieren halfen: zu einem postfordistischen, transnationalen, neoliberalen Kapitalismus.« Nancy Fraser: Feminismus, Kapitalismus und die List der Geschichte. In: Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2009, S. 43–57, hier S. 44. Luc Boltanski und Ève Chiapello: Der neue Geist des Kapitalismus. Konstanz 2003; Yann Moulier Boutang: Le Capitalisme Cognitif. La Nouvelle Grande Transformation. Paris 2007; Andreas Reckwitz: Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung. Berlin 2012; Ders.: Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne. Berlin 2019; Gernot Böhme: Ästhetischer Kapitalismus. Berlin 2016.

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Peter C. Pohl und Veronika Schuchter

gemeine Ästhetisierung der Gesellschaft, durch die erweiterte Sichtbarkeit und Beachtung von ›abweichenden‹ Begehrensformen und die Beachtung anderer sozialer Marker ubiquitärer, komplexer, aber auch uneindeutiger. Ihre Analyse verlangte einen größeren theoretischen Aufwand und schuf neue Konf liktlinien und Konkurrenzen zwischen marginalisierten Gruppen. Auch mediale und technologische Aspekte trugen ab den 1990er Jahren zur Ausweitung und kulturellen Modifikation der sozialen Anerkennungskämpfe bei. Die vierte Macht, die Medien, erschloss in den 1990er Jahren neue Kanäle und Formate: zunächst im Fernsehen (MTV Europe, VIVA); dann differenzierten sich im Zuge der Etablierung des World Wide Web nicht nur mediale Angebote weiter aus, es verteilten sich sukzessive technische Möglichkeiten der Partizipation. Optionen zur Repräsentation, wie sie zuvor etwa von Künstler*innen genutzt wurden, standen User*innen offen. Diese medientechnologische Diversifizierung und Annäherung an die Anwender*innen spiegelte auch die Entwicklung von Literatur und ihrer Kritik. Von den Autorinnenfotos, die beim ›Fräuleinwunder‹ in der deutschsprachigen Literatur der 1990er Jahre dazu führten, dass die betreffenden Texte, wenn überhaupt noch, durch die körperliche Weiblichkeit ihrer Autorinnen gelesen wurden, hin zu den autofiktionalen Texten und selbstinszenatorischen Spielen der 2010-2020er Jahre, man denke an Annie Ernaux, Elena Ferrante, Thomas Glavinic, Gerhard Henschel, Felicitas Hoppe, Christian Kracht, Thomas Meinecke, Isabelle Lehn, Andreas Maier und Marlene Streeruwitz, war es ein weiter Weg, auf dem neue Kontaktpunkte zwischen Autorschaft, Leserschaft und Literaturbetrieb entstanden. Desgleichen ist vom anfänglichen Literarischen Quartett, das eine erfolgreiche Mischform von Kultur- und Unterhaltungstalkshow mit meinungsstarken, professionellen Literaturkritiker *innnen war, zu den Sendungen mit der nunmehrigen Gastgeberin Thea Dorn, in der die ›kulturelle Kompetenz‹ und der Promifaktor der geladenen Gäste die Einladungspolitik bestimmt,6 eine Entwicklung festzustellen.7 Es lässt sich die Entspezialisierung und Ent6

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Auch die mittlerweile eingestellte Literaturtalkshow Gottschalk liest ist ein Beleg für die Entprofessionalisierung literaturkritischer Formate, offenbar im Glauben, die Zugänglichkeit für ein breiteres Publikum damit erhöhen zu können. Die Fernsehsendung selbst ist Symptom einer Veränderung der Literaturkritik, in der neuere Medienformate (Talkshow) und alte rekombiniert werden. Ein großer Teil des Erfolgs des Quartetts dürfte in der Koinzidenz des durch Reich-Ranicki vertretenen literaturkritischen Habitus und dem Live-Format, also der Konsekration des Mediums Fernsehen durch die Literaturkritik und vor allem eines Kritikers durch das Medium bestehen. Der nicht gerade glimpf liche, oft polemische und apodiktische Umgang mit den

Die Ausweitung einer Kampfzone

professionalisierung der Literaturkritik und eine größere Durchlässigkeit zu anderen kulturellen Feldern beobachten. Eine weitere Entwicklung, die etwaige Sorgen vor dem Relevanzverlust der Literatur schürte, verlief von der großen Präsenz der Literaturkritik auch in regionalen Zeitungen in den 1980er Jahren hin zum Abbau von Feuilleton-Redaktionen selbst überregionaler Zeitungen und einer angeblich dramatischen Verknappung, Verringerung und Verschlechterung von Rezensionen, die sich mit Zahlen allerdings nicht belegen lässt.8 Wir versuchen in unserer Einführung nun zu diesen Entwicklungen politische, geschlechtertheoretische und literaturkritische Eckdaten in Fünfjahresschritten zu ergänzen. Sie erleichtern es, die These von der Ausweitung der feministischen Kampfzone, die soeben durch epistemische, ökonomische, mediale und soziale Transformationen unterfüttert wurde, weiter nachzuvollziehen. 1989 und 1990 standen politisch im Zeichen der Erosion der Warschauer Pakt-Staaten und des Falls der Berliner Mauer – ein Ereignis, das der USamerikanische Politikwissenschaftler und Philosoph Francis Fukuyama bekanntlich in seine These vom Ende der Geschichte integrierte.9 Der spätere Ethikratgeber des Präsidenten George W. Bush sah das Ende totalitärer Regimes gekommen. Die Dominanz der Demokratien westlichen Stils schien ihm eine sukzessive Ausweitung von sozialen Teilhaberechten zu garantieren. Derweil traf man sich am 30. November 1989 zum achten Mal im Literarischen Quartett und diskutierte in Anbetracht der aktuellen politischen Ereignisse über den Stand der DDR-Literatur und die Rolle von Literat*innen während der Wende. Dass eine Schweizerin, eine Österreicherin und zwei Westdeutsche (Karasek war bereits in den 1950er Jahren in den Westen umgesiedelt) sich zutrauten, die Verhältnisse in der DDR richtig beurteilen und das Verhalten der Schriftsteller*innen teils moralisch bewerten zu können, mag als Indiz für die Richtigkeit von Fukuyamas These gelten, dass die

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Texten, der keine Erfindung Reich-Ranickis ist, sondern die Literaturkritik geschichtlich begleitet, befriedigte so Distinktions- und Krawallbedürfnisse zugleich; während elaboriertere Geister sich an Scharmützeln amüsieren konnten, die sie bei anderen Themen wohl vermieden hätten, konnte die weniger literaturinteressierte Zuschauerschaft an bekannten sozialen Formaten lernen, dass die scheinbar abgehobene kulturelle Elite doch nicht so anders war, wie sie befürchtet (oder insgeheim gehofft?) hatte. Die Reihe Literaturkritik in Zahlen, erhoben und herausgegeben vom Innsbrucker Zeitungsarchiv zeigt etwa keinen eindeutigen Trend bezüglich einer Abnahme von Rezensionen: URL: https://www.uibk.ac.at/iza/literaturkritik-in-zahlen/ (abgerufen am 18.5.2021). Francis Fukuyama: Das Ende der Geschichte, übers. von Helmut Dierlamm, Ute Mihr und Karlheinz Dürr. München 1992.

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Peter C. Pohl und Veronika Schuchter

Westgesellschaften als ›Sieger‹ vom Platz gegangen seien. Jedoch widerlegte die Sendung den von Fukuyama bekräftigten Glauben, damit hätte nun auch die demokratische Meinungsfreiheit gesiegt. Reich-Ranicki und Karasek schnitten einem ostdeutschen Störer, der an der Diskussion teilnehmen wollte, mehrfach das Wort ab. Sie ließen den von ihren Aussagen Betroffenen aus dem kurzzeitig zum Quintett erweiterten Gesprächskreis entfernen. Die Diskussion wurde in der darauffolgenden Sendung dann mit einem frischeren Ex-Bewohner der DDR, Jurek Becker, fortgesetzt. Die Anknüpfung an die Tagespolitik war in diesem literaturkritischen Massenformat folglich vorhanden, die Anknüpfung an Frauenpolitik oder -literatur dagegen weniger: Texte von Frauen wurden im Literarischen Quartett selten besprochen. Auf einen Lyrikband Ulla Hahns in der ersten Sendung folgte Elfriede Jelinek als zweite Frau, deren Roman Lust der erste Roman einer Gegenwartsautorin war und in der fünften (!) Sendung diskutiert wurde. Reich-Ranicki gewährte Löff ler »als Frau und Österreicherin« das Recht, den Anfang zu machen. Karasek, obgleich »Jelinek-Liebhaber«, erhob Einwände. In Lust sei alles zwischen den Figuren entschieden, die Handlung komme nicht von der Stelle. Dass Karasek damit eine Diagnose fällte, die auf die geschlechtsbezogene Gesprächsdynamik des Quartetts hätte Anwendung finden können, sei hier bereits angedeutet. Der Aspekt wird im weiteren Verlauf der Einleitung und diversen Beiträgen noch ausgeführt. Der von Reich-Ranicki repräsentierte patriarchalische und paternalistische Habitus, an dem sich Löff ler und stellenweise Karasek abarbeiteten, war allerdings nicht nur im massenmedialisierten Literaturbetrieb beispielhaft. Die Geschlechterforschung war in der ›Academia‹, euphemistisch gesprochen, ein Nischenprodukt. 1989 wurde das ZiF, das Zentrum für interdisziplinäre Frauenstudien in Berlin gegründet und sollte späteren Institutionalisierungen als Vorbild dienen. 1991 übersetzte Katharina Menke eine im Jahr zuvor in den Vereinigten Staaten erschienene Studie, die eine monumentale Bedeutung erlangen sollte. Gender Trouble von Judith Butler ist einer der wenigen Texte der letzten Jahrzehnte, die eine diskursgründende Relevanz erlangt haben.10 Nahezu alle Äußerungen, die mit den Gender Studies assoziiert werden, stehen im Gravitationsfeld von Butlers Dekonstruktion

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Judith Butler: Gender Trouble: Feminism and the Subversion of Identity. Routledge, New York u. a. 1990; deutsch: Das Unbehagen der Geschlechter, übers. von Kathrina Menke. Frankfurt a. M. 1991.

Die Ausweitung einer Kampfzone

der Kategorie ›Frau‹.11 Die von Butler, aber auch von anderen,12 vertretenen und weiter differenzierten Grundannahmen der Gender Studies sorgten in den akademischen Debatten für eine problematisierende Ref lexion auf geschlechtliche Merkmale, für eine differenzierende Ausweitung von Kategorien und für eine Konzentration auf sprachlich-kulturelle Elemente in der Konstruktion von Geschlecht, Geschlechtsidentität und Begehren. Die spätere Umbenennung von Zentren für Frauen- in Zentren für Geschlechterforschung ist ein Indiz für den institutionellen Effekt des Paradigmas. Um 1989 hatte man es demnach mit epistemischen, ökonomischen, politischen und sozialen Transformationen zu tun, denen eine in der Literaturkritik persistierende alte Ordnung robust und medienwirksam gegenüberstand. Der mit dem Geschlecht verbundene Anerkennungskampf begann sich zu etablieren, blieb aber sowohl in der Literatur und ihrer Kritik als auch in den akademischen Institutionen marginalisiert. Am 30. Juni 1995 beschloss der Deutsche Bundesrat den Einsatz zur Unterstützung der internationalen Eingreiftruppe in Bosnien und Herzegowina. Es war der erste militärische Einsatz deutscher Truppen im Ausland nach dem Zweiten Weltkrieg. Diese politisch gebilligte Intervention und deren Konsequenzen schienen Fukuyamas Annahme zu bestätigen, mit dem Fall der Mauer sei die Systemkonkurrenz zugunsten einer dominanten Variante, der des westlichen Kapitalismus, entschieden. Innerhalb dieses Systems übten jedoch weiterhin überwiegend Männer die Herrschaft aus – zumindest war dies ein Schluss, der sich mit einem im Jahr 1998 erschienenen Buch des französischen Soziologen Pierre Bourdieu ziehen ließ. Es beruht auf mehreren Vorarbeiten, darunter dem gleichnamigen Aufsatz La domination masculine, der in den Actes de la recherche en sciences sociales im Jahr 1990 abgedruckt wurde.13 An Bourdieus Einsichten war immerhin neu, dass sie ein renommierter Soziologe vertrat. Denn Bourdieu reproduzierte Erkenntnisse der interdisziplinären feministischen Forschung, auch von Soziologinnen, freilich ohne Letztere eigens zu erwähnen. Weil er seine Theorie von der sym11

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Wobei die Auseinandersetzung mit den ›Frauen‹ als Subjekt des Feminismus (ebd. S. 15–22) Anlass für eine grundsätzliche Infragestellung beider naturalisierter Geschlechter in der heteronormativen Ordnung ist. Der Schritt verläuft von der Frau zur Trias Geschlecht/ Geschlechtsidentität/Begehren (ebd. S. 22–24). Neben Butlers Studie waren in der US-amerikanischen Wissenschaft die Arbeiten von Anne Fausto-Sterling, Nancy Fraser, Evelyn Fox Keller, Thomas Laqueur und insbesondere Donna Haraway wichtig, wobei Butler und Fraser verschiedentlich (u. a. mit Ernesto Laclau und Slavoj Žižek) in gedruckter Form diskutierten. Pierre Bourdieu: La domination masculine. In: Actes de la recherche en sciences sociales 84 (4.1990), S. 2–31 und Ders. [1998]: Die männliche Herrschaft, übers. von Jürgen Bolder. Frankfurt a. M. 2005.

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Peter C. Pohl und Veronika Schuchter

bolischen Hegemonie der Männer unfreiwillig bestätigte, hatten Bourdieus Studien ein kritisches Echo.14 Man kann diesbezüglich von einer erhöhten akademischen Aufmerksamkeit sprechen, die ein produktives Dilemma der Geschlechterforschung andeutet: Sie spannt sich als interdisziplinäre Forschungseinrichtung zwischen emanzipatorischen Anliegen und wissenschaftlichen Intentionen. Ein zu großes Maß an Politisierung auch der eigenen Forschungszusammenhänge reduziert ihre wissenschaftliche Reputation, ein zu großes Maß an wissenschaftlicher ›Neutralität‹ (freilich selbst ein Politikum) nimmt dem Unternehmen soziale Brisanz.15 Solche Diskussionen gehören allerdings zur Ausdifferenzierung von Disziplinen dazu, und auch die zeitgleiche Einrichtung des ersten Magisterstudiengangs für Geschlechterstudien in Berlin im Wintersemester 1997/98 bestätigt, dass die Institutionalisierung der Geschlechterforschung voranschritt. Im Literarischen Quartett war hinsichtlich der ›männlichen Herrschaft‹ weiterhin kaum Problembewusstsein vorhanden. Der 24. Text einer Frau (innerhalb von insgesamt ca. 200 besprochenen Texten) war in der 43. Sendung des Quartetts das Prosadebüt von Marlene Streeruwitz: Verführungen. Die sprachliche Monotonie, die das Streeruwitz’sche Stilmittel der Parataxe erzeugt, wurde von Reich-Ranicki und Hajo Steinert gerügt – ähnlich wie in der Besprechung von Lust im Jahr 1989 wird auch hier das Anwendungsziel der ästhetischen Verfahren kritisiert, nicht aber deren gelungener Einsatz zur Veranschaulichung der sozialen Geschlechterverhältnisse. Dass im Jahr zuvor Ruth Klügers Aufsatz Frauen lesen anders erschienen war, der eine Erklärung für das unterschiedliche Lese- und Wertungsverhalten von Männern und Frauen lieferte, ist jedoch ein Indiz dafür, dass die Sendung zunehmend auch literaturkritisch überholt war.16 Im Jahr 2001 verschärfte sich die Tendenz einer militärische Konf likte nicht scheuenden Durchsetzung hegemonialer Ansprüche der westlichen 14

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Zu den von Bourdieu nicht erwähnten Frauen gehören die Anthropologin Françoise Héritier, die bereits 1996 den ersten Teil einer zweiteiligen Studie zu dem Thema vorgelegt hatte: Françoise Héritier: Masculin-Féminin I.  La Pensée de la différence. Paris 1996, sowie die Sozialwissenschaftlerinnen Christine Delphy oder Michèle Le Dœuff. Vgl. dazu Françoise Armengaud: Pierre Bourdieu »grand témoin«? In: Nouvelles Questions féministes 14 1993, S. 83–88. Wir sprechen hier absichtlich von produktivem Dilemma, denn Wissenschaft ist nie unpolitisch und die Ref lexion auf den eigenen Grad und die Ausrichtung ihrer Politisierung daher notwendig, will man das Ideal wissenschaftlicher Objektivität überhaupt aufrechterhalten. Vgl. dazu den Aufsatz von Stefan Hirschauer: Wozu ›Gender Studies‹? Geschlechtsdifferenzierungsforschung zwischen politischem Populismus und naturwissenschaftlicher Konkurrenz. In: Soziale Welt 54. 4. 2003, S. 461–482, der Anlass zu dieser Ref lexion und Kontroversen gab. Ruth Klüger: Frauen lesen anders. München 1996.

Die Ausweitung einer Kampfzone

Demokratien. Sie wurde als US-amerikanische Selbstverteidigungsantwort auf die Anschläge vom 11.  September legitimiert. Dass der die Welt dominierende Konf likt von nun an weniger ein politischer, sondern vielmehr ein kultureller war, hatte Samuel P. Huntington in einem fünf Jahre zuvor erschienenen und kontrovers diskutieren Buch behauptet.17 Kulturelle Konf likte waren gewiss immer vorhanden, jedoch kam es in Folge der Kulturalisierung und Medialisierung der Gesellschaft zu einer weit größeren Visibilität der Konf liktzonen. Dies hängt auch mit der Sensibilisierung der Akademiker *innen für die kulturelle und sprachliche (Re-)Produktion der sozialen Wirklichkeit zusammen. Mochten die wenigsten Hochschulabsolvent*innen Gender Studies studiert haben, zumindest Geistes- und Kulturwissenschaftler*innen hörten von diesem Wissenschaftszweig und konnten ab 2000 in der von Christina von Braun und Inge Stephan herausgegebenen Gender Studies. Eine Einführung nachlesen, welche Ausprägung die Gender Studies allgemein und in ihrer Disziplin hatte.18 Die soziale Relevanz kultureller Konf likte und die Problematik männlicher und westlicher Dominanz im Symbolischen waren kaum mehr zu leugnen; und als Sigrid Löff ler nach einer Sendung am 30. Juni 2000 die Reißleine zog, in der Reich-Ranicki ihr (erneut) fehlende Liebesfähigkeit (und sie ihm Altersgeilheit) unterstellte, war das ein konsequenter, wenn auch verspäteter Schritt. Das literarische Quartett lief im Jahr 2001 aus der Sicht weiblicher Literatur nämlich genauso aus, wie es begonnen hatte. In den letzten Sendungen wurden 22 Männer und 2 Frauen besprochen: Wieder westdeutsche Lyrik, wieder österreichische Prosa, wieder ein Band von Ulla Hahn, wieder ein Roman, in dem es wie im Fall von Jelineks Lust und Streeruwitz’ Verführungen um Haus Frauen Sex (Margit Schreiner) ging. Dass es mittlerweile andere Angebote der Literaturkritik im Netz gab, wie etwa die Seiten literaturkritik.de und perlentaucher.de, die ihren Betrieb 1999 respektive 2000 aufnahmen, ist in dem Zusammenhang überdies erwähnenswert. Denn es legt nahe, dass die medialen und technologischen sowie die kulturellen und epistemischen Transformationen das hier im Fokus stehende Verhältnis von Geschlecht, Literatur und Kritik zeitgleich modifizierten. Diese Trends verstärkten sich in den Folgejahren. 2006 wurden in Österreich die Gender Studies universitär verankert. Die medialen Bereiche, in denen Literaturkritik als Tätigkeit betrieben wurde, nahmen zu und gewan-

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Samuel P.  Huntington: Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert. München, Wien 1996. Christina von Braun und Inge Stephan: Gender Studies. Eine Einführung. Stuttgart 2000.

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Peter C. Pohl und Veronika Schuchter

nen mehr Aufmerksamkeit. Im Jahr 2004 erhielt Elfriede Jelinek den Literaturnobelpreis; 2005 wurde Angela Merkel deutsche Bundeskanzlerin. Im Jahr darauf wurde von der deutschen Wirtschaft werbewirksam die Charta der Vielfalt verabschiedet und zudem wurde das AGG (Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz) ratifiziert. Ziel des Gesetzes, war es Benachteiligungen aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität zu verhindern oder zu beseitigen.19

Die Charta der Vielfalt wollte hingegen, ein Arbeitsumfeld […] schaffen, in dem alle Beschäftigten die gleiche Wertschätzung und Förderung erfahren, unabhängig von Nationalität, ethnischer Herkunft, Religion oder Weltanschauung, Behinderung, Alter sowie sexueller Orientierung und Identität.20

Man sieht, dass die Wirtschaft ihre rechtliche Verpf lichtung antizipativ in freiwilliges Verhalten transformierte und dabei an bereits vorhandene Aktivitäten im Bereich des Diversity Managements anknüpfen konnte, die allerdings weniger Gleichbehandlung als vielmehr eine neoliberale Ressourcennutzung im Schilde führten.21 Für die Zeit um 2010 kann man mit dem Amtsantritt von Barack Obama (2009), der Wiederwahl von Merkel, den Auswirkungen der globalen Finanzkrise und dem ›Arabischen Frühling‹ (2011) Ereignisse anführen, die die Tendenzen der Diversifizierung und der kulturellen, politischen und ökonomischen Globalisierung bekräftigten. Ähnliches gilt auch für die Dyna mik in der Literaturkritik: Die mediale und technische Diversifizierung veränderte die Aufmerksamkeit, die niedrige Zutrittsschranke zur Meinungsäußerung ließ die Zahl der sich Beteiligenden in die Höhe schießen. Es kamen Literaturblogs auf, deren Inhalte vom Feuilleton (das nicht einheitlich war und als symbolisch angestammter Bereich der professionellen Kritik fungierte) und der etablierten Literaturkritik kritisch beäugt wurden. Die politischen, wissenschaftlichen und literaturkritischen Prozesse weiteten 19

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Dies aus dem § 1 des AGG. In: URL: www.antidiskriminierungsstelle.de/SharedDocs/ Downloads/DE/publikationen/AGG/agg_gleichbehandlungsgesetz.pdf ?__blob=publi cationFile (abgerufen am 10.5.2021. Aus der Urkunde der Charta der Vielfalt. In: URL: https://www.charta-der-vielfalt.de/ ueber-uns/ueber-die-initiative/urkunde-charta-der-vielfalt-im-wortlaut (abgerufen am 10.5.2021). Vgl. hierzu Peter C. Pohl und Hania Siebenpfeiffer: Diversity Trouble. Vielfalt – Gender – Gegenwartskultur. Berlin 2016.

Die Ausweitung einer Kampfzone

die Kampfzone sozialer Anerkennungskämpfe aus, die in neuen Medien, mit neuen Begehrensformen und neuen Kategorien an feministische Aktivitäten anknüpfte, dabei aber auch immer reale und vermeinte Gefahren der Verwässerung und Aufweichung mit sich brachten. Das Jahr der Flüchtlingskrise und der Anschläge in Frankreich 2015 ist auch das Jahr längst überfälliger Debatten über den Zustand und die Zukunft der Literaturkritik. Insbesondere die Laudatio, die Sigrid Löff ler auf Daniela Strigl anlässlich der Verleihung des Berliner Preises für Literaturkritik hielt, sowie die Perlentaucher-Diskussion Literaturkritik im Netz sind wichtige Beispiele für die Ref lexion der Ökonomisierung und medialen und sozialen Diversifizierung von Literaturkritik. Den behaupteten Rückgang der ›wahren‹ Literaturkritiken betrachtete Löff ler als »Auf lösung im medialen Spiel«, forciert von »journalistischen Dienstleister[n]«, die »gut gelaunte Konsumempfehlungen und Marketing-Texte über sozusagen börsennotierte Toptitel«22 schrieben. Auf Deutschlandradio Kultur replizierte Thorsten Jantschek auf den Vorschlag Über die Zukunft des Lesens, den Wolfram Schütte am 24.6.2015 auf der Seite von perlentaucher.de unterbreitete;23 und Michael Pilz schrieb auf literaturkritik.de im Rekurs auf Jantschek: Er [ Jantschek] trifft nämlich ins Schwarze, wenn er mit Blick auf Wolfram Schütte darauf hinweist, dass es den Krisen-Beschwörern der Literaturkritik primär überhaupt nicht um die Rettung des literaturkritischen Diskurses über Bücher an sich geht; sondern lediglich um die Rettung eines spezifischen literaturkritischen Genres in diesem Diskurs: eben der klassischen Rezension, die als Instrument kunstrichterlicher Deutungsmacht fungiert.24

Man könnte hier noch ergänzen, dass es nicht allein um ein Genre, sondern auch um einen Habitus geht – einen Habitus, der sich im Literarischen Quartett einst erfolgreich bis zur Selbstparodie zelebrierte. Dieser obsolete Habitus vermag nicht auf das zu reagieren, was Jantschek mit Cord Riechelmann als »Deterritorialisierungstendenzen«25 bezeichnet, die Abwanderung der intel-

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23 24 25

Alle Zitate Sigrid Löff ler: Die Rettung der Kritik. Eine Laudatio auf Daniela Strigl zur Verleihung des Berliner Preises für Literaturkritik 2015. In: URL: https://www.welt.de/ print/die_welt/literatur/article148272086/Die-Rettung-der-Kritik.html (abgerufen am 10.5.2021). Wolfram Schütte: Über die Zukunft des Lesens (24.6.2015). In: URL: https://www.per lentaucher.de/essay/ueber-die-zukunft-des-lesens.html (abgerufen am 10.5.2021). Michael Pilz: Platzfragen. Einige historische Einlassungen zur aktuellen Debatte über die Literaturkritik. In: URL: https://literaturkritik.de/id/20865 (abgerufen am 10. 5.2021). Thorsten Jantschek: Der Kritiker verlässt den Richterstuhl (6.7.2015). In: URL: https:// www.deutschlandfunkkultur.de/literaturkritik-debatte-der-kritiker-verlaesst-den.1270. de.html?dram:article_id=324617 (abgerufen am 10.5.2021).

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Peter C. Pohl und Veronika Schuchter

lektuellen Leserschaft weg vom klassischen Feuilleton in andere Formate, die sich mit den eingangs angesprochenen Singularisierungstendenzen in der kulturalisierten Gesellschaft erläutern lässt. Wenn Löff ler unkt, alles würde sich nach dem »Konsumenten«26 richten, dann vergisst sie, diese Konsument*innen als (Re-)Produzent*in von Kultur ernst zu nehmen, was hinsichtlich der partizipativen Netzkultur einer elitären Missachtung der kulturellen Realität gleichkommt. Der von Jantschek beobachtete »Strukturwandel der literarischen Öffentlichkeit, in der nicht mehr der Literat und sein Kritiker die Deutungshoheit über die intellektuellen Diskurse inne haben«27, ist Teil einer umfassenden kulturellen, technologischen und sozialen Transformation, in der die Kategorien der Geschlechtlichkeit erweitert und modifiziert wurden und auf die die Literaturkritik alten (elitären, phallogozentrischen, männlich-dominierten) Schlages nicht zu antworten vermochte. Ihre habituellen Verkrustungen sorgten zunehmend für Erstaunen, Betroffenheit, Gelächter oder Beschämung. Sie führten im besten Fall zu schnellen und witzigen Gegenstrategien wie bei #dichterdran, bei der die alten Habituselemente dank der neuen Medien parodiert und rekombiniert werden konnten. In #dichterdran gelang es, die Kritik in Form satirischer Umkehr ins Lächerliche zu ziehen, wobei insbesondere diejenigen erreicht wurden, die den alten Medienformaten und Platzhirschen und -kühen aufgrund anderer (Medien-)Sozialisierung bereits skeptisch gegenüberstanden. Seit Metoo (2017), durch #dichterdran (2019) und durch die wissenschaftlichen Aktivitäten von Veronika Schuchter und des Projekts Frauen Zählen (2016–17) bestanden an der männlichen Dominanz und ihrer Funktionsweise in der Literaturkritik keine Zweifel mehr. Doch war das, was kritisiert wurde, keineswegs nur auf ein binäres Problem zurückzuführen. Das Zählen führte in seiner empirischen Sauberkeit zu beeindruckend eindeutigen Ergebnissen. Wie man in Zukunft den diffizileren Machtverhältnissen des Literaturbetriebs und der Gesellschaft, in denen mehrere Kategorien miteinander verwoben sind, gerecht werden kann, bleibt offen und dürfte eine zentrale Fragestellung der Forschungsdiskussion sein. Weshalb eine Literaturkritik unzeitgemäß wirkt, die ihre eigene Habitusgeschichte nicht zu ref lektieren vermag und die Schuld für den Geltungsverlust in medialen und kulturellen Transformationen sucht, die sie habituell herausfordern, dürfte deutlich geworden sein. Schon in den Jahren 1989/1990 war eine Schief lage vorhanden, jedoch sorgten die sozialen, kul26 27

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Löff ler: Die Rettung der Kritik (s. Anm. 22). Jantschek: Der Kritiker verlässt den Richterstuhl (s. Anm. 25).

Die Ausweitung einer Kampfzone

turellen, medialen, technischen und politischen Dynamiken der letzten Jahrzehnte für eine rechtliche und politische Anerkennung und Ausweitung feministischer Anliegen. Sie haben dazu beigetragen, dass das Verhältnis von Geschlecht, Literatur und Kritik nach 1989 einerseits diverser geworden ist, sich andererseits aber auch die konkreten Kampf linien multipliziert und verwischt, die Diskussionen dynamisiert und verkompliziert und in den kulturökonomischen Wertschöpfungs- und Distinktionsprozess integriert haben. Die Aufsätze in diesem Band widmen sich einzelnen Aspekten in diesem Transformationsprozess. Sie betrachten, wie eingangs erwähnt, die Kategorie Geschlecht in literaturkritischen Diskursen aus verschiedenen Perspektiven und mit verschiedenen Instrumenten. Dabei erweitern literatursoziologische und rezeptionstheoretische Herangehensweisen die klassische Textarbeit. Auch die Literaturkritik selbst wird nicht als reiner Paratext begriffen, sondern als Text ernst genommen und mit literaturwissenschaftlichen Methoden analysiert. Der erste Themenblock befasst sich mit Strategien und Kontinuitäten der männlichen Wertungsmacht in der Literaturkritik, die einerseits Virilitätsposen verwendet und andererseits einen universalistischen Deutungsanspruch hegt und so zur Verschleierung und Verallgemeinerung ihrer geschlechtlich codierten Aussage- und Habitusmuster tendiert. Einen historischen Vorgeschmack auf die gegenwärtigen Diskurse nach 1989, die im Fokus des Bandes stehen, liefert dabei Michael Pilz mit seinem Beitrag »Ein rechter Kerl wird immer mit dem Weibe fertig!«, in dem er am Beispiel des nahezu in Vergessenheit geratenen ersten deutschsprachigen Literaturnobelpreisträgers von 1910, Paul Heyse, Virilisierungsstrategien und Effeminationsprozesse sichtbar macht, die noch hundert Jahre später nicht an Wirksamkeit verloren haben. Veronika Schuchter zeigt dies ausführlich in ihrem Beitrag, wobei sie die Selbstinszenierung von Literaturkritik als performatives Männlichkeitsritual analysiert, wie es sich auch in einer martialischen Rhetorik oder der dezidierten Abgrenzung von einer pejorativ behandelten Weiblichkeit manifestiert. Insbesondere die literaturkritische Auseinandersetzung mit der Literatur von Frauen oder mit weiblich konnotierten Genres wie der Kinder- und Jugendliteratur dient in deren impliziter und expliziter Abwertung zur Hervorhebung der eigenen Bedeutung und zur Festigung der heteronormativen Ordnung. Stefan Neuhaus untersucht in seinem Aufsatz, mit dem der erste Themenblock schließt, den angesprochenen Eklat um Sigrid Löff lers Ausscheiden aus dem Literarischen Quartett als prototypische Konstellation einer dialogischen Wertungssituation und wirft außerdem ein

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Peter C. Pohl und Veronika Schuchter

Schlaglicht auf sexistische Untertöne in der Debatte um die Kabarettistin und Autorin Lisa Eckhart. Virilitätsposen und Sexismus als Habituselemente der Literaturkritik stehen dann auch im Mittelpunkt des nächsten Themenkomplexes, in dem sich Tobias Unterhuber im ersten Beitrag mit Schlappschwänzen, Schulbuben und Knabenwindelprosa beschäftigt. Es handelt sich um die Semantik, die in der Popliteraturdebatte der 1990er eingesetzt wurde, um insbesondere die Schriftsteller des sogenannten Popkulturellen Quintetts (um Joachim Bessing, Christian Kracht, Eckhart Nickel, Alexander von Schönburg und Benjamin von Stuckrad-Barre) zu diskreditieren und zugleich einen rein männlichen Raum zu generieren, in dem Kritiker komplizenhaft (R. Connell) interagierten. Nicole Seifert widmet sich in ihrem Aufsatz misogynen Mustern in der Literaturkritik.28 Anhand zahlreicher Beispiele aus der Geschichte und Gegenwart zeigt sie, auf welchen Ebenen und wie die Abwertung und der Ausschluss weiblicher Literatur performativ umgesetzt wurden und werden. Genres, Medien und Techniken bilden die Klammer der nächsten vier Beiträge. Der erste stammt von Gerda E. Moser, die sich in ihrer akribischen Analyse mit der Konstruktion von Geschlecht in den Literaturtipps der Publikumszeitschriften Bunte und Playboy auseinandersetzt. Marc Reichwein untersucht in seinem Aufsatz die Literaturkritik als visuelles Regime am Beispiel der Rezeption der italienischen Autorin Elena Ferrante. Reichwein sieht in der Verweigerung einer öffentlich sichtbaren persönlichen Autorschaft einen bewussten Bruch mit den nicht zuletzt ökonomischen Regeln des literarischen Feldes und interpretiert die Darstellung der Schriftstellerin Elena Grecco als Kritik am realen Literaturbetrieb. In ihrem Beitrag Das Autor*innenfoto als visueller Kommentar zum Literaturbetrieb nimmt Andrea Werner visuelle Inszenierungsstrategien und Bildpraktiken etwa von Max Höf ler, Melanie Raabe und Ronja von Rönne in den Blick. Sie erörtert, wie Autor*innen unter postdigitalen Bedingungen das eigene Bild gezielt nutzen, um die Sichtbarmachung von Autorschaft kritisch zu ref lektieren und sich in aktuelle Debatten einzubringen. Die neuen Medien stehen auch im Fokus des letzten Beitrags dieses thematischen Abschnitts. Kristina Petzold analysiert Formen diskursiver und performativer Geschlechtlichkeit in deutschsprachigen Buch-Blogs, genauer die Rezeption des erotischen Romans Paper Princess von Erin Watt. Sie stellt die Frage, ob die weiblich gegenderten Literaturblogs 28

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Der Beitrag erscheint als Vorabdruck und Auszug aus Nicole Seifert: FRAUEN LITERATUR. Abgewertet, vergessen, wiederentdeckt. Köln 2021.

Die Ausweitung einer Kampfzone

sich, entgegen der Einschätzung, es handle sich um ›affirmative‹ Öffentlichkeiten, durch kritisch-ref lexive Züge auszeichnen. Auch im letzten Block, thematisch gefasst unter Gegenstrategien, spielt Elena Ferrantes verschleierte Geschlechtsidentität eine zentrale Rolle. Renate Giacomuzzi analysiert die Rezeption des Ferrante’schen Werkes im deutschsprachigen Feuilleton unter der Prämisse einer behaupteten weiblichen Autorschaft und hält fest: »Ferrante ist eine Frau und selten ein Mann«. Mit Fragen des Kanons beschäftigt sich Martina Wernlis Beitrag, der die Situation der asymmetrischen Repräsentation von Männern und Frauen im Hinblick auf Preisverleihungen, Anthologien und Handbücher diskutiert. Diesen diskriminierenden und exkludierenden Strategien stellt sie Gegenstrategien, wie den eingangs erwähnten #dichterdran entgegen. Am Ende steht der Anfang: Peter C. Pohl widmet sich der doppelten Bedeutung des Debüts als erstmaligem künstlerischen Erscheinen und als vergeschlechtlichender Veröffentlichung. Er zeigt einerseits, dass der Literaturbetrieb bei weiblichen Debüts dazu tendiert, beide Aspekte zu fusionieren und so eine Sphäre der ›reinen‹ Literatur zu kreieren, die nach dem weiblichen Erscheinen erst beginnt und also rein und nicht-weiblich codiert ist. Andererseits werden Gegenstrategien am Beispiel der Autor *innen Walter Klier / Stefanie Holzer, Claus Heck und Marlene Streeruwitz besprochen.

Diesen Band möchten wir Gerda E. Moser widmen, die am 29. April 2021 überraschend und nach schwerer Krankheit verstarb. Sie war eine mutige Wissenschaftlerin, die sich nie am Prestige eines Forschungsgegenstandes orientierte, sondern sich dem widmete, was sie als gesellschaftlich wichtig erachtete.

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Michael Pilz Michael Pilz

»Ein rechter Kerl wird immer mit dem Weibe fertig!« Virilität und Macht im literaturkritischen Diskurs der programmatischen Moderne Kritiker leben gefährlich, zumindest in den Werken Paul Heyses. In dessen später Novelle Faustrecht aus dem Jahr 1911 etwa wird ein besonders unsympathischer Vertreter des feuilletonistischen Besprechungswesens, »der wegen seiner scharfen Zunge berüchtigt und auch sonst wenig beliebt war«1, auf offener Straße niedergeschossen und dabei schwer verletzt. Was auf den ersten Blick zunächst wie eine beliebige literarische Variation antikritischer Affekte erscheint, die weder zum ersten noch zum letzten Mal in der Literaturgeschichte mit Goethes altbekannter Losung  – »Schlagt ihn tot, den Hund! Es ist ein Rezensent.«2 – zumindest im Rahmen der Diegese Ernst zu machen versucht, scheint in Hinsicht auf das Figureninventar des Textes, der in der Zeit um 1880 spielt, durchaus einer näheren Betrachtung wert: Bei der Person nämlich, die Heyse zur Waffe greifen lässt, handelt es sich nicht etwa um einen Täter, sondern um eine Täterin, genauer: um eine erfolgreiche Opernsängerin, die sich durch eine verleumderische Bemerkung des besagten Theaterkritikers über ihr Privatleben vor aller Öffentlichkeit buchstäblich bloßgestellt sieht, während ihr Verlobter – der nicht nur Kapellmeister am örtlichen Theater, sondern auch Reserveoffizier ist – den Beleidiger zwar ohrfeigt, im Folgenden jedoch unter Verweis auf das militärische Komment davon absieht, auf eine Duellforderung des für nicht satisfaktionsfähig erklärten Rezensenten einzugehen. Da sich aus Sicht der Protagonistin mithin niemand findet, der bereit wäre, mit der Waffe in der Hand ihre Ehre wiederherzustellen, bleibt ihr nur der Ausweg, das titelgebende Faustrecht selbst auszuüben. Für ihre Tat vor Gericht gestellt, aber freigesprochen, löst die Sängerin am Ende die Verlobung mit dem tatenlos gebliebenen Kapellmeis-

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Paul Heyse: Faustrecht (1911). In: Ders.: Plaudereien eines alten Freundespaares. Stuttgart 1912, S. 11–40, hier S. 19. Vgl. Johann Wolfgang von Goethe: Rezensent. In: Ders.: Sämtliche Werke, Bd. 1: Gedichte 1756–1799. Frankfurt a. M. 1987, S. 373.

»Ein rechter Kerl wird immer mit dem Weibe fertig!«

ter auf und geht alleine nach Amerika, womit sie den Bruch mit den gesellschaftlichen Konventionen ihrer Zeit konsequent fortsetzt.3 Während das Duell mit dem Kritiker in der Novelle Faustrecht also unterbleibt, um stattdessen durch einen emanzipatorischen Akt weiblicher Selbstermächtigung ersetzt zu werden, wird es in Heyses sechs Jahre zuvor entstandener Novelle Ein literarischer Vehmrichter tatsächlich ausgefochten.4 Anlass dazu bietet hier nicht etwa eine Verbalinjurie, sondern vielmehr die sexuelle Übergriffigkeit eines Theaterkritikers gegenüber einer jungen Schauspielerin, die seine Annäherungsversuche zurückweist, worauf hin der rachsüchtige Rezensent statt anfänglicher Lobeshymnen – deren Fortsetzung er im Falle der Erfüllung seines Begehrens in Aussicht gestellt hatte – nun harsche Verrisse über die Bühnenleistungen der Elevin publiziert. Als ihr Verteidiger tritt schließlich der Erzähler der Binnenhandlung in der Rolle eines ominösen »Vehmrichters« auf den Plan. Als solcher hatte er sich bislang damit begnügt, auf ihm ungerecht oder überzogen erscheinende Rezensionen zu replizieren, indem er ihren Verfassern antikritische Verteidigungsschriften zugunsten der jeweils herabgesetzten Schriftsteller mit der Post zustellen ließ. Im Falle der ihm persönlich bekannten Schauspielerin vertauscht jedoch auch er Feder und Schreibpapier mit der Pistole, fordert den betreffenden Kritiker zum Duell und setzt ihn »mit einer wohlgezielten Kugel […] außer Stand […], junge Künstlerinnen für seine Protection sich jemals wieder tributpf lichtig zu machen«.5 Die ›wohlgezielte‹ Entmannung des Kritikers ist indes mehr als die ausgleichende Rache für den Missbrauch eines Machtverhältnisses im Literaturund Theaterbetrieb, den Heyse über 100  Jahre vor Beginn der ›MeToo‹Bewegung durchaus scharfsichtig als ein von Männern dominiertes (und korrumpiertes) System beschreibt, in dessen Rahmen positive Rezensionen und damit reale Karrierechancen für weibliche Akteurinnen durch sexuelle Gefügigkeit erkauft werden können, sofern Letztere bereit sind oder vielmehr dazu gezwungen werden, sich in entsprechende Abhängigkeiten zu begeben. Derjenige, der diese systemische Männlichkeit pars pro toto beschädigt, wird immerhin selbst als ein Kritiker eingeführt, wenngleich als einer, der in dieser Eigenschaft seinerseits mit dem System in Konf likt geraten ist, da es seiner spezifischen Auffassung von Literatur- und Theaterkritik 3 4

5

Vgl. Heyse: Faustrecht (Anm. 1.). Vgl. Paul Heyse: Ein literarischer Vehmrichter. In: Ders.: Menschen und Schicksale. Stuttgart 1908, S. 326–352. Heyse hatte die Novelle im Oktober 1905 geschrieben, vgl. Rainer Hillenbrand: Heyses Novellen. Ein literarischer Führer. Frankfurt a. M. 1998, S. 893. Heyse: Ein literarischer Vehmrichter (Anm. 4), S. 350.

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Michael Pilz

keine Möglichkeit zur Entfaltung (mehr) bietet. Dem Erzähler der Rahmenhandlung – der eine große Nähe zum Autor Heyse aufweist – stellt sich der »Vehmrichter« als ein gescheiterter Dramatiker vor, der seiner literarischen Karriere durch mangelnde Beharrlichkeit und Mut, sein Werk der kritischen Öffentlichkeit auszusetzen, gleichsam selbst im Weg gestanden war. Um dennoch am Literaturbetrieb partizipieren zu können, wechselt er bereits nach der Premiere seines ersten Stückes die Seiten, um selber Kritiker zu werden. Nach anfänglichen Erfolgen auf diesem Gebiet muss er jedoch seine Mitarbeiterposten bei einer Lokalzeitung sowie bei mehreren überregionalen Blättern, für die er regelmäßig Theaterreferate liefert, sukzessive wieder aufgeben, da seine um Ausgewogenheit und die begründete Anerkennung positiver Leistungen bemühten Besprechungen mit der Zeit immer weniger Anklang bei den Redaktionen finden. Statt »pedantischem Raisonnement« – so seine eigene Wortwahl – habe man dort immer häufiger »pikante Feuilletons« erwartet und eine »gesalzene und gepfefferte Schreibart« eingefordert, um »das Publikum zu amüsieren, selbst auf Kosten der Wahrheit«, die der redliche Rezensent indes nicht habe preisgeben wollen: »Als ich dies nicht über mich bringen konnte, wurde mir gekündigt.« 6 Die Etablierung einer neuen Schreibweise in der Kritik, die sich der fortan aus dem Untergrund heraus operierende Verteidiger des Schönen, Guten und Wahren nicht zu eigen machen will, wird in Heyses Text bezeichnenderweise mit dem »Beginn der neuen Ära, des Real- und Naturalismus« in den 1880er Jahren parallelisiert,7 sodass am Ende zwei gegensätzliche Konzeptionen von Literaturkritik im Duell gegeneinander antreten, von denen freilich keine unbeschadet aus dem Kampf hervorgeht: Dem Protagonisten – dem zweifellos Heyses Sympathien gehören – wird nämlich der rechte Arm zertrümmert, was buchstäblich zur Lahmlegung seiner Schreibhand und damit auch aller weiteren Hoffnungen auf die Restitution einer Kritik führt, die nicht nur ruhig und sachlich argumentieren kann, sondern auch bereit ist, ihre Maßstäbe offenzulegen, um ihre »Urtheile beweisen zu wollen«8. Der in die Gegenrichtung abgefeuerte Schuss in die Genitalien des Antagonisten aber trifft punktgenau die im zeitgenössischen Diskurs für progressiv erklärte Virilität der naturalistischen Literaturkritik, deren notorisch »gesalzene und gepfefferte Schreibart« weniger der unterstellten Unterhaltung des Publikums als vielmehr der machtbewussten Positionierung im ›Literatur-

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Ebd., S. 344 f. Ebd., S. 345. Ebd., S. 344.

»Ein rechter Kerl wird immer mit dem Weibe fertig!«

kampf‹ der »polemischen Moderne«9 diente, unter deren Angriffen nicht zuletzt Heyse selbst nachhaltig zu leiden hatte.10 So hatte etwa mit Conrad Alberti einer der programmatischen Wortführer des deutschen Naturalismus »die parfümierten Süßigkeiten eines Heyse«11 als den Inbegriff jener zu überwindenden Literaturproduktion der Gründerjahre diskreditiert, die unterstelltermaßen ein vorrangig weibliches Lesepublikum adressieren würde,12 während die moderne Literatur der Zukunft auch insofern wieder eine ›männliche‹ werden sollte, als sie von Männern für Männer geschrieben werden müsste.13 In den Worten des naturalistischen Kritikerpapstes Leo Berg habe sich die Moderne mithin von jenem »Frauenkult« zu befreien, für den auch er den Namen Heyse paradigmatisch einsetzt: »Das ewig Weibliche zieht uns hinab!« sagt Karl Bleibtreu und das ist zwiefach eine Wahrheit. Hat nicht das ewige Minnen und Girren in der deutschen Litteratur z. B. diese ganz weich und weibisch gemacht? Ist der Charakter unserer neueren Litteratur […] nicht ein ewig weiblicher, d. h. unmännlicher? Hat der ewige Frauenkult den Mann nicht entnervt, entmannt? Nicht noch weibischer gemacht, als das Weib selbst ist? Man sehe sich doch diese […] Dichter-Männer, z. B. einen Paul Heyse, einmal auf seine [sic!] Männlichkeit hin an! Sie geberden sich, wie hysterische alte Jungfern, wie schwächliche Frauen, die in die Wochen gekommen sind!14

Als sei dies noch nicht deutlich genug formuliert, fügt Berg eine erläuternde Fußnote an, die sich allein auf Heyse bezieht: Es ist ein erfreuliches Zeichen, dass die jüngere Generation gerade gegen diesen Dichter energisch Front gemacht hat. Es ist das Zeichen eines männlichen Geistes oder wenigstens männlicher Instincte, die sich hier geltend

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Vgl. Dirk Rose: Polemische Moderne. Stationen einer literarischen Kommunikationsform vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Göttingen 2020. Zu den naturalistischen Attacken auf Heyse vgl. im Überblick Sigrid von Moisy (Hg.): Paul Heyse. Münchner Dichterfürst im bürgerlichen Zeitalter. München 1981, S. 220– 229. Conrad Alberti: Die Frau und der Realismus. In: Die Gesellschaft, 6 (1890), S. 1022–1030, hier S. 1023. Vgl. dazu auch Günter Häntzschel: Geschlechterdifferenz und Dichtung. Lyrikvermittlung im ausgehenden 19. Jahrhundert. In: York-Gothart Mix (Hg.): Naturalismus, Fin de siècle, Expressionismus 1890–1918. München 2000, S. 53–63. Analog dazu hatte bereits Carl Bleibtreu über Heyse und seine Werke befunden: »Männliche Gefühle, mannhaftes Ringen nach höheren Zielen werden überall vermisst. […] Diesen […] schädlichsten Poeten der Neuzeit aber lesen die Salondamen und die höheren Töchter allerorten als ein Andachtsbuch stiller Erbauung für ihre schönen Seelen« (Carl Bleibtreu: Revolution der Litteratur. Leipzig 1887, S. 23 f.). Leo Berg: Das sexuelle Problem in der modernen Litteratur. Ein Beitrag zur Psychologie der modernen Literatur und Gesellschaft. Berlin 1890, S. 23 f. (Herv. i. Orig.).

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Michael Pilz machen. […] Heyse gehört […] zu den Dichtern, die nach der Vorschrift unserer Aesthetik ›nach der Natur‹, d. h. wie das Weib schaffen – unbewusst. Er zeugt seine Dichtungen nicht, er gebiert sie. Daher die Hysterie.15

Solchermaßen vollständig effeminiert, braucht der literarische Gegner auf der rhetorischen Basis einer sich selbst für überlegen erklärenden Virilität schlussendlich überhaupt nicht mehr ernst genommen zu werden. Hohn und Spott sind billig zu haben, wenn sich der Kampf der naturalistischen Kritik gegen Heyse – die einmal gewählte Metaphorik konsequent zu Ende führend – mit bemühter Ironie als Geschlechterkampf inszenieren lässt: Allein man war auch sehr ungerecht gegen Heyse. Er hat alle Fehler, aber auch alle Tugenden eines Frauenzimmers. Und schliesslich muss man gegen dieses nie die Galanterie aus dem Spiele lassen. Man verrät sich schon, wenn man gegen das Weib zu heftig hadert. Ein rechter Kerl wird immer mit dem Weibe fertig!16

Es ist genau dieser aggressive und präpotente Ton eines »naturalistische[n] Machismo«17, gegen den Heyses Figuren die Pistolen ziehen, um buchstäblich zurückzuschießen, wobei zu konstatieren bleibt, dass der vielgeschmähte Repräsentant der Münchner Gründerzeitliteratur – sowohl in Hinblick auf sein Frauenbild in Faustrecht als auch in Hinblick auf die Offenlegung patriarchaler Machtverhältnisse im Kulturbetrieb, wie sie Heyse im Literarischen Vehmrichter leistet – gerade aus heutiger Perspektive um einiges progressiver wirken muss als die Vertreter eines performativ behaupteten Auf bruchs in die literarische Moderne. Tatsächlich antworten die Mord- und Kastrationsfantasien, die Heyse in seinen Novellen gegenüber der zeitgenössischen Literatur- und Theaterkritik entwickelt hat, ziemlich eindeutig auf die nicht minder gewaltsamen Männlichkeitsfantasien des deutschen Naturalismus, in denen die »künstlerische Produktivität explizit mit sexueller Potenz gleichgesetzt«18 wird, während »das Weibliche zur umfassenden Metapher für das ästhetisch Minderwertige und Überkommene«19 avanciert.

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Ebd., S. 23. Ebd. Oliver Pfohlmann: Literaturkritik in der literarischen Moderne. In: Thomas Anz, Rainer Baasner (Hg.): Literaturkritik. Geschichte, Theorie, Praxis. München 2004, S. 96. Urte Helduser: Geschlechterprogramme. Konzepte der literarischen Moderne um 1900. Köln, Weimar, Wien 2005, S. 211. Urte Helduser: Misogynie als Programm. Zur Geschlechterrhetorik der literarischen Moderne um 1900. In: Andrea Geier, Ursula Kocher (Hg.): Wider die Frau. Zur Geschichte und Funktion misogyner Rede. Köln, Weimar, Wien 2008, S. 73–92, hier S. 86.

»Ein rechter Kerl wird immer mit dem Weibe fertig!«

Die Auseinandersetzung zwischen Heyse einerseits und der naturalistischen Literaturkritik andererseits kann damit als paradigmatisch betrachtet werden für die Positionierungskämpfe im literarischen Feld der frühen Moderne. Bedienen sich bereits die Kritischen Waffengänge der Brüder Heinrich und Julius Hart, die ab 1882 den Reigen der modernistischen Programmschriften eröffnen,20 einer betont martialischen und damit offensiv ›männlichen‹ Rhetorik, wird das tradierte Oppositionspaar von ›Alt‹ und ›Neu‹ – das spätestens seit der ›Querelle des Anciens et des Modernes‹ die literarische Leitdifferenz schlechthin vorgibt  – in den diskursiven Abgrenzungsbewegungen der naturalistischen Avantgarde von den etablierten Arrièregarden sukzessive durch die Kategorien der Geschlechterdichotomie wenn nicht ersetzt, so doch auf markante Weise angereichert und streckenweise sogar deutlich überformt.21 Michael Georg Conrad etwa eröffnet im Jahr 1885 seine Zeitschrift Die Gesellschaft  – die als das führende Theorieorgan der frühen Moderne zu betrachten ist22 – mit dem programmatischen Anspruch einer »Emanzipation der periodischen schöngeistigen Literatur und Kritik von der Tyrannei der ›höheren Töchter‹ und der ›alten Weiber beiderlei Geschlechts‹.«23 Gegenüber einer Literatur »im weibischen Sinne« und einer »phrasenseligen Altweiber-Kritik« möchte er die »arg gefährdete Mannhaftigkeit und Tapferkeit im Erkennen, Dichten und Kritisieren wieder zu Ehren bringen«, um das Projekt der Moderne insgesamt als »mannhafte Leistung« gewürdigt zu sehen.24 Der Naturalismus entwirft damit dezidiert die »Moderne als männliches Programm«25, wie Urte Helduser in ihren grundlegenden Arbeiten zur Misogynie und Geschlechterrhetorik in der deutschsprachigen Literatur um 1900 herausgearbeitet hat: Die Verkündung einer literarischen Erneuerung geschieht hier im Rekurs auf die Geschlechterdifferenz: Durch die Abgrenzung von einer weiblich konnotierten literarischen Tradition wird die Literatur als ›männliche‹ wiedererweckt. […] Quasi en passant werden ästhetische Werturteile mit Ge-

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Vgl. dazu im Überblick Lothar L. Schneider: Realistische Literaturpolitik. Über die Situierung der Literatur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und die Vorgeschichte der Moderne. Tübingen 2005, S. 193–285. Vgl. Günter Butzer, Manuela Günter: Literaturzeitschriften der Jahrhundertwende. In: Mix (Hg.): Naturalismus, Fin de siècle, Expressionismus 1890–1918 (Anm. 12), S. 116– 136, hier S. 119. Vgl. ebd., S. 118–120. Michael Georg Conrad: Zur Einführung. In: Die Gesellschaft, 1 (1885), S. 1–3, hier S. 2. Ebd., S. 2. Helduser: Geschlechterprogramme (Anm. 18), S. 63.

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Michael Pilz schlechterzuschreibungen versehen: Die zu überwindende Trivialliteratur wird den ›höheren Töchtern‹, den ›alten Weibern beiderlei Geschlechts‹, den ›Backfischen‹ und der ›Altweiber-Kritik‹ zugeordnet, dagegen steht die ›Mannhaftigkeit‹ der zu erstrebenden erneuerten Literatur.26

Dieser stereotypen Geschlechtermetaphorik bedienen sich, wie Helduser zeigt, […] nahezu sämtliche Programmschriften des deutschsprachigen Naturalismus. […] Alle wichtigen Manifeste der deutschsprachigen literarischen Moderne verbindet so die Abgrenzung von einer feminisierten Literatur zugunsten einer ›Wiedererweckung‹ literarischer Männlichkeit.27

Dabei amalgamiert sich die am exemplarischen Feindbild Paul Heyses entwickelte »These von einer Trivialisierung und Kommerzialisierung der Literatur durch das Weibliche«28 bei vielen Autoren mit einem »nietzscheanisch inspirierte[n], männerbündische[n] Antifeminismus«29, der über das Metaphorische hinaus ins Konkrete zielt, wenn sich die misogyne Polemik der naturalistischen Kritiker auch »gegen Frauen als Autorinnen-Kolleginnen, Rezipientinnen oder gar ein als ästhetisches Prinzip verstandenes ›Weibliches‹«30 richtet. Wo – wie etwa im Falle Leo Bergs – ein offensiver »Antifeminismus als Literaturkritik«31 betrieben wird, »zeigt sich, dass die naturalistische Programmatik mit einem breiten antifeministischen Diskurs um 1900 verknüpft ist«32 und in letzter Konsequenz »eine gezielte Ausgrenzung von Frauen aus dem Projekt der Moderne verfolgt«33. Auch wenn außer Frage steht, dass sich im Kontext der frühen Moderne »die Präsenz von Autorinnen in der literarischen Öffentlichkeit massiv verstärkte«34  – Adalbert von Hansteins einschlägige Gegenwartsliteratur26 27

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Helduser: Misogynie als Programm (Anm. 19), S. 75. Ebd., S. 76. Wie auch Albrecht Koschorke herausgearbeitet hat, setzt sich dieser von den Naturalisten eingeführte »Tonfall markig-viriler Erneuerung« nahezu bruchlos in den literarischen Manifesten der nachfolgenden Avantgarde-Generationen der Klassischen Moderne fort: Auch im frühen 20. Jahrhundert wird die »Moderne-Diskussion […] großteils in Geschlechterkategorien geführt«, um den grundstürzenden Krisenerfahrungen der Zeit »durch eine neue Kultur der Willensstärke und Entschlußkraft ›Herr‹ zu werden« (Albrecht Koschorke: Die Männer und die Moderne. In: Wolfgang Asholt u. a. (Hg.): Der Blick vom Wolkenkratzer. Avantgarde, Avantgardekritik, Avantgardeforschung. Amsterdam 2000, S. 141–162, hier S. 141). Helduser: Misogynie als Programm (Anm. 19), S. 74. Ebd. Ebd., S. 79. Helduser: Geschlechterprogramme (Anm. 18), S. 149. Helduser: Misogynie als Programm (Anm. 19), S. 89. Ebd., S. 79. Wolfgang Bunzel: Einführung in die Literatur der Naturalismus. Darmstadt 2011, S. 81.

»Ein rechter Kerl wird immer mit dem Weibe fertig!«

geschichte Das jüngste Deutschland von 1900 z. B. rückt unter Rubrizierungen wie »Die Verse der modernen Weiblichkeit« oder »Der neue Frauenroman« gezielt auch die Leistungen schreibender Frauen ins Bild 35 –, sodass der Naturalismus zumindest mittelbar als ein »Katalysator weiblicher Autorschaft«36 begriffen werden kann, bleibt mit Wolfgang Bunzel doch festzuhalten, dass »Frauen an den Gruppenbildungsprozessen der naturalistischen Bewegung keinen nennenswerten Anteil hatten.«37 Insofern bleibt die Perspektive eindeutig: Die programmatische Artikulation des literarischen Auf bruchs war im Wesentlichen »eine Angelegenheit unter Männern und soll[te] das auch bleiben«, wie Albrecht Koschorke die ästhetisch-poetologischen Debatten der Naturalisten und ihre literaturkritische Ref lexion bündig zusammenfasst.38 Ein exemplarischer Blick auf die Münchner Naturalisten-Zirkel bestätigt diesen Befund selbst dort, wo er die vereinzelt auf blitzenden Namen schreibender Frauen wie Elsa Bernstein oder Anna Croissant-Rust mit einbeziehen kann: Bernstein z. B. musste ihre literarischen Erfolge bezeichnenderweise unter dem männlichen Pseudonym »Ernst Rosmer« verbuchen, während ihre Position im Literaturbetrieb vorrangig durch ihre Rolle als Salonnière bestimmt blieb.39 Croissant-Rust – der als erstem, aber auch einzigem weiblichen Mitglied in Michael Georg Conrads Gesellschaft für modernes Leben sogar ein Platz im Sammelbuch der Münchner Modernen zugestanden worden war40 – wurde dagegen von ihren männlichen Kollegen konsequent als »Kamerad Anna« apostrophiert.41

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Vgl. Adalbert von Hanstein: Das jüngste Deutschland. Zwei Jahrzehnte miterlebter Literaturgeschichte. Leipzig 1900, hier S. 338–346 und S. 360–363. Bunzel (Anm. 34), S. 79. Ebd. Koschorke: Die Männer und die Moderne (Anm. 27), S. 143. Vgl. Kristina Kargl: Elsa Bernstein – Karriere unter männlichem Pseudonym. Das selbstbestimmte und dramatische Leben der großen Salonière. In: Ingvild Richardsen (Hg.): Evas Töchter. Münchner Schriftstellerinnen und die moderne Frauenbewegung 1894– 1933, S. 147–157. Zu Bernsteins Werk vgl. auch Nathalia Igl: Geschlechtersemantik 1800– 1900. Zur literarischen Diskursivierung der Geschlechterkrise im Naturalismus. Göttingen 2014, insbesondere S. 236–310. Vgl. Gesellschaft für modernes Leben (Hg.): Modernes Leben. Ein Sammelbuch der Münchner Modernen. München 1891, S. 39–52. Zum durchaus ambivalenten Verhältnis Michael Georg Conrads und der Gesellschaft für modernes Leben zur modernen Frauenbewegung vgl. auch Waldemar Fromm: Modern sein – ein Schlüsselbegriff der bürgerlichen Frauenbewegung und der Schriftstellerinnen der modernen Frauenbewegung in München. In: Richardsen (Hg.): Evas Töchter (Anm. 39), S. 20–31, insbesondere S. 21– 23; zu Croissant-Rust im Speziellen vgl. auch Miriam Käfer: Der Schriftstellerin Anna Croissant-Rust zum 150. Geburtstag. In: Jahrbuch der Freunde der Monacensia, 2010, S. 193–208. Vgl. Otto Julius Bierbaum: Kamerad Anna. In: Ders.: Erlebte Gedichte. Berlin 1893, S. 123–127.

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Michael Pilz

Die performativen Sprechakte, die im literarischen Feld ›die Moderne‹ als diskursives Phänomen hervorgebracht haben, sahen in der literaturkritischen Praxis des Naturalismus mithin eine Form der Konsekration respektive der Exkommunikation vor, die überall dort auf ein symbolisches Reframing von Geschlechtsidentitäten zu setzen hatte, wo Letztere in der sozialen Realität den dichotomischen Zuordnungen widersprachen, auf deren Basis nicht nur metaphorisch über den Wert oder Unwert von Literatur und Autorschaft befunden wurde: Während Paul Heyse dementsprechend von der Kritik explizit zum hysterischen »Frauenzimmer« erklärt werden musste, um sein Werk verächtlich machen und den Autor selbst aus dem Diskurs drängen zu können, hatte Anna Croissant-Rust wie einige andere Frauen zum martialischen »Kameraden« (und notabene nicht zur Kameradin) zu mutieren,42 um in den Reihen der virilen Männerbünde kampf bereit mitmarschieren zu dürfen.43 Dass dieser Marsch – den Ansprüchen seiner Schrittmacher zum Trotz – keineswegs fortschrittlich war, kann füglich konstatiert werden. Im Feld der Literaturkritik erweisen sich Virilisierung und Effeminierung allerdings bis zum heutigen Tag als Strategien, mit denen ästhetische Wertzuweisungen verbunden werden.

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Tatsächlich verwendet Michael Georg Conrad die weibliche Form explizit dazu, um sich über die Anliegen der organisierten Frauenbewegung lustig zu machen: In einer 1887 in der Gesellschaft veröffentlichten Satire lässt er mit der Figur der »Hulda Trapper, eine[r] germanisierte[n] Engländerin, die stramm für Frauenemanzipation im ›Vorwärts‹ focht«, und der zudem antisemitisch verzeichneten »Redaktrice Flora Karfiol vom ›Volkswohl, Organ für konsequente Humanität‹,« zwei als solche markierte »Kamerädinnen« auftreten, die einerseits für die Gleichberechtigung von Mann und Frau und andererseits gegen die Verherrlichung »des blutigen Kriegswesens« eintreten; vgl. Michael Georg Conrad: Der Krieg ist der Friede. In: Die Gesellschaft, 3 (1887), 1–8, hier S. 1 und S. 3 (Hervorhebung M. P.), dazu auch ders.: Emanzipations-Sport. In: Die Gesellschaft, 3 (1887), S. 515–542. Deren ›Kameradschaftsgeist‹ hatte Carl Bleibtreu gleich im ersten Jahrgang der Gesellschaft beschworen, wenn er den Herausgeber Conrad unter unzweideutiger Vorgabe der Marschrichtung wie folgt andichtete: »An der Isar grünem Brausen, vielgeliebter Kamerad, / Deine strammen Fortschrittsbeine wiesen mir den rechten Pfad. / Ja, wie Hagen und wie Volker wollen wir verbunden sein  – / Bin Dein treuer Heergeselle, Du der Heergeselle mein« (Carl Bleibtreu: An M. G. Conrad in München. In: Die Gesellschaft, 1.1885, S. 760).

Literatur und Kritik nach 1989 Stefan Neuhaus

Die ›männliche‹ Wiedervereinigung: Literatur und Kritik nach 1989 »Ich hätte mich sicherlich nicht einem solch schwierigen Thema gestellt, wenn nicht die ganze Logik meiner Forschung mich dazu veranlaßt hätte.«1

Ein kurzer Blick in den Rückspiegel Wenig überraschend ist die Literaturkritik bis in die zweite Hälfte des 20.  Jahrhunderts hinein fest in Männerhänden. Hans Mayers Meisterwerke deutscher Literaturkritik von 1954 beispielsweise versammelt ausschließlich Beiträge von Männern, wobei es sich, dem früheren Konzept eines ›Meisterwerks‹ verpf lichtet, zugleich vor allem um Kritiken und Aufsätze von Schriftstellern handelt.2 Auch die Geschichte der Literaturkritik wurde bisher  – soweit ich das sehen kann, sogar ausschließlich  – von Männern geschrieben. Peter Uwe Hohendahls grundlegende Geschichte der deutschen Literaturkritik (1730-1980) von 1985 versammelt fünf Beiträger, die neben dem Herausgeber und Mitautor für die einzelnen historischen Abschnitte verantwortlich zeichnen.3 Eine kursorische Durchsicht mit Hilfe des Registers zeigt, dass Frauennamen in dem Band höchst selten auftauchen und dies in den wenigen Ausnahmefällen offenbar dann, wenn es sich um Literaturwissenschaftlerinnen oder Autorinnen handelt, die sich über Literaturkritik geäußert haben, oder wenn es um sozialistische Rezensentinnen oder Mitarbeiterinnen im DDR-Literaturbetrieb geht. Ein Schelm, wer Böses denkt … Auch die Auseinandersetzung mit Literatur ist größtenteils männlich und dies nicht nur im Sinne des biologischen Geschlechts – dass es bereits kulturell konstruiert ist, wird im Beitrag immer wieder eine Rolle spielen.4 So 1 2 3 4

Pierre Bourdieu: Die männliche Herrschaft. Aus dem Französischen von Jürgen Bolder. 5. Auf l. Frankfurt a. M. 2020, S. 7. Vgl. Hans Mayer: Meisterwerke deutscher Literaturkritik. 3 Bde. 2. Auf l. Berlin 1956. Vgl. Peter Uwe Hohendahl (Hg.): Geschichte der deutschen Literaturkritik (1730-1980). Mit Beiträgen von Klaus L. Berghahn u. a. Stuttgart 1985. Wenn das kulturell konstruierte (und nicht absichtsvoll das biologische) Geschlecht gemeint ist, wähle ich einfache Anführungszeichen. Wenn es um das Geschlecht von realen Protagonist *innen oder die Annahme eines realen Geschlechts geht, verzichte ich auf diese Anführungszeichen.

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Stefan Neuhaus

hebt beispielsweise eine relativ neue Arbeit, die den Anspruch erhebt, das gesamte Feld der deutschsprachigen Literaturkritik auf exemplarische Weise historisch neu zu vermessen, eine Metapher in den Titel, die drastischer kaum sein könnte – Literaturkritiker werden mit Kannibalen gleichgesetzt. Und da dies mit einem Zitat von Walter Benjamin abgesichert wird, ist es positiv gemeint.5 Die Arbeit beginnt zudem mit einer metaphorisch-kriegerischen Provokation: »Literaturkritik ist ein gewalttätiges, barbarisches Geschäft.« 6 Gewalttätig und barbarisch zu sein wird immer noch vor allem mit Männern assoziiert – demnach dürfte es sich wohl um kein »Geschäft« für Frauen handeln. Ich möchte hier keine Kollegenschelte betreiben, die genannte Arbeit hat ihre Verdienste, sie gibt Einblicke vor allem in die Literaturkritik der Aufklärung, die zumindest mir neu waren. Dennoch ist die ›männliche‹ Tendenz deutlich erkennbar. Ich könnte nun eine kleine Liste von vergleichbaren Arbeiten der letzten Jahre und Jahrzehnte anführen und diskutieren, aber abgesehen davon, dass es eine These erhärten würde, die ich ohnehin für plausibel genug halte, würde es eher ermüden als einer Weiterführung der Argumentation dienen. Stattdessen möchte ich zwei Beispiele für die »männliche Herrschaft« (Pierre Bourdieu) in der Literaturkritik anführen, ein älteres und ein jüngeres, die ich für ebenso aufsehenerregend wie symptomatisch halte.

Sigrid Löfflers Häresie: Der Streit mit dem ›Literaturpapst‹ In den vergangenen Jahrzehnten sind Kritikerinnen hervorgetreten, die sich einen Namen gemacht haben und die in einer neueren oder neuesten Geschichte der deutschsprachigen Literaturkritik sicher nicht fehlen würden; darunter sind so bekannte Namen wie Iris Radisch, Felicitas von Lovenberg und natürlich, wohl allen voran, Sigrid Löff ler. Doch gerade der Name Sigrid Löff ler ist untrennbar verbunden mit einem Eklat, der wie in einem Brennglas alle Probleme einer ›männlichen‹ Literaturkritik auch nach der historischen Zäsur von 1989/90 noch einmal sichtbar macht. Es handelt sich, wie jetzt schon alle Leser*innen wissen, um eine Ausgabe der ZDF-Sendung

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Vgl. Christoph Schmitt-Maaß: Kritischer Kannibalismus. Eine Genealogie der Literaturkritik seit der Frühauf klärung. Bielefeld 2019, zu dem Hinweis auf Benjamin z. B. S. 272. Ebd., S. 11.

Literatur und Kritik nach 1989

Das literarische Quartett aus dem Jahr 2000, nach zwölf Jahren die letzte Folge mit der Beteiligung von Sigrid Löff ler als die Dritte im Bunde des Stammpersonals und als einzige Frau im Quartett des Abends, bei dem außerdem der weitere Stamm-Spieler Hellmuth Karasek und der Redakteur und Kritiker Mathias Schreiber mitdiskutierten. Der das Quartett leitende Marcel Reich-Ranicki hatte sie auf eine Art und Weise behandelt, die ihren Rückzug veranlasste. Wenn Wolfgang Büscher in der Welt das Geschehen wie folgt auf bauscht, ist dies bestenfalls die halbe Wahrheit und schlimmstenfalls irreführend: Die 68. Folge nun, am 30. Juni 2000 von der Expo in Hannover übertragen, eskalierte zum möglicherweise finalen Titelkampf. Was bislang witzige Inszenierung schien, geriet in der letzten Runde ziemlich ›welthaltig‹, wie der Literaturkritiker das nennt. Der Schaukampf um Bücher schlug in aller Öffentlichkeit und in aller Härte ins Private um. Ins Big-Brother-Mäßige sozusagen. Vom Quartett her wehte Containerluft durchs Studio und in die Wohnstuben.7

Die in Büschers Kommentar gewählte Metapher, bevor das Gespräch zwischen Löff ler und Reich-Ranicki in Auszügen abgedruckt wird, ist allerdings bezeichnend: In Wahrheit geht es heute Abend endgültig um Herrn Reich-Ranicki und Frau Löff ler, in Sonderheit um deren erotische Anteile. Und weil die Szene so schön war, geben wir sie hier noch einmal verdichtet wieder. In der Schriftform entfaltet die écriture automatique des prallen Lebens erst so richtig ihre literarisch-theatralische Potenz.8

»Schön« und ›literarisch‹ oder gar ›ästhetisch‹, wie Büscher außerdem behauptet, war an der Szene allerdings gar nichts, es sei denn, man betrachtet Sätze wie die folgenden nicht als Beleidigungen, sondern als Kunstform: »Sie haben dafür [gemeint sind Männerfantasien oder erotische Fantasien ebenso wie literarische Fantasien allgemein] keinen Sinn, es hat gar keinen Zweck.«9 Sigrid Löff ler würde, so Reich-Ranicki weiter, bei jedem Liebesroman im

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Wolfgang Büscher: Ein Streit zwischen Marcel Reich-Ranicki und Sigrid Löff ler gef ährdet die ZDF-Literatursendung. In: Die Welt, 14.7.2000. URL: https://www.welt.de/ print-welt/article523027/Ein-Streit-zwischen-Marcel-Reich-Ranicki-und-SigridLoeff ler-gefaehrdet-die-ZDF-Literatursendung.html (abgerufen am 2.10.2020). Ebd. Das literarische Quartett – der Krach. URL: https://www.youtube.com/watch?v=IFCSH EfQvY4 (abgerufen am 2.10.2020), 07:45 ff.

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Quartett sagen, »das gehört gar nicht hierher«, sie halte offenbar »die Liebe für etwas Anstößig-Unanständiges«.10 Während sich Sigrid Löff ler auf »die Sprache« rückbezieht und ihre kritische Sicht mit Zitaten belegt wie: »Ich wollte sie bis zur Hirnerweichung vögeln«11 – auch später noch wird sie »literarische Kategorien« einfordern, als es ›persönlich‹ wird12 –, geht es den drei anwesenden Männern offenkundig vor allem um den Lobpreis des Romans Gefährliche Geliebte von Haruki Murakami. Während Karasek noch versucht zu vermitteln (und Schreiber kaum etwas sagt), konzentriert sich Reich-Ranicki auf Löff lers angebliches Unvermögen, erotische Literatur angemessen zu würdigen. Nun könnte man argumentieren, dass Sigrid Löff ler das Tor zur persönlichen Beleidigung selbst aufgemacht hat mit dem Satz: »Ich will überhaupt keinen Einspruch daran erheben, woran Sie sich ergötzen  – das ist wahrscheinlich auch eine Altersfrage.«13 So wurde in der Presse argumentiert. Die Neue Osnabrücker Zeitung beispielsweise legt in einem Rückblicksartikel aus dem Jahr 2011 nahe, dass Löff ler mit ihrem Satz den Streit ausgelöst und zu verantworten hat. Marie-Luise Braun leitet diese Behauptung wie folgt ein: Sie habe Reich-Ranicki die Möglichkeit geben wollen, sich zu entschuldigen, begründete Löff ler die Frist. Es sei das »reinste Lehrstück in Frauenfeindlichkeit« gewesen, betonte sie in einem Spiegel-Interview. Doch beim genauen Hinhören kommen nicht nur leise Zweifel daran auf, wer den ersten Brandsatz geworfen hat.14

Es ist bezeichnend, dass in dem Artikel das Schlagwort der »Frauenfeindlichkeit« dazu dient, eine angebliche Schuld Löff lers an dem Eklat nachzuweisen. Die Strategie des Artikels ist es offenkundig, das dezidiert ›männlich‹dominante Verhalten Reich-Ranickis zu naturalisieren, während das defensiv-›weibliche‹ Verhalten Löff lers als Angriff auf die ›männliche‹ Herrschaft in der Talk-Runde gewertet wird. Beim genaueren Hinsehen zeigt sich allerdings, dass das Gespräch an dieser Stelle noch gar nicht eskaliert. Löff ler startet ihren angeblichen Angriff, nachdem Reich-Ranicki mit seinen Armen mit nachdrücklichem Pathos

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Ebd., 07:55 ff. Ebd., 03:24 ff. Ebd., 08:28 ff. Ebd., 04:34 ff. Marie-Luise Braun: Der fast schon historische Streit zwischen Sigrid Löff ler und Marcel Reich-Ranicki. Wo bleibt da die Erotik? In: Neue Osnabrücker Zeitung, 31.10.2011. URL: https://www.noz.de/deutschland-welt/medien/artikel/207507/wo-blieb-da-dieerotik (abgerufen am 3.10.2020).

Literatur und Kritik nach 1989

weit ausgegriffen hat; sie spricht in normaler Stimmhöhe bis zurückhaltend, dabei zurückgelehnt und mit einem verschmitzten Lächeln. Die Körpersprache zeigt, dass es ihr nicht um die Beleidigung der Person des Kritikers oder der Kritiker geht – alle drei geben zu verstehen, dass sie das Buch im Unterschied zu ihr positiv beurteilen –, sondern um eine Pointe. Und selbst, wenn Löff lers Bemerkung als Angriff gemeint gewesen sein sollte: Die männliche Übermacht hätte eine rhetorische Keule vermutlich legitimiert, war doch bereits vor den Ausfällen Reich-Ranickis die Front zwischen ihr und den drei Herren abgesteckt. Dieses Machtverhältnis merkt man ihr allerdings zunächst nicht an, sie agiert immer noch professionell – bis der direkte Angriff des Gegenübers erfolgt. Die einzige Frau im Stammpersonal des Quartetts scheint zumindest retrospektiv nicht das vierte, sondern immer schon das fünfte Rad am Wagen gewesen zu sein. So berichtet der Tagesspiegel: Beim Gegenpart Reich-Ranicki hält sich die Trauer über den Abgang in Grenzen. ›Selbstverständlich wird die Sendung weitergehen‹, sagte er dem Tagesspiegel. Er werde natürlich am Montag beim ZDF-Intendanten Stolte zum Gespräch erscheinen, um die Zukunft der Sendung zu diskutieren. Im Anschluss an das Krisentreffen will sich der 80-jährige ›Literaturpapst‹ ausführlicher äußern. Fürs Erste belässt er es bei einer rhetorischen Frage: ›Warum soll es ohne Frau Löff ler nicht weitergehen?‹15

Auch wenn die Bezeichnung ›Literaturpapst‹ in Anführungszeichen gesetzt wurde, so deutet sie doch unfreiwillig, mit ihrem metaphorischen Verweis auf die Führungsposition in der ebenfalls männerdominierten Katholischen Kirche, auf den Kern des Problems. Marcel Reich-Ranicki leitet seine Attacke bezeichnenderweise mit dem Satz ein: »Noch etwas: Sie sind doch immer für die Rolle der Frau in der Gesellschaft und dergleichen.«16 Der Nachsatz »und dergleichen« ist bezeichnend, denn er wertet das ab, was zuvor gesagt wurde. Dem Kritiker ist die »Rolle der Frau in der Gesellschaft« entweder gleichgültig oder, wenn sie mit Forderungen von Frauen für Gleichberechtigung einhergeht, ein Dorn im Auge.

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Robert Ide, Joachim Huber: »Literarisches Quartett«: »Die Sendung ist kaputt«. In: Der Tagesspiegel, 28.7.2020. URL: https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/medien/litera risches-quartett-die-sendung-ist-kaputt/156358.html (abgerufen am 2.10.2020). Das literarische Quartett – der Krach (Anm. 9), 06:46 ff.

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›Männlich‹ und ›weiblich‹ in der Literaturkritik der Gegenwart Der Streit zwischen Löff ler und Reich-Ranicki ging zweifellos weit über das hinaus, was Pierre Bourdieu als die der »männlichen Herrschaft« inhärente »symbolische Gewalt« bezeichnet hat.17 Doch liegt hinter solchen Ausbrüchen eben ein weites kartografiertes Feld von kulturell erlernten Mustern, die bei der Kleidung beginnen und bei Überzeugungen noch nicht aufhören. Um noch einmal Bourdieu zu zitieren: »Da wir, Männer wie Frauen, Teil des Gegenstandsbereichs sind, den wir zu erfassen suchen, haben wir in Form unbewußter Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata die historischen Strukturen der männlichen Ordnung verinnerlicht.«18 Das heißt erstens, dass es – im Sinne einer »gesellschaftliche[n] Konstruktion der Körper«19 – nicht um Männer und Frauen als biologische Entitäten geht, sondern um das, was mit dem biologischen Geschlecht kulturell verbunden wird. Judith Butler hat die in der Regel unref lektierten Konsequenzen für den Alltag bekanntlich klar und deutlich formuliert und diskursanalytisch fundiert: »Die Materie der Körper wird neu gefaßt als die Wirkung einer Machtdynamik, so daß die Materie der Körper nicht zu trennen sein wird von den regulierenden Normen, die ihre Materialisierung beherrschen, und von den Signifikanten dieser materiellen Wirkungen.«20 Signifikanten im vorliegenden Fall sind neben der gesprochenen Sprache (einschließlich Modulation und Stimmlage) auch Kleidung und Haltung, Mimik und Gestik. Löff ler sitzt zurückgelehnt und fühlt sich offenbar, trotz ihres um Professionalität, um eine rationale, argumentativ abgesicherte Argumentation und eine dazu passende Kommunikation bemühten Verhaltens, in der Defensive. Marcel Reich-Ranicki sitzt leicht nach vorn gebeugt und zeichnet sich gerade dadurch aus, dass er keine der in Talkrunden bis heute üblichen Codes beachtet, die Löff ler offenbar wichtig sind: Er fällt ihr und anderen ins Wort, erhebt seinen Zeigefinger und seine Stimme, sodass dies auf andere bedrohlich wirken kann, und nimmt keine vergleichbaren kommunikativen Rücksichten auf sein Gegenüber. Allerdings ist es das Publikum gewohnt und erwartet es sogar, dass er sich als Enfant terrible geriert. Beider Verhalten ist über die zwölf Jahre fraglos zu 17 18 19 20

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Bourdieu: Die männliche Herrschaft (Anm. 1), S. 8. Ebd., S. 14. Ebd., S. 17. Judith Butler: Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts. 1. Auf l. Frankfurt a. M. 1997, S. 22.

Literatur und Kritik nach 1989

einer auch vom Publikum erwarteten Rolle geworden, und dies nicht nur, wie es Goffman für das Verhalten im Alltag formuliert hat: Wenn der Einzelne eine Rolle spielt, fordert er damit seine Zuschauer auf, den Eindruck, den er bei ihnen hervorruft, ernst zu nehmen. Sie sind aufgerufen zu glauben, die Gestalt, die sie sehen, besitze wirklich die Eigenschaften, die sie zu besitzen scheint, die Handlungen, die sie vollführt, hätten wirklich die implizit geforderten Konsequenzen, und es verhalte sich überhaupt alles so, wie es scheint.21

Zumindest beim Stammpersonal des Quartetts ist daher anzunehmen, dass sie sich ihrer Rolle wenigstens soweit bewusst sind, dass sie um die Wirkung ihrer medialen Selbstinszenierung wissen – soweit sie diese Selbstinszenierung beeinf lussen können und wollen. Der in den Blick genommene Streit ist gerade deshalb so bemerkenswert, weil hier beide Personen aus genau dieser Rolle fallen – Sigrid Löff ler, indem sie Reich-Ranicki beschuldigt, sie persönlich angegriffen zu haben, und Reich-Ranicki durch seinen persönlichen Angriff. Allerdings weist er ihre Anschuldigungen zurück und leugnet, dass er sie persönlich angreifen wollte.22 Ob dies nun Teil seiner kommunikativen Strategie ist, seine Machtposition abzusichern, indem er keine Fehler zugibt, oder ob er selbst davon überzeugt gewesen ist, keinen Fehler gemacht zu haben, ist beim Betrachten der Aufzeichnung schwer zu entscheiden.

Der Fall Lisa Eckhart Lisa Eckhart gehörte bis 2020 zu den Kabarettist*innen mit einem mittleren Bekanntheitsgrad, die über ihre Bühnenauftritte im deutschsprachigen Raum hinaus auch in verschiedenen einschlägigen Fernsehprogrammen auftrat (etwa »Die Anstalt«, »Mitternachtsspitzen«, »nuhr ab 18«, »nuhr im Ersten«, »Pratersterne« und »Pufpaffs Happy Hour«), woran sich niemand mehr störte, als dies bei provokativem Kabarett nun mal üblich ist – bis in die Zeit der Veröffentlichung ihres ersten Romans.23 Auch die Dominanz von Männern im deutschsprachigen Kabarett wäre eine Untersuchung wert – Frauen sucht man in der Regel vergebens, in vielen Sendungen gibt es entweder

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Erving Goffman: Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag. Aus dem Amerikanischen von Peter Weber-Schäfer. Nachwort von Lord Ralf Dahrendorf. 9. Auf l. München, Zürich 2011, S. 19. Das literarische Quartett – der Krach, 08:30 ff. Vgl. Lisa Eckhart: Omama. Roman. Wien 2020.

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keine oder höchstens eine Frau, die auftritt. Der Verdacht liegt nahe, dass es sich dann um eine sogenannte ›Quotenfrau‹ handelt. 1992 als Lisa Lasselsberger in der Steiermark geboren, studierte Eckhart Germanistik und Slawistik in Paris und Berlin, außerdem wohnte und arbeitete sie ein Jahr in London, mittlerweile lebt sie in Leipzig. Sie schrieb nach eigenen Angaben an der Freien Universität Berlin eine abgelehnte erste Masterarbeit zum Thema Weiblichkeit und Nationalsozialismus, ausgehend von Joseph Goebbels’ Tagebüchern, dies deutet auf eine kritische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, in dem Fall aus Gender-Perspektive. Bevor sie als Kabarettistin bekannt wurde, machte sie sich auf einem anderen Feld einen Namen: »Im Oktober 2015 gewann sie als zweite Frau die österreichischen Poetry-Slam-Meisterschaften.«24 2019 stand sie auf dem vorläufigen Höhepunkt ihres Ruhms, so wurde ihr etwa der renommierte Kabarett-Preis »Salzburger Stier« zuerkannt.25 Zum ersten und kleineren Skandal kam es im August 2020, als Eckharts Roman angekündigt war, sie auf dem Hamburger Literaturfestival »Harbour Front« erst daraus lesen sollte – und dann von den Veranstalter*innen wieder ausgeladen wurde, angeblich wegen Sicherheitsbedenken, die sich aber als nicht haltbar entpuppten.26 Dem kleineren folgte ein größerer Skandal, als die kontrovers diskutierte Autorin eines provokativen Erstlings auch als Kabarettistin stärker ins Kreuzfeuer der Kritik geriet: Ihr Programm habe, so der Vorwurf, antisemitische Tendenzen. Vereinfacht gesagt stehen sich in der Debatte zwei Seiten gegenüber. Die erste Seite geht davon aus, dass Lisa Lasselsberger eine Kunstfigur Lisa Eckhart erfunden hat und diese Kunstfigur auf der Bühne verkörpert, mithin ihre Aussagen als Rollenprosa zu verstehen sind. Das Auftreten Eckharts – sie ist stets betont auffällig geschminkt und gekleidet – dient ebenso als Beleg wie Selbstaussagen. Eckhart hat beispielsweise in einem Interview am Beginn ihrer Kabarett-Karriere geäußert: »Es geht mir immer darum, Bequem24 25

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N. N.: Lisa Eckhart. In: Wikipedia. Die freie Enzyklopädie. URL: https://de.wikipedia. org/wiki/Lisa_Eckhart (abgerufen am 6.1.2021). APA: Kurz gemeldet: Kabarett: Salzburger Stier geht an Lisa Eckhart. In: Der Standard, 18.10.2018, S. 27. Die Berichterstattung über die Verleihung war übrigens männerdominiert, vgl. etwa das Eckhart aussparende und vier Männer zeigende Foto zu folgendem Artikel: N. N.: Die Crème des Kabaretts in Meran. In: Dolomiten, 7.5.2019, S. 26. – Alle nicht mit URL zitierten Artikel stammen aus dem Bestand des Innsbrucker Zeitungsarchivs, dem ich an dieser Stelle herzlich danken möchte. Vgl. die Debatte vorläufig zusammenfassend den Artikel von Arno Frank: Die Leibhaftige. Literatur: Die österreichische Kabarettistin Lisa Eckhart verstört mit grenzwertiger, manche finden: grenzüberschreitender Satire. Sie selbst versteht das nicht als Provokation, sondern als gewagte Kunst. In: Der Spiegel Nr. 33, 8.8.2020, S. 116–119.

Literatur und Kritik nach 1989

lichkeit in Scherben zu schlagen […]. Es beschreibt auch meine Erfahrung als Ausländerin in Deutschland […].« Sie wolle vor allem »Misstrauen gegen Fremdes« offenlegen und sich so für mehr Toleranz einsetzen. Als ihr großes Vorbild benennt sie die bis zur Verleihung des Literaturnobelpreises im Jahr 2004 häufig in der Literaturkritik angefeindete Elfriede Jelinek. Auf die Frage, ob sie es als Frau auf der Bühne schwerer hat, erwidert sie, dass sie bestmöglich ihr »Frausein verleugne«, um erfolgreich zu sein.27 Es gibt weitere Berichte und Kommentare über ihre Kabarett-Auftritte, die auf eine spezifische österreichische Tradition der kritischen Auseinandersetzung mit Alltagsfaschismus hinweisen, so stellt etwa Peter Blau fest: »Verachtungsvoll stochert sie im braunen Bodensatz ihrer Heimat […].«28 Als mit der Rahmung der Kabarett-Auftritte konform gehendes Ziel der Kunstfigur Lisa Eckhart wird gesehen, Vorurteile der Zuschauer*innen durch Zuspitzung satirisch darzustellen und zu entlarven. Auf der anderen Seite stehen Kritiker*innen, die eine solche Kunstfigur nicht gelten lassen oder als Trick ansehen, der es Eckhart ermöglicht, ›menschenfeindliche‹29 oder antisemitische Kommentare30 ungeschützt auf der Bühne zu äußern. An dieser Stelle soll es nicht um die Frage gehen, ob Eckharts Kabarett-Texte auch dann, wenn sie einer Kunstfigur in den Mund gelegt werden, tendenziell antisemitisch sind, sondern ob die Debatte über sie und ihre Texte Belege für eine ›männliche Herrschaft‹ von männlichen Kritikern über weibliche Objekte der Kritik liefert. Zu fragen ist, ob die Berichterstattung – einschließlich der immer wieder großformatigen Fotos der jungen und gestylten Frau – anders und weniger provokativ ausgefallen wäre, hätte es sich um einen Mann gehandelt. Bereits der Haupttitel eines langen, keineswegs ihr gegenüber besonders kritischen Porträts von Lisa Eckhart im Magazin der »Süddeutschen Zeitung« kann als tendenziell sexistisch gelesen werden: »Blondes Gift«.31 Besonders deutlich 27

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Vgl. Stefanie Panzenböck: Kennen Sie den schon? Kabarettstars wie Josef Hader füllen die großen Säle. Was aber macht die nächste Generation? Der Falter stellt drei Kleinkunstschaffende vor, die mit traditioneller Satire nur mehr wenig zu tun haben. In: Der Falter, 27.1.2016, S. 24–26, hier S. 25 f. Peter Blau: Kabarett-Kritik: Allah-Heiligen und Scharia-Himmelfahrt. In: Der Falter, 29.1.2016, S. 17. Vgl. Andrea Diener: Sie ist von Kopf bis Fuß aufs Böse eingestellt. Lisa Eckhart gilt als Hoffnung des Kabaretts. Dabei sind ihre »Witze« oft menschenfeindlich. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 5.5.2020, S. 13. Vgl. Lisa Eckhart oder: Was darf Satire? Antisemitismusvorwurf nach Beitrag im WDR. In: Der Tagesspiegel, 6.5.2020, S. 23. Tobias Haberl: Blondes Gift. Die österreichische Kabarettistin Lisa Eckhart arbeitet hart an der Grenze des Sagbaren. Und überschreitet sie lustvoll. Eine Begegnung in Leipzig. In: Süddeutsche Zeitung (Magazin), 13.8.2020, S. 26–31.

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fällt die Bewertung durch Maxim Biller in einem großen Artikel in der »Süddeutschen Zeitung« aus, in der Eckhart schon im Titel als »Truppenbetreuerin« in die Nähe des Nationalsozialismus gerückt wird.32 Mit ihrem Auftritt beim »Literarischen Quartett« habe, so Biller, »der deutsche Jude und Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki endgültig den Kampf gegen die Nazis verloren«. Diese Bewertung vereindeutigt die Gleichsetzung Eckharts mit dem Nationalsozialismus, ohne dass es dafür schlüssige Belege wie Kontakte der Kabarettistin in die rechte Szene gäbe. Auch das Äußere der Kunstfigur wird entsprechend rubriziert und abqualifiziert in der Charakterisierung Eckharts als Frau »mit ihrer sehr, sehr blonden HJ-Frisur, mit ihrem Nazi-Domina-Look und ihrem herablassenden, nasalen Offiziersmessen-Ton«. Biller begründet dies mit Zitaten aus Eckharts Programm, ohne die Rahmungen (Kabarett, Kunstfigur) zu beachten, aber er rechtfertigt diese Nichtbeachtung mit einer pejorativen Metapher: »Ich kann es auch anders sagen: Was wie eine Ente quakt, watschelt und f liegt, ist eine Ente.« Die als solche von der Redaktion erstaunlicherweise nicht markierte Glosse (einen Bericht kann man den Artikel sicher nicht nennen)33 steigert sich von Behauptung zu Behauptung, mit folgender Feststellung als einem Gipfelpunkt: […] was ist ein Mann, der das Warschauer Ghetto und eineinhalb Jahre in einem Versteck überlebt hat, der als Literaturchef der FAZ und Mit-Erfinder des Literarischen Quartetts der größte Erneuerer der deutschen Literaturkritik seit Lessing war, was ist so ein lispelnder, wild gestikulierender Mann gegen eine strenge blonde Frau mit österreichischem Akzent, die schon mal einen tabulosen Witz über Harvey Weinstein gemacht hat? Ein Fliegenschiss der Geschichte, genau.

Hier geraten verschiedene Kategorien durcheinander: Nach Lessing hat es zweifellos weitere »Erneuerer der deutschen Literaturkritik« gegeben, von Friedrich Schiller über Theodor Fontane und Alfred Polgar bis zu Walter Jens und anderen (wobei, wie eingangs bemerkt, die Liste der von Hans Meyer so benannten »Meisterwerke« eine ausnahmslos männliche ist). Nun ist aber Lisa Eckhart gar keine Literaturkritikerin, sondern Kabarettistin und Autorin – als Gast hat sie, was das betrifft, wie andere vor ihr einen Sonder32

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Vgl. Maxim Biller: Die Truppenbetreuerin beim ZDF. Für den Freitag ist die Kabarettistin Lisa Eckhart ins »Literarische Quartett« geladen, die Sendung, die das Lebenswerk Marcel Reich-Ranickis krönte. Dazu ein paar Anmerkungen. In: Süddeutsche Zeitung, 3.12.2020, S. 27. Vgl. diesen Artikel auch für die nachfolgenden Zitate, soweit nicht anders vermerkt. Vgl. Christoph Fasel: Textsorten. 2., überarb. Auf l. Konstanz u. München 2013, S. 101 ff.

Literatur und Kritik nach 1989

status. Sie ist auch keine rechte Politikerin, wie der Hinweis auf die »Fliegenschiss«-Bemerkung des Af D-Spitzenpolitikers Alexander Gauland suggeriert.34 Dass man eine Frau ins Quartett eingeladen hat, die eigentlich mit Literaturkritik nichts zu tun hat, und das vermutlich lediglich aufgrund ihrer kontroversen aktuellen Popularität, wird von Biller hingegen nicht erwähnt und hätte doch ein valider Kritikpunkt an der ZDF-Sendung sein können. Zugleich wird mit dem Bild der ›strengen blonden‹ Nazi-Frau ein Schreckbild erzeugt, das keine Entsprechung in der Realität hat. Eckhart ist ›nur‹ eine Kabarettistin, sie hat so gut wie keine Macht im öffentlichen Diskurs, schon gar nicht über den verstorbenen ›Kritikerpapst‹, der jahrzehntelang höchst erfolgreich den Diskurs über Literatur in den Massenmedien mit bestimmte, während Eckharts kurze und sehr relative Präsenz in der Öffentlichkeit mit der Kritik an ihrem Programm zum Zeitpunkt der Veröffentlichung von Billers Artikel schon wieder an ihr Ende gekommen zu sein scheint. Die zweifellos berechtigte kritische Frage, ob der Umgang Eckharts mit Klischees, insbesondere mit antisemitischen Stereotypen hinreichend als Satire markiert ist, wird in Billers Glosse gar nicht gestellt, es wird davon ausgegangen, dass die Aussagen Eckharts persönliche Meinungsbekundungen und keine Kabarett-Beiträge sind, dass also die Bühne für die Verbreitung antisemitischer und nationalsozialistischer Propaganda von Eckhart missbraucht wird. Wie angedeutet gibt es dafür aber nicht nur keine Hinweise, ganz im Gegenteil: Die Aussagen Eckharts und auch die Berichterstattung über ihre Auftritte weisen darauf hin, dass es zumindest die Intention der Auftritte ist, Vorurteile durch satirische Zuspitzung als solche kenntlich zu machen und also zu entlarven. Billers absichtsvoll zerstörerisches verbales Verhalten kann als ›männlich‹ gesehen werden, auch indem er sich mit Reich-Ranicki solidarisiert und dessen Verdienste mit in die Waagschale wirft.35 Der ›gestandene‹ Autor versucht eine vergleichsweise unbekannte Frau im Diskurs über Literatur zu diskreditieren, bevor sie nur annäherungsweise einen Bekanntheitsgrad erlangen kann, der einen solchen Vergleich rechtfertigen würde. Dass dies

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Vgl. dpa: Gauland verteidigt Äußerung: »Das kann niemals eine Verhöhnung der Opfer sein«. In: FAZ.net, 3.6.2018. URL: https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/ afd-chef-alexander-gauland-verteidigt-zitat-ueber-ns-zeit-15621317.html (abgerufen am 6.1.2021). Vgl. hierzu Eva Menasse: Blondes Gift? Maxim Billers Polemik gegen den Auftritt der umstrittenen Kabarettistin Lisa Eckhart im »Literarischen Quartett« zeigt: Die Kampfbegriffe haben sich verändert. In: Die Zeit, 10.12.2020, S. 64.

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möglicherweise durch tiefsitzende Ängste motiviert ist, die mit der Shoah zu tun haben, und dass die Furcht vor Antisemitismus auch im gegenwärtigen Deutschland des Jahres 2020 alles andere als unbegründet ist, dürfte nicht von der Hand zu weisen sein. Zugleich ist aber auch offensichtlich, dass hier ein Schriftsteller und Prominenter im Literaturbetrieb, der selbst von 2015–16 Mitglied des Literarischen Quartetts war, seine Machtposition nutzt, um die Karriere einer vergleichsweise machtlosen jungen Frau – einer der wenigen präsenten Frauen im deutschsprachigen Kabarett – möglichst frühzeitig wieder zu beenden.36 Billers als ›männlich‹ konnotiert identifizierbare Versuche der Selbstprofilierung auf Kosten nicht nur von Lisa Eckhart, ausgelöst durch die Frage nach der Beteiligung am Literarischen Quartett, weisen zurück auf die Kritik Marcel Reich-Ranickis an Sigrid Löff ler in eben dieser Sendung und werfen die Frage auf, wie viel sich in mehr als drei Jahrzehnten wirklich geändert hat, wenn es um die Akzeptanz von Frauen und von ›weiblichen‹ Verhaltensweisen im Literaturbetrieb geht.

Fazit und Ausblick Dass die Skandal-Sendung des Literarischen Quartetts ausgerechnet in das erste Jahr des neuen Jahrtausends fällt, ist Zufall und passt dennoch zu gut, um es nicht auch als Zeichen zu verstehen. Das Ende des Kalten Krieges zehn Jahre zuvor hat – wie so oft in der Geschichte – eine Auf bruchsstimmung erzeugt, deren Erwartungen nicht oder nur teilweise eingelöst werden konnten. Manuela Schwesig, seinerzeit Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, hat 2015 in einer Bestandsaufnahme der deutschen Regierung mit dem Titel 25 Jahre deutsche Einheit. Gleichstellung und Geschlechtergerechtigkeit in Ostdeutschland und Westdeutschland zwar einleitend festgestellt: Die deutsche Einheit brachte Freiheit – für meine Generation ist das Gefühl, dass jetzt Tür und Tor offen stehen, die vorherrschende Erinnerung an diese

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Zu Billers Tendenz, vor allem Frauen im öffentlichen Diskurs zu diskreditieren, vgl. ebd. Auch die Kontroverse um das Verbot seines Romans Esra, das durch seine plakativen Angriffe auf eine frühere Freundin ausgelöst wurde, weist in diese Richtung. Wenn solche Angriffe, wie Biller und seine Verteidiger argumentierten, nichts über die literarische Qualität des Romans aussagen sollten, misst Biller im Falle Eckhart mit zweierlei Maß. Vgl. Martin Hielscher: Bilse, Biller und das Ich. Der radikale Roman und das Persönlichkeitsrecht. In: Stefan Neuhaus u. Johann Holzner (Hg.): Literatur als Skandal. Fälle  – Funktionen – Folgen. 2. Auf l. Göttingen 2009, S. 686–694.

Literatur und Kritik nach 1989 Zeit – und damit Offenheit und eine gewisse Unsicherheit: Was würde passieren mit dem Verhältnis zwischen Frauen und Männern? Was mit der Selbstverständlichkeit, mit der Frauen in Ostdeutschland berufstätig waren? Die vorliegende wissenschaftliche Untersuchung ist diesen Fragen mit dem Abstand von 25 Jahren nachgegangen. Sie hat festgestellt: Die Menschen in Ost- und Westdeutschland haben sich miteinander weiterentwickelt und sie haben voneinander gelernt. Im Wunsch nach Gleichstellung besteht kein Ost-West-Gefälle, ebenso wenig wie sich ein Nord-Süd-Gefälle feststellen lässt. Die Lebensentwürfe von Frauen und Männern haben sich im vereinigten Deutschland angeglichen.37

Die gesammelten Daten ergeben allerdings, von einer nicht zu leugnenden positiven Tendenz abgesehen, ein anderes Bild. Um ein Beispiel herauszugreifen: In Deutschland betrug 2014 der Anteil männlicher Fachkräfte in Kitas (ohne Praktikanten, FSJler etc.) 3,8 %: in Westdeutschland 3,5 %, in Ostdeutschland 4,7 %. Der Blick auf die Bundesländer zeigt, dass es hier kein Ost-WestGefälle gibt, sondern eine ›Durchmischung‹. Die höchsten Anteile von Männern in Kitas haben die Stadtstaaten Hamburg (8,9 %), Berlin (8,4 %) und Bremen (8,3 %). Am geringsten sind die Anteile von Männern in Kitas in den überwiegend regional geprägten Flächenländern Bayern (2,0 %), Sachsen-Anhalt (2,5 %), Saarland (2,6 %) und Thüringen (3,2 %).38

Die redaktionelle Absicht wird mit dem Begriff der »Durchmischung« ungewollt enttarnt: Es geht darum, die Zahlen schönzureden. Der höchste Anteil von Männern in der Betreuung von Kleinkindern liegt immer noch im einstelligen Bereich. Eine Bemerkung am Rande: Der Autor der Studie ist übrigens ein Mann. In Führungspositionen ist die Verteilung der Geschlechter weiterhin umgekehrt. Ein Blick in das Inhaltsverzeichnis der neuesten Ausgabe der bekanntesten deutschsprachigen Internet-Zeitschrift für Literaturkritik, literaturkritik.de, zeigt zwar ein relativ ausgewogenes Verhältnis zwischen weiblichen und männlichen Rezensenten.39 Allerdings steht zu vermuten, dass die Führungspositionen in realen wie virtuellen

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Vgl. Carsten Wippermann: 25 Jahre deutsche Einheit. Gleichstellung und Geschlechtergerechtigkeit in Ostdeutschland und Westdeutschland. Hg. vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Referat Öffentlichkeitsarbeit. 1.  Auf l. Berlin 2015. URL: https://www.bmfsfj.de/blob/93168/8018cef974d4ecaa075ab3f46051a479/ 25-jahre-deutsche-einheit-gleichstellung-und-geschlechtergerechtigkeit-in-ostdeutsch land-und-westdeutschland-data.pdf (abgerufen am 3.10.2020). Ebd., S. 65. Vgl. literaturkritik.de. Rezensionsforum. Ausgabe Nr. 9, Sept. 2020. URL: https://lite raturkritik.de/public/inhalt.php?ausgabe=202009 (abgerufen am 3.10.2020).

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Redaktionsstuben40 weiterhin vor allem in Männerhand sind, so wie dies für die Spitzenpositionen in Unternehmen oder Institutionen gilt. Es wäre Aufgabe einer umfangreicheren Studie, sowohl die reale Verteilung von Macht zwischen Männern und Frauen im Literaturbetrieb als auch das ›männlich‹ oder ›weiblich‹ codierte Verhalten und dessen Folgen näher zu untersuchen; hier konnte nur an zwei kurzen Beispielen ein winziger Anstoß dazu gegeben werden. Abschließend noch einmal zur Kontextualisierung: Das ›männlich‹-dominante und aggressive Verhalten ist nicht nur nicht ausgestorben, sondern es scheint die Welt zu regieren; man denke (alles Beispiele aus 2020) an Russlands Präsidenten Wladimir Putin, der vermutlich so weit geht, dass er profilierte Kritiker wie Alexej Nawalny vergiften lässt,41 oder an den vormaligen US-Präsident Donald Trump, der eine Pandemie leugnete und dadurch möglicherweise für den unnötigen Tod zahlreicher Menschen verantwortlich war, aber von seinen Anhängern für seine angebliche Führungsstärke Beifall erwartet (und größtenteils wohl auch bekommt),42 oder an den britischen Premierminister Boris Johnson, der offen zugibt, dass ein nationales Gesetz vertragliche Vereinbarungen mit der Europäischen Union bricht  – und dafür sogar eine Mehrheit im britischen Unterhaus bekommt. Dabei bezeichnet Johnson die von ihm in Wort und Tat Kritisierten sogar als ›Freunde‹ – ein rhetorischer Trick, um den Ball der Verantwortung über die andere Seite des Ärmelkanals zu spielen.43 Alle drei Politiker sind Männer und legen ein immer noch als dezidiert ›männlich‹ verstandenes, aggressives Verhalten an den Tag. Nun ist es für anders gesinnte Männer gar nicht so einfach, Stellung zu beziehen, weil es 40

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Das Online-Feuilleton der FAZ leitet Michael Hanfeld, vgl. FAZ.NET-Impressum. URL: https://www.faz.net/ueber-uns/faz-net-impressum-112096.html (abgerufen am 3.10.2020), das der Süddeutschen Zeitung Leitung Jakob Biazza, zu dessen »Team« drei Frauen gehören (Carolin Gasteiger, Theresa Hein, Kathleen Hildebrand). Vgl. So erreichen Sie uns. Süddeutsche Zeitung. URL: https://www.sueddeutsche.de/tools/impres sum (abgerufen am 3.10.2020). Bei der Wochenzeitung Die Zeit hat Rabea Weihser die Leitung, während die Literatur in den Händen von David Hugendick ist, vgl. Impressum Zeit online. URL: https://www.zeit.de/impressum/index (abgerufen am 3.10.2020). Vgl. Nach dem Giftanschlag: Nawalny sieht Putin hinter der Tat. In: tagesschau.de, 1.10.2020. URL: https://www.tagesschau.de/inland/nawalny-russland-107.html (abgerufen am 3.10.2020). Vgl. US-Corona-Politik: Trump vergleicht sich mit Churchill. In: tagesschau.de, 11.9.2020. URL: https://www.tagesschau.de/ausland/trump-corona-woodward-103.html (abgerufen am 3.10.2020). Vgl. z. B. dpa: Johnson zu Handelspakt mit der EU: »Es liegt an unseren Freunden«. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung / FAZ.net, 2.10.2020. URL: https://www.faz.net/ak tuell/politik/ausland/boris-johnson-zum-brexit-deal-es-liegt-an-unseren-freunden16983609.html (abgerufen am 3.10.2020).

Literatur und Kritik nach 1989

im öffentlichen Diskurs in der Regel  – angesichts der Machtverteilung durchaus berechtigterweise – immer noch um Frauen und Männer geht und nicht um ›männliche‹ und ›weibliche‹ Eigenschaften und Verhaltensweisen, die durchaus bei beiden bzw. allen (es gibt bekanntlich mehr als zwei) Geschlechtern vorkommen können.44 Pierre Bourdieus zentrale Frage bleibt daher nach wie vor unbeantwortet, im allgemeinen Diskurs wie in dem über Literaturkritik  – und leider auch in diesem Artikel: »Wie kann man nun, ohne einen Partikularismus zu universalisieren, dem heuchlerischen Universalismus entgegenwirken?«45

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Vgl. z. B. Flavia von Gunten: Die zwei Männergruppen »Die Feministen« und »We/Men« wollen Frauen stärken – sie können nur verlieren. Auch Männer sollten für die Gleichstellung der Geschlechter kämpfen. Das klingt banal. Und provoziert doch Konf likte unter Gleichgesinnten. In: Neue Zürcher Zeitung, 26.6.2020. URL: https://www.nzz. ch/gesellschaft/feminismus-als-heuchlerische-geste-so-what-ld.1558394 (abgerufen am 3.10.2020). Bourdieu: Die männliche Herrschaft, S. 209.

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Veronika Schuchter Veronika Schuchter

Adam und Eva der Literaturkritik: Literaturkritik als Männlichkeitsdiskurs Auf die Frage, ob Männer besser als Frauen schreiben könnten, antwortete Marcel Reich-Ranicki in seiner Kolumne »Fragen Sie Reich-Ranicki« mit einer Aufzählung kanonisierter männlicher Autoren von Homer bis Brecht und schloss dann: »Genügt die Antwort?«1 Die Kritikerin Hannah Lühmann schrieb wiederum in einer Rezension in der Welt: Mein Problem mit dem Wiener Schriftsteller Thomas Glavinic ist, dass ich ihn so unendlich attraktiv finde, dass ich darüber jede Objektivität für seine Bücher verliere. Ich kann gar nicht genau sagen, was es ist, ich kenne ihn nur über Facebook, ich glaube, es ist seine Glatze oder sein Bauch oder die geschürzte Knautschigkeit seiner Mundpartie, jedenfalls setzt da irgendwas bei mir aus.2

Dass weibliche Kritikerinnen ihre Objektivität ob der virilen Attraktivität von männlichen Schriftstellern öffentlichkeitswirksam über Bord werfen, ist eher die Ausnahme. Der Text lebt von einer Umkehrung der gewohnten Rollen, eine Strategie wie sie mittlerweile unter dem Hashtag #dichterdran auf Twitter geballt zu finden ist.3 Die zwei Beispiele sind natürlich plakativ, aber sie illustrieren, dass der Faktor Geschlecht nicht nur auf diegetischer Ebene oder im Hinblick auf Fragen der Autorschaft eine Rolle spielt, sondern auch auf Ebene der Literaturkritik und der literarischen Wertung. Es wäre naiv zu glauben, dass der Akt des Wertens theoretisch geschlechtsneutral sei, das ist er noch nicht mal in der Praxis. Auch wenn die ›professionelle‹ Literaturkritik sich anders als im Lühmann-Beispiel (Reich-Ranicki generiert sich hingegen ja als objektiv und unfehlbar) zumindest scheinbar der Objektivierbarkeit ihrer Wertungsparameter verschrieben hat, kann niemand ernsthaft behaupten, Wertung habe nichts mit Herkunft und Sozialisierung zu tun. Literaturkritik ist damit hochgradig beeinf lusst vom Geschlecht als einer, wenn nicht der wirkungsmächtigen gesellschaftlichen Leitdifferenz. Dazu kommt die dem Akt des Wertens eingeschriebene per1 2 3

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Marcel Reich-Ranicki: Fragen Sie Reich-Ranicki. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 12.7.2009, S. 25. Hannah Lühmann: Suchtberatung in Wien. In: Die Welt, 9.7.2009, S. 3. Siehe dazu in diesem Band: Martina Wernli: Figuren der Umkehrung.

Adam und Eva der Literaturkritik

formative Selbstinszenierung, für die das Geschlecht der wertenden Instanz sowohl in der ref lexiven Thematisierung als auch im Gegenteil, dem persönlichen Zurücktreten der Kritiker*innen auf einen scheinbar neutralen Punkt bis hin zur Anonymität des Kürzels, von Bedeutung ist. Wenn im folgenden Männlichkeitsdiskurse in der Literaturkritik umrissen werden sollen, dann geht es nicht um offen und lange Zeit nahezu unsanktioniert vorgebrachten Sexismus, wie er sich in Reich-Ranickis Agieren Autorinnen und ihren Texten gegenüber beispielhaft zeigt.4 Vielmehr geht es darum, wie sich Männlichkeit(en) in literaturkritischen Wertungsakten manifestieren, sie prägen und welche Rückkopplungseffekte dabei entstehen. Als konzeptionell intellektuelles Feld, dessen Themen, Moden, Herangehensweisen und Kapitalverteilungsmechanismen von verschiedenen Seiten beeinf lusst werden, finden sich in der Literaturkritik der letzten Jahrzehnte Tendenzen zum degendering ebenso wie zur Reproduktion der Geschlechterpolarität. Die Untersuchung von Männlichkeitsdiskursen zielt daher mitnichten auf männliche Kritiker an sich ab. Diese agieren auf Textebene individuell so verschieden wie ihre Kolleg*innen. Gleichwohl lassen sich auf Metaebene Muster literaturkritischen Agierens identifizieren, die auf Männlichkeitsinszenierungen zurückgreifen oder Virilität performativ darstellen, und auch statistische Auswertungen zeigen deutlich, dass es Unterschiede im Wertungsverhalten sozialer Geschlechtergruppen gibt. Die Literaturkritik wird hier daher als Machtdiskurs begriffen, in dem nicht nur die Qualität von Texten verhandelt wird, vielmehr geht es um die Verteidigung von Werten und Machtpositionen. Dem ersten Versuch einer Kategorisierung von performativen literaturkritischen Akten, die im Butler’schen Sinne als Ausdruck eines doing masculinity gelesen werden können, folgen zwei Beispielanalysen, nämlich die Rezeption von Karen Köhlers Roman Miroloi, die sich schnell weg von textbasierter Literaturkritik hin zu einer Debatte um geschlechtsspezifische Wertungsakte entwickelte. Das erste behandelte Beispiel ist Volker Weidermanns Inszenierung von Marcel Reich-Ranickis und Günter Grass’ Verhältnis als jahrzehntelanges »Duell«, für die er sich einer martialisch-männlichen Sprache bediente, was wiederum in der Rezeption aufgenommen wurde.

4

Siehe dazu in diesem Band: Nicole Seifert: Misogynie in der Literaturkritik.

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Welche Männlichkeit? Männlichkeit ist ein sozial konstruierter, relationaler Wert. Raewyn Connells für die Men’s Studies wegweisendes Konzept der hegemonialen Männlichkeit denkt Männlichkeit immer im Plural. Wenn im Folgenden also Männlichkeitsdiskurse in der Literaturkritik untersucht werden sollen, dann im Rekurs auf Connell und auf Männlichkeiten in ihrer Relationalität. Hegemoniale Männlichkeit wird häufig auf wenige, scheinbar essentialistische Eigenschaften reduziert, die als universal gelten: Dazu gehört Zwangsheterosexualität, Rationalität, körperliche Virilität und Durchsetzungsfähigkeit. Irritierenderweise deckt sich diese ›Alltagsmännlichkeit‹ über weite Teile mit dem, was unter einer toxischen, sprich patriarchalen, dominanten und potenziell gewalttätigen Männlichkeit verstanden wird. Das lässt Connells vielfältiges Männlichkeitsmodell umso wichtiger erscheinen. Die soziale Organisation von Männlichkeiten, wie sie sich in Connells Beziehungsmodell von Hegemonie, Unterordnung, Komplizenschaft und Marginalisierung zeigt, variiert mit ihrem Kontext. Im Sport definiert sich das Verhältnis von hegemonialer zur komplizenhaften Männlichkeit anders als beispielsweise im Universitätsbetrieb. Reich-Ranicki behauptete etwa seine hegemoniale Position im Literarischen Quartett gegenüber Hellmuth Karasek, der sich trotz gelegentlicher argumentativer Ausbrechversuche nie richtig aus der Rolle einer komplizenhaften Männlichkeit emanzipieren konnte, weder über Rationalität noch körperliche Virilität, sondern über die Zurschaustellung eines männlich-dominanten Habitus, den er nutzte, um sich als Kritiker durchzusetzen. Zudem nutzte er seine Zugehörigkeit zum männlichen Geschlecht als essentialistische Begründung, die ihn ermächtigte aus einer hierarchischen Position heraus Frauen zu bewerten und zu verorten, etwa wenn er befand darüber urteilen zu können, ob Frauen überhaupt in der Lage seien, Romane zu schreiben. Die Inszenierung von Männlichkeit in intellektuell besetzten Feldern wie der Literatur und der Literaturkritik, aber auch der Wissenschaft produziert ambivalente Bilder. Zwar dienen hier prinzipiell nicht körperliche Attribute oder physische Aggression5 als Parameter, sondern die Vernunft, sprachliche Präzision und ästhetische Urteilskraft. Connell unterscheidet Männlichkeiten, die auf Dominanz beruhen von solchen, die »auf technischem Wissen basieren« 6. Zu Letzteren zählt sie »Spezialisten« und »Wissenschaftler«. Dazu 5 6

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Vgl. R. Connell: Der gemachte Mann, S. 225. Ebd., S. 226.

Adam und Eva der Literaturkritik

kann zweifellos auch die ›professionelle‹ Literaturkritik genommen werden, die ihre Bedeutung aus ihrem Expertentum generiert. Für Connell ist diese auf Expertentum beruhende Männlichkeit in einem übergeordneten Spektrum von Männlichkeiten untergeordnet bis krisenhaft, was sich historisch deckt mit dem Bild des Feuilletonisten als effeminierten Schreiberling, wie Erhard Schütz es herausgearbeitet hat.7 Und schon Kurt Pinthus beschreibt 1929 die männliche Reportage im Gegensatz zum Feuilleton mit seinem weiblichen, effeminierten Publikum.8 Wie noch gezeigt werden wird, orientieren sich Literaturkritiker aber nicht nur an den ihrem Feld inhärenten Parametern wie Vernunft und einem Wissen über literarische Ausdruckskraft. Vielmehr kombinieren sie diese mit Männlichkeitsmarkern aus anderen, dominanzgeleiteten Feldern. Sie aktivieren hierbei ein scheinbar archaisch-überzeitliches (in Wahrheit aber höchst historisches) gesellschaftliches Männlichkeitskonzept, dem eine hierarchisierte Arbeitsteilung und Zwangsheterosexualität zugrunde liegt. Lothar Böhnisch weist darauf hin, dass »sich [die] selbstbehauptete männliche Dominanz zumindest latent als Normalität des Sozialen gleichsam kulturgenetisch eingeschrieben hat«9. Sprachlich zeigt sich das beispielsweise an einer Überhöhung der eigenen Tätigkeit als quasi heldenhafter Akt. Entsprechend Wilhelm von Humboldts These von der männlich formenden Kraft, die den weiblichen Stoff bändigt,10 argumentiert etwa auch Karl Kraus, der in Heine und die Folgen11 1910 gegen Heine und das Feuilleton polemisiert. Die weibliche Sprache stelle alles zur Verfügung, es sei die Aufgabe des richtigen Mannes sie richtig zu formen und nicht vulgär zu entwerten. Um der historisch geprägten Effeminierung, die mitunter als Kränkung empfunden wird, etwas entgegenzusetzen, gibt es Versuche, an Männlichkeitsmuster anzuschließen, die nicht im literarischen Feld beheimatet sind.

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8

9 10

11

Erhard Schütz: Unterm Strich. Über Grenzverläufe des klassischen Feuilletons. In: Hildegard Kernmayer u. Simone Jung (Hg.): Feuilleton. Schreiben an der Schnittstelle zwischen Journalismus und Literatur, Bielefeld 2017, S. 31–50. Vgl: Erhard Schütz: »Heimat war das Tier, das sie die täglichen Berufswege führte«. Gabriele Tergits Feuilletons über Berlin, seine Menschen und seine Zustände. In: Juliane Sucker (Hg.): Gabriele Tergit. Text+Kritk Heft 228, S. 3–14, hier S. 4. Schütz bezieht sich auf Kurt Pinthus: Männliche Literatur, in: Das Tage-Buch 10 (1929), Nr. 1, S. 903–911. Lothar Böhnisch: Der modularisierte Mann. Eine Sozialtheorie der Männlichkeit. Bielefeld 2018, S. 16. Wilhelm von Humboldt: Über den Geschlechtsunterschied und dessen Einf luss auf die organische Natur. In: Ders.: Wilhelm von Humboldts gesammelte Werke. Erster Band 1785–1795. Berlin: 1903, S. 311–334. Karl Kraus: Heine und die Folgen. München 1910.

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Strategien und Mechanismen Versucht man die Strategien und Mechanismen zu differenzieren, kristallisieren sich drei häufig angewandte Praktiken heraus: Die erste ist die Generierung von männlichem symbolischen Kapital über das besprochene Objekt als Rückkoppelungseffekt. Kritiker schreiben vorzugsweise über kanonisierte Autoren und äußern sich zu Texten bzw. Autor*innen, die in einen öffentlichkeitswirksamen Diskurs eingebettet werden, was ihnen selbst wiederum eine das eigene symbolische Kapital erhöhende Positionierung erlaubt. Dieser Mechanismus, der zuvorderst bei der Textselektion bzw. der Selektion der Debatten, zu denen Kritiker beitragen, Wirksamkeit entfaltet, schlägt sich statistisch im Geschlechterverhältnis der besprochenen Autor*innen sowie in der Verteilung von symbolisch hierarchisierten, zum Teil geschlechtlich konnotierten Gattungen und Genres nieder. Dass weibliches und männliches Wertungsverhalten sich unterscheidet, wurde in zwei Studien aus den letzten Jahren belegt.12 Als Referenzwert kann festgehalten werden, dass sowohl bei den besprochenen Texten und ihren Autor*innen als auch bei den besprechenden Kritiker*innen ein Geschlechterverhältnis von ca. zwei Dritteln Männer und einem Drittel Frauen herrscht. In Bezug auf geschlechtsspezifische Unterschiede, die in den Bereich des Wertungsverhaltens hineinspielen, ist sehr aussagekräftig, dass Männer zu 76 Prozent Texte von Männern besprechen,13 sich dieses Verhältnis bei Kritikerinnen indes nicht umdreht, sondern nahezu ausgeglichen ist. Diese Präferenz für Texte von Männern ergibt sich mitunter aus der Lesesozialisation. Während Mädchen von klein auf darauf trainiert sind, männliche Perspektiven einzunehmen, sowohl reale als auch fiktive, sprich Erzähler- und Figurenperspektiven in Filmen, Serien, Büchern, Comics usw., werden Jungen kaum mit weiblichen Perspektiven und Erfahrungen konfrontiert bzw. – positiver formuliert – wird ihnen diese Möglichkeit weniger geboten oder als wünschenswert erachtet. 12

13

50

Die an der Universität Rostock angesiedelte Pilotstudie #frauenzählen untersuchte die Literaturberichterstattung im März 2018: URL: http://www.frauenzählen.de/studien text.html. Meine eigene, am Innsbrucker Zeitungsarchiv (IZA) angesiedelte Studie »Geschlechter verhältnisse in der Literaturkritik« beschränkte sich auf den Printbereich, der Untersuchungszeitraum umfasst allerdings ein ganzes Jahr: URL: https://www.uibk. ac.at/iza/literaturkritik-in-zahlen/pdf/2018_sondernummer_geschlechter.pdf (abgerufen am 14.6.2021). Die Zahlen beziehen sich auf die Gesamtauswertung des Jahres 2016. Stichproben für 2019 unterstreichen diese Zahlen, für 2019 liegt noch keine Jahresauswertung vor.

Adam und Eva der Literaturkritik

80 %

76 %

70 % 60 %

52 %

50 %

46 %

40 % 30 %

23 %

20 % 10 %

2%

1%

0%

Kritiker Text von

Kritikerinnen Text von

Text von

Abb. 1: Besprochene Bücher nach Kritiker*innen

Ein weiterer, für die Untersuchung von Männlichkeitsparametern entscheidender Bereich, sind marginalisierte Genres, die eine starke geschlechtliche Konnotation aufweisen. Kaum etwas legt geschlechtsspezifische Prozesse in der Literaturkritik besser offen als die Zahlen zur Kinder- und Jugendliteratur, ein Bereich der als genuin weiblich gilt. Für die männliche Kritikertätigkeit spielt die Kinder- und Jugendliteratur mit nur 1,5 Prozent Anteil an allen von Männern verfassten Rezensionen keine Rolle, bei Kritikerinnen summieren sich die Besprechungen zu Kin-

100 %

1,5 % 23,4 %

80 % 60 %

Kinder- u. Jugendliteratur 98,5 %

40 %

76,6 %

Erwachsenenliteratur

20 % 0% Männer

Frauen

Abb. 2: Anteil KJL an den Rezensionen von Männern und Frauen

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Veronika Schuchter

der- und Jugendbüchern auf fast ein Viertel der Gesamtzahl der Besprechungen von Frauen. Zum Vergleich: In den letzten Jahren betrug der Anteil von Besprechungen zur Kinder- und Jugendliteratur (dazu zählen auch Bilderbücher) an allen Belletristik-Besprechungen konstant etwas weniger als zehn Prozent.14 Dieses Ungleichgewicht speist sich aus zwei Prozessen: Zum einen spiegelt sich hier die gesellschaftlich geschlechtsspezifische Arbeitsteilung, die Frauen den Bereich der Fürsorge und niederschwelligen Pädagogik zuweist, wobei es eine Mischung zu geben scheint, zwischen eigen gewählten und fremdbestimmten Selektionskriterien, d. h. der Zuweisung von Texten und Genres durch Redaktionen, Redakteur*innen usw. Es zeigt sich auch, dass männliche Kritiker sich stark auf Texte konzentrieren, die als prestigeträchtiger gelten und daher mit einem höheren symbolischen Kapital für den Rezensenten verbunden sind. Während Frauen sich, das legen die Zahlen nahe, weniger am Ansehen des Wertungsobjekts orientieren oder auch weniger gefragte und kompetitiv besetzte und organisierte Bereiche zugewiesen bekommen, nämlich solche, die als trivial gelten bzw. mit gesellschaftlichen Rollenvorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit korrelieren, besprechen Männer die »wichtigen« respektive »gewichtigen« Texte, wie ein Blick auf die 20 am häufigsten besprochenen Belletristik-Titel 2016 zeigt (Abb. 3). 2018 sieht es ähnlich aus, der am meisten rezensierte Titel, Haruki Murakamis Die Ermordung des Commendatore I, wurde nur zu 13 Prozent von Kritikerinnen besprochen, also deutlich weniger als im Durchschnitt, die erste Frau auf der Liste, Francesca Melandri allerdings zu 36 Prozent von Frauen, also etwas über dem Schnitt. Was auffällt ist, dass bei Autoren, die ein habituell sehr männliches Auftreten haben, sowohl als Person als auch auf Textebene, die Kluft besonders groß ist, Autoren wie Maxim Biller, Martin Walser, Christoph Ransmayer und Heinz Strunk werden zu über 90 Prozent von männlichen Kritikern besprochen, bei einem Autor wie Arno Geiger hingegen, der sich nicht Inszenierungsmustern hegemonialer Männlichkeit bedient, liegt das Verhältnis bei 72 : 28 Prozent, also ziemlich genau im Geschlechterdurchschnitt des Gesamtkorpus.

14

52

Erhoben wird dieser Wert in der vom Innsbrucker Zeitungsarchiv jährlich herausgegebenen Statistik Literaturkritik in Zahlen: URL: https://www.uibk.ac.at/iza/literatur kritik-in-zahlen/ (abgerufen am 27.1.2021). Dort ist auch die bearbeitete Grafik Abb. 3 erschienen.

Adam und Eva der Literaturkritik Rezensionen





Martin Walser: Ein sterbender Mann

22

91 %

9%

Julie Zeh: Unterleuten

22

59 %

41 %

Maxim Biller: Biografie

21

95 %

5%

Elena Ferrante: Meine geniale Freundin

20

45 %

55 %

Karen Duve: Macht

19

63 %

37 %

David Grossman: Kommt ein Pferd in die Bar

19

37 %

63 %

Heinz Strunk: Der goldene Handschuh

19

95 %

5%

Bodo Kirchhoff: Widerfahrnis

18

83 %

17 %

Christian Kracht: Die Toten

18

83 %

18 %

Roland Schimmelpfennig: … Januarmorgen …

17

76 %

24 %

Benjamin von Stuckrad-Barre: Panikherz

17

71 %

29 %

Kamel Daoud: Der Fall Meursault

15

47 %

53 %

Tilman Rammstedt: Morgen mehr

15

73 %

27 %

Thomas Melle: Die Welt im Rücken

14

71 %

29 %

Christoph Ransmayr: Cox oder Der Lauf der Zeit

14

93 %

7%

Guntram Vesper: Frohburg

14

93 %

7%

Han Kang: Die Vegetarierin

13

54 %

46 %

Philipp Winkler: Hool

13

92 %

8%

John Williams: Augustus

12

83 %

17 %

Ian McEwan: Nussschale

11

73 %

27 %

Titel

Abb. 3: Die 20 am häufigsten besprochenen Belletristik-Titel 2016

Die zweite Strategie eines männlichen doing gender in der Kritik ist die explizit verbalisierte Abgrenzung vom Weiblichen auf verschiedenen Ebenen. Die gängigste Strategie ist der stillschweigende Ausschluss von Weiblichkeit aus dem eigenen Wertungsrahmen, sprich Texte von Frauen werden einfach nicht besprochen. Dies trifft im Übrigen auch auf Texte queerer und diverser Autor*innen zu, sie alle werden gemeinsam mit den Texten von cis-Frauen aus dem Bereich der Männlichkeit und universalen Menschlichkeit ausgeschlossen. Diese ganz deutlich selektive Auswahlpraxis wird aber nicht als männliche Praxis markiert und identifiziert, sondern als neutral respektive überhaupt nicht als aktive Praxis wahrgenommen. Befragungen, Gespräche

53

Veronika Schuchter

und Selbstaussagen zeigen, dass es sich dabei häufig um unbewusste Mechanismen handelt. Seit im Rahmen der #MeToo-Debatten und einer Sensibilisierung für das Thema ein neues Bewusstsein geschaffen wurde und wird, ref lektieren viele Kritiker (und auch Kritikerinnen) die eigenen Selektionskriterien in Bezug auf das Geschlecht. Wie oben erwähnt, geben nicht immer nur die eigenen Kriterien dabei den Ausschlag, in der Praxis werden Bücher den Rezensent*innen oft zugewiesen auf Basis einer geschlechterrollenkonformen Assoziierung mit bestimmten Interessen und Expertisen. Neben diesem stillschweigend angewandten ersten Wertungskriterium der Textauswahl gibt es aber, wie die Beispiele gezeigt haben, die Praxis, dass auf das Geschlecht der Autorin, das Geschlecht der Rezipient*innen und das eigene Geschlecht, also das Geschlecht des Kritikers referiert wird. Das Weibliche, es geht mich nichts an, ich verstehe davon nichts – ist die Pose, die dabei eingenommen wird. Der Kritiker generiert seine Männlichkeit also in Abgrenzung zu einer weiblichen Ästhetik, die er aus dem Geschlecht der Autorin ableitet und zwar vornehmlich, wenn es um feministische Themen geht oder auch nur eine Frauenfigur (selten mehrere) im Zentrum steht. Erst dann wird eine bestimmte Ästhetik als weibliche Ästhetik eingeordnet. Bei einer Autorin wie Felicitas Hoppe findet eine solche Kontextualisierung nicht statt. Dabei kann man ihre Poetik, sofern man weibliches Schreiben bzw. Als-Frau-Schreiben in der Nachfolge Nietzsches und Derridas als abstrakte Praxis, unabhängig vom biologischen Geschlecht auffasst, ganz eindeutig als ›weiblich‹ einordnen. Folgendes Beispiel verdeutlicht diese Praxis: Rainer Oschmann schreibt in einer Rezension zu Joyce Carol Oates im Neuen Deutschland: Diese Ambivalenz macht Joyce Carol Oates auch in diesem Band zu einer Autorin, die Frauen wahrscheinlich mehr anspricht als Männer. Meine Frau zeigte sich sehr angetan von den Schwingungen der Unentschiedenheit und Andeutung, der Ahnung und Befürchtung, die Oates’ Figuren – häufig von Missachtung, Abstieg, offener oder unklarer Gewalt bedrohte Frauen – umgeben. So manchem Mann, der Rezensent nimmt sich hier nicht völlig aus, mag solches Raunen zu wenig Eindeutigkeit, Erkennbarkeit und Entschiedenheit haben.15

Das Geschlecht erweist sich als entscheidende gesellschaftliche Leitdifferenz, zu der sich Kritiker positionieren. Oschmann geht hier nicht nur davon aus, dass es bestimmte Themen gibt, die Männer oder Frauen mehr ansprechen.

15

54

Rainer Oschmann: Von Frau zu Frau. In: Neues Deutschland, 11.8.2011, S. 16.

Adam und Eva der Literaturkritik

Er sieht auch einen Unterschied auf stilistisch-ästhetischer Ebene und nimmt eine eindeutige Wertung vor, indem er Eindeutigkeit, Erkennbarkeit und Entschiedenheit als männliche Eigenschaften ausweist, ganz im Sinne (wenn auch unabsichtlich) von Nietzsche und Derrida, die in der Zerstörung dieser Eindeutigkeit und Ordnung ein erstrebenswertes weibliches Prinzip sehen, das vom biologischen Geschlecht entkoppelt wird. Er selbst inszeniert sich damit als genau das: als entschieden, unzweideutig, rational – eben als richtiger Mann, während er das ästhetische Konzept des Buches in einen kausalen Zusammenhang zum Geschlecht der Autorin bringt. Die Verschiebung und Umdeutung patriarchaler Sprachgrenzen, die Verweigerung einer Übernahme der männlichen Sprachordnung, Polyvalenz und Uneindeutigkeit, also alles was Oschmann in seiner Besprechung zu Joyce Carol Oates als weiblich identifiziert hat, gehören maßgeblich zu Hoppes ästhetischem Programm. Dennoch wurde ihr Schreiben nie mit einer weiblichen Ästhetik in Verbindung gebracht oder ihr ein überwiegend weibliches Lesepublikum unterstellt. Als Gradmesser für das, was Frauen und Männer (angeblich) gerne lesen, zieht Oschmann seine eigene Frau und sich selbst heran, Adam und Eva der Literaturkritik sozusagen, wobei Adam die professionelle, Eva die Laienseite zugewiesen wird. Dass ein Kritiker seine Ehefrau ins Spiel bringt, ist kein Einzelfall, damit ist Oschmann in guter Gesellschaft, so meinte Hellmuth Karasek, im Literarischen Quartett typischer Repräsentant einer komplizenhaften Männlichkeit, nach dem Nobelpreisgewinn der kanadischen Schriftstellerin Alice Munro 2013 am Rande der Frankfurter Buchmesse: »Ich kenne sie nicht. Sie ist die Lieblingsschriftstellerin meiner Frau, die mir ihre Kurzgeschichten seit Jahren ans Herz legt, aber ich habe noch keine gelesen.«16 Dasselbe Phänomen kann man auch in einem anderen Bereich beobachten und zwar in der Rezensionspraxis von Kinder- und Jugendliteratur. Wie vorher mit Zahlen belegt wurde, meiden Kritiker weiblich konnotierte Bereiche wie die Kinder- und Jugendliteratur. Die wenigen Kritiker, die doch Kinder- und Jugendliteratur rezensieren, bringen mitunter persönliche, familiäre Dinge ins Spiel, wie in folgendem Beispiel: Peter Mayr schreibt im Standard in der Besprechung zu einem Bilderbuch: »Während Papa und Mama begeistert das Buch durchblättern, tat sich die Tochter schwer.« In einer anderen Besprechung zu einem Kinderbuch schreibt der Kritiker: »An

16

Karasek wurde in vielen Medien zitiert, u. a. Reaktionen auf den Nobelpreis für Munro: URL: https://www.diepresse.com/1463248/sensationelle-wahl-reaktionen-auf-den-no belpreis-fur-munro#slide-4 (abgerufen am 26.1.2021).

55

Veronika Schuchter

dieser Stelle muss ein kleiner Einschub erlaubt sein: Grün ist per se toll – vor allem wenn man an Fußball denkt. Wie auch immer.«17 Die Anspielung auf den Wiener Fußballclub Rapid wirkt völlig willkürlich, denn das Buch hat mit Fußball gar nichts zu tun, es handelt sich um ein Kinderbuch von Ben Becker. Mit dem kontextlosen Einschub wird aber unterschwellig eine Botschaft an die Leser*innen transportiert, nämlich der Beweis der eigenen Männlichkeit, der über den deplatzierten Verweis auf das männliche Hobby Fußball und den Lieblingsclub Rapid Wien erbracht werden soll. Für die Leser*innen der Kritik ergibt sich daraus kein Mehrwert, sie erfahren nichts über das Buch, vielmehr wird in der ohnehin schon kurzen Rezension dem Text noch Platz genommen, der für die Selbstdarstellung in Anspruch genommen wird. Das gleiche Prinzip findet sich im oberen Beispiel, in dem die kleine Tochter und die »Mama« erwähnt werden, auch hier findet eine Positionierung statt, die die Beschäftigung mit der vermeintlich unmännlichen Lektüre legitimieren soll. Narrativ wird der familiäre Kontext der heteronormativen Kleinfamilie hergestellt, eine Vorlesesituation wird beschrieben, die eigene Position als Familienvater betont, so als müsse der Kritiker die Beschäftigung mit dem Objekt seiner Rezension erst legitimieren. Die Männlichkeit wird hier doppelt hervorgestrichen, einmal über die Betonung der Heterosexualität im heteronormativen Familienkontext und einmal über die Eigenverortung in der männlichen Domäne des Fußballs. Es handelt sich um eben jene Mechanismen, die in den Beispielen zur Eigenpositionierung der Kritiker in Bezug auf Autorinnen identifizierbar waren: Die Markierung der eigenen Männlichkeit über die Verortung in einem heteronormativen Rahmen durch die Erwähnung der Ehefrauen, der Auf bau einer geschlechtlich bedingten Opposition – ich habe einen anderen Geschmack als meine Frau, daher schlussfolgere ich, dass Männer einen anderen Geschmack haben als Frauen – und schlussendlich als Effekt davon die Distanzierung vom eigentlichen Wertungsgegenstand, wodurch eine potenzielle, wenn auch unausgesprochene Effeminierung verhindert und die Beschäftigung mit einem so unmännlichen Gegenstand über Umwege legitimiert werden soll. Eine weitere, immer wieder anzutreffende Strategie der Männlichkeitsinszenierung ist die Einbettung in ein Konzept hegemonialer Männlichkeit(en), wie oben schon eingeführt. Manche Formen hegemonialer Männlichkeiten 17

56

Peter Mayr: Der Junge mit dem Spitznamen Klobürste. In: Der Standard, 31.10.2009, S. A9.

Adam und Eva der Literaturkritik

verfügen aber ganz offensichtlich über mehr Kraft als andere oder werden als Ergänzung verwendet. Die Literaturbetriebsgeschichte ist reich an Beispielen viriler Maskulinitätsinszenierungen von Schriftstellern, von Hemingways Großwildjagd bis Thomas Glavinics Nacktfotos oder Karl Ove Knausgårds am Rande des Narzisstischen balancierenden autobiografischen Selbstentblößung. Weniger physisch viril ist die Verwendung des männlich codierten Bildes des Intellektuellen und Gelehrten. Als Beispiel kann hier ein zweiseitiges Doppelinterview mit Daniel Kehlmann und Clemens Setz dienen, die beide fast zeitgleich einen Roman über Till Eulenspiegel veröffentlichten.18 Im homosozialen Raum der Befragung durch zwei männliche Journalisten loben sie sich gegenseitig, verorten sich in männlichen literarisch-philosophischen Traditionslinien und führen immer wieder die eigene Belesenheit vor. Auch das illustrierende Bild ist typisch, wobei die Beschriftung, ob gewollt oder nicht, die Überhöhung ironisch bricht, so steht unter dem Foto der beiden: »Der Schriftsteller Daniel Kehlmann« und »Der Schriftsteller Clemens Setz«. Bisher unbeachtet blieb aber, wie Literaturkritiker sich in diese Maskulinitätsdiskurse einfügen.

Volker Weidermann und »Das Duell« zwischen Reich-Ranicki und Grass Volker Weidermann widmet der wechselhaften Beziehung zwischen dem Schriftsteller Günter Grass und dem bzw. in Weidermanns Darstellung »seinem« Kritiker Marcel Reich-Ranicki ein Buch, mit dem Titel Das Duell. Darauf basiert auch der gleichermaßen betitelte Artikel19 im Spiegel, um den es im Folgenden gehen soll. Weidermann beschreibt nicht nur die zweifellos intensive und schwierige Beziehung dieser beiden, er stilisiert die Literaturbetriebsauseinandersetzung zum »Kampf auf Leben und Tod« (S. 100), die als Leitlinie für die Kultur der Bundesrepublik gedient habe: In der Geschichte dieser Hassliebe und dieses Duells spiegelt sich die Geschichte der deutschen Nachkriegsliteratur und ihrer Auseinandersetzung mit Verantwortung und Schuld, ihrem Ringen mit Literatur als Offen-

18 19

Alexander Cammann, Adam Soboczynski: Steckt das Böse in uns allen? In: Die Zeit, 4.1.2018, S. 39–40. Volker Weidermann: Das Duell. In: Der Spiegel, 31.8.2019, S. 100–103, im Folgenden mit Seitenzahl direkt im Text zitiert.

57

Veronika Schuchter barung und Versteck, als Kampfplatz deutscher Geschichte. Als sie sich noch ein letztes Mal in Lübeck zu einer Art Versöhnung trafen, schreibt Grass hinterher gerührt: »Ich hätte ihn umarmen sollen.« Und Reich-Ranicki antwortete öffentlich: »Wir hätten einander wirklich umarmen sollen.« Doch dafür war es zu spät. Ein allerletztes Duell wartete noch auf sie. Und vor allem die Frage: Wer bleibt übrig?

Der »SS-Mann und der Jude« (S.  100) und die Frage, »Wer bleibt übrig« (ebd.). Um aus diesem Bild des tödlichen Kampfes zweier Giganten ein tragendes Motiv zu machen, montiert Weidermann in seinem Artikel Aussagen zusammen, die nichts miteinander zu tun haben, aus dem Kontext gerissen wurden und Jahre auseinanderliegen. Auf die Frage, worauf er im Leben noch warte, antwortet Reich-Ranicki: »Auf die Nachricht vom Tod von Günter Grass.« Gestellt wurde die Frage kurz nach Erscheinen von Grass’ Skandalgedicht Was gesagt werden muss. Dies stellt Weidermann direkt neben Aussagen, die der Kritiker Jahre zuvor einem Redakteur gegenüber am Telefon getätigt haben soll. Nach dem berühmt gewordenen Verriss des Romans Ein weites Feld 1995 habe er zu Volker Hage gesagt: »Was wird er machen nach all den vernichtenden Kritiken? Er kann nur noch Selbstmord begehen oder zu einem Gegenschlag ausholen: einem Pamphlet gegen die Kritik.« Schon dieser Verriss wurde vom Spiegel wirkmächtig inszeniert mit der prominent auf dem Cover platzierten Fotomontage Reich-Ranickis, wie er nicht intellektuell, sondern körperlich kraftstrotzend das Buch tatsächlich in der Luft zerreißt. Diese in Wahrheit zusammenhangslosen Aussagen nimmt der Spiegel nun aber als Bildunterschriften: »Er kann nur noch Selbstmord begehen« und unter dem Bild von Reich-Ranicki mit Schlafmaske »Warten auf die Nachricht von Grass’ Tod«. Weidermann beschwört hier das viril-martialische Bild des Kampfes und des Duells. Von dieser Männlichkeit soll wohl auch etwas auf ihn selbst abfallen. Weidermann wird damit zum posthumen Dompteur der beiden Kontrahenten, zum Schiedsrichter so man will, nur dass er selbst es ist, der den Takt des Kampfes vorgibt und ihn choreografiert. Grass hat indes ein völlig anderes Metaphernfeld aufgemacht, um seine Beziehung zu Reich-Ranicki zu beschreiben, indem er sie, was auch Weidermann im Übrigen in seinem Artikel erwähnt, als Ehe bezeichnete. Dieses Bild greift Gustav Seibt in seiner Rezension des Bandes in der SZ auf, die er »Die Zwangsehe«20 nennt. Seibt kritisiert dabei, dass Weidermann zwei Biografien gegeneinanderstellt,

20

58

Gustav Seibt: Die Zwangsehe. In: Süddeutsche Zeitung, 18.9.2019, S. 12.

Adam und Eva der Literaturkritik

sein eigenes Metier aber, die Literaturkritik, dabei keine Rolle spiele, was wiederum auf den metaphorischen Leitfaden des Kampfes zurückzuführen ist. Die von Weidermann vorgegebene Richtung wurde dann in der Rezeption des Bandes ebenfalls aufgenommen, so übernimmt etwa Iris Radisch in ihrer Besprechung in der Zeit (die einzige größere Besprechung einer Frau, der allein im überregionalen Feuilleton 13 Besprechungen von Männern gegenüberstehen) das Bild des Kampfes und des Krieges, wenn sie schreibt, dass die beiden sich »ein halbes Jahrhundert lang einen zähen Schaukampf in der Arena des deutschen Literaturbetriebs geliefert haben.«21 Auch andere Rezensionstitel konzentrieren sich auf Bilder dominanter, statt vernunftbedingter Maskulinität, etwa »Messertanz auf schwankendem Boden«22 oder »Wenn Größenwahn verbindet«23. Nun lädt Weidermann die Kritik durch die von ihm gewählte Form der Inszenierung dazu ein, den Autor selbst im beschworenen Feld der Männlichkeit zu bewerten und das fällt nicht immer positiv aus. Jochen Hieber etwa schreibt in der FAZ: Er hat, was angesichts der gerne zu Heftigkeiten neigenden Protagonisten seines Buchs fast fatal erscheint, eine durchaus solide Fleißarbeit geliefert, die ohne zündende Idee auskommt […]. Was sich an Aufregung bietet, verdankt sich den polemischen Zitaten der Hauptfiguren über- und gegeneinander, nicht dem Temperament des Verfassers. Er hat, obwohl er ReichRanicki »meinen Lehrer« nennt, schlicht zu viel Respekt vor seinem Personal.24

Begriffe wie »brav« und »eifrig« und »Fleißarbeit« wecken Assoziationen mit einem Schulmädchen und stehen der Duell- und Kampf-Metaphorik einer hegemonialen Maskulinität diametral gegenüber. Den Verfasser weist Hieber damit implizit als Vertreter einer untergeordneten Männlichkeit aus, der nicht auf Augenhöhe mit seinen zwei Protagonisten ist, die Hieber Weidermann direkt gegenüberstellt. Stattdessen fügt sich Hiebers Rezension in die historische Tradition der effeminierenden Feuilletonisten-Kritik.

21 22 23 24

Iris Radisch: Eine Männerfeindschaft. In: Die Zeit, 12.9.2019, S. 19. Oliver Pfohlmann: Messertanz auf schwankendem Boden. In: Der Standard (Album), 9.11.2019, S. A5. Wilfried Mommert: Wenn Größenwahn verbindet. In: Abendzeitung, 25.10.2019, S. 26. Jochen Hieber: Als der Kritiker den Dichter einmal unendlich langweilte. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.9.2019, S. 10.

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Veronika Schuchter

Die Debatte um Karen Köhlers Roman Miroloi Weit muss man für das nächste Beispiel von Männlichkeit und Literaturkritik nicht schweifen. In derselben Ausgabe des Spiegel, gleich neben besagtem Männerkampf, findet sich die Spiegel-Bestsellerliste. Diese ist nicht im Hinblick auf ihre Ausgewogenheit interessant, sondern auf den Kommentar zu einem Text, der eine Debatte ausgelöst hat, nämlich Karen Köhlers Roman Miroloi. »Einige männliche Kritiker sind in Sorge, dass sie diesen Roman nicht kritisieren dürften, da er vom Feminismus handle. Am besten: selber lesen.«25 Man hat bisher gesehen, dass sich Kritiker für Literatur von Frauen überwiegend nicht zuständig fühlen, das zeigen die Zahlen. Man hat auch gesehen, dass sich Kritiker für nicht zuständig erklären, mit unterschiedlichen Argumentationsmustern, unter anderem wird unterstellt, Frauen und Männer hätten unterschiedliche ästhetische Ansprüche, sowohl auf Autor*innenseite als auch auf Seite der Rezipient*innen. Die Debatte um Miroloi aber hebt diesen Diskurs nochmal auf eine ganz andere Ebene und macht in dieser verdichteten Form Muster einer männlichen Literaturkritik sichtbar, die sonst oftmals verschleiert bleiben. Am Anfang der Debatte um Miroloi stand eine weitgreifende Rezension von Moritz Baßler, ein polemischer Verriss, der aber nicht nur auf den Text selbst abzielte, sondern an Miroloi eine Debatte um den Verfall der Literatur festmachte. Seine Rezension beginnt als klassischer Verriss: Man weiß im Grunde überhaupt nicht mehr, was irgendwas ist. Zum Beispiel dieser erste Roman von Karen Köhler […] bei Hanser verlegt und fast 500 Seiten dick: Ein Mädchen, Außenseiterfigur, wächst auf in einer archaisch-mediterranen Welt, wo potentielle Leserinnen gern Urlaub machen, aber nicht leben wollen würden. Das Ganze ist in Ich-Form geschrieben, in einem kindlichen Bullerbü-Ton, dem man sich nicht entziehen kann. Ja, wir leiden und freuen uns mit der namenlosen jungen Frau, die dann doch einen Namen bekommt – geheim geheim! – und eine Klitoris, es ist ja ein Buch für Erwachsene, trotz allem. Oh, und sie lernt dann auch lesen, verbotenerweise, und Frauen, die lesen … das wissen wir ja.26

Es wird recht schnell klar, dem Rezensenten hat das Buch nicht gefallen, seine Kritik trägt er als Polemik vor, im Zentrum steht weniger die Spra25 26

60

Spiegelbestseller. In: Der Spiegel, 31.8.2018, S. 103. Moritz Baßler: Neue Maßstäbe der Schönheit. In: taz am wochenende, 17.8.2019, S. 14.

Adam und Eva der Literaturkritik

che als die feministische Thematik, außerdem suggeriert Baßler, dass der Roman nur von Frauen gelesen werde, zumindest verwendet er konsequent die weibliche Form für die Leser *innen, denen er dann seltsamerweise auch noch unterstellt, sie wollten an so einem Ort Urlaub machen. Männliche Leser erwähnt er hingegen nicht. Als Nächstes siedelt Baßler den Roman irgendwo zwischen der »Wanderhure«, Kinderliteratur und Reiseführer an. Ein Kritiker vom alten Schlag hätte hier vielleicht verächtlich von »jungfernhafter Unkunst« gesprochen […], aber heute mag man sich nicht mehr so überheben, wozu auch und mit welchem Recht? Karen Köhlers Buch wird seine Leserinnen finden, und sie werden es lieben, denn erstens ist es so ergreifend wie liegestuhltauglich, zweitens können sie bei der Lektüre aber auch das Herz der Kultur schlagen hören, und das eines gut verdaulichen Feminismus vielleicht sogar dazu.

Und weiter: Wenn das aber Literatur ist, und so sieht’s ja wohl aus, dann hat sich der Literaturbegriff in den letzten Jahren radikal gewandelt und wir brauchen neue Maßstäbe der Schönheit, des Stils und des Geschmacks. Sie müssten uns helfen zu klären, womit und in welcher Hinsicht ein Buch wie »Miroloi« überhaupt zu vergleichen wäre und wie man dann entsprechend werten könnte.

Was macht Baßler in seiner Rezension: Zum einen also unterstellt er, dass das ein Buch für Frauen sei, er spricht nur von Leserinnen und impliziert damit, dass es eben keine männlichen Leser gibt, die sich für das Buch interessieren. Er legt dar, wieso er das Buch grauenhaft findet, im selben Atemzug sagt er, das Buch werde dennoch Leserinnen finden, die es lieben, weil es »ergreifend« und »liegestuhltauglich« sei, pseudokulturell und feministisch. Das misogyne Verdikt der »jungfernhaften Unkunst« leiht er sich von Carl Einstein und zitiert dann noch andere männliche Geistesgrößen herbei, um zu sagen, was er vorgibt, gar nicht sagen zu wollen. Sein Fazit ist: Wenn solche Bücher, also welche mit einer scheinbar weiblichen Ästhetik und feministischem Inhalt, wenn das plötzlich Literatur sein soll, habe er, der männliche Kritiker und damit der Kritiker an sich, keinen Maßstab dafür. Die Reaktionen ließen nicht lange auf sich warten. Andere männliche Kritiker stimmten in Baßlers Gesang ein. Jan Drees äußert etwa im Deutschlandfunk den Verdacht, dass feministische Bücher mittlerweile positiv besprochen würden, weil Feminismus ein Trend-Thema sei und sich niemand

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Veronika Schuchter

mehr traue, Kritik zu üben.27 Eine Analyse der Rezeption des Romans bestätigt diesen Verdacht indes nicht. Auch die Aussage aus der Spiegel-Bestsellerliste, wonach männliche Kritiker in Sorge seien, dass sie einen feministischen Roman nicht besprechen dürften, findet keine Grundlage in der Rezeption. Ganz im Gegenteil gab es überwiegend Verrisse und zwar fast ausschließlich von Kritikern, während sich Kritikerinnen entweder sehr positiv oder ambivalent äußerten und sowohl Vorzüge als auch Schwächen benannten. Sehr viele reine Rezensionen gab es dann allerdings gar nicht, weil sehr schnell eine selbstreferenzielle Debatte über die Rezeption in Gang kam und wie so oft bei Debatten geht es hier nicht um das Buch selbst. Miroloi wirkt als Katalysator für eine Kontroverse um ›männliche‹ und ›weibliche‹ Literatur, Wertungskriterien und die Positionierung von Männern und Frauen im literarischen Feld. Auf die erste Welle der Verzweif lung der männlichen Kritikergilde folgten einerseits Verteidigungen von Kritikerinnen, es wurde gleichzeitig aber auch die Frage aufgeworfen, wieso gerade dieser Roman bei männlichen Kritikern so sehr Ratlosigkeit und Abwehr hervorrufe. So betitelt Silvia Sueß in der Schweizer Woz ihre Besprechung von Miroloi »Wo der Angstmann herrscht«28 und sie bezieht sich dabei nicht nur auf den Roman, sondern auch auf die Kritiker, die aus Angst um ihre Männlichkeit aggressiv auf das Buch reagieren würden. Sueß schreibt: Bassler verrät zwar nicht, an welchem Literaturbegriff, an welchen ästhetischen Massstäben er sich bisher orientiert hat. Doch seine Verzweif lung angesichts der Tatsache, dass er diesen Text nicht einordnen kann, wirkt so echt, dass man ein bisschen Mitleid bekommt. Wo kommen wir denn hin, wenn gewisse Autorinnen sich nicht an die Massstäbe des Literaturwissenschaftlers halten?

Sie geht auch auf Jan Drees’ Besprechung ein: Feminismus ist für Drees so ein Problemphänomen: ein »Trend-Thema«, ohne das kein Hahn nach Köhlers Buch krähen würde. Und da hat er sogar recht: Noch vor wenigen Jahren hätte nicht nur kein Hahn nach diesem Buch gekräht, sondern auch kein Gockel darüber geschrieben. Einfach deshalb, weil Karen Köhler eine Frau ist und ihr Roman aus dem Alltag einer jungen Frau erzählt.

27

28

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Jan Drees: Klagelied für die Literatur. URL: https://www.deutschlandfunk.de/karenkoehler-miroloi-klagelied-fuer-die-literatur.700.de.html?dram:article_id=456679 (abgerufen am 8.3.2021). Silvia Süess: Wo der Angstmann herrscht. In: Woz, 29.8.2019, S. 20.

Adam und Eva der Literaturkritik

Insgesamt fällt auf, dass, obwohl Kritiker, wie die Zahlen gezeigt haben, Literatur von Frauen normalerweise selten besprechen, hier plötzlich überproportional viele Rezensionen von Männern erscheinen, die das Buch unisono verreißen und sich dabei an der Patriarchatskritik stoßen, was sie mit ästhetischen Kriterien engführen. Gleichzeitig weisen sie darauf hin, dass das ein Buch für Leserinnen sei. Die Rezensentinnen hingegen rezipieren den Roman überwiegend positiv und lesen ihn als ein Dokument der Selbstermächtigung, dessen Form und Sprache genau das transportiert. Probleme bezüglich Wertungskriterien und Vergleichsmaterial kommen auch nicht auf. Die männliche Kritik hingegen wendet Strategien der Wertung und Abwertung an, wie sie seit dem 18. Jahrhundert typisch sind, für den Umgang mit Literatur von Frauen: Trivialisierung, Separierung von literarischen Traditionslinien, Betonung bzw. Überbetonung des Geschlechts der Autorin, Herabwürdigung der Leserinnen. Die männliche Literaturkritik aufs Korn nimmt Roman Bucheli in der Neuen Zürcher Zeitung, wobei er den Roman, der überhaupt erst den Anstoß für die Debatte gegeben hat, selbst mit keinem Wort nennt. Unter dem Titel »Sind Literaturkritiker eigentlich alles Weicheier und Wichtigtuer?«29 scheint er zu genau diesem Schluss zu kommen. Was sind wir Literaturkritiker doch für Heulsusen und Memmen. Da kommen in einer Saison einmal ein paar schlechte Bücher heraus, und gleich geht das grosse Zähneklappern los, und wir bösen Kerle vom Dienst kriegen ein Herzf limmern, dass man sich um uns, aber niemand mehr vor uns fürchten muss.

Nun stellt sich die Frage, ob er sich hier des generischen Maskulinums bedient, also alle Kritiker*innen gleichermaßen als Memmen und Heulsusen bezeichnet, oder ob seine Kritik gezielt auf seine männlichen Kritikerkollegen abzielt. Da er gleich darauf schreibt, dass »Respektable Kritikerinnen und Kritiker« das Buch auf die Longlist für den Deutschen Buchpreis gesetzt haben, im Folgenden dann aber nur noch die männliche Form verwendet, kann man davon ausgehen, dass Bucheli dezidiert die männliche Kritikerschaft anspricht. Dabei wirft er ironisch mit Männlichkeitsstereotypen um sich:

29

Roman Bucheli: Sind Literaturkritiker alles Weicheier und Wichtigtuer? In: Neue Zürcher Zeitung, 2.9.2019, S. 19.

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Veronika Schuchter Es fehle ihm der Massstab, sagt einer. Ein anderer wünscht sich einen Kriterienkatalog für die Beurteilung. Ja, gütiger Himmel, wo sind wir denn hier gelandet? Haben wir denn nichts gelernt in all den Jahren mit all den Büchern? Sind wir etwa nicht die hartgesottenen Kerle, für die wir uns ausgeben, sondern bloss Hartgesottenheits-Darsteller?

Im polemisch vorgetragenen Appell an die Männlichkeit kontrastiert Bucheli das patriarchale Gebaren der Kritiker, die mit dem Text nichts anfangen können und ihm zum Teil sogar absprechen, Literatur zu sein, und ihr Unvermögen, ihres Gegenstands Herr zu werden, womit sich wiederum der Kreis in die Vergangenheit zu Karl Kraus und Humboldt schließt: Die Weiblichkeit muss gebändigt werden. In der Hierarchie der Männlichkeit setzt sich Bucheli damit an die Spitze: Das betreffende Buch nennt er nicht, vom Weiblichen muss er sich gar nicht erst abgrenzen, nur von den »Weicheiern«, sprich der effeminierten Männlichkeit, die sich ironischerweise daraus ergibt, dass sie mit der Weiblichkeit nicht klarkommt.

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Von Schlappschwänzen, Schulbuben und Knabenwindelprosa Tobias Unterhuber

Von Schlappschwänzen, Schulbuben und Knabenwindelprosa Virilität in der Popliteraturdebatte der 1990er »Du bist ein Schlappschwanz! Wehr dich endlich!«, schreit er [Maxim Biller] Joachim Bessing an, den Herausgeber des Buches Tristesse Royale, in dem das ›popkulturelle Quintett‹ sich und uns gesprächsweise die Welt erklärt.1 Was wie ein Auszug aus Fight Club klingt, ist in Wahrheit ein Zitat aus der Berichterstattung zu einer Schriftstellertagung. Sie fand unter dem Titel »Freiheit für die Literatur!« im Jahr 2000 an der evangelischen Akademie Tutzing statt und wurde von Maxim Biller organisiert. Die dringende Notwendigkeit für eine solche Tagung sah Biller im schrecklichen Zustand der deutschen Literatur begründet, den er vor allem an der Popliteratur und im Speziellen am Band Tristesse Royale festmachte. Dass die Popliteratur sowohl im Feuilleton als auch bei Schriftstellerkolleg *innen nicht gerade gut aufgenommen wurde, ist bekannt.2 Aber die Heftigkeit mit der Tristesse Royale abgekanzelt wurde, überrascht dennoch, vor allem auch in der Einstimmigkeit der Kritik.3 Die Kritiken enthielten zahllose Beschimpfungen, die sich, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, vor allem einer bestimmten Zuschreibungsstrategie bedienten: jener der Infantilisierung und ›Entmännlichung‹ der Autoren. Dass das Buch oder dessen Inhalt meist noch nicht einmal Erwähnung fanden,4 sondern man sich vor allem auf das Auftreten und Aussehen der Autoren versteifte, mag als Anzeichen dafür gesehen werden, dass sich die Literaturkritik mehr angegriffen fühlte, als sie dies selbst bemerkte, wie schon Claude Conter feststellte.5 Es scheint, als habe die Pop1 2 3

4 5

Christof Siemes: Schwäne im goldenen Nebel. In: ZEIT, 6.4.2000. Vgl. Frank Degler, Ute Paulokat: Neue deutsche Popliteratur. Paderborn 2008, S. 7 f. Vgl. Eckhard Schumacher: ›Tristesse Royale‹. Sinnsuche als Kitsch. In: Wolfgang Braungart (Hg.): Kitsch. Faszination und Herausforderung des Banalen und Trivialen. Tübingen 2002, S. 197. Vgl. Constantin Weber: Jugendmentalitäten. Faktuale und fiktionale Repräsentation um 1900 und 2000. Berlin 2011, S. 253. Vgl. Claude D. Conter: »Rebellion gegen die Rebellion«. Gesellschaftsdiagnosen der Popliteratur der 1990er Jahre zwischen Selbstmord und Ehe. In: Johannes G. Pankau (Hg.): Pop, Pop, Populär. Popliteratur und Jugendkultur. Bremen, Oldenburg 2005, S. 62.

65

Tobias Unterhuber

literatur bestimmte Mechanismen wie etwa ein grundlegendes Verständnis von Literatur und Autorschaft offengelegt und infrage gestellt, dessen Restauration von Biller und anderen nun umso vehementer und mit den Mitteln der Polemik ad personam verfolgt wurde. Dass dabei Virilität als eine Kategorie in Anschlag gebracht wurde, in der sich auf diffuse Weise persönlichkörperliche und ästhetisch-schriftstellerische Faktoren verbinden, ist bisher kaum beachtet worden.6 Deshalb möchte ich im Folgenden nach einer kurzen Skizzierung der Debattenlage sowie des Projekts Tristesse Royale dieser Strategie der ›Entmännlichung‹ der Autoren nachspüren und zwar einerseits in den allgemeinen Kritiken zum Buch und andererseits in den konkreten Beiträgen von Maxim Biller und Feridun Zaimoğlu. Männlichkeit wird in den Aussagen und performativen Akten als implizite Richtschnur für richtiges, gutes Schreiben (re-)produziert, was aber auch bedeutet, dass in dieser Querele sowohl das Geschlecht der Kritik als auch des Schreibens maskulinisiert werden. Damit ist aber auch das Verhältnis zwischen männlicher Kritik und männlichen Autoren in den Blick zu nehmen, das einerseits eine Unterordnung einfordert und damit Machtpositionen sichert, andererseits aber auch eine Form der Komplizenschaft besitzt.

Popliteratur Der Begriff der Popliteratur ist uneindeutig und ambig.7 Oft schon für die Literatur der 1960er und 1970er, dann wiederum für bestimmte Autoren der 1980er oder für eine extrem uneinheitliche Fraktion von Schriftsteller*innen in den 1990ern verwendet, bleibt meist unklar, was diese Bezeichnung überhaupt bezeichnen soll. Weder auf diachroner noch auf synchroner Ebene gibt es ausreichend Merkmale für eine konsistente Definition. Neben einem vagen Bezug zur Gegenwart und zur Populärkultur bleibt meist nichts übrig.8 Entsprechend möchte ich hier unter anderem Eckhard Schumacher folgen, 6 7 8

66

Vgl. ebd. Vgl. Tobias Unterhuber: Kritik der Oberf läche. Das Totalitäre bei und im Sprechen über Christian Kracht. Würzburg 2019, S. 54–58. Es gibt keinen »zentralen Kern« der Popliteratur, wie Johannes Ullmaier: Von Acid nach Adlon und zurück. Eine Reise durch die deutschsprachige Popliteratur. Mainz: Ventil Verlag 2001, S. 11, festhält. Und tatsächlich lässt sich in den Texten oder Schreibweisen von so unterschiedlichen Autor *innen, die regelmäßig mit dem Label Popliteratur versehen wurden, wie Benjamin von Stuckrad-Barre, Christian Kracht, Florian Illies, Alexa Hennig von Lange, Joachim Bessing, Rainald Goetz, Thomas Meinecke, Sibylle Berg, Thomas Brussig, Feridun Zaimoğlu, Benjamin Lebert oder Wolf Haas tatsächlich kaum Gemeinsames finden.

Von Schlappschwänzen, Schulbuben und Knabenwindelprosa

der Popliteratur primär als ein diskursives Phänomen beschreibt, denn »spricht man von Popliteratur, bewegt man sich im Diskurs von Kritik und Wissenschaft, nicht aber auf der Ebene der literarischen Texte, die mit diesem Begriff gekennzeichnet werden.«9 Von den in den 1990ern virulenten Literaturdebatten, unter anderem der Suche nach dem großen Wenderoman, lässt sich dabei festhalten, dass die sogenannten Popliteraten nicht das waren, was sich die Literaturkritik von einer neuen Literatur gewünscht hatte: Gefordert wurde eine Literatur, die die jüngsten Ereignisse der deutschen Geschichte erzählbar gestalten, die mit langem historischem Atem Erklärungen und Identifikationsmöglichkeiten für eine Gesellschaft im Umbruch bereitstellen sollte.10

All dies schien die Popliteratur aber nicht zu leisten, wie insbesondere die Kritiken eines Romans zeigen, der nachträglich zum Startschuss einer neuen Popliteratur erklärt wurde.11 Die Rede ist von Christian Krachts erstem Roman Faserland.12 Die Rezensionen […] zeigen deutlich, dass der Kracht’sche Text nicht in den zeitgenössischen literarischen Diskurs passt, er entspricht nicht den Erwartungen. Er verlängert nicht die Suche nach dem großen Zeit- und Gesellschaftsroman […], er fügt sich nicht in eine subjektivistische Tradition der Selbstbefragung […], er übernimmt nicht die Funktion der Konstruktion eines integrationsfähigen Gemeinschaftsgefühls einer Generation, er entzieht sich der Formulierung konkreter Handlungs- und Werteangebote an die Leserschaft. Der Bruch mit den Erzählweisen, sozialen und ästhetischen Angeboten der Vorgängergenerationen, vor allem jener Vertreter, der immer noch wirksamen literarischen ›Großeltern‹[,] wie Grass, Martin Walser, Siegfried Lenz oder Christa Wolf, ist offensichtlich.13

Der Begriff der Popliteratur wird in der Faserland-Rezeption von Seiten der Kritik erst nachträglich ins Spiel gebracht.14 Was aber bereits mit Krachts 9

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Eckhard Schumacher: Das Ende der Popliteratur. Eine Fortsetzungsgeschichte (Teil 2). In: Olaf Grabienski, Till Huber u. Jan-Noël Thon (Hg.): Poetik der Oberf läche. Die deutschsprachige Popliteratur der 1990er Jahre. Berlin/Boston: de Gruyter 2011, S. 53. Andreas Schumann: »das ist schon ziemlich charmant«. Christian Krachts Werke im literarhistorischen Gef lecht der Gegenwart. In: Johannes Birgfeld, Claude D. Conter (Hg.): Christian Kracht. Zu Leben und Werk. Köln 2009, S. 150. Vgl. Kerstin Gleba, Eckhard Schumacher: 1990 … In: Dies. (Hg.): Pop seit 1964. Köln 2007, S. 196. Vgl. Christian Kracht: Faserland. Köln 1995. Schumann: »das ist schon ziemlich charmant« (Anm. 10), S. 153 f. Vgl. Thomas Hecken: Die verspätete Wende in der Kultur der 1990er Jahre. In: Olaf Grabienski u. a. (Hg.): Poetik der Oberf läche. Die deutschsprachige Popliteratur der 1990er Jahre. Berlin, Boston, S. 24.

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Erstling beginnt, ist eine im Feuilleton ausführlich und oft aufgeregt geführte Debatte über diese neue Art von Literatur und das mit einem kritischen Gestus gegenüber oftmals zu Pappkameraden zurechtgemachten Gegnern, einem Gestus, der zugleich darüber hinwegzutäuschen vermag, wie weit die meisten Feuilletonisten sich selbst bereits von ihren über Jahrzehnte üblichen ideologiekritischen, linksalternativen Ansprüchen verabschiedet haben[,]15

wie Thomas Hecken feststellt. Wir haben also eine bereits eigenartige Ausgangslage: Autor*innen, denen von der Literaturkritik Gemeinsamkeiten unterstellt werden, die oft nur oberf lächlich vorhanden sind, und von der Literaturkritik und in Folge von den Verlagen mit einem Label versehen werden, das die Autor*innen oft selbst nicht verwenden wollen,16 werden als angebliche Gründe für einen veränderten Literaturdiskurs statt als Symptome dieser Veränderung gefasst und über Jahre hinweg als Verfallserscheinung der Gegenwartsliteratur verhandelt.

Tristesse Royale Etwa am Höhepunkt dieser Debatte, der oft auch bereits als ihr Ende verstanden wird, startet Joachim Bessing ein neues Projekt. Gemeinsam mit Benjamin von Stuckrad-Barre, Christian Kracht, Eckhart Nickel und Alexander von Schönburg begibt er sich ins Hotel Adlon in Berlin, um sich dort über den Zustand der Welt zu unterhalten und alles auf Tonband mitzuschneiden: Dort nun, im Adlon, wollten wir uns drei Tage lang zu Gesprächen einschließen, um dann am Sonntag abend ein Sittenbild unserer Generation modelliert zu haben; soweit der Plan. Das Kaminzimmer verwandelte sich dabei abwechselnd in eine Talkshow, einen weißen Sportwagen, ein Minenfeld, das siebte Hinterzimmer einer Bar. Am Sonntag abend hatte ich dreißig Stunden Gespräche aufgezeichnet und reiste mit Christian Kracht nach Phnom Penh, der Hauptstadt Kambod-

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Ebd., S. 24 f. Anne Philippi, Rainer Schmidt: »›Wir tragen Größe 46‹«. In: ZEIT, 9.9.1999. Sowie: Wolfgang Büscher: Gleich krachts! In: ZEIT-Magazin, 1.10.2008.

Von Schlappschwänzen, Schulbuben und Knabenwindelprosa schas. Das Buch folgt dieser Reise durch die Lüfte; dort befanden sich die Ergebnisse der Berliner Gespräche bereits in Korrosion.17

Diese Gesprächsprotokolle, wahrscheinlich intensiv bearbeitet,18 wurden als Rollenprosa unter dem Namen Tristesse Royale – Das popkulturelle Quintett mit Joachim Bessing, Christian Kracht, Eckhart Nickel, Alexander v. Schönburg und Benjamin v. Stuckrad-Barre Ende 1999 veröffentlicht. Der Zusatz, nach Bessings Angaben eigentlich nicht von ihm gewollt,19 mag einer der Gründe sein, warum die Kritik die Textgattung sowie die im Buch explizit erwähnte Überarbeitung und Literarisierung der Aufnahmen ignorierte. Sie nahm stattdessen eine Identität von Figuren und Autoren an, was für die Rezeption popliterarischer Texte in der Literaturkritik allerdings üblich ist. Die mit der der Selbstbeschreibung als »Sittengemälde« zutiefst moralisch gerahmten Gespräche drehen sich auf den ersten Blick nur um Oberf lächen und Ästhetisches: Mode, PR, Autos, Musik, Medien, Armbanduhren, Marken und Ähnliches. Die Figuren sehen Langeweile als das größte Problem ihrer Generation an. In diese Gespräche mischen sich aber immer wieder, oft zunächst unbemerkt, ernsthafte Auseinandersetzungen über den Zeitgeist. So wird beispielsweise festgestellt, dass sich in der Gegenwart »eine monströse Kollektivierung des Individualismus […] ohne Möglichkeit sich dessen zu entziehen«20 bahnbricht. Fragen der Meinung und Haltung würden immer mehr durch Fragen eines gesamten Lebensstils und der damit einhergehenden Produktentscheidungen dominiert.21 Jede Form von Identität oder Identifikation würde also an Waren gekoppelt.22 Was also anhand einer fast undurchdringlichen Oberf läche der Dinge verhandelt wird, ist eine Ökonomisierung aller Lebensbereiche, was auch den Literatur- und Kunstbetrieb miteinschließt. So wird auch die eigene Autorenrolle als Form der Prostitution aufgefasst, bei der sie ein von ihnen verachtetes Publikum bediene,23

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Joachim Bessing: Tristesse Royale. Das popkulturelle Quintett mit Joachim Bessing, Christian Kracht, Eckhard Nickel, Alexander v. Schönburg und Benjamin v. StuckradBarre. 2. Auf lage. München 2002, S. 11. Vgl. Jörgen Schäfer, Jan Süselbeck: Nachdenken über Lady P. Von den Adlon-Tapes zu Tristesse Royale – Vorüberlegungen zu einer textgenetischen Teiledition. In: LiLi – Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, Nr. 179, 2015. Interview mit Joachim Bessing. URL: https://www.pro-qm.de/node/17 (abgerufen am 18.12.2020). Bessing: Tristesse Royale (Anm. 17), S. 163. Vgl. ebd., S. 32. Vgl. Tobias Unterhuber: Ware Fiktion – Die Verhandlung von Ökonomisierungstendenzen in der deutschen Popliteratur der 1990er Jahre und die Reaktionen des Literaturdiskurses (unveröffentlichte Magisterarbeit). 2012, S. 53. Vgl. Bessing: Tristesse Royale (Anm. 17), S. 29 f.

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weshalb es besser wäre, wenn Kunst nicht subventioniert, sondern gleich genauso kapitalistisch funktionieren würde wie die »Wurstbude vor dem Hotel«.24 Entsprechend fasst Sabine von Dirke zusammen: »Indeed, Tristesse Royale contains a number of precise and insightful analyses of present-day Germany and beyond.«25 Dass sich hiervon der Literaturbetrieb provoziert fühlte, mag wenig verwundern. Aber die Art und Weise, wie sich diese Kritik äußerte, ist durchaus verwunderlich. Zu Tristesse Royale erschienen in der regionalen 26 und überregionalen Presse über zwei Dutzend Kritiken und Debattenartikel. Sie wurden anlässlich der Uraufführung des Stücks in Göttingen etwa ein Jahr später um eine vergleichbare Zahl von Artikeln in der überregionalen Berichterstattung ergänzt. Von Süddeutscher Zeitung27 über die Berliner Zeitung28 und die Augsburger Allgemeine 29 bis zur Welt30 und Frankfurter Rundschau31 waren hier viele Stimmen vorhanden, die eine eindeutige, in sich widersprüchliche Meinung vertraten. Denn dass weder das Buch noch dessen Autoren es wert seien, im Feuilleton besprochen zu werden, wird darin vom Feuilleton ausführlich dargelegt. Über das Buch und seinen Inhalt wird allerdings wenig bis gar nicht geredet, sondern meist nur über die Autoren, deren Aussehen und über die Gäste bei der Lesung. Exemplarisch sei hier die Kritik von Henryk M. Broder und Reinhard Mohr im Spiegel genauer betrachtet, die als tonund stilgebend für den Rest der Rezensionen gelten kann. So schreiben die beiden zunächst über die verwendeten Bühnenmöbel, dann über die illustren Gäste, zu denen sogar »Christina Rau, die Frau des Bundespräsidenten«32, gehörte. Anschließend widmen sie sich der Kleidung der Autoren: [F]ünf Jungautoren zwischen 24 und 33, die sich das »popkulturelle Quintett« nennen. Bis auf Christian Kracht, der im kambodschakompatiblen Polohemd und, wie stets, gut gebräunt auftritt, laufen alle Popkulturalisten 24 25

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Ebd., S. 78. Vgl. Sabine von Dirke: Pop literature in the Berlin Republic. In: Stuart Taberner (Hg.): Contemporary German fiction: writing in the Berlin republic. Cambridge u. a. 2007, S. 119. Vgl. z. B. David Nauer: Mal banal, mal trist, oft treffend. In: Der Thüringer Oberländer, 14.1.2000. sowie Karim Saab: Dandys im Rudel. In: Märkische Allgemeine, 1.12.1999. Oder Labern über Gott und die Welt. In: Südkurier, 24.12.1999. Vgl. Georg Diez: Die Sucht nach der verlorenen Zeit. In: Süddeutsche Zeitung, 30.1.2001. Vgl. Eva Corina: Göttingen oder der Sog des Dabeiseinwollens. In: Berliner Zeitung, 30.1.2001. Vgl. S. H.: Picknick im Märchenwald. In: Augsburger Allgemeine, 31.1.2001. Vgl. Matthias Heine: Ein Klassentreffen der Alt-99er. In: Die Welt, 30.1.2001. Vgl. Axel Brüggemann: Picknick mit piefigen Pfadfindern … In: Frankfurter Rundschau, 1.2.2000. Hendryk M. Broder, Reinhard Mohr: »Die faselnden Fünf«. In: Der Spiegel, H. 49, 1999.

Von Schlappschwänzen, Schulbuben und Knabenwindelprosa sehr korrekt ein: in feinem Zwirn, einer sogar im Tom-Wolfe-Kostüm, weiß bis in die Kragenspitzen. Derart gerüstet treten sie an, sich und dem Publikum die Welt zu erklären, ein »Sittenbild« ihrer Generation zu malen, ja ein »Manifest« zu entwerfen und dabei der Gesellschaft gleich noch die Ironie auszutreiben: »Irony is over. Bye Bye.« Wir spüren es schon: Bonjour Tristesse. You’re welcome. Da jauchzten die weiblichen Boy-Groupies in der ersten Reihe. Ein Hauch von Backstreet Boys lag in der Luft.33

Schon hier bemerken wir ein rhetorisches Mittel aller Rezensionen, die Argumentation ad personam in Form der Betonung der Jugend der Autoren. Dies wird auch bei Willi Winkler in der Süddeutschen Zeitung fortgesetzt: Im April dieses Jahres versammelten sich fünf reiche oder wenigstens erfolgreiche junge Menschen im teuersten Hotel der Stadt Berlin, beklagten wortreich ihr Schicksal und ließen das Tonband dazu laufen. Die jungen Menschen spielten erwachsen und den großen Ernstl-Diskurs: »Muss man sich Sorgen machen? Wie sehen Sie die Welt? Und was hält Ihre Welt im Innersten zusammen?«34

Die Autoren werden nicht aufgrund ihres biologischen Alters oder ihres ›Alters‹ im Literaturdiskurs als jung beschrieben, sondern um ihren Aussagen jegliche Wichtigkeit und jeden Belang abzusprechen, ganz wie der Figur des Narren.35 Broder und Mohr machen dies vielleicht sogar noch deutlicher, wenn sie die Autoren als »soeben dem Clerasil-Alter [sic!] entsprungen«, als »allesamt verliebte Eckermännchen ihrer selbst« beschreiben, die »[g]anz brav mit verteilten Rollen [vorlesen], wie einst im Deutschunterricht«.36 Sie seien »Nachwuchs-Phlegmatiker«, »parfümierte Popschnösel«, die ein literarisches Verbrechen begingen, in dem sie ihre »Drucksache« veröffentlichten.37 Ähnlich setzen auch die anderen Rezensionen ein. Fast überall ist von »Jungautoren«38, »Jungliteraten«, »junge[n] Menschen«39, »jungen Herrenschreiber[n]«40 oder von »Boygroup«41 die Rede. Durch die ständige Betonung der Jugend, die sowohl das biologische als auch das künstlerische Alter 33 34 35

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Ebd. Willi Winkler: Männer ohne Frauen. In: Süddeutsche Zeitung, 15.11.1999. Vgl. Tobias Unterhuber: ›The avant-garde jesters of capitalism‹: Tristesse Royale and the Representation of Economism in German Pop Literature of the 1990 s. In: Franziska Jekel u. a. (Hg.): Writing (for) the Market. Narratives of Global Economy. Berlin u. a. 2020, S. 113–130. Broder, Mohr: Die faselnden Fünf (Anm. 32). Ebd. Mariam Lau: Dem Treibsand der Ironie entkommen. In: Die Welt, 1.12.1999. Winkler: Männer ohne Frauen (Anm. 34). Iris Radisch: Mach den Kasten an und schau. In: ZEIT, 14.10.1999. Elisa Peppel: Schimmerlose Babies. In: Frankfurter Rundschau, 10.12.1999.

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der Autoren im Sinne Bourdieus meint, wird ihnen kulturelles Kapital von vornherein abgesprochen.42 Meist ist die Beleidigung nicht weit entfernt. Kerstin Holzer spricht im Focus beispielweise von den »juvenilen Ergüsse[n] der fünf Freunde«, die »auf einem Klassenausf lug der fünf Freunde in die Executive Lounge des Nobelhotels ›Adlon‹ in Berlin«43 basiere. Matthias Politycki betitelt das Buch als ein Projekt von »Jugend forscht« und scheint es besonders auf das »Bürschlein«44 Christian Kracht abgesehen zu haben. Oliver Kranz bezeichnet sie wiederum als »Fünf Möchtegern-Dandys« und als »Schulbuben, die die Texte von anderen nachplappern«45, deren Text als »Gesellenstück«, so Mariam Lau, immer noch »sehr nach Creative Writing«46 schmecke. Die Erwähnung des Aussehens, von körperlichen Merkmalen oder von Körperlichkeit im Allgemeinen ist eine auffällige, in zwei Richtungen zielende performative Strategie. Denn den solchermaßen infantilisierten Popliteraten steht eine »männliche Autorität« gegenüber, die über eine »entkörperlichte[] Vernunft«47 verfügt, die Unreife zu erkennen. Die sichtbar gemachte fehlende Virilität wertet implizit wahre Virilität als unsichtbares Maß des Wertens auf. Diese Tendenz in der Kritik war so deutlich erkennbar, dass sich in der Kritik des Satiremagazins Titanic, die wohl besser als Kultur- statt als Literaturkritik zu verstehen ist, nicht nur über das Buch, sondern vor allem auch über die Haltung des Feuilletons lustig gemacht wurde. Sie funktioniert ja wirklich nicht die Welt, worunter gerade junge Leute sehr zu leiden haben. Viele werden darüber zu Ausländerfeinden, hängen den ganzen Tag im Jogginganzug vorm Einkaufscenter herum, furzen und trinken billiges Pilsbier, was natürlich keinem gefällt. Wenn aber fünf gutgekleidete, wohlerzogene Jungautoren […] sich lieber im Berliner AdlonHotel treffen, Champagner trinken und Rührei essen, die eigene Dekadenz analysieren bzw. ein »popkulturelles Quintett« und v. a. Dandys sein wollen und rein gar nichts gegen Ausländer haben, sich statt dessen Sorgen um Deutschland machen, über Proleten und Prada, Popstars und Designerhemden oder auch das provinzielle Aroma von Sparkassen reden und dieses

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Vgl. Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Frankfurt a. M. 2005, S. 235–249. Kerstin Holzer: Schlechtes Koks und falsche Karten. In: Focus, 18.12.1999. Matthias Politycki: Das Medium ist die Massage. In: taz, 25.5.2000. Oliver Kranz: Fünf Möchtegern-Dandys. In: Berliner Morgenpost, 1.12.1999. Lau: Dem Treibsand der Ironie entkommen (Anm. 38). Raewyn Connell: Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichjkeiten. 32006, S. 185.

Von Schlappschwänzen, Schulbuben und Knabenwindelprosa Sittenbild unserer Generation dann in ein Buch hineinschreiben (»Tristesse Royale«, Ullstein), dann gefällt das komischerweise auch keinem.48

Die Titanic erkennt also das Spiel von Provokation und Gegenprovokation als diskursiven Mechanismus des Literaturbetriebs. In der oberf lächlich affirmativen Geste des Textes gegenüber einer Kommerzialisierung und Ökonomisierung von Welt lässt sie die Literaturkritik sich selbst entlarven, wie ich an anderer Stelle ausführlich dargestellt habe.49 Ähnliches hat auch Elisa Peppel in der Frankfurter Rundschau anhand eines Kapitels von Tristesse Royale beobachtet, das sich um den Kulturressortchef einer deutschen Tageszeitung dreht: Der Kulturchef begründet seine Ablehnung so: mangelnde Offenheit der Runde, zu wenig Konf likt und außerdem sei die Generation ganz anders, nicht so kommerziell, sondern eher wie sein Sohn. Und der sei genau wie er. Das ist schlau und es wirkt: Die Kulturredakteure waren verwirrt. Der Rezensent des Tagesspiegel versuchte die Falle zu vermeiden: »Wir fühlen uns provoziert. Wir tarnen emotionale Abwehr als ästhetisches Werturteil. Wir regen uns auf über die Jugend von heute. Wie beschämend.«50

Allerdings blieb es nicht allein bei diesen Rezensionen, auch andere Schriftsteller trugen zur Debatte bei und setzten die virile Rhetorik noch weiter fort oder trieben sie sogar auf einen Höhepunkt. Gemeint sind hier die bereits zu anfangs erwähnten Antworten von Feridun Zaimoğlu und Maxim Biller.

Knabenwindelprosa Recht schnell schaltete sich Zaimoğlu in die Debatte mit einem Beitrag in der ZEIT ein und holte zur Generalabrechnung mit den Schriftstellerkollegen aus, denen er in dem Artikel vorwirft, nur reaktionäres Kunsthandwerk zu schaffen: Zu jener Zeit, als es schick wurde, Geilheit nicht nur mit Brunfthirsch und Eber in Verbindung zu bringen, trollten auch andere Gestalten daher: brave Jungs der Kellerfeten, chemisch und klinisch munter, nicht ganz so gelen-

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Stefan Gärtner: »Das Lebensgefühl Giraffe«. In: Titanic, H. 2, 2000. Unterhuber: Kritik der Oberf läche (Anm. 7). Elisa Peppel: Schimmerlose Babies (Anm. 41).

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Tobias Unterhuber kige Frettwiesel, die – so schien es – auf einem Kreidestrich balancierten. Auf Charme und Credo gaben sie eine schlaffe Kuhmilz, unbekümmert von Fundamentalkonf likten und kehligen Zungenschlägen, die wir an heißen Orten ausfochten und sprachen, waren diese Buben wohl in ihrem Leben einer einzigen Idee verfallen, so sehr ging ihnen die Flammhärtung durch consciousness ab. Wir rangen um Namen und Worte für Benjamin von Stuckrad-Barre, Christian Kracht und Konsorten, die sich im anthologischen Machwerk Mesopotamia und andernorts tummelten. Mal nannten wir sie Personal Interest Prophets, mal falsch verleimte Geckos. Sie waren mehr Vertilger als Spezialisten, ein bisschen modisch plemplem und, wie’s das Elternhaus verlangte, gefügig und pappsatt konservativ.51

Zaimoğlu, damals selbst 35 Jahre alt und damit gerade einmal ein Jahr älter als einige seiner Gegner, sprach von den Popliteraten als »Kids«, als »young man [sic! men] apart«, die »kein echtes Anliegen«52 hätten: Der Schlummerbub befand die Maulaufreißerei für seine Belange für tauglich, er wollte die Pappversion des Popartisten abgeben. Der Gegenstand dieser Schreibung war zu keinem Zeitpunkt etwas anderes als das Bekenntnis von Wohnsilo-Poppern: »I can’t change my mode!« Na und? Wie weiter? Haltung ist etwas anderes!53

Er wirft ihnen vor, nur aufgrund ihrer »Jugendfrische« in den Büchermarkt einsteigen zu können. Die Autoren selbst seien »Phraseure«, die »keine einzige feurige und nichttraute Zeile aus ihrem Dichten und Flechten« hervorbringen könnten. Er setzt fort:54 Man wundert sich nicht, dass derartige Teenie-Schulbubenreporte veröffentlicht werden, man wundert sich nur über den Ort der Publikation: Die Vermengung von Präpubertätswallungen mit formatierten Glücksportiönchen erinnert fatal an Rowohlts rotfuchs- und Kinder-lieben-SchneiderBücher. Wer, bitte schön, führt sich hier auf wie ein Gaudigymnasiast und trötet Pointen, die sich durch einen hohen Lappigkeitsgrad auszeichnen?55

Es wäre also falsch, den »windelweiche[n] Konformismus junger Dränger« »als Rebellion« zu verstehen, es handle sich ja nur um »zur Popblaskapelle zusammenwachsende Debattierzirkel aus fünf Berufsyoungstern«56. Auch hier wird auf Strategien der Infantilisierung und Effeminierung zurück51 52 53 54 55 56

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Feridun Zaimoğlu: Knabenwindelprosa. In: ZEIT, 18.11.1999. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.

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gegriffen. Abschließend wird die bereits bekannte Rhetorik noch durch die Ausstellung eigener schriftstellerischer Potenz ergänzt: Die Jungyuppies dieser Republik mögen bitte schön eher darüber beratschlagen, ob sie ihren Veuve Cliquot [sic!] Grand Cru oder lieber cru zu genießen belieben. Saft- und kraftvolle Gegenwartsliteratur wird von anderen Platinfedern geschrieben. Sie hängen nicht an Spießertalarzipfeln und haben noch den Herzensmumm, einen langen Blick auf die verzweifelten Massen vor der Haustür zu wagen.57

Es geht also auch in dieser Abrechnung weniger um die Popliteratur als vielmehr um die Positionierung Zaimoğlus, der sich bzw. seiner phallisch konnotierten »Platinfeder« Saft, Kraft und Herzensmumm zuschreibt, wobei Letzterer nicht von ungefähr als Verweis auf die römische Tugend der Tapferkeit fungiert. In der Kombination der Assoziation von Feder und Phallus mit den Adjektiven ›saft- und kraftvoll‹ sowie den Verweisen auf Tapferkeit, auf Potenz, auf Nicht-Pubertät wird eine diffuse Vorstellung schriftstellerischer Virilität aufgerufen. Dass Zaimoğlu sich so vor allem selbst in Pose wirft, führt allerdings zu einem performativen Widerspruch. Gerade die Reihung von Phrasen, die Überfrachtung seines Textes mit Adjektiven, gewagten Komposita und Neologismen soll zwar besonders markant die rhetorische Fertigkeit und das emotionale Engagement des Schreibenden unterstreichen, wodurch er sich vom banalen Gesprächsprotokoll von Tristesse Royal absetzt. Andererseits hat man es weder mit einer sprachlich gelungenen Polemik zu tun, noch ist sie in ihrer Ambition kohärent. Interessant ist nämlich, dass Zaimoğlu, der den Popliteraten Elitismus vorwirft, sich selbst als Platinfeder inszeniert, die nicht den ›verzweifelten Massen‹ zugehört. Doch blieb es nicht bei dieser einen Entgegnung. Maxim Biller folgte mit einem weiteren Abgesang, dieses Mal aber sogar auf die gesamte deutschsprachige Gegenwartsliteratur.

Feige das Land, schlapp die Literatur Ein halbes Jahr nach der Debatte meldete sich Maxim Biller nicht nur mit einem mehrseitigen Beitrag in der ZEIT, sondern mit einem zeitgleich stattfindenden Schriftstellerkongress an der evangelischen Akademie Tutzing. Zweiter trug, wie gesagt, den Namen »Freiheit für die Literatur«, erster den 57

Ebd.

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Titel »Feige das Land, schlapp die Literatur – Über die Schwierigkeiten beim Sagen der Wahrheit«. Ausgehend von der Behauptung, in seiner Jugend in Abgrenzung zu linken Jugendbewegungen selbst die Auf klärung erfunden zu haben – wenn auch nicht so klug formuliert wie »200 Jahre vorher die Stars der Auf klärung«58 –, versucht Biller darin die Moral in der Literatur zu retten, da »die Morallosigkeit der Zeit« immer mehr »gleichgültige Intellektuelle und schlechte Bücher« produziere. Maxim Biller, sich selbst als »Hassund-Moral-Amokmann« beschreibend, rechnet dabei mit der kompletten Berliner Republik und ihrer »Meinungsdiktatur« ab, bevor er sich auf die Literatur, die zu »95 Prozent«59 überf lüssig sei, was sich die Kritiker aber nicht zu sagen trauten, und im Speziellen auf die Popliteratur stürzt: Die schlimmsten, verschwiegensten aller Systemopportunisten sind die klugen Anhänger des so genannten Pop. Sie wissen genau, dass mit einer Generation etwas nicht in Ordnung sein kann, die zu Modedesignern, DJs und Grafikern so selbstvergessen betet wie andere zu Jesus Christus und der Heiligen Jungfrau Maria. Trotzdem – oder gerade deshalb – fahren sie den Kurs der totalen Affirmation, was natürlich eine besonders raffinierte Art des Schweigens ist. Sie versuchen im Talk-Layout dieselbe Poesie und Weisheit zu entdecken wie in einem Bild von Kandinsky, und den Wechsel von weit geschnittenen zu eng geschnittenen Anzügen begründen sie mit hegelianischer Dialektik. Sie machen es sich, von Tausenden spitzfindiger Argumente unterfüttert, in der kapitalistischen Warenwelt intellektuell bequem, um sie bloß nicht verlieren zu müssen.60

Die Gegenwartsliteratur sei also »Schlappschwanz-Literatur«, weil sie ohne Moral sei und ihr, ausgenommen seinem Kollegen Zaimoğlu, »die Sehnsucht nach dem Guten, Wahren, Schönen, Gerechten« 61 fehle. Das zeigt Biller unter anderem an seinem Freund Rainald Goetz, der während des Vortrags dieses Textes im Publikum saß und den er »als Musterbeispiel eines ›literarischen Schlappschwanzes‹« 62 vorführte. »Ohne Moral keine Kunst, keine Literatur« 63 ist Billers Diktum, aus dem er folgenden Schluss zieht: Kunst ist Politik und Politik ist Kunst – von Anfang an, seit die Menschen sich ihrer Unzähmbarkeit bewusst wurden. Politik, das ist der ewige Roman

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Maxim Biller: Feige das Land, schlapp die Literatur. Über die Schwierigkeit beim Sagen der Wahrheit. In: ZEIT, 13.4.2000. Ebd. Ebd. Ebd. Harald Jähner: 95 Prozent Papierleichen. In: Berliner Zeitung, 4.4.2000. Biller: Feige das Land (Anm. 58).

Von Schlappschwänzen, Schulbuben und Knabenwindelprosa vom Kampf der Menschen gegen das Unglück, das sie selbst verschulden und das manchmal auch einfach so über sie kommt. Und Kunst ist der Roman von der Politik. Man muss ihn nur schreiben wollen. Man darf nicht vor ihm weglaufen. Man darf kein Schlappschwanz sein.64

Wirkt Billers Einschreiten für das Gute, Wahre, Schöne und gegen die Mutlosigkeit, Ökonomisierung, den Systemopportunismus schon schief, da er das Medienecho zu seinem Kongress und seinem Text vor allem als Publicity für seinen kurz darauf erschienenen Roman nutzte,65 ist auch hier wieder die virile Rhetorik, die immer wieder vor allem eine brutalere Literatur einfordert, besonders bemerkenswert. Es bleibt auch nicht bei einer Erwähnung, der Schlappschwanz durchzieht den Text und wohl auch Billers Redebeiträge bei der Tagung. Wie schon Matthias von Altenburg feststellt, versucht Biller »[m]it dem Vokabular eines virilen Vorstadt-Machos […] uns weis[zu] machen, dass er nicht zu den schlappen Schwänzen gehöre, dass aus seinem Stift der reine Lebenssaft quelle«, weswegen es sich bei Biller nur um »ProllTV fürs Feuilleton handle«66. Allerdings setzt Biller in seiner Rhetorik nur fort, was, wie gezeigt, eigentlich der allgemeine Stil der Kritiken zu Tristesse Royale war. Hier nun Biller als aus der Reihe fallend zu beschreiben, wie dies von Altenburg tut, verschleiert dies. Vielmehr bedient er sich des geschlechtlich codierten Bildarsenals, dank dessen das richtige und gute Schreiben mit reifen, potenten, mutigen Männern identifiziert wird. Damit zeigt sich auch, dass die Kritik inklusive der literarischen Stimmen Zaimoğlus und Billers fast das ganze Repertoire an Beleidigungen aufruft, das auch die Männlichkeitsforscherin Raewyn Connell als Werkzeuge zur Unterordnung anderer Männer anführt: »Schwächling, Schlappschwanz, Muttersöhnchen, Waschlappen, Feigling, Hosenscheißer, Saftarsch, Windbeutel, halbe Portion, Brillenschlange, Milchbrötchen, Memme, Streber und so weiter.«67 Diese Schimpfwörter begleiten den Ausschluss von Männern »aus dem Kreis der Legitimierten«, indem sie offensichtlich eine »symbolische Nähe zum Weiblichen« aufweisen,68 denn »[e]s ist die Geschlechterordnung, auf der die performative Wirksamkeit der Worte  – ganz besonders der Beleidigungen  – gründet«, wie Bourdieu festhält.69

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Ebd. Vgl. Die Tochter (Deutschlandfunk). URL: https://www.deutschlandfunk.de/die-tochter. 700.de.html?dram:article_id=79772 (abgerufen am 18.12.2020). Matthias von Altenburg: Alles Kohl. In: ZEIT, 19.4.2000. Connell: Der gemachte Mann, S. 100 (Anm. 47). Ebd. Pierre Bourdieu: Die männliche Herrschaft. Frankfurt a. M. 2005, S. 178.

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Die Antwort, warum sich der Literaturbetrieb der Verbindung von literarischer Produktion und Potenz bedient, um Autoren und ihre Texte zu diskreditieren, mag wohl wenig überraschen. Literatur und Literaturkritik ist am Ende grundlegend patriarchal organisiert. Hinzu kommt, dass gerade im deutschsprachigen Diskurs durch das immer noch der Unterscheidung zwischen E- und U-Literatur verpf lichtete Feuilleton auch die Idee des Genies immer noch präsent ist. Und vom Genie ist es nicht weit zur schriftstellerischen, damit schaffenden und schöpferischen Potenz, ist doch das Genie ein zutiefst maskulin codiertes Konzept.70 Somit ist aber auch der Kampf um den Status als Dichter ein Kampf »um den symbolischen Phallus«71, wie Britta Hermann festhält. Entsprechend bedient man sich einer »Rhetorik des demonstrativen Muskelspiels«72. Dass im Besonderen aber die Autoren der Popliteratur als Gegner in diesem Kampf fungieren, obwohl die Popliteratur, wenn auch anders, vor allem als Männer-Literatur kodiert ist, mag vielleicht daher rühren, dass trotz des damals etwa gleichzeitig ausgerufenen Fräuleinwunders nur Männer von der Kritik überhaupt als satisfaktionsfähig verstanden wurden.73 Selbst und vielleicht gerade Tristesse Royale kann durch »the exclusion of women from the all male circle of the pop quintet and the numerous homophobic statements combined, paradoxically, with a demonstrative homo-sociability« ein »reactionary virilism«74 und eine »plakative maskuline Prägung«75 attestiert werden. Die Popliteraten mögen hier als das Andere im Diskurs verstanden und verhandelt werden, aber sie sind immerhin am Diskurs beteiligt, und bei ihnen muss es auch nicht gleich ein Wunder sein, wenn sie schriftstellerisch tätig werden. So werden die Popliteraten zwar von der Kritik herabgesetzt, sie stehen aber gleichzeitig auch in einem Verhältnis der Komplizenschaft zu den virilistischen Akteuren und profitieren von der patriarchalen Dividende.76 Die effeminierten und infantilisierten Männer werden immer noch als Männer wahrgenommen, und überleben

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Vgl. Verena Krieger: Was ist ein Künstler? Genie  – Heilsbringer  – Antikünstler. Eine Ideen- und Kunstgeschichte des Schöpferischen. Köln 2007, S. 132. Britta Herrmann: Als Mann schreiben. Geschlecht und Stil in literarischen Debatten um 1800, 1900 und 2000. In: Martina Läubli (Hg.): Männlichkeiten denken: aktuelle Perspektiven der kulturwissenschaftlichen Masculine Studies. Bielefeld: Transcript 2011, S. 284. Ebd. Vgl. Hartmann: Als Mann schreiben (Anm. 71), S. 283. Dirke: Pop literature in the Berlin Republic (Anm. 25), S. 119. Thomas Borgstedt: »Pop-Männer. Provokation und Pose bei Christian Kracht und Michel Houellebecq.« In: Claudia Benthien, Inge Stephan (Hg.): Männlichkeit als Maskerade. Kulturelle Inszenierungen vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Köln 2003, S. 231. Vgl. Connell: Der gemachte Mann, S. 100 f. (Anm. 47).

Von Schlappschwänzen, Schulbuben und Knabenwindelprosa

auch den Verriss des gemeinsamen Projekts weitgehend unbescholten, mag man sie auch zunächst »als fünf Arschlöcher [deklarieren], die seichte Texte schreiben und dazu posieren«77. So stellt eben auch Joachim Bessing fest, dass das Projekt gelungen sei: »Wir wollten die Medien dazu treiben, sich selbst darzustellen.«78 Mag Bessing dabei zwar vor allem den Mechanismus von Provokation und Gegenprovokation im Blick gehabt haben,79 betrifft dies auch die Formen männlicher Herrschaft, die ebenfalls den Literaturbetrieb mitbestimmen.80 Es wäre nun zu argumentieren, dass gerade aber diese Sichtbarmachung, besonders in der Vehemenz ihrer virilen Rhetorik, ganz wie dies nach Urte Helduser mit dem Engendering der Literatur bereits um 1900 der Fall war,81 auch die Krisenhaftigkeit dieser Herrschaft aufscheinen lässt. Mag Reich-Ranicki noch wenige Jahre zuvor im autoritär-patriarchalen Duktus den Erstling von Marlene Steeruwitz abfertigen können, scheint in der Debatte um Tristesse Royale das Geschlecht der Literatur und der Kritik nicht ohne Folgen entblößt worden zu sein.

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Markus Huber: Nur Proll-Glamour. In: profil, 13.12.1999. Ebd. Vgl. Unterhuber: Kritik der Oberf läche, S. 215–217 (Anm. 7). Vgl. Bourdieu: Die männliche Herrschaft, S. 186 (Anm. 69). Urte Helduser: Geschlechterprogramme. Konzepte der literarischen Moderne um 1900. Köln u. a. 2005.

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Misogynie in der Literaturkritik Wie Autorinnen besprochen wurden und werden Ein eindrücklicher Beleg dafür, dass Autorinnen früher einer voreingenommenen Betrachtung ausgesetzt waren und dementsprechend anders rezensiert wurden als ihre männlichen Kollegen, ist der 1847 erschienene Roman Sturmhöhe von Emily Brontë, der zunächst unter dem Andronym Ellis Bell erschien. Denn in diesem Fall gibt es beides: Rezensenten, die noch glaubten, der Roman stamme von einem Mann, und solche, die das Buch nach Lüften des Pseudonyms besprachen. Erstere lobten Inhalt, Sprache und Moral von »Ellis Bell«, beim selben Roman von Emily Brontë wurden die Jugend und beschränkenden Lebensumstände der Autorin herausgestellt und die ›femininen‹ Attribute des Textes. Der Autor Bell wurde mit einem rauen Seemann verglichen, die Pfarrerstochter Emily mit einem f latternden und bald erschöpften Vogel im Käfig.1 Das macht besonders deutlich, was die Literaturwissenschaft auch an anderen Beispielen belegt hat: Im 19.  Jahrhundert wird Literatur von Frauen zuallererst nach biografischen Prämissen beurteilt, selbst noch die Literaturgeschichten (und keinesfalls nur christlich geprägte) setzten den Text in ein Verhältnis zum Anstand der Autorin.2 Je deutlicher eine Autorin von den Erwartungen abwich, die an ihr Geschlecht gestellt wurden, desto heftiger fiel die (Literatur)Kritik aus, mit der sie sich konfrontiert sah. Ein Beispiel aus dem 20. Jahrhundert ist Françoise Sagan, die 1954 kurz nach ihrem Abitur mit ihrem Roman Bonjour Tristesse auf einen Schlag berühmt wurde. Dass eine so junge Frau derart selbstbewusst über Lust und Liebe schrieb und sich anmaßte, implizit vorherrschende Formen der Erziehung und des gesellschaftlichen Umgangs mit Kindern zu kritisieren, schockierte das Nachkriegsfrankreich. Dass diese Autorin dann mit ihrem kommerziellen Erfolg auch noch begann, ein ausschweifendes Leben zu führen, inklusive Drogen, Glücksspiel, schnellen Autos und wechselnden Geliebten, tat das Übrige. Bis in die Nachrufe hi1 2

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Carol Ohmann: Emily Brontë in the Hands of Male Critics. In: College English 32, 8 (1971), S. 906–913. Ortrun Niethammer: Kanonisierung als patriarchalischer Selektionszwang? Das Beispiel Annette von Droste-Hülshoff. In: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Text + Kritik Sonderband IX/02 Literarische Kanonbildung. München 2002, S. 181–193.

Misogynie in der Literaturkritik

nein zog Françoise Sagan eine Verachtung auf sich, die ihresgleichen sucht. Vom »vorwitzigen Weibchen« und vom »Monster« war da, auch in deutschsprachigen Nachrufen, die Rede.3 Wurde Bonjour Tristesse bei Erscheinen und noch lange danach überwiegend als Geschichte eines verwöhnten Biestes gelesen, das eifersüchtig über seinen Vater wacht und sich nimmt, was es will, erkennen heutige Leser*innen wie Rachel Cusk in dem Roman »ein meisterhaftes Porträt früher menschlicher Bindungen und Bedürfnisse«4. Françoise Sagan hatte sich einen Lebensstil erlaubt, der für einen Mann nicht derart ungewöhnlich gewesen wäre, für Frauen aber nicht vorgesehen war – darüber konnten Leser*innen und Kritik bei der Beurteilung ihres Werks nicht hinwegsehen. Nicht nur bei der Lebensweise wurde mit zweierlei Maß gemessen, auch die Literatur wurde gemäß dieser Doppelmoral beurteilt.

Böse Blicke, zärtliche Blicke In den deutschsprachigen Ländern war das nicht anders. In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Autorinnen, die sich kritisch mit der gesellschaftlichen Realität auseinandersetzten, wiederholt ein ›böser Blick‹ unterstellt. Gisela Elsner, Elfriede Jelinek, Renate Rasp und Gabriele Wohmann, allesamt Autorinnen, die mit scharfer Ironie, bissiger Satire und realitätsverzerrender Groteske auf soziale und politische Entwicklungen im deutschsprachigen Raum reagierten, wurden wiederholt mit diesem Begriff in Verbindung gebracht.5 Gegenstück zu diesem ›bösen Blick‹ ist der ›zärtliche Blick‹ – bis heute eine von der Literaturkritik gern verwendete Bezeichnung, die fast ausschließlich positiv konnotiert ist, wenn es um Literatur von Frauen geht. Die Literaturwissenschaftlerin Antje Schmidt diagnostiziert in einem Artikel vom Juli 2020 eine »Obsession der gegenwärtigen Literaturkritik für das Label ›zärtlich‹«, das auf viele Texte von Autorinnen appliziert werde, ganz »unabhängig davon, ob nun Zartheit im Tonfall oder im Umgang mit den Figuren tatsächlich das herausstechende Merkmal des bespro-

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Verena Auffermann: Traurigkeit – komm, Traurigkeit. In: Dies. u. a. (Hg.): Leidenschaften: 99 Autorinnen der Weltliteratur. München 2009, S. 487–492. Und: Kristina MaidtZinke: So charmant war dieses Monster. In: Süddeutsche Zeitung, 27.9.2004. Rachel Cusk: On Françoise Sagan. In: Dies.: Coventry. London 2019, S.  209–217, hier S. 214 (eigene Übersetzung). Rita Morrien: ›Böse Blicke‹. Der Gesellschaftsroman von Frauen nach 1945. In: Hiltrud Gnüg und Renate Möhrmann (Hg.): Frauen Literatur Geschichte. Schreibende Frauen vom Mittelalter bis zur Gegenwart. München 1999, S. 496–515.

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chenen Werks ist.« 6 Sie weist darauf hin, dass diese Zuschreibung in der Tradition des jahrhundertealten binären Verständnisses von Autor(innen) schaft steht, demzufolge Frauen naive und empfindsame Texte schrieben, Männer aber geistvolle und geniale Künstler seien. Unterschiedlich bewertet werde selbst dann, wenn der Stoff im Grunde der gleiche sei. Zweierlei Maß, auch hier. Die Autorin Tanja Dückers brachte es in einem Beitrag für Deutschlandfunk Kultur so auf den Punkt: »Endlose Abhandlungen über Potenz- und Prostataprobleme gelten jedes Jahr als nobelpreisverdächtig, wenn Autorinnen übers Kinderkriegen oder ihren Körper schreiben, wird dies schnell als ›Menstruationsprosa‹ abgetan.«7 So machte Marcel Reich-Ranicki beim ersten Klagenfurter Bachmann-Wettbewerb im Jahr 1977 Karin Struck mit den Worten nieder: »Wen interessiert, was die Frau denkt, was sie fühlt, während sie menstruiert? Das ist keine Literatur – das ist ein Verbrechen.«8 Tanja Dückers spielt auf Philip Roth an, wenn sie darauf verweist, dass vergleichbare Themen bei männlichen Autoren anders bewertet werden, auch der riesige Erfolg von Karl Ove Knausgårds autobiografischem Romanzyklus Min Kamp mit einem Gesamtumfang von Tausenden von Seiten wäre unter diesem Gesichtspunkt eine genauere Betrachtung wert. Das ist es, was Joanna Russ in How to Suppress Women’s Writing »double standard of content« nennt.9 Es wird unterschiedlich bewertet, selbst wenn Männer und Frauen über das Gleiche schreiben. Veronika Schuchter zufolge sind bestimmte Texteigenschaften in der Literaturkritik klar männlich oder weiblich konnotiert. Werden einem Text weibliche Eigenschaften zugeschrieben, etwa hohe Emotionalität oder »empathisches Schreiben, aus dem Leben gegriffenes Schreiben, große Authentizität«, so wird er damit zumeist als trivial eingeordnet, als unliterarisch. Als »männlich« konnotierte Texteigenschaften dienen weiten Teilen der Literaturkritik dagegen zur Aufwertung eines Werks, da wird dann »seziert«, da ist ein Text »analytisch«, 6

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Antje Schmidt: Weibliche Empfindsamkeit vs. männliches Genie – Die Fiktion zärtlicher Autorinnenschaft. In: 54 Books, 22.7.2020: https://www.54books.de/weibliche-emp findsamkeit-vs-maennliches-genie-die-fiktion-zaertlicher-autorinnenschaft/ (abgerufen am 14.6.2021). Tanja Dückers: Die subtile Machtausübung der Männer. In: Deutschlandfunk Kultur, 24.5.2018. URL: https://www.deutschlandfunkkultur.de/sexismus-im-literaturbetriebdie-subtile-machtausuebung-der.1005.de.html?dram:article_id=418549 (abgerufen am 1.4.2021). Marcel Reich-Ranicki, zitiert in: »Ihr könnt mein Hirn haben«. In: Süddeutsche Zeitung, 22.6.2010. URL: https://www.sueddeutsche.de/kultur/literatur-ingeborg-bachmannpreis-ihr-koennt-mein-hirn-haben-1.959192 (abgerufen am 14.6.2021). Joanna Russ: How to Suppress Women’s Writing. Austin 1983.

Misogynie in der Literaturkritik

»distanziert« oder »rasiermesserscharf«10. Und auch hier liegt in der Zuschreibung bereits die Wertung, hinter die es dann kein Zurück mehr gibt, für die keine genauere Betrachtung mehr nötig scheint. Müssen Autorinnen sich also einen »männlichen Stil« aneignen oder sich auf Themen verlegen, die Männer wichtig finden, um von der noch immer männlich dominierten Literaturkritik ernst genommen zu werden? Die Autorin Isabelle Lehn sieht darin keine Lösung. Ihr erster Roman handelte vom Krieg und erhielt dafür zwar Anerkennung, allerdings mit der Einschränkung, er sei »verkopft«. »Anders ausgedrückt«, so Lehn: »Er galt als zu konstruiert, zu erdacht, er wurde mir nicht geglaubt als Teil meiner (weiblichen) Erfahrungswelt.«11 Klingt, als könnte man als Autorin nicht gewinnen, und als hätte sich so viel dann doch nicht geändert. Auch heute noch spüre man, so Mithu Sanyal, dass man »als Frau, die selber schriftstellerisch aktiv wird, etwas tut, was ihrer Geschlechterrolle nicht angemessen zu sein scheint«.12 Bereits der weibliche Wunsch zu schreiben, das Einnehmen einer eigenständigen Perspektive, der Anspruch auf Ausdruck der eigenen Gedanken und Gefühle, schreibt Isabelle Lehn, werde bis heute häufig als Provokation wahrgenommen.13 Das macht auch die Art und die Heftigkeit deutlich, mit der Kritiker noch immer regelmäßig nicht nur über Texte von Autorinnen, sondern auch über die Autorinnen selbst sprechen.

Ein paar Verrisse aus jüngerer Zeit Wenige Wochen, bevor bekanntgegeben wurde, dass Inger-Maria Mahlke für ihren Roman Archipel den Deutschen Buchpreis 2018 erhalten würde, erschien im Spiegel ein Porträt der Autorin, in dem sie als überemotional, fahrig und naiv dargestellt wurde, eher als kleines Mädchen, denn als ernstzunehmende Schriftstellerin. Dass sie »eine Menge Preise« gewonnen habe, wird erwähnt, deutlich öfter wird aber betont, dass Mahlke »dem breiteren Publikum nicht sonderlich bekannt« sei, dass der Verkauf ihres Romans 10

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Veronika Schuchter im Gespräch mit Tanya Lieske: Der Kanon ist einfach ein männlich dominierter. In: Deutschlandradio 19.7.2018. In: URL: https://www.deutschlandfunk. de/gender-und-literatur-der-kanon-ist-einfach-ein-maennlich.700.de.html?dram:article _id=423310 (abgerufen am 1.4.2021). Isabelle Lehn: Weibliches Schreiben in der weiblichen Gegenwartsliteratur. URL: www. fischerverlage.de/magazin/extras/weibliches-schreiben-gegenwartsliteratur (abgerufen am 1.4.2021). Mithu M.  Sanyal im Gespräch mit Carolin Callies: Gebären ist ein Synonym für alle Formen des Schaffens. In: Poetin 25 (2019), S. 249. Lehn: Weibliches Schreiben in der weiblichen Gegenwartsliteratur (Anm. 10).

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schlecht liefe, dass ihre Bücher zwar »als große Literatur« gälten, aber: »alle f loppten mehr oder weniger«. Hohe Verkaufszahlen scheinen für den Verfasser des Textes, Takis Würger, das eigentliche Qualitätsmerkmal eines Textes zu sein. »Die drei, vier Mahlke-Fans, die es da draußen irgendwo gibt«, schließt er, »können sicher sein, dass Mahlke unabhängig davon bald wieder die braune Nickihose anziehen und weinend vor ihrem Computer sitzen wird.«14 Ein Artikel, der die Autorin lächerlich zu machen versucht, und der schon eher boshaft als respektlos genannt werden muss. Edo Reents von der FAZ eröffnete seine Rezension von Judith Hermanns Aller Liebe Anfang, dem ersten Roman nach mehreren Erzählungsbänden, mit den Worten, diese Autorin habe »zwei Probleme: Sie kann nicht schreiben, und sie hat nichts zu sagen«. Ihr Stil gelte zwar als kunstvoll, sie selbst wegen ihrer Erzählungen als eine der wichtigsten Stimmen der jüngeren Literatur, Reents aber vermutete in der betont reduzierten Syntax »gedankliche Schlichtheit« oder »einfach nur Unvermögen« und äußerte den Verdacht, Hermann wisse »gar nicht, was bestimmte Wörter bedeuten«15. Ein drittes Beispiel: In der Sendung vom 15.12.2020 wurde im Lesenswert Quartett des SWR über den Debütroman der Autorin Deniz Ohde gesprochen. Streulicht hatte zuvor unter anderem den Literaturpreis der JürgenPonto-Stiftung und den aspekte-Literaturpreis erhalten, außerdem stand der Roman auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2020. Sandra Kegel, Ijoma Mangold und Insa Wilke bedachten das Buch in der Sendung mit viel gut begründetem Lob, zuletzt schaltete sich Gastgeber Denis Scheck mit einer ganz anderen Meinung ein: »Diese Autorin ist so humorfrei, so frei von einer Spur von Geist und Eigenständigkeit in der Intellektualität, dass ich ihr eine große Zukunft in der deutschen Gegenwartsliteratur prophezeien kann, solange es solche Kritiker gibt.« Er habe sich wahnsinnig gelangweilt und geärgert über dieses f lache und banale Buch, sagte Scheck und verstieg sich schließlich zu der Aussage: »Diese Autorin kann nicht denken!« Von Insa Wilke nach Textbeispielen gefragt, antwortete Scheck, das ganze Buch sei ein einziges Beispiel, nannte also keines. Ijoma Mangolds Frage, warum Scheck zu diesem Buch nicht »eine minimal weniger radikale Position«16 einnehmen könne, überging er ganz. 14 15 16

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Takis Würger: Überzeugungstäterin. In: Der Spiegel 39, 22.9.2018. Edo Reents: Stella oder das Märchen vom Stalker. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.8.2014. Alle Zitate in: SWR Lesenswert Quartett, 15.12.2020. URL: https://www.swrfernsehen. de/lesenswert/lesenswert-quartett-112.html (abgerufen am 14.6.2021).

Misogynie in der Literaturkritik

Warum so radikal? Bei derartigen Abrechnungen, bei so persönlichen Attacken drängt sich der Verdacht auf, dass es eben genau darum gehen könnte – um etwas Persönliches. Ungeachtet dessen sollen die Aussagen hier aber als das betrachtet werden, als was sie sich ausgeben: als Literaturkritik und Akte der Wertung. Warum ist bei allen genannten Beispielen der Ton derart verächtlich, das Urteil so vernichtend? Woher der Furor? Es ist die Frage, die Ijoma Mangold Denis Scheck gestellt hat: Warum so radikal? Ein genauerer Blick auf diese und andere Beispiele zeigt einige Übereinstimmungen. Durchweg handelt es sich um besonders erfolgreiche, mehrfach ausgezeichnete Autorinnen, erschienen bei anerkannten, großen Verlagen wie Suhrkamp, S. Fischer und Rowohlt, die bereits mehrere Literaturpreise sowie viel Anerkennung vom Feuilleton bekommen hatten. Und weil das so ist, muss gleich die gesamte Literaturkritik mit angegriffen und mehrfach wiederholt werden, dass diese Autorin maßlos überschätzt werde und alle, die es anders sehen, keine Ahnung hätten. Reents verdächtigt »die Literaturkritik« der »Nachsicht«, Scheck hält es für einen »Offenbarungseid für die deutsche Literaturkritik, dass ein so schwacher Text es so weit bringen durfte«. So lief es auch, als Karen Köhler nach ihrem sehr positiv besprochenen Erzählungsband Wir haben Raketen geangelt, der zudem ein Bestseller war, 2019 ihren von Publikum und Kritik gespannt erwarteten ersten Roman veröffentlichte. Sie erzählt darin von einer jungen Frau, die in einer isolierten Gesellschaft aufwächst, in der heilige Gesetze gelten und Männer das Sagen haben, in der Frauen weder lesen, noch schwimmen lernen dürfen. An nichts davon hält sich Köhlers Protagonistin. Jan Drees, Kritiker beim Deutschlandfunk, bezeichnete Miroloi als »naives Jugendbuch« und sprach ihm zusammen mit mehreren anderen Romanen (fast ausschließlich von Frauen), die sich zu dieser Zeit gut verkauften, mittelbar die Berechtigung ab, im Feuilleton rezensiert zu werden und »Literatur im eigentlichen Sinne«17 zu sein. Und auch in diesem Fall gibt es einen Vorwurf an die Kolleg *innen, die Drees zufolge samt und sonders dem Verlagsmarketing auf den Leim gegangen seien. In einem ersten Schritt wird im Genre ›Etablierter Literaturkritiker verreißt erfolgreiche junge Autorin‹ also das durch die Kolleg*innen

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Jan Drees: Klagelied für die Literatur, Deutschlandfunk 19.8.2019. URL: https://www. deutschlandfunk.de/karen-koehler-miroloi-klagelied-fuer-die-literatur.700.de. html?dram:article_id=456679 (abgerufen am 1.4.2021).

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bereits aufgebaute Renommee der Autorin demontiert. In der FAZ-Kritik von Simone Hirths Roman Das Loch wird zu diesem Zweck sogar behauptet, die Literaturpreise, die die Autorin bereits »eingeheimst« habe, würden »nicht selten unbedacht vergeben«18. Im zweiten Schritt werden die jeweiligen Themen der Romane beanstandet, die Geschichte als solche, mit der die Kritiker in allen betrachteten Fällen nichts anfangen können. »Sollte es Judith Hermanns Absicht gewesen sein, mit ihrer Stalking-Geschichte zu zeigen, dass das Leben schnell aus den Fugen geraten kann«, formuliert Edo Reents sein Unverständnis, »dann kann man nur sagen: Ja, davon hat man schon mal gehört.« Und für Jan Drees bleiben nach der Lektüre von Miroloi »tausend Fragen« zurück: »Ist Köhlers Buch ein Totenlied auf nicht mehr existierende Formen der Misogynie? Kann Miroloi gelesen werden als Parabel auf die Unterdrückung von Frauen im Niger, im Chad oder Burkina Faso?« Da bleibt nur die Rückfrage: Soll man lachen oder weinen angesichts so viel Unkenntnis der aktuellen gesellschaftlichen Wirklichkeit in Deutschland und der historisch gewachsenen Strukturen, die ihr zugrunde liegen? Auch die Literatur, in deren Tradition die Romane dieser Autorinnen stehen, ist den Kritikern offensichtlich nicht bekannt. »Wo wäre das jetzt zu verorten«, fragt Moritz Baßler in seiner taz-Besprechung von Miroloi, »irgendwo zwischen Wanderhure und Schäfchen im Trockenen, Krabat und dem Gastroführer Griechenland?«19 Weder noch. Aber anders als die Kollegen, die Sinn und tiefere Bedeutung gar nicht erst unterstellen, fragt Baßler immerhin, womit ein Buch wie Miroloi inhaltlich zu vergleichen wäre, und scheint an einer Antwort ehrlich interessiert. Die Antwort: Mit Werken von Ursula LeGuin und Margaret Atwood zum Beispiel, deren Report der Magd durch die prominente Serienverfilmung gerade erst omnipräsent war. Wenn man von diesen bekannten Namen aus weiter googeln würde, stieße man auf meterweise dystopische und utopische feministische Romane aus aller Welt. In den Buchhandlungen fände man außerdem Neueres wie Naomi Aldermans Die Gabe oder The Water Cure von Sophie Mackintosh, in dem es ebenfalls um eine patriarchale Inselgesellschaft geht. Die Kenntnis nur einiger dieser Bücher hätte den Kritikern einen fundierten Vergleich mit Karen Köhlers Roman und somit eine angemessene Auseinandersetzung ermöglicht.

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Anton Thuswaldner: Was einem da entgegenzwitschert. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6.8.2020. Moritz Baßler: Schönheit, Stil und Geschmack. In: taz, 19.8.2019. URL: https://taz.de/ Neue-Massstaebe-der-Gegenwartsliteratur/!5615852/ (abgerufen am 1.4.2021).

Misogynie in der Literaturkritik

Von umfassender Ahnungslosigkeit zeugt auch die bereits erwähnte Besprechung von Simone Hirths Roman Das Loch, in dem eine junge Mutter in Briefen an Popstars und Politiker, an Jesus und an den Frosch aus dem Märchen »Der Froschkönig« von ihrem Alltag schreibt und davon, dass sie nicht mehr dazu kommt, richtig zu schreiben. Was junge Mütter und Väter erleben, auf welche Topoi und welche Literatur in diesem Briefroman angespielt wird – über all das scheint der Rezensent derart schlecht informiert, dass er weder Hintersinn noch Witz erkennen kann. Fragt sich, warum ausgerechnet er diesen Titel rezensierte (und warum die FAZ eine derart inkompetente Besprechung, in der nicht einmal der Versuch gemacht wird, etwas literarisch und kulturell einzuordnen, durchwinkt und druckt). In einem dritten Schritt werden in solchen Rezensionen schließlich Stil, Sprache und Form abgewertet, allerdings – interessante Gemeinsamkeit –, ohne dass nach einer möglichen Bedeutung überhaupt gesucht würde. Gern werden außerdem Einzelbeispiele herausgepickt und oberlehrerhaft berichtigt. Angesichts dieses Vorgehens muss man sich fragen: Können die Kritiker die ästhetischen Strategien der Autorinnen nicht verstehen, oder wollen sie nicht? Eines macht ein genauerer Blick auf die Rezensionen jedenfalls klar: Aus dem Nichtverstehen resultiert keineswegs ein Verstehenwollen. Es werden nur Fragezeichen gesetzt, nachgegangen wird ihnen nicht. Anstelle einer angemessenen Auseinandersetzung gibt es nur oberf lächliche Betrachtungen, formale Mittel werden genauso wenig eingeordnet wie die Stoffe und Motive der Autorinnen. Dafür fällt das Urteil umso schärfer aus. Da würden »laufend Nichtigkeiten aufgebauscht, Triviales macht sich wichtig« (Reents), da sei ein Buch »banal und oberf lächlich« (Scheck).

Was ist daran misogyn? Der Ausschluss von weiblichen Texten aus der Sphäre der ›hohen Literatur‹ läuft traditionell ganz wesentlich über die Abqualifizierung der Themen, die als unwichtig und damit zugleich als nicht literaturfähig gelabelt werden.20 Das begann mit Sophie von LaRoches Geschichte des Fräuleins von Sternheim, dem ersten in Deutschland von einer Frau veröffentlichten Roman, und es funktioniert bis heute. Eng verknüpft mit diesem Klassiker, ohne den kaum ein Kritiker auskommt, wenn es gilt, Literatur von Autorinnen abzuwerten,

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Joanna Russ: How to Suppress Women’s Writing. Austin: 1983, S. 48.

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ist der Kitschvorwurf. Reents findet, die Gefühle von Hermanns Protagonistin seien »früher im Übrigen etwas für Kitschromane« gewesen, Drees stellt in seiner Besprechung von Miroloi einen Bezug zu »Schnulzen, Schmonzetten und Erbaulichkeitstraktaten« her; Scheck urteilt über Ohde: »Das ist reiner Sozialkitsch.« Und in seinem Totalverriss von Julia Francks Roman Rücken an Rücken diagnostizierte Hubert Winkels nicht nur »spektakuläres« Scheitern und »maximales erzählerisches Unglück«, sondern befand ihn auch für »Kunsthandwerk der sprödesten und ödesten Art«, das sich der »literarischen Mittel des Kitsches« bediene.21 Dabei findet die Banalisierung allzu oft in den Köpfen der Kritiker statt, die literarische Bezüge nicht erkennen, Texte systematisch unterschätzen und es vor lauter »Ärger« (Scheck, Reents) vermeiden, sich genauer mit ihnen zu befassen. Um Missverständnissen vorzubeugen: Es geht hier nicht darum, pauschal zu behaupten, die Rezensionen hätten grundsätzlich positiv ausfallen müssen. Natürlich dürfen Romane verrissen werden, auch die von Frauen. Es geht darum, dabei nicht Persönliches und Ästhetisches zu vermengen und vor allem keine frauenfeindlichen Klischees zu reproduzieren. Es geht darum, dass die Auseinandersetzung zu oft nicht angemessen ist, weil die Kritiker Traditionen weiblichen Schreibens nicht kennen, weil sie ihre LeGuin und ihre Atwood nicht gelesen haben, weil sie sich mit diesen Themen und Formen nicht beschäftigen. Es geht darum, dass Kritiker, die oberf lächlich aburteilen und verärgert persönliche Verrisse produzieren, ihre Arbeit nicht tun. »Mir fehlt in der Debatte um weibliche Kunst und Weiblichkeit im Öffentlichen immer ein einziges Wort«, sagt Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek: »Verachtung.« »Seltsamerweise spricht es nie jemand aus, nicht einmal Feministinnen, vielleicht weil sie es sich nicht eingestehen wollen, doch es ist bezeichnend für das, was die Frau für ihre Arbeit bekommt, auch wenn das eben nie ausgesprochen wird. Die Verachtung des weiblichen Werks.«22 David Hugendick von der ZEIT sagte Anfang 2021 im Podcast Lakonisch Elegant von Deutschlandfunk Kultur, er glaube, die Geste des Großkritikers, der von einem Werk gelangweilt sei und es im großen Schwung aburteile, sei mittlerweile vorbei; die Literaturkritik bewege sich inzwischen eher in Bereichen, wo auch mal gezweifelt oder das eigene Urteil als vorläufig anerkannt werde, wo auch aktiv über die eigene Perspektive auf ein Buch nach-

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Hubert Winkels: Geisterbahn DDR. In: Die Zeit, 3.11.2011. Elfriede Jelinek: Verachtung. In: Ilka Piepgras (Hg.): Schreibtisch mit Aussicht. Zürich und Berlin: Kein und Aber 2020, S. 137.

Misogynie in der Literaturkritik

gedacht werde.23 Diese respektvolle Art der Literaturkritik gibt es natürlich auch. Es gibt aber auch immer noch die Kritiker, die persönliche Angriffe der übelsten Sorte nicht scheuen.24 (Auch wenn man darüber streiten kann, ob das noch Literaturkritik ist.) Dass Frauen Romane schreiben können und dafür Literaturpreise erhalten, zieht heute keine Artikel über angebliche ›Fräuleinwunder‹ mehr nach sich, wie es noch um die Jahrtausendwende der Fall war.25 Aber gerade die besonders erfolgreichen Autorinnen müssen damit rechnen, besonders heftig attackiert zu werden. Zufall? Die Philosophieprofessorin Kate Manne sieht genau hier einen Zusammenhang: Misogynie, die in einer Kultur latent vorhanden war oder schlummerte, kann sich manifestieren, wenn die Fähigkeiten von Frauen deutlicher zutage treten und daher demoralisierender und bedrohlicher wirken. Daraus können mehr oder weniger subtile Formen von Angriffen, Moralismus, Wunschdenken und bewusster Verleugnung erwachsen wie auch jene Art unterschwelliger Ressentiments, die unter der Oberf läche schwären und an Sündenböcken und Abbildern zum Ausbruch kommen.26

Genau das ist es, was auch im 21. Jahrhundert noch passiert: Je präsenter und erfolgreicher Autorinnen werden, desto schärfer und persönlicher werden die Attacken.

Verdrängte Traumata und der öffentliche Diskurs Ebenfalls kein Zufall dürfte es sein, dass diese Verrisse sich überwiegend Büchern widmen, in denen spezifisch weibliche Lebensumstände oder gesellschaftliche Missstände geschildert werden, wie die ungerechte Verteilung von Sorgearbeit oder Formen von Rassismus und Sexismus. Allen Besprechungen ist gemein, dass diese Probleme inhaltlich nicht aufgegriffen, sondern abgewehrt und als Vorwurf an die Autorin zurückgespielt werden. 23 24

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David Hugendick in »Wie bespricht man Vielfalt?«, Lakonisch Elegant, Der Kultur-Podcast, DLF Kultur, 14.1.2021. Die mangelnde Scheu muss gleichwohl nicht groß antrainiert werden, da kriegerische Schreibweisen und agonale Zuspitzungen, wie die Arbeiten von Christoph SchmittMaaß: Kritischer Kannibalismus. Eine Genealogie der Literaturkritik seit der Frühaufklärung. Bielefeld 2018 und Dirk Rose: Polemische Moderne. Stationen einer literarischen Kommunikationsform vom 18.  Jahrhundert bis zur Gegenwart. Göttingen 2020 unlängst gezeigt haben, integrale Bestandteile des literaturkritischen Habitus sind. Vgl. hierzu auch den Beitrag von Michael Pilz in diesem Band. Volker Hage: Ganz schön abgedreht. In: Der Spiegel 12, 22.3.1999. Kate Manne: Down Girl. Die Logik der Misogynie. Berlin: 2019, S. 177.

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Hajo Steinert warf Marlene Streeruwitz damals im Literarischen Quartett vor, ihre Beschreibung des Alltags, der Gedanken und Gefühle ihrer Protagonistin sei »Nabelschau, purer Narzissmus, Exhibitionismus«. Und Anton Thuswaldner stört sich daran, dass Simone Hirths Figur sich mit ihrem »verkniffenen Lamento« »gleich an die ganz Großen« wende mit ihren Briefen. Sie ist ihm nicht »bescheiden« genug, »jedem wirft sie sich an den Hals, um mitzuteilen, wie arm sie dran ist«, und nie gehe es um die anderen! Ganz ähnlich findet Scheck es »wirklich unerträglich, dass diese Ich-Erzählerin die Gründe für ihr soziales Scheitern, für ihr beruf liches Scheitern als Schülerin überall sucht, nur nie bei sich selbst«. »Unglaublich larmoyant« sei sie, und eben das mache »das Schreckliche an diesem Buch« aus, »weil Entschuldigung, wir leben hier in einer Gesellschaft, die eine große Möglichkeit des Aufstiegs einräumt«. Darum geht es also. Daher der Furor, deshalb konnte die Kritik nicht weniger heftig ausfallen. Schecks zentraler Einwand gegen das Buch, das für ihn so »Unerträgliche« ist die vermeintliche Anspruchshaltung und Undankbarkeit dieser autofiktionalen Frauenfigur, die die Schuld für etwaige Missstände gefälligst bei sich selbst suchen soll. Sollte dem Kritiker tatsächlich vor lauter Ärger entgangen sein, dass es in Deniz Ohdes Buch nicht nur um die Ausgrenzung einer jungen Frau mit Migrationsgeschichte geht, sondern eben darum, was ihr Fortkommen so schwierig macht und sogar zentral darum, wie ihr eigenes Verhalten dazu beiträgt und woher es rührt? Wenn die Abwehr so groß ist, wenn ein Buch, wie in den hier zitierten Kritiken, so radikal niedergeschrieben und ihm noch die Berechtigung abgesprochen wird, überhaupt veröffentlicht zu werden (Thuswaldner über Hirth), dann wird es um mehr gehen als um seine ›Qualität‹. Der US-amerikanische Kanonforscher Todd McGowan hat sich mit der Frage beschäftigt, warum bestimmte Werke, die inzwischen zum Kanon der amerikanischen Literatur gehören, lange Zeit über nicht einbezogen wurden. Seine Antwort: Weil die in den Werken von Frauen und Schwarzen, von BIPoC und LGBTQIA beschriebenen Traumata sich mit der Weltsicht derjenigen, die den öffentlichen Diskurs beherrschten, nicht vereinbaren ließen. Weil diese sich mit dem Erzählten auch inhaltlich hätten beschäftigen müssen, wären die Werke schon früher für wert befunden worden, besprochen und gelehrt zu werden. Ein Umdenken fand erst statt, als im Zuge der Bürgerrechtsbewegung Textzeugnisse wie slave narratives wieder gedruckt und gelesen wurden  – Textzeugnisse, die keinesfalls aus diffusen Gründen in Vergessenheit geraten sind, vielmehr seien sie aktiv verdrängt worden. Denn andernfalls hätte eine

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Misogynie in der Literaturkritik

Auseinandersetzung mit diesen Bereichen der Geschichte stattfinden und eine ethische Verantwortung übernommen werden müssen. Vor dem Hintergrund der Sklaverei, der Kolonialgeschichte und der jahrhundertelangen Unterdrückung der Frau war der Ausschluss dieser ›anderen‹ Stimmen demnach immer schon politisch begründet, ist die ästhetische Begründung immer schon eine politische.27 Das politische Ziel hinter der (überwiegend dünnen) ästhetischen Argumentation der hier zitierten Verrisse scheint es, die gerade an Renommee und Einf luss gewinnenden Autorinnen einzuschüchtern, zu entmutigen und aus der intellektuellen Öffentlichkeit zu vertreiben. Wo Autorinnen lächerlich gemacht werden, wo über sie gesagt wird, sie könnten nicht denken, hätten nichts zu sagen und könnten nicht schreiben, ihre Bücher wären besser nicht veröffentlicht worden, da wird nicht nur dem Publikum gesagt: Das ist nichts! Nicht lesen, nicht ernst nehmen! Wo so persönlich und aggressiv geurteilt wird, da werden auch die Autorinnen selbst angesprochen: Was du zu sagen hast, interessiert nicht. Was du schreibst, ist nichts wert. Du hast hier nichts zu suchen. Halt den Mund. Schweig! Und genau das ist der Inbegriff der Misogynie. Denn der Begriff bezeichnet, so erklärt es Kate Manne, nicht den Frauenhass einzelner Personen, sondern ein System innerhalb der patriarchalen Gesellschaftsordnung, das Frauen kontrolliert und unterwirft, in die Schranken weist, zum Schweigen bringt. Und zum Teil gelingt das auch, in jedem Fall hat es Folgen. Marlene Streeruwitz nennt solche Vorgänge unmissverständlich den »Versuch der Vernichtung«. Das sei »ein Überlebenskampf« gewesen, »ob ich als Autorin danach überhaupt noch einen Atemzug tue«, sagt sie über den Verriss ihres ersten Romans im Literarischen Quartett wie über spätere Vorfälle: Wenn’s ganz schlimm hergegangen ist und der Ausweg der Selbstvernichtung so verführerisch war, dann hab ich mir immer gesagt »Die dürfen dich nicht kriegen«, und »die« sind so eine patriarchale Instanz, die sich in einzelnen Personen äußert. Das ist mir gelungen. Die haben mich nicht gekriegt.28

Die Schärfe solcher Attacken macht es den Autorinnen in einzelnen Fällen fast unmöglich, eine gesunde Distanz zu der Kritik einzunehmen und 27 28

Todd McGowan: The Feminine »No!«. Psychoanalysis and the New Canon. Albany 2000. Marlene Streeruwitz: Das war der Versuch der Vernichtung (27.6.2020). In: URL: https:// nachtundtag.blog/2020/06/27/das-war-der-versuch-der-vernichtung/ (abgerufen am 1.4.2021).

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gleichzeitig weiterhin zu schreiben. Judith Hermann weiß die vernichtenden Urteile offenbar einzuordnen und hat einen Umgang damit gefunden. Sie stellt fest, dass ihr erster, von Reents so verrissener Roman von einer Frau erzählt, die autonom sei, die nur noch Rücksicht auf sich selbst nehme, die fortgehe. Das provoziere. »Aber alles in allem glaube ich, dass es, wenn die Kritik so harsch und heftig wird, mehr um meine Person geht, als um meine Bücher.«29 Welche Möglichkeiten haben Autorinnen, darauf zu reagieren? In der Kulturratsstudie Frauen und Medien von 2016 sagt Julia Franck: »Diese Ignoranz, diese männliche Rezeptionsignoranz von weiblicher Kunst oder Literatur, die kann man als weibliche Künstlerin oder Literatin nur ganz schwer anprangern und etwas dagegensetzen, ohne sich selbst dabei beleidigt vorzuführen, ohne in die Ecke der Feministinnen abgedrängt zu werden und damit nur noch mehr geschlechtlich und eben nicht mehr ästhetisch wahrgenommen zu werden.«30 – Also schweigt sie. Der zweite Roman der Autorin Katharina Hartwell wurde von einem Kritiker so heftig verrissen, dass sie seitdem keine literarische Belletristik für Erwachsene mehr schrieb. Ohne Vorwarnung stieß sie, wie sie mir erzählte, auf Facebook zwischen Hochzeitsfotos der Verwandtschaft auf den Link eines Kritikers zu seiner vernichtenden Besprechung ihres Buches. Unter diesem Post entwickelte sich eine Diskussion, an der sich unter anderem weitere Kritiker beteiligten. Dort las sie zum Beispiel, sie könne »ja nicht mal deutsche Sätze schreiben«. Das Gehässige daran, dieses Absprechen jeder Kompetenz bewog sie, erstmal aufs Jugendbuch auszuweichen. Und da die Kinder- und Jugendliteratur, anders als die Höhenkammliteratur, eine Domäne ist, die den Frauen von jeher zugestanden wurde, dürfte sie dort vor derart harscher Kritik tatsächlich sicher sein. »Der Zutritt der Frauen in die Medienwelt« sei »eine von Mannes Gnaden«, schrieb Iris Radisch 2010: Natürlich gibt es auch in der Medienwelt so etwas wie Frauenförderung. Doch ist sie hier, was sie in der Männerwelt meistens ist – eine Art erweitertes Balz- und Brutpf legeverhalten. Und das ist beinahe auch schon alles, was junge Frauen von der Medienwelt erwarten können.31

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Judith Hermann im Gespräch mit Julia Encke: Ich bin von jeder Ankunft weit entfernt. In: URL: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/autoren/interview-judithhermann-ueber-ihr-buch-lettipark-14244080.html (abgerufen am 1.4.2021). Julia Franck: Frauen in Kultur und Medien. In: Deutscher Kulturrat e. V. (Hg.), Berlin 2016, S. 457. Iris Radisch: Die alten Männer und das junge Mädchen. In: Die Zeit, 18.2.2010.

Misogynie in der Literaturkritik

Das ist über zehn Jahre her, und inzwischen sind Frauen im Literaturbetrieb, sind auch Autorinnen noch mal präsenter und erfolgreicher als damals und treten dementsprechend selbstbewusst auf. Aber eben das provoziert. Auch noch im 21. Jahrhundert strafen männliche Literaturkritiker es systematisch ab, wenn Autorinnen gesellschaftliche Zustände kritisieren. Person und Werk einer Autorin werden bei der Gelegenheit unter Missachtung grundlegendster literaturkritischer Kriterien vermengt, Strukturen werden missachtet – Strukturen, die Hierarchien bilden, Macht verteilen und Themen nach wie vor zu vermeintlichen Frauenthemen machen. Gewünscht ist bei Autorinnen auch heute noch viel zu oft der »zärtliche Blick«, sind Dankbarkeit und Bescheidenheit. Es sind die Geschlechterklischees aus dem 19. Jahrhundert, die bis heute eine entscheidende Rolle spielen bei der Bewertung von Literatur.32

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Der Text ist ein Auszug aus: FRAUEN LITERATUR. Abgewertet, vergessen, wiederentdeckt von Nicole Seifert. Köln 2021.

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Kritik der Jagd- und Schießgesellschaft Leser müssen wir bleiben; wir werden uns nicht mit der zusätzlichen Glorie umgeben, die jenen seltenen Wesen zugehört, die obendrein Kritiker sind. Aber dennoch haben wir als Leser unsere Verantwortung und sogar unsere Bedeutung. Die Maßstäbe, die wir setzen, und die Urteile, die wir fällen, fügen sich stillschweigend der Atmosphäre hinzu und werden Teil der Luft, die die Schriftsteller atmen, während sie arbeiten. Ein Einf luss wird geschaffen, der auf sie einwirkt, auch wenn er nie seinen Weg in den Druck findet. Und dieser Einf luss, wäre er kenntnisreich, kraftvoll und eigenständig und aufrichtig, könnte von großem Wert sein eben jetzt, da die Literaturkritik sich notgedrungen in einem Schwebezustand befindet; da Bücher zur Musterung vorbeiziehen gleich der Prozession von Tieren auf einem Schießstand, und der Kritiker nur eine Sekunde Zeit hat zum Laden, Zielen und Schießen, und durchaus zu entschuldigen ist, wenn er Kaninchen für Tiger hält, Adler für Haushühner, oder gar nicht trifft und seinen Schuss an eine friedfertige Kuh verschwendet, die auf einem ferneren Felde grast.1

Virginia Woolf thematisiert in ihrem Essay die Frage, wie man ein Buch lesen sollte, und erwähnt dabei das »ziellose[n] Gewehrfeuer der Presse«2 und eine Literaturkritik, die sich als Jagd- und Schießgesellschaft versteht. Woolfs Beitrag erschien 1926 und tatsächlich findet man noch fast hundert Jahre später Literaturkritiker, die sich solcherart als Schützen zu verstehen scheinen. Unvergesslich bleibt in dieser Hinsicht Marcel Reich-Ranicki, der aus seiner Auffassung von Literaturkritik nie ein Hehl machte. Weder theoretisch in den Ausführungen zu seinem Verständnis als Literaturkritiker und von Literaturkritik – in ihr verberge sich ein »Bekenntnis, dem sich mehr oder weniger genau entnehmen läßt, welche Art Literatur der Kritiker anstrebt und welche er verhindern möchte«3 –, noch praktisch, etwa im »Literarischen Quartett« vom 14. August 1997, wo Reich-Ranicki, ohne auf den

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Virginia Woolf: Wie sollte man ein Buch lesen? In: Dies.: Der gewöhnliche Leser. Essays. Bd.  2. Hg. von Klaus Reichert. Deutsch von Hannelore Faden und Helmut Viebrock. Frankfurt a. M., S. 306–321, hier S. 318 f. Ebd. Marcel Reich-Ranicki: Nicht nur in eigener Sache. Bemerkungen über Literaturkritik in Deutschland. In: Ders.: Lauter Verrisse. Mit einem einleitenden Essay. Erweiterte Neuausgabe. München 1992. S.  11–45, S.  36. Vgl. zu den folgenden Ausführungen auch: Brigitte Schwens-Harrant: Literaturkritik. Eine Suche. Innsbruck 2008.

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vorliegenden Text bezogen gründlich zu argumentieren, diesen Text und sogar dessen Autor abwertete mit Aussagen wie: »Wir sollten uns mit solchen Büchern nicht beschäftigen, ob die nun Leser finden oder nicht finden. Was ist das für ein Zeug?«4 Und: »Es ist ein absolut erbärmliches Buch. […] Ich glaube nicht, dass das erste Buch Telemach gut gewesen ist. Wer ein derartiges Zeug schreibt –«5 Der Literaturkritiker  – und ich verwende hier vorerst absichtlich die männliche Form – erscheint so als ein Gatekeeper, der quasi per Amt feststellen darf, wer zugelassen wird, wer nicht. Als, um es mit Gilbert Adair zu sagen, Zollwächter: »Wie Zöllner werden auch Kritiker meist bei der Einfuhrkontrolle aktiv […] Und wie Zöllner verlieren sie, nachdem sie die intellektuelle Fracht, um es einmal so zu formulieren, begutachtet und allenfalls mit ihrem Stempel versehen haben, jedes Interesse am Objekt ihrer Inspektion.« 6 Mehr noch, der Literaturkritiker versteht sich als Richter. Die Lust zu schießen, um es mit Virginia Woolf zu sagen, die Lust zu richten, um es mit Michel Foucault zu sagen, ist offenbar menschlich, allzu menschlich. Ich glaube, Courbet hatte einen Freund, der eines Nachts aufwachte und schrie: »Urteilen, ich will urteilen.« Es ist verrückt, dass die Menschen so gerne urteilen. Überall wird ständig geurteilt. Ohne Zweifel gehört das Urteilen zu den einfachsten Dingen, die den Menschen gegeben sind. Und der letzte Mensch wird sich, wenn die letzte Strahlung endlich seinen letzten Feind in Asche verwandelt hat, hinter einen wackligen Tisch setzen, um dem Schuldigen den Prozess zu machen.7

Nicht das Argumentieren sei die eigentliche Domäne des Kritikers als Richter, meint Martin Seel, sondern: »Seine Waffe ist das Urteil: Er verfügt über die Macht oder die Kompetenz, oder maßt sie sich an, eindeutig Ja oder Nein

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Marcel Reich-Ranicki in: Das Literarische Quartett, 14. August 1997. Zitiert nach der Transkription in: Das Literarische Quartett. Gesamtausgabe aller 77 Sendungen von 1988 bis 2001. Zweiter Band. Berlin 2006, S. 658–663, S. 661. Ebd. S. 660. Gilbert Adair: Wenn die Postmoderne zweimal klingelt: Variationen ohne Thema. Aus dem Amerikanischen von Thomas Schlachter. Reinbek bei Hamburg 2003, S. 74. Michel Foucault: Der maskierte Philosoph. »Le philosophe masqué«, Gespräch mit C. Delacampagne, Februar 1980, in: Le Monde, Nr. 10.945, 6. April 1980: Le Monde-Dimanche, S. I und XVII. In: Ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Band IV. 1980-1988. Hg. von Daniel Defert und Francois Ewald unter Mitarbeit von Jacques Lagrange. Aus dem Französischen von Michael Bischoff, Ulrike Bokelmann, Horst Brühmann, HansDieter Gondek, Hermann Kocyba und Jürgen Schröder. Frankfurt a. M. 2005, S. 128– 137, S. 132.

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zu sagen.«8 Gerecht könne es dabei aber »immer nur scheinbar zugehen«, meinte Reinhard Baumgart, »ganz gleich, ob das jeweilige Gesetzbuch irgendein avantgardistisches Credo sein sollte oder nur auf den status quo ante pocht oder aber politische Nothilfe durch Literatur erwartet. Immer formuliert sich der Befund autoritär: als Urteil.«9 Ein autoritäres Urteil ist zudem stets entschieden. »Rezensionen nach diesem Modell imponieren allemal durch ihre Entschlossen- und Entschiedenheit. Sie hadern nicht, sie sagen Ja oder Nein.«10 Der Gerichtshof als Schauplatz der Literaturkritik. Da erscheint das Selbstverständnis des Kritikers als Anwalt oder Advokat geradezu gemäßigt. Reich-Ranicki, der eines seiner Werke Die Anwälte der Literatur11 nannte, sah sich selbst »in zwei Rollen« gleichzeitig, nämlich »als Rechtsanwalt und als Staatsanwalt«: »Das Ergebnis des Kampfes dieser beiden Seelen, des Gefechts auf dem Feld derartiger dialektischer Spannungen, die Summe der beiden Plädoyers, des verteidigenden und des anklagenden – das ist die Kritik […].«12 Die Metaphorik des Kampfes ist auffällig, Reich-Ranicki spricht im Folgenden sogar von einer »militante[n]« Auseinandersetzung,13 aber auch das Verständnis von Literaturkritik als Anklage ist zumindest erstaunlich: In wessen Namen also klage ich an? Die ehrliche Antwort auf diese Frage klingt pathetisch: im Namen der Literatur. Ich muß jede Seite des neuen Werks mißtrauisch lesen, ich muß es hartnäckig anzweifeln. Ich habe alles Schwache, Fragwürdige und Schlechte im Gegenstand der Betrachtung zu suchen. Es ist meine Aufgabe, dem Autor auf die Schliche zu kommen, ihn zu entlarven. Im Interesse der Literatur kann ich nicht zu streng sein. Mein Schützling ist auch mein Opfer.14

Man könnte hier noch endlos auch aktuelle Beispiele aufzählen. Mir geht es zunächst darum zu zeigen, worum es immer auch geht: Es geht um Autorität. Es geht um Macht. Es geht um Hierarchien. Rollenbilder wie jene des Richters oder Anwalts verraten das Selbstverständnis, sie zeigen die Position und Haltung, mit der man meint, sich der Literatur nähern und Urteile sprechen zu 8 9 10 11 12 13 14

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Martin Seel: Gestalten der Kritik. In: Jörg Huber u. a. (Hg.): Ästhetik der Kritik oder Verdeckte Ermittlung. Zürich, Wien, New York 2007, S. 21–27, S. 22. Reinhard Baumgart: Aussichten des Romans oder Hat Literatur Zukunft? Frankfurter Vorlesungen. Neuwied und Berlin 1968, S. 82 f. Ebd. S. 83. Marcel Reich-Ranicki: Die Anwälte der Literatur. Stuttgart 1994. Marcel Reich-Ranicki: Unser Grass. München 2005, S. 23. Zur männlich-martialischen Rhetorik in der Literaturkritik vgl. den Beitrag von Veronika Schuchter in diesem Band. Marcel Reich-Ranicki: Unser Grass (Anm. 12), S. 23.

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müssen. Dieses eigenartige und engführende Verständnis von Literaturkritik war laut Reinhard Baumgart bereits im Jahr 1968 eines der unzulänglich gewordenen Modelle der Literaturkritik: »man erkennt sie unfehlbar an ihrem Gestus: sie spielt am liebsten Gericht. Fragwürdig ist immer nur der Angeklagte, statt die Zulänglichkeit der Gesetze.«15 Diese Haltung ist es aber auch, die in den vergangenen Jahrzehnten zunehmend in Verruf geraten ist: zu Recht. Die Kritik an einer solchen Haltung wird in Zeiten von Internet, Blogs und Social Media lautstark öffentlich bekundet. So weit, so gut. Denn es kann nur von Vorteil sein, wenn das autoritäre Urteil öffentlich der Kritik ausgesetzt ist. Wenn es nicht mehr privilegierte Orte der Macht des öffentlichen Sprechens wie einst die etablierten Medien gibt, zu denen nur wenige Eingang erhielten. Wenn vielleicht das Wirklichkeit wird, was Literaturkritikerinnen wie Sigrid Löff ler sich gewünscht haben – dass nämlich Literaturkritik »den Leser« »durch Aktivierung seiner eigenen Urteilskraft«16 emanzipieren solle –, wenn Literaturkritik keine Einbahnstraße mehr darstellt und als großes offenes Gespräch denkbar und sogar möglich ist. Literaturkritik ist nun eben nicht mehr auf wenige Medien beschränkt – in denen der Platz dafür ohnehin weniger wird –, sie hat sich gestreut, in zig unterschiedliche Kanäle. Sie hat sich demokratisiert. Wer immer will, kann mitreden. Es genügt ein Internetzugang, ein Social-Media-Kanal. Wer öffentlich sprechen darf, dafür gab es früher einen engen Rahmen: der angestellte Redakteur, der die Erlaubnis von seinem Arbeitgeber bekam, die freie Kritikerin, die die Erlaubnis dafür von einem Redakteur bekam. Ein System der Einschränkungen und Lizenzen. Heute können sich prinzipiell alle beteiligen, die Zugang zum Internet haben. Eine schöne neue Literaturkritikwelt also? Nun, zunächst gilt anzumerken: Nicht alles, was von Literatur handelt, ist Literaturkritik – das gilt auch für traditionelle Medien. Das meiste, was nun das öffentliche Gespräch über Literatur dominiert, wäre genauer mit dem weiter gefassten Begriff »Literaturvermittlung« zu bezeichnen und viele Blogger bezeichnen sich auch als

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Reinhard Baumgart: Aussichten des Romans oder Hat Literatur Zukunft? (Anm. 9), S. 82 Sigrid Löff ler: Die versalzene Suppe und deren Köche. Über das Verhältnis von Literatur, Kritik und Öffentlichkeit. In: Wendelin Schmidt-Dengler, Nicole Katja Streitler (Hg.): Literaturkritik. Theorie und Praxis. Innsbruck, Wien 1999 (Schriftenreihe Literatur des Instituts für Österreichkunde 7), S. 27–39, S. 38.

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Literaturvermittler.17 Literaturkritik im engeren Sinn setzt voraus, dass gut argumentiert unterschieden und beurteilt wird. Bereits in der Diskussion darüber, wer denn das aber sein dürfe, welche Kompetenzen man mitbringen müsse, um über Literatur kritisch sprechen oder schreiben zu können, scheiden sich die Geister und entstehen Hierarchien. Sind es die guten alten Bildungsbürger, die hier weiterhin das Sagen haben, auch weil sie den Überblick von Homer über Joyce bis Ransmayr haben? Was aber, wenn die in dieser Hinsicht bestens ausgebildeten Kritiker und Kritikerinnen angesichts von Science-Fiction-Werken oder Graphic Novels versagen, weil ihnen etwa Intertextualitäten darin ebenso wenig auffallen würden wie anderen das Homer-Zitat? Diese Frage stellt sich erweitert und erst recht, wenn sie mit Blick auf Literatur aus verschiedenen Kulturen gestellt wird. Sie führt regelmäßig zu Konf likten und Diskussionen, die dann als Kriterien für »Autorität« nicht nur Kompetenz ins Spiel bringen, sondern etwa auch Biografie und Herkunft der Kritikerinnen und Kritiker. Was dann zu Fragen führt wie: Soll ein Buch nur besprechen, wer auch eine Ahnung hat von dem Leben, das darin dargestellt wird?18 Wer aber beurteilt und entscheidet das, und aufgrund welcher Autorität? Diese wenigen nur angedeuteten Beispiele zeigen: In der schönen neuen Literaturkritikwelt verschwinden die Probleme in Bezug auf Macht und Autorität nicht. Es gibt nicht weniger Macht, sondern sie ist anders verteilt. Es gibt nicht keine Autoritäten, sondern mehr Autoritäten. Es gibt nicht keine Hierarchien, sondern mehr Hierarchien, sie sind eventuell nicht immer sofort deutlich sichtbar. Das Thema der Macht, der Autorität, der Hierarchien ist nicht vom Tisch, es ist nur anders verteilt und damit auch unübersichtlicher. Und die Frage, wenn sie denn gestellt wird – und sie wird implizit ständig gestellt –, wer mächtiger ist als der andere, ist gar nicht so leicht zu beantworten. Ist es das wegen seiner Autorität oft angegriffene Feuilleton? Oder sind es längst schon auf lagenstarke Blogger*innen, Inf luencer*innen? 17

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Vgl. Linus Giese am 22.7.2020 im Deutschlandfunk Kultur: »Neue Stimmen sind zu begrüßen«. URL: https://www.deutschlandfunkkultur.de/debatte-ueber-literaturkritikneue-stimmen-sind-zu.1270.de.html?dram:article_id=481032 (abgerufen am 16.5.2021). Zur Diskussion vgl. das Gespräch von Mithu Sanyal, David Hugendick, Christine Watty und Katrin Rönicke im Deutschlandfunk Kultur, 14.1.2021: »Wie bespricht man Vielfalt?«. URL: https://www.deutschlandfunkkultur.de/diversitaet-und-deutsche-gegenwartslite ratur-wie-bespricht.3717.de.html?dram:article_id=490820 (abgerufen am 19.5.2021). Vgl. auch die Debatten um die Übersetzung von Amanda Gormans Inaugurationsgedicht The Hill We Climb. Wer darf übersetzen? Wer bestimmt das Dürfen? Die Fragen führen unweigerlich zu Fragen von Strukturen und Bedingungen und was sie ermöglichen bzw. verhindern.

Kritik der Jagd- und Schießgesellschaft

Gerade die Debatte um Peter Handke anlässlich der Verleihung des Literaturnobelpreises an ihn hat die Vielfalt der Orte der Kritik und der Argumentationsmöglichkeiten gezeigt, die heute bestehen, und die Veränderungen, die innerhalb weniger Jahre stattgefunden haben. Machtstrategien werden allerdings auch in diesen neuen Bereichen jenseits des etablierten Feuilletons sichtbar: Da werden Andersmeinende geblockt, da gibt es Shitstorms, die zur Zurücknahme von Äußerungen führen usw. Jeder neue Bereich bildet offenkundig seine Formen der Regelungen und Maßregelungen heraus, der Machtausübung, der Autorität, der Hierarchien. Auch so manche »Kämpfe« gegen das »etablierte Feuilleton« lassen sich als neue Fortsetzung der alten Jagd- und Schießgesellschaft lesen und erwecken den Anschein, als gäbe es zwei Bereiche, die gegeneinander kämpfen: Hier die neue, diverse, zeitgemäße, zukunftsorientierte Internet Community, da das alte, weiße, männlich dominierte, verstaubte Feuilleton. Oder, andersherum: hier das »elektronische Stammtischgeschnatter«19 und dort die professionelle Literaturkritik. Und dazwischen der berühmte Gap, ohne den es neuerdings gar nicht mehr geht. Doch wäre das eine der vielen platten Vereinfachungen, die der Polarisierung dienen, nicht aber der Analyse und schon gar nicht der Erkenntnis. Das beginnt schon bei den handelnden Figuren. Denn im Internet und in Blogs schreiben auch ›Feuilletonistinnen‹ und ›Feuilletonisten‹ und sie schreiben in feuilletonistischen Formen, es finden sich bestens argumentierte kritische Auseinandersetzungen mit Literatur, die sogar, weil Platz hier keine Rolle spielt, ausführlicher ausfallen dürfen als etwa jene im Print-Feuilleton. Und das klassische Feuilleton wird beileibe nicht mehr ausschließlich von »alten weißen Männern« betrieben, die die Literaturgeschichte auf die Goethezeit beschränken und kein einziges Werk einer Autorin in ihren Literaturkanon aufnehmen. Ein Dualismus – hier Feuilleton, da Internet-, Blogger- und Social-Media-Szene – ist daher Unsinn. Die meisten Akteur*innen verbindet das gemeinsame Anliegen, das öffentliche Gespräch über Kultur nicht verstummen zu lassen, und dieses Anliegen ist angesichts so mancher gesellschaftlicher Entwicklungen, bei denen die Kultur ihren schwindenden Stellenwert schmerzhaft zu spüren bekam, nicht gering zu schätzen. Dass in den neu

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Sigrid Löff ler am 16.7.2020 im Deutschlandfunk Kultur: Machen Blogger die Literaturkritik kaputt? URL: https://www.deutschlandfunkkultur.de/sigrid-loeff ler-ueber-ama teure-vs-profis-machen-blogger-die.1270.de.html?dram:article_id=480651 (abgerufen am 16.5.2021).

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gewonnenen Bereichen hingegen Fragen der Macht und Autorität keine Rolle mehr spielen, ist eine Illusion. Sie haben nur andere Formen angenommen, aber sie sind da. Daher ist das, was auch für das klassische Feuilleton stets notwendig gewesen wäre, für alle Bereiche des öffentlichen Sprechens über Literatur von gleicher Bedeutung, nämlich die kritische Befragung der Bedingungen, der Struktur und der Art und Weise, wie Literaturkritik betrieben wird. Nötig ist und bleibt also die Kritik der Kritik. Das griechische Substantiv κριτικὴ (kritiké) ist abgeleitet vom Verb κρίνειν (krínein). Es bedeutet »unterscheiden«, »urteilen« und dürfte aus dem Rechtsgebrauch kommen, darauf verweist Herbert Jaumann im Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft20. Der Weg ist also auch von der Etymologie her nicht weit zum Rollenverständnis als »Richter« und »Anwalt«. Die Kritik hat allerdings denselben Wortstamm wie die Krise und »kritisieren (Kritik betreiben)« heißt, um es mit Roland Barthes zu sagen, »so viel wie in Krise bringen«21. Das bedeutet, einer Kritik, die diesen Namen verdient, ist eher eigen, Misstrauen gegenüber Autoritäten zu säen, denn Formen des Dogmatismus herzustellen, oder wie Edward Said es beschrieb: Wenn sich Kritik weder auf eine Lehre noch auf eine politische Position reduzieren läßt und wenn sie in der Welt und zugleich sich ihrer selbst bewußt sein soll, dann besteht ihre Identität in ihrer Differenz zu anderen kulturellen Aktivitäten, zu Systemen des Denkens oder der Methode. In ihrem Mißtrauen gegenüber totalisierenden Begriffsbildungen, in ihrem Unbehagen angesichts von Verdinglichungen, in ihrer Unduldsamkeit gegenüber Zünften, Privatinteressen, Erbhöfen und orthodoxen Denkgewohnheiten ist Kritik am meisten sie selbst. Sie ist, wenn dieses Paradox gestattet ist, am wenigstens sie selbst genau in dem Augenblick, da sie beginnt, sich in ein geregeltes Dogma zu verwandeln.22

Das betrifft einerseits die konkrete Literaturkritik. Es gibt keine Kritik ohne Entscheidung, denn Kritik üben bedeutet unterscheiden und urteilen, und Urteile gibt es nicht ohne Entscheidung. Entscheidungen müssen aber nicht

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Herbert Jaumann: Literaturkritik. In: Harald Fricke (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 2. Berlin, New York 2007, S. 463–468, S. 463. Roland Barthes: Schriftsteller, Intellektuelle, Professoren. In: Ders.: Das Rauschen der Sprache. (Kritische Essays IV). Aus dem Französischen von Dieter Hornig. Frankfurt a. M. 2006, S. 339–362, S. 355. Edward W. Said: Die Welt, der Text und der Kritiker. Aus dem Englischen von Brigitte Flickinger. Frankfurt a. M. 1997, S. 45.

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als »höchstrichterliche Urteile«23 daherkommen. Entscheidung heißt zunächst einfach nur: Position beziehen. Entscheidung heißt nicht: so schnell feuern wie möglich, egal wen man trifft. Literaturkritiker werten also nicht nur einen Text, sondern sie üben auch Kritik der eigenen Kritik, oder um es mit Roland Barthes zu sagen: »Jede Kritik muß in ihrem Diskurs (sei es auch auf noch so diskrete und abgewandte Weise) einen implizierten Diskurs über sich selbst enthalten. Jede Kritik ist Kritik des Werkes und Kritik ihrer selbst.«24 Dazu gehört auch die Kritik der eigenen Sprache, des Stils, der Form – in ihr drückt sich auch die Haltung aus. Was Michel Foucault bereits 1980 anmerkte, ist nicht nur angesichts mancher Feuilletondebatten, sondern auch mancher Social Media Diskussionen heute noch unangenehm aktuell: Ich habe eine unangenehme Angewohnheit. Wenn die Leute so dahinreden, versuche ich mir vorzustellen, wie es wäre, wenn das Wirklichkeit würde. Wenn sie jemanden »kritisieren«, wenn sie seine Ideen »anprangern«, wenn sie »verurteilen«, was er sagt, dann stelle ich mir vor, diese Leute hätten tatsächlich einmal alle Macht über den so Kritisierten. Und ich nehme die von ihnen benutzten Ausdrücke in ihrer ursprünglichen, wörtlichen Bedeutung: »Zugrunderichten«, »Abschlachten«, »Zum Schweigen bringen«, »Begraben«.25

Kritik muss grundsätzlich Wertung stören, die sich ihrer Sache zu sicher ist.26 Doch kann sich Kritik dabei keineswegs nur auf den Text beziehen, immerhin ist dieser nicht allein in der Welt, und auch die Kritiker befinden sich in einer. (Und auch literaturkritische Wertungsmaßstäbe beziehen sich keineswegs nur auf formal-ästhetische Fragen.27) Literaturkritik wäre demnach weniger die Tätigkeit, in den eigenen Wissens- und Wertevorrat zu greifen und das, was man darin findet, großzügig und hochnäsig zu verteilen, sondern eher die Kunst, kritische Fragen zu stellen: an den Text, an sich selbst, an Leserinnen und Leser, an die Welt. Es gilt also genauso kritisch die eigenen Urteile, die angewandten Kriterien, die Hierarchie von Kriterien, (Literatur-)Theorien und Methoden und darüber hinaus auch die strukturellen Bedingungen zu ref lektieren. Kanones sollten ebenso wenig unkritisch 23 24

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Stephan Schaede: Nichts als Passivitäten? In: Jörg Huber u. a. (Hg.): Ästhetik der Kritik oder Verdeckte Ermittlung (Anm. 8), S. 131–139, S. 139. Roland Barthes: Was ist Kritik? In: Ders.: Am Nullpunkt der Literatur. Literatur oder Geschichte. Kritik und Wahrheit. Aus dem Französischen von Helmut Scheffel. Frankfurt a. M. 2006, S. 117–123, S. 119. Michel Foucault: Der maskierte Philosoph (Anm. 7), S. 130. Brigitte Schwens-Harrant: Literaturkritik (Anm. 3), S. 135. Vgl. Simone Winko: Textbewertung. In: Thomas Anz (Hg.): Handbuch Literaturwissenschaft. Bd. 2. Methoden und Theorien. Stuttgart 2007, S. 233–266.

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übernommen und weitergeführt werden wie allzu einfache Klassifikationen. Welche Interessen sind da am Werk, auch am eigenen? Welche Perspektiven nimmt man ein, in welchem Rahmen? Wo sind blinde Flecken? Kurz: Statt überhöhtem Selbst- und Sendungsbewusstsein braucht es Kritik an der eigenen Macht. Und eine stets neue Ref lexion der Bedingungen der Literaturkritik-Produktion. Ein besonderes Augenmerk ist dabei der Selektion zu widmen. Ein schreckliches Wort und dennoch kommt man nicht ohne es aus. »In ihrer informierenden Orientierungsfunktion verschafft sie einen Überblick über eine zunehmend unüberschaubare Zahl von Neuerscheinungen.«28 So fasst Thomas Anz eine der wesentlichen Aufgaben von Literaturkritik zusammen, und selbst wenn man bezweifeln möchte, dass es so etwas wie einen Überblick gibt, ist wohl unbestreitbar, dass Information und zumindest der Versuch einer Orientierung zum Selbstverständnis von Literaturkritikern und Literaturkritikerinnen gehören. Auch Stefan Neuhaus nennt diese beiden Funktionen als maßgebliche.29 Orientierung und Information gibt es nicht ohne Auswahl. Auswahl bedeutet: Man entscheidet, was reinkommt und was draußen bleibt. Auswahl ist teils ein ganz bewusster Vorgang, vieles aber »passiert« auch einfach nur, etwa weil Verlage oder Bücher übersehen werden. Dieses »Passieren« ist nicht minder von Bedeutung. Die Auswahl betrifft zudem nicht nur die zu besprechenden Bücher, sondern auch jene, die sie besprechen. Wer entscheiden kann, was von wem besprochen wird, ist nicht nur ein Gatekeeper,30 sondern er definiert auch das Tor, das er bewacht. Das gilt für das klassische Feuilleton wie auch für Literaturmagazine oder Blogs im Internet. Je nachdem, wem ich welches Buch zur Rezension überlasse, werde ich als Redakteurin eine solche oder solche Rezension erhalten. Mag jemand die Schreibweise von Friederike Mayröcker nicht oder kann mit dieser Art von Literatur nichts anfangen, werde ich eine völlig andere Rezension bekommen als von jemandem, der sich seit Jahren mit ihr auseinandersetzt. Macht zeigt sich also auch hier. Es gilt verantwortungsvoll mit dieser Macht umzugehen. Zur Kritik der Kritik gehört die Ref lexion von Fragen wie: Welche Bücher wähle ich aus, welche nicht und warum? Wie beeinf lusst mich die Größe, angebliche Bedeutung und das

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Thomas Anz: Literaturkritik. In: Ders. (Hg.): Handbuch Literaturwissenschaft. Bd.  1. Gegenstände und Grundbegriffe. Stuttgart 2007, S. 344–353, S. 346. Stefan Neuhaus: Literaturkritik. Eine Einführung. Göttingen 2004, S. 167. Vgl. ebd.

Kritik der Jagd- und Schießgesellschaft

Marketing der Verlage, die Präsentation in anderen Medien, ein (vielleicht) unausgesprochener Kanon, die Chefredaktion, der Konzern oder der Sponsor? Wie divers setzt sich die Redaktion personell zusammen? Analog für den einzelnen Redakteur, die Redakteurin: Wie divers ist die Gruppe der möglichen freien Mitarbeiterinnen? Wem gebe ich wann warum welches Buch? Wäre in manchen Fällen ein Pro und Contra angebracht? Oder – um die einfachen Pro-Contra-Polarisierungen methodisch zu durchbrechen  – die bewusste Einbeziehung mehrerer Perspektiven? Ermögliche ich Pluralismus, in der Auswahl der Literatur ebenso wie im Einholen der unterschiedlichen Meinungen? Und: Bei welchen Mechanismen arbeite ich mit / muss ich mitarbeiten? Gibt es im Rahmen meiner Tätigkeit Möglichkeiten, etwas auch einmal anders zu tun? (Zum Beispiel eine Unterbrechung gängiger Wertungen – indem man Lyrik größer präsentiert als einen Roman, oder eine weniger prominente Autorin größer als den Star oder diese zumindest gleichrangig behandelt –, oder des Mainstreams, indem man, während überall dasselbe Buch besprochen wird, eine eigene Entdeckung präsentiert etc.)31 Roland Barthes schrieb in seinem Aufsatz Der Tod des Autors: »das Bild der Literatur, das man in der gängigen Kultur antreffen kann, ist tyrannisch auf den Autor ausgerichtet, auf seine Person, seine Geschichte, seine Vorlieben und seine Leidenschaften.«32 Es ist einerseits schon erstaunlich, wie sehr Barthes’ Bestandsaufnahme aus dem Jahr 1968 heute mehr denn je Gültigkeit hat, andererseits ist dieses Phänomen begünstigt durch eine mediale Welt, die sich Barthes damals kaum vorstellen konnte. »Fleisch statt Wort« habe ich die Devise einmal pointiert genannt 33, um das Phänomen zu beschreiben. Für Autorinnen ist dieser Trend höchst ambivalent. Nicht nur im Literaturbetrieb wird der Körper vor allem von Frauen einerseits vermarktet, steht er andererseits in Diskussion, wird Kommentaren ausgesetzt. Ist frau jung und / oder hübsch, lässt sich das gut vermarkten, aber wie bekommt man die Diskussion dann wieder zurück zum Text? Und was ist mit jenen, die den Schönheitsidealen nicht (mehr) entsprechen? Diese Fragen betreffen die Autorinnen, und manches können sie selbst entscheiden. Doch auch die Literaturkritik betreibt auf ihre Weise diese Phänomene mit bzw. könnte sie bremsen. Auch in Printmedien etwa spielt die grafische Gestaltung eine große 31 32 33

Vgl. Brigitte Schwens-Harrant: »Ich möchte lieber nicht.« Literaturkritik und Markt. In: Sieglinde Klettenhammer (Hg.): Literatur und Ökonomie. Innsbruck 2010, S. 125–137. Roland Barthes: Der Tod des Autors. In: Ders.: Das Rauschen der Sprache. (Kritische Essays IV). Aus dem Französischen von Dieter Hornig. Frankfurt 2006, S. 57–63, S. 58. Brigitte Schwens-Harrant: Literaturkritik (Anm. 3), S. 13.

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Rolle. Welche Illustration kommt zum Text? Mache ich mit einem Foto des Körpers auf? Oder versuche ich andere Wege der Illustration? Literaturbeilagen gestalte ich daher inzwischen thematisch und grafisch einheitlich – so entkomme ich einerseits der Personalisierung, andererseits aber auch der platten Alternative dazu, nämlich etwa einen Liebesroman mit einem Liebespaar zu dekorieren. Da stößt freilich die Macht der Redakteurin längst an ihre Grenzen, braucht sie die Erlaubnis der Chefetage und die Mitwirkung anderer, etwa der Grafik. Sieht sich also eine Redakteurin im klassischen Feuilleton oder in Kultursendern im redaktionellen Handeln entsprechend eingeschränkt, so wird sie zusätzlich beauftragt, so viele Onlinebesuche wie nur möglich zu rekrutieren – und dieses Begehr und die Konf likte, die daraus entstehen, verbindet sie dann wieder mit anderen Schreibenden auf welchen Kanälen auch immer. Es gilt Aufmerksamkeit zu generieren – diese aber nicht auf Kosten der Autorinnen und Autoren und schon gar nicht des Körpers. Auch das wäre unter anderem stets bewusst zu ref lektieren, auch das wäre eine zeitgemäße Kritik der Kritik. Über Geschmack lässt sich nicht streiten, heißt es. Doch die Kunst zeigt ständig das Gegenteil: Über Geschmäcker und über Geschmacksurteile lässt sich sogar sehr gut streiten, und es ist gerade dieser Streit, der konstitutiv für Kunst ist. Denn den »Wert« als Kunstwerk erhält ein Werk durch die Diskussion der Prämissen, der Kriterien, der Beschaffenheit, der Wirkung etc.; »nur dort, wo auch tatsächlich ästhetische Urteile gefällt werden, um die mit ästhetischen Argumenten gestritten wird«, so Ruth Sonderegger, werden »Kunstwerke ins Leben gerufen« oder erwachen »zu neuem Leben«34; dort also, wo darüber diskutiert wird, was Kunst ist und was nicht, was gelungen und was nicht, wo versucht wird, das zu argumentieren – in der Galerie, im Internet, im Feuilleton, wo auch immer. Der Ort ist für diesen Streit nicht von Belang, entscheidend ist der Streit um Bewertungen und um die jeweiligen Kriterien für die Bewertungen. Dieser Streit wäre kein Streit, gäbe es nicht andere Urteile, gäbe es nicht die Vielfalt der Urteile. Wenn Literaturkritiken unterschiedlich ausfallen, ist das kein Armutszeugnis für die Literaturkritik, sondern ein Zeugnis für den Reichtum der Literatur. Es braucht keine Einigung auf ein Urteil, wichtig ist

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Ruth Sonderegger: Für eine Ästhetik des Spiels. Hermeneutik, Dekonstruktion und der Eigensinn der Kunst. Frankfurt a. M. 2000, S. 333. Vgl. dazu Brigitte Schwens-Harrant: Literaturkritik (Anm. 3), S. 149.

Kritik der Jagd- und Schießgesellschaft

der Prozess selbst, der Streit, die Auseinandersetzung mit anderen Positionen und Argumenten. Es braucht ein öffentliches Miteinander-Reden von Menschen, die respektvoll und kritisch ihren Standpunkt, ihre Perspektive und ihre Machtposition ref lektieren. Es braucht dieses Reden, das nicht auf Autorinnen und Autoren zielt und nicht aus Vergnügen an der Macht richtet. Es braucht dieses Reden, das Leserinnen und Leser nicht indoktriniert und das öffentliche Gespräch über Literatur und Kunst nicht blockiert, sondern es eröffnet. Wir brauchen es dringender denn je.

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»Alles, was Frauen und Männer lieben!?« Literaturtipps und Konstruktion von Geschlecht in den Publikumszeitschriften Bunte und Playboy Bunte und Playboy sind Publikumszeitschriften mit großer Reichweite im deutschsprachigen Raum, die auch regelmäßig Literaturtipps veröffentlichen. Laut von den Verlagen bekannt gegebenen Mediadaten lukrieren die Kernzielgruppen von Bunte und Playboy ein mittleres bis höheres Haushaltsnettoeinkommen, jene des Playboy um monatlich 500  Euro mehr. Auch weist die Kernleserschaft des Playboy einen höheren Anteil an Hochschulabsolvent/inn/en auf. Einen deutlichen Unterschied gibt es in der Altersstruktur. So ist die Kernleserschaft der Bunten 30 bis 64 Jahre alt, während der Großteil der Leser/innen des Playboy im dritten und vierten Lebensjahrzehnt steht. Eklatant ist die Differenz in der Kategorie »Geschlecht«: Der Frauenanteil unter den 3,49 Millionen Leser/inne/n der Bunten ist hoch: 80,7 %.1 Noch höher ist der Männeranteil unter den rund 797 000 Leser/ inne/n des Playboy: 90 %.2 Wenig verwunderlich, da der Untertitel der Zeitschrift »Alles, was Männer lieben« lautet – was zur zentralen Frage dieses Beitrags führt: Was ist es, was aus der Sicht von Bunte und Playboy die jeweilige Leserschaft anspricht? In Hinblick auf diese Frage sowie im Rahmen von kultursoziologischen, kultur-, gender- und vergnügungstheoretischen Überlegungen sollen im Folgenden die Literaturtipps in Bunte und Playboy mit Bezug zum Kontext der redaktionellen Beiträge diskursanalytisch untersucht werden.

Korpus und Fokus der Analyse Die Zeitschrift Bunte erscheint in der Papierform seit dem Jahr 1954 im Verlag Hubert Burda Media. Vom selben Verlag wurde bis Ende 2019 und seit 17  Jahren auch der Playboy als Lizenz des weltweit bekannten US-Unternehmens herausgegeben, das sich seit dem Jahr 2020 in erster Linie auf die 1 2

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Vgl.: https://bcn.burda.de/marken/national/titel/bunte/ (abgerufen am 28.2.2021). Vgl.: https://bcn.burda.de/marken/national/titel/playboy/ (abgerufen 28.2.2021).

»Alles, was Frauen und Männer lieben!?«

Internetpräsenz konzentriert und nur mehr sporadisch gedruckte Ausgaben zu Spezialthemen auf den Markt bringt. Mit Jahreswechsel 2019/20 ging die deutsche Playboy-Lizenz an die Kouneli Media GmbH, die Gründung einer ehemaligen führenden Mitarbeiterin und eines ehemaligen führenden Mitarbeiters von Burda Media. Bunte und Playboy erscheinen auch als OnlineVersionen (diese erreichen vor allem jüngere Zielgruppen, veröffentlichen keine regelmäßigen Literaturtipps) und werden als Marken von Burda betreut.3 Der Korpus der Analyse besteht aus 80 Ausgaben der Bunten, die wöchentlich erscheint, sowie 18 Ausgaben des Playboy, der monatlich veröffentlicht wird. Gesammelt wurden sie im Zeitraum vom 1.  September 2019 bis zum 31. Jänner 2021. Im Mittelpunkt der Analyse stehen die Literaturtipps im Kontext der redaktionellen Beiträge und mit Fokus auf Subjektkonstruktionen und deren Einbettung in ›Weltbilder‹. Die zentralen Fragen sind: An welche Diskurse oder Standpunkte im Diskurs schließen die beiden Zeitschriften an? Von welchen Akteurinnen und Akteuren ist die Rede und wo und wie finden diese ihren Raum? Welche Handlungsspielräume sowohl im Tun als auch im Fühlen und in der (Selbst)Ref lexion bzw. welche Selbstvergewisserung stehen ihnen offen? Die Analyse ist nicht daran interessiert, zu überprüfen, ob die empfohlenen Bücher ihre Empfehlung bzw. die Art und Weise, wie diese vorgenommen wird, bestätigen oder rechtfertigen. Daher erscheint es auch nicht wichtig, zu wissen, welche Buchtitel und welche mehr oder weniger bekannten Autorennamen genannt werden. Entscheidend ist der Blick auf die Darlegung selbst und wie sie in Hinblick auf die oben genannten Fragen konstruiert ist. Die Analyse läuft auf die abschließende Frage hinaus, inwieweit im Rahmen der Literaturtipps in Bunte und Playboy Genderrollen oder -klischees bestätigt oder gebrochen werden. Dabei muss von Anfang an klar sein, dass populäre Zeitschriften4 und die darin vorgestellte populäre Literatur5 eher im Mainstream liegen und große alternative Entwürfe, aber auch fundamentale Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen nicht erwartet werden können. Beide Zeitschriften kommen aus dem liberalen bis konser3 4

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Vgl. die entsprechenden Websites der Verlage – mit weiteren Informationen zur Verlagsgeschichte und zu den Aktivitäten auf dem digitalen Markt. Vgl.: Axel Kuhn: Zeitschriften und Medienunterhaltung. Zur Evolution von Medien und Gesellschaft in systemfunktionaler Perspektive. Wiesbaden 2018, bes. S.  160 ff. (Kapitel 7), S. 220 ff., S. 243, S. 249 f., S. 270, S. 274. Vgl.: Christian Huck: Was ist Populärliteratur? Oder doch eher, wann ist Populärliteratur? 18.1.2013 URL: http://www.pop-zeitschrift.de/2013/01/18/was-ist-popularliteraturoder-doch-eher-wann-istpopularliteraturvon-christian-huck18-1-2013/ (abgerufen am 28.2.2021).

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vativen Lager. Obzwar man ›mit der Zeit‹ geht, neue Entwicklungen aufgenommen oder zumindest zur Diskussion gebracht werden, sind die diskursiven Rahmenbedingungen ähnlich.

Layout-Vergleich, Relationen weiblicher und männlicher Köpfe Aufgrund des wöchentlichen Erscheinens der Bunten mit meist drei Literaturtipps per Heft können im Beobachtungszeitraum vom 1. September 2019 bis zum 31. Jänner 2021 120 Literaturtipps gezählt werden. Insgesamt werden in der Bunten 221 Titel vorgestellt, doch die restliche Menge umfasst Bücher aus anderen Waren(sub)gruppen, insbesondere Sachbücher (Flora, Fauna und das Thema Nachhaltigkeit werden bevorzugt) sowie Ratgeber, Kochbücher und Bildbände.6 In den 18  Monatsausgaben des Playboy aus demselben Zeitraum werden 4 Literaturtipps pro Heft veröffentlicht, insgesamt sind es 72. Die Sichtbarkeit der Literaturtipps in der Bunten ist mäßig gut, sie erhalten wenig Platz und befinden sich auf einer Seite, die zur Doppelseite der Rubrik »Die BUNTE Woche« gehört. Es gibt kleine Abbildungen der Buchcover, der Text umfasst meist einen kurzen Satz pro Buch. Im Playboy wird den Literaturtipps wesentlich mehr Raum gegeben. Für sie ist eine ganze Seite reserviert. Die Ästhetik des Playboy wirkt gegenüber der Ästhetik der Bunten aufgeräumt und fokussiert. Die vier empfohlenen Bücher werden als Gruppe fotografisch inszeniert, und mit jeder Ausgabe des Playboy formiert sich das Grüppchen neu. Die Qualität der Aufnahme ist hoch, das Setting auf spezifische Weise arrangiert. Die Bücher lehnen aneinander oder stehen beieinander wie in einem locker gefüllten Bücherregal oder auf dem Podest einer Kunstausstellung. Zu sehen sind Buchrücken und Cover. Der Text der Playboy-Literaturtipps ist zentriert, und er ist umfangreicher als in der Bunten, drei oder vier Sätze oder Halbsätze sind es meist. Den Tipps ist zudem ein Autorname zugeordnet, jener eines Journalisten und Literaturbloggers,

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Weitere Buchtipps für Warengruppen jenseits von Belletristik und Unterhaltung finden sich in jedem Heft der Bunten. Der dazugehörige redaktionelle Beitrag befasst sich meist mit einer prominenten Person aus Film, TV, Politik oder Sport, die eine Lebenskrise überwunden und dies zu Papier gebracht hat. Oder es finden sich passende Ratgeber zu medizinischen Problemen und Behandlungsmethoden, die in den entsprechenden Rubriken der Zeitschriften erläutert werden. Auch in der Rubrik »Art News« wird immer wieder ein opulenter Kunstband empfohlen.

»Alles, was Frauen und Männer lieben!?«

der auch für die Süddeutsche oder den Spiegel online schreibt. Auch die Literaturtipps in der Bunten können zwei Redakteuren zugeordnet werden, einem Duo, bestehend aus dem Leiter und einer Mitarbeiterin aus dem Ressort »Kultur und Salon«, die entweder gemeinsam oder einzeln aufscheinen. Die Signatur allerdings bezieht sich nicht genuin auf die Literaturtipps, sondern auf die Gesamtheit der Doppelseiten in der Rubrik, in der die Tipps eingefügt sind. In Hinblick auf Geschlechtergerechtigkeit (siehe nachfolgende Tab.  1) muss die Zusammensetzung der Redaktionen sowie das Verhältnis von Autorinnen und Autoren ernüchtern, wobei der Playboy seinem Image als Männermagazin und der Ausrichtung auf eine in erster Linie männliche Zielgruppe entspricht. Der Verfasser der Literaturtipps ist ein Mann, von 72 empfohlenen Titeln wurden nur 8 von Frauen verfasst. BUNTE-Buchtipps

BUNTE-Literaturtipps

PLAYBOY-Literaturtipps

Hefte: 80 (wöchentlich) Titel: 221 Autorinnen: 108 (45,2 %) Autoren: 131 (54,8 %)

Hefte: 41 (wöchentlich) Titel: 120 Autorinnen: 61 (49,6 %) Autoren: 62 (50,4 %)

Hefte: 18 (monatlich) Titel: 72 Autorinnen: 8 (11 %) Autoren: 65 (89 %)

Tab. 1

Bedenklicher ist die Lage in der Bunten. Als eine Zeitschrift, die vor allem Frauen als Zielgruppe im Blick hat, operiert sie mit einem Redakteur als Leiter der für die Literaturtipps zuständigen Redaktion. Und bei den Titeln wird ein ausgeglichenes (und somit den Großteil der Leserschaft ohnehin nicht widerspiegelndes) Verhältnis von weiblicher und männlicher Autorschaft knapp verfehlt. Allerdings kommt es offenbar nicht ausschließlich auf die nach Geschlecht zählbaren und gezählten Köpfe an. Unabhängig von der Zusammensetzung der Redaktion werden einschlägige weibliche GenreVorlieben bedient. So sind laut einer bekannten Studie von Splendid Research folgende Genres in absteigender Reihenfolge bei Leserinnen beliebt: Krimis und Thriller (ein ›All-Gender‹-Interesse), Liebesromane und Historische Romane (genderspezifisch).7 Dieselbe Verteilung und Hierarchie bilden auch die Literaturtipps in der Bunten ab.

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Vgl.: Splendid Research GmbH: Bücherstudie Deutschland. Eine repräsentative Umfrage unter 1.031 Deutschen zu Leseverhalten und Buchvorlieben. Hamburg 2017, S. 8 URL: https://www.splendid-research.com/de/studie-buecher.html (abgerufen am 28.2.2021).

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BUNTE: Das »Selbst-in-Beziehung« und sein Schicksal Die Zeitschrift Bunte bietet ›Klatsch und Tratsch‹ mit hohem Glamourfaktor, der sich auch in hoher Papier- und Druckqualität und einem Preis von 3,90 Euro in Deutschland und 4,10 Euro in Österreich pro Exemplar niederschlägt. Wie vergleichbare Zeitschriften, die für ein breites Publikum über das Leben und den Lebensstil von Prominenten aus TV, Film, Social Media, Mode, Politik und Sport berichten, muss die Bunte einen spezifischen Balanceakt bewältigen. Einerseits wird der Stoff so auf bereitet, dass es möglich ist, die beobachteten Eliten zu bewundern, andererseits wird die Botschaft vermittelt, dass sie nicht zu beneiden wären oder ihre Position (ein recht unrealistisches Anliegen ohnehin) wenig erstrebenswert sei. Auch ganz oben wird, so die entsprechende Darlegung und Interpretation, viel gelitten und gestritten, oder es fehlen Anstand, Würde und Moral. Darüber hinaus wird eine spezifische Form von auf- und absteigender Dramaturgie eingesetzt, in deren Rahmung Bilder und Botschaften der Freude jene des Leidens ablösen und umgekehrt. Ein besonders anschauliches Beispiel dafür sind die beiden Titelblätter. Zunächst feiert die Bunte das Glück eines prominenten Paares, das auf einer bekannten und beliebten Ferieninsel heiratet bzw. geheiratet hat. In der nächsten Ausgabe vermutet die Zeitschrift einen Zwist, da der Vater der Braut bei den Hochzeitsfeierlichkeiten nicht gesichtet wurde. Angedeutet werden Konf likte um Geld und Bräutigam, den der Vater (einer erwachsenen und als Geschäftsfrau erfolgreichen Tochter, man achte auf die in dieser Relation angelegte und implizierte patriarchale Vorstellung und Asymmetrie) nicht zu akzeptieren scheint. Dass Publikumszeitschriften mit Verallgemeinerungen, Klischees und spezifischen Dramaturgien arbeiten, ist bekannt – auch dem Publikum, das weiß, was es erwarten darf: eine emotionale Achterbahn, in die es einsteigen kann, mit einem (hoffentlich) selbstgewählten Maß an »Moodmanagement«8 und ohne selbst betroffen zu sein  – eine der wichtigsten Funktionen des Populären und der Unterhaltung. Für die zentrale Frage dieses Beitrags, jener nach der Subjektkonstruktion, ist noch eine weitere Beobachtung interessant. Wie anhand der Titelblätter ersichtlich ist, steht zweimal ein Paar im Mittelpunkt. Und Paare dominieren das Cover. Beide Hefte und alle 80 Ausgaben der Bunten eröffnen eine Welt, in der ein »Selbst-in-Beziehung«9 von

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Vgl. Kuhn (Anm. 4), S. 307–311, S. 313 f. Dieser Begriff wurde in den 1980er Jahren von folgender Studie zu populärer Literatur und weiblichen Lesevorlieben in die Diskussion gebracht, er erweist sich nach wie vor als

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zentraler Bedeutung und omnipräsent ist. Auf dem Großteil der Fotos werden die abgebildeten Personen in Relation zu anderen gesetzt. Entlang der Erläuterungen der beigefügten Schlagzeilen oder der redaktionellen Texte wird immer wieder betont, wie sehr sich die porträtierte oder interviewte Prominenz für die Belange ihrer nächsten Partner/innen begeistert, etwa: »Ich blicke ehrfürchtig zu meiner Frau auf« (B20/2020, S. 78 f.). Die Beziehung sorgt für Trost und Stütze, z. B.: »Meine Anna hat mir das Leben gerettet« (B18/2020, S. 88 f.). Für das Wohl des anderen wird mitunter »alles« aufgegeben (vgl. etwa der Top-Titel in B4/2020 sowie B2/2021, S.  24 f.). Unter Trennungen oder einem »bitteren Ehe-Aus« wird massiv gelitten (z. B. der Top-Titel in B50/2019). Zur Scheidung ist es gekommen, weil die nächste große Liebe erschien (ein häufig genanntes Motiv), oder eine Beziehung musste beendet werden, in der es um die Frage von Tod oder Leben ging: »Ich hätte es nicht überlebt« (Top-Titel in B 10/2020). Konsequenterweise findet sich unter 80 Ausgaben nur ein einziges Heft, in der die Person, die zentral auf dem Cover präsentiert wird, mit sich selbst beschäftigt ist. Und die Fokussierung hat keinen beglückenden Grund, sondern erscheint als Folge einer bedrohlichen Krankheit, die Ängste hervorruft: Ein Herzleiden wurde entdeckt, und es könnte eine gefährliche Operation nach sich ziehen. (Vgl. B33/2020) Die Strategie der Bunten besteht darin, trotz einiger Bekenntnisse gegen Schönheitswahn, Dominanz des Partners und sexuelle Gewalt, für starke Frauen und mehr Präsenz von Frauen in Medien und Politik, klischeehafte Sehnsüchte und Tugenden wie Liebe, Partnerschaft zu befriedigen und Familie, Sorge und Fürsorge als zentrales allgemein-menschliches Interesse oder Anliegen zu markieren. Ob prominenter Mann oder prominente Frau, ob Schauspieler/in, TV-Moderator/in, Sportler/in oder Politiker/in, ob heterosexuell oder divers, ob getrennt wohnend oder in einem gemeinsamen Haus, in der Darlegung der Bunten und in den Interviews sprechen die meisten von ihnen dieselbe Sprache, verfolgen denselben Lebenstraum und bestätigen ein vermeintlich allesverbindendes und allseits angestrebtes Ideal und Normativ: die Liebe. Diese wird in erster Linie begriffen als Nähe, Treue und innige Begegnung zweier verwandter Seelen und als eine Grundlage, deren logische Konsequenz Elternschaft und Familiengründung ist. Ein Leben ohne beständige Partnerschaft oder ohne Kinder wird bedauert oder ein sehr fruchtbarer Ansatzpunkt: Janice A.  Radway: Reading the Romance. Women, Patriarchy, and Popular Literature. With a New Introduction by the Author. Chapel Hill, London 1991, bes. S. 147 (»the self-in-relation«) oder auch S. 218 (»fate«).

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gerechtfertigt. Beruf liche Leistungen, unternehmerische Erfolge und politische Überzeugungen erscheinen weniger wichtig: »Wenn man wirklich liebt, merkt man, was wichtig ist.« (B31/2020, S. 40 f.) – »Unsere Ehe ist uns wichtiger als jeder Formel-1-Sieg.« (B33/2020, S. 72 f.) – »Seine Familie ist ihm wichtiger als jeder Pokal.« (B36/2020, S. 24)

Strukturen jenseits von Partnerschaft und Familie, selbst Freundschaften werden ausgeblendet. Affären werden gebilligt, sofern über sie wie über eine langjährige und dezente Beziehung berichtet werden kann: »Aus unserer Affäre wurde die große Liebe.« (B30/2020, S. 36 f.) – »Mein Leben als Geliebte von Helmut Kohl. Die geheime Affäre des EinheitsKanzlers enthüllt intime Details aus ihrer langjährigen Liebesbeziehung. Der erste Kuss, wie oft sie sich trafen, was er ihr schenkte und warum er sogar Ehefrau Hannelore verlassen wollte.« (B36/2019)

Konzepte und Begriffe wie Sicherheit, Schutzbedürftigkeit, Versöhnlichkeit und Ernst werden gegen Freiheit, Risiko, Aggression (in ihrem besten Sinn), Spaß und Lust ausgespielt. Spiele der Lust und Macht werden nicht (offen) ausgelebt oder genossen (»Wir müssen wieder mit dem Herzen denken!«, B53/2020, S. 74 f.; »Ich habe mich geweigert, die Machtspiele mitzuspielen« B36/2020, S. 88 f.), oder sie laufen verdeckt als Intrige ab und sind reaktiv wie Rache: »Letizias späte Rache  – Juan darf seine Enkel nicht sehen« (B3/2021, S.  22 f.). Machtspiele müssen erlernt werden, weil ihnen nicht immer ausgewichen werden kann: »Wir Frauen müssen die Machtspiele der Männer lernen.« (B44/2020, S. 42 f.) Das zentrale Band, das die Beziehungen zusammenhalten soll, sind Gefühle, die in erster Linie positiv konnotiert sind und nicht unter den Verdacht geraten, ein f lüchtiger Grund zu sein, auf dessen Boden die angestrebten verbindlich-soliden Verhältnisse nicht (dauerhaft) gedeihen können. Und so kommt dem Konzept des Schicksals eine zentrale Rolle zu, nämlich jene, die launenhaften Wendungen in Beziehungen und rund um Subjekte, die sich in erster Linie auf Gefühle, die Liebe und ihre nächsten sozialen Kontakte verlassen, zu repräsentieren und zu erklären. Ebenso stehen in der Bunten einzelne Vertreter/innen der jüngeren Generation vor einem Dilemma, das sie sich durch ihr Festhalten an zwei widersprechenden Liebesvorstellungen oder Lebensentwürfen selbst eingebrockt haben: »Auch ich kann mich nur schwer festlegen und hab keine Lust, mich emotional leichtfertig zu binden.« (B14/2020, S. 41). Offenbar kann nicht erkannt (oder veröffentlicht) werden, dass der Preis für mehr Freiheit eine verminderte Sicherheit oder

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heit ist, und so wird Freiheit letztlich wieder abgelehnt bzw. man findet moralisierend-distanzierte Worte dafür: »leichtfertig«. Diese generelle Ausrichtung spiegeln auch die Literaturtipps. Gefühl(e), Liebe (und deren »Turbulenzen«) sowie Schicksal sind darin die häufigsten genannten Stichwörter und Themen, darüber hinaus: »Familie«, »Haus« und Umgebung. Verführungen werden mehr befürchtet als aktiv betrieben. Gefahren und Bedrohungen, meist »Abgründe« genannt, verfolgen einen eher, als dass man sie sucht oder sie selbst repräsentiert. Von meist reaktiv-folgsamer Dimension sind zudem die Erwartungen, die in Hinblick auf das Lektüreerlebnis geschürt werden: die Bücher »führen«, »entführen« und »nehmen« die Leser/innen »mit«. Dezidiert und explizit bewertet wird kaum. Sprache ist »wunderschön« und poetisch. Der Lesestoff und das, woran er sich anlehnt, wird ernst genommen. Nur zwei der empfohlenen 120 Bücher scheinen etwas Keckheit und Spaß bzw. einen distanzierten Beobachtungsstandpunkt zu vermitteln. Groß ist der Spielraum in den Schauplätzen der Handlung, die in beliebten touristischen Regionen und Städten angesiedelt sind und sich als Punkte von Europa über Übersee und Australien bis zum Weltraum verteilen.

PLAYBOY: Das autonome Selbst und seine Dynamik Mit der subjekttheoretischen Fokussierung auf ein »Selbst-in-Beziehung« lässt die Zeitschrift Bunte eine Lücke offen, die der Playboy mit Freude und Lust besetzt. Man versteht sich als eine Bastion des autonomen Selbst, das unmissverständlich männlich konnotiert ist  – zumindest auf den ersten Blick. Zu beobachten ist, dass der Playboy neben den obligaten weiblichen Aktfotografien auch auf Akzente wie Singularität und Meisterschaft setzt, und unter derartigen Blickwinkeln können Frauen wahrgenommen werden, die es zu den entsprechenden Erfolgen gebracht haben. Dahinter verbirgt sich freilich ein Leistungsbegriff, der implizit männlich codiert ist und der besonders erfolgreiche Frauen als Ausnahmen in einer Liga mit ihren männlichen Widerparts sieht. Die Cover der zwei Dezemberausgaben zeigen »weltmeisterliche« Fotos berühmter Aktfotografinnen, darunter Ellen von Unwerth und Anna Dias sowie eine Retrospektive auf Helmut Newton. Das Cover der Oktoberausgabe 2020 ziert der Akt einer »Weltmeisterin«, eines »Schwimmstars«, »eine der stärksten Frauen der Welt […] auf ihrem Weg zu paraolympischem Gold«. Als gewitztes Spiel im Rahmen der Kriterien der Playboy-Welt erweist sich das Interview der umstrittenen Kabarettistin Lisa

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Eckhart, das im Novemberheft 2020 zu lesen ist und belegt, wie eine Frau mit großer Schlagfertigkeit und Chuzpe im Playboy reüssieren kann: »Ich schätze es, wenn Männer schwer zu haben sind. Es verdirbt mir das Spiel, wenn ich nur einsammeln muss.« (P11/2020, S. 14) Seit den Anfängen zu Beginn der 1950er Jahre ist der Playboy von Widersprüchen geprägt. Mit einem Heftpreis von 6,90 Euro in Deutschland und 7,30 Euro in Österreich, hochwertigem Layout sowie Hochglanz-Fotografie gibt man sich einerseits verfeinert und dandyhaft-elegant, etwa wenn das männliche Sammlerherz angesprochen wird, das sich u. a. für erlesene Uhren, Zigarren und Spirituosen, selbstverständlich auch PS-starke Autos, Mode und raffinierte Cocktail- und Kochrezepte interessiert. Andererseits bedient man sich des klischeehaften Bildes des männlichen Steinzeitmenschen, der sich auf jede verfügbare Frau stürzt und keine Möglichkeit für Sex auslässt. Es ist, als wäre man in den 1960er Jahren stehen geblieben, kurz vor oder nach der sexuellen Revolution – beständig die eigene Unverfrorenheit und Unartigkeit herausstellend und mit Spießigkeit und Verklemmtheit als den größten Feinden. Im Playboy ist der Blick auf Sex und Vergnügen ausschließlich heterosexuell bzw. heteronormativ. Im Rahmen von Genderfragen, die vor allem in der Rubrik »Streitschrift« aufgeworfen werden, pf legt man das Missverständnis, dass Gender-Kritiker/innen und Feminist/inne/n den »Unterschied zwischen den Geschlechtern« abschaffen wollten, weil sie »Penis und Vagina« als »soziale Konstrukte« (P1/2020, S. 70) definieren würden. Man versteht nicht oder will nicht verstehen, dass es nicht um biologische Unterschiede geht (die zudem bei 1 % der Bevölkerung nicht so ausgeprägt sind, wie es die Lehre von der polaren Geschlechterordnung vorschreibt), sondern um die daran sich anschließenden gesellschaftlichen und moralischen Bedeutungen und Bewertungen, speziell, wenn diese asymmetrisch angelegt sind und männlich Konnotiertes dem weiblich Konnotierten vorgezogen wird. Wie sehr sich die damit verbundenen Klischees verfestigen können und sich auch gegen jene wenden, die sie vertreten, zeigt sich in demselben Artikel. Dessen Autor ist »Facharzt für Neurologie, Psychiatrie« sowie »Psychotherapeut« und gemäß der von ihm vertretenen Thesen müsste er beispielsweise Autoverkäufer, Maschinenbauingenieur oder eben eine Frau sein, denn: »Schon als Säuglinge springen Jungen stärker auf Dinge an und Mädchen auf Menschen.« (P1/2020, S. 71). In einer anderen Playboy-Ausgabe allerdings kommt ein Autor zu Wort (und auch auf das entsprechende Buch wird hingewiesen), der sich mit toxischer Männlichkeit beschäftigt. (vgl. P1/2021, S. 124 f.)

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Im Playboy wird die Problematik des in der Bunten vertretenen Liebesideals und -normativs mit Süffisanz oder auch Larmoyanz wahrgenommen, aber nicht gelöst: etwa im Vorwurf der »Empathie-Pornographie« (P9/2020, S.  72 f.). Man entzieht sich durch Flucht in die Idealisierung des Nachtlebens, speziell von Prostitution, wobei ein Aspekt hervorgehoben wird, nämlich, dass Bordelle auch besucht werden, weil es dort leichter fällt, wieder zu gehen und es beim sexuellen Genuss zu belassen. (vgl. P3/2020, S. 103). Hochgehalten wird ein Selbst, dem Trennung leicht fällt und das sich in erster Linie als Kämpfer definiert, als Soldat, der keine Mühe und Plage scheut, als Kumpel für Abenteuer und Rausch, als vordergründig selbstkritischer und hintergründig stolzer Egomane, an dessen Weg in die Zivilisation die Spuren der bewunderten wilden Herkunft markiert sind: »Ich hatte ein Testosteron-Brett vor der Birne.« (P11/2020, S. 98) – »Ich war wie ein Barbar aus dem Dschungel.« (P12/2020, S. 15) Man geht davon aus, brutale Spiele und eiserne Regeln meistern zu können, »Widerstände zu überwinden« (P2/2021, S.  72) und die Konkurrenz besiegen zu können: »Über kurz oder lang war ich überall, wo ich war, der Chef.« (P10/2019, S. 62) Was in der Bunten auf ein ärgerliches, trauriges oder bitteres Drama hinausläuft, ist im Playboy eine mit Ehrgeiz bewältigte Bewährungsprobe oder Leistungsschau. Diese wird mehr oder weniger lässig, nicht ohne Ängste (vgl. P12/2020, S. 60–65) und mit vorzeigbaren Narben absolviert, wobei man darüber lacht, Witze macht (eine eigene Witzeseite gibt es auch) und mit emotionaler Distanz berichtet, was einem widerfahren ist – so etwa ein männliches Missbrauchsopfer (als Jugendlicher im Internat), das davon erzählt, dass ihm bald später »in netterer Form« in die Hose gegriffen worden sei. (P10/2020, S. 58) Die Playboy-Literaturtipps schließen sich der diskursiven Ausrichtung der redaktionellen Beiträge an. Darüber hinaus erscheint alles noch komprimierter und übertriebener, es stößt an die Grenze zur Parodie. Mit Begeisterung wird bewertet und gelobt: z. B. »außergewöhnlich«, »bis heute unübertroffen«, »der 21. Band der Reihe – einer der besten«, »die besten Seiten stiller Nächte«, »grandios«, »gültiger denn je«, »filmreifer Stoff«, »höchste literarische Ebenen«, »mächtiges, prächtiges Werk«, »monumental«. Der Autor feiert und genießt die eigene Pointiertheit und Rasanz und vor allem auch den »rasanten« oder »lakonisch«-»klaren« Schreibstil der empfohlenen Bücher. Autos und andere Rauschmittel werden hervorgehoben, ebenso (mitunter skurrile) Objekte der Technik sowie Einblicke in die Hintergründe der Entertainmentindustrie oder des Literatur- und Kulturbetriebs, die Kennerschaft und Insiderwissen versprechen. In romantischen und zärt-

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Gerda E. Moser

lichen Gefühlen schwelgt man selten, aber ausgeschlossen ist es nicht. Bevorzugt wird das »Knistern« von Erotik und Leidenschaft – »besser als jeder Porno« (P9/2019, S. 122). Betont wird, dass sich die Helden (und vereinzelte Heldinnen) mutig und bravourös ihren Problemen stellen und in ihre Abenteuer »stürzen«, und dass sie es vor allem tun, um den Leser/inne/n zu gefallen und großes Vergnügen zu bereiten: »Die entspannendste UrlaubsUnterhaltung sind die Probleme der anderen. Deshalb versprochen: Unsere August-Protagonisten haben es nicht leicht.« (P8/2020, S. 124) Auf der Liste der Figuren finden sich Sieger und »Überf lieger«, Gefallene, Gescheiterte und Geschlagene, deren Misserfolge auch mit Ironie oder Humor, sehr oft mit Distanz, mitunter als ein genussvoller Absturz betrachtet werden. Entgegen den Einsichten von u. a. Pierre Bourdieus Kritik am Patriarchat10 werden Strukturen gefeiert, die auch die Herrschenden unterwerfen und zu aufopferungsvoller Verausgabung oder zur Flucht in rauschhafte Formen der Selbstschädigung zwingen. Im Vergleich zu den Figuren in den Literaturtipps in der Bunten kommen die Figuren in den Literaturtipps des Playboy noch etwas weiter herum, »jetten« rastlos um die Welt und bewegen sich oft in Krisengebieten, wo es um nichts anderes geht, als sich durchzukämpfen und zu überleben.

Fazit: Diskursive Verschränkungen und Ausschlüsse 80 Ausgaben Bunte und 18 Hefte Playboy bieten aufschlussreiche Einsichten und Erkenntnisse, die dieser Beitrag zusammenzufassen und zu systematisieren versucht hat, doch eine Frage kann nicht beantwortet werden: Wie geht das auf diese Weise angesprochene Publikum damit um? Nimmt man das ernst? Macht man sich darüber lustig? Mag man das? Ärgert man sich darüber? Wie die alltägliche Erfahrung belegt, werden die Zeitschriften auch mit einer gewissen Beschämung gelesen, gelten als nicht besonders niveauvolle »Lektüre beim Friseur« oder werden bei der Kasse am Supermarkt mit dem Cover nach unten auf das automatische Band gelegt. Die Analyse der Rezeption wäre also einen eigenen Beitrag wert und ein Forschungsprojekt. Der sogenannte »Content«, also die Texte der Literaturtipps und redaktionellen Beiträge, stellen in beiden Fällen Ereignisse eines regelgeleiteten 10

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Vgl. Pierre Bourdieu: Die männliche Herrschaft. Aus dem Französischen von Jürgen Bolder. Frankfurt a. M. 2005.

»Alles, was Frauen und Männer lieben!?«

Sprechens dar, das mit problematischen Spaltungen und Ausschlüssen operiert. Beide Diskurspositionen laufen jeder Form der Dialektik von Individuum und Gesellschaft sowie Nähe und Distanz zuwider. Hüben ein einseitiges Selbst, das nicht anders kann (und soll) als beständig in Beziehung zu leben und in den damit verbundenen Akzenten zu denken bzw. vor allem zu fühlen. Drüben ein einseitiges Selbst, das sich als extrem unabhängig und wirksam wahrnimmt (sowie wahrnehmen muss), keinem Konf likt oder Kampf aus dem Weg geht, sich und andere schädigt sowie in großer emotionaler Distanz verbleibt. Damit könnte die reale einzelne Person nicht glücklich werden, weder als weibliches noch als männliches Subjekt. Damit wird die Gesellschaft in Lager eingeteilt, die sich in grundsätzlichem Missverstehen gegenüberstehen müssen und es kaum miteinander aushalten können. Und damit wird auch deutlich, wie notwendig gendertheoretische Ansätze sind, die diese Festschreibungen hinterfragen und auf heben wollen und durchaus bereits bestehende alternative Konzepte und Lebensentwürfe wahrnehmen und weiterentwickeln können. In den beiden Zeitschriften geht man nicht komplett daran vorbei, aber man nimmt nur mit, was sich ohne Friktionen in das geschlossene Weltbild einfügen lässt. Die gegenseitigen Ergänzungen sind so passgenau, dass man den Publikumszeitschriften eine immense Wichtigkeit in der Reproduktion der normativen Ordnung zuschreiben kann. Sie setzt sich in den Literaturtipps nahtlos fort, in denen die Art und Weise, wie Literatur besprochen wird, die diskursiven Muster reproduziert und damit die Literatur zur Stütze eines Gesellschaftsbildes macht, das unlebbar, aber auch unausweichlich scheint. Zu vermuten ist, dass die Diskurse so verfestigt sind, dass sie von einzelnen Köpfen nicht aufgebrochen werden können. Deutlich sichtbar wird, dass sich männliche und weibliche Redakteure und eine Verlegerin in die Vorgaben einfügen, die die Zeitschriften, unter deren Ägide und Markenidentität gearbeitet wird, festgelegt haben. Das bedeutet nicht, dass die Förderung vor allem weiblicher beruf licher Werdegänge wenig bringt (auf jeden Fall etwas für das Individuum selbst), das bedeutet vor allem auch, dass ref lexive und gesellschaftliche Rahmenbedingungen geschaffen und verstärkt werden müssen, die die Fronten auf brechen und eine Fluktuation innerhalb der beiden Seiten und zwischen den Lagern ermöglichen. Das diskursive und lebensweltliche Festnageln eines weiblichen Publikums auf die Aufgaben in Beziehung und Familie hält davon ab, Schritte in eine weitere und größere Welt zu wagen, die eben auch von Auseinandersetzungen und Wettbewerb geprägt ist, die nicht nur mit einem primär emotionalen Zugang bewältigt werden können. Und auch männliche emotionale Distanz und Autonomie

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kann nicht alles in den Griff bekommen und regeln. Letztlich befindet man sich in einem abgehobenen Raum, von dem aus der verantwortungsvolle Schulterschluss geschafft werden müsste zu den ausgeblendeten Voraussetzungen, die die eigene Freiheit tragen, und der das Ausgeliefertsein an die Freiheit mildert.

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Der Literaturbetrieb als visuelles Regime Marc Reichwein

Der Literaturbetrieb als visuelles Regime Zur Poetik der Unsichtbarkeit bei Elena Ferrante Im Werk von Elena Ferrante entfaltet sich eine Poetik der Literaturbetriebskritik, die mit der strategischen Öffentlichkeitsverweigerung der italienischen Bestsellerautorin korrespondiert. Denn sowohl in der Romantetralogie Neapolitanische Saga (2011–2014) als auch in dem Beiwerk Frantumaglia: Mein geschriebenes Leben (2003) zeichnet Ferrante ein Zerrbild öffentlich bekannter Autorschaft. Dieses Bild lässt sich in Korrelation zu Ferrantes selbstgewählter pseudonymer und visuell anonymer Autorschaft analysieren. Indem Ferrante ihre persönliche Sichtbarkeit als Autorin verweigert, bricht sie mit klassischen Konventionen des literarischen Feldes, um die es im ersten Teil des Beitrags gehen soll. Im zweiten Teil wird anhand von Selbstäußerungen in Frantumaglia aufgezeigt, wie sehr Ferrante Öffentlichkeitsverweigerung als einen schriftstellerischen »Kulturkampf« begreift. Zuletzt wird die literarische Umsetzung der Literaturbetriebskritik an ausgesuchten Beispielen der Romantetralogie erörtert. Deren Protagonistin, die Schriftstellerin Elena Greco, erfährt den Literaturbetrieb als visuelles Regime, dem auch genderrelevante Aspekte zu eigen sind, die auf sexistische Strukturen im literarischen Feld verweisen.

Sichtbarkeit als Konvention des literarischen Feldes Was sie schreiben. Wie sie aussehen, heißt ein Werbe-Bändchen, das 1954 als 100. Titel der rororo-Taschenbuchreihe aufgelegt wurde. Er führt den Konnex zwischen der Urheberschaft literarischer Werke und ihrer visuellen Repräsentanz im Medium des Autorenfotos geradezu ostentativ vor.1 Die literarische Öffentlichkeit, lernt man dort, liebt und verlangt den lebensweltlich beglaubigten Autor: »Literarische Anonymität ist uns unerträglich; wir akzeptieren sie nur als Rätsel«, heißt es bei Michel Foucault.2 Dass die Schrift-

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Vgl. Was sie schreiben. Wie sie aussehen. Hamburg 1954. Vgl. Michel Foucault: Was ist ein Autor? In: Fotis Jannidis u. a. (Hg.) Texte zur Theorie der Autorschaft. Stuttgart 2000, S. 198–229, hier 213.

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stellerin Elena Ferrante ihre öffentliche Präsenz als Person verweigert, ist ein Affront gegen die vorherrschende Logik des literarischen Feldes, das seit der Erfindung der modernen Autorschaft auf Sichtbarkeit basiert: Urheberrechtlich, werkpolitisch aber auch paratextuell muss ein Autor markiert sein. Buchmarkt, Literaturkritik und Leser, ja selbst Vertreter einer klassischen Autorenphilologie folgen einem Konzept von Autorschaft, das sich explizit und implizit aus der Präsenz und Repräsentanz einer Autorenperson ableitet, sei es leibhaftig bei Veranstaltungen oder sei in Form medialer oder posthumer Präsenz durch Fotografien, Biografien, Gedenkorte, Wohnstätten, Werkausgaben. Gleiches gilt für Gérard Genettes Kategorie des Paratextes, die im Grunde einen großen multifunktionalen Werkzeugkasten von Konventionen für die Präsenz und Präsentation von Autorschaft in der literarischen Öffentlichkeit beschreibt.3 Elena Ferrante verweigert die wohl wichtigste Währung paratextueller Performanz: die persönliche Erscheinung. Visuelle und akustische Präsenz in Form von Fotografien, öffentlichen Auftritten oder persönlichen Begegnungen mit Journalisten unterlässt Ferrante komplett, gelegentliche Interviews gibt sie ausschließlich schriftlich. Damit reiht sich die Autorin in eine Tradition der Öffentlichkeitsobstruktion ein, deren Vertreter von der literarischen Öffentlichkeit gern als Sonderlinge charakterisiert, kritisiert und sogar popkulturell parodiert werden. Thomas Pynchon läuft mit einer Tüte über dem Kopf durch mehrere Folgen der Simpsons.4 Ein Journalist hat vor Jahren treffend gemutmaßt, Pynchon habe womöglich schlicht »keine Lust, eine Person des öffentlichen Lebens zu sein. Prominent sein ist ja auch eine gigantische Zeitverschwendung«5. Auch Elena Ferrante firmiert in der italienischen Presse seit Jahrzehnten als »La scrittrice senza volto«6. Das Narrativ der »Schriftstellerin ohne Gesicht« haben die internationalen Medien7 und sogar die Verlage übernommen, wie der Klappentext zur Taschenbuchausgabe von ihrem Roman Frau im Dunkeln bei btb beweist:

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Vgl. die Formulierungen »präsentieren« und »präsent machen«, gleich in der Eingangspassage von Gérard Genette: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Frankfurt a. M. 1989, S. 9. Aufritte in fünf verschiedenen Folgen listet das Simpsons-Wiki auf, URL: https://simp sonswiki.com/wiki/Thomas_Pynchon_(character) (abgerufen am 27.3.2021). Vgl. Tobias Rapp: So liest sich Pynchon. In: tageszeitung, 7.12.2006, S. 4 Sogar im gleichen Medium wiederholen sich die Überschriften, vgl. La Repubblica vom 26.  Oktober 2002 und La Repubblica vom 4.  Dezember 2006, zitiert nach Ferrante, Elena: La Frantumaglia. Rom 2016, 173; 195. Vgl. »The Writer Without a Face« im Interview von Entertainment Weekly (USA) mit Elena Ferrante, zitiert nach Elena Ferrante: La Frantumaglia. Rom 2016, S. 230.

Der Literaturbetrieb als visuelles Regime Elena Ferrante ist eine äußerst erfolgreiche und zugleich geheimnisvolle Autorin. Ihre ersten beiden Romane stürmten die italienische Bestsellerliste, aber zu Gesicht bekommen hat Elena Ferrante noch niemand. Mal heißt es, sie scheue die Öffentlichkeit und habe sich auf eine griechische Insel zurückgezogen. Mal wird spekuliert, dass der Name ein Pseudonym sei.8

Das ist für eine offizielle Verlagsinformation auffällig journalistisch formuliert und trägt zu jener »Mystifikation« bei, die bereits Gerhart Söhn in einer klassischen Betrachtung zum Pseudonym in der Literatur als die eigentliche »Provokation« literarischer Pseudonymität beschrieben hatte.9 Literaturbetriebsepistemisch kündet der Fall Elena Ferrante vor allem davon, wie sehr es die literarische Öffentlichkeit durch alle Instanzen irritiert, wenn sich eine Autorin den allgemeinen Konventionen der Sichtbarkeit entzieht. Denn Autorschaft lässt sich von der Bildnispolitik10 der frühen Neuzeit über das moderne Autorenfoto11 bis zu den sozialen Netzwerken12 konsistent über Kategorien der Sichtbarkeit charakterisieren. »Nur wer sichtbar ist, findet auch statt«, lautet eine Maxime des Social-Media-Zeitalters – in diesem Fall sogar der Titel für den Ratgeber einer Inf luencerin.13 Selbst da, wo Autoren sich der Sichtbarkeit nicht entziehen, reagieren sie auf deren Zumutungen. Einschlägig wurden Hermann Hesse, der entgegen seiner späteren Ikonisierung durch den Suhrkamp-Verlag in einer frühen Phase seiner Karriere beschied, »dass mein Gesicht die Leser nichts angeht«14, oder der gegen jede Art von

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Elena Ferrante: Frau im Dunkeln. München 2010. Vgl. Gerhart Söhn: Literaten hinter Masken. Eine Betrachtung über das Pseudonym in der Literatur. Berlin 1974, 127. Weiterführend zur Profilierung durch Anonymität auch Thomas Wegmann: Zwischen Maske und Marke. Zu einigen Motiven des literarischen Inkognito. In: Jörg Döring u. a. (Hg.): Verkehrsformen und Schreibverhältnisse. Wiesbaden 2016, S. 128–140. Daniel Berndt u. a. (Hg.): Bildnispolitik der Autorschaft. Visuelle Inszenierungen von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. Göttingen 2018. Sandra Oster: Das Autorenfoto in Buch und Buchwerbung. Autorinszenierung und Kanonisierung mit Bildern. Berlin 2014. Vgl. Miriam Zeh: Mit der Power der Follower zum Bucherfolg? Social Media im Literaturbetrieb. In: Deutschlandfunk Kultur, Zeitfragen vom 11.9.2020, URL: https://on demand-mp3.dradio.de/file/dradio/2020/09/11/mit_followerpower_zum_bucherfolg_ podcast_feature_drk_20200911_1930_fe584226.mp3 (abgerufen am 14.6.2021). Tijen Onaran: Nur wer sichtbar ist, findet auch statt. München 2020. »Das Publikum ist ohnehin so anspruchsvoll gegen seine ›Lieblinge‹ und sucht sie so zu tyrannisieren, dass man nichts unnötig preisgeben sollte, auch nicht seine Visage.« Weiter mokierte Hesse sich: »Die Leute beschäftigen sich ohnehin unnötig viel mit den Personalien der Autoren, so dass man gern wenigstens seine Nase für sich behält, sonst kommt man sich wie ein öffentlicher Garten vor, wo keine Ecke mehr privat ist.« Zitiert nach Volker Michels (Hg.): Hermann Hesse. Sein Leben in Bildern und Texten. Frankfurt a. M. 1979, S. 90.

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Plakathaftigkeit allergische Robert Walser: »Werd auch ich eines Tages mein Plakat haben?«, fragt, melancholisch-selbstironisch, der Ich-Erzähler in einem von Walsers Prosastücken.15 Walser, Hesse, Pynchon und Ferrante – sie alle eint der Unmut gegen den, wie Walter Benjamin es nannte, »Ausstellungswert«16 von Autorschaft in der Medienmoderne.

Unsichtbarkeit als Kulturkampf Wer sich hinter dem Namen Elena Ferrante verbirgt, ob es sich um eine weibliche, männliche oder aus mehreren Personen gespeiste und fingierte17 Autorschaft handelt, wissen wir trotz detektivischer Enthüllungen und notorischer Spekulationen bis heute nicht.18 Der detektivische Diskurs soll an dieser Stelle ausdrücklich nicht bemüht werden, denn der Vorgang ist insofern müßig, als das »Phantom Ferrante«19 keinerlei verlagsoffizielle Bestätigungen oder Dementi erfährt, was vermeintliche Enthüllungen angeht. Literaturwissenschaftlich produktiver erscheint es, Ferrante als möglicherweise nur fingierte Vertreterin eines Autorschaftsmodells zu betrachten, das mit den Konventionen und Ritualen des Literaturbetriebs auffällig vertraut und von ihnen zugleich desillusioniert ist. In Ferrantes Werk Frantumaglia, das Briefe, Interviews und Selbstauskünfte der Schriftstellerin aus 25 Jahren versammelt, finden sich zahlreiche Äußerungen zu ihrer Motivation der Verweigerung von persönlicher Öffentlichkeit.20 15

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Es handelt sich um »Eine Ohrfeige und Sonstiges« aus Walser Textsammlung »Die Rose« (1925), zitiert nach Reto Sorg: »Wir leben in plakätischen Zeiten«. Robert Walser und der Literaturbetrieb seiner Zeit. In: Philipp Theisohn, Christine Weder (Hg.): Literaturbetrieb. Zur Poetik einer Produktionsgemeinschaft. München 2013, S.  167–185, hier 173 f. Walter Benjamin: Gesammelte Schriften. 7 Bde. Frankfurt a. M. 1991, Bd. I, 2, S. 665. Benjamin gebraucht die Bezeichnung in seinem Porträt von Charles Baudelaire, dem ersten Dichter im Zeitalter des Hochkapitalismus. Zu Kategorien fingierter Autorschaft vgl. Torsten Hoffmann, Daniela Langer: Autor. In: Thomas Anz (Hg.): Handbuch Literaturwissenschaft, Band 1. Stuttgart 2007, S. 131–170, hier 159. Zum Spekulationsdiskurs um die geschlechtliche Identität von Elena Ferrante vgl. den Beitrag von Renate Giacomuzzi in diesem Band. Zu diesem Komplex vgl., reichlich spekulativ und mythenbefördernd, Nicola Bardola: Elena Ferrante – meine geniale Autorin. Stuttgart 2019. Auf Italienisch gab es drei, jeweils erweiterte Auf lagen von La Frantumaglia (2003, 2007 und 2016), vgl. Elena Ferrante: La Frantumaglia. Roma 2016. Die deutsche Ausgabe entspricht der italienischen Ausgabe von 2016, vgl. Elena Ferrante: Frantumaglia. Mein geschriebenes Leben. Aus dem Italienischen von Julika Brandestini und Petra Kaiser. Berlin 2019. »Frantumaglia« ist ein sinnf älliger Titel, insofern er (als neapolitanisches Dialektwort) für einen Gemütszustand steht, der sich durch innere Widersprüche und Zerrissenheit kennzeichnet, vgl. ebd., S. 120.

Der Literaturbetrieb als visuelles Regime Ich glaube nicht, dass ein Autor seinem Werk irgendetwas Entscheidendes hinzuzufügen hat: Ich halte den Text für einen selbständigen Organismus, der in sich, in seiner Machart, sämtliche Fragen und Antworten schon enthält. Und echte Bücher werden nur geschrieben, um gelesen zu werden. Dagegen tendiert jede Werbeaktivität der Autoren dazu, von den Werken und der Notwendigkeit, sie zu lesen, abzulenken. In vielen Fällen ist es doch so, dass wir den Namen des Autors, sein Aussehen und seine Meinungen besser kennen als seine Texte, und das gilt unglücklicherweise nicht nur für zeitgenössische Autoren, sondern inzwischen auch für die Klassiker.21

Schon bevor Anfang der 1990er Jahre ihr Debüt erscheint, lässt Ferrante ihren römischen Verlag wissen: Ich werde keine Einladung zu Diskussionen und Tagungen annehmen. Ich werde zu keiner Preisverleihung gehen, falls man mir denn einen Preis zuerkennen sollte. Ich werde keine Werbung für das Buch machen, vor allem nicht im Fernsehen, weder in Italien noch im Ausland. Ich werde mich nur schriftlich zu Wort melden, aber auch das auf ein Minimum beschränken.22

Ferrante führt unmissverständlich aus, für »nichts, was ein öffentliches Auftreten mit sich brächte«, zur Verfügung zu stehen. Sie nennt ihre Haltung, persönlich nirgends in Erscheinung treten zu wollen, »eine kleine Wette mit mir, mit meinen Überzeugungen« und argumentiert: »Ich glaube, Bücher brauchen, wenn sie einmal geschrieben sind, keinen Autor mehr.«23 Ferrantes Bekundung, sie habe »keine Lust, anders zu kommunizieren als schreibend«24, ist eine Komplettabsage an werkbegleitende und werkexterne Repräsentationskonventionen von Autorschaft (durch Autorenfotos, persönliche Auftritte, Lesungen, Gespräche etc.). Die Gründe ihrer persönliche Medienabstinenz formuliert Ferrante apodiktisch: »Die Medien […] schaffen die Distanz zwischen Autor und Buch ab, […] sie vermischen Persönliches und Buchinhalt.«25 Diese Grundsatzskepsis erinnert an Botho-Strauß-Verdikte gegen das »Sekundäre«.26 Aber natürlich adressiert Ferrante auch ein real existierendes, virulentes Problem. Literaturkritik und Literaturberichterstattung sind, insoweit sie sich nach den massenmedialen Logiken organisieren, durch per-

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Ferrante: Frantumaglia (Anm. 20), S. 101 f. Ebd., (Anm. 20), S. 11. Ebd., S. 12. Ebd., S. 266. Ebd., S. 70. »Es geht um nicht mehr und nicht weniger als um die Befreiung des Kunstwerks von der Diktatur der sekundären Diskurse«, vgl. Botho Strauß: Der Aufstand gegen die sekundäre Welt. In: George Steiner: Von realer Gegenwart. München 1990, S. 303–319, hier 305.

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sonalisierende und visualisierende Framings gekennzeichnet: Artikel über Schriftstellerinnen wurden in der Vergangenheit oft mit opulenten und/oder erotisch konnotierten Porträtfotos bebildert, und Rezensionen breiteten gerne biografische Lesarten aus.27 Ferrantes »strukturelle Abwesenheit«28 im Literaturbetrieb bedeutet für journalistische Inszenierungslogiken eine Provokation, mindestens aber Irritation. Das Problem der persönlichen Unsichtbarkeit und Abwesenheit der Schriftstellerin zieht sich wie ein roter Faden durch die journalistischen Fragen an Ferrante, soweit sie der Band Frantumaglia dokumentiert: »Sind Sie bereit, uns eine kurze Selbstbeschreibung, wenn Sie wollen, auch Ihres Aussehens zu geben?«29 Umgekehrt ergibt sich aus Ferrantes fortlaufend wiederholten Erläuterungen und Begründungen ihrer Unsichtbarkeit ein veritabler Rechtfertigungsdiskurs gegenüber Verlegern, Medien und Lesern. Insofern Frantumaglia mit seinen Notaten, Briefen und Statements allerlei Argumente der außerliterarischen Unsichtbarkeitsstrategie thematisiert, kann man das Buch tatsächlich als eine Sonderform der Poetikvorlesung30 begreifen – eine Poetikvorlesung über das Modell unsichtbarer Autorschaft und mit der Pointe, dass diese Vorlesung von der Autorin selbst nie anders als schriftlich gehalten werden kann. Wiederholt bezeichnet Ferrante ihre Werkpolitik der persönlichen Abwesenheit als »Kulturkampf« für »einen autonomen Raum […] fern der Logik der Medien und des Marktes«31. Jedoch unberührt von Medien- und Marktgepf logenheiten agiert  – bei aller Selbststilisierung  – auch Ferrante nicht. Vielmehr begründet gerade der fortlaufende Verstoß gegen die Sichtbarkeitskonvention die zunehmende Mystifizierung der Autorin, wie sie mit Frantumaglia betrieben wird. Das mit Selbstauskünften der Autorin reichhaltig bestückte Werk trägt dem stetig gewachsenen öffentlichen Interesse an der Verfasserin populärer Werke sogar marktstrategisch Rechnung und leistet der weiteren Spekulation um biografische Details der Autorin durchaus Vorschub. Der Klappentext der italienischen Ausgabe prä-

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Vgl. Marc Reichwein: Diesseits und jenseits des Skandals. Literaturvermittlung als zunehmende Inszenierung von Paratexten. In: Stefan Neuhaus, Johann Holzner (Hg.): Literatur als Skandal. Göttingen 2007, S. 89–99. Vgl. Frantumaglia (wie Anm. 20), S. 323. Vgl. Ebd., S. 102. Erfüllt ist das für Poetikvorlesungen konstitutive Kriterium, »das eigene literarische Schaffen theoretisch-ref lektierend zu begleiten«, vgl. Monika Schmitz-Evans: Ref lexionen über Präsenz. Poetikvorlesungen als Experimente mit dem Ich und mit der Zeit. In: Dies. (Hg.): Komparatistik als Humanwissenschaft. Würzburg 2008, S. 377. Vgl. Frantumaglia (wie Anm. 20), S. 452 u. 436 f.

Der Literaturbetrieb als visuelles Regime

sentiert Frantumaglia als »lebendig erzähltes Selbstporträt«32. Dass der Band auf Italienisch schon dreifach erweitert wurde, zeigt, dass die Autorin sich exponiert  – und exponieren lässt. Latent prätentiös wirken die Selbstbeschreibungen, in denen Ferrante ihre Entscheidung für eine anonyme Autorschaft wie eine literaturtheoretisch grundierte Versuchsanordnung erscheinen lässt: Mein Experiment möchte die Aufmerksamkeit wieder auf die ursprüngliche Einheit von Autor und Text lenken, und auf die Selbständigkeit des Lesers, der aus dieser Einheit alles ziehen kann, was er braucht. Ich erfinde darin nicht meine Biografie, ich verstecke mich nicht, ich schaffe keine Mysterien. Ich bin immer anwesend, sowohl in meinen Texten als auch in den Antworten auf Ihre Fragen. Der einzige Ort, an dem ein Leser seinen Autor suchen und finden sollte, ist innerhalb des Textes.33

Ferrante negiert im Folgenden sogar, dass ihre Autorschaft anonym sei: »Meine Bücher sind nicht anonym, auf dem Umschlag steht ein Autorenname […]. Es war einfach so, dass ich sie geschrieben und dann auf die Probe gestellt, sich selbst überlassen habe, indem ich mich der üblichen verlegerischen Praxis entzog.«34 In letzter Konsequenz ist Ferrantes Radikalentzug von allen Konventionen der Autorschaftsrepräsentation eine literaturbetriebliche Utopie, begegnet uns ein literarischer Text doch selten nackt, vielmehr wird er stets durch allerlei kommunikatives Beiwerk eingekleidet, nicht zuletzt die (biografische, geografische oder anderweitige) Rückbindung an seinen Autor oder seine Autorin. Aus der Perspektive von Genette und Bourdieu betrachtet, charakterisiert sich Autorschaft dadurch, dass sie durch allerlei Paratexte des literarischen Feldes mitdefiniert wird. Nicht nur Texte, sondern auch Epitexte wie Bestsellerplatzierungen oder Autorenauftritte definieren die öffentliche Wahrnehmung von Autorschaft.

Der Literaturbetrieb – ein visuelles Regime Die klassische Rezeptionsästhetik hat betont, dass literarische Texte »Leerstellen« enthalten, die erst im Akt des Lesens »Konkretisationen« erfahren.35 32 33 34 35

Vgl. die Formulierung »l’autoritatto narrativamente vivacissimo di una scrittrice al lavoro« in Elena Ferrante: La Frantumaglia. Roma 2016, vordere Umschlagklappe. Frantumaglia (wie Anm. 20), S. 381. Ebd., S. 308. Vgl. (unter Rückgriff auf Roman Ingarden) Wolfgang Iser: Der Akt des Lesens. München 1976, S. 267.

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Dieses Konzept hat der Verleger Florian Tielebier-Langenscheidt schon 1983 auf den Bereich der (damals noch nicht so genannten) Paratexte ausgeweitet, als er in einer Dissertation Werbung für deutschsprachige Gegenwartsliteratur untersuchte und unter Rückgriff auf Wolfgang Iser feststellte, dass auch die Werbeaktivitäten der Verlage »Konkretisationen« schaffen, und zwar dahingehend, dass sie Unbestimmtheitsstellen von Autorinnen und Autoren (wie Alter, Herkunft, Geschlecht, Aussehen oder Prominenz) mit Bedeutung füllen.36 Tielebier-Langenscheidt räumte ein, dass »einseitige Autorenimages« und Stereotype dabei ein latentes Problem seien; in Bezug auf die Kategorie Geschlecht stellte er fest, dass sie in der Literaturwerbung nur einseitig eine Rolle spielt: Weibliche Autorschaft wird betont, als sei sie ein Sonderfall.37 Das ist sie mit Blick auf die Kulturhistorie des zu allen Zeiten männlich dominierten Kanons fraglos, umgekehrt zeigt ein solcher Befund, wie selbstverständlich männliche Autorschaft bis heute den (unmarkierten) Prototyp darstellt.38 Auch wenn Tielebier-Langenscheidts Untersuchung von vier ausgewählten Beispielautoren (Sarah Kirsch, Elias Canetti, Martin Walser und Wolf Wondratschek) alles andere als repräsentativ ist, erscheint sein Ansatz anschlussfähig und bedenkenswert. Man kann und muss Autorenimages in der epitextuellen Konkretisation in den Blick nehmen, wenn man die Aspekte literaturbetrieblicher Imageprägung verstehen will, um die es Ferrante mit ihrer Politik der Unsichtbarkeit zu tun ist. Nicht nur Werbung und Öffentlichkeitsarbeit der Verlage prägen und konturieren die Konkretisation von Autorinnen und Autoren, auch Literaturberichterstattung, Literaturkritik und das Gebaren der Autorinnen und Autoren selbst  – vom Auftreten bei Lesungen und Interviews bis hin zum Agieren in sozialen Netzwerken – definieren diesen epitextuellen Bereich. Die Kritik an Konkretisation von Autorschaft durch fremdbestimmte Epitexte schimmert als Topos im literarischen Werk von Elena Ferrante deutlich durch und soll nun genauer betrachtet und auch in ihrer Genderproblematik skizziert werden, denn die von Tielebier-Langenscheidt festgestellten Kriterien Alter, Herkunft, Geschlecht und Aussehen sowie Prominenz begleiten Ferrantes

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Vgl. Florian Tielebier-Langenscheidt: Werbung für deutsche Gegenwartsliteratur. Ein Beitrag zur Theorie und Praxis der Literaturvermittlung. Frankfurt a. M. 1983, 21–22 und 110. Ebd., S. 354. Zum Problem des männlichen Prototyps aus genderdiskursiver Sicht vgl. Caroline Criado-Perez: Unsichtbare Frauen. Aus dem Englischen von Stephanie Singh. München 2020.

Der Literaturbetrieb als visuelles Regime

Schriftstellerinnenfigur Elena Greco aus der Neapolitanischen Saga wie die Probe aufs Exempel.39

Konkretisation durch Visualisierung und Sexualisierung Elena Greco, die Ich-Erzählerin der vierbändigen Neapolitanischen Saga, ist Schriftstellerin wie Elena Ferrante, aber ihr Konzept von Autorschaft liest sich wie eine Kontrastfolie zu dem ihrer Schöpferin.40 Elena Greco lässt sich fotografieren, sie unternimmt Lesereisen und signiert sogar Bücher. Ihr in der Romanhandlung Ende der 1960er Jahre erscheinendes Debüt, in dem sie ihr traumatisches erstes Sexerlebnis verarbeitet, erfährt im Kontext der politisierten Studentenbewegung viel Aufmerksamkeit; es gibt Lesungen in allen großen Städten Italiens und Auftritte vor vollen Uni-Hörsälen. Dabei wird Elena nicht nur gebeten, zu erklären, »wie viel Mühe es die Protagonistin gekostet hatte, aus der Umgebung auszubrechen, in die sie hineingeboren war« (Saga, Bd. 3, S. 72). Erinnert sei an das Kriterium der Herkunft, das die Wahrnehmung von Autorschaft laut Tielebier-Langenscheidts Studie determiniert. Man will von Elena auch wissen, »warum ich es für nötig gehalten hätte, in eine vollkommen ausgefeilte Geschichte so eine heikle Stelle einzubauen« (ebd.). Die heikle Stelle handelt von Elenas Def loration durch den Vater eines Schulfreundes, den Eisenbahner und Schriftsteller Donato Sarratore.41 Dass und wie die Geschichte der jungen Autorin Elena gerade wegen der heiklen Stellen die Aufmerksamkeit von Literaturkritik und Lesepublikum erregt, ist Thema im dritten Teil der Saga. Bemerkenswert erscheint, wie ausführlich die Schriftstellerin Elena Ferrante die Kritiken und Autorenfotos ihrer Schriftstellerinnen-Figur Elena Greco und deren diesbezügliche Empfindungen zu Wort kommen lässt. Zunächst betonen die Zeitungen die sexuell expliziten Passagen von Elena Grecos Debüt (vgl. 39

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Alle vier Bände der »Neapolitanischen Saga« in deutscher Übersetzung von Karen Krieger; vgl. Elena Ferrante: Meine geniale Freundin. Berlin 2016, Bd.  1; Dies.: Die Geschichte eines neuen Namens. Berlin 2017, Bd. 2; Dies.: Die Geschichte der getrennten Wege. Berlin 2017, Bd.  3; Dies.: Die Geschichte des verlorenen Kindes. Berlin 2018, Bd. 4. Im Folgenden jeweils kurz als »Saga« zitiert. Zu dieser Lesart vgl. zuerst Daniel Berndt, Lea Hagedorn, Hole Rössler: Bildnispolitik der Autorschaft. Eine Einleitung. In: Daniel Berndt et. al. (Hg.): Bildnispolitik der Autorschaft. Visuelle Inszenierungen von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. Göttingen 2018, S. 11–30, hier 14. Bereits im ersten Band der Tetralogie wird die 15-jährige Elena Greco auf Ischia durch Donato Sarratore sexuell belästigt, vgl. Bd. 1, S. 291–293. Das traumatische Erlebnis ist ein Vorspiel zur späteren Def loration Elenas durch Donato, vgl. Bd. 2, S. 241, 247, 339–41, 374, 380–384.

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Marc Reichwein

Bd. 3, S. 58); sodann lesen sie Grecos Roman so, wie Debüts notorisch gelesen werden: als Zeugnis einer Generation (vgl. Bd. 3, S. 59); schließlich personalisieren sie: »Am unerträglichsten war mir das Bild meines lächelnden Gesichts in der Mitte eines derart verletzenden Textes«, befindet die Figur Elena Greco über den Verriss ihres Buches im Corriere della Sera (vgl. Bd. 3, S. 59). Es liegt nahe, dass die Schriftstellerin Elena Ferrante hier ein öffentliches Exponiertsein thematisiert, dem sie sich selbst durch ihre Politik der konsequenten Unsichtbarkeit entzieht. Gesteigert wird die Erfahrung persönlicher Kränkung und Beschämung für die Figur Elena Greco durch einen Artikel in der Lokalzeitung von Neapel. Zunächst ärgert es Elena, dass die Besprechung Absatz für Absatz die Rezension aus dem Mailänder Corriere nachplappert (so weit, so üblich für personell schlecht ausgestattete Lokalzeitungen). Empfindlicher reagiert sie auf den blumigen Stil, der am Ende geradezu manisch nur einen Gedanken verfolgte: Die Frauen werden derzeit absolut zügellos, man braucht sich nur mal den schlüpfrigen Roman von Elena Greco anzusehen, um sich davon zu überzeugen, er ist ein Abklatsch des ebenfalls derben Bonjour tristesse. Mich kränkte aber nicht so sehr der Inhalt, sondern die Unterschrift. Der Artikel stammte von Ninos Vater, Donato Sarratore. (Bd. 3, S. 64)

Perfiderweise ist dieser Donato Sarratore niemand anderes als jener Mann, der Elena Greco (in Band 1 der Tetralogie) schon nachstellte, als sie noch Schülerin war, und mit dem sie (in Band 2 der Tetralogie) als 15-Jährige ihren ersten Sex hatte. »Wozu diese Besprechung?«, fragt sich die Ich-Erzählerin Elena Greco nun. »Hatte er sich rächen wollen, weil er sich in dem schmierigen Familienvater wiedererkannt hatte, der die Protagonistin bedrängte?« (Bd. 3, S. 64). Der Täter einer sexuellen Belästigung schreibt – als Kritiker – einen Verriss über das literarische Zeugnis seines eigenen Opfers. An ein ›Public Shaming‹ (im Sinne der MeToo-Bewegung) ist im 1960er Jahre-Setting der Romanhandlung nicht zu denken; vielmehr kann Elena Greco die nachträgliche literaturkritische Demütigung durch ihren einstigen Peiniger Donato Sarratore nur stumm zur Kenntnis nehmen. Als konstruktives Zeichen ihrer sexuellen Befreiung registriert sie, dass sie bei öffentlichen Veranstaltungen zu ihrem Buch zunehmend »unbefangener« über die heikle Stelle reden kann: »Allmählich fand ich es normal, dass mich jemand voller Sympathie oder provozierend auf die Sexszene am Strand ansprach, zumal meine stets prompte, zunehmend charmant verfeinerte Antwort einigen Anklang fand.« (Saga, Bd. 3, S. 73).

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Der Literaturbetrieb als visuelles Regime

Sexismus erfährt die Schriftstellerin Elena Greco nicht nur in Form einer aufs Geschlechtliche fokussierten Rezeption ihres Buches in den Massenmedien, Sexismus erlebt sie auch bei persönlichen Auftritten im Literaturbetrieb. Zu einer Lesung in Turin wird Elena Greco im Auftrag des Verlags von einem Kritiker namens Tarratano begleitet. Dieser Journalist soll den Abend moderieren, er war bereits bei ihrer Buchpremiere in Mailand zugegen gewesen und hatte Grecos Debüt gegen Kritiker verteidigt. Man kann in ihm eine typische Mentorenfigur sehen: Er sagte, er sei stolz darauf, die Stärken meines Romans als Erster erkannt zu haben, und stellte mich dem Publikum mit den gleichen begeisterten Formulierungen vor, die er vor einer Weile auch in Mailand verwendet hatte. Am Ende des Abends gratulierte er mir zu den großen Fortschritten, die ich in so kurzer Zeit gemacht hätte. Dann fragte er mich in seiner gutmütigen Art: »Warum akzeptieren Sie so bereitwillig, dass man die erotischen Passagen Ihres Buches als heikel bezeichnet, und warum bezeichnen Sie selbst sie in der Öffentlichkeit so?« Er empfahl mir, das nicht zu tun. Zunächst einmal, weil mein Roman sich nicht auf die Szene am Strand reduzieren lasse, da gebe es doch noch viel interessantere und schönere; und falls er hier und da etwas kühn erscheine, so vor allem deshalb, weil er von einer jungen Frau geschrieben worden sei; »Obszönität ist der guten Literatur nicht fremd«, schloss er, »und wahre Erzählkunst ist niemals heikel, selbst wenn sie die Grenzen des Anstands überschreitet.« […] Ich bekam die Kurzsichtigkeit des Publikums zu spüren, seine Oberf lächlichkeit. Ich sagte mir: »Es reicht, ich darf nicht so unterwürfig sein, ich muss lernen, anderer Meinung zu sein als meine Leser, ich darf nicht auf ihr Niveau sinken.« Und ich beschloss, bei der nächstbesten Gelegenheit schroffer zu denen zu sein, die mit jenen Passagen anfangen würden. (Saga, Bd. 3, S. 73)

Auf den ersten Blick erscheint der Kritiker also wie ein Verbündeter Elena Grecos: Er macht sie auf das problematische Framing ihres Romans in der Öffentlichkeit aufmerksam und empfiehlt ihr, der jungen, unerfahrenen Autorin, sich dieser Lesart nicht zu beugen. Empowerment, würde die Formel im heutigen Feuilleton lauten. Doch der Abend ist noch nicht vorbei, er endet mit Wein im Hotelrestaurant und der Erkenntnis Elenas, dass der Moderator ihrer Lesung »zu viel getrunken hatte« (Bd. 3, S. 74). Der Kritiker ist – wie die Figur Elena Greco später rekapituliert, knapp 60 Jahre alt. Er ist klein und hat den auffälligen Bauch eines Feinschmeckers. Über seinen großen Ohren bauschte sich weißes Haar auf, aus seinem hochroten Gesicht stachen ein schmaler Mund, eine große Nase und äußerst lebhafte Augen hervor, er war ein starker Raucher, seine Finger waren gelb.

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Marc Reichwein Im Fahrstuhl versuchte er mich zu umarmen und zu küssen. Obwohl ich mich losmachte, hatte ich Mühe, ihn mir vom Leib zu halten, er gab nicht auf. Die Berührung mit seinem Bauch und seine Weinfahne sind mir bis heute im Gedächtnis geblieben. Damals hätte ich es nicht im Traum für möglich gehalten, dass ein alter, so anständiger, so gebildeter Mann, der eng mit meiner zukünftigen Schwiegermutter befreundet war, sich dermaßen ungehörig aufführen könnte. Im Flur bat er mich eiligst um Entschuldigung, schob alles auf den Wein und zog sich sofort in sein Zimmer zurück. (Saga 3, 74 f.)

Nach der in vielen westlichen Ländern wirksamen MeToo-Bewegung42 hätte der Vorfall heute, entsprechend publik gemacht, das Zeug zum Skandal. In der Neapolitanischen Saga fahren ›Täter‹ und ›Opfer‹ tags darauf sogar gemeinsam im Auto zurück nach Mailand. Ferrante lässt die Episode dahingehend enden, dass ihre Protagonistin Elena Greco mit einem Gefühl des Missbrauchs aus dem Auto steigt, das sie an ihr Herkunftsmilieu erinnert: In Mailand ließ ich mich wenige Schritte vom Verlag entfernt absetzen und verabschiedete mich von meinem Begleiter. Ich war etwas benommen, hatte schlecht geschlafen. Unterwegs versuchte ich, den unangenehmen Körperkontakt mit Tarratano endgültig zu vergessen, spürte aber seinen Schmutz noch an mir und auch die undeutliche Nähe zu einer für den Rione typischen Unanständigkeit. (Saga Bd. 3, S. 75 f.)

Rione, das ist der von sozial eher einfachen, machohaften und auch mafiösen Verhältnissen geprägte Stadtteil Neapels, aus dem Elena Greco stammt. Dass und wie Elena Greco sich – im Gegensatz zu ihrer genialen Freundin Lila – aus diesen einfachen Verhältnissen befreit, als Schriftstellerin in die höchsten Kreise des intellektuellen Italiens aufsteigt und dennoch ein Leben lang immer wieder neu von ihrer Herkunft eingeholt wird, ist eines der zentralen Themen von Ferrantes Tetralogie. Und der ältere Literaturkritiker, der die junge Debütantin aus einfachen Verhältnissen hofiert, steht für einen  – durchaus internationalen – Archetypus männlich konnotierter Literaturkritik. Die Literaturkritik, die dem ›süßen Vogel Jugend‹ verfällt, war auch ein Topos in der ab dem Jahr 1999 geführten Debatte um das sogenannte »lite-

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Für eine Rekapitulation vgl. Ronan Farrow: Der Weinstein-Skandal. Hamburg 2019 sowie Jodi Kantor, Megan Twohey: #MeToo. Von der ersten Enthüllung zur globalen Bewegung. Stuttgart 2020. Sowohl Kantor / Twohey als auch Farrow hatten mit ihren Veröffentlichungen am 5. Oktober 2017 in der »New York Times« und am 10. Oktober 2017 im »New Yorker« einen jahrzehntelang praktizierten, systemischen Sexismus in der US-amerikanischen Filmindustrie enthüllt.

Der Literaturbetrieb als visuelles Regime

rarische Fräuleinwunder«43. Schon damals wurde von Autorinnen wie Antje Rávic Strubel medienkritisch moniert, dass sich das personalisierende und visualisierende Marketing für Autorinnen auf die Rezeption ihrer Texte auswirke.44 Zwanzig Jahre später, bei der 2019 kurzzeitig virulenten TwitterDebatte unter dem Hashtag #dichterdran war die Art und Weise, wie eine vermeintlich altmännlich dominierte Literaturkritik über das Aussehen von Autorinnen urteilte, ein ganz ähnlicher Ausgangspunkt.45 Zu den Desillusionen von Ferrantes Figur Elena Greco gehört die Erfahrung, dass der gesellschaftliche Aufstieg in höhere, akademische Kreise eine (italienische) Frau im 20. Jahrhundert noch lange nicht vor Übergriffen oder anderen vulgären Sitten der Männer schützt: »Überhaupt nicht«, klärt Elena Greco ihre immer in Neapel gebliebene Freundin Lila über die Intellektuellen auf, oft sind sie sehr gut in ihrer Arbeit. Aber ansonsten sind sie gierig, genießen es, dir zu schaden, halten zu den Starken und hetzen gegen die Schwachen, bilden Cliquen, um andere Cliquen zu bekämpfen, behandeln Frauen wie Ausführhündchen, sagen bei jeder Gelegenheit Schweinereien zu dir und begrapschen dich genauso, wie es in den Autobussen hier bei uns üblich ist. (Saga Bd. 4, S. 342)

Die Schriftstellerin, die sich von ihren Herkunftsverhältnissen zu emanzipieren sucht und doch immer wieder von ihnen eingeholt wird, erklärt ihrer Freundin, dass es in den feineren Kreisen – gerade, was das Verhältnis der Geschlechter anbelangt – kaum anders zugeht als in ihrem Herkunftsmilieu. Aufstieg und Emanzipation durch Bildung ist nur bedingt möglich, das spürt Ferrantes Protagonistin wiederholt in Situationen, in denen plötzlich feine Klassenunterschiede bedeutsam werden und Elena Greco sich ihrer neuen sozialen Umgebung nicht gewachsen fühlt. An dieser Stelle berührt Ferrantes Neapolitanische Saga den schambehafteten Diskurs des Sozialaufstiegs, der auch in der französischen und deutschen Gegenwartsliteratur produktiv geworden ist, man denke nur an Werke wie Der Platz (1983) von Annie Ernaux, Rückkehr nach Reims (2009) von Didier Eribon, Das Ende von Eddy (2014) von Édouard Louis oder Streulicht (2020) von Deniz Ohde. 43 44

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Vgl. Katrin Blumenkamp: Das ›Literarische Fräuleinwunder‹. Die Funktionsweise eines Etiketts im literarischen Feld der Jahrtausendwende. Berlin 2011. Vgl. Antje Rávic Strubel: Mädchen in Betriebnahme. Ein Abgesang in drei Aufzügen. In: Ina Hartwig, Tilman Spengler (Hg.): Kursbuch. Literatur. Betrieb und Passion. Heft 153, Berlin 2003), S. 9–19. Marc Reichwein: Dürfen Kritiker über das Aussehen von Schriftstellerinnen schreiben? In: Die Welt, 7.9.2019.

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Konkretisation durch Lokalisierung und De-Fiktionalisierung Nicht nur die geschlechterbezogene Markierung der Figur Elena Greco, auch ihre soziale und geografische Herkunft dominieren ihre Wahrnehmung und Präsentation als Schriftstellerin in der literarischen Öffentlichkeit. Sowohl als 25-jährige Debütantin wie auch als 40-jährige Schriftstellerin wird Elena Greco als Kind ihrer Stadt visuell in Szene gesetzt: La Repubblica war mit einem großformatigen Foto von mir herausgekommen, das einem kurzen Artikel über die kommenden Neuerscheinungen beigefügt war in dem es an einer Stelle hieß: »Mit Spannung erwartet wird der neue Roman von Elena Greco, der in einem unbekannten Neapel in blutroten Farben spielt«, und so weiter. (Saga Bd. 4, S. 344 f.)

Die 40-jährige Elena Greco im vierten Band der Tetratologie ist nicht mehr irgendeine, sondern eine gestandene, prominente Schriftstellerin. Charakteristisch für diesen Status ist, dass ihre neuen Bücher bereits vor Drucklegung und Erscheinen, das heißt im Status der Korrekturfahnen, in die Hände von Journalisten und Medienredaktionen gelangen. Als Elena Grecos Buch im Januar 1984 erscheint, wird die Schriftstellerin von ihrem Verlag informiert, dass das Magazin Panorama (eine Art italienisches Pendant zum Stern) einen Fotografen vorbeischicken wolle, worauf hin sich bei Elena innerer Widerspruch gegen die visuelle Vereinnahmung regt: »Ich will nicht noch mal […] fotografiert werden […], ich bin nicht mehr das Mädchen von vor fünfzehn Jahren, das hier ist mein drittes Buch, ich will angemessen behandelt werden.« (Saga Bd. 4, S. 355 f.) Doch genau diese angemessene Behandlung fällt aus. Etwas forsch, nämlich ohne telefonische Voranmeldung, taucht eine Fotografin der Zeitschrift Panorama bei Elena Greco zu Hause auf und schießt Fotos im HomestoryStil. Wie ein unmündiges Objekt lässt sich Greco in allen möglichen Posen ablichten und nimmt auf Wunsch der Fotografin auch die von Greco beaufsichtigten Kinder mit aufs Bild. Zufällig hütet sie neben der eigenen Tochter Imma auch Tina, die Tochter ihrer besten Freundin Lila. Die Fotografin hält beide für Elena Grecos Töchter (vgl. Saga Bd. 4, 357 f.). Die Bilder, die dann in der Illustrierten erscheinen, haben plotrelevante Folgen, denn versehentlich (ohne Rücksprache) wird ein Foto gedruckt, auf dem Elena mit Tina zu sehen ist – Lilas Tochter. Tina wird im weiteren Verlauf der Geschichte des verschwundenen Kindes – so der Titel von Band 4 der Tetralogie – vermisst, ob entführt oder nicht, bleibt in der Schwebe. Eine Lesart von Ferrantes Roman wäre, dass es sich um einen Racheakt der lokalen Mafia handelt, und diese

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Der Literaturbetrieb als visuelles Regime

Lesart ist plausibel, denn worüber sich die Mafia ärgert, hat mit der Rezeptionshaltung der Konkretisation durch Lokalisation von Elena Grecos Roman unmittelbar zu tun: Der Zeitschriftenartikel »behandelte mein Buch nicht als Roman, sondern benutzte es, um von dem zu berichten, was er ›das Revier der Solara-Brüder‹ nannte« (Bd. 4, S. 361 f.): »Die Fotos waren der Beweis für das, was mein Text wirklich enthielt, sie identifizierten die Gegend unwiderruf lich, der Rione hörte auf, eine Fiktion zu sein, wie er es für mich beim Schreiben stets gewesen war.« (ebd.) Die Figur Elena Greco schildert hier eine Erfahrung, die literarischen Werken in der Rezeption durch Massenmedien öfter widerfährt. Durch die journalistische Vermittlung und Visualisierung (sprich: Konkretisation eines literarischen Werks an realen Orten) wird Romanen und ihren Schauplätzen ein Wirklichkeitsbezug zuteil, der in ihnen so nie angelegt war. Im vierten Teil von Ferrantes Tetralogie führt der Medienrummel um Elena Grecos Buch zu Protesten des ganzen Stadtteils, der sich verunglimpft sieht. Es gibt sogar eine lokale Anzeige gegen Elena, garniert mit einer Forderung nach Schmerzensgeld, die zu einer weiteren Aufmerksamkeitswelle in den Medien führt (vgl. Bd. 4, S. 400–405), die sie wiederum vor Racheaktionen der Mafiosi schützt: »Meine Sichtbarkeit trieb sie dazu, so unsichtbar wie irgend möglich zu werden« (Bd. 4, S. 405). Für dieses eine Mal scheinen Präsenz und Prominenz von Autorschaft doch einen Vorteil zu bergen; es ist aber die mutmaßlich einzige Stelle im Werk Elena Ferrantes, in der die Sichtbarkeit von Autorschaft explizit als vorteilhaft thematisiert wird. Dass die Frage der Sichtbarkeit von Autorschaft, sobald sie – fiktional oder dokufiktional – die Mafia tangiert, in Neapel zu einer Frage über Leben und Tod werden kann, wissen wir, seit der Journalist und Schriftsteller Roberto Saviano (»Gomorrha«; 2006) unter permanenten Polizeischutz leben muss. In der Geschichte der genialen Freundinnen nimmt das Unheil seinen Lauf, als eines Tages plötzlich Lilas Tochter Tina verschwindet (vgl. Bd. 4, S. 425) und nicht mehr auftaucht. Es scheint so, als müsse Lila für die Geschichte büßen, die erst durch Elena zum Roman und im Zuge seiner medialen Rezeption zum konkreten Ärgernis der Mafia wurde. Damit soll nicht gesagt sein, dass Sichtbarkeit und Lokalisierbarkeit von Autorschaft automatisch Opfer nach sich ziehen, aber es wäre zumindest eine mögliche Lesart der Geschichte von Elena und Lila. Die Macht und Wucht von Öffentlichkeit, die Autorschaft ereilt, ist im vierten Teil von Ferrantes Romantetralogie insgesamt ein großes Thema. Man muss die unmündige Art und Weise, wie sich die gestandene Schriftstellerin Elena Greco in Ferrantes Saga in das Fotoshooting fügt, erschre-

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ckend finden. Man muss es aber auch als Ausweis einer Zeit lesen, in der die durchschnittliche Medienkompetenz noch unterentwickelt war und sich fragen, warum die Figur so unmündig agiert. Tatsächlich könnte dieses Überfahren-Werden Ausdruck einer doppelten Markierung von Herkunft und Geschlecht sein. Einerseits neigt die Figur der Schriftstellerin Elena Greco trotz ihrer Aufsteigerbiografie immer wieder zu Verzagtheiten, die sie an ihre niedere soziale Herkunft gemahnen. Andererseits widerfährt ihr gerade als Schriftstellerin des 20. Jahrhunderts nichts Ungewöhnliches. Auch die Autorinnen, die Ende der 1990er Jahre in Deutschland unter dem Rubrum des »literarischen Fräuleinwunders« fotografiert und inszeniert wurden, wussten nicht immer, was und wie ihnen geschah. So erinnert sich die Berliner Schriftstellerin Tanja Dückers rückblickend: Viele Autorinnen wie ich waren damals sehr jung und haben sich, so glaube ich, nicht absichtsvoll um eine ›krasse Blickfangstrategie‹ bemüht. Ich erinnere mich zum Beispiel daran, wie ich über das […] Foto von mir mit kurzem Rock im »Spiegel« erstaunt war. Der Effekt des leicht schräg von unten aufgenommenen Fotos war mir beim Shooting nicht klar gewesen. Mir wurden die Aufnahmen im Übrigen nicht vor der Veröffentlichung gezeigt. Über das Bild war ich nicht sehr glücklich. Ich war nicht ›mediengeschult‹ als mein erster Roman erschien.46

Eine ähnliche Erfahrung trifft auf viele Autorinnen zu, auch auf Elena Ferrantes Figur der Elena Greco. Könnte man vor diesem Hintergrund Elena Ferrantes Poetik der Unsichtbarkeit also als besonders konsequente Form der Verweigerung lesen – eine Verweigerung vor der Nötigung, sich – insbesondere als Autorin – »mediengeschult« verhalten zu müssen, sobald man sich mit seiner Person, im Aussehen, seinem Geschlecht, seiner biografischen und geografischen Identifizierbarkeit auf die Medien einlässt? Es wäre zumindest eine plausible Lesart. Insgesamt ließe sich festhalten: Obwohl oder gerade weil die Schriftstellerin Elena Ferrante sich jeder öffentlichen Präsenz als Person entzieht, erregt sie spekulatives Interesse. Statt über Gründe der Öffentlichkeitsverweigerung zu mutmaßen, kann man aus Ferrantes literarischem Werk und aus den offiziellen Selbstäußerungen der Schriftstellerin eine Poetik herauslesen, die öffentliche Formen der Personalisierung, Visualisierung und Sexualisierung sowie Lokalisierung als rezeptionsästhetisch problematische Konkretisationen von Autorschaft kritisiert.

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Tanja Dückers: »Ich war nicht mediengeschult, als mein erster Roman erschien«. In: Die Welt, 14.9.2019.

Das Autor*innenfoto als visueller Kommentar Andrea Werner

Das Autor*innenfoto als visueller Kommentar zum Literaturbetrieb

Melanie Raabe [@melraabe]1

»Ich würd[e] mir manchmal wünschen«, bemerkt 2018 die Bestsellerautorin Melanie Raabe auf der Frankfurter Buchmesse, »niemand wüsste, von wem mein Buch ist – wüsste nicht, wie ich aussehe; wüsste nicht, dass ich eine Frau bin; wüsste nicht, dass ich eine ›schwarze‹ Frau bin – und würd[e] einfach einen Text lesen«2. Der Wunsch nach einem unverstellten, vorurteilsfreien Blick sowohl der Leser*innen als auch der Literaturkritik korrespondiert durchaus mit Raabes in Frankfurt promoteten Psychothriller Der Schatten (2018), denn die Autorin spricht in ihrem Buch die Machtverhältnisse im Kulturbetrieb an. Wie populär dieses Thema zum Zeitpunkt der Veröffentlichung sein würde, ahnte sie beim Schreiben des Textes jedoch nicht. 2018 steht die Frankfurter Buchmesse ganz im Zeichen der Online-Proteste #MeToo und #MeTwo3, die in Deutschland Debatten über Sexismus und

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Melanie Raabe [@melraabe]: »Früher konnte ich Fotoshootings nicht ausstehen« (27.7.2020). Instagram [Instagram-Post]. URL: https://www.instagram.com/p/CDI2uaO KH_d/?utm_source=ig_web (abgerufen am 8.2.2021). Melanie Raabe im Gespräch mit Kolja Mensing (13.10.2018). In: Lesart: Autoren im Gespräch. Bücherherbst 2018  – die wichtigsten Bücher der Saison. Moderation Kolja Mensing, Dorothea Westphal und Jörg Plath. Deutschlandfunk Kultur [Podcast; 21:06 – 21:18  min]. URL: https://www.deutschlandfunkkultur.de/autoren-im-gespraech-bue cherherbst-2018-die-wichtigsten.1270.de.html?dram:article_id=4304 78 (abgerufen am 15.10.2018). Initialzündung der #MeToo-Kampagne auf Twitter waren die im Oktober 2017 erhobenen Vorwürfe gegen den US-amerikanischen Filmproduzenten Harvey Weinstein, der 2020 wegen Vergewaltigung und sexueller Nötigung schuldig gesprochen wurde. Im Juli 2018 folgte der Hashtag #MeTwo, der vor allem in Deutschland alltägliche Rassismuserfahrungen thematisiert.

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Rassismus auslösen. Verschiedene Veranstaltungen nehmen das Machtgefälle zwischen Männern und Frauen im Literaturbetrieb in den Blick. Zudem werden erste Ergebnisse des Forschungsprojekts #frauenzählen auf der Buchmesse vorgestellt. Anhand konkreter Zahlen bestätigt die Pilotstudie zur Sichtbarkeit von Frauen in Rezensionen und Literaturkritiken die Annahme, dass die Buchbranche noch im 21. Jahrhundert eine Domäne der Männer sei. Das zeigt sich vor allem im Bereich der Kriminalliteratur. In diesem Genre wurden etwa drei Viertel der im Monat März 2018 besprochenen Bücher von Männern geschrieben.4 Zudem bemerkt der Moderator Kolja Mensing im Gespräch mit Melanie Raabe, dass wohl »Frauen geraten wird, ein männliches Pseudonym anzunehmen, wenn sie Krimis schreiben«5. Nicht nur das »Buch muss einen Namen haben, sein Verfasser ebenso« 6, bringt Alexander Honold die Konventionen, die die Präsentation eines Werkes innerhalb des literarischen Systems bestimmen, auf den Punkt. Neben dem Namen der Autorin oder des Autors, der etwa »über den Ort des Textes im Diskurs, über den Urheber oder den Besitzer der Urheberrechte, aber auch über den empirischen Autor oder ein bestimmtes Bild desselben«7 Auskunft geben kann, übernimmt ebenso das Autor*innenfoto diese Funktion und lenkt die Rezeption des literarischen Textes. Beide Elemente zählen zum Beiwerk des ›eigentlichen‹ Textes, das Gérard Genette als Paratext bezeichnet. Er unterscheidet zwischen (werkinternen) Peritexten, die den Text gewissermaßen rahmen und ihm eine bestimmte Kontur geben, und (werkexternen) Epitexten, die sich etwa als Autor*inneninterview oder Programmvorschau eines Verlags auf das literarische Werk beziehen.8

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Vgl. Forschungsprojekt #frauenzählen der verbandsübergreifenden AG DIVERSITÄT im Literaturbereich in Zusammenarbeit mit dem Institut für Medienforschung der Universität Rostock: Sichtbarkeit von Frauen in Medien und im Literaturbetrieb. Pilotstudie (1.10.2018). Online-Publikation. URL: https://www.frauenzählen.de (abgerufen am 2.1.2019). Von den in verschiedenen Medien veröffentlichten und erfassten 2036 Rezensionen und Kritiken wurden sieben Prozent der Kriminalliteratur zugeordnet. Melanie Raabe im Gespräch mit Kolja Mensing (Anm. 2). [Podcast; 20:10 – 20:18 min]. Alexander Honold: Das zweite Buch. Der Autor als Markenzeichen. In: Philipp Theisohn, Christine Weder (Hg.): Literaturbetrieb. Zur Poetik einer Produktionsgemeinschaft. München 2013, S. 133–154, hier S. 140. Dirk Niefanger: Der Autor und sein Label. Überlegungen zur fonction classificatoire Foucaults (mit Fallstudien zu Langbehn und Kracauer). In: Heinrich Detering (Hg.): Autorschaft. Positionen und Revisionen. Stuttgart 2002, S. 521–539, hier S. 525. Vgl. Gérard Genette: Paratexte. Studienausgabe. Aus dem Französischen von Dieter Hornig. Frankfurt a. M., New York 1992, S.  12 f.; vgl. Werner Wolf: Paratext. In: Ansgar Nünning (Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze  – Personen  – Grundbegriffe. 5., aktual. und erw. Auf l. Stuttgart 2013, S. 584 f., hier S. 585.

Das Autor*innenfoto als visueller Kommentar

Im Folgenden wird das Autor*innenfoto als spezifisches Medium der Sichtbarmachung von Autorschaft in den Blick genommen. Ausgehend von der Bildnispolitik des traditionellen Literaturbetriebs stellt sich die Frage, wie Autor*innen unter postdigitalen Bedingungen die Wirkmacht von Bildern nutzen, um kulturelle Vorstellungen von Autorschaft zu ref lektieren. Exemplarisch werden Medialität und Ästhetik signifikanter Inszenierungsstrategien und Bildpraktiken näher erläutert. Von Belang sind dabei auch Interaktionen zwischen Text und Bild, die die Aufmerksamkeit und Rezeption gezielt lenken. Mit den Autor*innenfotos, die ein Prospekt zum 50-jährigen Jubiläum des Suhrkamp Verlags im Jahr 2000 aneinanderreiht, veranschaulicht der renommierte Verlag gleichsam den eigenen Anteil an einer deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, die vor allem männliche Züge trägt (Abb. 1). In ihrer Studie Arbeit am Kanon: Geschlechterdifferenz in Rezeption und Wertung von Literatur resümieren Renate von Heydebrand und Simone Winko 1995: »Die Kanonbildung in männlicher Genealogie ist in Deutschland – im Vergleich

Abb. 1: Verlagsprospekt: 50 Jahre Suhrkamp. Frankfurt a. M. 2000, S. 2–3.

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Abb. 2: Chronik der 1950er und 60er Jahre. In: Verlagsprospekt: 50 Jahre Suhrkamp. Frankfurt a. M. 2000, S. 4–7.

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Das Autor*innenfoto als visueller Kommentar

etwa zu England – besonders ausgeprägt.«9 Beide konstatieren, »daß die Zahl der Autorinnen, die dazu [zum Kanon] gehören, nicht sehr groß ist und nach der Vergangenheit hin immer stärker abnimmt«10. Die zeitlich geordneten Bilder im Prospekt (Abb. 2) visualisieren diesen Befund und lassen auf einen Blick das unausgewogene Geschlechterverhältnis erkennen, denn ein Bild kann als Komplex wahrgenommen werden und lässt sich somit simultan erfassen. Schrift hingegen besteht aus einem »System diskreter Elemente in geordneter Folge« und muss deshalb sukzessiv rezipiert werden.11 Folglich unterscheiden sich beide Ausdrucksformen vor allem durch die Art und Weise ihrer Wahrnehmung.12 Obgleich der neben dem bildlichen Überblick stehende Text ebenso hauptsächlich männliche Autor*innennamen anführt, so vermittelt die Zeigefunktion der Bilder noch eindrücklicher, dass Suhrkamp vor allem Autoren Raum gibt (Abb. 3). Ein Aufsatz zur Autor*innenlesung offenbart ein ähnliches Phänomen. Gunter E. Grimm reiht nicht nur im Text beinahe ausschließlich die Namen kanonisierter Autoren aneinander, auch die illustrierenden Darstellungen von Friedrich Hölderlin, Novalis, Adelbert von Chamisso und Friedrich Rückert konnotieren Autorschaft augenscheinlich männlich (Abb. 4). Galt das schulterlange, offene Haar dieser Autoren bereits um 1800 als »Indikator außerbürgerlicher Freiheiten und kulturschaffender Tätigkeiten«13, ist es noch im 20. Jahrhundert das Markenzeichen etwa des 2019 gekürten Nobelpreisträgers Peter Handke. Wie Grimms bildlicher Vergleich offenbart, parodiert Loriot auch in seiner Filmrolle als Dichter Lothar Frohwein diese Art der Inszenierung (Abb. 4). Ein Autorenporträt, das der Gegenwartsautor Max Höf ler 2014 in seinem Buch wies is is. ein mondo cane machwerk veröffentlicht, setzt noch im 21. Jahrhundert die Ikonografie von Autorschaft fort, die Grimm illustriert (Abb. 5). Auch Höf ler nutzt die mit dem eigenen Körper verbundene Selbstinszenierung als Mittel der Distinktion. Sein Porträt, das wie Handkes Bild eine fotografische Aufnahme ist, zeigt den österreichi-

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Renate von Heydebrand, Simone Winko: Arbeit am Kanon: Geschlechterdifferenz in Rezeption und Wertung von Literatur. In: Hadumod Bußmann, Renate Hof (Hg.): Genus. Zur Geschlechterdifferenz in den Kulturwissenschaften. Stuttgart 1995, S. 207–261, hier S. 235. Ebd., S. 229. Monika Schmitz-Emans: Schrift und Abwesenheit. Historische Paradigmen zu einer Poetik der Entzifferung und des Schreibens. München 1995, S. 472; vgl. auch ebd. Vgl. ebd. Gunter E. Grimm: »Nichts ist widerlicher als eine Dichterlesung«. Deutsche Autorenlesung zwischen Marketing und Selbstpräsentation. In: Ders., Christian Schärf: Schriftsteller-Inszenierungen. Bielefeld 2008, S. 141–167, hier S. 149.

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Abb. 3: Verlagsprospekt: 50 Jahre Suhrkamp. Frankfurt a. M. 2000, S. 3.

schen Schriftsteller nicht nur mit langem Haar, sondern mit Dreadlocks als zeitgemäßes Symbol von Individualität und Kreativität. Auffällig an Höf lers Autorenfoto, das konventionell auf der hinteren Klappe des Einbands platziert wurde, ist vor allem die Kombination von bildlicher und textlicher Darstellung. Die Bildunterschrift schreibt dem Autor und einem Fotografen die Bildrechte zu. Der Hinweis auf die abgelichtete Person ergibt sich aus dem üblichen Zusammenspiel von Fotografie und Klappentext. Hingegen erscheint das auf dem Schwarz-Weiß-Bild über der Brust des Autors leicht schräg verlaufende weiße Textfeld als irritierende Deviation, die Höf lers Porträt mit der selbstreferentiellen Aussage »symbolbild« (Abb. 5) ironisiert. Dieses Element, das augenscheinlich nachträglich

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Das Autor*innenfoto als visueller Kommentar

Abb. 4: Gunter E. Grimm: »Nichts ist widerlicher als eine Dichterlesung.« Deutsche Autorenlesung zwischen Marketing und Selbstpräsentation. In: Ders., Christian Schärf (Hg.): Schriftsteller-Inszenierungen. Bielefeld 2008, S. 141–167, hier S. 150 f.

Abb. 5: Max Höfler ©max höfler, garfield trummer & co

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eingefügt wurde, ruft vielfältige Assoziationen hervor.14 Mit Blick auf die ältere Mediengeschichte des Autor*innenporträts erinnert die Text-BildRelation an Dichter- oder Gelehrtenbilder, die »oft den Ausgaben der sämtlichen oder gesammelten Werken [sic] als Frontispiz vorangestellt«15 wurden (Abb. 6). Der zum Vergleich ausgewählte Holzschnitt von Hans Burgkmair aus dem Jahr 1511 zählt zu den typisierenden Abbildungen von Autorschaft in der Frühen Neuzeit. Derartige Porträts »folgten Darstellungskonventionen, welche nicht auf das Kriterium der Ähnlichkeit ausgerichtet waren, das für das Porträt erst im 16. Jahrhundert relevant wurde«16. Matthias Bickenbach beschreibt in einer Analyse zur Medienentwicklung des Autor*innenfotos, dass Bildnisse mitunter erdacht oder für verschiedene Autoren verwendet wurden.17 Indem Höf ler sein Bild als symbolische Darstellung ausgibt, schließt er scheinbar an diese Praxis an, denn auch Symbolbilder »zeigen keine konkreten Personen oder Ereignisse […], sondern weisen eine allgemeine konzeptuelle Verbundenheit mit den Themen auf«18, die angesprochen werden, und sind folglich austauschbar. Mit Blick auf die gegenwärtige journalistische Berichterstattung, die oftmals zur Illustrierung Symbolbilder verwendet, beschreibt Stefan Meier dieses Medium als Darstellung von visuellen Stereotypen oder Metaphern.19 Durch die kleingeschriebene, ins Bild gesetzte Beschriftung als ›symbolbild‹ stellt Höf lers Autorenfotografie nicht nur die Originalität seiner Autorschaft infrage, sondern behauptet zudem, sie zeige eine typisierte Abbildung eines Dichters, obgleich traditionelle Insignien, die etwa auf den Schreibprozess verweisen, im Bild fehlen:

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Höf lers Foto mutet beispielsweise wie die Frontalansicht eines Mugshots an, auf der die Person eine Tafel vor der Brust hält. Derartige Aufnahmen sind heute nicht mehr üblich, gehören aber auf Instagram zum Inszenierungskanon. Eine weitere Variante, auf die Höflers Darstellung verweist, sind Selfies, auf denen Schilder (auch von Autor *innen) als Protest oder zur Unterstützung einer Kampagne in gleicher Art und Weise in die Kamera gehalten werden. Gunter E. Grimm: Autorenbilder. Funktionen – Ikonographie – Rezitation (10.11.2007). Online-Zweitpublikation in: Goethezeitportal. URL: http://www.goethezeitportal.de/ fileadmin/PDF/db/wiss/epoche/grimm_autorenbilder.pdf (abgerufen am 4.10.2020), S. 7. Sandra Oster: Das Autorenfoto in Buch und Buchwerbung. Autorinszenierung und Kanonisierung mit Bildern. Hrsg. von Ursula Rautenberg, Ute Schneider. Berlin, Boston 2014, S. 56. Vgl. Matthias Bickenbach: Das Autorenfoto in der Medienevolution. Anachronie einer Norm. München 2010, S. 10–13. Stefan Meier: ›Die neue visuelle Authentizität‹. Modifikation des Dokumentarischen als Effekt fortschreitender Mediatisierung. In: Katharina Lobinger, Stephanie Geise (Hg.): Visualisierung  – Mediatisierung. Bildliche Kommunikation und bildliches Handeln in mediatisierten Gesellschaften. Köln 2015, S. 89–107, hier S. 90. Vgl. ebd., S. 90 f.

Das Autor*innenfoto als visueller Kommentar

Abb. 6: Hans Burgkmair: Albrecht von Eyb, Holzschnitt von 1511. In: Emil Reicke: Der Gelehrte in der deutschen Vergangenheit. Mit 130 Abb. und Beilagen nach den Originalen aus dem fünfzehnten bis achtzehnten Jahrhundert. Leipzig 1900, Abb. 56, o. S.

Posen wie das Sitzen hinter dem Schreibtisch, den Kopf in die Hand gestützt, Requisiten wie Stift, Papiere und Brille auf dem Tisch und bekannte Autorenporträts an der Wand sind signifikante ikonografische Muster, auf die Schriftsteller sich – imitierend oder abgrenzend – bis heute beziehen.20

Der frühneuzeitliche Holzschnitt entspricht dem traditionellen Bildschema des schreibenden Dichters, der mit der Feder in der Hand an einem Schreibpult tätig ist. Unterhalb der stilisierten Darstellung verweist einzig der eingefügte Name konkret auf Albrecht von Eyb (1420–1475). Im Gegensatz dazu bleibt Höf lers fotografisches Porträt, obgleich als Symbolbild bezeich-

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Ulrike Vedder: Autorenporträt. Ikonografie und Inszenierung von Autorschaft. In: Sigrid Weigel für das Deutsche Hygiene-Museum Dresden (Hg.): Das Gesicht. Bilder, Medien, Formate. Göttingen 2017, S. 22–27, hier S. 26.

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net, »auf das Kriterium der Ähnlichkeit ausgerichtet«21 und zeigt detailreich den Urheber des literarischen Werkes. Schrift und Bild sind in einem Spannungsverhältnis aufeinander bezogen, sie kommentieren sich wechselseitig und gemeinsam die Selbstinszenierung des Autors. Die irritierende Diskrepanz zwischen der Darstellung eines konkreten Autors und der Bezeichnung als Symbolbild erscheint nicht nur als eine humorvolle ironische Verdrehung, durch die bewusste Deviation vom herkömmlichen Autor*innenfoto wird der Rezeption ein Widerstand entgegengesetzt, der Aufmerksamkeit erzeugt und zur Ref lexion anregt. Entsteht kultureller Sinn generell durch Formen der intra- und intermedialen Bezugnahme, so erweist sich der ins Bild gesetzte selbstreferentielle Kommentar als ein explizit metaisierendes und damit rezeptionslenkendes Element. Metaisierung meint ein transgenerisches und transmediales Verfahren der Selbstreferenz bzw. der Rückbezüglichkeit, mit dem ein semiotisches System (ein Werk, eine Gattung oder ein Medium) über die eigene Fiktionalität und/oder Medialität im Sinne von ›Erfundenheit‹ oder ›Künstlichkeit, Gemachtheit‹ ref lektiert22.

Als eine besondere Form von Selbstreferenz geht die Metaisierung etwa über eine allein ikonische Referenz hinaus und regt als »ein auf systeminterne Phänomene bezogenes ›Bedeuten‹ […] zum Nachdenken über Teile des eigenen Systems durch Elemente desselben Systems«23 an. Werner Wolf verweist in seiner Studie zur Systematisierung der Metaisierung darauf, dass die Übergänge von einer bloßen Selbstreferenz zur Selbstref lexion durchaus f ließend sind, zumal sich Selbstref lexivität »der Verfahren selbstreferentiellen Verweisens […] bedienen kann«24. Metaref lexivität bedarf jedoch einer Differenzierung zwischen Ref lexions- und Objektebene: ›Metaisierung‹ bedeutet im Kontext der Literatur und anderer Medien das Einziehen einer Metaebene in ein Werk, eine Gattung oder ein Medium, von der aus metareferentiell auf Elemente oder Aspekte eben dieses Werkes, dieser Gattung oder dieses Mediums als solches rekurriert wird. Dies ge21 22

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Oster: Das Autorenfoto in Buch und Buchwerbung (Anm. 16), S. 56. Janine Hauthal: Metaisierung. In: Ansgar Nünning (Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. 5., aktual. und erw. Auf l. Stuttgart 2013, S. 514–515, hier S. 514. Werner Wolf: Metaisierung als transgenerisches und transmediales Phänomen: Ein Systematisierungsversuch metareferentieller Formen und Begriffe in Literatur und anderen Medien. In: Janine Hauthal u. a. (Hg.): Metaisierung in Literatur und anderen Medien. Theoretische Grundlagen  – Historische Perspektiven  – Metagattungen  – Funktionen. Berlin 2007, 25–64, hier S. 32 f. Ebd., S. 33; vgl. auch ebd.

Das Autor*innenfoto als visueller Kommentar schieht in Form ausdrücklicher oder wenigstens angedeuteter […] Aussagen, Kommentare usw., die ein Medien- oder Literaturbewusstsein voraussetzen.25

Indem Höf ler das eigene Bildnis ›schwarz auf weiß‹ als Symbolbild ausgibt, verweist er nicht nur augenzwinkernd auf einen Status als ›der‹ Dichter schlechthin, sondern regt auch zur Ref lexion tradierter Annahmen und medienspezifischer Darstellungskonventionen von Autorschaft an. Über die Kommentierung der fotografischen Selbstinszenierung des Autors hinaus macht die Metareferenz die klischeehafte Vorstellung vom männlichen weißen Schriftsteller explizit, die nach wie vor das öffentliche Bild prägt. Als augenscheinliche Parodie symbolischer Darstellungen impliziert Höf lers Porträt Kritik an einem an diesem Stereotyp ausgerichteten Literaturbetrieb. Das Spiel mit den Zeichen und Referenzen kann gleichermaßen als kritische Auseinandersetzung mit Inszenierungsstrategien und Präsentationsformen von Autorschaft als auch mit den Normen der Vermittlung und Vermarktung von Literatur verstanden werden. Es zeigt sich, dass metaisierende Darstellungsverfahren mehrfachcodiert sind und ihnen unterschiedliche Funktionen zukommen können. Gerade weil Metaisierung bestimmte Aspekte gezielt sichtbar machen kann, werden kulturelle Wahrnehmungs- und Bewertungsmuster hinterfragt. Voraussetzung dafür ist die Bereitschaft und das Gespür der Rezipient*innen, denn in ihnen »muss sich Metaref lexion vollziehen, wenn Metaisierung stattfinden soll«26. Mit der im Printmedium vom üblichen Autor*innenporträt abweichenden Aufnahme bringt sich Höf ler in den literarischen Diskurs ein und stellt zugleich seine Originalität und Kreativität unter Beweis. Er rückt sich als ein Autor ins Bild, der über das Schreiben des Textes hinaus an der formalästhetischen Präsentation seines Werkes interessiert ist. Die Leser*innen des Buches wies is is. ein mondo cane machwerk werden bereits beim ersten Durchblättern erkennen, dass die typografische Gestaltung, losgelöst von Majuskeln, Absätzen und Interpunktion, den Prosatext förmlich über die Seiten f ließen lässt. Die konsequente Kleinschreibung korrespondiert zudem mit der Beschriftung des ins Bild gesetzten Textfeldes, sodass sich die im Peritext verortete visuelle Selbstinszenierung in das formalästhetische Konzept der Publikation einfügt. Mit der Digitalisierung haben sich nicht nur die Präsentationsformen von Literatur vervielfältigt, sondern ebenso die Rahmenbedingungen der foto25 26

Ebd., S. 31. Ebd., S. 34.

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grafischen Dichter*innendarstellung verändert. Nutzt Max Höf ler das Autor*innenporträt im materiellen Buch, um die Vorstellung von Autorschaft kritisch zu ref lektieren, ist im digitalen Raum vor allem die Social-Network-Site Instagram der Ort, an dem Autor*innen über die Auseinandersetzung mit dem eigenen Bild Gegenwart kommentieren und sich auch unabhängig von den Akteur*innen und Institutionen des Literaturbetriebs in aktuelle Debatten einbringen können. Über ein eigenes Profil werden als spezifische Form der fotografischen Selbstdarstellung nunmehr Selfies veröffentlicht.27 Diese Bildgattung fungiert vordergründig als Kommunikationsmittel, sodass auch die Verbildlichung der Schriftsteller*innen auf Instagram über die Aufgaben des herkömmlichen Autor*innenporträts hinaus vor allem der ikonischen Artikulation dient. Diese Funktionalisierung bestätigt zugleich den Stellenwert von Bildern im postdigitalen Zeitalter. Doch selbst auf der bildbasierten Plattform bedarf es der Verbindung mit Schrift, damit fotografische Abbildungen tatsächlich identifizierbar werden. Vom UserNamen bis zur Verschlagwortung durch Hashtags rahmen verschiedene Texte die geposteten Aufnahmen. Kann der in Höf lers Autorenporträt gesetzte selbstreferientielle Kommentar im Vergleich mit anderen Autor*innenbildern, die im gedruckten Buch veröffentlicht wurden, als divergierende Besonderheit gewertet werden, erweist sich hingegen auf Instagram das Kommentieren der hochgeladenen Fotos als eine elementare Praktik. Das mediale Zusammenspiel von Text und Bild beeinf lusst, was im Selfie sichtbar und was unsichtbar wird, zielt aber vor allem darauf ab, Interaktion zu erzeugen. Es zeigt sich, dass Höf ler spezifische Darstellungsverfahren nutzt, die für die Selbstpräsentation auf Instagram bezeichnend sind, sodass sein Porträt im materiellen Buch die Tradition der Dichter*innendarstellung mit Strategien auktorialer Inszenierung in Social Media verbindet. Jay David Bolter und Richard Grusin zufolge lässt sich mit Blick auf die Mediengeschichte allgemein feststellen, dass nicht nur neue Medien im Rekurs auf etablierte entstehen, sondern Medialisierungsprozesse generell zu hybriden Formen füh-

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Ein Selfie ist eine visuelle Selbstdokumentation in Social Media. Galt dieses Medium zunächst als ein Bild von sich selbst, das man mit der Handy-Kamera selbst aufgenommen hat, so ist es nunmehr »egal, wer das Foto gemacht hat und womit […]. Ein Selbstporträt oder Porträt wird zum Selfie, indem man es auf den eigenen Social-Media-Kanälen teilt, denn es zeigt ja das Selbst, die Person, das Gesicht hinter dem Account. Mehr braucht es nicht mehr, um ein Selfie zu sein« (Anika Meier: Künstler in Zeiten von Selfies (1.5.2016). In: Monopol-Magazin Online [Kolumne]. URL: https://www.monopol-magazin.de/ kuenstler-zeiten-von-selfies (abgerufen am 31.5.2019)).

Das Autor*innenfoto als visueller Kommentar

ren. Folgerichtig fassen Bolter und Grusin den Prozess der Remediation als eine wechselseitige Bezugnahme: What is new about new media comes from the particular ways in which they refashion older media and the ways in which older media refashion themselves to answer the challenges of new media.28

Obgleich Innovationspotenzial in der gegenwärtigen Medienlandschaft vor allem den digitalen Medien zugeschrieben wird, exemplifiziert Höf lers Foto, wie Remediatisierung innovative Ausdrucksformen konstituiert und metaisiernde Darstellungsverfahren die Leistungsfähigkeit von Autor*innenporträts auch im herkömmlichen Printmedium ausloten und somit zu medialen wie auch kulturellen Wandlungsprozessen beitragen können. Eine Aufnahme der Schriftstellerin, Journalistin und Bloggerin Ronja von Rönne, die sie im Mai 2020 auf ihrem Instagram-Account veröffentlicht hat, setzt wie Höf ler ebenfalls Schrift ins Bild: »Endlich 1 Intellektuelle« (Abb. 7). Auffällig ist dabei die arabische Zahl ›1‹, die den unbestimmten Artikel ›eine‹ ersetzt. Diese verkürzte Schreibweise hat sich bereits vor ein paar Jahren in Social Media vor allem für ironische Statements etabliert, doch nach wie vor erzeugt die bewusst gewählte Typografie eine besondere Aufmerksamkeit und markiert zugleich die Lesart des Posts. Die FollowerZahlen und ihre vermeintlichen Aktivitäten allein auf Instagram erwecken den Eindruck, dass Ronja von Rönne in den sozialen Netzwerken förmlich zu Hause sei. In der Presse wird die Autorin auch als It-Girl der Literaturszene betitelt.29 Doch wie das Adverb ›endlich‹ scheinbar vorgibt, möchte von Rönne ›endlich‹ als Intellektuelle wahrgenommen werden. Die Autorin schließt mit ihrem gleichermaßen schlicht und elegant erscheinenden Look durchaus an die Ikonografie der Intellektuellen des 20.  Jahrhunderts an. Schmucklos und farblich zurückhaltend stellt von Rönne im Bild eine Ernsthaftigkeit zur Schau, die mit der besonderen Frisur- und Stoffwahl zugleich stilvoll wirkt. Wichtigstes Accessoire ist die Zigarette. Als kulturell etablierte und legale Rauschmittel werden Tabak und Alkohol besonders im 20. Jahrhundert zu

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Jay David Bolter und Richard Grusin: Remediation. Understanding New Media. Cambridge u. a. 2000, S. 15. Vgl. etwa Felix Bayer: Romandebütantin  Ronja von Rönne. Wir sind jung, wir sind schön, unsere Witze sind meta (4.3.2016). In: SPIEGEL Kultur Online [Rezension]. URL: https://www.spiegel.de/kultur/literatur/ronja-von-roenne-was-taugt-ihr-debuet roman-wir-kommen-a-1080629.html (abgerufen am 4.10.2020).

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Abb. 7: Ronja von Rönne [@sudelheft]: »Ich, als ich erfahr« (26.5.2020). Instagram-Post: https://bit.ly/ 3yHt4BE (abgerufen am 12.5.2021).

Insignien geistiger Arbeit und damit zum Attribut fotografischer Inszenierungen von Autorschaft. Bis zur »gesamtgesellschaftlichen Stigmatisierung des Rauchens«30 etwa ab den 1990er Jahren gefallen sich Schriftsteller*innen vor allem in der Pose rauchender Intellektueller. Rauchen gilt »als eine das Denken stimulierende Kulturtechnik«31, die zudem mit der tradierten Melancholiegeste korrespondiert: Um zu rauchen, muss die Hand mit der Zigarette zum Kopf geführt werden. War das Rauchen zunächst ausschließlich dem Mann vorbehalten,32 ist die Zigarette seit Ende des 19. Jahrhunderts »ein Attribut der emanzipierten Frau«33. Im männlich dominierten Literaturbetrieb des 20.  Jahrhunderts avanciert sie gleichermaßen zum Markenzeichen sowohl des Dichters als auch der Dichterin. Besonders ›eine‹ Frau ist mit dieser Verbindung von Rauchen und Denken zu einer Art rauchendem Denken im kollektiven Gedächtnis verhaftet. Hannah Arendt gilt als ›die‹ Intellektuelle schlechthin, auf die Ronja von Rönne als emblemartige Figur ver30 31 32

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Oster: Das Autorenfoto in Buch und Buchwerbung (Anm. 16), S. 267. Ebd., S. 266. Vgl. etwa Sabine Brändli: »Sie rauchen wie ein Mann, Madame«. Zur Ikonographie der rauchenden Frau im 19. und 20. Jahrhundert. In: Thomas Hengartner, Christoph Maria Merki (Hg.): Tabakfragen. Rauchen aus kulturwissenschaftlicher Sicht. Zürich 1996, S. 83–109, hier S. 86–92; vgl. auch Annina Klappert: In den Händen des Wissenschaftlers. Die Pfeife im Bild und als Bild der ›Wissenschaft‹. In: Matthias Bickenbach, Dies., Hedwig Pompe (Hg.): Manus Loquens. Medien der Geste  – Gesten der Medien. 1.  Auf l. Köln 2003, S. 158–187, hier S. 161 f. Daniel Berndt: Das Bild als Anfang – Hannah Arendt und die Fotografie im Netz der Beziehungen. In: Ders., Lea Hagedorn, Hole Rößler, Ellen Strittmatter (Hg.): Bildnispolitik der Autorschaft. Visuelle Inszenierungen von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. Göttingen 2018, S. 389–408, hier S. 390.

Das Autor*innenfoto als visueller Kommentar

weisen könnte. Darüber hinaus erinnert die Inszenierung der Autorin mit dem glattfrisierten, genderqueer gestylten Haar an die Schriftstellerin und Fotografin Annemarie Schwarzenbach, die Ende des 20. Jahrhunderts wiederentdeckt wurde und zur Kultfigur avancierte. Im 21. Jahrhundert, das auch als Zeitalter der Fitness beschrieben wird, ist die Zigarette als Stilisierungsmittel der Intellektualität nicht mehr zeitgemäß. Das Rauchen gilt »nun als bizarrer Anachronismus des 20. Jahrhunderts«, stellt Nils Markwardt 2019 in einer Kolumne des Philosophie Magazins fest. »Dank des gesundheitsorientierten Mentalitätswandels und schlagkräftigen Antiraucherkampagnen«34 rauchen immer weniger Menschen. Dennoch ist die Zigarette für einige Autor*innen nach wie vor ein Markenzeichen, mit dem sich Schriftsteller*innen wie zuvor mit der Pfeife oder der Zigarre distinguieren können. Gleichwohl provoziert das Rauchen nunmehr andere Zuschreibungen: Kettenrauchende Autoren wie Michel Houellebecq oder Clemens Meyer erscheinen so etwa als Bad Boys. Wie Annemarie Schwarzenbach auf den Fotos der 1930er Jahre mit dem noch männlich konnotierten Attribut der Zigarette, so gibt sich beinahe ein Jahrhundert später Ronja von Rönne mit dem Gestus des Rauchens wieder unangepasst. Die Unschärfe im Bild deutet auf eine typische Handbewegung der Raucherin von Rönne hin und lässt die Inszenierung authentisch, aber auch lässig wirken. Dabei kokettieren Pose und Minenspiel der Autorin durchaus mit ikonischen Darstellungen der rauchenden Femme fatale in der Modeund Filmwelt des letzten Jahrhunderts: Im Mundwinkel die Zigarette, die vollen Lippen leicht geöffnet, fällt ihr dunkler Blick aus halb geschlossenen Lidern etwas von oben herab auf die Betrachter*innen der Fotografie. Nahezu ausdruckslos demonstriert Ronja von Rönne eine provokative Arroganz. Dass sich diese vor allem gegen die Literaturkritik zu wenden scheint, macht der nebenstehende Kommentar deutlich: »Ich, als ich erfahr, dass mein Text österreiche abiprüfung war. Nimm das, Tobias bernhard oder wie du heisst« (Abb.  7). Hier irritiert das Changieren zwischen konzentrierter Kommasetzung und einer scheinbar f lüchtigen Schreibweise, die in einer spaßig abschätzigen Namensänderung und einem vertraulichen ›du‹ gipfelt. Der vorgeblich fehlerhafte Sprachgebrauch erinnert wie der verkürzte Ausdruck im Bild an den ironisierenden Vong-Stil, der sich im Netz etwa mit absichtlichen Tippfehlern und einer veränderten Grammatik vor

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Nils Markwardt: Die letzte Zigarette (11.2.2019). Online-Publikation in: ZEIT Online. URL: https://www.zeit.de/kultur/2019-02/tabakkonsum-rauchen-zigarette-rueckganggesundheit-rauchverbot/komplettansicht (abgerufen am 18.11.2020).

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einigen Jahren zu einer distinguierenden Sprachvarietät entwickelt hat. Obgleich der große ›Vong-Hype‹ vorbei ist, liegt es nahe, den Post, der sich augenscheinlich über bestehende Regeln hinwegsetzt, als Chiffre für den Zeitgeist zu lesen. Der Kommentar, der humorvoll provokativ auf die ungewöhnliche institutionelle Anerkennung der jungen Autorin verweist, fordert mit generationsspezifischen Codes bewusst den Vorwurf des Sprachverfalls heraus und verunglimpft gezielt einen großen Dichternamen der jüngeren Literaturgeschichte. Thomas Bernhard ist Ronja von Rönne durchaus vertraut: In einer ihrer Kolumnen für Die Welt verweist die Autorin nicht nur selbst auf Bernhard, auch die Literaturkritik setzt gelegentlich »Thomas Bernhardsche Sätze«35 als Maßstab an, um Texte der jungen Autorin zu rezensieren. Ronja von Rönne gehört zu jenen Autorinnen, die »trotz ihres Erfolgs für ihre Texte auch viel Hass und Häme einstecken müssen«36. Dieser Post ist offenbar eine Reaktion darauf. Er trifft genau den leicht ironischen Ton, der in Social Media oftmals die Kommunikation bestimmt, und unterstreicht, dass von Rönne zu einer anderen Autor*innengeneration gehört. Selbstbewusst grenzt sich die Autorin von einem dem traditionellen Kanon verhafteten Literaturbetrieb ab und vergegenwärtigt stattdessen den Zeitgeist, den sie zu verkörpern scheint. Obgleich die Art und Weise der Kommentierung den Vergleich der Literaturkritik mit Bernhard als unwichtig vorführt, ist er offenbar wichtig genug, um in diesem Zusammenhang genannt zu werden. Über einfache Statusmeldungen hinaus macht die Autorin auf Instagram ihre Follower auch auf Interviews oder Kritiken aufmerksam, die sie mitunter kommentiert (Abb. 8). Im Unterschied zu Höf lers Bild im analogen Buch kann Ronja von Rönne auf der Bilderplattform ein ganzes Fotoalbum veröffentlichen, das verschiedene Facetten und Inszenierungen der Autorin zeigt; einzelne Posts geraten in der Bilderf lut schnell wieder aus dem Blick 35

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Claudius Seidl: Höf lich und wohlerzogen. Jugend ohne Plot (16.3.2016). In: FAZ Online [Rezension]. URL: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/jugend-ohne-plotder-roman-wir-kommen-von-ronja-von-roenne-14120994.html (abgerufen am 28.2.2021). Margarete Stokowski, die sich in ihrer Spiegel-Kolumne mit Ronja von Rönne und Stefanie Sargnagel solidarisiert, wendet sich mit ihrer Anmerkung zu Thomas Bernhard gegen eine geschlechterzentrierte Literaturkritik: »Wäre er [Bernhard] eine Frau gewesen, hätte man ihn keinen Fußbreit in die Hochkultur reingelassen. Umleitung Psychiatrie, Endstation« (Margarete Stokowski: Hype und Hass (28.6.2016). In: SPIEGEL Kultur Online [Oben und unten]. URL: https://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/ronja-vonroenne-und-stefanie-sargnagel-hype-und-hass-a-1100152.html (abgerufen am 5.3.2021)). Emotion-Redaktion: Ronja von Rönne: »Und dann ging nichts mehr!« [Zum Interview von Judka Strittmatter mit Ronja von Rönne] (5.2.2019 ). In: Emotion Online. URL: https://www.emotion.de/psychologie-partnerschaft/persoenlichkeit/ronja-von-roenne (abgerufen am 4.10.2020).

Das Autor*innenfoto als visueller Kommentar

Abb. 8: Ronja von Rönne [@sudelheft]: Work. InstagramStory. URL: https://www. instagram.com/sudelheft/ (abgerufen am 12.5.2021).

oder können im Nachhinein korrigiert werden. Von Rönnes InstagramAuftritt erfüllt eine wesentliche Funktion des Autor *innenporträts, die Brigitte E.  Jirku und Marion Schulz mit Blick auf den Literaturbetrieb beschreiben: Bildliche Darstellungen gehören zur Vermarktungsgrundlage der Images von Autoren und Autorinnen und sind im eigentlichen Sinne des Wortes aus der literarischen Rezeption nicht wegzudenken Das veröffentlichte Bild einer Autorin und die damit verbundene Strategie zur Generierung von Aufmerksamkeit beeinf lusst die Vermittlung von Literatur und ihre profitable Verwertung […].37 37

Brigitte E. Jirku, Marion Schulz: Schriftstellerinnen im Fokus. Von der Textproduktion zur Vermarktung – Die Schriftstellerin als Produkt des Literaturbetriebs. In: Dies. (Hg.): Fiktionen und Realitäten. Schriftstellerinnen im deutschsprachigen Literaturbetrieb. Frankfurt a. M. 2013, S. 9–21, hier S. 15.

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Angesichts der Bedeutung, die Autor*innenporträts beigemessen wird, fragt der Literatur- und Medienwissenschaftler Matthias Bickenbach provokant: »Entscheidet das Aussehen einer Autorin oder eines Autors darüber, ob und wie wir [sie oder] ihn lesen?«38 Tatsächlich werden Ende des 20.  Jahrhunderts Autor*innenfotos immer wichtiger und einige geradezu legendär, so etwa das Schwarz-Weiß-Porträt der Fotografin Renate von Mangoldt, das Judith Hermann madonnengleich entrückt und in Anspielung auf Virginia Woolf abbildet.39 Dieses Foto lässt die angehende Autorin »sofort zu einer Ikone der Popkultur« werden, konstatiert Helmut Böttiger rückblickend: »Das Bild war schon da, bevor es die Autorin gab.«40 Die Fotografin Susanne Schleyer berichtet, dass Hermann »aufgrund des Autorenfotos in dem Buch [Sommerhaus, später (1998)] Leute durch ganz Deutschland zu den Lesungen nachgereist«41 sind. In einer Kolumne aus dem Jahr 2019 merkt Ronja von Rönne an: »Intelligenz bedeutet, ganz genau wie Schönheit, einen evolutionären Vorteil.«42 Auf Instagram verweist sie bereits 2016 auf das Vorurteil, dass sich im Literaturbetrieb scheinbar Schönheit gegenüber Leistung durchsetze. Mit dem geposteten Suglie, einem ›ugly‹ Selfie, zeigt sich Ronja von Rönne bewusst aus einer Perspektive, die sie unvorteilhaft wirken lässt (Abb. 9). Der im Hintergrund der Nahaufnahme als ironisches Moment nicht ganz perfekt festgehaltene Schriftzug »HOT[]« unterstreicht, dass sich die Autorin selbst nicht zu ernst nimmt. Im Kommentar zum Bild schreibt Ronja von Rönne: »My face Everytime articles say ›she’s only successful [be]cause she’s pretty!‹« (Abb.  9). Melanie Raabe macht die Erfahrung, dass Leser*innen erwarten, die äußere Erscheinung der Autorin oder auch des Autors korres-

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Matthias Bickenbach: Autor/innen-Porträts: Vom Bildnis zum Image. In: Claudia Benthien, Brigitte Weingart (Hg.): Handbuch Literatur & Visuelle Kultur. Berlin, Boston 2014, S. 478–499, hier S. 478. Vgl. zum Rekurs auf Madonnendarstellungen sowie Fotografien der Autorin Virginia Woolf Katrin Blumenkamp: Das ›Literarische Fräuleinwunder‹. Die Funktionsweise eines Etiketts im literarischen Feld der Jahrtausendwende. Berlin 2011, S. 191–193. Helmut Böttiger: Nichts als Gespenster. Erzählungen (9.2.2003). In: Deutschlandfunk [Rezension]. URL: https://www.deutschlandfunk.de/nichts-als-gespenster-erzaehlungen. 700.de.html?dram:article_id=80775 (abgerufen am 7.3.2020). Susanne Schleyer im Gespräch mit Hole Rößler: »Es sind immer Werbebilder« – Autorenporträts aus Sicht einer Fotografin (o. D.). In: Forschungsverbund Marbach Weimar Wolfenbüttel. Online-Publikation. URL: https://mww-forschung.de/forschung/projekt phase-2013-2019/bildpolitik/bildpolitik-im-gespraech/interview-susanne-schleyer/ (abgerufen am 7.3.2020). Ronja von Rönne: Intelligenz: Schon ein bisschen blöd (21.6.2019). In: ZEIT Online [Kolumne]. URL: https://www.zeit.de/kultur/2019-06/intelligenz-unterschiede-men schen-beurteilung (abgerufen am 7.10.2020).

Das Autor*innenfoto als visueller Kommentar

Abb. 9: Ronja von Rönne [@sudelheft]: »My face« (14.3.2016). Instagram-Post: https://bit.ly/ 3xFKf52 (abgerufen am 12.5.2021).

pondiere mit dem literarischen Werk. Im eingangs erwähnten Interview erzählt sie von Leser*innen, die mitunter nicht verstehen können, »dass so eine zierliche Person […] Thriller schreibt«. Raabe bemerkt dazu: »Man schließt von meinem Körperbau auf das, was ich schreiben sollte«43. Auch in der Literaturkritik wird oftmals auf das äußere Erscheinungsbild gerade der Autorinnen Bezug genommen. 2013 resümieren Jirku und Schulz: »Es finden sich in Kritiken fast immer Beschreibungen der Autorinnen selbst und es entsteht eine kuriose Mischung aus Text, Autorin und Rezeption […]«44. In seiner Rezension zum Debütroman Gespräche mit Freunden von Sally Rooney kommentiert der Schweizer Literaturkritiker Martin Ebel 2019 das Autor*innenfoto der irischen Schriftstellerin und löst damit den Hashtag #dichterdran und die Diskussion um Geschlechterklischees im Literaturbetrieb aus.45 Die Autorin Johanna Adorján verweist im Februar 2019, indem sie auf Instagram die Selbstinszenierung von Michel Houellebecq kommentiert, auf die verschiedenen Normen, die für Autorinnen und Autoren innerhalb des literarischen Systems gelten: Man stelle sich mal eine Sekunde lang vor, eine Schriftstellerin würde so aussehen. Was dann los wäre. Naja, nichts wäre dann los. Es gäbe so ein Foto nicht. Ihr Verlag würde fürs Autorenfoto wohl auf ein Jugendbild zurück-

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Melanie Raabe im Gespräch mit Kolja Mensing (Anm. 2). [Podcast; 22:56 – 23:10 min]. Jirku, Schulz: Schriftstellerinnen im Fokus (Anm. 37), S. 21. Vgl. hierzu die Beiträge von Veronika Schuchter und Martina Wernli.

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Andrea Werner greifen, kein Magazin jemals das Foto einer zahnlosen rauchenden Schriftstellerin drucken, weil wäre ja voll eklig, aber nicht cool-eklig, sondern asozial-eklig, aber nicht cool-asozial-eklig, sondern inakzeptabel.46

Julia Encke beschreibt den französischen Autor 2018 in ihrem Porträt als einen Provokateur, der nicht nur mit seinen öffentlichen Äußerungen oder literarisch »mit seinen Zukunftsvisionen, die von der Gegenwart erzählen, so sehr herausfordert«, sondern auch mit seinem Erscheinungsbild: »[E]ine Provokation lag auch in den Inszenierungen seines Körpers, wenn Houellebecq eine Weile lang als scheinbar zahnloser Clochard auftrat und jedem Schönheitsideal der Mediengesellschaft Hohn zu sprechen schien.«47 Encke wertet diese Selbstinszenierung als Ausdruck einer kritischen Haltung gegenüber dem allgegenwärtigen ästhetischen Leistungsdruck. Es bleibt die Frage: Könnte eine Schriftstellerin in gleicher Weise agieren? Ronja von Rönne macht in ihrer Kolumne von 2019 auf den Hashtag #bodypositivity aufmerksam: »Bei der Schönheit ist es nun so: Der Kult darum bröckelt allmählich. Auf Instagram […] zeigen sich zunehmend auch Menschen, die zu ihren vermeintlichen Makeln stehen.«48 Auch sie schließt sich der Bewegung an, indem sie zum Thema Selbstakzeptanz ein Selfie postet. »[E]in Autor inszeniert sich selbst als Autorsubjekt, wird aber auch durch den Diskurs über Autorschaft und durch die Vorbilder, die zeigen, wie ein Autor in der Öffentlichkeit agiert, geprägt«, stellt Sabine Kyora noch 2013 in einer Studie zur Autorinszenierung fest und konstatiert: »Will er als Autor aber anerkannt werden, muss er sich in diese Vorgaben einpassen bzw. wird er eingepasst.«49 Doch die Beispiele veranschaulichen, dass Autor*innen der Gegenwart tradierte Strukturen und Konventionen durchaus kritisch ref lektieren. In Schreibtisch mit Aussicht veröffentlicht Ilka Piepgras 2020 Texte, in denen verschiedene Autorinnen über ihr Schreiben und die Anerkennung als Autorin berichten. »Mein erstes Buch erschien […] 1994 oder 95«, erzählt Sibylle Berg in ihrem Beitrag: »Damals waren Kritiker überwiegend Männer, die sich darüber erregten, dass ich männlich schreibe. Ich vermute, das

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Johanna Adorján [@johannaadorjan]: »Man stelle sich mal eine Sekunde lang vor, eine Schriftstellerin würde so aussehen« (26.2.2019). Instagram [Instagram-Post]. URL: https:// www.instagram.com/p/BuUpxwEn5cW/?utm_source=ig_web (abgerufen am 10.9.2020). Julia Encke: Wer ist Michel Houellebecq? Porträt eines Provokateurs. Berlin 2018, S. 9 f. Ronja von Rönne: Intelligenz: Schon ein bisschen blöd (Anm. 42). Sabine Kyora: »Ich habe kein literarisches Interesse, sondern bestehe aus Literatur«. Praxeologische Perspektiven auf Autorinszenierungen und Subjektentwürfe in der Literaturwissenschaft. In: Thomas Alkemeyer, Gunilla Budde, Dagmar Freist (Hg.): Selbst-Bildungen. Soziale und kulturelle Praktiken der Subjektivierung. Bielefeld 2013, S.  251–274, hier S. 253.

Das Autor*innenfoto als visueller Kommentar

würde beim derzeitigen Stand der feministischen Debatte nicht mehr passieren.«50 Aktivistische Bewegungen in Social Media »schaffen ein öffentliches Bewusstsein und können Aufmerksamkeit auf gesellschaftliche Probleme und Debatten lenken«51, stellt Kerstin Schankweiler in ihrer Studie Bildproteste. Widerstand im Netz fest. Autor*innen, die populäre Inszenierungspraktiken distinktiv einzusetzen wissen, bringen sich in den sozialen Netzwerken über das eigene Bild in aktuelle Debatten ein, auch und gerade zur Vorstellung davon: Was ist eine Autorin, was ist ein Autor? »Heute wird der Kampf um Sichtbarkeit und Repräsentation, wird also Bildpolitik vor allem im Social Web ausgetragen«52, betont die Kultur- und Medienwissenschaftlerin Annekathrin Kohout. Dabei spielt sich der Diskurs aber nicht mehr nur in Bezug auf die Geschlechterdifferenz ab, sondern wird um Identitätsmarker der Diversitätsforschung ergänzt. Andrea D. Bührmann zufolge ist »inzwischen das Thema Diversität bzw. Vielfalt in den Fokus unterschiedlichster öffentlicher Debatten gerückt«53 und prägt auch den literarischen Diskurs. Der tradierten Vorstellung vom männlichen weißen Schriftsteller lässt sich nur begegnen, indem die Diversität von Autorschaft abgebildet und somit sichtbar wird. Diese Botschaft macht die Autorin Melanie Raabe, die im eingangs geschilderten Interview noch mit dem Wunsch nach Anonymität einer Kategorisierung sowohl des Lesepublikums als auch der Literaturkritik entgehen möchte, in einem Instagram-Post vom Oktober 2020 mit zwei Bildern und einem beschreibenden Text anschaulich. Zunächst präsentiert die Autorin die Rückseite eines Buchcovers, das sie mit der linken Hand leicht schräg in den Bildausschnitt geschoben hat (Abb. 10). Auffällig ist vor allem das peritextuelle Autorinnenfoto, das als Bild im Bild Melanie Raabe an einem ihrer Lieblingsschreiborte in Köln zeigt. Der Verlag hatte ihr vorgeschlagen, es auf dem Cover ihres ersten Sachbuchs groß abzudrucken. Spontan will Raabe, wie sie im Kommentar schildert, opponieren und »um eine Überarbeitung des Designs […] bitten«, denn sie befürchtet, »sich selbst

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Sibylle Berg: Jedes fertige Buch ist ein gescheiterter Versuch. In: Ilka Piepgras (Hg.): Schreibtisch mit Aussicht. Schriftstellerinnen über ihr Schreiben. Zürich, Berlin 2020, S. 219–221, hier S. 221. Kerstin Schankweiler: Bildproteste. Widerstand im Netz. Berlin 2019, S. 20. Annekathrin Kohout: Netzfeminismus. Strategien weiblicher Bildpolitik. Berlin 2019, S. 11. Andrea D.  Bührmann: Ref lexive Diversitätsforschung. Eine Einführung anhand eines Fallbeispiels. Opladen, Toronto 2020, S. 9.

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Abb. 10: »Aus der Kategorie ›Behind the scenes‹« (23.10.2020). Instagram-Post: Bild 1 nicht mehr verfügbar.

zu sehr in den Mittelpunkt zu stellen.«54 Doch dann erinnert sich die Autorin an das Nachwort in Sara Nurus 2019 veröffentlichtem Buch Roots. Wie ich meine Wurzeln fand und der Kaffee mein Leben veränderte, aus dem Raabe in ihrem Instagram-Post zitiert. Wie sie so befürchtete auch Nuru, »es suggeriere eine gewisse Eitelkeit«55, das eigene Bild groß auf dem Buchcover zu veröffentlichen. Sara Nuru überdenkt diese Annahme und kommt zu der Überzeugung: Es geht um mehr als nur um mich und meine Befindlichkeiten. Es geht um Sichtbarkeit und Repräsentanz. Wenn junge Frauen heute in eine Buchhandlung gehen, so sehen sie  – bis auf wenige Ausnahmen wie Michelle Obama  – gegenwärtig kaum dunkelhäutige Frauen auf den Buchcovern. Umso wichtiger finde ich es, mir diese Selbstermächtigung zu erlauben und somit ein Signal für andere dunkelhäutige Frauen zu senden.56

Nicht nur im Kommentar zitiert Melanie Raabe das Statement der Autorin, sie zeigt zudem auf einem zweiten Foto in gleicher Weise, wie zuvor das eigene, ihr Buch mit dem Autorinnenfoto auf dem Cover (Abb. 11). Raabes Instagram-Post stilisiert Nurus Autorinnenbild gleichsam zum Symbolbild 54

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Melanie Raabe [@melraabe]: »Aus der Kategorie ›Behind the scenes‹« (23.10.2020). Instagram [Instagram-Post]. URL: https://www.instagram.com/p/CGrml87qu47/?utm_ source=ig_web (abgerufen am 27.4.2021 – nicht mehr verfügbar). Sara Nuru: Roots. Wie ich meine Wurzeln fand und der Kaffee mein Leben veränderte. Zitiert nach Melanie Raabe [@melraabe]: Aus der Kategorie ›Behind the scenes‹ (23.10.2020). Ebd.

Das Autor*innenfoto als visueller Kommentar

Abb. 11: »Aus der Kategorie ›Behind the scenes‹« (23.10.2020). Instagram-Post: Bild 2 nicht mehr verfügbar.

für Empowerment. Annekathrin Kohout zufolge zielt Empowerment darauf ab, »die politische, soziale, kulturelle oder ökonomische Stärke von Personen oder einer Gemeinschaft zu steigern, die strukturell benachteiligt sind (sei es durch Konstrukte wie ›Rasse‹, Religion, Gender, Sexualität, Klasse oder Alter)«57. Indem Raabe der digitalen Öffentlichkeit gewissermaßen ein Vorbild präsentiert, dem sie selbst nachfolgt, unterstützt sie das Anliegen, mit der Macht von Bildern gezielt auf Kultur und Gesellschaft einzuwirken. Interessant erscheint, dass beide Aufnahmen die Autorinnen in ähnlicher Haltung zeigen, sodass die Inszenierung auf der Bildebene Raabes Übereinstimmung mit Nurus Statement widerspiegelt: Mit gekreuzten Beinen auf dem Boden sitzend umfasst jeweils die linke Hand der Autorinnen locker ihr rechtes Handgelenk; den Körper von der Kamera leicht schräg abgewandt richten beide den Blick dennoch direkt ins Objektiv. »Der Blick zum Betrachter hin kann […] als Form von Kommunikation gewertet werden, nämlich als Aufmerksamkeitsverstärkung und Annahmeermöglichung. Der souveräne Blick stiftet Nähe, Kontakt und Aufmerksamkeit.« Matthias Bickenbach wertet ihn als »Versuch, die Kommunikation zu initiieren«58. Im November 2020 erscheint Raabes erstes Sachbuch mit der vom Verlag vor57

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Annekathrin Kohout: Yes we can! Empowerment vs. Provokation (6.1.2020). In. sofrischsogut. Ein Blog über Popkultur, Internetphänomene & Kunst [Vortrag]. URL: https:// sofrischsogut.com/2020/01/06/yes-we-can-empowerment-vs-provokation/ (abgerufen am 27.4.2021). Bickenbach: Das Autorenfoto in der Medienevolution. Anachronie einer Norm (Anm. 17), S. 271.

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geschlagenen Gestaltung des Covers. Das Autorinnenporträt auf der Rückseite des Buches ist nicht nur ihr Beitrag, um ›People of Color‹ im literarischen Diskurs sichtbar zu machen, sondern zugleich auch eine Aufforderung, sich mit dem Thema Diversität auseinanderzusetzen. Ein halbes Jahr später entzündet sich an der Nominierung für den Preis der Leipziger Buchmesse eine Debatte, die Kritik übt an »Strukturen, die nicht-weiße Schriftstellerinnen und Schriftsteller ausschlössen«59.

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René Aguigah: Preis der Leipziger Buchmesse. Der deutschsprachige Literaturbetrieb ist weiß (26.4.21). In: Deutschlandfunk Kultur [Lesart]. URL: https://www.deutschland funkkultur.de/preis-der-leipziger-buchmesse-der-deutschsprachige.1270.de.html?dram: article_id=496272 (abgerufen am 27.4.2021).

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Critical Princess Formen diskursiver und performativer Geschlechtlichkeit in deutschsprachigen Buch-Blogs In der flauschigen Kampfzone: kritische Diskurse in Romance Blogs Trotz der Abwesenheit von Körpern spielt das Geschlecht in digitalen Äußerungsräumen eine wichtige Rolle. So lässt sich im deutschsprachigen Raum häufig eine Geschlechtsabhängigkeit in Hinblick auf die Art des Bloggens und das verhandelte Thema feststellen. Frauen schreiben demnach eher über persönliche, alltägliche Themen, während Männer sich stärker politischen oder Sachthemen widmen.1 Gleichzeitig werden Frauen in ihrer Tätigkeit als Bloggerinnen u. a. durch diese geschlechtsspezifisch-thematische Diskrepanz systematisch marginalisiert, da die besonders reichweitenstarken Weblogs politisch-sachlicher Natur sind und von Männern geführt werden.2 Auch in Buch-Blogs wird Weiblichkeit diskursiv verhandelt und performativ vollzogen. Als Buch-Blogs werden nachfolgend regelmäßig aktualisierte, zumeist von Einzelpersonen betriebene Webseiten über Literatur und Bücher verstanden. Als Genre haben Buch-Blogs sich um die Jahrtausendwende im deutschsprachigen Raum entwickelt und um das Jahr 2015 einen Popularitätshöhepunkt erreicht.3 Zu dem bereits beschriebenen geschlechterbezogenen Sichtbarkeitsbias kommt im Bereich digitaler Literatur1

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Vgl. Jan Schmidt: Geschlechterunterschiede in der deutschsprachigen Blogosphäre. In: Paul Alpar, Steffen Blaschke (Hg.): Web 2.0. Eine empirische Bestandsaufnahme. 1. Auflage. Wiesbaden 2008, S. 73–86, sowie Gina Masullo Chen, Elyse Q. Huang: Women’s Blogs. In: Karen Ross (Hg.): The International Encyclopedia of Gender, Media, and Communication. Hoboken, NJ 2020, S. 1–5. Vgl. Schmidt: Geschlechterunterschiede. In: Alpar, Blaschke (Hg.): Web 2.0 (Anm. 1), S. 73–86, hier S. 83, sowie Franka Hesse: Die Geschlechterdimension von Weblogs. Inhaltsanalytische Streifzüge durch die Blogogsphäre. In: kommunikation@gesellschaft 9 (2008), S. 1–15, hier S. 9. Seither gehen die Zahlen der Weblogneugründungen im Buchbereich zurück und die Aufmerksamkeit hat sich verschoben bzw. ausgeweitet auf das Phänomen der ›Inf luencer *innen‹ allgemein. Vgl. hierzu die laufende Statistik auf lesestunden.de: Worüber schreiben Buchblogger: Analyse mit Visualisierung und Statistiken. URL: https://www. lesestunden.de/2018/02/worueber-schreiben-buchblogger-analyse-mit-visualisierungund-statistiken/ (abgerufen am 20.2.2021).

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kritik bzw. digitaler rezensiver Texte noch die geschlechtliche Codiertheit des Lesens und des ›Sprechens‹ über Literatur. So ist beispielsweise der Diskurs über Buchblogger*innen zum Teil immer noch von Projektionen geprägt, die weibliche Leseprozesse und Lektüreref lexionen als identifikatorisch,4 emotional und unkritisch markieren. Auch die Dichotomisierung in ein männlich dominiertes, sachlich argumentierendes Feuilleton und eine vornehmlich weibliche, genreaffine Fankultur ›im Netz‹ trägt dem Rechnung. Wolfgang Tischer, selbst Blogger, spricht vom gängigen Stereotyp »der netten Mädels, die über Bücher schreiben, die sie toll fanden«5. Ähnliche Stereotype reproduziert Oliver Jungen, der 2016 in der FAZ feststellt: »Es geht um Fantum, Gemeinschaft und den offenbar unvergänglichen Traum junger Frauen, allein unter Spaniern zu landen. In Köln waren die mehr als 150 Blogger und ›BuchTuber‹ jedenfalls zu 98 Prozent weiblich.«6 Problematisch ist an diesen Pauschalisierungen nicht nur die sexistische Instrumentalisierung verschiedener Lesemodi,7 sondern auch, dass die Vielfalt der unterschiedlichen ›Blogotope‹8 und Blogging-Communities unterkomplex als homogene Masse erfasst wird. Für die vorliegende Untersuchung wurde das Subgenre der sogenannten Romance Blogs herausgegriffen, das in besonderem Maße geschlechtlich kodiert ist bzw. als geschlechtlich kodiert dargestellt wird. So konnte eine Umfrage der Lese-Agentur Netgalley aus dem Jahr 2017 belegen, dass 99 Prozent der befragten 200 Romance-Blogger*innen weiblich waren.9 Darüber hinaus weisen Romance Blogs auch optisch häufig eine ›weibliche‹ Ästhetik auf,10 die sich beispielsweise durch zarte Rosa- und Hellblautöne und viel

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Vgl. zu diesem Modus im Kontrast zum distanzierten Lesen Renate von Heydebrand, Simone Winko: Einführung in die Wertung von Literatur. Systematik, Geschichte, Legitimation. Paderborn 1996, S. 30. Sieglinde Geisel: Reader’s Corner: Im Netz ist jeder Leser ein Kritiker. In: Deutschlandfunk Kultur. URL: https://www.deutschlandfunkkultur.de/reader-s-corner-im-netz-istjeder-leser-ein-kritiker.976.de.html?dram:article_id=322454 (abgerufen am 20.2.2021). Oliver Jungen: Wie entsteht ein Megabestseller? In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6.6.2016. Vgl. Katharina Herrmann: Zur Kritik des normierten Lesens. URL: https://kultur geschwaetz.wordpress.com/2018/11/22/zur-kritik-des-normierten-lesens/ (abgerufen am 20.2.2021). Vgl. Peer Trilcke: Ideen zu einer Literatursoziologie des Internets. Mit einer BlogotopAnalyse. In: Textpraxis 7, 2.2013. URL: http://www.unimuenster.de/textpraxis/peertrilcke-literatursoziologie-des-internets (abgerufen am 20.2.2021). NetGalley: Romance-Blogger-Klischees  – NetGalley deckt auf! URL: https://her zenstage.org/2017/09/16/romance-blogger-klischees-netgalley-decktauf/ (abgerufen am 20.9.2020). Vgl. Annekathrin Kohout: Netzfeminismus. Strategien weiblicher Bildpolitik. Berlin 2019, S. 34 ff.

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Weiß ausdrückt.11 Allerdings ist mit diesen ersten Befunden zum Geschlechterverhältnis und zum Design von Weblogs, die romantische Literatur besprechen, noch nichts darüber gesagt, inwiefern Geschlechtlichkeit dort beispielsweise hinterfragt wird und inwiefern Bücher genderkritisch gelesen werden. Immerhin wird Weblogs auch das Potenzial eines spezifisch weiblichen Empowerments zugeschrieben, »as they connect with other women by sharing personal stories and vulnerabilities«12. Nicht zuletzt haben Hashtags und Netzaktionen wie #Metoo gezeigt, welche diskursive und feministische Schlagkraft in Online-Communities und auf Social Networks Sites (SNS) entwickelt werden kann.13 Auf dieses Potenzial zur Problematisierung zielt auch meine Fragestellung ab: Wie kritisch und bewusst gehen deutschsprachige Buch-Blogger*innen aus dem Bereich Romantic Fiction mit Geschlechterrollen und Geschlechterverhältnissen um? Mein Untersuchungsgegenstand wird die Diskussion in ausgewählten Blogs über den Inhalt, die Figuren und deren Beziehungen im Erotik-Roman Paper Princess (2016) von Erin Watt sein. In der vorliegenden Untersuchung fokussiere ich dabei insbesondere zwei Ebenen, zum einen die diskursive Auseinandersetzung mit Geschlechterrollen und zum anderen das unbewusste ›Doing Gender‹,14 und versuche, deren intrikate Verf lechtung aufzuzeigen. Dabei lege ich zunächst meine theoretischen Grundannahmen dar und entwickle meine Kategorien, sodann erläutere ich das methodische Vorgehen und die Datenbasis. Anschließend stelle ich Ergebnisse meiner Stichprobe aus dem Diskurs zu Paper Princess vor und ziehe abschließend ein Fazit.

Theoretische Grundannahmen: diskursiv verhandelte und performierte Geschlechtlichkeit Geschlecht wird in der Geschlechterforschung bekanntlich nicht ausschließlich als biologische Kategorie angesehen, sondern als im hohen Maß kulturell ›gemacht‹ bzw. erlernt. Bestimmte Verhaltensweisen, Ästhetiken und Praktiken sind unterschiedlich männlich oder weiblich codiert und tragen unter-

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Vgl. NetGalley: Romance-Blogger-Klischees – NetGalley deckt auf! (Anm. 9). Vgl. Chen/Huang: Women’s Blogs. In. Ross (Hg.): International Encyclopedia of Gender (Anm. 1), S. 1–5. Vgl. zur Bedeutung der Sichtbarkeit von Frauen in Online-Netzwerken Kohout: Netzfeminismus (Anm. 10), S. 11. Candace West, Don H. Zimmerman: Doing Gender. In: Gender and Society 6 (1987), S. 125–151.

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schiedlich stark dazu bei, Weiblichkeit oder Männlichkeit performativ zu erzeugen bzw. ein ›Geschlechterimage‹ zu etablieren.15 Es wird hier zudem davon ausgegangen, dass diese Kategorien, Codes und Performanzen auch im digitalen Raum existieren, dass also Weblogs als »Bühnen« verstanden werden können,16 auf denen Subjekte in Form virtueller Repräsentationen – sowohl visuell als auch textuell – sichtbar werden. Hinsichtlich geschlechtlich codierter Äußerungsmuster ist dies jedoch erklärungsbedürftig. Bisher gibt es keine wissenschaftlichen Studien dazu, inwiefern weiblich oder männlich codierte Performanzen die Praktiken in Buch-Blogs determinieren. Die bereits genannten Diskursbeispiele zeigen allerdings, dass sehr wohl verbreitete Stereotype existieren: So wird in Debatten über BuchBlogs den Subjekten häufig eine unkritisch-affirmative Lesehaltung und Diskussionskultur zugeschrieben. Dabei verbinden sich Vorurteile gegenüber ›lesenden Laien‹17 mit denen gegenüber weiblichen Leser*innen zusätzlich mit Vorbehalten gegenüber der Unterhaltungsliteratur.18 Die Traditionslinien dieser Zuschreibungen und ihrer Symbiosen sind lang. Exemplarisch sei hier nur auf die Entstehung des weibliche Leser*innen-Stereotyps im 18. Jahrhundert verwiesen. Die als »weiblicher Lesemodus« aufgefasste Rezeptionsform, war bzw. ist assoziiert mit einem »einmaligen, schnellen, unref lektierten, aber empathischen Lesen, welches der Unterhaltung und Zerstreuung dient«19. Zeitgeschichtliche Diskursphäno-

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Stefan Hirschauer: Arbeit, Liebe und Geschlechterdifferenz. Über die wechselseitige Konstitution von Tätigkeiten und Mitgliedschaften. In: Sabine Biebl, Verena Mund, Heide Volkening (Hg.): Working Girls. Zur Ökonomie von Liebe und Arbeit in der Moderne. Berlin 2007, S. 23–41, hier S. 38. Christina Schachtner, Nicole Duller: Kommunikationsort Internet. Digitale Praktiken und Subjektwerdung. In: Tanja Carstensen, Christina Schachtner, Heidi Schelhowe, Raphael Beer (Hg.): Digitale Subjekte. Praktiken der Subjektivierung im Medienumbruch der Gegenwart. Bielefeld 2014, S. 81–154, hier S. 105. Die Problematik des Begriffs ›Laie‹ gerade im Bereich digitaler literaturbezogener Anschlusskommunikation kann hier nicht ausführlich besprochen werden. Vgl. hierzu Thomas Ernst: ›User Generated Content‹ und der Leser-Autor als ›Prosumer‹. Potenziale und Probleme der Literaturkritik in Sozialen Medien. In: Heinrich Kaulen, Christina Gansel (Hg.): Literaturkritik heute. Tendenzen  – Traditionen  – Vermittlung. Göttingen 2014, S. 93–111, hier S. 93 ff. Vgl. zur strategischen Inszenierung von Männlichkeit durch die Verlagerung auf prestigeträchtige Buchtitel im deutschsprachigen Feuilleton und dem damit erzeugten systematischen Zusammenhang zwischen weiblicher Literaturkritik und Trivialliteratur den Beitrag von Veronika Schuchter in diesem Band. Andrea Bertschi-Kaufmann, Natalie Plangger: Genderspezifisches Lesen. In: Rolf Parr, Alexander Honold (Hg.): Grundthemen der Literaturwissenschaft: Lesen. Unter Mitarbeit von Thomas Küpper. Berlin, Boston 2018, S.  550–570, hier S.  558. Sowie auch Peter Friedrich: Repräsentationen des Lesens in Literatur, Kunst, Film und Fernsehen. In: ebd., S. 397–422, hier S. 406.

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mene wie »Lesewut« und »Bovarismus« bezeugen diese Entwicklung sprachlich und wirken bis heute nach, wenn weiblichen Buch-Blogger *innen pauschal Kritiklosigkeit – auch im Sinne einer mangelnden Distanzierung vom Gelesenen – vorgeworfen wird. Die empirische Basis für derartige kulturelle Zuschreibungen in Bezug auf lesende Frauen ist allerdings recht spärlich. So ist ein Zusammenhang zwischen Geschlecht und Lesemodus zwar empirisch belegbar,20 gleichzeitig finden sich aber in den Studien große intergeschlechtliche Übereinstimmungen, Ambivalenzen und Hinweise auf Geschlechterunterschiede als Ergebnis von Sozialisations- und Kulturationsprozessen.21 Nicht zuletzt deuten jüngere Forschungsergebnisse darauf hin, dass es vermittelnde Variablen, wie das Genre oder die Lesegewohnheiten,22 gibt, welche hinsichtlich verschiedener Aspekte des Leseaktes eine größere Rolle spielen als das Geschlecht. Bestätigt werden konnte bisher lediglich, dass in Online-Rezensionen positive Wertungen überwiegen.23 Für Buch-Blogs liegen dafür allerdings ausschließlich Daten aus der ›Blogosphäre‹ selbst vor: Der Buch-Blogger Tobias Zeising wertete im Jahr 2016 auf seinem Blog 500 LovelyBooks- und Goodreads-Profile von deutschsprachigen Blogger*innen numerisch aus mit dem Ergebnis, dass Bücher dort durchschnittlich mit 4,2 Sternen bewertet werden.24 Auch wenn die Mehrzahl der untersuchten Blogger *innen weiblich war, konnte ein systematischer Zusammenhang zwischen Ge-

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Vgl. u. a. Michael Charlton, Christina Burbaum, Tilmann Sutter: Lesen Frauen wirklich anders? Oder lesen sie nur eine andere Literatur als Männer? In: Spiel, Vol. 23, Nr. 1, 2004, S. 3–22. Vgl. Maik Philipp: Geschlecht und Lesen (Anm. 19). Lesen als vermeintlich unproduktive, passive Tätigkeit überschneidet sich außerdem stark mit der Beobachtung der »zur Immanenz verurteilt[en]« Frau gegenüber dem transzendierenden Mann bei Simone de Beauvoir: Das andere Geschlecht. 20. Auf lage. Reinbek 2000, S. 26, oder auch mit der Diagnose fehlender Vorbilder für weibliche Produktivität in der westlichen Kulturgeschichte nach Nancy K. Miller: Wechseln wir das Thema/Subjekt. Die Autorschaft, das Schreiben und der Leser. In: Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Matias Martinez, Simone Winko (Hg.): Texte zur Theorie der Autorschaft. Stuttgart 2017, S. 251–274. Vgl. Moniek Kuijpers, Shawn Douglas, Don Kuiken: Personality Traits and Reading Habits That Predict Absorbed Narrative Fiction Reading. In: Psychology of Aesthetics, Creativity, and the Arts 13/1. 2019, S. 74–88. Vgl. zu Buch-Rezensionen auf amazon Gabriele Mehling, Axel Kellermann, Holger Kellermann, Martin Rehfeldt: Leserrezensionen auf amazon.de. Eine teilautomatisierte inhaltsanalytische Studie. Bamberg 2018, S. 62, 129, 137. Für ›Booktube‹ sei auf die Ergebnisse von Ina Brendel-Perpina: Die Video-Rezension als kulturelle Praxis der Booktuber. In: Andre Bartl, Markus Behmer (Hg.): Die Rezension. Aktuelle Tendenzen der Literaturkritik. Würzburg 2017, S. 253–274 verwiesen. Vgl. Was lesen Buchblogger (Anm. 3).

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schlecht und Bewertungspraxis in Online-Medien bisher nicht nachgewiesen werden. Ich möchte daher mit der vorliegenden Untersuchung einen Beitrag dazu leisten, diese Forschungslücke zu schließen, indem ich danach frage, wie kritisch und konfrontativ bzw. wie unkritisch und affirmativ weibliche Buch-Blogger*innen auf Buchinhalte, aber auch auf Diskussionsbeiträge anderer Blogger*innen eingehen. Unter ›kritischem‹ Lesen verstehe ich nachfolgend die (streng) beurteilende, prüfende und tendenziell hinterfragende oder sogar ablehnend-negative (tadelnde) Auseinandersetzung mit einem Inhalt oder einer Aussage.25 Als Gegenteil einer solchen kritischen Praxis wird das unkritische bzw. kritiklose Akzeptieren von Aussagen oder (textweltlichen) Inhalten verstanden. Auch das explizite Zustimmen zu einer Referenzaussage oder -gegebenheit in Form des Bejahens oder Verstärkens wird hierunter gefasst. Das hier zugrunde gelegte binäre Schema stellt eine Vereinfachung dar, insbesondere hinsichtlich der Tatsache, dass Kritik immer aus Anteilen sowohl der Assoziation als auch der Dissoziation mit dem Kritisierten besteht.26 Zudem ist die Beschreibung kritischer und unkritischer Praktiken keinesfalls als normativ oder präskriptiv in Bezug auf Geschlechtlichkeit zu verstehen, sondern dient als heuristisches Mittel. Es geht in der Analyse des Materials nicht etwa um eine Theorieref lexion der hochproblematischen Kritik-Begriffes im Kontext der Gender Studies, sondern um beobachtbare, gegenderte Diskussionshaltungen und Aussagestrategien, die daran angelehnt und zumeist unref lektiert sind. Erweisen sich die Oppositionspaare – kritisch/ ablehnend und unkritisch/affirmativ – als zutreffend, kann diese Erkenntnis helfen, nach Ursachen und Problemlagen für die Binarität zu suchen. In einem nächsten Schritt wären damit die etablierten (und hier zu Analysezwecken herangezogenen) Stereotypisierungen und Geschlechterkodierungen zu hinterfragen.

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Vgl. »kritisch«, bereitgestellt durch das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache. URL: https://www.dwds.de/wb/kritisch (abgerufen am 2.4.2021). Es wird hier darauf verzichtet, auf die vielen soziologischen, philosophischen und philologischen Diskurstraditionen einzugehen, die den Kritik-Begriff – von Nietzsche über Foucault und Adorno bis Butler – geprägt haben. Rahel Jaeggi, Tilo Wesche: Einführung. Was ist Kritik? In: Dies.: Was ist Kritik? Frankfurt a. M. 2009, S. 7–23, hier, S. 8.

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Die Debatte um den Erotik-Roman Paper Princess in deutschsprachigen Buch-Blogs Paper Princess erschien 2017 in deutscher Übersetzung im Piper Verlag. Der Roman, der den Auftakt zu einer Serie bildet, löste eine rege Diskussion in den Sozialen Netzwerken und auf deutschsprachigen Buch-Blogs aus, die etwa vom BuchMarkt-Magazin im Dezember 2017 aufgegriffen wurde.27 Die Debatte bezog sich insbesondere auf ›unmoralische‹ Inhalte und übergriffige Handlungen, aber auch die im Roman präsentierten Geschlechterrollen und Beziehungsmuster. Bei dem analysierten Diskursausschnitt handelt es sich um vier Blog-Artikel inklusive aller (über 100) Kommentare. Die Auswahl der Artikel erfolgte durch eine Kombination aus Schneeball- und Convenience Sampling und der Einschränkung auf den (weiter gefassten) Veröffentlichungszeitraum 2017 bis 2018, wobei darauf geachtet wurde, dass die Beiträge sich durch gegenseitige Verlinkungen und Pingpacks als Teil eines gemeinsamen Diskurses identifizieren lassen. Einige der in diesem Cluster referenzierten Blog-Postings waren nicht mehr online verfügbar, weshalb die finale Auswahl sich auf die folgenden vier Artikel reduzierte: Guilty Pleasure oder Gesellschaftsproblem?28 (5. Februar 2018), 25 Kommentare; Vorwürfe gegen ›Paper Princess‹: Kommentar einer Leserin29 (15. Dezember 2017), 26 Kommentare; Rapefiction Debatte – es geht um alles, aber nicht um Sex30, 24 Kommentare (17. Dezember 2017); Rezension zu »Paper Princess« 31 (4. April 2017), 5 Kommentare. Während es sich bei den Blogs Kielfeder und Kitsune Books um Buch-Blogs mit einem Schwerpunkt auf »Chic Lit, Liebesroman & New Adult«32 handelt, sind die Blogs der Psychologin Elea Brandt (Pseudonym) und der Historikerin Aurelia Brandenburg alias Geekgeflüster breiter ausgerichtet. Letztere greifen das Thema Paper Princess nicht primär aufgrund des Genres auf, sondern weil sie sich mit Kontroversen aus verschiedenen Bereichen der Pop- und Unterhaltungskultur, wie Literatur, Gaming, Filme oder Serien, aktivistisch auseinandersetzen. Alle Blog-Betreiber*innen un27 28 29 30 31 32

Vgl. Fundstücke aus den Literaturblogs – Dezember 2017. URL: https://buchmarkt.de/ kolumne/fundstuecke-aus-den-literaturblogs-dezember-2017 (abgerufen am 20.2.2021). URL: https://eleabrandt.de/2018/02/05/rape-fiction-guilty-pleasure-oder-gesellschafts problem (abgerufen am 20.2.2021). URL: https://kielfeder-blog.de/kritik-an-paper-princess-erin-watt-kommentar (abgerufen am 20.2.2021). URL: https://geekgef luester.de/rapefiction-debatte-es-geht-um-alles-aber-nicht-um-sex (abgerufen am 20.2.2021). URL: https://kitsunebooks.de/2017/04/04/rezension-zu-paper-princess-von-erin-watt (abgerufen am 12.2.2021 via Internet Archive). Ebd.

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terscheiden sich hinsichtlich der professionellen Ambitionen und Qualifikationen, stehen aber der Buchbranche auf unterschiedliche Art nahe.33 Elea Brandt, Aurelia Brandenburg und Ramona Nicklaus (Kielfeder) sind weiblich und waren zum Zeitpunkt der Debatte zwischen 15 und 25 Jahren alt und entweder in Ausbildung oder gerade mit dieser fertig geworden. Sie entsprechen mithin dem Prototyp der jungen Buch-Bloggerin.34 Leitend bei der qualitativen Analyse dieser vier Artikel und ihrer Kommentare waren dabei die Fragen: Ob und wenn ja, wie das Geschlechterverhältnis im Roman thematisiert wird. Und inwiefern auf literaturspezifische Kontextfaktoren wie Fiktionalität und Genre-Konventionen eingegangen wird. Zur Beantwortung der zweiten Teilfrage zur geschlechterspezifischen Performanz wurde erhoben, inwiefern bei der diskursiven Auseinandersetzung über Geschlechterfragen in den Texten affirmative bzw. unkritische Handlungsmuster reproduziert werden oder ob umgekehrt eher tadelnd und kritisch vorgegangen wird.

Meinungsaustausch zwischen Romantisierungskritik, Relativierung und Alternativen Kritische Auseinandersetzung mit problematischen Inhalten

In der Mehrzahl der Blog-Postings und Kommentare wird sowohl Kritik an spezifischen Geschlechterstereotypen als auch an der romantischen Darstellung missbräuchlicher Beziehungen geäußert. Dies geschieht vor allem in den beiden Weblog-Artikeln, die nicht originär zu den Genre-Blogs zählen, d. h. bei Elea Brandt und auf Geekgeflüster: Gerade Gender-Klischees (der mächtige Mann vs. die schüchterne Jungfrau) […] verhindern eine konstruktive Auseinandersetzung mit Missbrauchsbeziehungen. […] Was in der Realität als Missbrauchsbeziehung gelten würde, ist in Romanen romantisch, weil es sich schließlich um Fiktion […] handelt. (Elea Brandt)

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Elea Brandt ist (nebenberuf liche) Fantasy-Autorin, Aurelia Brandenburg hat bisher zwar keine Prosa veröffentlicht, wird aber im Impressum von einer Self-Publisher-Agentur (Rogue Books) vertreten und Ramona Nicklaus (Kielfeder) ist ausgebildete Medienkauffrau und arbeitete zum Zeitpunkt der Debatte um Paper Princess im (digitalen) Verlagsmarketing. Für die Blogger *in von Kitsune Books konnten diese Daten nicht erhoben werden, da das Weblog nicht mehr aktiv betrieben wird. Vgl. Trilcke: Literatursoziologie des Internets. In: Textpraxis (Anm. 8), S.  29 und Ina Brendel-Perpina: Literarische Wertung als kulturelle Praxis. Kritik, Urteilsbildung und die neuen Medien im Deutschunterricht. Bamberg 2019, S. 417.

Critical Princess Die Kritik an dieser Art Erzählmuster ist simpel: Sie transportiert Strukturen der Ungleichheit, verharmlost toxische Beziehungen, sexuelle Belästigungen, Vergewaltigungen und mehr. Außerdem trägt sie mit dieser Verharmlosung und Romantisierung zu einer gesellschaftlichen Verfestigung eventueller Stigmata zum Beispiel um sexuelle Belästigung und mehr bei. Und als wäre das noch nicht genug, werden Grenzüberschreitungen und sexuelle Gewalt zudem banalisiert und normalisiert. (Geekgeflüster)

In beiden Artikeln wird herausgearbeitet und kritisiert, dass die Handlung des Romans auf einer Figurenkonstellation mit Machtgefälle basiert, welche den Mann als ›Bad Boy‹ und die Frau als sein unterlegenes Gegenüber, als ›Good Girl‹, charakterisiert. Die weibliche Protagonistin ist einerseits dem destruktiven Verhalten ihres männlichen Widerparts ausgesetzt, andererseits setzt sie sich ihm aus romantischem Interesse auch freiwillig aus, was im Handlungsverlauf zur ›Läuterung‹ des Mannes beiträgt. Dass dieses Muster typisch für das Genre ist, wird zumeist mit Referenzen auf 50 Shades of Grey und Twilight konstatiert. Die Blogger*innen ordnen ihre Kritik zusätzlich rezeptions- und literaturtheoretisch ein. Elea Brandt beispielsweise stellt explizit den Bezug zur Fiktionalität her und sieht in ihr und der damit verbundenen Stilisierung zu einer »Märchenwelt« das besondere Gefahrenpotenzial des Romans. Gleichzeitig zeigt sie im Rückgriff auf empirische Studien, dass es einen Zusammenhang zwischen der Lektüre und persönlichen Einstellungen in Bezug auf Gewalt, Dominanz und Sexismus gibt. Die Bloggerin Aurelia Brandenburg (Geekgeflüster) argumentiert ebenfalls rezeptionsbezogen, allerdings weniger auf psychologischer als vielmehr auf soziologischer Ebene, wenn sie von der ›Normalisierung‹ solcher Machtbeziehungen durch die Unterhaltungsliteratur spricht. In dem Weblog-Artikel auf Kitsune Books wird ebenfalls Kritik am Roman geübt, allerdings nicht auf der Beziehungs- oder Figurenebene, sondern hinsichtlich der Darstellung von sexueller Belästigung in einer ganz bestimmten Szene: »Was ich aber keinesfalls in Ordnung finde und nicht unerwähnt lassen kann, ist der Umgang der Autorinnen […] mit sexueller Belästigung.« (Kitsune Books) Als fragwürdig wird hierbei nicht die Darstellung eines sexuellen Übergriffes an sich empfunden, sondern dessen Romantisierung. Dies verdeutlicht die Blogger *in mithilfe einer Analogie: »Ich lese ja auch gerne blutige Thriller. Bei denen ist die Botschaft jedoch klar: Mord ist nicht in Ordnung.« Auch das Vergnügen der Leser*in am Abgründigen und Devianten stellt für die Blogger*in keine hinreichende Rechtfertigung für den Inhalt des Buches dar, da es nicht in erster Linie auf

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das Was, sondern auf das Wie der Darstellung und damit auf die textimmanente Wertung ankomme. Selbst unter Weblog-Artikeln, die nicht klar Stellung beziehen, finden sich kritische Positionierungen. So zielt beispielsweise der Artikel auf dem Weblog Kielfeder in erster Linie darauf ab, Begründungen und Legitimierungen für die im Buch dargestellten und weiter unten ausführlicher diskutierten zweifelhaften Inhalte zu finden. Trotzdem steht unter dem Artikel der folgende Kommentar: Mein Hauptproblem mit Büchern mit diesem ›vom Chavinist [sic] /Bad Boy zum Good Boy durch DIE Richtige‹- Ding ist, das [sic] ich es als total unrealistisch empfinde und das [sic] dadurch das Bild weiterverbreitet wird, dass es ok ist, mit einem Mann zusammen zu sein, der dich schlecht behandelt, weil du könntest ihn ja ändern. (Kommentar zu Kielfeder)

Das Argument zielt auf die generischen Konventionen und romantisierenden Tendenzen der erotischen Unterhaltungsliteratur à la Paper Princess ab, die den Auf bau unwahrscheinlicher Erwartungshaltungen seitens der Leserschaft begünstigten. Alle Beispiele bezeugen, dass ein differenziertes Verständnis der Thematik vorliegt. Es werden sowohl problematische Stereotype als auch Handlungsschemata erkannt und benannt. Darüber hinaus werden (wenn auch nicht überall gleich konsequent) verschiedene Argumentations- und Rezeptionsebenen unterschieden. Einen weiteren wichtigen Aspekt stellen die diversen Adressat*innen der Kritik dar. Dabei kann es sich um andere Leser*innen, die Autor*innen oder den Verlag handeln. Bezieht sich die Kritik auf die vorangegangene Debatte um Rape Fiction werden auch andere Leser *innen adressiert: »Das persönliche Gefühl, man ›dürfe plötzlich etwas nicht mehr lesen‹ als Gegenargument ist also keine Auseinandersetzung mit der Kritik, sondern eine Abwehrhaltung.« (Geekgeflüster) Bisweilen wird jedoch die Verantwortung für die Inhalte und deren Darstellung den Autor*innen zugewiesen, die eine Verpf lichtung gegenüber individuellen Leser*innen und der Gesellschaft hätten: »Hier jedoch fragt man sich, ob man sich mit den Autorinnen über Sexismus und sexuelle Übergriffe nicht doch noch einmal unterhalten sollte.« (Kitsune Books) Während insbesondere dort, wo das Genre in Zusammenhang mit dem dargestellten Beziehungsmuster gebracht wird, der Verlag in den Blick gerät: »Dann liegt die eigentliche ›Schuld‹ und vor allem die eigentliche Gefahr für mich eher bei denjenigen, die das als Jugendroman (also 12+) darstellen und nicht bei Autorin und Buch.« (Kommentar zu Kielfeder) Diese verlagsbezogene Argumentation tritt dort besonders häufig auf, wo der

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man grundsätzlich verteidigt wird. Damit wird zwar einerseits die Fragwürdigkeit der dargestellten Inhalte anerkannt, deren negative Wirkung aber hinsichtlich verschiedener Rezeptionsgruppen differenziert: Es wird einerseits von verantwortungsvollen, ref lektierenden Leser*innen ausgegangen, welche mit derartigen Inhalten umgehen können (und denen sich das äußernde Subjekt zumeist selbst zurechnet) und einer Gruppe vulnerabler, beeinf lussbarer Leser*innen, denen der Roman nicht zugemutet werden kann. Auch wenn diese Argumentation allein aus Gründen des Jugendschutzes sicherlich ihre Berechtigung hat, so birgt sie doch die Gefahr, fälschlicherweise von der eigenen Immunität auszugehen und gesellschaftliche Wirkzusammenhänge zu unterschätzen. Legitimationsversuche

Neben den kritischen Äußerungen in Bezug auf den Roman und die verantwortlichen Personen finden sich in den Weblog-Artikeln und Kommentaren auch legitimatorische Äußerungen, die sich als Verteidigung des Romans verstehen lassen. Die wichtigsten Argumente beziehen sich dabei auf das Genre oder den Realitätsgehalt. Die genrebezogene Argumentation verteidigt den Roman als eine typische Erotik-Geschichte und geht dabei sowohl auf die üblichen Muster als auch auf den damit vermeintlich bezeugten Leser*innengeschmack ein. Dass sich solche Geschichten gut verkauften, sei ein Beweis dafür, dass Frauen diese Geschichten eben gerne läsen und damit legitimiere sich die Darstellung, wenn auch als ›guilty pleasure‹. Darüber hinaus sei durch diese Genre-Konvention bzw. die paratextuelle Einordnung bereits ein wichtiger Hinweis darauf gegeben, was die Leser*in zu erwarten habe. Entsprechend sei die Enttäuschung oder Entrüstung über die romantische Darstellung einer missbräuchlichen Beziehung kein Problem des Romans, sondern auf das mangelnde (Genre-)Wissen der Leser*in zurückzuführen.35 Bei der Argumentation anhand der Genre-Konvention steht allerdings weniger der Missbrauchstopos im Fokus, als vielmehr ›der Sex‹. Dabei wird gleichwohl nur selten zwischen Sex und Sexualisierung unterschieden, denn während Figuren, Gespräche und Handlungen stark sexuell aufgeladen sind, kommt Geschlechtsverkehr an sich im Roman kaum vor.

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So heißt es bei Kielfeder etwa »Wenn man Sex (in Büchern) nicht mag, dann lest doch bitte keine Erotikromane!« (Kielfeder).

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Nur einige wenige Äußerungen verteidigen die asymmetrische Machtkonstellation als Genre-Konvention oder als Faszination auslösendes fiktionales Moment. So heißt es in einem Kommentar bei Elea Brandt: »Erotik hat in meinen Augen nochmal einen anderen Stellenwert, da muss es nicht immer realistisch und gleichberechtigt zu gehen [sic].« Diese Position bildet die Minderheit im untersuchten Diskurs, obwohl sie, gemessen an den Kaufentscheidungen, für die Mehrheit der Romantik- und Erotik-Leser*innen repräsentativ sein dürfte. Viel häufiger sind dagegen Kommentare, welche genau diese Genre-Konventionen (des Missbrauchs, nicht der Darstellung von Sex) kritisieren oder dessen Reproduktion als langweilig empfinden.36 Leser*innen, welche zur Verteidigung des Romans auf seine Wirklichkeitsnähe verweisen, argumentieren in gegensätzlicher Weise. Von zwei ähnlich gelagerten Beispielen sei das kürzere zitiert: »Das ist alltäglicher, als so mancher Leser sich das vielleicht eingestehen möchten.« (Kielfeder) Die beiden Legitimationsstrategien  – vermittels Genre und Realitätsnähe – zeigen, dass auch innerhalb des untersuchten Diskurses verschiedene Meinungen und Argumentationen zu dem Roman nebeneinander existieren. Die von der Blogger*in vorgegebene Meinung ist allerdings zumeist auch jene, die in den Kommentaren mehrheitlich geteilt wird.37 Hinzu kommt, dass das Argument der Wirklichkeitsnähe dem Kurzschluss unterliegt, ein fiktionaler Text, der möglicherweise einzelne ›realistische‹ Elemente enthalte, könne damit insgesamt als ›realistischer‹ Text gelten. Gerade die romantische Komponente und die Hoffnung auf ein Happy End, das als Genre-Konvention die Figurenkonzeption und die Handlung final motiviert, verklären die vermeintlich realitätsnahen Aspekte (des sexualisierten Mobbings und des Drogenkonsums) derart, dass sie deren Wirklichkeitsgehalt in sein Gegenteil verkehren. Dass dieser Fehlschluss von der ›Community‹ nicht aufgedeckt wird, legt nahe, dass auch die kritische Auseinandersetzung mit den Äußerungen der anderen Diskussionsteilnehmer*innen beschränkt ist. Das gegenseitige Prüfen, Hinterfragen und ggf. Korrigieren bzw. das Aufeinandertreffen von »Novizen« und »Experten« stellt einen sozialen Bildungseffekt dar,38 der partizipativen Online-Kulturen zugesprochen wird. Dieses Postulat stößt hier allerdings an Grenzen. Ob es sich dabei

36 37

38

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Vgl. Kommentare zu Kitsune Books oder Elea Brandt. Vgl. Cameron Marlow: Audience, Structure and Authority in the Weblog Community. In: International Communication Association Conference. New Orleans, 27.5.2004. URL: http://alumni.media.mit.edu/~cameron/cv/pubs/04-01.pdf (abgerufen am 20.2.2021). Felix Stalder: Kultur der Digitalität. Berlin 2016, S. 137–138.

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um das viel diskutierte Phänomen der ›Filterblase‹ handelt,39 kann hier nicht ausführlich diskutiert werden. Deutlich wird in jedem Fall, dass auch in Online-Communities Wissen nur als endliche Ressource zirkuliert und zwar in dem Maße, wie die Mitglieder bereit oder in der Lage sind, sich gegenseitig zu informieren und zu korrigieren. Je homogener die Gruppe hinsichtlich ihrer Expertise und Ansichten ist, aber auch je weniger kritisch, desto geringer ist das Potenzial, sich gegenseitig weiterzubilden. Lösungsvorschläge als Form konstruktiver Kritik

Einige Kommentare im untersuchten Diskurs enthalten neben Kritik auch Lösungs- bzw. Gegenvorschläge dazu, wie zukünftig Romane dieser Art besser geschrieben oder wie besser mit ihnen umgegangen werden könnte. Sie zeigen das konstruktive Potenzial der Auseinandersetzung. Der Vorschlag einer Kommentierenden zielt etwa darauf ab, den Inhalt des Romans durch einen paratextuellen Verweis kritisch einzuordnen: Wäre beispielsweise eine Art ›Disclaimer‹ am Anfang des Buches, dass die darin enthaltenen Sichtweisen nicht die eigenen Widerspiegeln [sic] und solch ein Verhalten in der Realität nichts zu suchen hat, eine Option? Oder würde das eher wie der erhobene Zeigefinger, oder gar ebenfalls wie eine billige Entschuldigung wirken? (Kommentar zu Elea Brandt)

Ein zweiter Vorschlag verweist auf das sensibilisierende und informierende Potenzial von Romanen, die missbräuchliche Machtkonstellationen darstellen. Mit »Thrillerelemente[n]« innerhalb des Textes könnten so negative Folgen bereits innerhalb der Textwelt dargestellt und sichtbar gemacht werden, so die Hoffnung. (Kommentar zu Elea Brandt) Eine weitere Idee bezieht sich weniger auf die missbräuchlichen Verhaltensweisen an sich als vielmehr darauf, dass diese in der immer gleichen Geschlechterkonstellation reproduziert werden. Das Verhältnis vom starken Mann und der schwachen Frau könnte, so der Vorschlag, auch im Erotikbereich einmal konterkariert oder umgekehrt werden: Was wir wirklich bräuchten, sind Gegenentwürfe zu diesen Missbrauchsbeziehungen. Romane, die aufzeigen, dass ein Mann auch ein guter Liebhaber und ein taffer Typ sein kann, wenn er die Frau nicht dominiert und manipuliert. Oder – wahlweise – Romane, in denen Männer, die ihre Macht missbrauchen, in ihre Schranken gewiesen werden. (Kommentar zu Elea Brandt) 39

Das ursprüngliche Konzept von Eli Pariser (2012) wurde in der empirischen Forschung stark kritisiert. Vgl. Axel Bruns: Are Filter Bubbles Real? Cambridge 2019.

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Da alle drei Vorschläge unter demselben Weblog-Artikel entstanden sind und sich in dieser Explizitheit auch nicht in den anderen untersuchten Diskussionen finden, lässt sich an dieser Stelle darauf schließen, dass lösungsorientierte Debatten kein Automatismus sind. Es bedarf, eines geeigneten Ortes, der richtigen Moderation oder Frage, um eine solche Diskussion anzustoßen. Die Resultate sind äußerst divers und unterscheiden sich im Umfang ihres Textzugriffs, in der Akzeptanz der Romaninhalte sowie hinsichtlich der darin geforderten sozialen Transformationen.

Höfliche Kritik als geschlechtlicher Code und digitale Performanz Die gegenseitige soziale Affirmation der Diskussionsteilnehmer*innen ist in den untersuchten Weblog-Artikeln und Kommentaren auffällig häufig zu beobachten. Immer wieder werden in Kommentar-Threads Formulierungen verwendet, die sich positiv bestätigend auf die anderen Diskussionsteilnehmer*innen (häufig die Blogger*in selbst) beziehen. Die affirmativen gegenseitigen Bezugnahmen reichen von Höf lichkeitsformeln – »Vielen Dank für deine Antwort.« (Kommentar zu Elea Brandt) – über emphatisches Lob bis hin zum Ausdruck von Einigkeit in der Sache und damit einer gewissen Form der Bestätigung bzw. Solidarisierung/Vergemeinschaftung: »[D]eine Argumente kann ich voll und ganz unterschreiben! […] Vielen Dank für den klug geschriebenen Artikel!« (Kommentar zu Geekgeflüster). Hinzu kommen Komplimente, die entweder die Person betreffen oder sich auf konkrete Aspekte des Textes wie dessen Sachlichkeit beziehen. Die Äußerungen unterscheiden sich zwar nach der Spezifizität der Bezugnahme, der Emotionalität und der Personalisierung, treten aber in allen untersuchten Kommentar-Threads auf, weshalb hier davon ausgegangen werden kann, dass es sich nicht um individuelle Verhaltensweisen handelt, sondern um ein systematisches performatives Muster. Dieses Muster kann im Sinne der o. g. Zuschreibungen als ›typisch weiblich‹ gelesen werden, ist aber gewiss auch formatspezifisch: Innerhalb eines Common-Identity Networks wie einem genrespezifischen Buch-Blog40 liegen tendenziell ähnliche Meinungen vor. Entsprechend hoch ist der Grad gegenseitiger Bestätigung. Hinzu kommt,

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Vgl. Axel Kuhn: Lesen in digitalen Netzwerken. In: Rautenberg, Schneider (Hg.): Lesen (Anm. 21), 427-444, hier S. 436.

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dass soziale Affirmation besonders beim Blogging41 und auch speziell beim Buch-Blogging42 zu den Hauptmotivationen zählt. Auch Diskussionen innerhalb der ›Buch-Blogosphäre‹, die weniger »Flausch«43 und mehr »Stacheligkeit«44 fordern, verdeutlichen das eher geringe Streitpotenzial. Insofern sind also umgekehrt die Befunde, die besonders hohe Diskussionsbereitschaft indizieren, in diesem Kommunikationsraum bemerkenswert. Ein zweites affirmatives Muster stellt der häufige Bezug auf Konzepte wie Individualität, Meinungs- und (Lese-)Geschmacksvielfalt dar. Beispielsweise mit dem Argument, jeder möge doch lesen, was er möchte, wird die Debatte vermeintlich befriedet und auf einer diskursiven Metaebene ein ›typisch weiblicher‹ Gestus der Integration und der Harmonisierung ausgedrückt: »Es soll jeder Lesen [sic] was er möchte, ohne sich schlecht zu fühlen oder schämen zu müssen.« (Kommentar zu Kielfeder)45 Solche diplomatischen Haltungen werden allerdings, wenn sie von anderen (vermeintlich) infrage gestellt werden, streitbar verteidigt: »Ich habe auch kein [sic] Nerv darauf mich rechtfertigen zu müssen, sollte mir das Buch tatsächlich gefallen.« (Kommentar zu Kielfeder) Ein häufiges Muster in diesen Beispielen ist dabei die Konstruktion ›Individualität, aber‹. Dabei werden zuerst Meinungspluralismus und Geschmacksurteile affirmiert, um dann mit einer Einschränkung (»aber«) oder einer Kontrastierung (»allerdings«) eine Relativierung vorzunehmen. Es wird also entweder aus persönlicher Betroffenheit oder mangelnder Nachvollziehbarkeit heraus oder aus ideologischen Gründen eine Differenzierung vorgenommen, die in ihrer kontrastierenden Rhetorik eine besondere Wirkung entfaltet, weil mit ihr bereits das Gegenargument vorweggenommen wird.46 Es handelt sich damit nur scheinbar um einen inte-

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Vgl. Anm. 12 und 13. Vgl. Kuhn: Lesen in digitalen Netzwerken. In: Rautenberg, Schneider (Hg.): Lesen (Anm. 21), 427–444, hier S. 438 sowie Raphaela Knipp: Gemeinsam lesen. Zur Kollektivität des Lesens in analogen und digitalen Kontexten (LovelyBooks). In: Sebastian Böck, Julian Ingelmann, Kai Matuszkiewicz, Friederike Schruhl (Hg.): Lesen X.0. Rezeptionsprozesse in der digitalen Gegenwart. Göttingen 2017, S. 171–190, hier S. 177. Karla Paul: Literaturblogs 2016. Keynote der blogger:sessions Konferenz der Leipziger Buchmesse. URL: https://www.buchkolumne.de/literaturblogs-2016-keynote-der-blog gersessions-konferenz-der-leipziger-buchmesse (abgerufen am 20.2.2021). »Hören wir auf zu kuscheln  – lasst uns laut und stachelig werden« war der Titel einer Blogger *innenveranstaltung auf der Leipziger Buchmesse 2018, die medial diskutiert wurde. Vgl. Malu Schrader: Gibt es überhaupt ein ›Wir‹? URL: https://www.boersen blatt.net/en/node/51419 (abgerufen am 20.2.2021). Ähnlich auch: »Natürlich muss es dir nicht gefallen. Wie langweilig wäre doch unsere Bücherwelt, wenn wir alle immer einer Meinung wären?« (Kommentar zu Kielfeder) Ähnlich heißt es: »Es muss einem nicht gefallen, aber ganz ehrlich, die Vorwürfe kann ich nicht nachvollziehen.« (Kommentar zu Kielfeder) Oder: »Selbstverständlich darf jeder

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grativen Gestus, der viel eher eine deutliche Positionierung gegen die verallgemeinernde Nivellierung jeglichen Streitpotenzials darstellt. Die unterschiedlichen affirmativen Performanzen sind beim näheren Betrachten also ambivalent und insofern längst nicht so einfach einem Geschlechterimage zuzuordnen, wie man auf den ersten Blick glauben könnte. Darüber hinaus zeichnet sich in den untersuchten Artikeln und Kommentaren ab, dass performative Formen abhängig sind vom Originalposting. Insbesondere unter dem Artikel von Kielfeder, der am ehesten noch eine verteidigende Haltung gegenüber dem Buch vertritt, fanden sich besonders viele Affirmationen auf individuelle Meinungsäußerungen und Lesegeschmack.

Fazit: Sagbarkeitsräume und affirmative Performanz als Grenzen der Kritik Ausgehend von verschiedenen Repräsentationen und Diskussionen über das ›weibliche Lesen‹ und das ›weibliche Bloggen‹ wurde in der vorliegenden Untersuchung danach gefragt, ob sich für die Stereotypisierungen empirische Belege auf diskursiver und performativer Ebene finden lassen. Dazu wurden vier Weblog-Artikel und die anschließenden Kommentardiskussionen zu dem Erotikroman Paper Princess qualitativ untersucht und sowohl nach den expliziten Positionierungen in Bezug auf dargestellte Geschlechterrollen und -verhältnisse gefragt als auch nach der Art und Weise, wie diese Äußerungen im digitalen Raum vorgebracht werden. Ein besonderer Fokus lag in Anlehnung an verbreitete Annahmen über weibliches Leseverhalten in digitalen Medien auf affirmativen Kommunikationsmustern als möglichen (kulturell etablierten) Indikatoren weiblicher Performanz. Im Ergebnis konnte gezeigt werden, dass eine Kritik an der Romantisierung missbräuchlicher Geschlechterkonstellation und/oder sexueller Belästigung im Roman in allen untersuchten Diskussionen geäußert wurde. Selbst da, wo das ursprüngliche Posting der Blogger*in tendenziell unkritisch oder verteidigend auf den Romaninhalt einging, wurden in der Anschlussdiskussion Gegenargumente genannt. Gemeinsam mit dem hohen Gesamtauf kommen an Kommentaren deutet das auf eine gewisse Offenheit der Diskussionskultur

lesen, was er oder sie will. Und es schreibt auch niemand vor, was einem Einzelnen zu gefallen hat, denn das wären Fragen des persönlichen Buchgeschmacks, der allerdings für eine gesellschaftskritische Diskussion nichts zur Sache tut.« (Geekgeflüster)

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hin. Auch die Befunde hinsichtlich der Komplexität der Argumentation, die Vielfalt der literarischen Wirkebenen (Ästhetik, Narration, Genrekonvention, Fiktionalität, individuelle und gesellschaftliche Wirkung) und adressierten Personengruppen (andere Leser*innen, Autor*innen, Verlag) sowie das konstruktive Nachdenken über bessere Lösungen zeigen, wie groß das Ref lexionspotenzial in deutschsprachigen Buch-Blogs ist – auch wenn sich diese mit romantischer/erotischer Literatur beschäftigen. Natürlich ist hier relativierend darauf hinzuweisen, dass mit der Fokussierung der Analyse auf eine kontroverse Debatte die gefundenen Ergebnisse sicher kritischer sind als in ›normalen‹ Rezensionen. Ziel der Analyse war es aber auch nicht, eine auf alle Textsorten und Diskussionen generalisierbare Aussage über deutschsprachige Romance-Blogs zu treffen, sondern verallgemeinernde Annahmen empirisch zu überprüfen. Sicherlich müsste dieser Ausschnitt um weitere Analysen ergänzt werden, um ein vollständiges Bild zu zeichnen. Der grundsätzlich positive Befund zum Kritikpotenzial in Buch-Blogs muss zudem noch weiter differenziert werden. So zeigten sich neben aller Meinungsdiversität Anzeichen für eine tendenzielle Diskurshoheit der Blogger*in auf ihrem eigenen Weblog. Zwar waren im untersuchten Diskurs überall divergierende Meinungen zu finden, allerdings war die Mehrheit der Kommentare an der Positionierung der Blogger*in orientiert. Außerdem fanden sich Äußerungen, deren fehlerhafte Logik von der ›Community‹ nicht erkannt bzw. thematisiert wird, worin die Grenzen digitaler Peer-Education sichtbar werden. Verglichen mit der Debattenkultur der zeitgenössischen queerfeministischen Avantgarde sind die Diskurse im untersuchten Blogotop gleichwohl geradezu reaktionär. Allein der Grundstruktur des Romans als Liebesroman könnte man Heteronormativität, das Festhalten an binären Geschlechtermodellen sowie das gegenseitige Objektifizieren der Protagonist*innen vorwerfen und die teilweise übergriffige ›Hilfsbereitschaft‹ einiger männlicher Figuren als Paternalismus. All das geschieht im untersuchten Diskurs nicht, was die Grenzen der dort geäußerten ›feministischen Kritik‹ aufzeigt und damit auch einen Hinweis auf die diskursiven Selbstverständlichkeiten bzw. Sagbarkeiten innerhalb des Romance-/Erotik-Genres liefert. In eine ähnliche Richtung weisen auch die Befunde zur untersuchten digitalen Performanz auf den untersuchten Weblogs. So zeigte sich insgesamt ein sehr hohes Maß an persönlicher und sozialer Affirmation, indem positiv, höf lich und bei Widerspruch eher vorsichtig aufeinander reagiert wurde. Allerdings ergibt sich ein anderes Bild bei der Betrachtung der zweiten Dimension von Affirmation: In Bezug auf die metadiskursiven Bemühungen um die Ak-

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zeptanz gegenüber verschiedenen Meinungen, Geschmäckern und Büchern werden ein hohes Maß an Ambivalenz und indirekter Kritik sichtbar, die sich schlimmstenfalls als Verschleierung der eigenen Meinungslosigkeit im hehren Streiten für die Akzeptanz aller deuten lassen. Damit kann auch die Frage nach der Verbreitung weiblich kodierter Performanzen im digitalen Raum nur differenzierend beantwortet werden: Während sich eine weibliche visuelle Ästhetik (vgl. Einleitungskapitel) mit einem hohen Grad an affirmativer Soziabilität vermischt, wird gleichzeitig auf der Sachebene Kritik geübt und Widerspruch geäußert – wenn auch oft in indirekter Weise. Insbesondere die bereits erläuterte Überschneidung mit Formatkonventionen und soziokulturellen Charakteristika digitaler Räume47 fügt diesem Befund noch eine weitere Variable hinzu, deren Zusammenwirken hier nicht abschließend geklärt werden kann und insofern ein Forschungsdesiderat darstellt. Eine pauschale Beurteilung von weiblichen Blogger*innen als affirmativ und unkritisch ist vor diesem Hintergrund allerdings nicht haltbar und bedient traditionelle misogyne Muster.48 Und auch wenn im untersuchten Diskurs immer wieder unkritische und regressive Äußerungen auftraten, ermöglicht nicht zuletzt die Vernetztheit über die eigene Community bzw. Filterblase hinaus es, solche Grenzen in Zukunft sukzessive zu erweitern oder abzubauen.

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Vgl. Anm. 23 und 24. Vgl. Herrmann: Zur Kritik des normierten Lesens (Anm. 7).

Figuren der Umkehrung Martina Wernli

Figuren der Umkehrung (Gegen-)Kanon, Auszählen und Gender in sozialen Medien In einem Tweet von Sommer 2019 schrieb die Journalistin und Autorin Simone Meier: Auch nicht sein Lieblingsoutfit, ein schlichtes Blümchenkleid von Dior, konnte Thomas Bernhard von seiner lebenslangen Schlechtewetterlaune ablenken. Wie Blei legte sich diese auf sein schwer verdauliches Werk.1

Was war geschehen und was sollten diese zwei Sätze bedeuten? Ohne Kontext lassen sie sich schwer verstehen. Auf Thomas Bernhard im Blümchenkleid ist noch zurückzukommen, die Vorgeschichte dazu lässt sich wie folgt umreißen: Seit Jahren wird darauf verwiesen, dass Frauen im Literaturbetrieb, in Verlagen in führenden Positionen und im Feuilleton deutlich unterproportional vertreten sind. Sowohl für den aktuellen Zeitraum als auch bei historischer Betrachtung fällt auf: (Gesamt- sowie Neu-)Ausgaben von Autorinnen fehlen und die Kritik und Forschung zu ihren Werken hinkt hinter der Auseinandersetzung mit den männlich dominierten, traditionellkanonischen Werken her. Diese Beobachtungen stammen nicht nur aus dem Literaturbetrieb und der Literaturkritik, auch die universitäre Lehre kreist (immer noch) mehrheitlich um kanonische und daher mehrheitlich männliche Namen. Verändert hat sich in den letzten Jahren wenig, zu wenig. Die folgenden Ausführungen sind in vier Teile gegliedert, in denen es zunächst um (allgemeinere) Kanonfragen, sodann um Zahlen und drittens um Figuren der Umdrehung geht. Ein vierter Abschnitt formuliert schließlich ein Fazit und bietet einen Ausblick.

Kanonfragen Ganz allgemein gesprochen sind Fragen des Kanons meist mit pädagogischen Diskursen verbunden. Sie treten in Diskussionen von Bildungsinstitutionen auf, an Schulen und Universitäten, wo entschieden werden muss, welches 1

@SimoneMeier3, 5.8.2019, URL: https://twitter.com/SimoneMeier3/status/115827962 7367944192 (abgerufen am 13.2.2021).

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Basiswissen und damit auch welche Lektüren bei Schüler*innen und Studierenden vorauszusetzen sind. Welche Bücher sollte man gelesen haben? Als epistemisches Ding im Sinne Hans-Jörg Rheinbergers2 lässt sich mit einem Kanon fragen, was man wissen und kennen muss, als technisches Ding ist ein Kanon oder eine Leseliste schlicht das Werkzeug, womit geprüft wird. Als epistemisches Ding ist ein Kanon f luide und lässt sich inhaltlich immer neu befragen, als technisches Ding steht ein Kanon als Liste fest und bildet eine Vorgabe. Meistens treten die beiden Aspekte vermischt auf; Kanones bergen oft einen normativ-theoretischen sowie einen pragmatischen Kern. In pädagogischen Institutionen sind Abitur, Bachelor- oder Master-Abschlüsse die formalen Ziele, zu deren Erreichen eigene Kanones verfasst und beibehalten werden. Im pädagogischen Kontext können Kanones in Form von Leselisten deshalb nicht bloß als ein längst aus der Mode gekommenes Korsett betrachtet werden, das abgelegt werden könnte und sollte, vielmehr bleibt es ein pragmatisches Element von Bildungsinstitutionen. Die Inhalte dieser Kanones sind historisch bedingt und entsprechend veränderlich, sie können immer von Neuem diskutiert und hinterfragt werden. Dies war in den letzten rund 20  Jahren mit steigender Intensität der Fall. Kanonisierungsthemen und die Frage nach der Rolle von Institutionen wurden neu gestellt, das zeigt etwa das Handbuch Kanon (2013), herausgegeben von Gabriele Rippl und Simone Winko oder der Sonderband Literarische Kanonbildung (2002).3 Die Forschung unterscheidet zwischen normativen und deskriptiven Kanontheorien – die Praxis weist häufig Überschneidungen der Bereiche auf. An den Polen der Diskussion wird der Fokus entweder auf die ästhetisch begründete Wertung von Texten gelegt – das Argument lautet dann, dass der Kanon die ›beste‹ Literatur versammelt.4 Oder es wird eine grundlegende Kontingenz von Kanones betont, dabei werden die Regeln des Marktes verdeutlicht, die mit der Qualität von Texten nicht zwingend verbunden sein müssen. Kanones sind aus dieser Perspektive betrachtet hauptsächlich Pro2 3

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Vgl. Hans-Jörg Rheinberger: Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas. Göttingen 2002. Vgl. Gabriele Rippl, Simone Winko (Hg.): Handbuch Kanon und Wertung. Theorien, Instanzen, Geschichte. Stuttgart, Weimar 2013; Matthias Beilein, Claudia Stockinger, Simone Winko (Hg.): Kanon, Wertung und Vermittlung: Literatur in der Wissensgesellschaft. Berlin 2012; Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Literarische Kanonbildung. Text + Kritik Sonderband. IX/2002. München 2002; Nicholas Saul, Ricarda Schmidt (Hg.): Literarische Wertung und Kanonbildung. Würzburg 2007; Erdmute Sylvester-Habenicht: Kanon und Geschlecht. Eine Re-Inspektion aktueller Literaturgeschichtsschreibung aus feministisch-genderorientierter Sicht. Frankfurt a. M. 2009. Harold Bloom: The Western Canon: The Books and School of the Ages. San Diego 1994.

Figuren der Umkehrung

dukte von ökonomischen Prozessen.5 Die erstgenannte Argumentation wird nur noch selten vertreten – denn dass die Aufnahme in einen Kanon lediglich der Qualität von Texten geschuldet wäre, hieße ja im Umkehrschluss, dass alle nicht-kanonischen Texte schlicht den inhaltlich-ästhetischen Anforderungen nicht Genüge leisten würden. Vom Kanon ausgeschlossen werden Texte und Autor*innen aber auch durch Machtstrukturen, die mit der Qualität von literarischen Produkten nicht zwingend in einer Verbindung stehen. Die spezifischen Ein- und Ausschlussverfahren zeigen vielmehr die Einbindung von Literatur in gesellschaftspolitische Dynamiken und weisen sie dergestalt selbst als ein soziales Phänomen aus. Wenn nun in dieser Kanontradierung und -neubildung Ungleichgewichte in Bezug auf Gender konstatiert werden können, gibt es (neben Resignation) unterschiedliche Möglichkeiten, diese Zustände zu benennen und auf diese Missstände zu reagieren. Als ein mögliches Gegenkonzept kann von ›Gegenkanon‹ gesprochen werden. Ein Gegenkanon stellt mithin den Versuch dar, den einengenden Mustern etwa von Leselisten mit einer alternativen, inklusiveren Liste zu begegnen und die vorherrschenden patriarchalen Machtstrukturen damit zu unterlaufen. Aber selbstverständlich basiert auch ein neu zu erstellender Gegenkanon auf Prozessen der Selektion sowie des Ausschlusses und die zu berücksichtigenden Aspekte betreffen nicht nur Gender, sondern etwa auch race oder class.6 Die Anforderungen sind also komplex. Im Folgenden stehen hauptsächlich zwei Reaktionsstrategien auf Missstände im Zentrum, nämlich der Einsatz von Zahlen einerseits und die Figur der Umkehrung andererseits, als zwei Möglichkeiten, mit denen auf das Ungleichgewicht in der Geschlechterrezeption auf dem Buchmarkt, im Feuilleton und in der Literaturwissenschaft reagiert wird. Diese Felder werden hier also in ihrer Verwobenheit miteinander betrachtet. Bei den Strategien handelt es sich entweder um den Versuch, mit Zahlen zu überzeugen oder mittels Umkehrungen aufzuzeigen, wie über marginalisierte Positionen gesprochen wird. Beide Vorgehensweisen haben zum Ziel, Probleme sichtbar zu machen und Missstände zu beheben. Ob und inwiefern das aussichtsreich 5 6

Barbara Herrnstein Smith: Contingencies of Value. Alternative Perspectives for Critical Theory. Cambridge Mass. London 1988. In Bezug auf die Frauenbewegung der 1970er- und 1980er-Jahre warnte Audre Lorde schon früh: »Das Ignorieren von Race unter Frauen* und die Auswirkungen dieser Unterschiede sind die größte Bedrohung für die Mobilisierung einer solidarischen Frauen*bewegung.« Audre Lorde [1984]: Alter, Race, Klasse und Gender: Frauen* definieren ihre Unterschiede neu, übers. von Yemisi Babatola, Amora Bosco. In: Natasha A. Kelly (Hg.): Schwarzer Feminismus. Grundlagentexte. Münster 2019, S. 107–119, hier S. 112.

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sein kann, lässt sich diskutieren. Beide Strategien sind weder disziplinär noch institutionell gebunden; auch lassen sie sich nicht auf historische Zeiträume als ihren Bezugs- und Untersuchungszeitraum beschränken. Beiden widmen sich nicht nur einzelne Wissenschaftler*innen, sondern ein loses Kollektiv unterschiedlicher Berufsgruppen, die sich grob gefasst den Berufsfeldern der Geisteswissenschaften und dem Journalismus zurechnen lassen. Viele nutzen die sozialen Medien für Wortmeldungen und nicht selten verbleiben die Kommentare und Analysen auch genau dort – in den blasenartig organisierten Diskursen mit eingeweihten Akteuren, die sich vielleicht gegenseitig ein Like schenken. Gerade Auszählungen und Zahlen haben jedoch das Potenzial, über die sozialen Medien hinaus Verbreitung zu finden. Dies dürfte mit ihrer kontrastiven Plastizität zusammenhängen: Entgegen der ›qualitativen‹ Wertungen, die in der normativen Kanonselektion am Einzelwerk Besonderheit begründet, zeigen sie anhand der schieren Zahl die generellen Missverhältnisse auf.

Auszählen In Diskussionen über Ungleichgewichte und systematische Benachteiligungen können Zahlen den impliziten Vorwurf von bloßen Befindlichkeiten entkräften und zu gewichtigen Argumenten werden. Zahlen zählen und Zahlen überzeugen. Zu unterscheiden sind die unterschiedlichen Rollen von Zahlen als entweder Einzelziffern oder Teile einer Masse von Zahlen in Big Data, deren spezifische Kontexte wiederum berücksichtigt werden müssen.7 Auszählen lassen sich beispielsweise die Vergabe von Preisen, eine Erwähnung im Feuilleton oder die Platzierung im Buchmarkt. Die Literaturnobelpreise gingen bisher nur zu elf Prozent an Frauen.8 Nobelpreise sind aber bekanntlich Kanonmarker und Kanonmacher, dies gilt auch über die 2018 aufgedeckten Fälle von Missbrauch in der Schwedischen Akademie und den dadurch beschädigten Ruf der Institution hinaus. Die niedrige Prozentzahl zeigt, wie wenig die Autorinnen in der kanonischen

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Die Autorinnen von Data Feminism betonen in Bezug auf Big Data die Wichtigkeit des Zahlenkontextes gerade für einen intersektional ausgerichteten, feministischen Ansatz (das sechste Kapitel bringt es dort auf den Punkt: »The Numbers Don’t Speak for Themselves«). Vgl. Catherine D’Ignazio, Lauren F. Klein: Data Feminism. MIT Libraries 2020. URL: https://data-feminism.mitpress.mit.edu/ (abgerufen am 12.2.2021). Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_von_Frauenanteilen_in_der_Berufswelt#Nobel preise (abgerufen am 13.2.2021).

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Ordnung angekommen sind. Und wenn sie mit Preisen ausgezeichnet werden, dann werden sie erst in zweiter Linie als Individuen dargestellt, meist sind sie hauptsächlich: Vertreterinnen ihres Geschlechts. Damit gibt es auch eine Sexualisierung von Preisen, nicht nur bei den Debüts von Autorinnen.9 Diese Sexualisierung ist kein generelles Phänomen, sondern richtet sich gegen Frauen und ihr Schaffen. Als Elfriede Jelinek 2004 den Literaturnobelpreis erhielt, brachte sie die Problematik auf den Punkt, als sie sagte, »es sei ihr bewusst, dass, wenn man den Preis als Frau bekommt, dann kriegt man ihn auch als Frau, und kann sich nicht uneingeschränkt freuen«10. Inwiefern die Kategorie Geschlecht gerade bei dieser Preisverleihung eine Rolle spielte, analysierte Barbara Becker-Cantarino. Sie stellte mit Bezug auf eine von Marcel Reich-Ranicki unter dem Titel Die missbrauchte Frau verfassten Kritik im Spiegel Parallelen zum Zeitraum um 1800 fest: »Kein Genie aber doch geschickt, das sagten auch Schiller und Goethe über schreibende Frauen. […] Die Paradigmen der ›ästhetischen Ideologie‹ von 1800 sind bei Reich-Ranicki noch immer lebendig, ebenso wie die Trivialisierung der Autorin und ihrer Produkte wegen ihres Geschlechts. Hier werden Kämpfe von vorgestern ausgetragen.«11 Bei anderen Preisen sieht es auch nicht besser aus: Auch The Booker Prize, den es im Gegensatz zum Nobelpreis erst seit 1969 gibt, wurde bisher mehrheitlich Männern verliehen.12 Die Preisträgerin von 2019, Bernardine Evaristo, hat sich unlängst in einer Rede für einen breiteren, inklusiven Kanon stark gemacht.13 Evaristo gehört zu den Personen, die mit einem »first« bedacht wurden – sie ist die erste Schwarze Frau, die den Booker Prize bekommen hat, wie man etwa in Wikipedia liest – als eine Vertreterin eines Geschlechts und einer Ethnie und damit sowohl von Sexismus als auch von

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Vgl. den Beitrag von Peter C. Pohl in diesem Band. Der Spiegel veröffentlichte am 7.10.2004 einen Artikel mit dem Titel »Elfriede Jelinek hat Angst vor der Auszeichnung«, in: URL: https://www.spiegel.de/kultur/literatur/lite raturnobelpreis-elfriede-jelinek-hat-angst-vor-der-auszeichnung-a-321965.html#foto strecke-7dbf97c0-0001-0002-0000-000000001563 (abgerufen am 12.2.2021). Barbara Becker-Cantarino: Ästhetik, Geschlecht und literarische Wertung, oder: warum hat Elfriede Jelinek den Nobelpreis erhalten? In: Saul, Schmidt (Hg.): Literarische Wertung und Kanonbildung (Anm. 3), S. 125–149, hier S. 147 f. Vgl. URL: https://thebookerprizes.com/ (abgerufen am 12.2.2021). Überhaupt würde sich ein Blick über den Tellerrand hinaus lohnen, etwa hin zum indischen Seagull BooksVerlag und dessen German oder Swiss List und der Wahrnehmung des Kanons von einer Außenperspektive. Vgl. URL: https://www.seagullbooks.org/books-by-series/the-ger man-list/ (abgerufen am 12.2.2021). Das Verlagsprogramm kann vermitteln, was in einem indischen Kontext als deutschsprachiger Kanon wahrgenommen wird. New Statesman/Goldsmiths Prize Lecture. URL: https://bit.ly/3wAscxL (abgerufen am 13.2.2021).

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Rassismus betroffen. Die Reihe der »firsts« umfasst Preisträgerinnen anderer Disziplinen und Inhaberinnen politischer Ämter, die als Vertreterinnen ihres Geschlechts inszeniert werden – Beispiele aus dem Jahr 2020 sind die ChemieNobelpreisträgerinnen Emmanuelle Charpentier und Jennifer A. Doudna14 sowie die WTO-Vorsitzende Ngozi Okonjo-Iweala – und von unterschiedlichen internationalen Medien vorerst ohne Namensnennung als »Frauen«15 bezeichnet wurden. Im Fall von Okonjo-Iweala verlängerte sich die Liste der Fauxpas über die erste Berichterstattung hinaus: So mussten im Februar 2021 mehrere Schweizer Tageszeitungen des CH-Medien-Verbundes ihre Titelgebung ändern, hatten sie doch die Wahl der nigerianischen Politikerin überschrieben mit »Diese Grossmutter wird neue Chefin der Welthandelsorganisation«16. Die sexistische Schreibweise fand in diesem Fall in PrintMedien statt, die Kritik dazu folgte als Shitstorm hauptsächlich auf Twitter und die Online-Ausgaben der Zeitungen mussten in der Folge die Titel ändern – was wiederum auf Twitter kommentiert wurde. Die Anwendung einer Umkehrprobe zeigt in diesem Beispiel zum einen auf, dass mit Preisen ausgezeichnete Männer mit Namen, nicht mit bloßer Geschlechtszugehörigkeit, genannt werden, und dass aktuell aktive Politiker nicht in ihrer Eigenschaft als Großväter (von denen es viele gäbe) präsentiert werden.17 Gegen eine namenlose Vertreterrolle wenden sich vor allem im Rahmen der Black-Lives-Matter-Bewegung Kommentare mit dem Hashtag #saytheir names.18 Unter diesem Schlagwort wird in den sozialen Medien das versammelt, was man als ›Writing Back‹ bezeichnen kann, eine Form der Wieder14

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Paul Rincon von BBC etwa setzte am 7.10.2020 den Titel »Two women share chemistry Nobel in historic win for ›genetic scissors‹«. URL: https://bbc.in/3vq6bA2 (abgerufen am 13.2.2021). Der EU-Korrespondent für die FAZ, Hendrik Kafsack (@HendrikKafsack), schrieb am 8.10.2020 »Welthandel: Erstmals rückt eine Frau an die Spitze der WTO«. URL: https:// twitter.com/HendrikKafsack/status/1314179563249901570 (abgerufen am 13.2.2021). Vgl. Grossmutter-Fail. CH-Media-Zeitungen müssen Titel verändern. URL: https:// www.persoenlich.com/medien/ch-media-zeitungen-mussen-titel-andern (abgerufen am 13.2.2021). Dies hielt auch die Politikerin Silvia Schenker in ihrer Twitter-Reaktion fest, als sie schrieb: »Nie, aber gar nie würde der Titel bei einem Mann mit: Dieser Grossvater wird... beginnen.« @SchenkerSilvia, 9.2.2021, https://twitter.com/SchenkerSilvia/status/13591 57639272407043 (abgerufen am 13.2.2021). Der Hashtag hieß ursprünglich #sayhername. Er wurde von Kimberlé Crenshaw eingeführt, um die Erfahrungen Schwarzer Frauen mit rassistischer Polizeigewalt sichtbar zu machen. Die Verwendung von #saytheirnames oder #sayhisname wird von vielen Schwarzen Feminist *innen deshalb häufig kritisiert. Vgl. hierzu: Celia Parbey: »Warum Schwarze Frauen in der Black-Lives-Matter-Bewegung kaum sichtbar sind«. In: Zeit.de. URL: https://ze.tt/schwarze-frauen-sind-in-der-black-lives-matter-bewegung-kaumsichtbar/ (abgerufen am 12.2.2021). Für den Hinweis auf diese Problematik danke ich Sara Bachiri.

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aneignung von Namen und Inhalten, wie sie im Schwarzen Feminismus Audre Lorde schon in den 1980er Jahren forderte. Eine Forderung, die wie die obigen Beispiele gezeigt haben, noch nicht obsolet wurde. Nicht nur an den Preisen für herausragende Schreibende, sondern auch an der medialen Berichterstattung und den Rezensionen im Feuilleton zeigt sich ein Ungleichgewicht in der Verteilung der Geschlechter. Veronika Schuchter hat 2019 nicht nur in Zahlen, sondern auch in grafischen Darstellungen gezeigt, wie die Rollen der Akteure in Bezug auf BelletristikBesprechungen verteilt sind. Dafür hat die Literaturwissenschaftlerin zwölf Tages- und Wochenzeitungen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz vergleichend analysiert und konnte so unter anderem aufzeigen, dass mehr Männer als Frauen in den betreffenden Medien publizieren und dass sie zudem mehr über Bücher von Männern schreiben.19 Im Vergleich dazu schreiben die in der Anzahl deutlich weniger vertretenen Frauen ausgeglichener über Bücher von Männern und Frauen. Bereits davor wurde an der Universität Rostock ein Pilotprojekt mit dem Titel #Frauenzählen durchgeführt, das die Sichtbarkeit von Frauen in Medien und im Literaturbetrieb untersuchte.20 Dafür wurden im Frühjahr 2018 Tausende Rezensionen untersucht, mit dem Ergebnis, dass im genannten Zeitraum zum einen das Verhältnis der Nennung von männlichen Autoren gegenüber weiblichen bei 2:1 lag und zum anderen, wie Schuchter später ebenfalls belegen konnte, dass Männer vor allem Männer besprachen, während Frauen ungefähr ausgeglichen Männer und Frauen rezensierten. Neben den Preisen und dem Feuilleton sind auch die Situation auf dem Buchmarkt und die Strategien von Verlagen zu beachten. Nicole Seifert und Berit Glanz zählten ab November 2019 die deutschsprachigen Verlagsvorschauen für den Frühling 2020 durch und kamen zu einem ernüchternden Ergebnis: Je renommierter ein Verlag ist, desto mehr setzt er (immer noch) auf Werke von Männern  – Verlage wie Hanser, Hoffmann und Campe, Wallstein oder S. Fischer hatten für das entsprechende Frühlingsprogramm Autorenanteile von über 70 Prozent.21 Die Datenerhebung von Seifert und Glanz kam mit Follower-Power auf Twitter zustande und das Resultat wurde 19

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Veronika Schuchter: »Geschlechterverhältnisse in der Literaturkritik.« URL: https://lite raturkritik.de/geschlechterverhaeltnisse-in-der-literaturkritik-eine-quantitative-untersu chung,25232.html (abgerufen am 12.2.2021). Vgl. URL: http://www.xn--frauenzhlen-r8a.de/ (abgerufen am 12.2.2021). Vgl. den Literaturblog von Nicole Seifert URL: https://nachtundtag.blog/, den SpiegelArtikel mit dem Titel »Wenn es unterhaltsam wird, sind die Frauen dran« (22.12.2019), in: URL: https://www.spiegel.de/kultur/literatur/vorschauenzaehlen-anteil-von-autorin nen-in-den-fruehjahrsprogrammen-a-1301975.html (abgerufen am 12.2.2021). Vgl. auch

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in einem Spreadsheet veröffentlicht.22 Diese in den sozialen Medien organisierte Auszählung schaffte es auch in den Spiegel, kam also über Twitter ins Feuilleton. Die Auszählung und die Präsentation von Zahlen machen die Verhältnisse deutlich, die unter Umständen auch aus nicht nur bewussten Prozessen hervorgegangen sind. Insofern sind diese einzelnen Initiativen und die Verbreitung ihrer Resultate sehr wichtig.23 Eines dürfte klar sein: Neuerscheinungen großer Verlage ziehen Rezensionen, Buchpräsentationen und Lesungen nach sich – und diese Publizität wiederum kurbelt unter Umständen den Verkauf der Bücher an. Literaturmarkt und Literaturbetrieb beeinf lussen sich gegenseitig – das ist zwar keine neue Erkenntnis, in Bezug auf ausschließende Mechanismen aber bedenkenswert. Sollten Kanones verändert werden, müssten Autorinnen und ihre Werke erst gelesen und besprochen werden  – und dieser Umstand setzt natürlich deren Publikation voraus. Liegt der Fokus der großen Verlage weiterhin bewusst oder unbewusst auf Büchern von Männern, werden sich Leselisten nicht so schnell ändern – nicht einmal im Bereich der Gegenwartsliteratur, gerade dort, wo sich bei naiver Betrachtung eine Gleichstellung hätte vermuten lassen. Aber nicht nur in Bezug auf Gegenwartsliteratur bestehen große Lücken, darauf hat die Gymnasiallehrerin und Bloggerin Katharina Herrmann mit Blick auf historische Autorinnen in der Publikation und Verbreitung von Werken von Schriftstellerinnen verwiesen. In ihrem Blog Kulturgeschwätz schildert sie die Probleme, die sich beim Schreiben ihres Buches über Dichterinnen und Denkerinnen (2020) stellten: Von vielen bereits verstorbenen Autorinnen sind Werke nur noch in nicht-zitierfähigen Print-on-Demand-Ausgaben oder nur antiquarisch erhältlich. Herrmanns Beispiele sind etwa Johanna Schopenhauer (1766–1838) oder Ricarda Huch (1864–1947), bei deren zeitgenössischem Bekanntheitsgrad nur schwer verständlich ist, warum ihre Werke heute weder in adäquaten Ausgaben vorhanden sind noch wiederaufgelegt werden, zumal sich dieser Umstand inhaltlich keinesfalls rechtfertigen ließe. Will man nun beispielsweise, wie Herrmann es tat, in Büchern Texte von Huch aufnehmen, gibt es zwei unbefriedigende Varianten: Entweder entscheidet man sich für einen Textausschnitt aus den anspruchsvol-

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URL: https://www.berliner-zeitung.de/kultur-vergnuegen/gleichberechtigung-frauenin-der-buchbranche-maenner-lesen-anders-li.78460 (abgerufen am 12.2.2021). Vgl. URL: https://kurzelinks.de/1xe4 (abgerufen am 12.2.2021). Dass sich an den genannten Auszählungen und der Verbreitung der Resultate immer noch deutlich weniger Männer beteiligen als Frauen, zeigt auf, dass das Problembewusstsein und das Handlungsbedürfnis (noch) nicht gleich verbreitet sind.

Figuren der Umkehrung

leren Werken der historischen Autorin, die jedoch nicht greif bar sind, oder man gibt sich mit dem zufrieden, was auf dem Markt zwar lieferbar ist, aber nicht zwingend die besten Bücher ausmacht. Das bedeutet im konkreten Fall einen Rückgriff auf Texte Huchs, die eher der Unterhaltungsliteratur zuzurechnen sind, was das Bild einer ›vergessenen‹ Autorin nachhaltig beeinf lusst.24 Meine eigenen Auszählungen setzten etwa bei der Publikation von wissenschaftlichen Handbüchern zu Autor*innen und bei Gedichtanthologien an. Beispielsweise lassen sich zu den Handbüchern als Grundlagenwerke für die Lehre und Forschung folgende Zahlen eruieren: De Gruyter hat bisher insgesamt 24 Handbücher publiziert oder auf der Verlagsseite angekündigt. Davon sind zwei zu Autorinnen: Annette von Droste-Hülshoff und Bettina von Arnim. Zwei weitere Werke zu Brigitte Kronauer und Else Lasker-Schüler sind derzeit in Planung.25 Der Metzler-Verlag hat bisher zu 34 deutschsprachigen Personen Handbücher herausgegeben. Davon sind fünf zu Frauen, nämlich Ingeborg Bachmann, Christa Wolf, Elfriede Jelinek, Herta Müller und zuletzt zu Anna Seghers erschienen. Zusammengerechnet sind in den beiden Verlagen also 58 Handbücher erschienen oder angekündigt, davon sind sieben zu Schriftstellerinnen. Oder anders gesagt sind 88 Prozent zu männlichen Autoren und zwölf Prozent zu weiblichen Autoren verfasst. Das bedeutet, dass auf dieser basalen Ebene weniger zu Autorinnen geforscht wird als zu Autoren. Zudem lässt sich beispielsweise bei wiederaufgelegten Werken beobachten, dass manchmal auch schlicht der technische (!) Aufwand gescheut wird, an einer Integration von Autorinnen und damit an einem Umschreiben des Kanons mitzuwirken: So enthält die erweiterte Neuausgabe von Dietrich Bodes Gedichtanthologie Deutsche Lyrik (1984/2018) in einem neuen Umschlag neben anonym überlieferten Gedichten 132 Autorennamen. In der Neuausgabe sind zwölf Frauen mit dabei, das entspricht neun Prozent. Während die Gegenwartsliteratur mit Autorinnen angereichert wurde, blieb die Sammlung in Bezug auf die historischen Autoren bestehen – als erste deutsche Lyrikerin wird Annette von Droste-Hülshoff (1797–1848) genannt. Auf eine Nachfrage antwortete der Reclam Verlag, es sei aus »her-

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Katharina Herrmann: »Frauen lesen ohne Digitalisierung – unmöglich«. In: URL: https:// kulturgeschwaetz.wordpress.com/2020/01/25/frauen-lesen-ohne-digitalisierung-unmoeg lich/, 25.1.2020, (abgerufen am 12.2.2021). Dies.: Dichterinnen und Denkerinnen. Frauen, die trotzdem geschrieben haben. Stuttgart 2020. Bei dieser Angabe handelt es sich lediglich um eine Momentaufnahme ohne Gewähr, es werden hoffentlich bald weitere Handbücher zu Autorinnen geplant und publiziert.

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stellerischen Gründen«26 nicht möglich gewesen, das ganze Buch zu überarbeiten. Ökonomische Gründe führt der Reclam Verlag an, wenn nach einer Neuauf lage von Hannelore Schlaffers Anthologie zu Karoline von Günderrodes Werk gefragt wird. Der Band habe zuletzt zu wenig Abnehmer gefunden, schrieb der Verlag.27 Reclam publizierte 2020 dafür den Band Frauen | Lyrik. Gedichte in deutscher Sprache (hg. von Anna Bers), mit dem zu einem Teil die Leerstellen anderer Bände wettgemacht werden können. Damit macht der Verlag aber vor allem auch klar, welche Aktualität der Mechanismus besitzt, den Simone de Beauvoir in Le Deuxième Sexe bereits 1949 beschrieben hatte. #Frauenzählen kann zeigen, wie Frauen (in diesem Fall: Autorinnen) durch Publikationsstrategien und -praktiken noch immer zum ›Anderen‹ gemacht werden. Dafür schärfen gerade die Sozialen Medien wie Twitter den Blick. Die oben genannten, und an einzelnen Beispielen vorgestellten Hashtags behandeln Literaturwissenschaft, -betrieb, -kritik oder das Verlagswesen und zielen meist auf das Schreiben von und über Frauen. Aus dieser Auseinandersetzung resultieren unterschiedliche Forderungen, an deren Polen zum einen eine generelle Abschaffung der Kanones gewünscht oder, auf der anderen Seite, möglichst integrativ gearbeitet – also in bestehenden Kanones vermehrt Intersektionalität abzubilden versucht wird.28 Hanna Engelmeiers Bemerkungen zur jüngsten Kanondebatte im Merkur führen zum Schluss, dass Kanones und ihre historische Situierung in einer Zukunftsvision hinter sich gelassen werden könnten.29 Dass dies heute (noch) nicht der Fall ist, zeigen die universitären Leselisten, die, wie bereits erwähnt, aus pragmatischen Gründen immer noch Teil von Studiengängen sind. Viele literaturwissenschaftliche Institute verfügen nach wie vor darüber und prüfen mit solchen Leselisten.30

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@ReclamPresse, 7.2.2020. E-Mail des Reclam-Verlages (Bereichsleitung Schule und Studium) vom 7.9.2020. Vgl. Katherin Bryla: Kanon und Konkurrenz. In: PS – Politisch schreiben. Anmerkungen zum Literaturbetrieb. URL: https://www.politischschreiben.net/konkurrenz-und-ka non/ (abgerufen am 12.2.2021). Hanna Engelmeier: Bemerkungen zur jüngsten Kanondebatte. In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken. 26.8.2019. URL: https://www.merkur-zeitschrift. de/2019/08/26/bemerkungen-zur-juengsten-kanon-debatte/ (abgerufen am 12.2.2021). Auf diese Listen kann hier nicht weiter eingegangen werden, eine Auswahl solcher Listen findet sich in dem Blog zum Thema #DieKanon, das in einem meiner Seminare an der Universität Frankfurt entstanden ist. URL: https://kanonsem.hypotheses.org/440 (abgerufen am 12.2.2021). Die meisten Einträge im Blog stammen von Studierenden.

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Umdrehen Neben dem Auszählen und der Präsentation von Zahlen sind es – so lautet die These – Figuren der Umkehrung, die ungleiche Verteilungen und vor allem situative Sprechweisen und implizite Normen deutlich machen wollen und können. Dies geschieht vor allem in Sozialen Medien, wo Literaturkritik und -wissenschaft einen Ref lexionsraum gefunden haben.31 Dabei gibt es die Umkehrung von geschlechterstereotyper Sprechweise auch in Bezug auf alltägliche Dinge, abseits von Literatur. Als Beispiel mag der Twitter-Account The Man Who Has It All (@manwhohasitall) dienen, der sich als Satire-Account vorstellt und der Tipps gibt und Fragen stellt. Diese klingen beispielsweise so: »My friend is a history teacher. She’s compiling a list of great historical figures and she needs a male to add to the list. Suggestions?«32 Die Fragestellung dreht eine gängige Situation um  – eine scheinbar gegebene Liste von weiblichen Geschichtsgrößen soll um männliche Vertreter ergänzt werden. Diese Umdrehung verdeutlicht die Praktik des tokenism, ein Vorgehen, bei dem Akteurinnen (oder andere Marginalisierte) oftmals nachträglich zu Listen hinzugefügt und dafür aktiv gesucht werden müssen, ohne dass das Interesse tatsächlich auf ihren Leistungen oder fachlichen Inhalten liegen würde. Dieses Vorgehen ist bekannt und wird oft kritisiert.33 Zum anderen regt die Frage zu Antworten an, die diese Umkehrung selbst wieder vornehmen. So antwortete beispielsweise die Autorin und Journalistin Annika Brockschmidt auf die obige Frage mit dem Tweet: »I hear this Charles was a pretty thing. Bit conceited though, called himself the Great.«34 Der Twitter-Account verfährt nach der Logik der Umkehrung und vermag damit die Wahrnehmung von Ungleichheiten zu schärfen. Und er animiert

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Ein Hashtag bildet etwa das Stichwort: #RelevanteLiteraturwissenschaft. Für die Diskussion dieses Abschnittes und anregende Hinweise danke ich Marius Reisener. @manwhohasitall, 1.9.2017. Eine weitere Frage lautet etwa: »My sister is a CEO. She wants to recruit more men to the board but she has no idea how. Where do you get them from? Any ideas?«, ebd., 14.2.2021. Der Account verkauft auch T-Shirts, deren Aufdrucke mit der Umkehrung von Produkten oder Bezeichnungen für ein Geschlecht spielen (eingeteilt in die Kategorien ›T-Shirts‹ und ›Men-T-Shirts‹), Bsp.: ›Male Scientist‹, ›Male Engineer‹ oder ›Second Gentleman‹. Dem Account nachempfunden ist eine deutschsprachige Variante ›Das bisschen Arbeit‹, @dasbisschenarb1. Vgl. Simoné Goldschmidt-Lechner: Wir sind nicht so – Über Diversität, Tokenism und »Migrationsliteratur« in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. In: 54books (24.8.20), URL: https://www.54books.de/wir-sind-nicht-so-ueber-diversitaet-tokenism-und-mi grationsliteratur-in-der-deutschsprachigen-gegenwartsliteratur/ (abgerufen am 13.4.2021). Und eine weitere Antwort von ihr lautet: »What about the chap Hillary Clinton is married to? Not much is known about him though, it’s kind of a niche subject.« @ardenthistorian, 3.9.2017.

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gleichzeitig auch die Lesenden, selbst Umkehrungen vorzunehmen und zu artikulieren. Insofern gehen mit dieser Logik epistemische und kreative Prozesse einher. Ähnliche Prozesse angestoßen hat in Bezug auf Literaturkritik und das Sprechen über Autorinnen der von Nadia Brügger eingeführte Hashtag #dichterdran. Ausgelöst durch eine Rezension von Martin Ebel zu Sally Rooneys Gespräche mit Freunden (D: 2019) kritisierte die Literaturwissenschaftlerin auf Twitter die teilweise sexistische Schreibweise in diesem Artikel.35 Gemeinsam mit Simone Meier und Güzin Kar verfasste Brügger in der Folge fiktive Kritiken über Autoren und imitierte dabei eine spezifische Schreibweise: Über Autoren schrieben sie so, wie es in der Schreibweise über Autorinnen durchaus noch üblich ist.36 Wenn dabei Autoren nur in Bezug auf ihre bekannteren Partnerinnen, Schwestern, Mütter oder deren erfolgreichere Werke oder mit Erwähnung von Äußerlichkeiten behandelt werden, erscheint die Imitation auf den ersten Blick übertrieben und grotesk. Die Kritik gängiger Literaturkritik – deren Metakritik also – nutzt die Inversion, um den Lesenden sexistische Schreibweisen bewusst zu machen. Mit dem strategischen Einsatz der Groteske durch die Schreibenden wird für die Rezipierenden das sonst unsichtbare ›Normale‹ erkennbar. Somit wird erkennbar, wie #dichterdran zum einen daran interessiert ist, die unsichtbare Objektivierung und Sexualisierung weiblicher Akteur *innen im Feld literarischer Kritik sichtbar zu machen: Martin Ebels Beschreibung der angeblich so »sinnlichen Lippen«37 Sally Rooney hat nicht nur nichts im Genre Literaturkritik zu suchen, sie ist auch als Kategorisierungsversuch von Frauen maximal unangebracht. Dies wird durch eine Parallelsetzung unterschiedlicher Ebenen (Lexikon und Theriomorphisierung) erreicht, wenn Brügger twittert: »Auf seinen äußerst vielversprechenden Autorenfotos blickt er uns abwechslungsweise als verträumter Mäuserich, aufgeschreckter Falke oder kerniger Braunbär entgegen. Die sinnlichen Lippen evozieren sofort den Gedanken, er läse uns den Text mit rauer Stimme kurzerhand selbst vor.«38 Der Tweet unterscheidet zwischen dem Autor und einem unbestimm35 36

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@NadiaBruegger, 2.8.2019. Vgl. »Wenn Frauen über Autoren schreiben, wie sonst nur Männer über Autorinnen schreiben«. In: URL: https://www.watson.ch/leben/spass/320017093-dichterdran-frauenschreiben-ueber-autoren-mit-ironie-gegen-sexismus (abgerufen am 12.2.2021). Martin Ebel: Sex, Moral und Political Correctness. Sally Rooneys Debütroman »Gespräche mit Freunden« ist der literarische Hype des Sommers. In: Tages-Anzeiger, 2.8.2019. URL: https://www.tagesanzeiger.ch/kultur/buecher/sex-moral-und-politicalcorrectness/story/14130216 (abgerufen am 9.4.2021). Simone Meier, Güzin Kar, Nadia Brügger (Hg.): Hemingways Sexy Beine. #dichterdran. Zürich, Berlin: Kein & Aber 2019, S. 25.

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ten »Wir« als Gegenüber, das Blicke auf Fotos (in die der Autor medialisiert wurde) deutet. In dieser Deutung wird der Autor theriomorphisiert: Die Reihung »Mäuserich«, »Falke«, »Braunbär« bildet eine Klimax und kann als Element der Komik gedeutet werden. In der Reihung wird allerdings nicht nur die Tierart immer größer, sondern sie mündet bezeichnenderweise mit dem Bären auch in einer Gefahr für Menschen. Zum anderen wird damit verdeutlicht, dass es Konventionen im Sprechen über Männer gibt, deren unausgesprochene Regeln Geltung haben und die hier gebrochen werden. Zu einer Autorenbeschreibung gehört schlicht keine Erwähnung von »sinnlichen Lippen«, darüber gibt es ein verbreitetes, aber implizites Wissen. In sprachlich dargestellter Weiblichkeit wird der Körper zum Thema, männlicher Habitus hingegen wird sprachlich nicht an den Körper zurückgebunden.39 Oder noch einmal mit dem Vokabular der Rhetorik formuliert: Weil eine Beschreibung von »sinnlichen Lippen« nicht für Autor *innen der unterschiedlichen Geschlechter verwendet werden kann, zeigt #dichterdran Verletzungen des aptum auf. Der Stil von Literaturkritiken wird mit seinen binären, Ungleichheit bewirkenden und bestärkenden Gendernormen ausgestellt. Im Modus der Inversion kann aufgezeigt werden, dass Körpermerkmale schlicht nicht zur Argumentationsstruktur von Literaturkritiken gehören, denn dort sollte es um – Literatur gehen. Wie genau #dichterdran dieses aptum als eine stille Übereinkunft über eine angemessene Sprechweise, aus der die stetige Stabilisierung einer Sprechweise der Macht folgt, erkennbar macht, ist mit den Angeboten der Theorie ungleich schwerer zu fassen als das Schreiben über Frauen: Bei Letzterem kann auf die Ergebnisse der Genderforschung zurückgegriffen werden – Simone de Beauvoir, Silvia Bovenschen, Barbara Becker-Cantarino, Barbara Hahn oder Judith Butler und viele andere haben die Mechanismen des Ausschlusses von Frauen und die Abwertung im Schreiben über sie analysiert. Die Critical Masculinities hingegen stehen gerade im deutschsprachigen Raum und insbesondere in den Humanities noch als neuere Forschungsrichtung da. Ihr Anliegen ist es unter anderem zu erforschen, wie Männlichkeit immer wieder zur Norm gemacht wird, zum Beispiel mittels Sprechakten. Das heißt, es geht einerseits um die Frage, wie eine Position innerhalb der Geschlechtermatrix, die die Antwort auf die Frage nach der Legitimation des Patriarchats sein soll, stabilisiert und reproduziert wird; und andererseits sind

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Vgl. R. W. Connell: The History of Masculinity. In: Rachel Adams, David Savran (Hg.): The Masculinity Studies Reader. Malden, MA / Oxford 2002, S. 245–261.

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sie an den Regeln und Riten zwischen-männlicher Spiele interessiert, die langfristig die männliche Hegemonie sichern sollen. Was die soziologische Forschung als »masculinities« in der Theorie beschreibt, wird bei #dichterdran mit den Strategien der Imitation und der Inversion in die Praxis überführt und performativ ausgelotet. Um noch einmal auf den eingangs zitierten Tweet von Simone Meier zurückzukommen, lässt sich natürlich die Frage stellen, ob und warum es sinnvoll sein könnte, von Thomas Bernhard in einem »Blümchenkleid« zu sprechen. An Tweets wie diesem fällt zuerst das Irritationspotenzial auf  – welche Relevanz sollte denn die (fiktive) Kleidung von Thomas Bernhard haben? Diese verwirrende Wirkung unterscheidet die erfundenen Kurznachrichten von den realen Literaturkritiken, bei denen über Bemerkungen zum Äußeren einer Autorin oft hinweggelesen wird, weil sie so gängig sind und daher oft nicht einmal auffallen. Dass dabei Inhaltliches zum Werk der Schriftstellerinnen erst an zweiter Stelle hinter atmosphärisch-optischer, wenn nicht gar äußerlich-körperlicher Einordnung der Person steht, wird vonseiten der Feuilleton-Rezipient*innen oft immer noch unhinterfragt hingenommen. Entsprechend können die Posts bei fehlendem Bewusstsein übertrieben wirken. Dazu kommt, dass sie in ihrer Zuspitzung durchaus ein Element des Amüsements bergen – wenn denn das Lachen nicht gelegentlich im Hals stecken bliebe. Nach über einem Jahr #dichterdran fragt sich also, ob die Aktion(en) erfolgreich waren und ob sich im Journalismus (im deutschsprachigen Feuilleton) etwas Grundlegendes geändert hat. Um diesen Hashtag ist es auf Twitter ziemlich ruhig geworden. Vielleicht, so könnte man hoffen, schreibt längst niemand mehr sexistisch im Feuilleton, die Auf klärungsarbeit hinter der Satire hat gewirkt. Diese Vorstellung ist jedoch immer noch Wunschdenken. Im September 2020 hat Miriam Zeh40 auf Twitter wieder einmal auf eine Reportage über eine Frau – die Literaturagentin Karin Graf – von Ronald Düker in der Zeit hingewiesen, in deren erstem Satz von Grafs Stimme (»schmetterlingszart«)41 und ihrem »mädchenhafte[n] Lachen« die Rede war. Zeh appellierte an die Journalisten (»Ey dudes«), ihre Porträts über Frauen so zu schreiben, wie sie über Männer auch schreiben würden. Damit fordert Zeh Gleichbehandlung mit einem Argument der Vernunft. Auf diese Weise 40 41

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@miriamzeh, 4.9.2020 https://twitter.com/miriamzeh/status/1301882242348863489 (abgerufen am 12.2.2021). Ronald Düker: »Ich bin immer da!« In: Zeit Online, 2.9.2020. URL: https://www.zeit. de/2020/37/karin-graf-literaturagentin-uebersetzerin-buchbranche (abgerufen am 12.2.2021).

Figuren der Umkehrung

werden Debatten sachlich geführt: Missstände würden angekreidet, Argumente angeführt, Lösungsvorschläge aufgezeigt. Auch dies kann in den Sozialen Medien geschehen, nur stellt sich die Frage, ob dieses Vorgehen zielführend ist? Einen anderen Weg geht #dichterdran mit den Umkehrungen. Dort wird nicht mit einer Appellation an die Vernunft oder mit dem Versuch, durch eine Analogiebildung eine Einsicht zu erreichen, operiert. Es wird nicht argumentativ erklärt, warum eine Schreibweise sexistisch ist und was sie anrichtet. Vielmehr wird mit der Inversion als rhetorischem Manöver und der Umkehrung als performativem Akt versucht, einen epistemischen Prozess in Gang zu setzen. Gerade weil die Kritik gängiger Literaturkritik Umkehrungen verwendet, werden sexistische Schreibweisen überhaupt erst erkennbar und Machtaspekte in der Literaturkritik sowie (Gegen-)Kanonisierungsprozesse deutlich. Insofern funktionieren einige #dichterdran-Tweets wie die rhetorische Figur der Ironie  – und doch erschöpft sich der Hashtag nicht darin. Ironie als uneigentlicher Sprachgebrauch sagt das Gegenteil, von dem was gemeint ist, aus. Ironie geht mit entsprechenden Signalen einher, etwa einer starken Übertreibung. Das zeigen die Beispiele, die sich mittlerweile materialisiert haben, denn Brügger, Meier und Kar haben die Tweets inzwischen in einem Buch zu Papier gebracht. Der erste Tweet stammt von Sibylle Berg, der zweite von Güzin Kar: Hemingway zeigt in seiner Fisch-Novelle (den bemühten Versuch ›Roman‹ zu nennen, verbietet sich), wie famos ein Mann scheitert, wenn er sich statt der Beschreibungen von Familie, Pferden oder Lifestyle-Themen an den großen Fragen der Weltgeworfenheit versucht.42 Peter Bichsels beste Kurzgeschichte ist jene, die er nie geschrieben hat: Das Fenstertheater von Ilse Aichinger. Viele Laien ordnen sie fälschlicherweise Bichsel zu, dies sicherlich auch, weil die Geschichte weit unter Aichingers gewohntem Können bleibt.43

Wenn in Bergs Tweet über Hemingway gesagt wird, er scheitere, weil er sich in den Themen vergriffen habe (und explizit vorgeführt wird, dass Familien-, Pferde- und Lifestylethemen die Erwartungen besser erfüllt hätten), und wenn in Kars Tweet Peter Bichsels Schaffen nur in einem Vergleich mit Ilse Aichingers qualitativ angeblich deutlich anspruchsvollerem Werk Erwähnung findet, dann wird nicht das Gegenteil behauptet. Ironie, verstanden als 42 43

@SibylleBerg, in: Simone Meier, Güzin Kar, Nadia Brügger (Hg.): Hemingways Sexy Beine. #dichterdran. Zürich, Berlin 2019, S. 14. @Guzinkar, in: Meier, Kar, Brügger (Hg.): Hemingways Sexy Beine (s. Anm. 38), S. 34.

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Benennung des Gegenteils, würde hier zu anderen Aussagen führen (etwa Hemingway sei nicht gescheitert, was zwar stimmt, aber nicht die Kernaussage des Tweets ist – oder Bichsels bestes Werk sei das Fenstertheater). Aber durchaus als ironische Sprechweise könnte man hier die imitatio beschreiben, mit der im Rahmen einer fiktionalen Mini-Narration nachgeahmt wird, wie über Autorinnen häufig geschrieben wird. Was hier deutlich wird, ist, dass über einen Autor wie Hemingway keine Verdikte des unpassenden Stoffes (etwa: Pferde) geben kann und dass bei einem Autor wie Bichsel nicht über Werke geschrieben wird, die er gar nicht verfasst hatte. ›Männlichkeit‹ wird mit freier Wahl (des Stoffes) und individueller Gestaltung eines literarischen Kunstwerkes verbunden, ›Weiblichkeit‹ mit passenden/unpassenden Stoffen und in einem ständigen qualitativen Vergleich. Diskursiv aufrechterhalten bleibt damit eine unmarkierte ›Männlichkeit‹; ›Weiblichkeit‹ hingegen ist die markierte Abweichung. Bei Letzterem kommen zur unmarkierten Norm weitere Dimensionen wie der Körper (mit Vorstellungen von spezifischen Idealen sowie mit Aspekten der Sexualisierung) dazu: In Rezensionen über Werke von Autorinnen spielt der Körper der Schreibenden nach wie vor eine wichtige Rolle, die Bandbreite literarischer Themen scheint eingefriedet werden zu müssen und in Vergleichen wird Unzusammengehöriges in Konkurrenz gesetzt. Das Feuilleton als Ort sozialer Praktiken und von performativen Sprechakten beteiligt sich damit aktiv an der Konstruktion einer binären Geschlechterverteilung und deren Festigung. Zu ihrer Intention schreiben die Herausgeberinnen: Weil Ironie die beste Psychohygiene ist, haben wir beschlossen, dem Problem satirisch zu begegnen. Auf Twitter schrieben wir dreiste kleine Kommentare, in denen die Hünen der Literatur selbst zu Hühnern schrumpften. Einige sind reine Erfindungen, andere der Wahrheit nachempfunden.44

»Ironie«, »satirisch« und die ›Nachempfindung‹ als imitatio einer »Wahrheit« scheinen hier zentrale Punkte zu sein. Dieser Paratext erklärt die Methode und gesteht ein, dass die Tweets teilweise »dreist« seien. Während also der Twitter-Gemeinschaft die Tweets, wie in diesem Medium üblich, kommentarlos überlassen werden (für die Kommentare sind dann ja die Lesenden zuständig), scheint der schmale Band sich an ein anderes Publikum zu richten, für das schon der Ausdruck ›Tweets‹ mit »kleine Kommentare« übersetzt wird. Die abgedruckten Mini-Texte müssen dann jedoch ohne weitere Paratexte auskommen – während Twitter ja immer mit der Angabe von Likes 44

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Meier, Kar, Brügger (Hg.): Hemingways Sexy Beine (s. Anm. 38), S. 4 f.

Figuren der Umkehrung

und Retweets anzeigt, wie ein bestimmter Inhalt innerhalb einer bestimmten Gruppe aufgenommen wird, stehen die Kurztexte in diesem schmalen Band für sich. In der Buchform heißt die Rechnung also: Twitter plus Materialität minus sozial (keine Likes, keine Kommentare). Aber, so könnte man ergänzend und den Herausgeberinnen teils widersprechend hinzufügen, #dichterdran (und mit dem Hashtag auch andere Formen der Umdrehung) vermögen mehr als bloß in der Form von »Psychohygiene« zu wirken. Wenn das rationale Argument, so wie es in Debatten mindestens seit derjenigen der Frauenbewegung der 1980er Jahre stetig verwendet wird, zu wenig Resonanz oder allzu selten zu Veränderungen führt – und dabei sind gesamtgesellschaftliche Fortschritte ebenso gemeint wie literaturbetriebliche, journalistische oder literaturwissenschaftliche  – dann sind es vielleicht neuere Wege, die zu Einsichten führen könnten. Und die würden nicht psychohygienisch bei den Verfasser *innen wirken, sondern durchaus auf klärend bei den Lesenden. Dass #dichterdran nicht als Bewegung mit festem Programm agiert, sondern individuelle rhetorische Verfahren verwendet, muss nicht als Nachteil gewertet werden. Vielmehr leben die Kurznachrichten von spielerischen Einfällen und vom performativen Erproben desjenigen, was (nicht) sagbar ist. Gewählt wird dazu der Modus des ›als ob‹. Diese genuin literarische Sprechweise wird in diesem Fall dazu genutzt, eine Gleichstellung zu imaginieren – würde über Autoren so geschrieben, wie über Autorinnen, dann wäre die getwitterte Frage von Elisabeth Klar möglich: »Saša Stanišić, eine persönliche Frage – halten Sie Schreiben und Vaterschaft für vereinbar?«45 Die Umdrehung findet hier nicht im Inhalt, sondern schlicht in der Adressierung statt. Es ist auch keine Ironie ausfindig zu machen – es wird lediglich einem Mann eine Frage gestellt, die Frauen ständig, Männer aber wenig bis nie hören. Ohne erklärenden Rahmen werden die Lesenden von diesem Tweet zurückgeworfen auf ihre eigenen Sprechweisen und möglichen Vorurteile.

Fazit und Ausblick Geschlechtergerechtigkeit ist weder bei Literaturpreisen noch im Feuilleton noch in der Literaturwissenschaft (Stichwort Handbücher) auch nur annähernd erreicht. Diese Problematik ist zudem nicht immer sichtbar. Ziel einer feministischen Literaturwissenschaft ist es, mit einer Benennung der Pro45

Meier, Kar, Brügger (Hg.): Hemingways Sexy Beine (s. Anm. 38), S. 21.

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bleme auf eine Geschlechtergerechtigkeit hinzuarbeiten. Um die Problematik zu verdeutlichen, eignen sich unterschiedliche Vorgehensweisen – von der klassisch-argumentativen Debatte bis hin zum gezielten Einsatz von Sozialen Medien. Diese bieten den Vorteil, dass sich in ihnen viel mehr Menschen zu Literatur äußern können  – auch wenn ihnen keine renommierte Tageszeitung eine Stimme gibt und sie auch nicht über eine unbefristete Stelle an einer Universität oder eine ähnliche institutionell verankerte Position der Macht verfügen. Alle können in Sozialen Medien schreiben, lesen und diskutieren.46 Die Verdichtung, wie sie etwa Twitter mit der Beschränkung der Zeichenzahl erfordert, bietet auch die Möglichkeit, Dinge auf den Punkt zu bringen. Die Frage, wer gelesen wird und wessen Beiträge verbreitet werden und damit auch eine Wirkung erzielen können, ist hingegen schwieriger zu beantworten. Soziale Medien bilden häufig Blasen, die nicht immer jene Diversität abbilden, die ihr technisches Potenzial theoretisch bieten könnte. Einige oben erwähnte Beispiele haben gezeigt, dass etwa Auszählungen, die in Sozialen Medien ausgeführt und verbreitet wurden, den Weg ›zurück‹ in die Printmedien gefunden haben. Inwiefern sich dort aber etwas verändern wird, beispielsweise in der Literaturkritik, ist eine andere Frage. Sowohl das Projekt #Vorschauenzählen als auch #dichterdran wurde stark kritisiert, die Autorinnen wurden teilweise persönlich angegriffen, weil sie auf diese Ungleichgewichte hingewiesen hatten. Wenig mag es erstaunen, dass nicht alle ein Interesse an einer Machtaufteilung und einer neuen Machtordnung, beispielsweise im Feuilleton, zu haben scheinen. Hier müssten die Publikationsorgane selbst handeln, möglicherweise mit einer Einführung von Quoten. Für solche Probleme und ihre möglichen Lösungen eignen sich die sozialen Medien als Ort der Ref lexion und Diskussion. Twitter im Besonderen bietet die Möglichkeit einer Metaliteraturkritik oder Mikroliteraturkritik. Mit Hashtags wie #dichterdran findet diese Metakritik einen Platz und mit ihnen werden Mini-Gegennarrative ermöglicht. Mit dieser Umdrehung wird gezeigt, was das Problem ist, und dies wird Lesenden veranschaulicht, die nicht auf den ersten Blick wahrnehmen, dass es problematisch sein könnte, eine Autorin über ihre angeblich »sinnlichen Lippen« zu definieren. Entlarvt wird eine Sprechweise, die, sobald sie auf Männer angewendet wird,

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Vgl. Miriam Zeh: »Mit der Power der Follower zum Bucherfolg?« In: Deutschlandfunk Kultur, 11.9.2020. URL: https://www.deutschlandfunkkultur.de/social-media-im-lite raturbetrieb-mit-der-power-der-follower.976.de.html?dram:article_id=483961 (abgerufen am 12.2.2021).

Figuren der Umkehrung

unpassend wirkt. Erst über diesen Umweg der Umdrehung wird häufig deutlich, dass es überhaupt ein Problem gibt. Beim Schreiben über Männer scheint der Konsens darüber, was als rhetorisches aptum angebracht ist, immer noch breiter abgestützt. Bei Frauen und bei Marginalisierten überhaupt scheint dieses aptum (also die Angemessenheit) immer noch ausgehandelt werden zu müssen. Die Ref lexion der normierenden Effekte beim Sprechen über Autoren wird angestoßen durch die Kurznachrichten, die die impliziten Regeln, ihre Grenzen und Brüche in den Sprechweisen deutlich machen können. Insofern würde ich also die Figuren der Umdrehung als Form des ›Writing Back‹ bezeichnen und damit als einen sprachlichen Handlungsspielraum mit dem vielleicht  – hoffentlich und endlich  – ein Schritt weiter in Richtung Gleichstellung gegangen werden kann.

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Das unbekannte Geschlecht Wirkung und Funktion verschleierter Geschlechtsidentität am Beispiel der Rezeption Elena Ferrantes in der deutschsprachigen Presse Anonymität und Gender Anonymes Publizieren ist im literarischen Feld ein häufig auftretendes Phänomen, das sich weit zurückverfolgen lässt. Da Anonymität ursprünglich den ›natürlichen‹ Zustand von Autorschaft darstellte, konnte das Verbergen der Autor*innenidentität durch fehlende Namensnennung oder Angabe eines fremden Namens aber erst dann Aufmerksamkeit erregen, als »Onymität« zur Regel geworden war, wie Gérard Genette den »banalsten Zustand«1 bezeichnet, in dem Bücher heute in der Öffentlichkeit erscheinen. »Anonymität ist das beherrschende Prinzip der alten, Onymität hingegen das der neueren Literatur«2, fasst Stephan Pabst kurzerhand das zusammen, was Genette3, und vor ihm Michel Foucault4, ausführlich erläutert haben, um auf die weithin vernachlässigte Bedeutung der Signatur für das Werk und dessen Rezeption hinzuweisen. Wenig beigetragen haben Foucault und Genette aber zur Erhellung der Frage, wie sich Anonymität, Pseudonymität und Gender zueinander verhalten. Anonymität übernimmt nicht automatisch für weibliche Autoren dieselbe Funktion wie für männliche. Die »Freude am Erfinden, der Entlehnung, der verbalen Verwandlung«, wie Genette die Verwendung des Pseudonyms als »dichterische Tätigkeit« beschreibt5, scheint bislang eher dem männlichen Geschlecht vorbehalten gewesen zu sein, denn für Frauen bildet Anonymität, wie Fabienne Imlinger erinnert, zunächst die Existenzbedingung für weibliche Autorschaft schlechthin: 1 2

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Gérard Genette: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Aus dem Französischen von Dieter Hornig. Frankfurt a. M. 2001, S. 43. Stephan Pabst: Anonymität und Autorschaft. Ein Problemaufriss. In: Ders. (Hg.): Anonymität und Autorschaft. Zur Literatur- und Rechtsgeschichte der Namenslosigkeit. Berlin, New York 2011, S. 1–34 hier S. 3. Vgl. Genette: Paratexte (Anm. 1), S. 46 f. Vgl. Michel Foucault: Was ist ein Autor? In: Daniel Defert, François Ewald (Hg.): Schriften zur Literatur, übersetzt von Michael Bischoff u. a. Frankfurt a. M. 2003, S. 234–270, hier: S. 246 f. Genette: Paratexte (Anm. 1), S. 56.

Das unbekannte Geschlecht Wenn Autor sein in der Moderne heißt, sich einen Namen zu machen, dann stellt sich weibliche Autorschaft als schwierig insofern dar, als diese historisch vornehmlich unter falschem Namen operiert hat – sei es im Namen der Väter oder Ehemänner, sei es pseudonym oder anonym.6

Da es eher Ausnahme als Regel war, dass Frauen sich wie Jane Austen auf vornehme Art mit einer ›by a lady‹ signierten ›Visitenkarte‹ Eintritt in das literarische Feld verschafften, wählten die meisten die verlässliche Variante: Ob Currer, Ellis oder Acton, George, Joe oder Robert7 – es waren (und sind es teils immer noch)8 männliche Vornamen, durch die sich weibliche Autorinnen jenen Raum schufen, der ihnen als Frauen nicht zur Verfügung stand. Doch manchmal brauchte es gar keinen männlich klingenden Vornamen für den Zugang zum autonomen Feld der Hochliteratur: Als 1928 die Novelle Der Aufstand der Fischer von St. Barbara ebenso wie die Erzählung Grubetsch (1927) unter dem Pseudonym »Seghers« erschien, dachte sich niemand ›Böses‹, sondern man ging ganz selbstverständlich davon aus, dass das beeindruckende Werk aus männlicher Feder stammte: »Seine Personalien sind überf lüssig. Ihn legitimiert seine Leistung«, schrieb Hans Sahl am 11. November 1928 im Berliner Börsen-Courir.9 Und die Mainzer Warte schrieb am 19. Jänner 1929: Auch der Unbefangene, der die schmale Erzählung liest, wird schwerlich eine Frau als Autor erraten. Denn wenn es überhaupt eine männliche Handschrift gibt, so ist diese Novelle in ihr geschrieben. Es wird nämlich in dem Küstendorf Sankt Barbara keinerlei Verschwendung mit Gefühl und anderem weiblichen Erbgut getrieben.10

Auch wenn es bei diesem letzten Beispiel verwundert, dass eine weibliche Urheberschaft gar nicht in Erwägung gezogen worden war, obwohl die Identität der Autorin bereits im Dezember 1928 durch die Verleihung des 6

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Fabienne Imlinger: Kein Körper. Niemand. Zur List des Pseudonyms. In: Querelles. Jahrbuch für Frauen- und Geschlechterforschung, Bd. 17, 2014, S. 1. Vgl. auch Barbara Hahn: Unter falschem Namen. Von der schwierigen Autorschaft der Frauen. Frankfurt a. M. 1991. Currer Bell = Charlotte Brontë, Ellis Bell = Emily Brontë, Acton Bell = Anne Brontë, George Sand = Amantine-Aurore-Lucile Dupin de Francueil, George Eliot = Mary Ann Evans, Joe Lederer = Josefine Lederer. Joanne K. Rowling = Robert Galbraith; für die Harry-Potter-Reihe empfahl der britische Verlag Bloomsbury Publishing das Kürzel » J. K.« anstelle des Vornamens zu verwenden, um damit die weibliche Autorschaft etwas zu verschleiern, da man hoffte damit leichter auch männliche jugendliche Leser gewinnen zu können. Hans Sahl: Ein neuer Erzähler. In: Berliner Börsen-Courier, Nr. 531, 11.11.1928. Siehe: Akademie der Künste, URL: https://www.adk.de/de/archiv/news/2010/seghers_ grubetsch.htm (abgerufen am 12.7.2020).

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Kleist-Preises bekannt geworden war, handelt es sich hier keineswegs um einen Einzelfall, sondern um ein prototypisches Leserverhalten: Traditionell ist der Autor  – vgl. den Begriff auctoritas  – männlich konnotiert, so dass der auktoriale Erzähler grundsätzlich (als default, also Standard- oder Vorgabewert) männliche Züge trägt, es sei denn, dass der Leser weiß, der Roman wurde von einer Frau geschrieben, was diesen automatischen Geschlechtstransfer unterbinden mag.11

Nach der relativ bald erfolgten Demaskierung im Fall von Seghers erschienen ihre Werke fortan unter »Anna Seghers«, hinter dem ihr wahrer, bürgerlicher Name Netty Reiling/verh. Radványi verschwand. Das Beispiel von Anna Seghers eignet sich als Kontrastfolie zum Fall Elena Ferrante, denn anders als bei Seghers dient der Vorname bei Ferrante nicht als Bezeichnung, sondern als Behauptung einer weiblichen Urheberschaft. Und ebenfalls anders als bei dem zunächst genderneutral aufgetretenen Pseudonym »Seghers«, dessen ›Männlichkeit‹ erst durch den Rezeptionsakt konstruiert wurde, übernimmt das weiblich markierte Pseudonym »Elena Ferrante« im literarischen Prozess von Anfang an eine aktive Rolle, man könnte auch sagen, die »Textherrschaft«12, denn jeder mit dem Namen »Elena Ferrante« signierte Text wird zwangsläufig zunächst als ›weiblich‹ wahrgenommen. Auch wenn für Genette männliche Pseudonyme von Frauen »durchsichtig« werden, sobald die dahinterstehende Identität bekannt ist, und »die Weiblichkeit des Bezeichneten […] vollständig die ›Männlichkeit‹ des Bezeichnenden« auslöscht13, ist es nicht so leicht, beim Pseudonym Elena Ferrante die so deutlich vorhandene weibliche Codierung ›durchsichtig‹ werden zu lassen und dahinter ein männliches Subjekt zu vermuten. Die Fälle, in denen das biologische Geschlecht von pseudonym publizierenden Autor*innen für längere Zeit oder gar für immer unentdeckt blieb, sind äußerst selten bzw. ist die Enthüllung von Pseudonymen  – wie Genette außerdem feststellt  – eine ›natürliche‹ Folge von Berühmtheit, woraus er schließt, »daß 11 12

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Monika Fludernik: Erzähltheorie. Eine Einführung. Darmstadt 2013, S. 84. Veronika Schuchter benutzt »Textherrschaft« als Bezeichnung für sämtliche rezeptionssteuernden Mechanismen, die von der als ›Institution‹ begriffenen Einheit von Autorinstanz und Text ausgehen, und zwar unabhängig von der Frage, ob es sich dabei um intentionale, also vom Autor bewusst eingesetzte Strategien handelt. Damit gelingt es Schuchter den Fokus auf den allen Formen der Diskriminierung zugrundeliegenden Aspekt der Macht zu lenken. Vgl. Veronika Schuchter: Textherrschaft. Zur Konstruktion von Opfer-, Heldinnen- und Täterinnenbildern in Literatur und Film. Würzburg 2013, S. 32–33. Genette: Paratexte (Anm. 1), S. 54/Fußnote 12.

Das unbekannte Geschlecht

kein pseudonymer Schriftsteller von seinem Ruhm träumen kann, ohne diese Enthüllung vorherzusehen«14. Hier muss noch eingeschoben werden, dass es bei all diesen hier angeführten Merkmalen ausschließlich um Fälle geht, bei denen der »Pseudonymeffekt« bereits eingetreten ist, d. h. bei denen »dem Leser das Pseudonym als Faktum bekannt ist.«15 Dies ist nämlich im Wirkungsbereich sogenannter Trivialliteratur nicht selbstverständlich der Fall, wo Pseudonyme häufig gar nicht als solche erkannt werden, da dort das Interesse der Leser*innen an biografischen Informationen über die Autor*innen in der Regel gering ist.16

Der Fall Elena Ferrante im deutschsprachigen Feuilleton Das Rätsel um die Identität von Elena Ferrante hält sich mittlerweile immerhin seit fast drei Jahrzehnten – der erste Roman L’amore molesto erschien in Italien 1992 (dt. Lästige Liebe, 1994). Da davon ausgegangen werden kann, dass die Medien dank des Rätselphänomens in größerem Umfang Hypothesen und Werturteile generieren, mit denen das biologische Geschlecht der Autorin/des Autors und die spezifische ›Weiblichkeit der Schrift‹ begründet oder widerlegt werden, bietet es sich an, das bislang zu Ferrante erschienene Pressematerial auf diesen Aspekt hin zu untersuchen. Als Material dient hier die Sammlung des Innsbrucker Zeitungsarchivs/IZA, in der sich zum Zeitpunkt der Untersuchung (Stand Juli 2020) folgender Materialbestand zu Ferrante findet: – 73 Buchbesprechungen zu insgesamt zehn Werken (plus 41 Kurzkritiken, d. h. Textumfang unter 500 Wörtern) – 63 Artikel allgemeiner Art (plus vier Kurzkritiken) – Sieben Interviews in Zusammenhang mit dem Fall Ferrante (darunter vier mit Ferrante17) 14 15 16

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Ebd., S. 53. Ebd., S. 52. Julia Genz stellt im Zusammenhang mit Wertungsdiskursen und Autorschaftsproblematik fest: »Kitsch, Trivialität und Banalität wird generell hinsichtlich ihrer Produktion keine besondere Autorschaft zugeschrieben […].« Julia Genz: Diskurse der Wertung. Banalität, Trivialität und Kitsch. München 2011, S. 11. Eva Ferri, Sandra Ferri, Sandro Ferri: Elena Ferrante. Das Interview, übersetzt von Mikló Gimes. In: Tages-Anzeiger (Magazin), 23.7.2016; Klaus Brinkbäumer: Der reine Text. In: Der Spiegel, 20.8.2016; Angelo Carotenuto: »Ich widme meine ganzen körperlichen Fähigkeiten dem Schreiben«. In: Die Welt (Die literarische Welt), 13.10.2018; Merve Emre: Ein Gespräch mit Elena Ferrante. Wie wir Frauen vorankommen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.1.2019.

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Die Analyse wurde bewusst anhand eines sehr allgemeinen und groben Fragenrasters durchgeführt, um damit in Form einer Art von ›Distant Reading‹-Methode die markantesten Tendenzen erfassen zu können. Es ging dabei im Wesentlichen um drei Fragen: – Welches Geschlecht und/oder welche Identität wird dem Pseudonym mit welchen Begründungen zugeordnet? – Welche Funktion wird der Anonymität zugeschrieben (Schutz der Person oder des Werks im Sinne der ›Textoffenheit‹)? – Welche Axiologie liegt den Urteilen zugrunde (heteronome oder autonome)?

Rezeptionsverlauf im deutschsprachigen Feuilleton Bevor die Ergebnisse im Detail erläutert werden, soll hier noch ein kurzer Überblick zum Rezeptionsverlauf gegeben werden. In der Dokumentation des Innsbrucker Zeitungsarchivs, die die relevanten überregionalen Tagesund Wochenzeitungen des deutschsprachigen Raums berücksichtigt, findet sich zu Lästige Liebe, dem ersten sowohl im Original (1992) als auch in deutscher Übersetzung (1994) erschienenen Roman, keine einzige Besprechung. Erst 1996 erscheint in der Neuen Zürcher Zeitung18 eine Rezension zu der Romanverfilmung von Mario Martone (L’amore molesto, 1995). Das deutschsprachige Feuilleton interessiert sich erst ab Frühjahr 2016 für Ferrante, die zu diesem Zeitpunkt im englischsprachigen Raum bereits als literarische Entdeckung gefeiert wurde. Dort war 2013 eine Besprechung von James Wood im New Yorker erschienen,19 wo der bekannte Literaturkritiker die vier bis dahin ins Englische übersetzten Romane20 ausführlich als Fortschreibung einer ›Écriture Féminine‹ im Sinne von Hélène Cixous lobte und als Vergleichsgrößen die Autorinnen Margaret Drabble und Elsa Morante sowie den italienischen Kanon-Autor Giovanni Verga nannte. Damit positionierte Wood das Werk von Ferrante deutlich im ›autonomen Subfeld‹, wie Bourdieu das für die Hochkultur reservierte Gebiet nennt, und öffnete, als einer der wichtigsten Gatekeeper im angloamerikanischen Literaturbetrieb, dem

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ugb.: Zwischen Süden und Norden. Mario Martone und Anna Bonaiuto. In: Neue Zürcher Zeitung, 23.1.1996. James Wood: Women on the verge. The fiction of Elena Ferrante. In: New Yorker, 21.1.2013. The Days of Abandonment (2005), Troubling love (2006), The Lost Daughter (2008), My Brilliant friend (2012).

Das unbekannte Geschlecht

Werk von Ferrante das Tor zum internationalen Erfolg. Als im März 2016 der Roman The Story of the Lost Child (2015) für den Booker Prize nominiert wurde und im Sommer die Ankündigung folgte, dass der Suhrkamp-Verlag die vierbändige Tetralogie L’amica geniale in sein Programm aufgenommen hat, nahmen auch die deutschen, österreichischen und Schweizer Literaturkritiker*innen am fröhlichen Rätselraten rund um das geheimnisvolle Pseudonym teil und stellten mit Verwunderung fest, dass man hier wohl etwas »verschlafen« habe: Unter dem Pseudonym Elena Ferrante sind in Italien seit 1992 sieben Romane mit internationalem Erfolg erschienen. Manches Weltblatt rätselt um ihre Identität. Nur der deutsche Buchmarkt hat den Fall verschlafen. Suhrkamp wird nun das Versäumte rasch nachholen.21

Am 2.  Oktober 2016 erschien der ›Enthüllungs‹-Artikel des italienischen Journalisten Claudio Gatti in der Tageszeitung Il Sole-24 und auch zeitgleich in deutscher Übersetzung in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Gatti präsentierte hier die Ergebnisse seiner investigativen Recherche, die beweisen würden, dass hinter dem Pseudonym niemand anderer als die Übersetzerin Anita Raja stehen könne.22 Die deutschen Leitmedien übernahmen zunächst die Hypothese unhinterfragt als nunmehr bewiesene Tatsache.23 Als zwei Tage später ein weiterer Artikel von Gatti zur Familiengeschichte Rajas folgte,24 übten mehrere Kritiker*innen Kritik an der Vorgehensweise von Gatti und forderten das ›Recht‹ von Autor *innen auf Anonymität ein.25 Nach circa einer Woche Aufregung um die Enthüllungsaffäre machte sich in den Medien deutlich eine Art ›Katerstimmung‹ breit und es wurde die ›Verkommenheit‹ des Literaturbetriebs beklagt:

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Franz Haas: Literarisches Rätselraten in Italien. In: Neue Zürcher Zeitung, 2.4.2016 Claudio Gatti: Ecco la vera identità di Elena Ferrante. In: Il Sole-24, 2.10.2016; ders.: Wer ist Elena F.? In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung. Aus dem Italienischen von Andreas Platthaus, 2.10.2016. Andreas Platthaus: Deutsche Spur. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 2.10.2016; ders.: Nachdenken über Anita R.  In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4.10.2016; Thomas Steinfeld: Das Ende einer Fiktion. In: Süddeutsche Zeitung, 4.10.2016; Wieland Freund: Ferrante, privat. In: Die Welt, 6.10.2016; Fiona Ehlers. Walter Mayr: Die Politik des Privaten. In: Der Spiegel, 8.10.2016. Claudio Gatti: Die Deutsche Spur. Aus dem Italienischen von Andreas Platthaus. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4.10.2016. Maike Albath: Ein entblößter Name. In: Süddeutsche Zeitung, 5.10.2016; Franz Haas: Weltruhm unter Pseudonym. In: Neue Zürcher Zeitung, 5.10.2016; Stefan Kister: Naseweise Neugier. In: Stuttgarter Zeitung, 5.10.2016; Mariam Lau: Pseudonym gelüftet. In: Die Zeit, 6.10.2016.

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Renate Giacomuzzi Der Fakt, dass der Autor zwar Urheber des Erzählers eines Werks ist, aber nicht dieselbe Person, gehört zur Allgemeinbildung. Die Enttarnung enttarnt also vorab die Denkweise eines Kulturbetriebs, für den es offensichtlich immer noch Literatur gibt und Frauenbücher.26

Das Pseudonym Ferrante hatte nun ein Gesicht, das sich nicht mehr löschen ließ und seither in den Artikeln und Buchbesprechungen häufig auch von Fotos begleitet wird, die Anita Raja – mal verschwommen, mal konturiert – als Person zeigen. Da die Literaturkritik, auch wenn sie noch so verständnisvoll die Regeln der Ökonomie im literarischen Feld akzeptiert, sich nicht unbeschadet mit der Auswertung von Steuerbescheiden und biografischen Daten begnügen kann, muss sie sich nolens volens um innerliterarische Begründungen bemühen, wenn die Frage nach Autorschaft und genderspezifischen Textmerkmalen beantwortet werden soll.

Ferrante ist eine Frau und nur selten ein Mann Erinnert man sich an das zu Beginn angeführte Beispiel zu Seghers mit der Formel: der Autor ist männlich, weil dem Text die weiblichen Merkmale »Gefühl« plus undefiniertes »Erbgut« fehlen, so ist es natürlich interessant zu fragen, ob auch heute noch, immerhin fast ein Jahrhundert später, das biologische Geschlecht explizit aus bestimmten Textmerkmalen abgeleitet wird. In dieser rudimentären Form finden sich in unserem Material lediglich vier Beispiele,27 darunter handelt es sich bei einem um einen ironischen Kommentar, der die anscheinend im Netz vertretene These kolportiert, es könne sich nur um einen Mann handeln, weil Frauen »zu geltungssüchtig« wären, um freiwillig auf das »hohe Lob«28 zu verzichten. In expliziter Form schließen die beiden folgenden Beispiele eine männliche Urheberschaft aus: Wer das gelesen hat, weiß, dass hinter »Ferrante« unmöglich ein Mann stecken kann – so überzeugend erzählt sie die bewegende Story einer gelingen-

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Nicole Althaus: Doch keine Literatur, nur ein Frauenbuch. In: NZZ am Sonntag, 9.10.2016.Vgl. auch Irmtraud Gutschke: Geschäft und Geheimnis. In: Neues Deutschland, 8.10.2016. Sylvia Staude: Times mager: Verdächtig. In: Frankfurter Rundschau, 4.9.2014; Bettina Weber: Wer ist Elena Ferrante? In: Tages-Anzeiger, 31.3.2016; Dirk Schümer: Die geheimste Autorin der Welt. In: Die Welt (Die literarische Welt),7.5.2016; Martin Ebel: Eine Freundschaft in Zeiten des Terrors. In: Tages-Anzeiger, 12.9.2017. Beide Zitate Staude: ebd.

Das unbekannte Geschlecht den Emanzipation aus traditionell-patriarchalen Verhältnissen, eine exemplarische weibliche Lebensgeschichte unserer Zeit.29 Tatsächlich ist es kaum vorstellbar, dass da keine Frau schreibt. Ferrante schildert so messerscharf und gleichzeitig so zart die Freundschaft zweier Frauen – da ist rein gar nichts klischiert und rein gar nichts so, wie man sich ein weibliches Innenleben gemeinhin vorstellt.30

Auch wenn sich die beiden Kritiken teils diametral gegenüberstehen, denn wo in der einen ›das Allgemeine‹ gesehen wird, ist es in der anderen ›das Besondere‹, resultiert vereint doch daraus das Urteil: gute Frauenliteratur mit dem Zertifikat ›authentisch‹. Im Artikel von Schümer wird dann aber deutlich, dass es hier auch um Genderkorrektheit geht, also nicht um die Frage, ob ein Mann diese Art von Literatur schreiben kann, sondern ob er das darf: »Ohnehin wirken solche Spekulationen auf einer männlichen Ebene recht sexistisch: als könnte am Ende doch nur ein Mann genug Sitzf leisch und Intellekt für solch ein literarisches Epochenwerk auf bringen.«31 Die These, hinter dem Pseudonym stünde Anita Raja, wird sehr häufig wiedergegeben, teils ohne Begründung, teils mit autobiografischen Details belegt. Seltener fällt der Hinweis auf die ebenfalls kurzfristig als mögliche Kandidatin genannte Literaturwissenschaftlerin Marcella Marmo.32 Allein in den Artikeln allgemein stellt über ein Drittel die weibliche Verfasserschaft nicht infrage (20 von 63). Ein männlicher Verfasser oder ein Kollektiv werden hingegen von kaum jemandem ernsthaft in Erwägung gezogen und wenn, dann fällt der Verdacht auf Domenico Starnone, Anita Rajas Ehemann, da dieser in einer 2005 von dem italienischen Physiker Vittorio Loreto mit einer Forschungsgruppe an der Universität Sapienza in Rom durchgeführten computerlinguistischen Studie als ›positiv‹ getestet worden war. In der Studie ging es darum festzustellen, ob es Analogien in Bezug auf Wortschatz und Stil zwischen den Texten von Ferrante und denen von fünf anderen ausgewählten Autor*innen gebe. Das Resultat fiel eindeutig ›zugunsten‹ von Starnone aus und wurde bei einem zweiten, 2016 von einer Forschungs-

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Schümer: ebd. Weber: ebd. Schümer: ebd. Der Literaturkritiker Nicola Bardola ist sämtlichen bislang in den Medien vertretenen Hypothesen zur Identität Ferrantes nachgegangen, indem er nach Übereinstimmungen zwischen den realen Biografien der in Erwägung gezogenen Personen und inhaltlichen Details in den Werken Ferrantes gesucht hat. Vgl. Nicola Bardola: Elena Ferrante – meine geniale Autorin. Ditzingen 2019.

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gruppe in der Schweiz durchgeführten, Test bestätigt.33 Im deutschsprachigen Feuilleton wird zwar hie und da auf Starnone verwiesen, doch als möglicher Autor wird er in einem einzigen Artikel ernsthaft in Erwägung gezogen: Maike Albath in der Süddeutschen Zeitung könnte sich Starnone alleine oder gemeinsam mit Raja als Verfasser vorstellen. Beide beschreibt sie als Kenner des Literaturbetriebs, für die Pseudonymität sowohl Spiel als auch Schutz und Tarnung sein könnte, wobei das Schutzbedürfnis Raja zugeordnet und damit weiblich konnotiert wird. Die Tarnung als spielerische Form der Maskerade wird hingegen mit Starnone verbunden, für den »es ein Reiz gewesen sein mag, einmal unter weiblichem Namen zu schreiben«34.

»Authentisch« und »spannend« als stereotype Rezeptionsformen ›weiblicher‹ Literatur Auf die Korrelation des Werturteils ›Authentizität‹ mit ›Weiblichkeit‹ haben Renate von Heydebrand und Simone Winko schon 1995 in ihrem Beitrag zur »Geschlechterdifferenz in Rezeption und Wertung von Literatur« hingewiesen.35 Auch in unserem Untersuchungsmaterial taucht das Attribut wörtlich in mehreren Artikeln auf, jedoch nie in positiv-affirmativer Form, sondern um Authentizität als typisches Merkmal der Rezeption bei den ›nicht-professionellen‹ Leser*innen bzw. »Fans« zu erklären: »Für die Fans ist die Verfasserin eine authentische Chronistin […]«36. Die Distanz der ›professionellen‹ Leserschaft im deutschsprachigen Feuilleton gegenüber diesem Attribut lässt sich am einfachsten wohl damit erklären, dass das Werturteil »authentisch«, ebenso wie Glaubwürdigkeit und Wirklichkeitsnähe, im Kontext eines autonomen Kunstverständnisses nicht als Nachweis für den Kunstcharakter eines Werks gilt.37 Anzumerken ist hier, dass Ferrante selbst Au-

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Arjuni Tuzzi, Michele A.  Cortelazzo (Hg.): Drawing Elena Ferrante’s Profile. Padova 2018, S. 12 u. S. 92. Albath (Anm. 24). Vgl. Renate von Heydebrand und Simone Winko: Arbeit am Kanon: Geschlechterdifferenz in Rezeption und Wertung von Literatur. In: Hadumod Bußmann, Renate Hof (Hg.): Genus. Stuttgart 1995, S. 207–261, hier S. 222 u. 224; Sigrid Nieberle: Literaturwissenschaften: die neue Vielfalt in der Geschlechterforschung. In: Beate Kortendieck u. a. (Hg.): Handbuch interdisziplinäre Geschlechterforschung, Wiesbaden 2020, S. 663– 570, hier S. 566. Matthias Dusini: Zwei Mädchen in den Straßen von Neapel. In: Falter (Bücher-Herbst), Nr. 41b, 12.10.2016, S. 26. Vgl. Renate von Heydebrand, Simone Winko: Einführung in die Wertung von Literatur. Systematik, Geschichte, Legitimation, Paderborn, u. a.1996, S. 29 ff.

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thentizität wörtlich als ›Kern‹ von Fiktionalität einfordert: »Ich glaube nämlich nicht daran, dass wir zum Nichtauthentischen verdammt sind. Wär es so, wäre Schreiben nicht der Mühe wert.«38 Die ›Verdammung zum Nichtauthentischen‹ lässt sich leicht als Anspielung auf die starren Regeln des autonomen Feldes der Hochliteratur verstehen, die Realitätsnähe geringer achtet als das zweckfreie ›Spiel‹ und ›Verzauberung‹ der Realität durch die Form.39 Gleichzeitig bezieht sich Ferrante explizit und häufig auf das poststrukturalistische Autorschaftskonzept, das den empirischen Autor als sinngebende Instanz ausschließt und damit die für das autonome Feld unabdingbare Freiheit, sprich ›Offenheit des Kunstwerks‹, garantiert.40 Ferrante knüpft aber nicht nur an beide Felder an, das heteronome und das autonome, sondern will diese auch ganz offensichtlich miteinander verknüpfen. Der Wunsch nach Überbrückung des Grabens zwischen ›U‹- und ›E‹-Literatur wird von Ferrante an mehreren Stellen formuliert41 und lässt sich auch deutlich an ihrem Werk ablesen, in dem, abgesehen von der Thematisierung der Autorschafts-Problematik, auch motivisch häufig ›Hochliterarisches‹ mit der Trivialität des Alltagslebens verbunden wird.42 Und weiters spricht Ferrante auch den Zusammenhang zwischen Gender und den unterschiedlichen Verarbeitungsmodi von Literatur an: Während Frauen Literatur von Männern immer für »universell« halten, würden Männer »von Frauen geschriebene Bücher als ›Bücher von Frauen für Frauen‹« wahrnehmen, »selbst wenn es sich um Virginia Woolf handelt«43.

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Ferrante in: Brinkbäumer: Der reine Text (Anm. 17). Vgl. zu ›Zauber‹ und Funktion von Literatur Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Aus dem Französischen von Bernd Schwibs und Achim Russer. Frankfurt a. M. 1999, S. 68 ff. Ferrante kritisiert ganz ähnlich wie Foucault die Unf ähigkeit der Medien mit autorlosen Texten umzugehen: »Was zählt, ist nicht das Buch, sondern die Aura desjenigen, der schreibt. Ist die Aura bereits vorhanden, und potenzieren die Medien sie noch, ist das Verlagswesen gern bereit, die Tore zu öffnen […]. Gibt es diese Aura nicht, und das Buch verkauft sich auf wundersame Weise trotzdem, dann erfinden die Medien eine AutorenRomanfigur […].« Frantumaglia. Mein geschriebenes Leben. Berlin 2019, S. 344. »So ist es mir beispielweise seit Jahren zunehmend weniger peinlich, wie sehr mich Geschichten aus Frauenzeitschriften, die zu Hause überall rumliegen, ansprechen; diese Herz-und-Schmerz-Schmonzetten rühren mich, […] Auch diesen ebenso unerschöpflichen wie verlockenden Schmuddelkeller, dessen Betreten ich mir im Namen der Literatur jahrelang untersagt habe, sollte man nutzen […].« Ebd., S. 74. Zur Anschaulichkeit wird hier auf eines unter vielen Beispielen verwiesen: In Band 2 (»Die Geschichte eines neuen Namens« 2017) möchte Lila nach langer Zeit wieder einmal etwas lesen. Elena wählt als Buch jenes aus, das sie zum Erschlagen der Mücken verwendet hatte, nämlich einen Band von Samuel Beckett mit dem Drama Warten auf Godot. Siehe: Storia del nuovo cognome. Rom 2012, S. 204. Ferrante in Brinkbäumer: Der reine Text (Anm. 17).

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Deutlich weniger Berührungsangst zeigt die professionelle Kritik gegenüber dem sehr häufig auftretenden Merkmal »spannend«, welches Ferrantes Werke allerdings wiederum deutlich in einen heteronomen Kontext setzt und als Unterhaltungsliteratur markiert. Dazu gehören auch die gleichfalls zahlreich auftretenden Formulierungen, die auf ein stark identifikatorisches Leseerlebnis schließen lassen: »Fieber«, »Sog«, »verschlingen«, »atemlos«, »faszinierend«, »saugut«, »überwältigt«, »Herzklopfen«. Diese Begriffe kommen 83 Mal (jeweils in unterschiedlicher Flexion oder Wortart) in den insgesamt 114 Buchbesprechungen vor, und zwar verteilt auf acht Werke (kein Vorkommen zu: Der Strand bei Nacht).

Autonome und heteronome Konzepte von anonymer Autorschaft Es gibt bekanntlich verschiedene Formen anonymer Autorschaft: das eine Werk erscheint unter einem Pseudonym, das andere ohne Signatur, viele Autor*innen bleiben mit oder ohne Pseudonym unbekannt, andere sind trotz fehlenden Namens allseits bekannt,44 bei einigen – siehe Homer – lässt sich die Identität ganz einfach nicht mehr rekonstruieren. Als wesentliches Unterscheidungskriterium gilt jedoch die Frage nach der Funktion, nämlich ob die Anonymität dazu dient, das Werk vor einer biografischen Lesart (Biografismus) oder die eigene Person und/oder andere aus irgendwelchen Gründen zu ›schützen‹. Die erstere Form übernimmt eine ›programmatische‹ Funktion45 und diese spielt ganz eindeutig im autonomen Feld eine zentrale Rolle, da vor allem hier der ›Glaube‹ an die überindividuelle Wahrheit des literarischen Textes durch Autorenkult und dessen Vermarktung durch die Kulturindustrie Schaden nimmt und damit die »Vernichtung des Autors« zur sinnhaften Strategie wird.46 Anonymität als Schutz vor Verfolgung oder als gezielt eingesetztes Marketinginstrument verweist hingegen auf das ›heteronome‹ Feld, wo das Gesetz der ›Zweckfreiheit‹ keine Rolle spielt, politische Auf klärung, Emanzipation, Bildung und natürlich Unterhaltung wichtige Funktionen von Literatur sind. Hierzu zählt auch die sogenannte ›Frauenliteratur‹, die in der Regel als auf klärerische Literatur 44

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Vgl. zur anonym erschienenen Erstausgabe des »Werther« Michael Pilz: Praktiken der Verzeichnung. Bibliographie im literarischen Feld: Der Leipziger Messkatalog 1760–1860 (Habilitationsschrift). Innsbruck 2019, S. 145 f. Vgl. Pabst: Anonymität und Autorschaft (Anm. 2), S. 24 f. Ebd.

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verstanden wird. Da Frauen – zumindest in der westlichen Kultur – traditionell nur eine Chance auf Erfolg hatten, wenn »sie der heteronomen Ästhetik des prodesse et delectare folgten«47, dies jedoch für die Aufnahme in den »Kanon der Kunstliteratur« aber deutlich nachteilig war, wie Renate von Heydebrand und Simone Winko in ihrer Studie zum Zusammenhang von Kanonbildung und Gender feststellen,48 ist auch die Beurteilung des Autorschaftskonzepts von Ferrante weder gender- noch wertneutral. Für die Beantwortung dieser Frage wurden lediglich Stellungnahmen gemessen, in denen explizit die Anonymität bzw. Wahl des Pseudonyms begründet wurde. Von 136 Artikeln und Buchbesprechungen (Kurzkritiken ausgenommen) fanden sich hierzu insgesamt nur 27 Beispiele, in denen Anonymität heteronom konnotiert wird. Dirk Schümer nimmt Ferrante explizit vor dem Verdacht poststrukturalistischer ›Kontaminierung‹ in Schutz: »Diese uneitle Stellungnahme hat nur wenig gemein mit Michel Foucaults strukturalistischem Furor, der vor über vierzig Jahren die Autorenschaft partout dem unpersönlichen Pseudonym opfern wollte.«49 Ursula Scheer erklärt Ferrantes Position im feministischen Sinn als Verweigerung sich »auf eine Autorfunktion im Diskurs ununterscheidbarer Stimmen reduzieren« zu lassen, führt dann aber eine Vielzahl von Merkmalen an, die Stereotype von Weiblichkeit und Trivialliteratur vermitteln: »Unsicherheit«, das Bedürfnis »Menschen zu schützen«, den »Trubel« des Literaturbetriebs hätte Ferrante in einem Interview als Motive selbst genannt.50 Von anderen Kritiker*innen wird mehrmals das Schutzbedürfnis wegen Gefahr durch die Mafia angesprochen, was Ferrante in einem Interview im Spiegel übrigens deutlich abstreitet.51 Auch die von Scheer zitierte »Unsicherheit« wird in dem Interview in der Paris Review in einem völlig anderen Kontext verwendet, nämlich um die Wahl der Ich-Form zu erklären, die es der Autorin erlaube, sich besser in ihre Figuren einfühlen zu können: »Das Ich ist ein Element der literarischen Wahrheit, die ich suche. Es sind immer andere Frauen, die schreiben, aber jede muss mich mit ihrer Art überzeugen. Jede muss Zeugnis ablegen von dem, was sie erlebt hat. Und mich ihre Zweifel spüren lassen, ihre Unsicherheiten, ihre Krisen.«52 In der weniger stark bearbeiteten Fassung dieses Interviews im 47 48 49 50 51 52

Renate von Heydebrand, Simone Winko: Arbeit am Kanon (Anm. 35) S. 140. »Frauen müssen fast notwendig in der Literaturkommunikation, die sich an dem einen Kanon in der Kunstliteratur orientiert, zu kurz kommen.« Ebd. Schümer: Die geheimste Autorin der Welt (Anm. 27). Ursula Scheer: Ihre geniale Freundin lebt nicht mehr hier. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.5.2016. Ferrante in: Brinkbäumer: Der reine Text (Anm. 17). Ferrante in: Ferri: Elena Ferrante (Anm. 17).

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Essayband Frantumaglia ist der Begriff noch einmal anders codiert, nämlich als intendierter Effekt eines Erzählverfahrens, das die eindeutige Konturierung der Figuren im Laufe der Geschichte verschwimmen lassen solle.53 In diesem wie auch in den anderen bislang erschienen Interviews antwortet Ferrante auf die unvermeidbare Frage, warum sie unerkannt bleiben möchte, mit dem immer gleichen Hinweis, dass der Autor im Text und nicht im realen Leben zu suchen sei – die literaturhistorischen Verweise, die zeigen, dass sie damit einem traditionsreichen und anerkannten Konzept folge, variieren von John Keats, Meghan O’Rourke54 bis Italo Calvino55, Italo Svevo und Marcel Proust.56 Auch Ref lexionen zu den Konventionen und Möglichkeiten männlichen und weiblichen Schreibens finden sich in Frantumaglia in ausführlicher Form, die hier nicht in ihrer ganzen Breite wiedergegeben werden können. Festgehalten muss aber werden, dass Ferrante hier ein anspruchsvolles Konzept vorlegt, das keine Zweifel zulässt an ihrer Kenntnis und Belesenheit von Literatur und Theorie zum Thema Gender und literarisches Schreiben. Die Mehrheit der Kritiker*innen bleibt aber bei einer einfachen autobiografischen Lesart und ignoriert die paratextuellen Hinweise, sei es in Form von Signatur, Cover oder Interviews, auf eine dem Werk inhärente Metaebene. Diese wird aber immerhin von elf Kritiker*innen thematisiert und als wesentlicher Aspekt im Werk von Ferrante erkannt. »Doch ein Spiel ist es nicht. Dass sie ihre Texte aus sich selbst heraus wirken lassen wollte, hat sie mehrfach erklärt«, schreibt Irmtraud Gutschke im Neuen Deutschland57, und Nicole Althaus in der Neuen Zürcher Zeitung meint, etwas weniger im Sinne von Ferrante, dass die Anonymität der Dominanz von Männern im Literaturbetrieb geschuldet sei: »Früher versteckten sie sich hinter Männernamen, damit sie überhaupt publiziert wurden. Heute bleiben sie anonym, um nicht in der Schublade der Frauenbücher zu landen.«58 Die offensichtliche verkaufsfördernde Wirkung des Pseudonyms wird naturgemäß auch immer wieder erwähnt, unabhängig von der sonstigen Einschätzung des Werks. Aber nur ein Kritiker findet hierfür so deutlich ablehnende Worte zu einem Werk, dem er offensichtlich nichts abgewinnen kann (»sentimentale Kon-

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Vgl. Ferrante: Frantumaglia (Anm. 40), S. 365. Ferrante in: Ferri: Elena Ferrante (Anm. 17). Ferrante: Frantumaglia (Anm. 40), S. 85. Ferrante in: Brinkbäumer: Der reine Text (Anm. 17). Imrtraud Gutschke: Das weibliche Chaos. In: Neues Deutschland, 14. Mai 2016. Althaus: Doch keine Literatur (Anm. 26).

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struktion«, »nostalgisch«, »leicht zugänglich« u. Ä.): »Anstelle von Anonymität erzeugt dieses Pseudonym – und dessen strikte Wahrung – etwas anderes als Elena Ferrante behauptet, nämlich äußerste Kenntlichkeit.«59

Einige Schlussfolgerungen Die hier angeführten Ergebnisse zeigen, dass bei der Rezeption von Ferrantes Werken im deutschsprachigen Feuilleton deutlich solche Urteile überwiegen, die traditionsgemäß über Literatur von Frauen und über Frauen (›Frauenliteratur‹) gefällt werden. Gleichzeitig ist aber auch eine starke Heterogenität in der Rezeption feststellbar, die, wenn man Schuchter folgt, »im Rückgriff auf Derrida […] als ›weibliches Schreiben‹« gelesen werden kann, nämlich »als Unterwanderung von Herrschaft durch das Anbieten vielfältiger Lesarten« 60. So schätzt beispielsweise auch der zuletzt zitierte Kritiker Thomas Steinfeld die Werke als rückwärtsgewandtes Projekt ein, das leicht zugängliche Romanliteratur im Stile des Realismus im 19.  Jahrhundert nachahme,61 während Ruth Klüger dem Werk sämtliche Eigenschaften verleiht, die es traditionsmäßig für den Eintritt in das autonome Feld braucht: »alle Merkmale einer klassischen Novelle«, »künstlerisch vollendet und daher ein Lesevergnügen« – der aus der männlichen Kanonliteratur gewählte Namen Thomas Mann fungiert noch als zusätzliches Qualitätssiegel.62 Das Changieren zwischen U- und E-Literatur zeigt sich als Konstante in der Rezeption, zumindest in der deutschsprachigen. Die ›Doppelbödigkeit‹ von Ferrantes Werk wird dabei unterschiedlich als ›Plan‹ lobend erkannt oder als mögliche Falle gefürchtet: »Ist es Weltliteratur oder nur der übliche Hype? Der Roman wird gefeiert, doch ist in der Literaturkritik zugleich ein Unbehagen zu spüren: die Sorge, wir könnten auf ein Stück Trivialliteratur hereinfallen.«63 Diese von Sieglinde Geisel in der NZZ geäußerten Zweifel am Urteilsvermögen der Literaturkritik teilt Ursula März nicht: Und wer auch immer hinter dem Namen Elena Ferrante steckt, eine gelehrsame, mit allen Wassern der Semiotik und des Strukturalismus gewaschene Person ist es ganz zweifellos. So viel zum »spannend, aber anspruchsvoll«.

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Thomas Steinfeld: Puppenspiel. In: Süddeutsche Zeitung, 20.8.2016. Schuchter: Textherrschaft (Anm. 12), S. 11. Steinfeld: Puppenspiel (Anm. 59). Ruth Klüger: Leda und die Puppen. In: Die Welt (Die literarische Welt), 6.4.2008. Sieglinde Geisel: Alles schön, alles beängstigend. In: Neue Zürcher Zeitung am Sonntag, 11.9.2016

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Renate Giacomuzzi Der Widerspruch, den die Formel unterstellt, trifft hier nicht zu. Fleisch und Knochen, Story und intellektueller Oberbau lassen sich nicht trennen.64

März spricht dann auch die unterschiedliche Wertungspraxis bei Werken von männlichen und weiblichen Autor*innen an und verweist auf Umberto Eco: Der Roman Der Name der Rose (1980) sei mit einem »Profil aus prächtiger Unterhaltung und ästhetischem Mehrgewinn just das gleiche und man möchte wetten, dass irgendwo, irgendwann über den Namen der Rose geäußert wurde, dieses Buch sei ›spannend, aber anspruchsvoll‹.«65 Dass die deutschsprachige Kritik mehrheitlich Ferrantes Romane schätzt, weil sie spannend, und nicht weil sie anspruchsvoll sind, zeigt auch die Rezeption des letzten Bandes der Tetralogie, Die Geschichte des verlorenen Kindes (2018). Hier klagen immerhin fünf von 18 Kritiker*innen explizit über nachlassende Qualität und begründen dies mit gefühlter Langeweile und Ermüdung;66 nur vier erkennen darin traditionell ›männliche‹ Qualitäten wie Komplexität, Scharfsinnigkeit.67 Denis Scheck als eine der wirkungsvollsten Instanzen am Börsenmarkt des deutschen Literaturbetriebs beurteilt die Wirkung des Romans wie ein Kellermeister (»anregend süffig«), vergibt für die Form aber lediglich die Note »befriedigend.« 68 Wie sich die Geschlechterverteilung unter den Kritiker*innen in Bezug zur Wertungspraxis verhält, wurde hier zwar nicht dezidiert untersucht, doch kann festgestellt werden, dass der Geschlechterdualismus sich nicht im axiologischen Dualismus heteronom-autonom direkt widerspiegelt, sondern dass traditionell als weiblich definierte Verarbeitungsmodi wie identifikatorisches und hedonistisches Leseverhalten sich auf beide Geschlechter verteilen und dasselbe für typisch ›autonom-axiologische‹ Werte wie stilistische Adäquatheit und Komplexität gilt.

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Ursula März: Im Doppel vertauscht. In: Die Zeit, 24.8.2017. Ebd. Roberta De Righi: Aus Italiens bleierner Zeit. In: Abendzeitung, 1.2.2018; Martin Ebel: Eine Freundschaft in Zeiten des Terrors. In: Tages-Anzeiger, 12.9.2017, unter dem Titel: Was die Welt zusammenhält in: Süddeutsche Zeitung, 2.2.2018; Stefanie Panzenböck: Ein ernüchternder Abschied. In: Falter, 7. 2.2018; Sandra Kegel: Im Verlies der Puppen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.1.2018; Jule Bleyer: Letzter Ferrante-Band: Es reicht dann jetzt auch. In: Hamburger Abendblatt, 20.2.2018; Sieglinde Geisel: Der NeapelSaga geht die Puste aus. In: Neue Zürcher Zeitung am Sonntag, 25.3.2018. Marc Reichwein: Die finale Freundin. In: Die Welt (Die literarische Welt), 27.1.2018; Franz Haas: Elena Ferrante hält Italien den Spiegel vor. In: Neue Zürcher Zeitung, 2.2.2018; Kister, Stefan: Die Welt bricht auseinander. In: Stuttgarter Zeitung, 3.2.2018; Michael Jäger: Wag es nicht! In: Der Freitag, 6.9.2018. Denis Scheck: Aufgeschlagen. Zugeschlagen: Kein Meer zu tief. In: Der Tagesspiegel, 24.2.2018.

Das unbekannte Geschlecht

Als oberf lächlicher Hinweis auf ein möglicherweise genderspezifisches Verhalten kann hingegen die unterschiedliche Verteilung von Männern und Frauen je nach journalistischer Textgattung gesehen werden. Bei den Artikeln allgemeiner Art ist der Männeranteil höher (29 Artikel von Männern, 18 von Frauen), während es bei den Buchbesprechungen durchschnittlich einen höheren Frauenanteil gibt. Hier könnte man also daraus schließen, dass bei den männlichen Kritikern das Interesse für die ›Schlagzeile Ferrante‹ größer ist als für ihr Werk. Zuletzt soll hier noch kurz auf ein genderrelevantes Merkmal in den Kritiken hingewiesen werden, das zwar nicht quantitativ auffällig ist, sich aber doch konstant in den Kritiken verfolgen lässt. Immer wieder greifen weibliche wie männliche Kritiker*innen bei der Beschreibung von inhaltlichen wie formalen Elementen zu erotisch-konnotierten Formulierungen, die damit letztlich eine weibliche Autorschaft suggerieren, indem sie diese mittels sprachlicher Wendungen performativ erschaffen: So »überzeugt« Pia Reinacher die Tetralogie durch: »ihre ungebremste Wucht, ihre überreizte Fantasie, ihr triebhaftes Erzählen […] ihre sinnliche Präsenz […]. Ihre Romane sind wie prall gefüllte plastische […] Bildersammlungen, die das ärmliche Leben im Neapel der fünfziger Jahre mit beinahe erotischer Qualität abbilden« usw.69 In der SZ »f ließt und quillt« der Roman Lästige Liebe »beinahe über vor Körperlichkeit«70, und Stefan Kister ›sieht‹ »die große Kunst der Autorin gewissermaßen nackt, ohne epischen Schutzmantel«71. Würde sich heute das Ferrante-Pseudonym enthüllen und einen Mann zeigen, so würde die »überreizte Fantasie«, das »triebhafte Erzählen« etc. eine völlig andere und vermutlich äußerst negative Bedeutung erhalten. Die geschlechtliche Codierung von Autorschaft erfolgt nicht zufällig, sondern hängt von einer Vielzahl von textimmanenten wie externen Faktoren ab, die von den sozialen, kulturellen und immer auch ökonomischen Konventionen einer Gesellschaft beeinf lusst sind. Zu Letzterem als letztes Wort: Liebe und Sex ›sells‹, und zwar von Frauen verfasst – von den Millionenauf lagen der Liebesromane von Hedwig Courths-Mahler oder Marie Louise Fischer bis zu E. L. James, Belle de Jour, Charlotte Roche u. v. a. Im Zusammenhang mit Ferrante nicht zu vergessen ist die italienische Autorin Liala (1897-1995, Pseudonym von Amalia Liana Negretti Odescalchi), die zu

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Pia Reinacher: Ungebremste Wucht. In: Die Weltwoche, 13.10.2016. Kathleen Hildebrand: Eine Mutter verschwindet. In: Süddeutsche Zeitung, 7.11.2018. Stefan Kister: Eine Frau verschwindet. In: Stuttgarter Zeitung, 16.11.2018.

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den bestverkauften Autor*innen Italiens gehört und deren Liebesromane inklusive Covergestaltung eine Kontrastfolie zu der Ferrante-Tetralogie gebildet haben mögen. Die auffällig kitschigen Covers der Ferrante-Serie ähneln sehr stark der Aufmachung von Lialas Romanen und können damit auch als ironische Anspielung auf die mit Vorliebe in adligen Milieus angesiedelten Liebes- und Familiengeschichten verstanden werden.

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Die Debütantin Über weibliche Erscheinungsweisen in der Gegenwartsliteratur (Glaser, Torik, Fehn) »Tell me somethin’, girl, Are you happy in this modern world?«1

Virilisierungsstrategien und publizitäre Trinität Dieser Aufsatz basiert auf einer Ausgangserkenntnis der geschlechtertheoretisch orientierten Literaturwissenschaft, auf die auch andere Aufsätze in diesem Band rekurrieren.2 Es handelt sich um die Beobachtung, dass das kreative Vermögen oft maskulin codiert und »mit sexueller Potenz«3 gleichgesetzt wird. Die Vermännlichung künstlerischer Gestaltungsfähigkeit, die im Jahrhundertwechsel ins 19. Jahrhundert eng mit Strategien der Moralisie-

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Lady Gaga, Bradley Cooper: Shallow. In: A Star is Born (Soundtrack). New York 2019. Lady Gaga spielt im Film A Starn is Born (2018), dem Generation-Y-Remake eines Hollywoodklassikers, eine Sängerin, die der alternde Country-Star Jackson Maine, gespielt von Bradley Cooper, protegiert. Er verhilft ihr zu ihrem Debüt auf der großen Bühne. Es entspinnt sich eine Liebesgeschichte zwischen den ungleichen Künstler *innen. Bezeichnenderweise lernt Jackson Ally Campana, deren romanische Herkunft im sprechenden Namen angelegt ist, in einer Homosexuellenbar kennen. Maine wird an seiner ›toxischen Männlichkeit‹ zugrunde gehen: Der alternde weiße Alkoholiker begeht Suizid, damit die singende Kellnerin ihren kometenhaften Aufstieg fortsetzen kann. Entgegen der oberf lächlichen Zuweisung der Tragik zur Cooper-Rolle, besteht die Botschaft des Films eigentlich darin, dass beide ihre Liebe und Identität der Erfolgs wegen aufgeben, weil es bekanntlich im Falschen nichts Richtiges geben kann. Die Kulturkritik im perfekt inszenierten Hollywood-Streifen wirkt jedoch zahnlos, auch weil das mit Diversitätsaspekten angereicherte Liebesnarrativ (alternder Country-Typ aus den Südstaaten trifft junge urbane Frau mit Migrationshintergrund) die Ökonomiekritik übertüncht. Im zentralen Song spricht sich das abgründige Begehren (»we’re form the deep end«) allerdings – gut romantisch – aus. Eine klassische Arbeit in der Geschlechterforschung hierzu wäre Silvia Bovenschen: Die imaginierte Weiblichkeit. Exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen. Frankfurt a. M. 1979. Auch im Münchner Graduiertenkolleg Geschlechterdifferenz und Literatur wurden wichtige Publikationen vorgelegt, von denen hier nur Ina Schabert, Barbara Schaff (Hg.): Genus und Genie in der Zeit um 1800, H. 1. Berlin 1994 genannt sei. Urte Helduser: Geschlechterprogramme. Konzepte der literarischen Moderne um 1900. Köln, Weimar, Wien 2005, S. 211.

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rung und polaren Anthropologisierung verknüpft war,4 radikalisierte sich gegen Ende des Jahrhunderts, als der durch die technische Zivilisation und das ›stahlharte Gehäuse‹ der zweckrationalen Gesellschaft forcierte Geltungsverlust des männlichen Einzelnen zunahm. Die geschlechtlich codierten literarischen Diskurse nutzten nun vermehrt evolutionistische und positivistische Argumente, um eine ›gesunde‹ und ›männliche‹ Literatur zu apostrophieren, die jener ›degenerierten‹ und ›effeminierten‹ Künstlerschaft überlegen wäre, die etwa Cesare Lombroso in seinen Studien analysiert hatte. Solche Verknüpfungen nenne ich im Folgenden ›Virilisierungsstrategien‹. Sie sind aus mehreren Gründen instabil. Zunächst kommen sie aus der Defensive und reagieren auf jeweils spezifische Gefährdungen. Als Beschreibungsformeln der Moderne sind Männlichkeiten von Beginn an Ausdruck historischer Krisendiskurse.5 ›Um 1900‹ etwa wurde Maskulinität auch deshalb neu modelliert, weil die Suffragettenbewegung und die Psychoanalyse den Druck auf das tradierte Männlichkeitsmuster von außen und innen erhöhten. Sodann sind solche Virilisierungsstrategien labil, weil sie sprachlich-kulturelle Konstruktionen sind. Die scheinbar kausale Verbindung zwischen biologischer Männlichkeit und der ästhetischen Güte männlicher Hervorbringungen beruht auf performativen Akten, die wiederholt werden müssen und fehlangewendet werden können.6 Schließlich entstehen Konsistenz- und Folgeprobleme.7 Man muss sich, wenn Kreativität männlich codiert wird, etwa die Frage stellen, wie mit Frauen umzugehen ist, die gewissermaßen ihrem Geschlecht zum Trotz gut schreiben. In der entdifferenzierten Geschlechtersemantik des Fin de siècle, in der man zwischen ›W‹ und ›M‹ (Otto Weininger) unzählige ›Zwischenstufen‹ (Magnus Hirschfeld) erkannt hatte, gab es die Möglichkeit, Männlichkeit und Weiblichkeit abzustufen und

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Ein Beispiel hierfür ist das Bildungsromankonzept, dessen Schöpfer, Karl Morgenstern, in seinen in Dorpat gehaltenen Beiträgen seinen Mitbewohner Friedrich Maximilian Klinger und dessen Werke, weil sie ›männlicher‹ seien, Goethe gegenüber präferiert; vgl. Marius Reisener: Phantom-Genre und Phantom-Gender. Geschlecht in Karl Morgensterns Ueber das Wesen des Bildungsromans (1819/20). In: Weimarer Beiträge 66.3 (2020), S. 367–385. Das zeigt etwa Christoph Kucklick: Das unmoralische Geschlecht. Zur Geburt der negativen Andrologie. Frankfurt a. M. 2008. John Langshaw Austin [1962]: Zur Theorie der Sprechakte. Deutsche Bearbeitung von Eike von Savigny. Stuttgart 2002; Jacques Derrida: Signatur Ereignis Kontext. In: Ders.: Randgänge der Philosophie. Wien 1988, S. 291–314; Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt a. M. 1991. Diese Folgeprobleme lassen sich generell beim Versuch beobachten, auf binären geschlechtlichen Oppositionen basierende Ordnungsmodelle umzusetzen. Vgl. hierzu grundlegend Donna Haraway: Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen. Frankfurt a. M. 1995.

Die Debütantin

Wechselverhältnisse seelischer und körperlicher Geschlechtlichkeit anzunehmen.8 Man konnte daher in der Episteme der Jahrhundertwende die Konsekration weiblicher Autorschaft durch die Anerkennung eines ›männlichen‹ Gestaltungsvermögens der Betreffenden legitimieren und zugleich unliebsame Schriftsteller als ›feminin‹ etikettieren und ihnen den Zugang zum Parnass verwehren. Michael Pilz hat diese Dynamik in seinem Beitrag an Paul Heyse exemplifiziert. In der Gegenwartsliteratur sind solche Virilisierungsstrategien und performativen Ausschlussformen weiterhin vorhanden – dies ist der Verdacht, dem ich am Beispiel eines Rituals nachgehe, das für das literarische Feld im Zusammenspiel von Ökonomie und Medien von kaum zu überschätzender Bedeutung ist. Die Rede ist vom weiblichen Debüt. Dabei gilt es vorab zu erläutern, weshalb ich zwischen dem weiblichen und dem männlichen Debüt unterscheide und auf Ersteres fokussiere. In der Laienkritik, die hier aus Platzgründen außen vor bleibt, sind die Unterschiede zwischen beiden Phänomenen prima facie kaum vorhanden und scheinbar weniger relevant.9 In der professionellen Kritik und im medialen und durchökonomisierten Literaturbetrieb, aber auch in der Literatur selbst sieht es hingegen anders aus, wie ich an mehreren Beispielen auf beiden Seiten zeigen werde. Im Literaturbetrieb erfahren die Debütantinnen eine spezifische Aufmerksamkeit, wobei sie zumeist mit ihren Erstlingswerken ins sprachliche oder fotografische Bild gebracht werden. Sie erscheinen mit dem Text, nicht als dessen Urheberin, sondern als Teil desselben. Und der Text erscheint nicht etwa ohne oder durch sie, sondern gleichsam mit ihnen. Das weibliche Erscheinen im literarischen Feld konstituiert sich demnach vornehmlich aus drei Bestandteilen: aus der Debütantin als Person, dem Debüt als Text und dem Debüt als Ereignis. Um Autorin werden zu können, verbinden sich Körper, Schrift und Auftritt der Debütantin enger als es bei ihren Kollegen der Fall wäre und bilden eine ›publizitäre Trinität‹. Die Dreieinheit des weiblichen Debüts steht mit einer Reihe von Phänomenen im Zusammenhang, denen ich mich anschließend widme. Genauer 8 9

Vgl. hierzu: der Verf.: Konstruktive Melancholie. Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften und die Grenzen des modernen Geschlechterdiskurses. Köln u. a. 2011. Ich bedanke mich bei Claus-Michael Schlesinger, der eine computergestützte Analyse von rund 1,1 Millionen Publikumsrezensionen auf Amazon.de im Bereich Belletristik zu ›Debüt‹, ›Debütantin‹ und ›Debütant‹ gemacht hat. Hier gibt es nach einer ersten kursorischen Durchsicht keine qualitativen oder quantitativen Differenzen. Ein Vergleich mit der professionellen Kritik und eine genauere Analyse sind allerdings Desiderate, wobei anzunehmen ist, dass in der professionellen und stärker institutionalisierten Kritik die Machtverhältnisse starrer, die Kämpfe größer sind.

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sind das die Etymologie von Debüt und die Ethnografie der Heiratsregeln, die das Schwellenritual des klassischen sozialen Debüts ab dem 17. Jahrhundert konditionieren. Von ihnen her lässt sich eine genealogische These aufstellen, derzufolge das literarische Debüt der Gegenwartsliteratur als eine geschlechtlich codierte Veröffentlichung ältere Modelle öffentlicher Vergeschlechtlichung imitiert. Wie in den traditionellen ›rites de passage‹ (Artur van Gennep), in denen die natürliche weibliche Reproduktionsfähigkeit sozialen Institutionen unterworfen wird, handelt es sich im Fall des literarischen Debüts nicht nur um das erstmalige Erscheinen einer Künstlerin, sondern um performative Akte, die kontingente sozialen Strukturen naturalisieren: In seinem Wiederholungscharakter trägt das Debüt dazu bei, Dinge selbstverständlich wirken zu lassen, die es nicht sind. Nun gilt es im nächsten Schritt zu fragen, was das Ritual naturalisiert. Ich werde mich hierfür auf einige repräsentative Aussagen im Literaturbetrieb konzentrieren und daran Muster herausarbeiten. Sie ähneln den älteren Virilisierungsstrategien und besitzen, wie sie, eine Gatekeeper-Funktion.10 In den Aussagen von Kritiker*innen und Schriftsteller*innen werden debütierende Frauen nicht nur als potenzielle Autorinnen beachtet, sondern Kunst und Weiblichkeit aufeinander bezogen und zugleich getrennt. Denn die (Sprach-)Handelnden weisen sich in Verwendung der Differenz von Weiblichkeit und Kunst implizit ein Wissen über beide Seiten der Unterscheidung zu. Die Akteur*innen inszenieren sich etwa als Insider*innen, die Einblick geben, bei welchen Debüts nicht artistische, sondern körperliche Qualitäten im Vordergrund gestanden hätten; oder sie behaupten, dass Schriftstellerinnen im Sinne einer autobiografischen Lesart mit ihrem Debüttext identisch wären oder nach der Geburt des ersten Kindes keinen Text mehr produzieren würden. Die Sprechenden nutzen die Trinität des weiblichen Debüts, um eine Sphäre scheinbar autonomer literarischer Kunst zu evozieren, als deren angestammte Verwalter sie erscheinen. Ihre Wertungen sexualisieren so nicht nur die Autorinnen, sondern tendieren dazu, ihre eigene Sprecherposition als systemadäquate und quasi-neutrale zu festigen. Ihr Chauvinismus oder Paternalismus wirken 10

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Die Gatekeeper-Funktion erstreckt sich jedoch, ich danke Thomas Wegmann für den Hinweis, auch und schon länger aufs andere Geschlecht. Die Idee, junge Männer in den Markt zu bringen, hat Jan Brandt: Springende Fohlen. Die junge Generation um 1930 als Marketingkonzept. In: Thomas Wegmann (Hg.): Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik, Bd. 12: MARKT literarisch. Berlin 2005, S. 151–169, an der Serie Junge Deutsche des Reclam Verlags untersucht, die ab 1927 erschien und etwa Klaus Mann oder Ernst Hausmann ein Podium bot. Die Inszenierungen weichen von den weiblichen Debüt-Ritualen der Gegenwart ab, nutzen aber gleichfalls die ›ungestüme Natürlichkeit‹ der Jugend, um den Betrieb zu verjüngen.

Die Debütantin

dabei weniger als ein Versehen, mehr als ein momentaner Notbehelf, der durch die fehlende ästhetische Satisfaktionsfähigkeit des debütierenden Gegenübers provoziert wird.11 Betrachtet man die sprachlich-kulturellen Vorstufen des Debüts drängt sich der Eindruck auf, dass man es in der Gegenwartsliteraturkritik mit einem zwar zutiefst sexistischen, aber überaus stabilen System zu tun habe, in dem männliche Verhaltensweisen die interne Norm bilden. Allerdings ist die Persistenz dieser habituell und performativ erzeugten, scheinbar neutralen Deutungshoheit keineswegs garantiert. Zum einen lassen sich die Akteure beobachten, etwa von der Literatur oder der Literaturwissenschaft. Zum anderen kann die mit den Sprecherpositionen vermeintlich verbundene Wirkmacht mit der Wirklichkeit konf ligieren. Wenn Martin Ebel anlässlich der deutschen Übersetzung von Sally Rooneys Debüt Conversations with Friends (2019) auf ihrem Autorinnenfoto ein »aufgeschrecktes Reh mit sinnlichen Lippen«12 erkennt, fragt es sich, ob das Bild die Erotisierung verschuldet oder die habitualisierte Betrachtungsweise von Debütantinnenfotos seitens des Kritikers.13 Da das weibliche literarische Debüt ein sozialer Mechanismus ist, der in seiner Wiederholung dazu beiträgt, dass kontingente soziale und ökonomische Strukturen sich über soziale Geschlechtlichkeit performativ naturalisieren, öffnen sich an einem solchen konkreten Beispiel Optionen für Gegenstrategien. Sprecherpositionen lassen sich imitieren, Sprechweisen aneignen, etwa um zu zeigen, dass das scheinbar ganz natürliche Sprechen über das Geschlecht der anderen, wie das Ebels über Rooney, auch von den Besprochenen parodiert werden kann und dann andere Effekte hat. Bekanntlich wurde der rein performative Nexus zwischen literaturkri-

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Vgl. zur Geschichte der Unmarkiertheit der Sprecherposition des weißen heterosexuellen Mannes Luca di Blasi: Der weiße Mann. Ein Anti-Manifest. Bielefeld 2013, der mit Mitteln der Systemtheorie gegen sie arbeitet und die Entwicklung der Systemtheorie, als Strategie zu Verschiebung des blinden Flecks, mit der Infragestellung der bis dato neutralen männlichen Perspektive durch Feminismus, Poststrukturalismus und Postkolonialismus korreliert. Martin Ebel: Jeder Satz ist eine Strategie. In: Tages-Anzeiger, 2.8.2019. Ebel hat sich schon vorher im Schweizer Literaturclub auf Debütantinnen eingeschossen – etwa in der Besprechung des Romans Traurige Freiheit von Friederike Gösweiner (ausgestrahlt am 17.5.2016). URL: https://bit.ly/35lWO9Y (abgerufen am 21.2.2021). Der Text handelt von einer jungen Österreicherin, die für ein Praktikum im Print-Journalismus nach Berlin geht. Ebel, der als Literaturchef des Tages-Anzeigers Mitspracherecht in Personalfragen haben dürfte, begründet die Ablehnung des Texts mit der Ablehnung der beruf lichen Qualitäten der Protagonistin. Hannah sei ja weder passioniert noch kreativ. Auch würde keine Schriftprobe mitgeteilt. Was sie im Medienbereich suche, sei ihm schleierhaft. Auf die mediale Relevanz der Fotografie kann und muss hier nicht eingegangen werden, da Andrea Werner sich dem Phänomen widmet.

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tischem Sprechakt und besprochenem Objekt im Hashtag #dichterdran von Autor*innen genutzt, um über den Körper von Autoren wie Ernest Hemingway oder Richard David Precht zu sprechen.14 Was nicht nur Frauen dort machten, war mehr als eine bittere Satire auf ein Verhalten, das kreative Menschen zu gegenderten Objekten degradiert. Es war auch mehr als eine Parodie, in der die Zitathaftigkeit der mit den Wertungen verbundenen scheinbar originären Männlichkeit dekonstruiert wurde. Vielmehr zeigte #dichterdran, dass sich Akteur*innen, wollten sie resignifizierende performative Akte realisieren, erst einen eigenen Diskursraum schaffen mussten, in dem durch die Wiederholung strukturell ähnlicher Aussagen eine ausreichende kulturelle Masse erzeugt wurde. Als singuläre Ereignisse hätten die Aussagen einzelner Autor*innen vermutlich entweder keine Aufmerksamkeit erhalten oder als hysterische Überreaktion gegolten. Zugleich lässt die Zunahme an Einträgen vermuten, dass sich hier nun selbst eine ›Bubble‹ gebildet hat, in der einige Akteur*innen ihre eigene Sichtbarkeit strategisch erhöhen. Ob ein politischer Impetus dabei noch ausschlaggebend ist, sei dahingestellt. Das Debüt ist demnach kein Ritual, an dem nur Macht erneuert und Strukturen gefestigt würden; es ist vielmehr ein situatives Ereignis, in dem nicht nur das schreibende weibliche Individuum und seine beruf liche Zukunft auf dem Spiel stehen, sondern auch die Strukturen, die sich durch dessen Sexualisierung und potenzielle Autorinnenwerdung erneuern. Die immense Fragilität, die damit beiderseitig verbunden ist, ist bereits mehrfach in literarischer Form dargestellt und ausgenutzt worden. Mein theoretischer Zugang selbst verdankt sich einer Fülle von Material, das aus den Jahren von 1989 bis 2021 stammt.15 Innerhalb des Artikels beziehe ich mich im Wesentlichen auf drei Beispiele, die das weibliche Debüt zu entlarven, zu instrumentalisieren und zu dekonstruieren suchen, indem sie die publizitäre Trinität des Debüts auf heben.16 Es handelt sich um Autor*innen (Walter Klier, Stefanie Holzner und Claus Heck), die unter dem Pseudonym einer weiblichen Debütantin (Luciana Glaser und Aléa Torik) schreiben – sie lie14 15

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Auf #dichterdran gehen die Beiträge von Nicole Seifert und Martina Wernli genauer ein. Gerne hätte ich zu Elena Ferrante, Karen Köhler und Lisa Eckhart geschrieben, es sind, was die Debütromane betrifft, interessante Szenarien, da z. B. Ferrantes bereits 1994 übersetztes Debüt »L’amore molesto« (1992) nach dem Erfolg der Neapel-Saga 2018 neu übersetzt und dann anders rezipiert wurde. Es ist eine Möglichkeit, die Theorie zu besitzen und sie dann, wie auf zauberhafte Weise, als brauchbares analytisches Tool bestätigt zu finden; eine andere liegt darin, die Theorie am Material zu entwickeln. Letzteres war der erkenntnisbildende Prozess, der diesem Artikel voranging.

Die Debütantin

fern keine reale Debütantin. Oder um eine Autorin (Marlene Streeruwitz), die von einem weiblichen Debüt erzählt – und den Debüttext (von Nelia Fehn) dann folgen lässt. Ausgehend von den mit dem weiblichen Debüt verbundenen literaturbetrieblichen Strategien und den literarischen Gegenstrategien werde ich abschließend versuchen eine Einschätzung der Veränderungen in den letzten Jahrzehnten zu liefern. Dabei gehe ich kurz auf die Etablierung der Gender Studies und des Quoten- und Diversitätsdenkens als epistemischen Ausdruck eines Paradigmen- und Generationenwechsels ein, der eine ältere agonale diskursive Konstellation, die von Feminismus und chauvinistischer Großkritik, zu ersetzen begonnen hat. Es lässt sich dabei in unserem Gegenstandsbereich eine Ausweitung der Kampfzone beobachten, in der Literaturkritik ohne Geschlecht zwar weiterhin nicht denkbar ist. Aber immerhin scheinen alte Selbstverständlichkeiten einer umfassenden Irritation gewichen zu sein, in der Literaturkritik im alten Stil obsolet und peinlich wirkt, ohne dass ein überzeugender Ersatz gefunden worden wäre.

Etymologie und Ethnografie: ›Le début‹ – ›The Debut‹ Das weibliche Debüt ist hier als ritualisiertes Erscheinen definiert worden, als geschlechtlich codierte Veröffentlichung, die auch den Charakter einer öffentlichen Vergeschlechtlichung besitzt. Das ist weit entfernt von dem, was man im 17. Jahrhundert in Frankreich ›le début‹ nannte: Den Anfang einer Sache und präziser den erstmaligen Auftritt vor allem eines Künstlers.17 Im frühen 19. Jahrhundert jedoch unterschied man in Großbritannien mit ›The Debut‹ bereits zwischen dem männlichen Künstler, der seine erste ›Performance‹ macht, und dem jungen Mädchen, das ihre erste ›Appearance‹ hat.18 Es geht in diesem Kontext nicht um Kunst, sondern um die Structures élémentaires de la parenté, die Claude Lévi-Strauss in seiner These d’état 1949 untersucht.19 Lévi-Strauss hegte, unter der Mithilfe von Mathematikern und 17

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In der Encyclopédie heißt es: »DEBUT, s. m. il se dit en général ou d’une action que l’on fait pour la première fois, ou du commencement d’une action: ainsi on dit d’une actrice, elle débutera dans cette pièce; d’un orateur, beau début! il ne prévient pas par son début, &c.« Denis Diderot, Jean-Baptiste le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, Bd. 4. Paris 1754, S. 658. Der erste Beleg für ›Debutante‹ in diesem Sinn datiert in beiden Versionen des Oxford English Dictionary auf 1817. URL: https://www.oed.com/view/Entry/47957?redirec tedFrom=debutante& (abgerufen am 23.2.2021). Claude Lévi-Strauss: Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft. Frankfurt a. M. 1981, S. 209.

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Linguisten, den Anspruch, in seiner Analyse der einfachen Heiratsregeln darzulegen, wie Gesellschaft anhand von Verwandtschaftsstrukturen aus Natur hervorgeht. Er führt dies am Prägnantesten am Beispiel der Kreuzcousinenheirat aus.20 Es ist eine Heiratsregel, die auf patrilokale Gesellschaften zutrifft, also auf Gesellschaften, in denen Ehefrauen zu ihren Ehemännern ziehen und dort mit den Kindern bleiben. Die Regel sieht vor, dass das männliche Subjekt, Ego, sich nicht mit allen anderen weiblichen Alter-Subjekten verheiraten kann. Die eigene Schwester ist ebenso tabu wie die Parallelcousinen, also die Töchter des Vaterbruders oder der Mutterschwester; ein Kontakt mit ihnen wird als Inzest betrachtet. Ego darf jedoch die Kreuzcousinen, die Töchter der Vaterschwester bzw. des Mutterbruders heiraten. Lévi-Strauss sieht, anders als Freud, in den sprachlich, zum Beispiel in den Verwandtschaftsbezeichnungen sedimentierten Inzestregeln weniger Verbote von Partnern, sondern vielmehr Allianzgebote, deren Befolgung die Bildung komplexerer und konf liktärmerer Familienverbände zur Folge hat. Denn die Töchter des Vaterbruders oder der Mutterschwester, die Parallelcousinen, leben bzw. lebten mit Egos Eltern an einem Ort; wohingegen die Vaterschwester durch die Verheiratung an einen anderen Ort gelangt ist, und der Mutterbruder durch seine Heirat eine Allianz mit einer anderen Linie begonnen hat. Indem Ego sich für eine Kreuzcousine entscheidet, festigt er die Verbindung mit einer anderen patrilokalen Gemeinschaft. Lévi-Strauss’ Analyse führt das Entstehen komplexerer Verbände, ja des Übergangs von Natur zur Kultur mithin auf die Zirkulation junger Frauen und die Fusion von biologischer und symbolisch-sprachlicher Reproduktion zurück.21 Mit diesen Heiratsregeln hat ›The Debut‹ durchaus etwas zu tun. Junge Frauen zunächst des Hochadels und dann des Landadels galten im Vereinigten Königreich ab dem 17.  Jahrhundert erst als heiratsfähig, nachdem sie förmlich König oder Königin vorgeführt wurden. Es ist dieses, auf immer weitere Gruppen ausgeweitete Ritual, das spätestens ab 1817 als ›Debut‹ einer ›Debutante‹ bezeichnet wurde.22 Um den Status der Mannbarkeit zu erhal20 21

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Ebd. S. 194–221, ein Schema findet sich hier auf S. 209. »Das Inzestverbot hat weder einen rein kulturellen noch einen rein natürlichen Ursprung; es ist auch keine bunte Mischung von Elementen, die teils der Natur, teils der Kultur entlehnt sind. Es ist der grundlegende Schritt, dank dem, durch den und vor allem in dem sich der Übergang von der Natur zur Kultur vollzieht.« Ebd. S. 72. Siehe auch Anm. 18. Das Ritual wurde bereits von Elizabeth I. eingeführt und erst von Elizabeth II. 1958 beendet. Im 18. u. 19. Jahrhundert hat es sich vom Hochadel auf den Landadel und das Bürgertum ausgedehnt. Vgl. hierzu und zu weiteren Literaturangaben Elisabeth Z. Neeland: The Woman in White. An Analysis of Women’s Meaning-Making Experiences in Debut. MA-Thesis 2006. URL: https://getd.libs.uga.edu/pdfs/neeland_ elizabeth_c_200608_ma.pdf (abgerufen am 23.2.2021).

Die Debütantin

ten, mussten junge Frauen nach Erreichen des 18. Lebensjahres debütieren. Die Sozialsysteme, die qua Debüt ihre Strukturen naturalisieren, sind jedoch kontingent. Wo Könige abdankten, übernahmen andere Institutionen die Aufgabe, junge Frauen an die Gesellschaft zu vermitteln und diese an sie. In mittel- und lateinamerikanischen Ländern wird beispielsweise die ›Quinceañera‹, die Vollendung des 15. Lebensjahrs, gefeiert, indem der Vater seine als Braut verkleidete Tochter in die Kirche führt, wo sie ihre ›Frauwerdung‹ vollendet.23 Der US-amerikanische Fernsehmarkt hat eine hierauf basierende, 188 Episoden umfassende Reallife-Show namens My Dream Quinceañera hervorgebracht. Die Produktionsfirma informiert zur Show: »Turning 15 is a rite of passage and becomes a major event when having a Quinceañera. There’s finding a dress, planning the fiesta, and the list goes on when you are planning the Quince of your dreams!«24 Tatsächlich konstituiert sich der Rite de Passage – eine gelungene »Quince« kann ohne Weiteres mehr als 10 000 Dollar kosten – aus Aspekten wie Shoppen, Stylen, Proben und Berater*innengesprächen. Die einzelnen Episoden sind nach ähnlichen Mustern aufgebaut, wobei das Ritual weniger das Fest, als vielmehr dessen Vorbereitung ist. Nicht in der ›Appearance‹ vor Krone oder Kreuz, im triumphalischen Einzug in die Shoppingmall vollendet sich das Erscheinen der Weiblichkeit im hedonistischen Konsumismus der Gegenwart. Versucht man nun genauer zu erfassen, was das Schwellenritual im Kern ausmacht, landet man bei einem Paradox. Denn das Debüt ist eine Gabe, bei der gegeben wird, was man nicht hat, an diejenige, die es besitzt, um es zu werden. Was Monarch, Priester und US-amerikanisches Fernsehen verleihen, ist die weibliche Fruchtbarkeit – etwas, das sie nicht haben – an die, die es ihrer biologischen Existenz nach sind. Der Körper der jungen Frau naturalisiert so die Strukturen der Sozialordnung und zugleich symbolisiert er deren Auffassung von Natur.

Strategien des Betriebs Viele dieser ethnologisch interessanten Phänomene mögen uns befremden, dem Literaturbetrieb, den wir als Literaturwissenschaftler*innen beobachten, sind sie nicht eigentlich fremd. Das weibliche literarische Debüt ist zwar 23 24

Vgl. grundlegend Julia Alvarez: Once Upon a Quinceañera. Coming of Age in the USA. New York 2007. URL: https://www.awesomenesstv.com/network/my-dream-quinceanera (abgerufen am 21.2.2021).

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ein erstmaliges Erscheinen in einem künstlerischen Feld, aber es übernimmt auch semantische Aspekte und besitzt viele strukturelle Merkmale des vergeschlechtlichenden Rituals. Wie gesehen, zielt das ethnologische Debüt in der performativen Zuschreibung biologischer Reproduktionsfähigkeit darauf, kontingente soziale Formen zu naturalisieren. Kaum anders als die englische Monarchie, die katholische Kirche oder das US-amerikanische TVBusiness lässt der Literaturbetrieb junge Frauen zirkulieren. Die Funktion der Königin, des Königs oder Priesters, die den Übergang in die Mannbarkeit moderiert, wird dabei vor allem von der Literaturkritik übernommen. Aber sie ist keineswegs eine isolierte Instanz, da Verlage gezielt auf junge Frauen setzen: Agent*innen, Lektor*innen, Marketingstrateg *innen, mediale Formate suchen, taxieren und umwerben Debütantinnen, führen sie ein und empfangen sie. Sie inszenieren das Debüt als existenzielle Angelegenheit, das es ist, in der Ausblendung der Tatsache, dass es dabei weniger oder allein nur um die Debütantin selbst, sondern vielmehr um die Existenz des Literaturbetriebs im Ganzen geht. Denn mit den Informationen und Situationen des weiblichen literarischen Debüts versucht der Betrieb, seine kommunikativmedialen, sozialen und ökonomischen Strukturen auf Dauer zu stellen. Seine Intention, die abstrakten Machtverhältnisse derart zu perpetuieren, sucht den Weg einer scheinbaren Verjüngung, die sich in der Jugend und Körperlichkeit der Nachwuchskräfte konkretisiert. Jedoch hat die Literatur eine bereits angedeutete Besonderheit: Die literarische Debütantin ist bereits mehr als der Körper, der durch das Debüt als fruchtbar anerkannt wird. Vielmehr hat die Debütantin ihre Produktivität mit dem Debüttext eigentlich bewiesen. Eigentlich. Es ist jedoch eine erste Strategie, die ontologische Differenz zwischen Produkt und Produzentin auszublenden. Die Kritik einer Elke Heidenreich, die der Debütantin Michelle Steinbeck nach Lektüre ihres Romans Mein Vater war ein Mann an Land und im Wasser ein Walfisch (2016) eine ernsthafte Störung attestiert, die Äußerung Martin Ebels, er hätte Friederike Gösweiner aufgrund der journalistischen Leistungen ihrer Protagonistin in Trauriger Freiheit (2016) nicht eingestellt, mögen als zwei Beispiele hierfür dienen.25 Eine andere Strategie besteht in der Abwertung des Debüttextes durch die Darlegung der ›wahren‹ Gründe weiblichen Erscheinens. In Klaus Modicks Bestseller (2009) gelangt der Erzähler des Romans vom Bedeutenden zum weniger Bedeutenden:

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Elke Heidenreichs Ausfall in der mehrfach beanstandeten Sendung Literaturclub vom 30.8.2016 ist nachzusehen unter URL: https://bit.ly/3xkUFY9 (abgerufen am 21.2.2021). Zu Ebel vgl. Anm. 12.

Die Debütantin Wichtig sind in Verlagen nämlich Vertrieb, Herstellung, Buchhaltung, Vertreter, Werbe- und Presseabteilung und manchmal auch noch das Lektorat. Dann kommt lange gar nichts. Dann kommen vielleicht die Autoren, die einen Bestseller verfasst haben, oder die, denen man so horrende Vorschüsse gezahlt hat, daß man sie auf Biegen und Brechen zu Bestsellern machen muss, um die Vorschüsse zu amortisieren. Dann kommt wieder lange nichts. Dann kommen, falls vorhanden, Nobelpreisträger aus exotischen Ländern, von denen man bis zur Entscheidung der Jury gar nicht wusste, daß man sie überhaupt im Programm hat. Dann wieder lange nichts. Dann aber natürlich die gutaussehenden, jungen Debütantinnen aus dem unerschöpf lichen Fräuleinwunder-Reservoir. Dann wieder nichts.26

Das ›Fräuleinwunder‹ der Jahrtausendwende ist zweifellos das Ereignis rezenter deutschsprachiger Literaturgeschichte, an denen nicht nur fiktive Autoren das scheinbare Missverhältnis von physischer Attraktivität und literarischer Qualität glauben exemplifizieren zu können. So schreibt der Autor Claus Heck in einer Diskussion auf seiner Autorenhomepage: Tatsächlich wussten alle während des Frolleinwunders – alle, die etwas von Literatur verstehen –: die Texte der Frolleins sind Scheiße! Viele waren nicht einmal das. Das hat damals keinen gestört. Ich weiß nicht, ob Juli Zeh zu denen gehört hat, die damals das Haus betreten haben. Damals musste man nicht schreiben können, um hunderttausend Mark Vorschuss zu bekommen. Da musste man ein hübsches Gesicht haben und mit dem Popo wackeln können. Damals gab’s keine Vordertür und niemand hat sich über die Hintertür beklagt, die Türsteher nicht, die Kassierer nicht, etc.27

Wo dem Debüttext die Qualität nicht in Abrede gestellt worden ist, kann die Lauterkeit der positiven Kritik in Zweifel gezogen werden. Im Fall des mit Begeisterung aufgenommenen Debüts von Helene Hegemann traten nach Bekanntwerden der Plagiatsvorwürfe gegen die Autorin die Kritiker *innen der Kritiker*innen auf den Plan. Sie suchten, wie der Autor Kai Meyer in einer Umfrage des Kölner Stadtanzeigers vom 11. Februar 2010, Hegemann gegen zu wohlmeinende Einschätzungen zu schützen. Viele 16- oder 17-Jährige schicken mir eigene Texte, und keiner ist frei von Nachahmung – in diesem Alter, in dieser Phase der Ausprägung eines Talents gehört das dazu. Das Problem in diesem Fall ist nicht Helene Hegemann, sondern die Rezeption im Feuilleton. Weiblich, jung, blond, aus dem

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Klaus Modick: Bestseller. München 2009, S. 63. Eine Diskussion über Aléa Torik bei Juli Zeh. URL: http://www.aleatorik.eu/2013/06/08/ eine-diskussion-uber-„alea-torik-bei-juli-zeh/ (abgerufen am 30.9.2020).

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Peter C. Pohl hehren Umfeld des Berliner Kulturbetriebs – das hat ausgereicht, sie zum kleinen Genie zu stilisieren. Ältere Kritiker und Autoren fühlten sich bewogen, der Kleinen verbal den Kopf zu tätscheln und ›Gut gemacht‹ zu schnurren. Täten sie das auf der Straße, käme die Polizei – und nicht wegen Diebstahls.28

Eine andere Strategie besteht darin, literarische Qualität zwar anzuerkennen, das weibliche Schreiben aber gleichzeitig als Ersatzhandlung zu bezeichnen. Marcel Reich-Ranicki prophezeite Judith Hermann nach ihrem Debüt Sommerhaus, später (1998), bekäme sie ein Kind, würde sie keine Zeile mehr schreiben.29 Die Beispiele ließen sich fortsetzen, sollten aber genügen, um eine Tendenz zu erkennen. Das weibliche Debüt mag ein erster Auftritt im literarischen Bereich sein, es ist durch biologistische Stereotype geprägt und wird zur öffentlichen Vergeschlechtlichung. Was alle Strategien, wohlmeinende und abwertende, eint, ist die Sexualisierung der Debütantin, oft die Verniedlichung der Autorin und die Selbstinszenierung als Gatekeeper. Dass dabei nicht immer die individuelle Person oder die Güte des jeweiligen Textes im Fokus steht, sondern Mechanismen nahezu automatisch ablaufen, ist evident – und ermöglicht Gegenstrategien.

Luciana »Hätte es Büchners Lenz nach Südtirol verschlagen, so könnte über ihn geschrieben werden.«30 So urteilte Karl Corino, HR-Literaturredakteur, Musil-Biograf und Bachmannjuror, über eine schmale Erzählung, die ihm der Verlag Zsolnay 1989 mit der Bitte um Begutachtung zustellte. Die Begutachtung war nicht abschlägig, Luciana Glaser sollte 1990 mit Winterende debütieren. Die Erzählung handelt von den letzten Lebenstagen des postum anerkannten Südtiroler Dichters Norbert C. Kaser, der sich in einem Berg-

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Umfrage unter Schriftstellern zum Fall Hegemann. URL: https://www.ksta.de/um frage-schriftsteller-zum--fall-hegemann—12958168 (abgerufen am 30.9.2020). Schon die Besprechung von Sommerhaus, später im Literarischen Quartett am 30.10.1998 ist hochinteressant: Löff ler kritisiert, wie Meier, die Berliner Kulturschickeria und die »Eierschalen«, die man dem Erstling anmerke. Zu Reich-Ranickis Aussage vgl. das von Kolja Mensing und Susanne Messmer geführte Interview mit Hermann »Ich hoffe auf Erlösung«. In: TAZ, 31.1.2003, in dem die Autorin sagt, dass Reich-Ranickis Satz sie »begleitet« habe. Dies der Text auf dem Einband von Luciana Glaser: Winterende. Erzählung. Wien, Darmstadt 1990.

Die Debütantin

dorf als Hilfslehrer verdingte und zu Tode soff. Er starb mit grotesk aufgequollenem Bauch. Im letzten Gedicht, dessen erste Zeile »Ich krieg ein Kind« lautet, beschreibt das lyrische Ich das Kind, das »mit rebenrotem kopf / mit biergelben fueßen«31 in ihm wächst. Die Erzählung über den fatalistischen Outlaw wurde von der Darmstädter Jury zum Buch des Monats April 1990 gewählt. Man verglich Glaser mit »Thomas Bernhard, ohne indessen dessen Wucht und Wut zu besitzen« und lobte »[d]ie Schönheit vieler Passagen« und den »Grundton der Resignation« des »Sprachpastell[s].«32 Und selbst ahnend, dass »Luciana Glaser ein blosser Deckname eines (mittel-)grossen Unbekannten« sein könnte, unterstrich Rüdiger Görner die Qualität des Textes: »Der massvolle Duktus dieser Prosa beeindruckt ebenso wie der kontrapunktische Wechsel von langen durchrhythmisierten Perioden, die keinen Schlusspunkt, keine gedankliche Coda dulden, zu knappen, atemlosen Staccato-Passagen.« Görner rühmte die »Genauigkeit der Metaphern«, das »geradezu klassische Ebenmass«33 der Prosa. Weniger gönnerhaft vermutete Karl-Markus Gauß, dass es sich bei Winterende entweder um »ein schlechtgelungenes Original oder eine gutgelungene Kopie handelt«. Er warf der Erzählung vor, sie sei so geschraubt und bemüht, »daß den begeisterten Kritikern reihum offensichtlich kein Ausweg blieb, als ihr sprachliche Schönheit zu attestieren und das anzudichten, was ihr vor allem abgeht: Präzision«34. Auch Sigurd Paul Scheichl teilte die Euphorie nicht: »Gewiß ist das Buch routiniert geschrieben, aber die Eintönigkeit der elliptischen Sätze – die wohl an Kasers Gedichte erinnern sollen – empfindet man doch als Mangel.«35 Die kritischeren Rezensionen sollten Recht behalten. Winterende stammt von zwei Akteuren aus der Innsbrucker Literaturszene, Stefanie Holzer und Walter Klier. Das Tiroler Autorenpaar hatte sich nach eigenem Bekunden am Protagonisten von Kliers Roman Katarina Müllers Biografie (1988) orientiert und, so Willi Winkler in Der Spiegel, ein Buch »in simpler frauenbewegter Prosa zum Riesenerfolg«36 gesülzt. In einer Woche, berichten die Autor *innen in der Dokumentation ihres Falls, habe man die Ingredienzen, unter anderem »wohlfeile Sozialromantik«, »schwüle Erotik«, »[d]as Herbeizitieren 31 32 33 34 35 36

Norbert C. Kaser: »Ich krieg ein Kind«. In: Ders.: Eingeklemmt, hg. von Hans Haider. Innsbruck 1979, S. 7. Alle Zitate in Brigitte Haberer: Todeslauf eines Dichters. In: Süddeutsche Zeitung, 19.5.1990. Alle Zitate in Rüdiger Görner: Dichterlegende. In: NZZ, 22.2.1990. Alle Zitate in Karl-Markus Gauß: Wer oder was ist Luciana Glaser? In: Süddeutsche Zeitung, 3.3.1990. Sigurd Paul Scheichl: Luciana Glaser: Winterende. Erzählung. In: Inn 21, 1990. Willi Winkler: Markt der Körper. In: Der Spiegel 2.7.1990, S. 162–166, hier S. 166.

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von Elitärem«37, munter gemischt. Im Sommer 1990 deckten Holzer und Klier den Bluff in ihrem Literaturmagazin Gegenwart und, etwas öffentlichkeitswirksamer, im Spiegel auf – einem Medium, das sich seit den Fake-Gedichten von Franz Josef Czernin und Ferdinand Schmatz, die sie unter dem Pseudonym Irene Schwaighöfer 1987 im Wiener Residenz Verlag publiziert hatten, einen Namen für Enthüllungsstorys über den österreichischen Literaturbetrieb gemacht hatte. Die Reaktion der Literaturkritik kam schnell und war teils geharnischt. Sigrid Löff ler schrieb etwa: »Um den Kulturbetrieb zu blamieren, wie er seine Kitsch-Bedürfnisse an der Legende vom heiligen Trinker weidet, verkitscht Klier selbst den Dichterkollegen Kaser, der tot ist und sich nicht mehr wehren kann.«38 Löff ler allerdings geht nicht darauf ein, dass sie denselben Text abweichend beurteilt, je nachdem von wem er stammt. Der Literaturwissenschaftler David Oels, der die literaturkritische Umgangsweise mit Winterende analysiert hat, bilanziert diese wie weitere Stimmen: »Literatur wie Winterende scheint als Kunst nur genießbar zu sein, wenn sie authentisch mit einer bestimmten (hier: weiblichen) Autorschaft versehen ist.«39 Für uns von Belang ist, dass der Text auch deshalb authentisch genossen werden konnte, weil er etwa über Paratexte nach den Regeln des weiblichen Debüts geframed wurde. Zur Verfügung stand Verlag und Kritikern nur eine biographische Notiz, nach der Luciana Glaser aus Rovereto stamme, Tochter eines österreichischen Vaters und einer italienischen Mutter sei und in Wien studiert habe. […] Ihre Freude über die Annahme des Manuskripts wirkte sehr gedämpft, als sie dem Verlag zurückschrieb: »Schön, daß mein Text gefällt. Ich habe eine Zeitlang in einem Verlag gearbeitet und dort lernen können, was es für einen Autor und mehr noch für eine Autorin bedeutet, sich auf diesen Markt der Körper zu begeben. Ich bin nicht in der psychischen Verfassung, mir das zuzutrauen.«40

Holzer und Klier schufen demnach in genauer Kenntnis der Automatismen des Marktes eine ideale Projektionsf läche, was den Entlarvungsgehalt ihres

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Alle Zitate in Stefanie Holzer, Walter Klier: Luciana Glaser. Eine Karriere. Innsbruck 1991, S. 19 f. Sigrid Löff ler: Kitsch as Kitsch can. In: profil, 9.7.1990, S. 83. David Oels: Luciana Glaser: Das Fräuleinwunder ohne Fräulein. In: Christiane Caemmerer, Walter Delabar, Helga Meise (Hg.): »Fräuleinwunder literarisch«. Literatur von Frauen zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Frankfurt a. M. 2005, S. 213–229, hier S. 224. Vgl. auch Ders. und Jörg Döring: Lüge, Fälschung, Plagiat. Über Formen und Verfahren prekärer Autorschaft. In: Cahiers d’Études Germaniques 67 (2014). URL: https://journals.openedition.org/ceg/1871 (abgerufen am 21.2.2021). Winkler: Markt der Körper (s. Anm. 36), S. 164.

Die Debütantin

›Experiments‹ freilich minimiert. Ihr Erfolg bestätigt sowohl die hier entwickelte Funktion des Debüts, den Literaturbetrieb als patrilokale Gemeinschaft zu festigen und scheinbar zu verjüngen, als auch die Annahme einer publizitären Dreieinheit. Zum einen befriedigten die Innsbrucker *innen mit Luciana Glaser italophile Exotik; sie brachten eine junge Frau von außen ins Zentrum literarischer Öffentlichkeit. Zum anderen spielten sie mit der publizitären Trinität des Debüts, dessen Notwendigkeit als strukturellen Erneuerungsritus sie in vorauseilendem Gehorsam die Schuld für der Autorin Unsichtbarkeit zuwiesen – wohlwissend, dass dort, wo ein aufgeschrecktes Reh mit sinnlichen Lippen nur vorzustellen, es auch leichter zu sehen war.

Aléa Bei Aléa Torik handelt es sich um das Pseudonym des bereits zitierten Claus Heck. Heck hatte sich um literarische Stipendien beworben und seinen Debütroman Das Geräusch des Werdens an zahlreiche Verlage geschickt.41 Er reklamiert über 300 Versuche für sich, im Literaturbetrieb Fuß zu fassen. Dann startete er ein Blog im Namen der Kunstfigur Aléa Torik. Das Blog sorgte für einige Aufmerksamkeit. Der aus Siebenbürgen stammenden, attraktiven 28-Jährigen, die in Berlin in einer WG mit einem russischen Modell lebt, sollte gelingen, was ihrem geistigen Vater und realen Double nicht gelungen war. »Denn kaum war ich eine Frau mit Migrationshintergrund, war der hundertfach abgelehnte Roman plötzlich ›außerordentlich gut‹ und Aléa Torik ein ›neuer Stern am Literaturhimmel‹.«42 Heck, ähnlich wie Holzer und Klier, kompensierte das Fehlen der realen Debütantin, indem er die fingierte gemäß den sexistischen Bedürfnissen des Betriebs zeichnete und auch die ethnologischen Regeln des Rituals berücksichtigte. Wer aus sprachlichen Randzonen, Siebenbürgen oder Südtirol, stammt, hat erhöhte Chancen im derart patrilokal codierten deutschsprachigen Betrieb Fuß zu fassen. Dass der Betrieb sich nur zentrieren kann, wenn er seine Peripherie schafft und die per se als interessant codiert, ist bekannt.43 Es gab unter Autor*innen

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Aléa Torik: Das Geräusch des Werdens. Berlin 2012. Aléa Torik. Gespräch mit Katharina Bendixen für den poetenladen. »Zwischen echt und fiktiv können wir nicht unterscheiden«. URL: https://www.poetenladen.de/kbendixenalea-torik.htm (abgerufen am. 1.3.2021). Die Idee eines Gastlandes bei der Frankfurter Buchmesse ist ein verwandter und geschickter Schachzug der Zentrierung, der Differenz und Wiederholung, Neuheit und Dauer vereint.

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den etwas lahmen Versuch, eine kritische Diskussion zu Heck zu starten, der jedoch im Sand verlief.44 Die Gründe hierfür liegen zum einen im offenkundigen Spiel mit Identität, das mit der Kunstfigur Aléa Torik verbunden ist und das potenzielle Kritiken der Gefahr exponiert, zu naiv zu erscheinen, die queere Selbstinszenierung zu begreifen. Heck führt die Literaturkritik zu bewusst in die Irre, als dass die Aufdeckung seiner wahren Identität zum Skandal taugte. Zum anderen könnte der moralisierende Versuch, Heck ein illegitimes Manöver vorzuwerfen, im Umkehrschluss den Debattenfokus von der Kategorie Geschlecht auf andere Aspekte, zum Beispiel Rasse, Klasse und kulturelles Kapital, verschieben und einer feministischen Argumentation auf die Füße fallen.45 Zwischen der Winterende-Posse 1989/90 und dem Anything Goes der digitalen Gegenwart sind 25 Jahre vergangen – Jahre, in denen Butlers Gender Trouble erschienen ist und der Radikalkonstruktivismus in akademisch gebildeten Milieus Fuß fasste. Während das Identitätsspiel bei Winterende den sozioanalytischen Zweck haben mag, das am schlechtesten gehütete Geheimnis des Literaturbetriebs zu entlarven, war es für Heck ein Mittel, einer nie authentischen Identität Ausdruck zu verleihen. Ein Jahr nach dem Erstling folgte dann Hecks zweiter Roman, Aléas Ich, in dem das Blog und das virtuelle Leben Toriks fiktive Realität werden.46 Aléa schreibt dort über ihr Dasein als Doktorandin von Joseph Vogl, die zu Fiktionalität promoviert. Im Gegensatz zu den Authentizitätsansprüchen, mit denen der traditionelle Literaturbetrieb weibliche Autorschaft genderte, öffnet sich hier ein postmoderner Bereich des Schreibens im Sinne von Roland Barthes, der solche Differenzkonstruktionen hinter sich lässt, sich aber scheinbar nicht mehr so ohne Weiteres politisch einsetzen lässt. Sowohl feministische als auch gesellschaftskritische Ziele, Letztere kann man bei Holzer und Klier immerhin noch vermuten, fallen dort weg, wo ein/e jede/r sich diskriminierende, jedoch karrierestrategisch hilfreiche Zuschreibungen als Inszenierungsmittel aneignen kann.

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Sie fand auf der Facebook-Seite von Juli Zeh statt, worauf Heck in der zitierten Aussage (s. Anm. 27) anspielt. Dass das sogenannte ›Fräuleinwunder‹ ausschließlich weiße, gebildete, größtenteils (groß-)bürgerliche Frauen in den Betrieb spülte, die tendenziell über erhebliches symbolisches und einige dank ihrer Familien auch über ökonomisches Kapital verfügten, ist bekannt, wird aber in der literaturwissenschaftlichen Diskussion kaum beachtet, weil man dort auf literarische Ausdruckweisen, also das Symbol- und nicht das Sozialsystem Literatur, fixiert ist. Aléa Torik: Aléas ich. Berlin 2013.

Die Debütantin

Nelia Mein letztes Beispiel setzt mit einem Roman über eine fiktive Debütantin ein. Marlene Streeruwitz’ Nachkommen (2014) handelt von Nelia Fehn.47 Ihre verstorbene Mutter war Österreicherin, Schriftstellerin und Feministin. Sie wächst bei den Großeltern mütterlicherseits auf. Ihren deutschen Vater Rüdiger Martens, einen mittlerweile emeritierten Frankfurter Romanistikprofessor, lernt sie erst im Laufe der Handlung kennen. Auch Nelia ist Autorin und hat einen biografisch geprägten Roman über die ökonomische und moralische Situation Europas und das Elend Griechenlands unter der Troika geschrieben. Am Inhalt selbst scheinen Verlag und Presse mäßig interessiert. Dennoch gerät sie, scheinbar aufgrund ihrer Deszendenz und Jugend, auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises. Sie gelangt zur Buchmesse nach Frankfurt, wo Roman und Autorin vorgestellt werden. Streeruwitz’ Roman zeigt das Ritualhafte des Debüts, wobei der Text groteske Züge hat, etwa im Hinblick auf die Figur des Verlegers Gruhns, ein sprechender Name, oder die gealterten Kritiker. Der Roman, der einer ethno-feministischen Analyse des Buchpreises gleicht, bestätigt die eingangs geäußerten Annahmen über das literarische Debüt als Ritus öffentlicher Vergeschlechtlichung, der eine kontingente soziale Ordnung naturalisiert. Er lässt den Betrieb als patrilokales und patriarchales Phänomen erscheinen. Jedoch modelliert Streeruwitz die Einführung der fremden Tochter – Nelia ist ja auch Anagramm für Alien – in den Literaturbetrieb als Wechsel an die Stätte des Vaters, als Schritt zurück. Und ihr Debüt und ihre Zirkulation fördern keine komplexen sozialen Strukturen. Im Gegenteil: Die irreparable patriarchalische Kernfamilie und der kaputte literarische Markt totalisieren sich in einer obsoleten männlichen Herrschaft, in der die Erkenntnis eigener Zukunftslosigkeit mit Blasiertheit und Zynismus quittiert wird. Streeruwitz legt die (auto-)destruktiven Mechanismen eines Systems offen, in dem Texte irrelevant (geworden) sind. Im Jahr darauf folgt Nelia Fehns Debüt Die Reise einer jungen Anarchistin in Griechenland.48 Er fügt sich dem Zynismus von Nachkommen weder inhaltlich noch sprachlich-formal ein. Anders als die beiden anderen Szenarien macht Streeruwitz also von der Möglichkeit Gebrauch, zuerst den fiktiven Körper und das Ereignis und dann den Text zu liefern. Dieser Kunstgriff vervollständigt und zerschlägt die Trinität zugleich. Denn welchen Text liest man? 47 48

Marlene Streeruwitz: Nachkommen. Frankfurt a. M. 2014. Marlene Streeruwitz als Nelia Fehn: Die Reise einer jungen Anarchistin in Griechenland. Frankfurt a. M. 2015.

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Den Roman einer jungen Anarchistin? Womöglich, Die Reise wurde aber auch als Text einer jungen Debütantin aus dem Kulturmilieu gelesen, der nur existiert, weil »die junge Autorin Nelia als hübsches Fräuleinwunder und ›Newcomerin‹ im Scheinwerferlicht des Buchpreises«49 vermarktet werden soll. Oder ist es der Roman, der Streeruwitz nicht als eigenes Debüt schreiben konnte? Egal wie man wertet, indem das Debüt als Text, dem Debüt als Ereignis hinterhergeht, destruiert Streeruwitz die heilige Trinität des Debüts und konstruiert neue Perspektiven. Und die durchgehend wohlwollenden Besprechungen zeichnen sich dadurch aus, dass sie über die Konstruktion der Texte nachdenken, über die Rollenprosa, die Generationen, ihre unterschiedlichen Kämpfe.50 Streeruwitz’ Romane führen feministische und postmodern-gendertheoretische Sichtweisen in ein Spannungsfeld. Sie kritisieren die patriarchalische Dimension der Kultur und generieren Gegenmodelle, bei denen es sich fragen lässt, ob und wie sie den feministischen Ansprüchen nachkommen. Die scheinbare Naivität von Nelia Fehn, die für ihren bezeichnenderweise am Fuß verletzten griechischen Freund  – ein echter Ödipus also – den Weg zum unbekannten Vater antritt, weil sie durch das Debüt Geld für seine Operation gewinnen will, steht zwar im scharfen Gegensatz zum Wissen über den sexistischen Literaturbetrieb, der in Nachkommen geschildert wird. Aber Streeruwitz liefert mit beiden Texten die Möglichkeit, sich sowohl Alternativen als auch die zu erwartenden Widerstände vorzustellen. Den letzten Satz spricht die Anarchistin und er vermittelt Resignation und utopische Resthoffnung: »Ich bemühe mich, an ein Wunder zu glauben, aber das wird manchmal schwer.«51

Konklusion Die Beispiele aus Literaturbetrieb und Literatur bestätigen, dass in der Gegenwartsliteratur bei weiblichen Debüts die ältere Etymologie erstmaligen Erscheinens und das spätere Schwellenritual verschmelzen. Der Literatur49

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Kerstin Mertenskötter: Streeruwitz 3. In: Literatur und Feuilleton. Literaturkritik von Komparatisten, 20.1.2015. URL: https://literaturundfeuilleton.wordpress.com/2015/ 01/20/marlene-streeruwitz-die-reise-einer-jungen-anarchistin-in-griechenland/ (abgerufen am 21.2.2021). Dank des Innsbrucker Zeitungsarchivs konnte ich recht schnell 15 Rezensionen recherchieren; sie alle sind positiv und fallen dadurch auf, dass sie die Komposition der Texte besprechen und auf die abweichenden Stile von Nachkommen und der Reise eingehen. Streeruwitz als Fehn: Die Reise einer jungen Anarchistin in Griechenland (s. Anm. 48), S. 188.

Die Debütantin

betrieb, der ›le début‹ zu ›The Debut‹ macht, tendiert dazu, den performativen Akt weiblichen Erscheinens auf die sexuelle Erneuerung zu verengen. Autor*innen nehmen dies ihrerseits zum Anlass, den Betrieb zu entlarven, zu instrumentalisieren oder zu dekonstruieren. Das Phantasma, das diesen Konstruktionen und Dekonstruktionen zugrunde liegt, ist die Differenz zwischen einer am weiblichen Körper symbolisierten natürlichen Produktivität und einer davon unterschiedenen künstlerischen Produktivität. Sie ist, wie eingangs angedeutet, zugleich gegendert und nicht gegendert. Denn in der Generalisierung männlicher als literarische Kreativität wird Männlichkeit zugleich hypostasiert und riskiert. Natürlich schreiben Männer weder besser noch schlechter als Frauen. Zugleich bleibt das Schreiben von Frauen, solange es im Debütstatus als weibliches, authentisches Schreiben wahrgenommen wird, ein markiertes. Indem der Literaturbetrieb die literarische Gestaltungskraft der Debütantin sexualisiert, ordnet er sich die Macht zu, wahre Produktivität davon zu unterscheiden. Noch die wohlmeinenden Stimmen, die Autorinnen protegieren, aktualisieren diese Unterscheidung. Wer davon einen Nutzen trägt, ist klar. Denn relativiert oder suspendiert man die literarische Qualitätsforderung, sobald es ein weiblicher Debüttext ist, liegt es nahe, die Begründung dafür im Geschlecht zu suchen, nicht in den Strukturen und Akten, die es erlauben, über literarische Qualität quasi natürlich zu urteilen: Durch die Fusion von Debüttext und Debütantin im Debüt gelingt es dem männlich dominierten Markt, sich als Türhüter zur Sphäre der ›wahren‹, ›neutralen‹ bzw. nicht-femininen Autorschaft aufzuschwingen. Ex negativo vermittelt die Sexualisierung der Debütantin die Idee einer von Geschlechtlichkeit scheinbar freien, unmarkierten, reinen Literatursphäre, zu der Schriftstellerinnen Einlass begehrten. Einmal dort als Autorin eingetreten, hätten sie überschritten, was sie als Debütantin schützte und degradierte: ihr Geschlecht. Denn durch solche Akte des Wertens kann Schreiben nicht weiblich und literarisch sein. Mit ›Sex sells‹ hat das nur oberf lächlich zu tun. Mit Lévi-Strauss kann man viel grundsätzlicher sagen, dass es sich um einen Ritus handelt, »durch den und vor allem in dem sich der Übergang von der Natur zur Kultur vollzieht«52. Allein, es handelt sich hier um einen Randbereich der westlich-modernen Hochkultur, die sich ihr Anderes und ihr Eigenes schafft. Denn durch solche Akte des Wertens kann Schreiben nicht literarisch und weiblich sein.53

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Siehe Anm. 21. So wie es für Butler: Das Unbehagen der Geschlechter (siehe Anm. 6), in der heteronormativen Ordnung kein Sprechen gibt, das weiblich und intelligibel ist, gibt es für per-

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Diese Diagnose ist zugegeben nicht neu, man hätte sie in feministischen Termini formulieren, auf Theoreme von Hélène Cixous oder Luce Irigaray rekurrieren können – sie ist allerdings auch nicht mehr ganz so universell und nicht mehr nur auf einen weiblichen Betroffenenkreis bezogen. Zum einen finden sich seit den 1990er Jahren immer mehr Orte, an denen Literaturkritik von immer mehr Menschen betrieben wird. Im lange Zeit männerdominierten Feuilleton mag die am Damenopfer vollzogene Konstruktion wahrer Literatur weiterhin stattfinden, in der Laienkritik, in Foren oder Blogs sieht es anders aus. Auch hat sich die ›Großkritik‹ im Fernsehen verändert: Waren beim Verriss des Prosaerstlings Verführungen (1996) von Streeruwitz im Literarischen Quartett noch 75 Prozent Männer zugange und waren alle Anwesende ausgewiesene Literaturkritiker*innen, konnte man im neuen Format zuletzt bis zu 75 Prozent Frauen sehen, von denen eine sich als Tennispielerin, die andere als Kabarettistin und die dritte als Autorin einen Namen gemacht hatten. Zum anderen hat sich eine Erweiterung der Kampfzone durch die politische Situation, den Alterungsprozess und die Ergänzung des theoretischen Arsenals ergeben. Das neue Literarische Quartett scheint vom quotenpolitischen Kalkül und der Hoffnung geleitet, durch Modernisierung und Massentauglichkeit neue, womöglich auch jüngere Zuschauer*innen anzulocken. Überdies lässt sich die Ausweitung des qua Geschlecht und sexueller Orientierung Verhandelten und Verhandelbaren mit Begriff lichkeiten der Gender, Queer oder Intersectional Studies vornehmen und beschreiben.54 Im Fall Aléa Toriks werden queere Ansätze für ein männliches Empowerment genutzt. Dagegen liefern beide Streeruwitz-Texte ein Beispiel dafür, wie sich postmoderne Identitätskonstruktionen verwenden lassen, um über die Gegenwart des Feminismus nachzudenken. Diese Debütszenarien drehen den Blick, von der Debütantin weg auf die symbolischen Interaktionen und ökonomischen Strukturen und medialen Prozesse, die vom Debüt abhängen. Sie geben dem unmarkierten Geschlecht der Kritik eine Gestalt und lassen dessen Autoritäts- und Virilitätsposen, ob sie nun von einer Heidenreich oder einem Ebel stammen, anstrengend, toxisch und peinlich erscheinen. Ob die Literaturkritik im Sinne der 1990er Jahre dabei ist, sich abzuschaffen? Es steht zu vermuten, zumal die hier angesprochenen Kontroversen noch am ehesten auf Interesse stoßen. Sowohl die Verände-

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formative Akte, die die skizzierten Strukturen reproduzieren, kein Schreiben das weiblich und literarisch ist. Denkbar wäre auch eine Cyborg-Lektüre von Luciana, Aléa und Nelia gewesen, wie man insgesamt mit Haraway die Autofiktionalitätsstrategien untersuchen sollte.

Die Debütantin

rung der literarischen Fernsehformate als auch das Schließen von Literaturredaktionen zeigen, dass die traditionelle Kritik unbedeutender geworden ist. So bedauernswert die Verringerung der Auseinandersetzung mit Literatur im öffentlichen Raum ist, da sich die literarische ›Großkritik‹ als Institution über ihr historisch und soziokulturell gewachsenes Verhältnis zur Kategorie Geschlecht nicht klar geworden ist, trifft sie ein verdientes Schicksal. »Or do you need more? Ain’t it hard keeping it so hardcore?«55

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Lady Gaga und Bradley Cooper: Shallow (siehe Anm. 1).

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Beiträgerinnen und Beiträger

Beiträgerinnen und Beiträger Renate Giacomuzzi ist Privatdozentin und Senior Scientist am Institut für Germanistik und am Innsbrucker Zeitungsarchiv der Universität Innsbruck. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Rezeptionsforschung, Literaturvermittlung, Literatur und digitale Medien, Archivierung; Publikationen u. a. »Digitale Literaturvermittlung« (gem. mit Stefan Neuhaus u. Christiane Zintzen (Innsbruck 2010) und »Deutschsprachige Literaturmagazine im Internet« (Innsbruck 2012). Gerda E. Moser (†) war Senior Scientist im Fachbereich Angewandte Germanistik am Institut für Germanistik der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt. Sie promovierte zum Thema »Materialisierung der Literatur als Bedingung ihrer Krise. Zur Rezeption und Kritik neomarxistischer Literaturtheorie«. Sie war Mitarbeiterin in zahlreichen Forschungsprojekten, u. A. dem FWF-Projekt »Negotiating Literary Meaning. Communication in Face-to-Face and Online Reading Communities«. Ihre Forschungsschwerpunkte lagen in der LeserInnen- und Bestsellerforschung sowie Literatur- und Kulturtheorie unter dem Aspekt Vergnügen. Stefan Neuhaus, Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität KoblenzLandau, Standort Koblenz. Monografien u. a. »Freiheit, Ungleichheit, Selbstsucht? Fontane und Großbritannien« (1996), »Das verschwiegene Werk. Erich Kästners Mitarbeit an Theaterstücken unter Pseudonym« (2000), »Literatur und nationale Einheit in Deutschland« (2002), »Das Spiel mit dem Leser. Wilhelm Hauff: Werk und Wirkung« (2002), »Sexualität im Diskurs der Literatur« (2002), »Literaturkritik« (2004), »Literaturvermittlung« (2009), »Märchen« (2.  Auf l. 2017), »Grundriss der Literaturwissenschaft« (5.  Auf l. 2017), »Grundriss der Neueren deutschsprachigen Literaturgeschichte« (2017), »Der Krimi in Literatur, Film und Serie« (2021). Kristina Petzold ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Bielefeld im SFB 1288 »Praktiken des Vergleichens« im Teilprojekt »D05 – Vergleichendes Lesen« und Doktorandin der Universität Hildesheim mit einem Dissertationsprojekt zur Diskursivierung von Buch-Blogs zwischen Fan-Kultur, Literaturkritik und (Nicht-)Arbeit. 2017 bis 2020 war sie Wissenschaftliche Mitarbeiterin im interdisziplinären Forschungsprojekt »Rez@ Kultur« an der Universität Hildesheim und analysierte digitale Rezensionsprozesse. 2019 gab sie gemeinsam mit Kim Kannler, Valeska Klug und Franziska Schaaf den Sammelband »Kritische Kreativität. Perspektiven auf Arbeit, Bildung, Lifestyle und Kunst« heraus.

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Beiträgerinnen und Beiträger Michael Pilz, assoz. Professor am Institut für Germanistik der Leopold-FranzensUniversität Innsbruck und Leiter des Innsbrucker Zeitungsarchivs zur deutschund fremdsprachigen Literatur (IZA). Studium der Bibliotheks- und Informationswissenschaft in Leipzig und der Deutschen Philologie in Innsbruck; 2013 Promotion mit einer Arbeit über Ernst Toller und die Medien; 2020 Habilitation mit einer Studie über die Praxeologie des Leipziger Messkatalogs. Forschungsschwerpunkte: Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts; Literaturkritik- und Feuilletonforschung, Geschichte und Soziologie des Literaturbetriebs (Feldtheorie), Literatur und Medien, Zeitschriftenforschung und Buchwissenschaft. Peter C. Pohl, Universitätsassistent (Postdoc) am Institut für Germanistik der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck. Magister-Studium der Germanistik, Kulturwissenschaft, Philosophie und Politologie in Heidelberg, Bremen und Avignon. 2009 Promotion, die unter dem Titel »Konstruktive Melancholie. Robert Musils Roman ›Der Mann ohne Eigenschaften‹ und die Grenzen des modernen Geschlechterdiskurses« (2011) erschienen ist. Sowie in Zusammenarbeit mit Michael Pilz und Sigurd Paul Scheichl die Monografie »›Vetter Camoens  …‹. Materialien und Studien zu einer vergessenen Faszination (1815-1890)« (in Planung); Herausgaben u. a. mit Hania Siebenpfeiffer »Diversity Trouble. Gender – Vielfalt – Gegenwartskultur« (2016). Schwerpunkte: Literatur des 18. bis 21. Jahrhunderts, Bildungsroman, die Geschichte der (Nicht-)Arbeit, Gender und Diversity Studies. Marc Reichwein, M. A., ist Redakteur im Feuilleton der »Welt« und Mitherausgeber von literaturkritik.at. Themenschwerpunkte seiner wissenschaftlichen Beiträge sind Literaturvermittlung, Literaturbetrieb und Feuilletonforschung, Publikationen u. a. »Das Interview. Quantitative und qualitative Aspekte einer feuilletonistischen Form«. In: »Feuilleton. Schreiben an der Schnittstelle zwischen Journalismus und Literatur« (hg. von Hildegard Kernmayer, Simone Jung, 2017); »Dürfen Kritiker noch über das Aussehen von Autorinnen schreiben? Eine kurze Geschichte visueller Strategien im Literaturbetrieb«. In: Die Literarische Welt vom 7.9.2019. Veronika Schuchter, Senior Scientist am Institut für Germanistik an der LeopoldFranzens-Universität Innsbruck und freie Literaturkritikerin. Arbeitsschwerpunkte sind Gegenwartsliteratur, Geschlechter- und Rezeptionsforschung. Publikationen u. a. »Ernst Toller. Briefe 1915-1939. Kritische Ausgabe. 2 Bände« (2018, hg. mit Stefan Neuhaus, Gerhard Scholz, Irene Zanol, Martin Gerstenbräun, Kirsten Reimers), »›... doch nicht nur für die Zeit geschrieben‹. Zur Rezeption Ernst Tollers Person und Werk im Kontext« (2018 hg. mit Michael Pilz und Irene Zanol), »Ultima Ratio. Räume und Zeiten der Gewalt« (2013, hg. mit Gerhard Scholz) »Textherrschaft. Zur Konstruktion von Opfer-, Heldinnen- und Täterinnenbildern in Literatur und Film« (2012).

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Beiträgerinnen und Beiträger Brigitte Schwens-Harrant, Feuilletonchefin der Wochenzeitung »Die Furche«, Moderatorin der Reihe WERK.GÄNGE in der Österreichischen Gesellschaft für Literatur. Seit 2007 Lehraufträge an den Universitäten Innsbruck, Salzburg und Wien. Publikationen u. a.: »Literaturkritik. Eine Suche« (2008); »Schrift ahoi! Literatur als Seefahrt. Ein Lexikon«, gem. mit Jörg Seip (2013); »Ankommen. Gespräche mit Dimitré Dinev, Anna Kim, Radek Knapp, Julya Rabinowich, Michael Stavaric« (2014); »Mind the gap. Sieben Fährten über das Verfertigen von Identitäten«, gem. mit Jörg Seip (2019). Würdigungspreis des Bundesministers für Wissenschaft und Forschung 1992, Österreichischer Staatspreis für Literaturkritik 2015. Nicole Seifert ist promovierte Literaturwissenschaftlerin, arbeitet in Hamburg als Autorin und Übersetzerin und betreibt den Literaturblog NachtundTag.blog. Publikationen u. a.: »Frauen  Literatur, Abgewertet, vergessen, wiederentdeckt« (2021); »Schweig, Autorin! Misogynie in der Literaturkritik« (2021); »Wenn es unterhaltsam wird, sind die Frauen dran« (mit Berit Glanz, 2019); »Virginia Woolf, Schreiben für die eigenen Augen, Aus den Tagebüchern« (Hg., 2012); »Von Tagebüchern und Trugbildern, Die autobiografischen Aufzeichnungen von Katherine Mansfield, Virginia Woolf und Sylvia Plath« (2008). Tobias Unterhuber studierte Neuere deutsche Literatur, Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft und Religionswissenschaft in München und Berkeley. 2018 promovierte er mit der Arbeit »Kritik der Oberf läche – Das Totalitäre bei und im Sprechen über Christian Kracht«. Er ist Post-Doc am Institut für Germanistik, Bereich Literatur und Medien an der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck. Er ist Herausgeber der Zeitschrift PAIDIA sowie der Zeitschrift für Fantastikforschung. Forschungsinteressen: Popliteratur, Literaturtheorie, Diskursanalyse, Literatur & Ökonomie, Gender Studies und kulturwissenschaftliche Computerspielforschung. Andrea Werner studierte Germanistik und Kunstgeschichte sowie Kultur, Interkulturalität und Literatur; interdisziplinäres Dissertationsprojekt zur Medialität und Ästhetik des Autor *innenfotos unter postdigitalen Bedingungen; Qualifikationsstelle im Wolfgang-Koeppen-Archiv des Instituts für Deutsche Philologie an der Universität Greifswald. Kuratorin diverser Ausstellungen zu Wolfgang Koeppen im »Münchner Zimmer« des Greifswalder Koeppenhauses, zuletzt: »›Es ist wie in einer Zuchthauszelle ...‹ – Das Stuttgarter Bunkerhotel als Schreibort« (2019/20); Publikation dazu im Tagungsband »Schreiben, Text, Autorschaft. Zur Inszenierung und Ref lexion von Schreibprozessen in medialen Kontexten« (2021, hg. von Carsten Gansel, Katrin Lehnen und Vadim Oswalt).

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Beiträgerinnen und Beiträger Martina Wernli, vertritt zurzeit eine W2-Professur an der Universität Mainz. Arbeitsschwerpunkte: Kanonfragen, Schreibwerkzeuge, Gender, Literatur und Psychiatrie, Romantikforschung. Ausgewählte Publikationen: Federn lesen. Eine Literaturgeschichte des Gänsekiels von den Anfängen bis ins 19. Jahrhundert. Göttingen 2021; »Diese Diktaturen sind immer noch da.« Herta Müller als engagierte Autorin. In: Norbert Otto Eke, Christof Hamann (Hg.): Herta Müller. München: Edition text + kritik 2020, S. 162–173; gemeinsam mit Alexander Kling (Hg.): Das Verhältnis von res und verba. Zu den Narrativen der Dinge. Freiburg/Brsg.: Rombach 2018; aktuelles Projekt: URL: https://breiterkanon.hypotheses.org.

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Literatur

auch als

eBook

in der edition text+kritik

Iuditha Balint · Tanja Nusser · Rolf Parr (Hg.)

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RÖGGLA KA TH

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Iuditha Balint / Tanja Nusser / Rolf Parr (Hg.)

Kathrin Röggla 359 Seiten ISBN 978-3-86916-543-1

Kathrin Rögglas Werk ist breit gefächert und umfasst sowohl Prosa als auch Texte für Radio, Fernsehen und Theater. Die ästhetischen Dimensionen ihrer Texte und die in ihnen problematisierten Diskurse, Themen und Phänomene werden in der Forschung häufig als repräsentativ für einen neuen Realismus gesehen, der dem Anspruch auf Dokumentarizität und Authentizität gerecht zu werden sucht, dabei aber gleichzeitig die Fiktionalitätstauglichkeit und den Konstruktionscharakter der tangierten Bereiche hervorhebt. Die in diesem Band versammelten Beiträge nehmen literarische, essayistische, fi lmische, dramatische und akustische Werke Rögglas in den Blick.

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Literatur

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eBook

in der edition text+kritik

JULI ZEH Klaus Schenk · Christina Rossi (Hg.)

Divergenzen des Schreibens

Klaus Schenk / Christina Rossi (Hg.)

Juli Zeh Divergenzen des Schreibens Oktober 2021, etwa 300 Seiten ISBN 978-3-96707-569-4

Juli Zeh gilt als Autorin populärer Gegenwartsliteratur. Die Romane und Theaterstücke, Essays und Kinderbücher der promovierten Juristin und Absolventin des Literaturinstituts Leipzig weisen allerdings weit über ihr Image als Bestsellerautorin hinaus. Besonders für literatur-, kultur- und medienwissenschaftliche Lektüren ergeben sich daraus spannende Zugänge. Zwanzig Jahre nach ihrem ersten Roman Adler und Engel (2001) widmet sich der Band den literarischen Texten Juli Zehs aus der Perspektive von Divergenzen des Schreibens. Mit unterschiedlichen Schwerpunkten reflektieren die Beiträge über das literarisch innovative Werk der Autorin.

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Literatur

in der edition text+kritik

auch als

eBook

CHRISTOPH SCHLINGENSIEF RESONANZEN VANESSA HÖVING KATJA HOLWECK THOMAS WORTMANN (Hg.)

Vanessa Höving, Katja Holweck und Thomas Wortmann (Hg.)

Christoph Schlingensief RESONANZEN 232 Seiten, Hardcover ISBN 978-3-96707-409-3

Christoph Schlingensief galt als Enfant terrible des deutschen Kulturbetriebs. Er bewegte sich souverän in ganz unterschiedlichen Medien: Als Regisseur schrieb er seine ganz eigene Geschichte der deutschen Wiedervereinigung, in der Oper ließ er zu Wagners Musik einen Hasen im Zeitraffer verwesen, als Autor und Theatermacher thematisierte er seine Krankheit und sein Sterben. Im besonderen Maße provokant und berührend wirkte all dies, weil Schlingensief sich selbst der Öffentlichkeit aussetzte. Der nachhaltigen Präsenz seines Werkes gehen in diesem Sammelband ehemalige Weggefährt*innen Schlingensiefs sowie Vertreter*innen unterschiedlicher wissenschaftlicher Disziplinen nach.