Die Politisierung des antiken Mythos in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur [Reprint 2011 ed.] 9783110911602, 9783484321021

Meticulous analysis of works by Rolf Hochhuth (»Die Berliner Antigone«), Günter Kunert (»Ikarus 64«), Volker Braun (»Iph

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German Pages 358 [360] Year 2000

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Table of contents :
Einführung: Mythos und Intertextualität
I. Politisierung durch Historisierung: Rolf Hochhuths Prosawerk ›Die Berliner Antigone‹
Analogien zur Gegenwart
»Eine unerhörte Begebenheit«?
Aufspaltungen, Tautologien, Metaphern
»Die Kollision der beiden höchsten sittlichen Mächte«
Die Frage nach den Grenzen der Macht
Sprache und Diktatur
Gesetz und »Führerbefehl«
»Was schau ich Arme noch zu Göttern auf?«
Politische Initiation, metaphysische Initiation
Tragische hamartía?
Zwischen profaner Tat und heiligem Ritual
Die Freiheit der Gefangenen
»Ein dialektisches Kalkül«?
Aufklärungsstrategien
Vergangenheitsbewältigung
II. Politisierung durch Ästhetisierung: Günter Kunerts Gedicht ›Ikarus 64‹
Erst- und Endfassung des Gedichtes ›Ikarus 64‹
Von Ikarus zu Kassandra
Das intertextuelle Bezugsfeld des Gedichtes ›Ikarus 64‹: eine Skizze
Unter der Maske des sozialistischen Realismus
Politische Utopie, künstlerische Utopie
»Ballast«: Thema und Variationen
Ikarus: Euphorion, Christus, Sisyphus
Im Dialog mit Franz Kafka
Im Zeichen der Paradoxie
Ästhetisierung des poetischen Duktus
III. Politisierung durch Polemisierung: Volker Brauns Text ›Iphigenie in Freiheit‹
Ein reduktionistisches Interpretationsangebot
Der »Wahnsinn unserer transitären Existenz«
Ideologische Gefangenschaft
Die Befreiung aus der ideologischen Gefangenschaft
Das denkende Individuum, das handelnde Individuum
»Unter dem hellen Himmel der wie Blut stürzt«
Iphigenie, Sonja Marmeladowa, Marion
Weitere Elemente einer russischen Kulturwelt
Die Realität der Gewalt, die Utopie des humanen Handelns
Eine postmoderne revolutionäre Literatur
Die Welt als Supermarkt
Die Dialektik der »friedlichen Arbeit«
»Alles Erben ist zugleich Polemik«
IV. Politisierung durch Allegorisierung: Botho Strauß’ ›Ithaka. Schauspiel nach den Heimkehr-Gesängen der Odyssee‹
»Das souveräne Mißverständnis, das inspirierte Versehen«
»Eine Übersetzung von Lektüre in Schauspiel«
Poetologische Monade, ästhetisches Relikt
Im Zeichen des ästhetischen Matriarchats
Der König als Komödiant, der Komödiant als König
Erotik und Macht, Perversion und Politik
Germanen, Nationalsozialisten, Neofaschisten
›Ithaka‹ und ›Der Untergang des Abendlandes‹
»Wiedervereint ist das Paar«
›Ithaka‹ – eine Antwort auf Sergej Eisensteins Film ›Panzerkreuzer Potemkin‹
›Ithaka‹ und ›Das Gleichgewicht‹ – zwei Rezeptionsmodelle der ›Odyssee‹, zwei Variationen zum Thema Wiedervereinigung
V. Politisierung durch Metaphorisierung: Friedrich Dürrenmatts ›Minotaurus. Eine Ballade‹
Das Gleichnis und sein dynamisches Bedeutungspotential
Die Tänze im Labyrinth
Mimetische Syntax
Rhetorik der Parallelspiegel
Die Sonne und der Mond über dem Labyrinth
Das Labyrinth – Unterwelt, platonische Höhle, Gefängnis
Die Farben des Labyrinthes
Das Wesen: Tier, Mensch, Gott
Die Utopie »Mensch« und ihr Scheitern
Die poetologische Auslegung des Gleichnisses: Die Minotaurus-Ballade als ars poetica
Die existentielle Auslegung des Gleichnisses: Die Minotaurus-Ballade als Anti-Bildungsroman
Die erkenntnistheoretische Auslegung des Gleichnisses: Die Minotaurus-Ballade als zivilisationskritische Antwort auf Platons Höhlengleichnis
Die politische Auslegung des Gleichnisses: Die Minotaurus-Ballade als Parabel über den Zweiten Weltkrieg, den Nationalsozialismus und den Holocaust
Eine irreduktible semantische Pluralität
Abschließende Bemerkungen: Konstanten einer politisierten Mythosrezeption
Bibliographie
Autoren- und Werkregister
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Die Politisierung des antiken Mythos in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur [Reprint 2011 ed.]
 9783110911602, 9783484321021

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Un tersuchungen zur deutschen Literaturgeschich te Band 102

loana Cräciun

Die Politisierung des antiken Mythos in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur

Max Niemeyer Verlag Tübingen 2000

Gedruckt mit Unterstützung der Alexander von Humboldt-Stiftung

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Cräciun, loana: Die Politisierung des antiken Mythos in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur / loana Cräciun. - Tübingen: Niemeyer, 2000 (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte; Bd. 102) ISBN 3-484-32102-4 © Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2000 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz: niemeyers satz, Tübingen Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten Einband: Industriebuchbinderei Nadele, Nehren

Danksagung

Das vorliegende Buch verdankt seine Entstehung der fachlichen, finanziellen und moralischen Unterstützung durch eine Reihe von Personen und Institutionen, denen an dieser Stelle mein Dank gebührt. Ich danke der Deutschen Schillergesellschaft für die Gewährung eines dreimonatigen Marbach-Stipendiums, in dessen Rahmen ich 1997 die Vorarbeiten zu meinem Forschungsprojekt zum Abschluß bringen konnte. Mein herzlicher Dank gilt der Alexander von HumboldtStiftung für die großzügige Gewährung eines zweijährigen Forschungsstipendiums (1997-1999), das mir die sorgenfreie und erfüllende Arbeit an diesem Buch ermöglichte. Ein aufrichtiger Dank geht an die Alexander von Humboldt-Stiftung auch für die Übernahme der Druckkosten für dieses Buch. Ich danke den Professorinnen und den Professoren, die durch ihre Gutachten meine Bewerbung um die oben genannten Forschungsstipendien unterstützt haben: Prof. Dr. Hartmut Eggert (Freie Universität Berlin), Prof. Dr. Mircea Flonta (Universität Bukarest), Prof. Dr. Klaus Heitmann (Universität Heidelberg), Prof. Dr. Klaus-Peter Philippi (Universität Tübingen), Frau Prof. Dr. Speranpa Stanescu (Universität Bukarest), Prof. Dr. Gotthart Wunberg (Universität Tübingen). Meinem Doktorvater und wissenschaftlichen Betreuer Prof. Dr. Gotthart Wunberg vom Deutschen Seminar der Universität Tübingen danke ich aufrichtig und in freundschaftlicher Verbundenheit für seine stete Hilfe und Unterstützung in jeder Phase der Vorbereitung meines Forschungsaufenthaltes und der Arbeit an diesem Buch. Prof. Dr. Klaus-Peter Philippi vom Deutschen Seminar der Universität Tübingen danke ich herzlichst für die sorgfältige Prüfung V

des Typoskriptes und für seine zahlreichen Anregungen und wertvollen Verbesserungsvorschläge. Ich danke der Leiterin des Lehrstuhls für deutsche Sprache und Literatur, Frau Prof. Dr. Doina Sandu und ihrem Nachfolger Prof. Dr. George Gufu, der Dekanin der Neuphilologischen Fakultät Frau Prof. Dr. Sanda Räpeanu, sowie dem Rektor der Universität Bukarest Prof. Dr. loan Mihailescu, die mich für den Zeitraum des Forschungsaufenthaltes in Deutschland von meinen Lehrverpflichtungen freigestellt haben. In der Bibliothek des Deutschen Literaturarchivs Marbach am Neckar fand ich während meines zweijährigen Forschungsaufenthaltes optimale Arbeitsbedingungen und ein freundliches Klima, für das ich dem stets hilfsbereiten Personal zum Dank verpflichtet bin.

VI

Inhaltsverzeichnis

Einführung: Mythos und Intertextualität I.

II.

i

Politisierung durch Historisierung: Rolf Hochhuths Prosawerk >Die Berliner Antigone< . .

18

Analogien zur Gegenwart »Eine unerhörte Begebenheit«? Aufspaltungen, Tautologien, Metaphern »Die Kollision der beiden höchsten sittlichen Mächte« . Die Frage nach den Grenzen der Macht Sprache und Diktatur Gesetz und »Führerbefehl« »Was schau ich Arme noch zu Göttern auf?« Politische Initiation, metaphysische Initiation Tragische hamartia'i Zwischen profaner Tat und heiligem Ritual Die Freiheit der Gefangenen »Ein dialektisches Kalkül«? Aufklärungsstrategien Vergangenheitsbewältigung

18 22 27 33 36 44 47 51 53 58 62 67 70 74 79

Politisierung durch Ästhetisierung: Günter Kunerts Gedicht >Ikarus 6^
Ikarus 6^< . . . . 81 Von Ikarus zu Kassandra 87 Das intertextuelle Bezugsfeld des Gedichtes >Ikarus 6\Iphigenie in Freiheit

no 115 117 121

123

Ein reduktionistisches Interpretationsangebot Der »Wahnsinn unserer transitären Existenz« Ideologische Gefangenschaft Die Befreiung aus der ideologischen Gefangenschaft . . Das denkende Individuum, das handelnde Individuum . »Unter dem hellen Himmel der wie Blut stürzt« . . . . Iphigenie, Sonja Marmeladowa, Marion Weitere Elemente einer russischen Kulturwelt Die Realität der Gewalt, die Utopie des humanen

123 129 131 139 142 156 163 166

Handelns

172

Eine postmoderne revolutionäre Literatur Die Welt als Supermarkt Die Dialektik der »friedlichen Arbeit« »Alles Erben ist zugleich Polemik«

175 179 183 187

IV. Politisierung durch Allegorisierung: Botho Strauß' >Ithaka. Schauspiel nach den HeimkehrGesängen der Odyssee
Ithaka< und >Der Untergang des Abendlandes< 232 »Wiedervereint ist das Paar« 237 VIII

>Ithaka< - eine Antwort auf Sergej Eisensteins Film >Panzerkreuzer Potemkin< >Ithaka< und >Das Gleichgewicht - zwei Rezeptionsmodelle der >OdysseeMinotaurus. Eine Ballade< . . . 261 Das Gleichnis und sein dynamisches Bedeutungspotential . Die Tänze im Labyrinth Mimetische Syntax Rhetorik der Parallelspiegel Die Sonne und der Mond über dem Labyrinth Das Labyrinth - Unterwelt, platonische Höhle, Gefängnis Die Farben des Labyrinthes Das Wesen: Tier, Mensch, Gott Die Utopie »Mensch« und ihr Scheitern Die poetologische Auslegung des Gleichnisses: Die Minotaurus-Ballade als arspoetica Die existentielle Auslegung des Gleichnisses: Die Minotaurus-Ballade als Anti-Bildungsroman . . . Die erkenntnistheoretische Auslegung des Gleichnisses: Die Minotaurus-Ballade als zivilisationskritische Antwort auf Platons Höhlengleichnis Die politische Auslegung des Gleichnisses: Die Minotaurus-Ballade als Parabel über den Zweiten Weltkrieg, den Nationalsozialismus und den Holocaust Eine irreduktible semantische Pluralität

262 268 273 277 283 286 288 289 292 299 304

309

312 323

Abschließende Bemerkungen: Konstanten einer politisierten Mythosrezeption 325 Bibliographie

335

Autoren- und Werkregister

344 IX

Einführung: Mythos und Intertextualität

Wenige Begriffe gehören so selbstverständlich zum Instrumentarium der literarischen Hermeneutik wie der des Mythos. Wenige Begriffe aus dem Instrumentarium der literarischen Hermeneutik haben leidenschaftlichere Kontroversen ausgelöst, wenige haben durch ihren Mißbrauch so viel an Präzision eingebüßt und zugleich so sehr an Bedeutung gewonnen. Wenige haben eine üppigere Semantik, wenige sind zugleich vager, diffuser. Wer den Mythosbegriff in das Fundament einer literaturwissenschaftlichen Untersuchung einbaut, gefährdet die Statik ihrer analytischen Konstruktion und trübt die Klarheit ihrer Ziele, es sei denn, es gelänge, das proteische Dasein des Mythos künstlich zu suspendieren und dessen Energien zu einem einheitlichen Bedeutungsstrahl zu bündeln. Um dies zu erreichen, hat man in der literaturwissenschaftlichen Praxis entweder die Spezifität des Mythos mit dem Mythosbegriff fremder Disziplinen, wie etwa der Philosophie, der Theologie, der Ethnologie, der Psychoanalyse, der Anthropologie, der Semiotik, u.s.w., zu erfassen versucht, oder man hat den Mythos als Äquivalent des literarischen Stoffes1 behandelt, wodurch der Mythos anderen Formen von Fiktionalität zugeordnet wurde. Beide Methoden führen zu unbefriedigenden Ergebnissen. Daß der Mythosbegriff fremder Disziplinen in einer literaturwissenschaftlichen Untersuchung nur beschränkt operational ist, hängt mit dem Spezifikum des literarischen Diskurses als einer fiktionalen, autonomen Welt zusammen, die primär ästhetische Werte transportiert und einer eigenen, immanenten Logik ge1

Ein gutes Beispiel dafür liefert das Nachschlagewerk von Elisabeth Frenzel, Stoffe der Weltliteratur. Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte, 8., überarbeitete und erweiterte Auflage, Stuttgart 1992.

horcht, so daß ihre »Wahrheit« weder mit der verifizierbaren Wahrheit der strengen Wissenschaft noch mit den Dogmen des Glaubens koinzidiert. Den Mythos dem literarischen Stoff gleichzusetzen bedeutet andererseits, wesentliche Aspekte seiner Literarisierung und seiner Rezeption außer acht zu lassen. Diesen beiden Methoden soll im folgenden unsere Aufmerksamkeit gelten. Ihre Kritik gestaltet sich als Plädoyer für einen literaturwissenschaftlich operationalen Mythosbegriff, dessen heuristisches Modell ich anschließend entwerfen werde. Seine Anwendbarkeit in der literaturwissenschaftlichen Praxis ist in den fünf analytischen Kapiteln zu verifizieren, die den Kern des vorliegenden Buches ausmachen. Es ist hier nicht der Ort, die überaus komplexe Geschichte des philosophischen Mythosbegriffes von Platon bis Nietzsche, von Aristoteles bis Schelling, von Vico bis Mircea Eliade, Roland Barthes und Hans Blumenberg auch nur andeutend zu skizzieren.2 Einige Beispiele aus der Geschichte des philosophischen Mythosbegriffes mögen genügen, um lediglich die Grenzen seiner Anwendbarkeit auf literaturwissenschaftlichem Gebiet aufzuzeigen. Optiert man in der literaturwissenschaftlichen Praxis beispielsweise für den platonischen Mythosbegriff, dann hat man weiter nichts als eine konstitutive Dimension des literarischen Diskurses erfaßt, die außer Zweifel steht: seine Fiktionalität, seinen in Bezug auf die Realität hypothetischen Charakter. Im platonischen Denksystem stellt bekanntlich der Mythos das Gegenteil des Logos als der wahren Aussage vom unveränderlichen Sein dar.3 Daß aber die Spezifität des literarischen Diskurses positiv und nicht als defiziente Ausprägung im Vergleich zur Spezifität anderer Diskurstypen - hier: des philosophischen - zu definieren wäre, darüber herrscht weitgehend Konsens. Optiert man in der literaturwissenschaftlichen Praxis für den Mythosbegriff der Neuplatoniker, die den Mythos als »Abbild« des zeitlosen, ungetrennten Seins beschrieben haben, einen Mythosbegriff, der in der

Näheres dazu bei Luc Brisson, Einführung in die Philosophie des Mythos. Band i: Antike, Mittelalter und Renaissance, Darmstadt 1996, und Christoph Jamme, Einführung in die Philosophie des Mythos. Band 2: Neuzeit und Gegenwart, Darmstadt 1991. Diese Auffassung begegnet vor allem in Platons Dialog >TimaiosIkarus 64König ÖdipusIthaka. Schauspiel nach den Heimkehr-Gesängen der Odyssee< und Friedrich Dürrenmatts >Minotaurus. Eine BalladeScienza nuova< die These aufgestellt, daß »die ersten Mythen politische Wahrheiten enthalten haben«' 2 und daß Mythologien »sich als politische Geschichte der ersten Völker herausstellen [werden].«" So betrachtet, wäre der politisierte Mythos nicht der »modernisierte«, nicht der »revolutionierte«, sondern der zu seinen Ursprüngen zurückgeführte Mythos. Unvermeidlich ist die Frage, was den politisierten Mythos von einer Literatur unterscheidet, die Propagandazwecken dient. Anders als eine Literatur, die sich im Dienst einer politischen Macht befindet, führt der politisierte Mythos ein doppeltes, jedoch kein duplizitäres Dasein. Der politisierte Mythos ist litterature engagee, insofern sein Ziel ein kritisch-aufklärerisches ist; zugleich aber ist der politisierte Mythos poesie pure, insofern er ein intertextuelles Spiel darstellt, eine nicht aus der imitatio vitae, sondern aus der imitatio veterum™ hervorgegangene Form der Poesie.

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Wilfried Barner schreibt dazu: »Die politische Dimension des Mythos [...] ist namentlich für die Diagnostik der Gegenwartsliteratur unabweisbar.« (Wilfried Barner, Literaturtheologie oder Literaturmythologie?, in: Walter Jens/Hans Küng u.a., Theologie und Literatur. Zum Stand des Dialogs, München 1986, S. 156.) Giovanni Battista Vico, Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker. Übersetzt von Vittorio Hösle und Christoph Jermann, Teilband i, Hamburg 1990, S. 107. Giovanni Battista Vico, Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker, a.a.O., S. 156. Näheres zu diesem Kontrastpaar findet man bei Manfred Pfister in

Dieses doppelte Sein des politisierten Mythos kommt im deutlich gestalteten Moment der poetologischen Selbstreflexivität zum Ausdruck, die fast alle zum Textkorpus gehörenden Werke kennzeichnet, einer Selbstreflexivität, auf die ich in meinem Textkommentar immer wieder zurückkommen werde. Ausgehend von der heuristischen Prämisse, daß der gemeinsame Nenner aller mythopoetischen Werke der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur das politische Element ist, gilt es zu zeigen, daß die künstlerischen Strategien, die zur Politisierung des Systems Mythos führen, eine Kohärenz aufweisen, deren Mechanismen erkannt und modelliert werden können. Die verschiedenen Strategien - die Historisierung, die Ästhetisierung, die Polemisierung, die Allegorisierung, die Metaphorisierung - konstituieren intertextuelle Dialogmodalitäten, die den Rezipienten nach bestimmten poetologischen Konventionen in die subjektive Mitgestaltung des Bedeutungshorizontes des mythopoetischen Werkes einbeziehen. Inwiefern diese Konventionen die Haltung des Rezipienten dem mythopoetischen Werk gegenüber bestimmen, soll anhand zweier grundverschiedener Strategien - der Metaphorisierung und der Historisierung - kurz erläutert werden. In einem durch Metaphorisierung politisierten System Mythos sucht man als Rezipient nach der systemtranszendenten Bedeutung der Elemente, die das mythopoetische Werk ausmachen. In einem durch Historisierung politisierten System Mythos nimmt man hingegen diese Elemente in ihrer historischen Konkretheit und in ihrer immanenten Bedeutung wahr. Die Strategie der Politisierung kommt einer produktions- und zugleich einer rezeptionsästhetischen Akzentsetzung gleich, die als Moment der Identität des mythopoetischen Werkes fungiert. Nicht zuletzt gestaltet sich die Suche nach der Identität mythopoetischer Werke der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur auch als Suche nach der Identität der literarischen Postmoderne. Es ist oft konstatiert worden, daß vieles, »was bei der gegenwärtigen Auswertung der Kategorie als postmodern gilt, [...] in Wahrheit seiner Arbeit >Konzepte der IntertextualitätDie Berliner Antigone
AntigoneDie Berliner Antigone< entstand im Jahre 1961 und wurde in der Wochenendbeilage Bilder und Zeiten der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 20. April 1963 in einer - wenn nicht politisch zensierten, so doch um einige gesellschaftskritische Passagen gekürzten Fassung - erstveröffentlicht. 1 Das starke internationale Echo des Hochhuthschen Erstlingsdramas >Der Stellvertreters die heftigen Kontroversen, die es um die Verantwortung der katholischen Kirche und des Papstes Pius des XII. (Eugenio Pacelli) bei der Vernichtung des europäischen Judentums während des Dritten Reiches auslöste, ließen die Frage aufkommen, »wie der Autor sich zu politischen Themen sonst stellt«2. Auf diese »gegen Ende der Adenauerschen Restaurationszeit, des >Kalten KriegesDie Berliner Antigone< (Germanisch-Romanische Monatsschrift, Neue Folge, Band XXVI, Heft i, 1976, S. 321-333; hier: S. 3321., Fußnote 29) auf diese von der Redaktion der Frankfurter Allgemeinen Zeitung durchgeführten Kürzungen, durch die »dem Text [...] auch viel von der ihm inhärenten Kritik genommen wurde.« Zitiert nach Ute Druvins, Die Berliner Antigone, in: Walter Hinck (Hrsg.), Rolf Hochhuth - Eingriff in die Zeitgeschichte. Essays zum Werk, Hamburg 1981, S. 225. Ute Druvins, Die Berliner Antigone, a.a.O., S. 225.

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dene Frage antwortete die Frankfurter Allgemeine Zeitung mit dem Druck der >Berliner AntigoneDie Berliner Antigone< bildet den Anfang einer Reihe von thematisch konvergierenden Werken, zu denen der Roman >Eine Liebe in Deutschland* (1978) und das Drama >Juristen< (1979) zählen, die Rolf Hochhuth einem bis dahin weniger beachteten Aspekt der nationalsozialistischen Vergangenheit gewidmet hat: den Verbrechen der nationalsozialistischen Justiz Deutschen gegenüber. >Die Berliner Antigone< erzählt die Geschichte der Medizinstudentin Anne, die während eines Fliegerangriffs auf die Reichshauptstadt die Leiche ihres wegen defätistischer Äußerungen hingerichteten Bruders ohne fremde Hilfe aus der Anatomie entfernt und entgegen Hitlers Befehl, Staatsfeinden das Begräbnis zu verweigern, an einem nur ihr bekannten Ort bestattet. Sie wird von einer Kommilitonin denunziert und daraufhin verhaftet. Da sie die Verlobte seines Sohnes Bodo ist, versucht der Generalrichter, Anne vor dem Beiltod zu retten, indem er Hitlers ironisch wegschiebende Anordnung nach Tisch, »die Angeklagte solle >in eigener Person der Anatomie die Leiche zurückerstatten*«,' so auslegt, »als dürfe das Mädchen den Beerdigten stillschweigend zurückbringen« (S. 7). Anne schwankt in ihrer Haftzelle zwischen Lebensgier und Todesangst, doch nachdem sich ihr Verlobter, der sie bereits tot glaubt, in einem russischen Bauernhaus erschießt, weigert sich Anne, den Verbleib ihres Bruders zu verraten und stirbt unter der Guillotine wie (so das diese Geschichte abschließende EPITAPH) die 269 hingerichteten Frauen, deren enthaup-

George Steiner nennt Rolf Hochhuths »Berliner Antigone< »perhaps the finest achievement in his uneven work«, in: Ders., Antigones, Oxford 1984, S. 143. Rolf Hochhuth, Die Berliner Antigone, in: Ders., Die Berliner Antigone. Erzählungen und Gedichte, Stuttgart 1986, S. 7. Unter Angabe der Seitenzahlen wird im laufenden Text nach dieser Ausgabe zitiert.

tete Leichen die Berliner Anatomie in den Jahren 1939-1945 zur »behördlich überwachten Kadavernutzung« (S. 15) erhielt. Die literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit Rolf Hochhuths Prosawerk >Die Berliner Antigone< erfolgten relativ spät. Ihnen ging die Verfilmung der Geschichte Annes und Bodos durch den Regisseur Rainer Wolfhardt und den Drehbuchautor Leopold Ahlsen6 im Jahre 1968 als vielschichtige Form der künstlerischen Rezeption voran. Dem mehrfach ausgezeichneten Fernsehfilm >Berliner Antigone< folgte über zwei Jahrzehnte später ebenfalls als Form der künstlerischen Rezeption das in Magdeburg 1990 uraufgeführte Ballett >Berliner Antigone< des Librettisten und Choreographen Peter Tornew und des Komponisten Wolfgang Hohensee7 Nicht zufällig entstanden beide Formen der künstlerischen Rezeption in politisch hochexplosiven Kontexten, in denen die Fragen nach der Legitimität der Macht und des zivilen Ungehorsams gegenüber als Unrecht empfundenen staatlichen Entscheidungen, nach den Grenzen der individuellen Freiheit, nach dem Verhältnis des Individuums zur kulturellen und zur religiösen Tradition seiner Gemeinschaft wieder an Aktualität gewonnen hatten. Der Fernsehfilm >Berliner Antigone< wurde gedreht und mehrmals ausgestrahlt in der Zeit der Studentenrevolte, der Demonstrationen gegen den Vietnam-Krieg, des Prager Frühlings, das gleichnamige Ballett entstand und wurde uraufgeführt im Jahr der politischen Wende in der DDR und der Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands. Daß die Gestalt der antiken Antigone in politisch bewegten Zeiten oft als künstlerische Projektionsfläche gedient hat, auf der die Probleme der Gegenwart in kritischer Absicht sichtbar gemacht wurden, ist längst konstatiert und ausführlich analysiert worden.8 Daß aber auch die Das Drehbuch von Leopold Ahlsen ist abgedruckt in: Rolf Hochhuth/Leopold Ahlsen, Die Berliner Antigone. Erzählung und Fernsehspiel, Paderborn - München - Wien - Zürich 1980, S. 15-65. S. dazu: Volkmar Draeger, Antigone aktuell. >Berliner Antigone< von Tornew/Hohensee in Magdeburg uraufgeführt, in: Theater der Zeit, Heft 1/1990, S. 45-47. S. beispielsweise den Aufsatz von Miroslav Kacer, Der AntigoneMythos auf der tschechischen Bühne der Gegenwart, in: Manfred Fuhrmann (Hrsg.), Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption (Poetik und Hermeneutik IV), München 1971, S. 435-453. 20

Literaturwissenschaft durch die Wahl ihrer Forschungsthemen solche Projektionsflächen entstehen läßt, daß also auch die Literaturwissenschaft als ein Barometer des politischen Klimas fungiert, darüber ist weniger nachgedacht worden. >Die Berliner Antigone< von Rolf Hochhuth bietet ein gutes Beispiel dafür. Das später als »vielleicht [...] ästhetisch gelungenste[r] Text des Autors« 9 gepriesene Werk ist von der Literaturwissenschaft erst Mitte der /oer Jahre entdeckt und gewürdigt worden, in einem Zeitraum, in dem die Baader-Meinhof-Prozesse im Mittelpunkt der Öffentlichkeit standen und die für den Antigone-Mythos fundamentale Frage nach der Legitimität der staatlichen Macht wie nach dem Verhältnis zwischen Macht und Gewissen in einem neuen Licht erscheinen ließen. Auf Analogien zwischen dem Hochhuthschen Prosawerk >Die Berliner AntigoneDie Berliner Antigone< wird einige dieser Lücken aufzuzeigen versuchen.

9 10

Ute Druvins, Die Berliner Antigone, a.a.O., S. 226. Ute Druvins, Die Berliner Antigone, a.a.O., S. 221-225. 21

»Eine unerhörte Begebenheit«? In den inzwischen zahlreich gewordenen Ausgaben der >Berliner Antigone< begegnet man unterschiedlichen Präzisierungen der Gattungszugehörigkeit dieses Werkes. Bald wird >Die Berliner Antigone< als »Novelle«,11 bald als »Erzählung«, 12 als »Prosa« 13 oder als »Kleine Prosa« 14 bezeichnet. Um so überraschender erscheint die Selbstverständlichkeit, mit der >Die Berliner Antigone< in der ihr gewidmeten, nicht sehr umfangreichen Sekundärliteratur fast ausschließlich als Novelle bezeichnet und analysiert wird. Den Anfang dieser Analysen bildet die Einführung von Nino Erne zu Rolf Hochhuths >Berliner Antigone. Prosa und Verses die 1971 publiziert wurde 15 und in der die klassische Sprache und Haltung der Hochhuthschen Novelle wie ihr »fast kleistische[r]«16 Schluß hervorgehoben werden. Es folgen Mitte der /oer Jahre Detlef Brenneckes Studie über Rolf Hochhuths Novelle >Die Berliner AntigoneEine moderne Antigone. Zu Hochhuths tragischer NovelleBerliner Antigone< von dieser Definition auszugehen, in der »das Adjektiv >unerhört< wahrscheinlich mehr im ursprünglichen Sinne von noch nicht gehört [...] und nicht, wie es die romantische Interpretation der Novelle in Deutschland nahelegt, im Sinne von >außerordentlichschaudervollmärchenhaft wunderbarWiderstand und Wirklichkeit. Fundamentalphilosophische Fragen im Hinblick auf das AntigoneDrama und seine Deutung< (in: Frankfurter Hefte, 31. Jahrgang, Heft 7, Juli 1976, S. 51-61; hier: S. 531.) aufmerksam auf »die bisher in der philosophiegeschichtlichen Forschung unbemerkt gebliebenen Zusammenhänge« zwischen der Sophokleischen Antigone und Hegels >Phänomenologie des GeistesBerliner Antigone< nie analysiert worden. Es taucht in der Hochhuth-Forschung nie die Frage nach der Funktion des antiken Antigone-Mythos in der >Berliner Antigone< auf. Anstelle der Funktion des Mythos wird bloß dessen implizite Anwesenheit in Form der vielfachen Beziehungen des Hochhuthschen Prosawerkes zu Sophokles' >Antigone< als dem Inbegriff des antiken Antigone-Mythos untersucht. 27 Ohne den Verweis auf die mythische Antigone hätte Rolf Hochhuth tatsächlich eine »unerhörte«, d.h. der Öffentlichkeit unbekannte, schaudervolle, wahre und sozial relevante Geschichte erzählen können, die man in Abwesenheit jeglicher kultureller Vorprägung, jeglicher kultureller Vorbelastung wie eine erschütternde Geschichte emotional rezipiert hätte. Ohne seinen Titel hätte man tatsächlich dieses Hochhuthsche Prosawerk als eine Novelle von klassischer Schönheit und Strenge lesen können, in der man nachträglich das Echo des antiken Antigone-Mythos wiedererkannt hätte. Der Titel der >Berliner Antigone< signalisiert jedoch von vornherein, daß ihr Autor keine neue Geschichte zu erzählen beabsichtigte, welche ihre Rezipienten auf einer emotionalen Ebene erreichen soll, sondern eine alte Geschichte, deren Zweck es ist, ihre Leser primär auf intellektueller Ebene anzusprechen. Vergangenheitsbewältigung kann als emotionsloser Prozeß besser vermittelt werden - das ist auch der Grund, warum Rolf Hochhuth den Leser an den seelischen Kämpfen seiner Heldin Anne zwar partizipieren läßt, 26

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Zu diesem rezeptionsästhetischen Aspekt schreibt Walter Jens: »Dort, wo das Material in Gestalt des Mythos stets vorhanden ist und der Zuschauer den Ausgang kennt, richtet sich das Augenmerk wie beim Brechtschen Theater [...] auf die Argumentation, die Kritik, die Erkenntnis.« (Walter Jens, Verkleidete Götter. Antikes und modernes Drama, in: Ders., Zur Antike, München 1978, S. 79.) Auf diesen Aspekt der Hochhuthschen Forschung wird später ausführlich zurückzukommen sein.

ihm jedoch von vornherein durch den Titel seines Prosawerkes signalisiert, daß er sich in Bezug auf das Schicksal einer Frau, die sich zur Zeit der nationalsozialistischen Diktatur einem inhumanen Führerbefehl mutig widersetzt, keine Hoffnungen machen darf. Um die Entstehung jeglicher naiver Hoffnung auf ein glückliches Ende des Konfliktes von vornherein zu verhindern, um didaktisch wirkungsvoll seinen Geschichtsunterricht zu gestalten, um aufzuklären, bedarf Rolf Hochhuth eines solchen kulturell vorgeprägten und jede Illusion zerstörenden Titels für sein Prosawerk. Der Mythos um die Tochter des Ödipus liefert dabei das Grundmuster, dessen unwandelbare Struktur es in den Wandlungen der Geschichte aufzuspüren und historisch zu gestalten gilt. Dem antiken Mythos kommt dabei eine aufklärerische Funktion zu. Er verfremdet den Blick auf die Geschichte, damit diese um so klarer hervortreten und verstanden werden kann. Er blockiert jede unnötige, Emotionen erzeugende und die Vernunft trübende Erwartungshaltung, um den intellektuellen Dialog mit dem Leser frei zu halten für den Akt der Belehrung, deren Ziel die Vergangenheitsbewältigung ist. Dabei gilt es, die »ewige« Antigone als die Berliner Antigone, die mythische Antigone als die historische zu gestalten. »Neu« und »unerhört«, da bisher verschwiegen und verdrängt, ist der historische Schein des Mythos, seine Substanz jedoch ist alt. Rolf Hochhuths Prosawerk >Die Berliner Antigone< lebt literarisch gerade aus dieser Spannung zwischen Mythos und Geschichte, zwischen Grundmuster und dessen historischem Gewand, zwischen dem Bild Antigones, das der Leser des Hochhuthschen Posawerkes durch Bildung und Lektüre erworben hat, und dem Profil einer historischen Antigone, so wie es Rolf Hochhuth entworfen hat. Nicht allein aus der Neuheit des Materials selbst lebt >Die Berliner AntigoneBerliner Antigone< sind ausführliche Parallelen zu Sophokles' Antigone-Drama gezogen worden, die implizit einen produktionsästhetischen Standpunkt vertreten: >Die Berliner Antigone< wird als Produkt einer literarischen Rezeption verstanden und analysiert.28 Gelegentlich wird das Rezeptionsfeld der >Berliner Antigone< durch kurze Hinweise auf Ähnlichkeiten und Unterschiede in der Gestaltung des Antigone-Dramas durch Hasenclever,2? Anouilh 30 und Brecht3' erweitert und nuanciert. Dabei fällt der methodische Widerspruch zwischen dieser produktionsästhetischen Lektüre, die durchaus berechtigt ist, und der Betrachtung des Werkes durch das Prisma des Novellenbegriffs auf, die rezeptionsästhetisch nicht vertretbar ist. So führen Detlef Brennecke32 wie auch Lutz Lenz33 Parallelen zu Sophokles' Antigone-Drama bei gleichzeitiger Benutzung des nicht unproblematischen Novellenbegriffes durch.'4 Detlef Bren28

29 30 31 32 33 34

»Im Hintergrund der Novelle ist, wie ihr Titel, der Kern ihrer Fabel und die angeführte Polemik ihres Autors gegen Hegel außer Zweifel stellen, das Sophokleische Drama präsent.« (Lutz Lenz, Eine moderne Antigone. Zu Hochhuths tragischer Novelle, a.a.O., S. 157.) Hauptsächlich bei Lutz Lenz, Eine moderne Antigone. Zu Hochhuths tragischer Novelle, a.a.O., S. 171. S. Lutz Lenz, Eine moderne Antigone. Zu Hochhuths tragischer Novelle, a.a.O., S. 158 u. 161. S. Lutz Lenz, Eine moderne Antigone. Zu Hochhuths tragischer Novelle, a.a.O., S. 157 u. 171. Detlef Brennecke, Rolf Hochhuths Novelle >Die Berliner AntigoneBerliner Antigone< auf die Privatsphäre der Protagonisten, personalisiert zu stark den Konflikt und verengt dadurch die sozial-politischen Implikationen der Hochhuthschen Geschichte. Deshalb stimme ich Lutz Lenz' profunder Interpretation zu, der in der »Aufspaltung des Sophokleischen Kreon nach seinen öffentlichen Funktionen in den Machthaber selber und in seinen juristischen Stellvertreter«38 ein Indiz für den Marionettencharakter des Gerichtshofs erblickt, und die Aufspaltung als ein Signal dafür deutet, »daß Anne nicht so sehr Personen als vielmehr einem System gegenübersteht«3?. Hierzu muß bemerkt werden, daß diese Aufspaltung der Sophokleischen Kreon-Gestalt zugleich eine Spannung zur Folge hat, die zwischen dem allmächtigen Führer und dem Generalrichter als seinem ohnmächtigen Justizinstrument entsteht und die Mecha35

Detlef Brennecke, Rolf Hochhuths Novelle >Die Berliner AntigoneDie Berliner AntigoneDie Berliner AntigoneBerliner Antigone< keine dem Sophokleischen Wächter entsprechende Gestalt gäbe, könnte man einwenden, daß Annes Kommilitonin, die sie bei den Nazibehörden denunziert, anstatt ihr wie eine »Schwester« wenigstens durch ihr Schweigen, wenn nicht durch ihre Tat zu helfen, doch als Wächterin fungiert. Die Rolle des Wächters in Sophokles' Antigone-Drama ist diejenige eines Denunzianten. Ohne seine Denunziation hätte Kreon von Antigones Tat nichts erfahren. Sie hätte das göttliche Bestattungs42

Die Rolle des objektiv urteilenden Zuschauers übernimmt der Autor selbst, indem er in den Handlungsfluß erklärend eingreift. So z.B. wenn es gilt, den nationalsozialistischen Sprachgebrauch zu erklären (»Die Bezeichnung Massengrab war verboten worden«, S. 5), den nationalsozialistischen Jargon zu erläutern (»Paket besagte: als juristische Person abgebucht, zur Dekapitation und behördlich überwachten Kadavernutzung freigegeben«, S. 15), oder wenn er am Ende seines Prosawerkes Annes Hinrichtung mit der Hinrichtung der Männer des 20. Juli in Zusammenhang bringt. 31

gebot erfüllt, ohne dafür mit dem eigenen Leben bezahlen zu müssen. Genau so verhält es sich auch mit Anne: ohne die Denunziation ihrer Kommilitonin hätte sie ihren hingerichteten Bruder bestatten können, ohne dafür »in eigener Person der Anatomie die Leiche zurückerstatten« (S. 7) zu müssen. Auch der Wächter erscheint also bei Rolf Hochhuth nur indirekt in der Form einer Metapher. Schließlich wäre die Haltbarkeit der Behauptung von Lutz Lenz zu überprüfen, daß in der >Berliner Antigone< »Bezüge etwa auf [...] den Streit der Brüder entfallen«43 seien. Auch wenn Rolf Hochhuths Protagonistin im Unterschied zu ihrem antiken Vorbild nur einen Bruder hat, so gibt es doch Hinweise darauf, daß es einen solchen, wiederum metaphorisch zu verstehenden zweiten »Bruder« in Annes Leben doch gibt. So wie in der antiken Vorlage Eteokles und Polyneikes sich gegenseitig im Machtkampf umbringen, genau so bringt die nationalsozialistische Justiz einen deutschen Offizier, Annes Bruder, um. Er ist kein Opfer des Feindes im Krieg, sondern ein Opfer deutscher Richter. Die Mordtaten, die Deutsche an Deutschen verübt haben, sind im metaphorischem Sinne des Wortes als Brudermorde zu verstehen. Diese humanistisch geprägte Metapher ließe sich bei Rolf Hochhuth auf den Krieg im allgemeinen anwenden, der ungeachtet seiner Gründe im Geiste der Aufklärung als Brudermord verurteilt wird. An dieser Stelle ist es angebracht, an das Detail zu erinnern, daß Anne ihren Bruder eigentlich mit Hilfe des Feindes begräbt, denn die Gelegenheit dazu gibt ihr ein Fliegerangriff auf die Reichshauptstadt! Labil sind bei Rolf Hochhuth nicht nur die Grenzen des antiken Mythos, sondern auch die Grenzen solcher Polaritäten wie Feind-Freund.

Lutz Lenz, Eine moderne Antigone. Zu Hochhuths tragischer Novelle, a.a.O., S. 157.

»Die Kollision der beiden höchsten sittlichen Mächte« Rolf Hochhuths >Berliner Antigone< ist als Produkt einer doppelten Rezeption, einer literarischen und einer philosophischen, zu analysieren: einerseits der Rezeption des Sophokleischen Antigone-Dramas, andererseits der Rezeption der Hegeischen Deutung dieses Dramas. Diese doppelte Rezeption ist verantwortlich für die Eliminierung aller interpretierbaren Ambiguitäten der Sophokleischen Vorlage, vor allem für die Verlegung der Ereignisse in die Epoche des Dritten Reiches,44 die unumstritten als eine Epoche der Diktatur und des Unrechts gilt. Die Historisierung des antiken Mythos ist in der >Berliner Antigone< das Resultat einer hermeneutischen Polemik. Bekanntlich hat Hegel die Meinung vertreten, daß weder Antigone noch Kreon im Unrecht seien, daß beide einseitig jeweils eine der beiden höchsten sittlichen Mächte vertreten würden, und folglich diese Einseitigkeit für ihren Untergang verantwortlich sei, daß implizit sie die Quelle des Tragischen bei Sophokles bilden würde. 45 An Hegels bekannten wie berüchtigten Kommentar eines »der allererhabensten, in jeder Rücksicht vortrefflichsten Kunstwerke aller Zeiten«, wie er das 44

45

In dieser Verlegung sieht Lutz Lenz, ebd., einen literarischen Einfluß Bertolt Brechts. Meines Erachtens ist sie eine klare Polemik gegen Hegel. Daß Kreon kein Tyrann war, hat Hegel nachzuweisen versucht; dagegen aber, daß Hitler als ein Diktator regiert hat, lassen sich kaum Argumente vorbringen. »Damit ist klar, daß Hegel die Antigone-Tragödie als eine Art dichterisches Vorwort zu seiner Philosophie benutzt und die Figuren des Dramas zugunsten seines eigenen Systems allegorisiert. Antigone stellt als Widerstandscharakter und >sittliche Substanz< eben die negative Macht dar, an der die affirmative Kraft Kreon zerbricht. Antigone und Kreon gehorchen somit beide der dialektischen Logik Hegels und bilden gleichsam das Personal seines vernunftgesteuerten Weltprozesses; sie sind auch die Darstellungen des Gegensatzes von >Herz< und >StaatPhänomenologie des Geistes< ausgeführt wird. Das sittliche Handeln vollzieht sich nach Hegel erst in der leidvollen Auseinandersetzung zwischen >beiden PrinzipienVorlesungen über die Ästhetik II< 46 gepriesen hat, sei hier noch einmal erinnert: Auf eine plastische Weise wird die Kollision der beiden höchsten sittlichen Mächte gegeneinander dargestellt in dem absoluten Exempel der Tragödie, Antigone; da kommt die Familienliebe, das Heilige, Innere, der Empfindung Angehörige, weshalb es auch das Gesetz der unteren Götter heißt, mit dem Recht des Staats in Kollision. Kreon ist nicht ein Tyrann, sondern ebenso eine sittliche Macht. Kreon hat nicht Unrecht; er behauptet, daß das Gesetz des Staates, die Autorität der Regierung geachtet werde[n muß] und Strafe aus der Verletzung folgt. Jede dieser beiden Seiten verwirklicht nur die eine der sittlichen Mächte, hat nur die eine derselben zum Inhalt. Das ist die Einseitigkeit, und der Sinn der ewigen Gerechtigkeit ist, daß beide Unrecht erlangen, weil sie einseitig sind, aber damit auch beide Recht. Beide werden als geltend anerkannt im ungetrübten Gang der Sittlichkeit; hier haben sie beide ihr Gelten, aber ihr ausgeglichenes Gelten. Es ist nur die Einseitigkeit, gegen die die Gerechtigkeit auftritt.47

Rolf Hochhuth apostrophiert die Hegeische Deutung des Antigone-Konfliktes als die stark politisierte Fälschung eines im Dienste der staatlichen Macht stehenden Untertanengeistes: Vielleicht ist Hegels staatsgesinnungstreue »Interpretation« der Figur des Kreon die inhumanste Fälschung, die in der deutschen Geistesgeschichte ein Philosoph auf Kosten eines dichterischen Textes vorgenommen hat. Hält man Hegel zugute, daß er wie jeder geniale Systemschöpfer alles ignorieren mußte, was die »Wahrheit« seines Systems gefährdete - so bleibt doch unverantwortlich, daß er ausgerechnet das humanste Gedicht der Antike benutzt hat, um die Autoritätsauffassung eines königlich preußischen Staatsphilosophen zu rechtfertigen: Hegels Intelligenz verbietet anzunehmen, er habe nicht gesehen, daß er damit die eindeutige moralische Verwerfung des Kreon durch Sophokles vorsätzlich umfälschte.48 46

47

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Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik II, in: Ders., Werke in zwanzig Bänden, Band 14, Frankfurt am Main 1970, S. 60. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion II, in: Ders., Werke in zwanzig Bänden, Band 17, Frankfurt am Main 1970, S. 133. Rolf Hochhuth, Der alte Mythos vom »neuen« Menschen. Vorstudien zu einer Ethologie der Geschichte. 8. Jüngerschaft führt nie zur Schwangerschaft, in: Ders., Die Hebamme. Komödie. Erzählungen Gedichte - Essays, Reinbek bei Hamburg 1971, S. 377^ 34

Auf Hegels politisierte Rezeption des Antigone-Dramas, welche die Autorität der von Kreon verkörperten Staatsmacht bejaht, antwortet Rolf Hochhuth mit einer politisierten Rezeption des Sophokleischen Werkes, welche die Autorität der von Hitler personifizierten und von einem perfekt funktionierenden Machtapparat ausgeübten Staatsmacht verneint. Die Verankerung der Geschehnisse in der Zeit des Dritten Reiches49 untermauert als Strategie der Politisierung das polemische Nein, mit dem Rolf Hochhuth die Hegeische Antigone-Interpretation rezipiert. Dieses entschiedene Nein hat selber eine illustre Tradition, an die Rolf Hochhuth auch bewußt anknüpft.50 Inwieweit der Sophokleische Text selber dieses Nein rechtfertigt und wie Sophokles sein Plädoyer für Antigone und gegen Kreon gestaltet, werde ich im folgenden zu analysieren versuchen. Dabei gilt es zu zeigen, wie Rolf Hochhuth Sophokles' Plädoyer historisiert, welches historische 49

50

In einem Brief an Detlef Brennecke vom 7. April 1975 erläutert Rolf Hochhuth den autobiographischen Hintergrund der >Berliner AntigoneDie Berliner Antigones a.a.O., S. 322, Fußnote 3.) Auf die Differenzpunkte in der Hegeischen und Hölderlinschen Antigone-Deutung macht Josef Nolte, Widerstand und Wirklichkeit. Fundamentalphilosophische Fragen im Hinblick auf das Antigone-Drama und seine Deutung, a.a.O., S. 53ff., aufmerksam. In seinem Gespräch mit Eckermann am 28. März 1827 kritisierte Goethe die AntigoneInterpretation Hegels wie folgt: »>Kreon handelt auch keineswegs aus Staatstugend, sondern aus Haß gegen den Toten. Wenn Polineikes sein väterliches Erbteil, woraus man ihn gewaltsam vertrieben, wieder zu erobern suchte, so lag darin keineswegs ein so unerhörtes Vergehen gegen den Staat, daß sein Tod nicht genug gewesen wäre und daß es noch der Bestrafung des unschuldigen Leichnams bedurft hätte.< >Man sollte überhaupt nie eine Handlungsweise eine Staatstugend nennen, die gegen die Tugend im Allgemeinen geht. Wenn Kreon den Polineikes zu beerdigen verbietet [...], so ist eine solche Menschen und Götter beleidigende Handlungsweise keineswegs eine Staats - Tugend, sondern vielmehr ein Staats - Verbrechen^« (Johann Peter Eckermann, Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Schaffens, in: Johann Wolfgang Goethe, Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens, Band 19, München 1986, S. 543.)

Gewand er Sophokles' Argumenten und Gegenargumenten verleiht und ob dabei das Bedeutungspotential der Sophokleischen Vorlage intakt bleibt oder geschmälert wird.

Die Frage nach den Grenzen der Macht Die existentielle Voraussetzung für die Entstehung des Mythos im allgemeinen und implizit des Antigone-Mythos wird von Sophokles im ersten Standlied des Chors formuliert: »Viel Unheimliches birgt die Welt«.51 Der Mythos stellt die poetische Antwort auf die Geheimnisse der Welt dar, unter denen im Geist der anthropozentrischen Antike der Mensch als das größte Geheimnis betrachtet wird: »Allerunheimlichstes ist der Mensch!« 52 Wie jeder Mythos hat sich auch der Antigone-Mythos zum Ziel gesetzt, auf diese Geheimnisse eine Antwort zu finden. Dabei gilt es, die Beziehungen des Menschen zu seiner Umwelt systematisch zu durchleuchten: erstens seine Beziehungen zur Natur, zweitens seine Beziehungen zur Polis. Die Natur erscheint in Sophokles' Antigone-Drama in drei ihrer Hypostasen, und zwar als Wasser: Kühn durchpflügt in Südwinds Stürmen Dieses Wesen das schwärzliche Meer, Unter den wölbigen Bogen der Wogen Kommt er sicher ans Ziel!53

als Erde: Und die nie verarmt, die nie versagt, Erhabenste Göttin, die Mutter Erde, Bedrängt er alljährlich mit wendigem Pflug, Führt auf und ab seine Rosse.54

und als Luft: Leichthinlebendes Vogelvolk Fängt er mit tückischer Schlinge ein.55 51

Sophokles, Antigone, in: Ders., Antigone. König Oidipus. Oidipus auf Kolonos. Drei Tragödien übertragen und erläutert von Ernst Buschor, München und Zürich 1979, S. 27. 52 Ebd. » Ebd. 54 Ebd. 55 Ebd.

In seiner Beziehung zur Natur wird der Mensch als Herrscher und Bezwinger geschildert. Die Grundlage dieser Macht ist der menschliche Erfindungsgeist, der sich in verschiedenen Instrumenten zur Beherrschung der Natur zeigt (dem Pflug, dem Netz, dem Joch), das menschliche Wissen im allgemeinen (»Er, der kundige Mann«' 6 ), das sich nicht nur auf konkreter Ebene, sondern zugleich auch auf einer höheren, abstrakteren in Sprache, Philosophie und Ethik manifestiert (»Sprache und Luftgespinst / Der Gedanken und Liebe zum Staate / Fand er sich selbst«57). Weder der Natur noch der Zukunft oder Krankheiten ist »der kundige Mann« in seiner Existenz ausgeliefert. Der Macht der Elemente begegnet er mit der Macht der Zivilisation (»Gegen die Fröste des Himmels, / Gegen die Pfeile des Regens, / Allberaten«'8), die Rätsel der Zukunft löst er mit Hilfe der Mantik (»Ja ratlos blickt er / Nicht in die Zukunft« 59 ). Die Wissenschaft ermöglicht ihm, Krankheiten zu besiegen (»Doch zu fliehen beschwerliche Krankheit / Hat klug er erdacht«60) und dadurch sein Leben zu verlängern. Die auf Wissen beruhende Macht des Menschen wird bei Sophokles deshalb so hymnisch verherrlicht, damit die Grenzen dieser Macht, die nicht als Allmacht verstanden werden darf, um so deutlicher ans Licht treten können. Eine solche Grenze, die selber als ein großes Weltgeheimnis empfunden wird, ist der Tod, dessen Substanz als von göttlicher Natur geschildert wird: »Nur vor dem Hades / Blieb Rettung verborgen«.61 Eine andere Grenze, welche die Macht des Menschen relativiert und nicht als Allmacht erscheinen läßt, ist das Gesetzsystem der Polis, das ebenfalls als von göttlicher Natur beschrieben wird: »des Landes Gesetze, / Götterbeschworene Rechte«.62 Als »weiser Erfindung reich, / ja das Niemalsgeahnte ersinnend«63 pendelt der Mensch frei zwischen dem Guten und dem Bösen, wobei das Gute als Beachtung 56 57 58

Ebd. Ebd.

Sophokles, Antigone, a.a.O., S. 28. Ebd. 60 Ebd. 61 Ebd. 62 Ebd. 6 3 Ebd. 59

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des Göttlichen in der Welt, das Böse als Verletzung des Göttlichen zu verstehen ist: Eilt er zum Bösen, zum Guten; Ehrt er des Landes Gesetze, Götterbeschworene Rechte, Stolz der Stadt; doch die Schmach der Stadt, wenn Er je verläßt die Pfade des Guten Im Geist der Empörung.64

Als Herrscher der Natur und zugleich als Untertan der Götter, als machtvolles Geschöpf einerseits und andererseits als ohnmächtiges Wesen schildert Sophokles den Menschen. Das Gute tut der Mensch, indem er nie vergißt, daß er sich in diese Dialektik der Macht und der Ohnmacht einzufügen hat, denn Allmacht ausüben zu wollen, den Tod wie die Gesetze der Polis nicht zu respektieren, bedeutet, sich »im Geist der Empörung« gegen die Götter zu wenden, was als Hybris schwer geahndet wird. Soviel zu den Voraussetzungen des Sophokleischen Dramas. Es gilt nun zu analysieren, wie Rolf Hochhuth mit diesem antiken »Manifest« umgeht, welche Elemente er aus dessen breitem Problemspektrum übernimmt und wie er diese Elemente historisiert. Im Mittelpunkt des Sophokleischen Reflexionen stand die Frage nach der Macht wie der Ohnmacht des Menschen in der Welt im allgemeinen und insbesondere in der Polis. Dieses Problem wird von Rolf Hochhuth übernommen und am Beispiel eines dunklen Kapitels der deutschen Geschichte illustriert. An die Stelle der antiken Polis tritt in der >Berliner Antigone< das Dritte Reich, so daß die universale Frage nach den Grenzen der Macht des Menschen in der Welt bei Rolf Hochhuth sich als historische Frage nach den Grenzen der Führermacht im Dritten Reich stellt. Während bei Sophokles sich diese Frage zunächst als offen erweist, so daß Sophokles Argumente vorbringen muß, um zu zeigen, daß Kreon als einer, der sich als Herrscher über Leben und Tod gebärdet, die göttliche Ordnung verletzt und dadurch Unrecht begeht, bedarf die von vornherein geklärte Frage nach den Grenzen der Führermacht bei Rolf Hochhuth keiner werkimma-

Ebd. 38

nenten Argumentation. Die Geschichtskenntnisse jedes Lesers machen eine solche Argumentation auf den ersten Blick überflüssig. Doch eine solche Verfahrensweise entpuppt sich im nachhinein als zweischneidig. Während Sophokles seinen die göttliche Ordnung verletzenden Kreon analytisch erfassen muß, ohne ihm jedoch dabei seine subtile Ironie und seine tiefe Verachtung zu ersparen, verzichtet Rolf Hochhuth in der >Berliner Antigone< auf ein analytisches Porträt Hitlers und aller Akteure des nationalsozialistischen Machtapparates. Was bei Sophokles tiefschürfende Argumentation war, wird bei Rolf Hochhuth zum Klischee, ja nicht selten zur leicht durchschaubaren, weil didaktisch so intendierten Karikatur. So heißt es beispielsweise, daß Hitler »kaltblaue, rasputinisch zwingende Augen« (S. 7) habe, wobei die Epitheta in dieser Beschreibung viel zu deutlich Rolf Hochhuths Aversion Hitler gegenüber suggerieren und den Faschismus ins Pathologisch-Dämonische65 projizieren, was dem aufklärerischen Gestus der >Berliner Antigone< wenig dient. An einer anderen Stelle heißt es über die Büste des Führers im Gerichtssaal: Die kolossale Bronze war unerschütterlich auf ihrem Sockel geblieben, obgleich der Luftdruck des nächtlichen Bombardements selbst Rohre im Gerichtshof aus der Wand gerrissen hatte ... (S. 6)

Rolf Hochhuths Ironie ist auch hier, insbesondere in den Epitheta »kolossal« und »unerschütterlich« überdeutlich, und die Interpunktion zwingt den Leser geradezu, diese Ironie als solche wahrzunehmen und zusammen mit ihrem Autor zu genießen. Diese Ironie gilt ausnahmslos allen Mitläufern des nationalsozialistischen Regimes, von den Totengräbern bis hin zum Staatsanwalt, von dem Pflichtverteidiger Annes bis hin zu ihrem Henker. Sie bleibt jedoch den Opfern - verständlicherweise - erspart. Hier einige Beispiele: die Totengräber, die als Zeugen vor dem Gericht Anne belasten, bestreiten »mit der zeremoniellen Umständlichkeit, die ihr Gewerbe charakterisiert, die jedoch in Zeiten des Massensterbens so prätentiös wirkte wie ein Sarg« (S. 5), die Leiche des Bruders auf dem Invalidenfriedhof gesehen zu haben. Sie drücken 65

Auch Goebbels wird in der >Berliner Antigone< dämonisiert und als »der satanische Parteigenosse Hitlers« bezeichnet (S. 18). 39

sich dabei »sehr präzise vor allem in den Nebensächlichkeiten« (ebd.) aus. Ein Beisitzer des Reichskriegsgerichts, ein Admiral, wird als »großväterlich warmherzig[...]« (ebd.) beschrieben, und seine Senilität dient der Hochhuthschen Ironie als Zielscheibe. An einer Stelle heißt es, daß der Admiral »so gerührt durch die Schilderung der [nationalsozialistischen] Totenfeier« (S. 6) war, an einer anderen, daß er »mit dem wehmütigen Wohlgefallen alter Männer diese halberloschene >Pracht von einem Mädel< da auf der Anklagebank teilnahmsvoll mit Blicken tätschelte« (S. 8). Der Staatsanwalt wird ebenfalls klischeehaft dargestellt und zur Karikatur degradiert. Er ist »ein straffgekämmter Hamburger mit einer Stimme wie ein Glasschneider« (ebd.). Annes Pflichtverteidiger »schaufelte mit rotplumpen Händen nur hilflos leere Luft; [...] Bei seinem zweiten und letzten Besuch sah er sich um nach der Zellentür, als erwarte er von dort einen Genickschuß« (ebd.). Auch dem Generalrichter, der Anne eigentlich zu retten versucht, erspart Rolf Hochhuth als einem Instrument der nationalsozialistischen Macht seine Ironie nicht. Hitler empfängt den nach Bodos Freitod »durch häufiges Weinen noch treuer gewordenen Mann persönlich« (S. 14) und zeichnet ihn - welch Ironie des Schicksals! - »mit der höchsten Stufe des Kriegsverdienstkreuzes aus« (ebd.). Annes Wärterin, obwohl sie nur ein Rädchen im System ist, wird deswegen mit etwas milderer Ironie geschildert, weil sie Anne ab und zu heimlich einen Apfel schenkt: »Sie lachte aus ihrer guten nahrhaften Brust, die deutsche Mutter, weil sie noch pfiffiger war als die Gefangene« (S. 17). Dafür kommt Rolf Hochhuths Verachtung anderen Rädchen im System gegenüber in der überdeutlichen, nicht immer wohl dosierten Ironie zum Ausdruck, mit der er sie porträtiert. In grellen, ja beinahe zu starken Farben heißt es, daß Anne nach Plötzensee zum Ort ihrer Enthauptung gebracht wurde, wo ihr ein halbidiotischer Schuster, der seit Jahren als Rentner dieses Privileg eifrig hütete, mit verschreckt geilen Augen und zutraulichem Geschwätz umständlich das Haar im Nacken abschnitt; dabei ließ er die schimmernde Flut von Annes sehr langen, blonden Haaren mit seniler Wollust durch seine riechenden Finger gehen, wickelte ihr Haar dann grinsend um einen seiner nackten Unterarme und tänzelte, die Schere unaufhörlich öffnend und schließend, um die Gefesselte herum, bis man ihn hinauspfiff wie einen Hund. (Ebd.) 40

Der solchermaßen starke Kontrast zwischen Opfer und Täter, zwischen Annes Schönheit und der Widerwärtigkeit ihres in grotesken Tönen geschilderten Peinigers läßt kaum Raum für eine Interpretation. Rolf Hochhuths Ironie allen Akteuren, genauer gesagt, allen Marionetten des nationalsozialistischen Machtapparates gegenüber entspringt sicherlich dem Wunsch des Autors, auf Hegels politisierte Interpretation des Sophokleischen Dramas mit einem unmißverständlichen Nein zu antworten. Doch diese Ironie ist nicht immer richtig dosiert und führt deshalb zur Karikatur und zum Klischee. Sie beeinflußt das Kräfteverhältnis der >Berliner Antigone< klar zugunsten der Protagonistin und ist dafür verantwortlich, daß in diesem Prosawerk eine authentische Konfrontation zwischen Anne und den Machtträgern nie stattfinden kann, denn Anne ist ein Mensch, während ihre Gegner Klischees und Karikaturen sind. Sicherlich könnte man argumentieren, daß Anne viel zu »unbedeutsam« sei, als daß sich Hitler persönlich ihrer angenommen hätte »zu diesem Zeitpunkt des Totalen Krieges« (S. 9), so wie dies bei Sophokles geschieht, wo Antigone und Kreon Gelegenheit gegeben wird, sich direkt zu begegnen. Doch auch vor dem Gericht gibt Rolf Hochhuth seiner Protagonistin keine Chance, sich zu äußern, auch wenn man im Geiste des Realismus dieses Prosawerkes annehmen darf, daß Anne vor ihren Richtern gesprochen haben muß. Auch hier könnte man einwenden, daß Annes Stummheit symptomatisch sei für die Chancen, die man als »Staatsfeind« vor der nationalsozialistischen Justiz hatte. Warum gibt es dann keine einzige Szene, in der Anne die Gelegenheit geboten wird, sich wenigstens mit einem der Machtträger in einem direkten Dialog auseinanderzusetzen, sei es auch auf niedrigster Machtstufe, z.B. mit ihrer Wärterin? Verglichen mit der Zahl der direkten Konfrontationen, die es bei Sophokles zwischen Antigone und Kreon, Haimon und Kreon oder Teiresias und Kreon gibt und die zur Entfaltung der Argumentation schrittweise beitragen, ist diese totale Absenz des direkten Dialogs bei Rolf Hochhuth nicht aus einer Stärke seines Werkkonzepts, sondern aus einer fundamentalen Schwäche entstanden. Die Schwäche besteht darin, daß Anne als literarische Gestalt keinen literarisch ihr ebenbürtigen Widersachern begegnet. Ihre Isolation wird dadurch potenziert, daß sie sich verbal nur in Briefen äußern darf, die einer

bewußt so gestalteten kitschigen Sentimentalität66 nicht entbehren und tragischerweise ihren Adressaten zum Selbstmord treiben, auch wenn sie nur die halbe Wahrheit über den verzweifelten Zustand ihrer Absenderin enthalten: »Ich sehe durchs Gitter unseren goldenen Wagen, und da weiß ich, daß Du jetzt an mich denkst, und so wird das jeden Abend sein, und das macht mich ruhig. Bodo, lieber Bodo, alle meine Gedanken und Wünsche für Dich vertrau ich ihm an, für immer. Dann weiß ich, sie erreichen Dich, wie weit wir auch getrennt sind.« (S. 12)

Und wenn sie »offiziell« spricht, z.B. indem sie ein Gnadengesuch einreicht, wird Anne ebenso wenig erhört, wie dann, wenn sie sich an Gott wendet. »Die kosmische Gleichgültigkeit, mit der [Gott] seinem Geschöpf gegenüberstand« (S. 16), entspricht der Gleichgültigkeit, mit der ihr Gnadengesuch »erst nach einer humanen Frist, wie sie in der Verordnung vom n.Mai 1937 bestimmt worden war« (ebd.), ohne Nennung der Gründe abgelehnt wurde. In der Ökonomie des Hochhuthschen Prosatextes zerstört die Ironie die Möglichkeit einer direkten Konfrontation zwischen literarisch Ebenbürtigen, sie schafft jedoch gleichzeitig Raum für eine neue Problematik, die par excellence modern ist: die Kommunikationslosigkeit, die »Stummheit« eines Menschen, der in die »angelaufene[...J Vernichtungsmaschinerie« (S. 15) der Macht gerät und dabei seine Identität einbüßt. Daß Anne nur vom Erzähler beim Namen genannt wird, während sie ansonsten als »Angeklagte« (S. 5), »Schwester eines Hochverräters« (S. 6), »dieses aufsässige Frauenzimmer« (S. 7), »Querulant[in]Die Berliner Antigone< gewinnt dadurch an historischer Konkretheit und zugleich an zeitloser Aktualität. 66

Anne lügt in diesem Brief, um Bodo zu trösten, und die kitschige Sentimentalität ihres Briefes ist dazu da, die Lüge als solche stilistisch zu signalisieren.

Es stellt sich nun die Frage, ob diese Ironie, mit der Rolf Hochhuth in der >Berliner Antigone< die nationalsozialistischen Machtträger porträtiert, nicht bereits bei Sophokles im Keim angelegt ist. Viele Elemente in Kreons Porträt sprechen dafür. Antigone nennt den Herrscher von Theben einen Toren: »Wenn du mich heute eine Törin nennst, / So spricht dies Wort doch nur der größre Tor!«67 Sein Sohn Haimon suggeriert ihm indirekt im Zwiegespräch, daß er an seiner Vernunft zweifelt (»Die Götter, Vater, pflanzen die Vernunft / Dem Menschen ein als allerhöchstes Gut / Und daß dein Reden solchen Sinn entbehrt, / Zu sagen wag ichs und vermag ichs nicht«68), ja, daß er in dem Wahn befangen sei, »daß außer deiner Meinung nichts besteht«69. Kreon hat, so sein Sohn Haimon, einen »starren Sinn«70 und spricht »wie ein kleines Kind« 71 . Diese Ironie Sophokles' Kreon gegenüber hat Rolf Hochhuth übernommen und potenziert auf alle Machtträger des nationalsozialistischen Machtapparates ausgedehnt. Ihre Präsenz in der Sophokleischen >Antigone< hat (in wesentlich schwächerer Form) denselben Effekt wie in Rolf Hochhuths >Berliner AntigoneBerliner AntigoneAntigonein eigener Person der Anatomie die Leiche zurückerstatten« (S. 7), so auslegt, »als dürfe das Mädchen den Beerdigten stillschweigend zurückbringen« (ebd.). Der Generalrichter ist sich bewußt, daß er dabei »dem Führer das Wort im Mund um[dreht]« (ebd.), um »diese Tragödie zur Farce« (ebd.) werden zu lassen. Doch ohne diese symptomatische Kluft zwischen den beiden Sprachebenen hätte es den Konflikt in der >Berliner Antigone< gar nicht gegeben. Die Geschichte Annes ist um die Möglichkeit ihrer Rettung aus der »Vernichtungsmaschinerie« (S. 15) zentriert, die automatisch angelaufen wäre, wenn diese Kluft nicht existiert hätte. Eine solche Kluft schafft einen Interpretationsraum, der als Freiraum der juristischen Argumentation, als Freiraum des Denkens überhaupt, den Generalrichter ins Zwielicht geraten läßt: »Verdächtig, dachte der Staatsanwalt, [...] verdächtig. [...] Er hätte ihn gern in die Hand bekommen, diesen Chef.« (S. 8.) Die Sprache der Diktatur erscheint bei Rolf Hochhuth in ihrer vollen Unmenschlichkeit insbesondere dann, wenn sie als Kontrast zur inneren Sprache Annes rezipiert wird, einer sanften, sehr »weiblichen« Sprache der Liebe für den Bruder wie für ihren Verlobten Bodo.

Gesetz und »Führerbefehl« Wenden wir uns nun dem Bestattungsverbot zu, das sowohl in Sophokles' Antigone-Drama als auch in Rolf Hochhuths >Berliner Antigone< eine zentrale Stellung einnimmt. Bei Sophokles verbietet Kreon unter Androhung der Todesstrafe, die Leiche des Polyneikes zu bestatten, der im Machtkampf um Theben als Landesverräter gefallen war. In der >Berliner Antigone< wird dieses Verbot als »Führerbefehl« historisiert, »politischen Verbrechern das Begräbnis zu verweigern« (ebd.). Dieser »Führerbefehl«, dem Annes wegen defätistischer Äußerungen hingerichteter Bruder zum Opfer fällt, hat bei Rolf Hochhuth eine zusätzliche Dimension, die von der Instrumentalisierung des Todes im Dritten Reich 47

Zeugnis ablegt: die Leichen der »Landesverräter« werden für die Gemeinschaft »nützlich« gemacht, indem man sie der Anatomie der Friedrich-Wilhelm-Universität als Experimentierobjekte zur Verfügung stellt. In der >Berliner Antigone< erscheint dieser menschenverachtende »Führerbefehl« als Synonym des Gesetzes. Die juristische Interpretation, die ihm der Generalrichter zu geben bemüht ist, um »diese Tragödie zur Farce« (S. 7) werden zu lassen, wird vom Staatsanwalt als »Beugung des Gesetzes« (S. 8) empfunden. Über die Legitimität dieses sogenannten »Gesetzes« wird in der >Berliner Antigone< nicht nachgedacht - es wird nur dagegen gehandelt. Der »Führerbefehl«, das ist Rolf Hochhuths Prämisse, bedarf als »Führerbefehl« keiner Analyse, denn jeder Leser weiß, daß solche Befehle diktatorischer Natur waren. Es geht Rolf Hochhuth folglich nur darum, zu zeigen, wie weit »Führerbefehle« gehen konnten. Dies ist ein wichtiger Teil seiner Geschichtslektion, doch freilich nicht der einzige. Sophokles hingegen unterzieht Kreons Bestattungsverbot einer genauen Analyse und liefert dabei Argumente, die dafür plädieren, daß ein solches Verbot ein diktatorisches war, das mit den Prinzipien der antiken Demokratie kollidierte. Richten wir kurz unsere Aufmerksamkeit auf Sophokles' Argumentation, so wie sie in der berühmten Konfrontation zwischen Antigone und Kreon gestaltet wird. Ein zentrales Argument besagt, daß Kreons Verbot nicht als Gesetz gilt und folglich auch nicht als solches beachtet werden muß. Urheber der ewigen, d.h. der normstiftenden Gesetze in der antiken Polis sind die Götter, nicht die Menschen, was im ersten Standlied des Chors deutlich hervorgehoben wird. Ein menschliches Gesetz ist daher ein Widerspruch in sich. Der Mensch hat sich in seinem Verhalten an die göttlichen, ewigen Normen zu halten, denn diese bürgen dafür, daß er dabei das Gute tut. Ein Herrscher, der Verbote erläßt, die er als Gesetze bezeichnet, mißbraucht insofern seine Macht, als er die Funktion der Götter als der ewigen Gesetzgeber usurpiert. Und wenn ein solcher Herrscher sich anmaßt, seine willkürlichen Verbote dem Volk als Gesetz aufzuzwingen, ist man als Bürger der Polis moralisch zum Widerstand verpflichtet. In den Worten des Sophokleischen Antigone heißt es:

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Nicht Zeus hat dies Verbot erlassen noch Hat Dike, die mit Totengöttern thront, Uns Menschen solche Satzung auferlegt Noch maß ich deiner Botschaft soviel bei, Daß ungeschriebnes ehernes Gesetz Der Götter vor den Menschen weichen soll; Denn dies ist nicht von heut und gestern, nein, Von Ewigkeit, den Ursprung kennt kein Mensch. In diesem Recht dürft ich aus Menschenfurcht Niemals den Göttern schuldig werden.82

Kreon, der von sich selbst Verblendete, nennt sein Bestattungsverbot ein Gesetz, was einer Selbstvergötterung gleichkommt: »Dies Mädchen zeigte seinen Frevelgeist, / Als frech sie die Gesetze übertrat«. 83 Er geht sogar noch weiter, indem er übermütig seine Herrschaft auch über den Hades, ebenfalls ein Gebiet der Götter, ausdehnt und dadurch die Grenzen der menschlichen Macht verletzt, die im ersten Standlied des Chors klar aufgezeigt wurden. Auf Antigones Hinweis, daß der Hades für Freunde wie für Feinde gleiches Recht verlange, daß - mit anderen Worten der Tod nicht instrumentalisiert werden darf, antwortet Kreon, das göttliche Geheimnis des Todes verachtend: »Nicht für den guten und den schlechten Mann!«84 Antigone versucht, einfließen zu lassen, daß der Tod als ein ewiges Geheimnis respektiert werden muß: »Wer weiß, ob dies dort drunter heilig ist?« 8 ' Doch Kreon, der taube Ohren hat und sich nie belehren läßt, beharrt auf seiner Selbstüberhebung als eines Herrschers über Leben und Tod: »Der Feind wird auch im Tode nicht zum Freund«,86 antwortet er in dem apodiktischen Ton, der für ihn charakteristisch ist. Kreons Machtausdehnung hat eine Verkehrung der göttlichen Weltordnung zur Folge: Polyneikes als Totem wird das Begräbnis verweigert, er muß als Toter unter den Lebenden weilen; Antigone als Lebender wird das Leben verweigert, sie muß lebend zu den

82

Sophokles, Antigone, a.a.O., S. 32. Sophokles, Antigone, a.a.O., S. 33. 84 Sophokles, Antigone, a.a.O., S. 35. 8 > Ebd. 86 Ebd. 83

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Toten.87 Diese tiefe Verletzung der kosmischen Ordnung kann nicht anders als schwer bestraft werden: TEIRESIAS So wisse wohl: der Sonnenwagen dreht Die schnellen Räder nur noch kurze Zeit, Dann gibst du einen deines eignen Bluts, Für jenen Toten einen Toten, hin, Weil Oben du und Unten ganz vertauschst, Ein Lebewesen schnöd ins Grab versenkst Und einen Toten seinem untern Reich Hier unbegraben, ungeweiht entziehst, An dem du keinen Teil hast, nicht einmal Die obern Götter, nur du übst Gewalt. So lauern dir die Schadengeister auf, Erinyen des Hades und Olymp, Dich zu verstricken in das gleiche Netz.

Dieses Moment der Bestrafung, das in Sophokles' Drama als Moment der Sühne gestaltet wird, die zur Wiederherstellung der verletzten kosmischen Ordnung führt, fehlt in der >Berliner Antigoneoben< erhoffte sie nichts als ihre schnelle Hinwegnahme durch eine Bombe« (S. 16). Andererseits aber handelt Anne gemäß der Grabinschrift »Apost. 5, 29« auf dem Stein, den sie als Grabmal für ihren Bruder ausgesucht hatte, ohne den Inhalt dieser Inschrift zu erahnen. Als Leser der >Berliner Anti89

Sophokles, Antigone, a.a.O., S. 55.

gone< schlägt man diese Bibelstelle auf. Sie lautet: »Man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen.« Ob Annes Seelsorger, Pfarrer Ohm, ihr den Inhalt der Inschrift im nachhinein jemals »übersetzt«90 hat, bleibt in Rolf Hochhuths Prosawerk bezeichnenderweise offen. Während Sophokles' Antigone das Bestattungsverbot aus ethischen Gründen mißachtet und diese Gründe in ihrer Konfrontation mit Kreon auch rational darlegt, handelt Anne impulsiv, ohne anfangs über ihre Gründe nachzudenken. Kein ethisches Prinzip dient ihr als Leitspruch, wenn sie ausgerechnet diesen Grabstein auswählt, den jede bewußt handelnde Antigone ausgewählt hätte. Anne folgt dabei einem subjektiven, emotionalen Impuls eher als einem moralischen Prinzip, was aber die ethische Bedeutung ihrer Tat keineswegs schmälert. Ob man berechtigt ist, in diesem Impuls den sittlichen Instinkt eines jungen Menschen zu erblicken, der, außerhalb des nationalsozialistischen Machtapparates stehend, seine moralische Integrität bewahrt, bleibt zunächst dahingestellt. Der Grabstein, »ausgeweint von Regen und Schnee« (S. 10), hatte Anne an »Mutters letztes Gesicht« (ebd.) nach ihrem Freitod denken lassen. Ein solches Movens jenseits des deklarativ Politischen verhindert die Entstehung jeglicher Heroik in Annes Porträtierung und läßt Anne als einen modernen Menschen mit all seinen Schwächen erscheinen. Im Unterschied zu Antigone ist Anne kein Modell, sondern ein Individuum. Antigones vorbildliche Heldenhaftigkeit wird von Rolf Hochhuth als politische Naivität, d.h. als menschliche Schwäche umgedeutet, was keineswegs als Vorwurf, sondern als realistische und historisch relevante Beobachtung zu werten ist. Annes politische Naivität als eines jungen Menschen evoziert, so Leopold Ahlsen, die politische Naivität der Geschwister Scholl,9' deren Revolte 90

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»Sie wollte Ohm jetzt bitten, ihr die Bibelstelle zu übersetzen, die sie dort noch mühsam herausgelesen hatte: Apost. 5, 29 - während der Name für die Augen, auch für die tastende Hand schon verloren war.« (S. 16) »Der Widerstand ist ja bei ihr kein Akt, der energetisch durch ein politisches Bewußtsein ideologischer Couleur gespeist würde. Von ideologischer Warte betrachtet [...] läßt sich hier eher >Idealismus< und kleinbürgerliche Sentimentalität oder meurotischer Anarchismus< wittern. Ein Vorbringen, das, wäre es als Einwand gemeint, freilich ziemlich töricht sein würde, denn eben dieser Zug von politischer 52

nicht zufällig in der >Berliner Antigone< auch erwähnt wird. Diese Naivität wird in dem Detail sichtbar, daß Anne »nicht mit der Todesstrafe gerechnet hatte und bei der Drohung des Generalrichters zusammengebrochen war« (S. 9). Ganz anders die Sophokleische Antigone; zu Kreon sagt sie mutig und sich der Folgen ihrer Tat vollkommen bewußt: Daß Ich einmal sterben muß, wie wüßt ichs nicht Auch ohne deine Drohung? 92

Politische Initiation, metaphysische Initiation Es muß jedoch betont werden, daß Anne keinesfalls bei ihrer anfänglichen Naivität bleibt. Dem Fallbeil der nationalsozialistischen »Gerechtigkeit« fällt keine ahnungslose, kindische Anne zum Opfer, sondern eine junge Frau, die in elf Tagen Bedenkzeit die politische »Vernichtungsmaschinerie«, den nationalsozialistischen Repressionsmechanismus, kennengelernt hat und infolge dieser Erfahrung schlagartig reif geworden ist. Die elf Tage Bedenkzeit werden für Anne zu einem Zeitraum der politischen, aber auch der metaphysischen Initiation. In der Zahl Elf als einem Symbol des Bösen im christlichen Denken93 wird die Essenz dieser Initiation sichtbar. Als politische Gefangene lernt Anne das Böse

91 95

Naivität stellt [...] ein hervorragend realistisch beobachtetes (und historisch lehrreiches) Moment der Erzählung dar. Man denke an die Geschwister Scholl und die doch wirklich reichlich verblasenen Flugblätter der >Weißen RoseBewußtsein< ... gar nichts taten.« (Leopold Ahlsen, Brief über das Arbeitsprojekt >Berliner AntigoneBerliner Antigone< die nationalsozialistische Diktatur, die Menschen das Recht auf Leben abspricht, entweder weil sie eine unbequeme Wahrheit gesagt haben, so wie dies mit Annes Bruder geschehen war,94 oder weil sie aus schwesterlicher Liebe und christlich-familiärem Pflichtgefühl gehandelt haben, so wie dies mit Anne selber geschieht. Das metaphysische Böse, das Anne in ihrer Haftzelle kennenlernt, ist das, was Georg Lukacs die »transzendentale Obdachlosigkeit« genannt hatte. Anne erlebt »die kosmische Gleichgültigkeit« (S. 16), mit der Gott »seinem Geschöpf gegenüberstand« (ebd.), sie erlebt, wie »das Unvorstellbare, ihr eigenes Totsein, vorstellbar wurde ohne Entsetzen, ja eben als die wahre verläßliche Freiheit« (ebd.), sie findet es nur noch anmaßend, nach einem Sinn für ihren Tod zu fragen. Die Bedenkzeit von elf Tagen, die ihr der Feind durch die Planierung des Gerichtshofs verschafft, wird so zum Zeitraum der Selbstreflexion wie zum Zeitraum des Selbstunterrichts in der ars moriendi: so viele müssen sterben können, Tag für Tag, und die meisten wissen nicht einmal wofür - ich werde es auch können. [...] daß so viele schon drüben sind, daß alle nach drüben kommen, das muß mir, das muß mir genügen. (S. nf.)

Eine ähnliche Initiation macht die Sophokleische Antigone deswegen nicht durch, weil sie trotz ihres jungen Alters moralisch wie psychisch vollkommen reif ist. Nicht die Jungen, etwa Antigone oder Haimon, müssen bei Sophokles umlernen, sondern paradoxerweise die Alten, allen voran Kreon und der Chor: »große Wunden / Lehren noch Greise / Die Einsicht«.95 Diesem allmählichen Reifeprozeß Annes schenkt Rolf Hochhuth seine ganze Aufmerksamkeit. Die psychologischen Beobach94

95

»Der Mann, statt dankbar zu sein, daß er als Schwerverwundeter mit einem der letzten Flugzeuge aus dem Kessel von Stalingrad ausgeflogen worden war, hatte nach seiner Genesung schamlos erklärt, nicht die Russen, sondern der Führer habe die 6. Armee zugrunde gerichtet.« (S. 6) Sophokles, Antigone, a.a.O., S. 77. 54

tungen, die er dabei sammelt, fungieren als Ersatz für die Dramatik, die in der Abwesenheit literarisch ebenbürtiger Pendants zu seiner Protagonistin?6 kaum entstehen kann. In der Gestalt Annes gelingt es Rolf Hochhuth nur bedingt, die Komplexität des Sophokleischen Konfliktes zu historisieren, der sich gleichzeitig auf parallelen Ebenen zwischen Mann und Frau, Vater und Sohn, Jung und Alt, Herrscher und Volk, Vernunft und Wahnsinn (um nur einen Bruchteil dieser Ebenen zu erwähnen) dynamisch entfaltet. Die Ergebnisse der Historisierung sind blaß und vermögen in der Ökonomie der >Berliner Antigone< nur eine sekundäre Rolle zu spielen. So wird beispielsweise die konfliktreiche Beziehung zwischen Kreon und Antigone als dem Herrscher und dem Untertan oder als dem Despoten und der Rebellin bei Sophokles auf einer Parallelebene gleichzeitig auch als konfliktreiche Beziehung zwischen Mann und Frau gestaltet. An mehreren Stellen in der Konfrontation zwischen Kreon und Antigone kommt Kreons Frauenhaß zum Ausdruck, der wohl als Reminiszenz des Kampfes zwischen matriarchalischer und patriarchalischer Weltordnung zu betrachten ist: »Bin ich denn nur ein Weib und sie der Mann, / Daß ungestraft sie so regieren darf?«, 97 fragt Kreon rhetorisch. »Nie gehorch ich einem Weib!«98 - ist eine von Kreons Handlungsmaximen, die er in seiner ihm charakteristischen übermütigen Art zu einer allgemeinen Verhaltensnorm stilisiert: Was Ordnung schafft, das muß verteidigt sein Und niemand beuge sich vor Frauenmacht! Ja, besser noch von einem Mann besiegt, Als wegen Weibertyrannei verhöhnt!" 96

97 98 99

Dieser Aspekt der >Berliner Antigone< wurde in der Literatur zu Rolf Hochhuth zwar konstatiert, seine Ursachen (hauptsächlich Rolf Hochhuths ironische Porträtierung der nationalsozialistischen Machtträger) sind jedoch bisher nicht untersucht worden: »für diese Anne gibt es als Gegenspieler keine überzeugende Persönlichkeit, die >auf ihre Weise auch recht hätte< wie der Kreon des Dramas, sondern nur das Unrecht. Die Tragik wird nicht ausgetragen zwischen zwei Menschen oder den zwei Seelen eines Menschen, sondern zwischen Geschöpf und Schöpfer.« (Nino Erne, Einführung, a.a.O., S. 8.) Sophokles, Antigone, a.a.O., S. 33. Sophokles, Antigone, a.a.O., S. 35. Sophokles, Antigone, a.a.O., S. 43.

In dem berühmten Gespräch zwischen Antigone und ihrer Schwester rät Ismene von der geplanten Tat mit dem Argument ab: »Wir müssen lernen, daß wir Frauen sind, / Zum Kampfe mit den Männern nicht bestimmt«.100 Dieses Konfliktpotential der Sophokleischen Antigone wird bei Rolf Hochhuth auf das historische Detail reduziert, daß »Frauen [...] laut Führerweisung das Beil verordnet [bleibt]« (S. 14), da »der Tod am Galgen meist schnell eintritt« (ebd.), während »der rumpflose Kopf [...] da unten noch weiter [lebt], noch lange, zwar blind, doch vermutlich bei Bewußtsein, manchmal eine halbe Stunde« (S. i3f.)· Über die Gründe wie die Hintergründe dieser potenzierten Grausamkeit der nationalsozialistischen Justiz Frauen gegenüber, die in Hitlers historisch bezeugter Misogynie101 wurzelte, wird bei Rolf Hochhuth nicht nachgedacht. Diese Grausamkeit wird statt dessen stark emotionalisiert und zum Antrieb des Konfliktes von Anne mit sich selber gemacht. Das zentriert Annes Porträt um ein endloses Pendeln zwischen Bejahung und Zurücknahme ihrer Tat, zwischen Lebensgier und Todessehnsucht, so daß das Potential ihres Porträts zum Teil unverwirklicht bleibt. Auch der starke Vater-Sohn-Konflikt des Sophokleischen Dramas, der sich als Generationenkonflikt, aber auch als Konflikt zwischen Vernunft und Wahnsinn gestaltet, wird in der >Berliner Antigone< nur leicht skizziert und zudem auf das Politische reduziert. Annes und Bodos Heirat wird von dem Generalrichter aus politischen Gründen als »Mesalliance« (S. 6) bezeichnet und abgelehnt: Anne ist die »Schwester eines Hochverräters« (ebd.). Als Anne jedoch selber zur »Verräterin« wird, bemüht sich der Generalrichter, seinem Sohn zuliebe Anne zu retten. In dieser 1

Sophokles, Antigone, a.a.O., S. 13. Ute Druvins, Die Berliner Antigone, a.a.O., S. 229, schreibt in diesem Zusammenhang: »historisch verbürgt ist, daß auf Hitlers Betreiben die gegen zwei weibliche Mitglieder der Schulze-Boysen/Harnack-Organisation ausgesprochenen Zuchthausstrafen in Todesurteile umgewandelt wurden.« Ute Druvins neigt dazu, in Kreons Frauenhaß, der auch bei Hitler dokumentiert ist, »eine historische Konstante der abendländischen patriarchalischen Gesellschaft« (S. 228) zu erblicken und meint, diesen Frauenhaß auch in der »langdauernden Kampagne zur Verunmenschlichung der RAF-Mitglieder, auffälligerweise vor allem der Frauen« (ebd.), zu sehen.

Hypostase als Retter erinnert er an die Kreon-Gestalt des Antigone-Dramas von Jean Anouilh.102 Der Generalrichter ist Teil des nationalsozialistischen Machtapparates, zugleich aber ist er Vater. Wenn er versucht, Anne zu retten, tut er es nicht aus ethischer oder politischer Überzeugung, denn das würde ihm die Aura eines Widerstandskämpfers verleihen, was er keineswegs zu sein anstrebt, sondern aus sentimentalen Gründen. Das erklärt auch die Leichtigkeit, mit der er nach Bodos Freitod Anne ihrem Schicksal überläßt, anstatt zu versuchen, wenigstens sie zu retten. Der Generalrichter ist »ein geblendeter Gefangener« (S. 7) des nationalsozialistischen Regimes, weswegen er nicht versteht, daß auch sein Sohn ein Opfer des diktatorischen Machtapparates, daß er selber Täter und zugleich Opfer der Diktatur ist. Seine Eigenschuld an dem Freitod Bodos wird der Generalrichter, anders als Kreon, nie rational bewältigen. Anders als Kreon wird er aus seinem »Wahnsinn« nichts lernen. Anstelle der heilenden rationalen Bewältigung der Ereignisse tritt in der >Berliner Antigone< die emotionale Bewältigung, die den Generalrichter paradoxerweise noch tiefer in den Machtapparat verstrickt: Hitler zeichnete alsbald den Generalrichter mit der höchsten Stufe des Kriegsverdienstkreuzes aus und empfing den durch häufiges Weinen noch treuer gewordenen Mann persönlich im Hauptquartier. Bei Tisch sagte er an diesem Tag [...], der italienische Staatschef könne sich ein Beispiel nehmen an diesem deutschen Richter, der in heroischer Weise die Staatsräson seinen familiären Gefühlen übergeordnet habe [...]. (S. I 4 f.)

Daß dieser »Heroismus« grotesk ist, versteht sich von selbst. 102

Auch Anne evoziert in ihrer Naivität die Gestalt der Anouilhschen Antigone. In Jean Anouilhs Bearbeitung des Antigone-Mythos stellen die Gegensätze Kindsein - Erwachsensein eine wichtige Erneuerung gegenüber der Sophokleischen Vorlage dar. Antigone ist bei Jean Anouilh nur ein Bild Kreons als eines Kindes, d.h. als eines kompromißlos Handelnden. Jede »erwachsene« Antigone, d.h. jede sich auf soziale und politische Kompromisse einlassende Antigone, ist Jean Anouilh zufolge ein Kreon. Die Tragik Antigones besteht bei Jean Anouilh darin, daß Antigone nicht bereit ist, auf ihre Kindheit, d.h. auf ihre Kompromißlosigkeit zu verzichten. Wer diesem »natürlichen« Werdegang nicht Folge leisten will, muß, so Jean Anouilh, sterben. 57

Tragische hamartia? Wenden wir uns nun einer der wichtigsten Dimensionen der Sophokleischen wie der Hochhuthschen Antigone-Bearbeitungen zu: ihrer Tragik. Es gilt zunächst, die Quellen der Tragik bei Sophokles zu untersuchen, um anschließend die Frage zu beantworten, wie Rolf Hochhuth diese Tragik historisiert und ob sie in historischem Gewand noch eine kathartische Funktion zu erfüllen vermag. Hegels Antigone-Deutung zufolge, die Rolf Hochhuth strikt abgelehnt hat, sind sowohl Kreon als auch Antigone schuldlos schuldig. Antigone muß [...] notwendig schuldig werden, da sie in ihrem Eintreten für das Recht der Familie gegen das Recht des Staats verstoßen, da eine Rücksichtsnahme auf das Recht des Staats aber gegen die Familie fehlen muß. I0 3

Hegel scheint bei seiner Deutung zwei gewichtige werkimmanente Argumente übersehen zu haben, die Kreon als einen Diktator und sein Handeln als willkürlich apostrophieren. Ein erstes Argument ist die Tatsache, daß nicht nur Antigone in ihrem Gespräch mit Ismene Kreon als einen Tyrannen bezeichnet104 und dabei die Meinung des thebanischen Volkes vertritt, das sich vielleicht irren könnte, sondern auch der Seher Teiresias, der nie lügt und sich nie irrt, Kreon einen Tyrannen nennt, wenn auch indirekt: »Tyrannenzunft liebt ganz gemeinen Raub«. 10 ' Ein zweites werkimmanentes Argument ist in Teiresias' Prophezeiung zu finden: der Herrscher übt Gewalt auf einem Gebiet, das sich sogar der Macht der oberen Götter entzieht. Daß Kreons Übermut selbstverschuldet, jedoch bis zuletzt korrigierbar ist, zeigen die Appelle an seine Vernunft und die damit verbundene Aufforderung zur Umkehr, die sowohl Haimon als auch Teiresias an ihn richten. Daß er ihr keine Folge leistet, hängt mit seiner monologisch strukturierten 103

Arbogast Schmitt, Bemerkungen zu Charakter und Schicksal der tragischen Hauptpersonen in der >AntigoneAntigone< (a.a.O.), zu zeigen. 108 Sophokles, Antigone, a.a.O., S. 31. 59

»Unmenschlich« ist diese Präsenz auch deswegen, weil sie keine Spuren hinterläßt: Da war keiner Hacke Schlag, Kein Aushub einer Schaufel; trocken, fest Der Boden, ohne Riß und Wagenspur Kein Zeichen ließ der Täter uns zurück. Als uns der erste Posten den Befund Vorwies, erschrak man wie vor Zauberei.109

Antigone hinterläßt keine »persönlichen« Spuren, die ihre Identität verraten könnten, weil sie nicht als Person, als Individuum, sondern überpersönlich im Namen der Götter agiert. Der Chor erahnt den Zusammenhang zwischen Antigones Tat und dem Willen der Götter, wenn er die Ereignisse als »göttlich getrieben seyn«110 bezeichnet: »Mein Herrscher, lang erwägt es schon mein Sinn, / Ob nicht die Götter hier am Werke sind.«"1 Diese einleuchtende Hypothese des Chors ist der »taube« Herrscher nicht bereit zu akzeptieren. Daß Antigone sich durch ihre Tat mit dem Göttlichen identifiziert, wird auch aus einem anderen Detail des Sophokleischen Dramas ersichtlich: der Dämon, so klagt Antigone vor den Alten Thebens, bettet sie wie einst Niobe, »Tantals Tochter, auf Sipylos' Gipfel«,112 wobei der Chor sie darauf aufmerksam macht, daß es eine Hybris sei, sich im Leben mit einer Göttin zu vergleichen: »Göttin ist sie, aus Göttergeschlecht, / Wir sind Menschen aus sterblichem Samen«."3 Diese Identifizierung ist Antigone jedoch im Tode gestattet: »Doch, sei es im Tode, / Lose der Götter zu teilen, / Ist hohes Geschick.«"4 Im Tode wird Antigone auf realer Ebene das, was sie auf idealer Ebene durch ihr Tun geworden war: eine Göttin. Diese Selbstvergöttlichung, die kein Dauerzustand ist, so wie bei Kreon, son109

Sophokles, Antigone, a.a.O., S. 23. In der Übersetzung Hölderlins lautet diese Passage: »Mein König, lange räth, es möchte göttlich / Getrieben seyn das Werk, mir das Gewissen.« (Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke, Band 5, Stuttgart 1952,8.216.) 111 Sophokles, Antigone, a.a.O., S. 24. 112 Sophokles, Antigone, a.a.O., S. 52. "3 Ebd. 110

"4 Ebd.

dern nur augenblickshaft im Moment des Todes sich verwirklicht, wird paradoxerweise nicht als frevelhaft und daher als strafbar empfunden, da Antigone sich ihres göttlichen Daseins als einer Abweichung von der Norm bewußt ist und diese Abweichung auch bitter bedauert, im Unterschied zu Kreon, der in seinem Wahn sein göttliches Dasein bejaht. Antigone klagt: »Weh, ich Unselige wohne / Nicht bei Menschen, nicht bei Leichen, / Fern von den Lebenden, fern von den Toten«.11' Dieser Ausnahmezustand, in dem sich das Außergewöhnliche, die Einmaligkeit ihres Schicksals reflektiert, ist auch dem Chor völlig bewußt, der Antigone mit den Worten zu trösten versucht: »Nach eignem Gesetz, einzig unter den Sterblichen, / Ziehst du lebend hinab«."6 Antigone ist in der Sophokleischen Tragödie jedoch nicht nur ein Instrument des göttlichen Willens, sondern zugleich auch die Tochter von Ödipus und der letzte Sproß der Labdakiden. Mit ihrem Tod erfüllt Antigone nicht nur den Willen der normstiftenden Götter, sondern sie bezahlt zugleich auch schwere Väterschulden.1'7 Als Bürgerin der Polis und zugleich als Tochter von 115

Sophokles, Antigone, a.a.O., S. 53. Sophokles, Antigone, a.a.O., S. 52. 117 Diesen Aspekt des Antigone-Dramas hat u.a. Sören Kierkegaard unterstrichen: »Bei Antigone sammelt sich die tragische Schuld in einem bestimmten Punkt: daß sie ihren Bruder begraben hat trotz des königlichen Verbotes. Betrachtet man dies als ein isoliertes Faktum, als eine Kollision zwischen schwesterlicher Liebe und Pietät und einem willkürlichen menschlichen Verbot, so würde die Antigone aufhören, eine griechische Tragödie zu sein, es wäre ein durchaus modernes tragisches Sujet. Was dem Werk in griechischem Sinne tragisches Interesse verleiht, ist die Tatsache, daß in dem unglücklichen Tod des Bruders, in der Kollision der Schwester mit einem einzelnen menschlichen Verbot das traurige Schicksal des Oedipus widerhallt, es sind gleichsam die Nachwehen, das tragische Geschick des Oedipus, das sich bis in die einzelnen Sprosse seiner Familie hinein verzweigt. Dieses Totale macht die Trauer des Zuschauers so unendlich tief. Es ist nicht ein Individuum, was untergeht, sondern eine kleine Welt, es ist die objektive Trauer, die, losgelassen, nunmehr in ihrer eigenen schrecklichen Konsequenz einherschreitet gleich einer Naturgewalt, und Antigones trauriges Schicksal ist wie ein Nachklang von dem des Vaters, eine potenzierte Trauer. Wenn daher Antigone trotz des königlichen Verbotes beschließt, den Bruder zu begraben, so erblickten wir darin nicht so sehr die freie Handlung als die schicksalhafte Notwendigkeit, welche 116

61

Ödipus unterliegt Antigone folglich sowohl der absoluten Macht der göttlichen Gesetze als auch der absoluten Macht ihres eigenen außergewöhnlichen Schicksals. Im Unterschied zu Kreon muß sich Antigone in ihrem Handeln einer objektiven Notwendigkeit unterordnen. Dabei begeht sie - im Unterschied zu Kreon keinen individuellen Fehler, keine hamartia, die sie selber zu verantworten hätte. Antigone hat keine Alternative, so wie Kreon, der frei wählen kann zwischen Vernunft und Wahnsinn. Gerade in ihrer Kollision mit Kreon als der Konfrontation zwischen Notwendigkeit und Willkür, göttlicher Objektivität und menschlicher Subjektivität, verantwortungsbewußtem Tun und vernunftwidrigem Handeln kristallisiert sich ihre spezifische Tragik. Diese Tragik hat eine kathartische Funktion, denn durch Antigones Tod wird die göttliche Ordnung wiederhergestellt, wird der Blick auf eine intakte Welt wieder freigegeben. Ihr Tod hat somit einen Sinn, der den Zuschauer moralisch befriedigt.

Zwischen profaner Tat und heiligem Ritual An mehreren Stellen des Sophokleischen Dramas wird das relevante Detail unterstrichen, daß Antigones Widerstand sich in der Zelebrierung eines symbolischen Rituals und nicht in der Durchführung einer konkreten, wirklichkeitsbezogenen Tat manifestiert hat. Die Wiederherstellung der göttlichen Weltordnung ist in Sophokles' Drama nicht das Resultat einer Handlung von immanenter Bedeutung, sondern das Ergebnis einer Handlung von transzendenter Signifikanz. Auch dieses Detail plädiert für die Richtigkeit der Hypothese, daß Antigone als Instrument des göttlichen Willens agiert, wenn sie Kreons Bestattungsverbot mißachtet. Es muß an das bisher wenig beachtete Detail erinnert werden, daß Antigone faktisch ihren Bruder Polyneikes nicht begraben hat, sondern nur »ihn rings mit trocknem Sand / Bedeckte und die Weihegüsse goß«.118 Kreon wird darüber von einem der Wächter

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die Schuld der Väter heimsucht an den Kindern.« (Sören Kierkegaard, Entweder - Oder, Köln und Ölten 1960, S. 1851.) Sophokles, Antigone, a.a.O., S. 22. 62

unterrichtet: »Der Tote war bedeckt, doch nicht vom Grab, / Durch Staub nur vor Entweihung leicht geschützt«. 1 ' 9 Den Wächtern gelingt es zwar, die konkreten Spuren des Rituals zu beseitigen, doch den ideellen Wert des Rituals können sie nicht vernichten. Antigone schreckt nicht davor zurück, das Ritual zu wiederholen und somit ihre Haltung der Diktatur gegenüber zu bekräftigen: »Dann streut sie trockne Erde, sie erhebt / Den wohlgeformten Erzkrug und begießt / Den Toten dreimal nach dem heiigen Brauch«. 120 Der Machtkampf zwischen Antigone und Kreon vollzieht sich folglich auch auf der Ebene einer Kollision zwischen heiligem Ritual und profaner Tat, Symbol und Wirklichkeit, Abstraktion und Konkretion. Dem symbolischen Ritual wird bei Sophokles eine Ordnung schaffende Kraft und eine Bedeutung zuteil, die sich jeglicher Modernisierung zu widersetzen scheinen. Insbesondere in Jean Anouilhs Antigone-Bearbeitung wird dieses Ritual, das die Protagonistin mit ihrem Leben zu bezahlen bereit ist, als sinnentleert, absurd beschrieben. Lohnt es sich, sein »konkretes«, »reales« Leben einem »symbolischen« und daher »hohlen« Ritual zu opfern, ist die Frage, die Kreon bei Jean Anouilh seinem jungen Alter ego, Antigone, stellt: Glaubst du denn wirklich an den ganzen Ritus der Beerdigung? Glaubst du wirklich an das Märchen von der irrenden Seele deines Bruders, wenn der Priester nicht ein paar Hände voll Erde auf seine Leiche wirft und einige Worte dazu leiert? Hast du schon einmal die Priester von Theben ihre Glaubensformel heruntermurmeln hören? Hast du diese traurigen, müden Angestelltengesichter gesehen mit ihren hastigen Bewegungen, wie sie die Worte verschlucken und den Toten rasch abfertigen, damit sie vor dem Mittagessen noch schnell den nächsten erledigen können? [...] Und jetzt willst du dein Leben aufs Spiel setzen, weil ich deinen Bruder diesem scheinheiligen Getue, diesem hohlen Gewäsch über seine Leiche, diesem Possenspiel entzogen habe, bei dem du als erste Schande empfunden hättest? Das ist ja verrückt!121

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Sophokles, Antigone, a.a.O., S. 23. Sophokles, Antigone, a.a.O., S. 31. 121 Jean Anouilh, Antigone. Aus dem Französischen von Franz Geiger, in: Joachim Schondorff (Hrsg.), Antigone. Sophokles - Euripides Racine - Hölderlin - Hasenclever - Cocteau - Anouilh - Brecht, München, Wien 1966, S. 3021.

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Der Sinn und die Würde des Bestattungsritus wurzeln bei Sophokles in einer göttlichen Autorität. In einer entgötterten Welt wie derjenigen, in der Jean Anouilhs Gestalten leben, erscheint jedoch dieses Ritual als verachtungswürdig. Rolf Hochhuths Protagonistin leidet an der Gleichgültigkeit, mit der Gott seinem Geschöpf gegenübersteht, »echolos wie die Zellenwand« (S. 16). Nichtsdestotrotz hält Anne am christlichen Bestattungsritus fest, auch wenn der Seelsorger ihr zu erklären versucht, »daß ein Unbestatteter nach christlicher Auffassung nicht ruhelos bleibe« (S. 12). Genau so wie Antigone bei der Ehrung ihres toten Bruders Polyneikes hinterläßt auch Anne bei der Beerdigung ihres Bruders kaum eine Spur, und ihr Handeln auf dem »alten, schon seit Generationen stillgelegten Totenacker« (S. 9) ist weniger als profane Tat und vielmehr als der Vollzug eines Rituals zu bezeichnen: Aus Scheu grub Anne nicht sehr tief. Sie hatte mit einem großen Messer die dicke Decke aus Moos und Rasen ziemlich spurlos herausgetrennt, während ihr sichernder Blick, sooft sie aufsah in die laute Nacht, über die glutsprühenden Dächer wie in eine Schmiede fiel. Ganz Berlin eilte in chaotisch geschäftigen Löschzügen zu den Bränden [...]. Die phosphoreszierte Friedrichstraße hatte sich brechend und verglühend im Feuerwind gegen den Himmel gebäumt, eine flackernde Fahne der Verwüstung. [...] Und sie spürte die große Anstrengung nicht, als sie den Körper vom Wagen hob und ihn noch einmal hob und bettete. (S. 10)

Trotz der realistischen geographischen Details (»Berlin«, »Friedrichstraße«) ist die mythisch-symbolische Atmosphäre dieser Bestattungsszene unübersehbar. Der apokalyptische Hintergrund, die fast übernatürlichen psychischen und physischen Kräfte Annes sprechen für ihr Handeln als den Vollzug eines Rituals mit transzendentem Inhalt. Über die Gründe, warum Anne am christlichen Bestattungsritual festhält, obwohl sie aufgehört hat, an den christlichen Gott als einen Beschützer zu glauben, lohnt es sich, nachzudenken. Diese Zwiespalt ist nur eine Dimension ihrer im Gefängnis erworbenen »Schizophrenie«, die aus ihr eine qualvolle Mischung aus Ja und Nein, aus Bejahung und Zurücknahme ihrer Tat, aus Antigone und Ismene gemacht hat. Während die Sopho64

kleische Antigone unversehrt in den Tod geht,121 wird Anne erst psychisch und dann physisch vernichtet. Wie in der Sophokleischen Antigone-Tragödie wird auch in der >Berliner Antigone< der Gegensatz zwischen profaner Tat und heiligem Ritual thematisiert. Annes Verstoß gegen den »Führerbefehl« wird von dem nationalsozialistischen Gerichtshof nicht als Tat mit immanenter Bedeutung, sondern als Ritual von transzendenter Signifikanz verurteilt, nur daß anstelle der göttlichen Transzendenz die politisierte »Transzendenz« des vergotteten Führers auftritt. Anne behauptet vor dem Gericht, sie hätte die Leiche ihres Bruders »sofort nach dem Fliegerangriff ohne fremde Hilfe aus der Anatomie herausgeholt und auf den Invalidenfriedhof gebracht« (S. 5), was mit einem religiösen Begriff als politisches Verbrechen apostrophiert wird: »Die Entweihung eines Gemeinschaftsgrabes durch die Leiche eines von diesem Gerichtshof abgeurteilten Offiziers müsse [...] als strafverschärfend gewertet werden.« (S. 6) Genau so wie die Wächter Kreons versuchen die Vertreter der nationalsozialistischen Justiz, das symbolische Ritual durch eine profane Tat rückgängig zu machen. Die profane Tat ist laut »Führerbefehl« Annes Hinrichtung: das Mädchen soll »in eigener Person der Anatomie die Leiche zurückerstatten« (S. 7). Der Auslegung dieses Befehls zufolge, die der Generalrichter durchzusetzen versucht, »dürfe das Mädchen den Beerdigten stillschweigend zurückbringen« (ebd.). Nur ist die ideelle Substanz eines solchen Rituals unzerstörbar in ihrer Transzendenz und entzieht sich sowohl bei Sophokles als auch bei Rolf Hochhuth der Macht der Diktatur. Und genau auf diese Transzendenz gründet bei Sophokles wie bei Rolf Hochhuth der moralische Sieg der Rebellin über die Diktatur, auch wenn Antigone wie Anne diesen Sieg mit dem Leben bezahlen muß. Bei Sophokles wird durch Antigones Tat die Rechtsordnung der Polis wiederhergestellt und das Böse aus der Welt beseitigt. Eine ähnliche Wirkung hat Annes Tat bei Rolf Hochhuth nicht. Ganz im Gegenteil: Anne ersetzt mit ihrer Leiche, die unbestattet ;

»Doch gehst du gerühmt, hoher Ehre voll, / Hinunter ins Dunkel der Toten. / Kein Leiden hat dich versehrt, / Kein Henker erhob sein Schwert«. (Sophokles, Antigone, a.a.O., S. 51.)

in der Anatomie liegen wird, die Leiche ihres hingerichteten Bruders. Ihre Tat, durch die momentan ein Unrecht beseitigt wird, schafft nur Raum für einen neuen Rechtsbruch durch die diktatorische Justiz. Annes Tat, anstatt daß sie das Böse aus der Welt schafft, liefert nur dem Bösen den Nährboden, auf dem es weiter gedeihen kann. Für Annes Leiche, die unbegraben in der Anatomie liegen wird, wird sich niemand einsetzen. Das, wogegen Anne gekämpft hat, macht sie sich durch ihre Tat zum Inhalt des eigenen Schicksals. Die momentane Beseitigung des Unrechts führt somit bei Rolf Hochhuth zu einer Potenzierung des Unrechts. Annes Tat bewirkt nichts Konkretes auf der Ebene der historischen Wirklichkeit, so wie das Attentat vom 20. Juli 1944 auf der Ebene der historischen Wirklichkeit nicht zum Sturz des nationalsozialistischen Regimes geführt hat. 123 Doch auch wenn sie nichts Konkretes bewirkt, ist Annes Tat nicht als absurd zu bezeichnen, genau so wenig wie man das Attentat vom 20. Juli 1944 als absurd bezeichnen darf. Der Sinn ihrer Tat ist nicht in ihrer Immanenz, sondern in ihrer Transzendenz als der einzig moralisch vertretbaren zivilen Haltung der Diktatur gegenüber zu suchen. Theoretisch hätte Anne die Möglichkeit gehabt, frei zu wählen zwischen Leben und Tod; theoretisch könnte man in ihrem Fall wie im Falle Kreons von ihrer tragischen Selbstschuld, ihrer hamartia, sprechen. Auf der Ebene der zivilen Praxis unterliegt jedoch Anne in ihrem Handeln, genau so wie die Sophokleische Antigone, einer höheren, objektiven Notwendigkeit. Diese Notwendigkeit, die Sophokles nicht nur auf Antigones Status als einer Bürgerin der Polis, sondern auch auf die Macht ihres außergewöhnlichen Schicksals gegründet hat, historisiert Rolf Hochhuth als höchste bürgerliche Pflicht, die zur Zeit der nationalsozialistischen Diktatur von den wenigsten erfüllt wurde. Im Unterschied zur Sophokleischen Antigone wird die Tragik Annes in einem doppelten Sinn relativiert: erstens dadurch, daß Anne nur ein Beispiel ist von Hunderten von deutschen Frauen, die von der nationalsozialistischen Justiz zum Tod durch die I2

5 Auf diese Verbindung wird in der >Berliner Antigone< ausdrücklich hingewiesen. Der Henker Annes, der Pferdeschlächter Röttger, wird »fast auf den Tag genau, ein Jahr später den Feldmarschall von Witzleben und elf seiner Freunde in Drahtschlingen erwürg[en].« (S. 18) 66

Guillotine verurteilt wurden, worauf im EPITAPH der >Berliner Antigone< auch hingewiesen wird,124 und zweitens dadurch, daß angesichts des Ausmaßes der allgemeinen Katastrophe zum Zeitpunkt des »totalen Krieges« ihr Leiden an Erschütterungskraft verliert, um jedoch an historischer Relevanz zu gewinnen. Horribile dictu: Im Unterschied zur Tragik Antigones ist die Tragik Annes in ihrem historischen Kontext etwas Alltägliches, nichts Außergewöhnliches. Das relativiert zwar Annes individuelle Tragik, um dadurch die allgemeine Tragik einer geschichtlichen Epoche um so deutlicher hervortreten zu lassen. Die Frage, ob diese letzten Endes unpersönliche Tragik einer gesamten Epoche in der >Berliner Antigone< noch eine kathartische Funktion zu erfüllen vermag, muß zunächst offen bleiben.

Die Freiheit der Gefangenen Weder Antigone noch Anne enden als Opfer der Tyrannei, auch wenn beide infolge diktatorischer Befehle ihre physische Freiheit verlieren. Sowohl Antigones als auch Annes Tragik erreichen ihren Höhepunkt in dem Augenblick, in dem beide Heldinnen ihre geistige, subjektive Freiheit erkämpfen, die den Verlust der physischen Freiheit zu kompensieren vermag. So sterben beide Heldinnen innerlich frei. Ihr Tod krönt eine frei getroffene Entscheidung, die sich dem Machtbereich der Diktatur entzieht. Antigone wird zwar auf Kreons Befehl an einen »menschenleeren Ort« 12 ' gebracht und »lebend [...] ins Felsgelaß«126 gesperrt, dort begeht sie jedoch Selbstmord: »Da, im hintersten Verließ / Sieht man die Braut am Halse aufgehängt / In ihres Schleiers selbstgedrehtem Seil«.127 Antigones Selbstmord setzt nur das in die Praxis um, was sie theoretisch für sich entschieden hat im Moment, wo sie dem 124

»EPITAPH / Die Berliner Anatomie / erhielt in den Jahren 1939-1945 / die Körper / von 269 hingerichteten Frauen / Professor Stieve im >Parlament< / am 20. Juli 1952,/dem 8. Jahrestag / des gescheiterten Attentats / auf Hitler« (S. 18) 125 Sophokles, Antigone, a.a.O., S. 49. 126 Ebd. 127 Sophokles, Antigone, a.a.O., S. 70. 67

diktatorischen Bestattungsverbot Widerstand geleistet hat. Ihr Tod ist ihre freie Entscheidung - theoretisch erfaßt im Moment des Widerstandes und im Moment des Freitodes konkretisiert. Da Sophokles Antigones innere Freiheit als eine absolute schildert, kann die Konsequenz dieser Freiheit - der Tod - selber nur als etwas Absolutes geschildert werden. Antigones Selbstmord stellt die Voraussetzung ihrer Vermählung mit Haimon dar, der ebenfalls Selbstmord begeht und in der augenblickshaften Umarmung mit Antigone eine blutige Hochzeit feiert, in der Eros und Thanatos ineinander münden:128 Mit letzter Kraft Schlingt um die Braut er seinen matten Arm Und röchelnd gießt er auf ihr bleiches Haupt Des roten Blutes einen jähen Stoß.129

Haimons Blut ist Symbol der Liebe und zugleich des Todes, des Beginns wie des Endes seiner erotischen Begegnung mit der jungfräulichen Antigone. Es ist ein Sinnbild der subjektiven, unzerstörbaren Freiheit, welche die Götter dem Individuum als ein Produkt des höchsten Gutes, der Vernunft, gegeben haben. Erst in seinem Bezug zur inneren Freiheit der Heldin entfaltet Antigones Tod seine vollendete Tragik, und erst in diesem Bezug erlebt der Rezipient des Sophokleischen Antigone-Dramas die reinigende Kraft des Tragischen. Dasselbe kann auch von Annes Tod behauptet werden. Anne wird genau so wie Antigone lebendig begraben, indem sie ins Gefängnis hineingesperrt wird. Ihre Haftzelle entspricht dem

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Die uralte Verbindung zwischen Eros und Thanatos, die sich in dem Selbstmord Antigones und Haimons vollzieht, wird auch in Jean Anouilhs Antigone-Bearbeitung thematisiert: »BOTE [...] Lang betrachtet Hämon den alten zitternden Mann am anderen Ende des Grabes, und dann - ohne daß ein Laut über seine Lippen kommt stößt er sich das Schwert in den Leib - taumelt - klammert sich im Stürzen an Antigone und umarmt sie - in einem riesigen purpurnen See. / KREON [...] Ich habe sie nebeneinander legen lassen. [...] Sie schlafen - wie zwei Liebende am Morgen ihrer ersten Nacht. Sie haben es hinter sich.« (Jean Anouilh, Antigone, a.a.O., S. 3201.) Sophokles, Antigone, a.a.O., S. 71. 68

»Felsgelaß«, in das Antigone auf Befehl Kreons hineingebracht wurde. Anders als Antigone, die Selbstmord begeht, bleibt bei Anne der Selbstmord nur ein Gedanke, den sie aus subjektiven wie aus objektiven Gründen nicht in die Praxis umsetzen kann: Einmal splitterte die Scheibe in ihre Zelle - es war der Augenblick, sich die Adern zu öffnen, aber Hoffnung und Schwäche hinderten sie. Und als sie es endlich gekonnt hätte, da war Tag, und ihre Wärterin [...] entfernte mit geradezu antiseptischer Sorgfalt auch den winzigsten Splitter, nicht nur aus Annes Käfig, sondern sie fand bei der »Filzung«, wie sie die Leibesvisitation nannte, auch das scherenspitze Glas, das Anne als letzte Waffe gegen ihre äußerste Entwürdigung in ihrem Haar unter dem gestreiften Kopftuch versteckt hatte. (S. i6f.)

Anders als Antigone begeht Anne Selbstmord in einem metaphorischen Sinn, indem sie sich auf keine Kompromisse mit der nationalsozialistischen Justiz einläßt, um sich vor dem Tod zu retten, sondern »zermürbt und leise [...] auf ihrer Lüge [beharrt]« (S. 6). Ihre Kompromißlosigkeit hat jedoch im Unterschied zur Haltung Antigones nicht den Nimbus des Heroischen. Sie wird als Potentialität ihres moralischen Profils in dem Augenblick zur Wirklichkeit, in dem Anne von dem Selbstmord Bodos an der Ostfront erfährt. Mit ihrer Kompromißlosigkeit, die zum Tode führt, vollzieht Anne, genau so wie Antigone, ihre symbolische Hochzeit mit Bodo. Dazu entscheidet sie sich, nachdem Pfarrer Ohm ihr erklärt, aus welchem Grund Bodo Selbstmord begangen hat: »Er wollte zu Ihnen ... verstehen Sie!« sagte der Geistliche, und seine Augen zuckten. Er mußte es wiederholen: »Bodo wollte bei Ihnen sein. Er glaubte doch - er dachte, Sie seien schon ... tot.« (S. 14)

Annes Haftzelle, zunächst ein Ort des Todes, wird genau so wie das Felsgelaß Antigones zu ihrem symbolischen Brautgemach. Beide Heldinnen verwandeln durch ihre Entscheidungskraft einen Ort der physischen Gefangenschaft in einen Ort der geistigen Freiheit. Wie im Felsgelaß Antigones begegnen sich auch in Annes Haftzelle Eros und Thanatos augenblickshaft in einer symbolischen Hochzeit, die mit dem Blut des Brautpaares besiegelt wird. Auf die Historisierung des Mythos in der >Berliner Antigone< ist das relevante Detail zurückzuführen, daß anders als in der Sophokleischen Antigone-Tragödie in dieser blutigen Hochzeit Braut 69

und Bräutigam durch Tausende von Kilometern voneinander getrennt sind. Die Freiheit, die sich in der Liebe wie im Tod als ideeller Wert verwirklicht, erlebt Anne in ihrer Zelle oft, wohingegen dieses Erlebnis der Sophokleischen Antigone nur augenblickshaft im Moment ihres Freitodes zuteil wird. Von Anne heißt es: Und wenigstens innerlich riß sie sich los von Wand und Gitter, heraus aus der Zelle - und sie war frei, solange sie draußen an den Streifen Erde dachte, an den heidnisch alten, schon seit Generationen stillgelegten Totenacker, rings um die noch mit Feldsteinen aufgetürmte Marienkirche, im ältesten Stadtteil, ganz nahe der Universität. (S. yt.)

Auf diese Erlebnisse, welche ihre Erfahrung der »transzendentalen Obdachlosigkeit« synthetisieren, gründet Annes Stärke angesichts des Todes, den sie »als die wahre verläßliche Freiheit« (S. 16) empfindet. Diese innere Stärke kontrastiert mit Annes »körperliche[r] Schwäche« (S. 15), genau so wie ihre innere Freiheit und ihre vormalige Tatbereitschaft mit der physischen Gefangenschaft und der Passivität kontrastieren, in der sie ihre letzten Tage verbringt: Ohne Auflehnung ließ Anne, gefesselt seit der Urteilsverkündung, sich auch noch die Füße an eine kurze Kette legen und mit sechs anderen jungen Frauen, von denen eine noch ein Kind während der Haft geboren hatte, zum Auto nach Plötzensee bringen. (S. 17)

»Ein dialektisches Kalkül«? Antigones Klage über ihr tragisches Schicksal, die sie auf dem Weg zum Grab anstimmt (»O Grab! Mein Brautgemach!« 130 ), bringt eine Rechtfertigung ihrer Tat zum Ausdruck, die als Rücknahme ihrer theonomen Haltung verstanden werden kann:

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Sophokles, Antigone, a.a.O., S. 5. 70

Denn nie hätt ich als Mutter für den Sohn, Als Gattin für den toten Ehgemahl Dem Staat getrotzt und solche Tat vermocht. Ihr wißt, für welche Satzung dies geschah: Für toten Gatten findet man Ersatz, Ein neuer Gatte zeugt den neuen Sohn, Doch da der Tod mir beide Eltern nahm, Wie sproßte mir ein neuer Bruder auf? Nach solcher Richtschnur traf ich meine Wahl, Beschloß Verrat an Kreons Machtgebot Und schwerste Tat, mein brüderliches Haupt!13'

In seinem Gespräch mit Eckermann vom 28. März 1827 äußerte sich Goethe dazu: »So kommt in der Antigone eine Stelle vor, die mir immer als ein Flecken erscheint, und worum ich Vieles geben möchte, wenn ein tüchtiger Philologe uns bewiese, sie wäre eingeschoben und unecht.« [...] »Nachdem nämlich die Heldin im Laufe des Stückes die herrlichsten Gründe für ihre Haltung ausgesprochen und den Edelmut der reinsten Seele entwickelt hat, bringt sie zuletzt, als sie zum Tode geht, ein Motiv vor, das ganz schlecht ist und fast ans Komische streift.« [...] »Dies ist wenigstens der nackte Sinn dieser Stelle, die nach meinem Gefühl in dem Munde einer zum Tode gehenden Heldin die tragische Stimmung stört, und die mir überhaupt sehr gesucht und gar zu sehr als ein dialektisches Kalkül erscheint. - Wie gesagt, ich möchte sehr gerne, daß ein guter Philologe uns bewiese, die Stelle sei unecht.«' 3J

Die Argumente für und gegen die Authentizität dieser Sophokleischen Verse, »die ja völlig unverdächtig überliefert sind«,' 33 wurden in der Sekundärliteratur zu Sophokles ausführlich diskutiert.'34 Über Antigones Klage, deren Echo auch in der >Berliner Antigone< deutlich wahrnehmbar ist, darf meines Erachtens nicht nur in der Ökonomie des Einzelporträts der Heldin nachgedacht

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Ebd.

Johann Peter Eckermann, Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Schaffens, a.a.O., S. 544. 133 Arbogast Schmitt, Bemerkungen zu Charakter und Schicksal der tragischen Hauptpersonen in der >AntigoneAntigone< wird häufig als »das erste Widerstandsdrama der Weltliteratur«140 bezeichnet. Auch wenn man immer gewußt hat, »daß die griechische Tragödie als Veranstaltung der Polis ganz allgemein eine politische Veranstaltung war«,'41 ist das politische Potential des Sophokleischen Dramas erst »mit dem Aufkommen des Regietheaters«141 in den /oer Jahren wiederentdeckt worden. Bezeichnenderweise wurde Sophokles' >Antigone< immer in politisch bewegten Zeiten aufgeführt bzw. verboten.14' Anders als in ihrer Rezeption auf der Bühne wird die Sophokleische >Antigone< in der Philosophie wie in der Literatur viel früher als politisches Drama rezipiert. Hegels Deutung, die leidenschaftliche Kontroversen ausgelöst hat, stellt nur ein Beispiel für ihre politische Rezeption dar. Ein anderes Beispiel begegnet in Hölderlins >Anmerkungen zur AntigonaeBerliner Antigone< entfaltet sich jedoch nicht nur werkimmanent, sondern vor allem im Dialog Rolf Hochhuths mit seinen Lesern. Sie ist mit anderen Worten nicht nur als produktionsästhetisches, sondern eminent als rezeptionsästhetisches Produkt zu betrachten.' 52 Rolf Hochhuth lädt 150

Ute Druvins, Die Berliner Antigone, a.a.O., S. 220. Lutz Lenz, Eine moderne Antigone. Zu Hochhuths tragischer Novelle, a.a.O., S. 169. IJZ Seltsamerweise wird gerade dieses antiautoritäre Verfahren Rolf Hochhuths, in dem ich die Stärke seiner politischen Aufklärungsarbeit erblicke, dem Autor der >Berliner Antigone< zum Vorwurf gemacht. So heißt es beispielsweise bei Ute Druvins in ihrem mehrfach zitierten 151

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seinen Leser zur aktiven Mitgestaltung der >Berliner Antigone< ein, im Moment, wo er ihm beispielsweise den Hinweis auf die Grabinschrift »Apost. 5, 29« gibt, ohne ihm den Inhalt dieses Bibelspruches zu verraten. Er fordert den Leser zum Nachdenken auf im Moment, wo er ihn auf die Zusammenhänge zwischen der Hinrichtung seiner »fiktiven« Anne und der Exekution der »realen« Widerstandskämpfer aufmerksam macht, die am 20. Juli versucht haben, das Hitler-Regime zu beseitigen. Er überläßt seinem Leser die politischen Schlußfolgerungen aus der >Berliner AntigoneBerliner Antigone< auf, indem er ihn auf die Zusammenhänge zwischen der nationalsozialistischen Vergangenheit einiger seiner Protagonisten und ihrem jetzigen Wohlstand aufmerksam macht und diese Zusammenhänge entlarvend auf die Gesamtsituation der Bundesrepublik mit ihrer unbewältigten Vergangenheit überträgt.153 Nicht in der passiven Konsumierung der >Berliner Antigone< entfaltet sich also die politische Bedeutung dieses Werkes, sondern im Akt ihrer aktiven, reflexiven Mitgestaltung durch den Leser. Die aktive Teilnahme des Rezipienten an der Gestaltung der politischen Signifikanz der >Berliner Antigone< ist Teil einer Aufklärungsstrategie, die der Didaktiker Rolf Hochhuth mit antiautoritärem Impetus entwickelt. Rolf Hochhuth ist ständig bemüht, in der Schilderung des Schicksals Annes ein Maximum an Objektivität zu bewahren, welche die Glaubwürdigkeit seines auktorialen Erzählers zu untermauern vermag, denn allein auf der Grundlage einer solchen vertrauensbildenden Objektivität kann sich der Dialog zwischen dem Produzenten und dem Rezipienten Aufsatz, a.a.O., S. 220: »Dem Leser wird zugemutet, selbst herauszufinden, daß Annes Widerstand durch das Ausmaß der faschistischen Gewalt ihren politischen Sinn erhält.« IJ J V o n Annes Hinrichtung heißt es: »Wer da, neben dem dreibeinigen Tischchen mit Schnaps und Gläsern, als Augenzeuge Dienst tat, der Admiral, der Staatsanwalt, ein Oberst der Luftwaffe als Vertreter des Generalrichters und ein Heeresjustizinspektor, der schwieg sich aus nach dem Krieg, um seine Pension nicht zu gefährden.« (S. 18) 77

eines politisch relevanten Textes produktiv entfalten. Zur Strategie des objektiven Erzählens gehören beispielsweise die peinlich genauen, mathematisch exakten Details vieler Beschreibungen, deren Überzeugungskraft außer Zweifel steht. Hier ein einziges Beispiel: Vor Gericht aber hatten zwei Totengräber [...] bestritten, unter den 280 Verbrannten oder Erstickten, die bis zu ihrer Registrierung unter Bäumen auf Kreppapier lagen, den unbekleideten, nur mit einer Plane bedeckten Körper eines jungen Mannes gesehen zu haben. (S. 5)

Rolf Hochhuths ironischer Kommentar dazu: »Ihre Aussagen hatten Beweiskraft« (ebd.), läßt sich gewissermaßen auch auf die Erzählstrategie der >Berliner Antigone< anwenden. Teil der objektiven Erzählstrategie sind außerdem die geographischen Details der >Berliner AntigoneBerliner Antigone< übernimmt als wichtiges Moment der politischen Aufklärung, der er unterzogen wird, die Ironie und die Verachtung Rolf Hochhuths dem Nationalsozialismus gegenüber. Ihm wird eine Haltung bei-

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Auf die expressionistischen Züge der Hochhuthschen Kriegsbeschreibungen macht Nino Erne in seiner Einführung, a.a.O., S. 8, aufmerksam.

gebracht, die später programmatisch für die gesamte Literatur der nationalsozialistischen Vergangenheitsbewältigung werden sollte.

Vergangenheitsbewältigung Die Fragen, die im Mittelpunkt dieses Kapitels standen, bezogen sich auf den Zweck und auf die Mechanismen der Historisierung des antiken Mythos wie auf die Art und Weise, wie diese Historisierung sich zu einer politischen Aussage kristallisiert. Es hat sich herausgestellt, daß in der >Berliner Antigone< der Zweck der Historisierung in der nationalsozialistischen Vergangenheitsbewältigung zu suchen ist. Die Vergangenheitsbewältigung vollzieht sich in diesem Prosawerk Rolf Hochhuths nicht nur als Schilderung von bislang unbekannten Fakten, die das Ausmaß des faschistischen Terrors zu dokumentieren vermag, sondern vor allem als Bildung einer zivilen Haltung dem nationalsozialistischen Terror gegenüber, welche die Entstehung künftiger diktatorischer Systeme zu verhindern imstande ist. Der antike AntigoneMythos fungiert in der >Berliner Antigone< als Distanz schaffender Faktor, der eine reflexive, kritische Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit ermöglicht. Er liefert das Anschauungsmaterial, das im Aufklärungsprozeß die kulturell ausgewiesene Grundlage für die luzide Betrachtung der Geschichtsereignisse zur Zeit des Dritten Reiches bildet. Den Mythos zu historisieren und ihm in dieser historischen Form eine politische Aussage abzugewinnen, setzt die möglichst genaue, objektive Rekonstruktion einer geschichtlichen Epoche voraus. Eine solche Rekonstruktion wird bei Rolf Hochhuth mit Mitteln der dokumentarischen Literatur erreicht. Rolf Hochhuth appelliert an die Autorität der Archivdokumente wie an die Autorität der exakten geographischen, sprachlichen oder juristischen Details, um ein möglichst genaues historisches Bild des Dritten Reiches entstehen zu lassen. Daß dabei die Subjektivität des Betrachters nicht völlig ausgeklammert werden kann, daß diese Subjektivität, die sich bei Rolf Hochhuth als Ironie manifestiert, den Blick auf die Faktizität und die Komplexität der Geschichte zuweilen trübt, versteht sich von selbst. Diese Subjek79

tivität verleiht jedoch dem historischen Diskurs der >Berliner Antigone< den Status eines literarischen und letztendlich fiktiven Werkes, weswegen man sie als solche auch bejahen und mit spezifischen literaturwissenschaftlichen Instrumenten analysieren muß. Die Historisierung des antiken Mythos impliziert die Hinterfragung seiner Grenzen, die Eliminierung seiner Ambiguitäten, die Relativierung seiner Werte, die Metaphorisierung seiner Elemente. Sie impliziert die Entsakralisierung des Übersinnlichen und des Transzendenten, die Potenzierung wie die Relativierung seiner Tragik. Die Historisierung des antiken Mythos hat in Rolf Hochhuths >Berliner Antigone< Reduktionen seines Bedeutungspotentials, Ausklammerung seiner analytischen Momente zugunsten des Klischees und der Karikatur zur Folge. Durch die Historisierung des antiken Mythos weicht in der >Berliner Antigone< ein ewiges menschliches Modell, ein Ideal, einem zeitlich bedingten, konkreten Individuum mit all seinen Stärken und Schwächen. Die Historisierung des Mythos entfernt uns momentan von seinem ewigen Dasein, um uns dieses Dasein in der Konkretion der Geschichte näher zu bringen und es verständlicher zu machen. Dadurch vermag der historisierte Mythos zur Aufklärung des Lesers, insbesondere zu seiner politischen Aufklärung, beizutragen. Ein letzter Blick auf den Namen der antiken Heldin Antigone und den Namen ihres modernen Pendants Anne bringt die Historisierung und die dadurch erreichte Politisierung des antiken Mythos in der >Berliner Antigone< metaphorisch zur Darstellung. In dem Namen Antigone ist der Name Annes in einem doppelten Sinn präsent: als Vorname eines historischen Individuums, aber auch als Angeklagte, d.h. als Mensch, der sich als geschichtliches Subjekt in einem politischen Kontext behaupten muß.

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II. Politisierung durch Ästhetisierung: Günter Kunerts Gedicht >Ikarus 64
FattstIkarus 64< Günter Kunerts Gedicht >Ikarus 6^< erschien 1966 in dem Band >Verkündigung des WettersIkarus 6^< näher zu betrachten, zumal sie bisher nie analysiert wurden, auch wenn >Ikarus 6^< zu den relativ häufig untersuchten Gedichten dieses Autors zählt,' ja von dem Dichter selber* interpretiert wurde. Die Variante des Gedichtes aus dem Jahr 1965 lautet: Günter Kunert, Ikarus 64, in: Ders., Verkündigung des Wetters, München 1966, S. 49-50. Im folgenden wird das Gedicht nach dieser Ausgabe zitiert. Alle Hervorhebungen im Kommentar zu diesem Gedicht stammen von mir. Zu diesen Untersuchungen, auf die zurückzukommen sein wird, zählten u.a.: der Aufsatz von Birgit Lermen, »Über der ganzen Szenerie fliegt Ikarus«. Das Ikarus-Motiv in ausgewählten Gedichten von Autoren aus der DDR, in: Dieter Breuer (Hrsg.), Deutsche Lyrik nach 1945, Frankfurt am Main 1988, S. 284-305; die exemplarische Analyse des Gedichtes >Ikarus 6Ikarus 6^< von

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Fliegen ist schwer. Jede Hand klebt am Gehebel von Maschinen Geldesbedürftig. Geheftet die Füße An Gaspedal und Tanzparkett. Fest eingenietet Der Kopf im stolzen, im fortschrittlichen, Im vorurteilsharten Sturzhelm. Ballast: Das mundwarme Eisbein In der Familiengruft des Magens. Ballast: Das finstere Blut, Gestaut an hervorragender Stelle Gürtelwärts. Töne Erster zweiter neunter fünfundvierzigster Symphonien Ohrhoch gestapelt zu kulturellem Übergewicht. Verpulverte Vergangenheit In handlichen Urnen verpackt. Tankweis Tränen im Vorrat, unabwerfbare: Fliegen ist schwer.

3 Dennoch breite die Arme aus und nimm Einen Anlauf für das Unmögliche. Nimm einen langen Anlauf, damit du Hinfliegst Zu deinem Himmel, daran Alle Sterne verlöschen. 4 Denn Tag wird. Ein Horizont zeigt sich immer. Nimm einen Anlauf. 5

Günter Kunert, in: Ernst-Ullrich Pinkert (Hrsg.), Die Mauersegler. Annäherungen an die moderne deutsche Lyrik. Arbeitspapiere des Instituts für Sprache und interkulturelle Studien, Universität Aalborg/ Dänemark, Nr. 17/92, S. 64-68. Günter Kunert, Paradoxie als Prinzip, in: Ders., Warum schreiben? Notizen zur Literatur, München, Wien 1976, S. 275-285. Günter Kunert, Ikarus 64, in: ndl/neue deutsche literatur, 13. Jahrgang (1965), Heft 8, S. 99-100.

Zwischen den beiden Texten gibt es formale wie inhaltliche Unterschiede. Die formalen Unterschiede sind im Arrangement der Verse zu suchen (1965: »Zu deinem Himmel, daran / Alle Sterne verlöschen« vs. 1966: »Zu deinem Himmel / Daran alle Sterne verlöschen«), das in der Erstfassung holpriger und in der Endfassung flüssiger wirkt, sowie in der Interpunktion. Hier sind einige Unterschiede hauptsächlich bei der Verwendung des Doppelpunktes und des Kommas zu beobachten. Doppelpunkte in der Endfassung (1966: »Fliegen ist schwer: /Jede Hand klebt am Gehebel von Maschinen: / Geldesbedürftig« vs. 1965: »Fliegen ist schwer. / Jede Hand klebt am Gehebel von Maschinen / Geldesbedürftig«) suggerieren kausale Zusammenhänge, unterstreichen die poetische Argumentation, tragen zu deren nachvollziehbarer Logik bei. Die Struktur der Endfassung wird dadurch an manchen Stellen rationaler, klarer. Ganz anders geht Günter Kunert in den beiden Gedichtfassungen mit dem Komma um. Während der Dichter in der Variante von 1965 noch zwischen einer korrekten und einer die geltenden Normen verletzenden Interpunktion schwankt, und beispielsweise Aufzählungen bald durch Kommata voneinander trennt (»Der Kopf im stolzen, im fortschrittlichen, / Im vorurteilsharten / Sturzhelm«), bald ohne jegliches Interpunktionszeichen aneinanderreiht (»Erster zweiter neunter fünfundvierzigster Symphonien«), um somit ein Wachstum zu suggerieren, das außer Kontrolle geraten ist, gehorcht er in der Endfassung des Gedichtes einem eigenwilligen Interpunktionssystem, aus dem Kommata radikal verbannt wurden (»Der Kopf im stolzen im fortschrittlichen / Im vorurteilsharten / Sturzhelm«). In der Erstfassung des Gedichtes hatte Günter Kunert noch enklitische Attribute von dem jeweiligen S u b s t a n t i v (»Das finstere B l u t, / Gestaut«; » T r ä n e n im Vorrat, unabwerfbare«), oder Hauptsätze und Nebensätze (»Nimm einen langen Anlauf, damit du l hinfliegst l "Zu deinem Himmel«} durch korrekt gesetzte Kommata voneinander getrennt. In der Endfassung verzichtet er jedoch auf die übliche Zeichensetzung und entscheidet sich für eine subjektive, sehr persönliche Interpunktion, die die Konventionen der Schriftsprache bewußt verletzt und die Verständlichkeit mancher Konstruktionen erschwert. In der Endfassung des Gedichtes >Ikarus 6^< kollidieren somit zwei entgegengesetzte Bewegungen. Einerseits 84

ist hier die Tendenz zu beobachten, durch den Doppelpunkt Klarheit in der Argumentation zu schaffen, andererseits die Tendenz, durch den totalen Verzicht auf das Komma die poetische Aussage zu verdunkeln, sie undurchschaubarer wirken zu lassen. Die Schwere der kompakten Versmassen in der Endfassung von >Ikarus 6q.< evoziert die Schwere des Daseins. Wie schwer, ja unmöglich es ist, zu »fliegen«, wird nicht nur mit nachvollziehbaren Argumenten gezeigt, sondern auch optisch durch die »atemlose« Kompaktheit aller vier Strophen suggeriert. Diesem eigenwilligen Umgang mit der Interpunktion des Deutschen entspricht bei Günter Kunert ein ebenso eigenwilliger Umgang mit der Lexik, der zu ungewohnten Komposita (»Gehebel«, »vorurteilshart«, »gürtelwärts«, u.s.w.) und Metaphern (»ohrhoch gestapelt«; »Tränen im Vorrat unabwerfbare«, u.s.w.) führt. Sie sind später im Detail zu untersuchen. Der Umgang Günter Kunerts mit der Interpunktion des Gedichtes >Ikarus 6^< verrät einen zunehmenden Drang des Dichters nach Befreiung von der Sprache als der Konvention einer Kollektivität zugunsten eines Sprachgestus, der sich in seinem lyrischen Werk von Jahr zu Jahr immer deutlicher als Ausdruck einer individuellen Subjektivität gestaltete. Dieser Akt der künstlerischen Selbstbefreiung findet in >Ikarus 6q< eine thematische Entsprechung im antiken Mythos von der Flucht Dädalus' und seines Sohnes aus dem Labyrinth mit Hilfe selbstgemachter Flügel, die ihrerseits ein Kunstprodukt darstellen. Die bewußte Mißachtung der Konventionen der schriftlichen Kommunikation kommt bei Günter Kunert einer politisch bedeutungsschweren Distanzierung von den Normen des sozialistischen Realismus gleich, und als solche wurde sie in der DDR auch rezipiert6 und als reaktionärer In der Rede von Kurt Hager auf der Beratungssitzung des Politbüros des Zentralkomitees mit Schriftstellern und Künstlern vom 25. März 1963 begegnet man beispielsweise einer scharfen Kritik des lyrischen Frühwerkes Günter Kunerts, die trotz ihrer ideologischen Verblendung als treffende, ja »prophetische« Charakterisierung auch seines Gedichtes >Ikarus 6^< betrachtet werden kann: »Günter Kunert schrieb eine Reihe von Gedichten, die kaum noch versteckte Angriffe gegen unsere Republik enthalten. Seine nihilistische Auffassung vom Menschen, die der unsrigen völlig entgegensteht, durchzieht viele seiner neueren Gedichte. Die Skala seiner Gedichte reicht von der

»Formalismus«7 apostrophiert, ja nicht ohne ein gewisses grotesk anmutendes Pathos zur Gewissensfrage von existentieller Bedeutung stilisiert8. Es nimmt daher nicht wunder, daß Günter Kunerts Gedichtband >Verkündigung des Wetters< unmittelbar nach seinem Erscheinen zum Anlaß heftiger Angriffe gegen seinen Autor im Rahmen einer breiten Lyrik-Diskussion in der Zeitschrift Forum wurde.?

Dämonisierung der Technik, dem Gefühl der völligen Vereinsamung des Menschen, einem auf die Atomkriegspsychose gegründeten Nihilismus bis zum Zweifel am Sinn des Lebens überhaupt.« (Quelle: Neues Deutschland, Nr. 89, 30.3.1963, zitiert nach: Elimar Schubbe (Hrsg.), Dokumente zur Kunst-, Literatur- und Kulturpolitik der SED, Stuttgart 1972, S. 872.) In derselben Rede von Kurt Hager, der nicht nur Günter Kunert, sondern auch Peter Hacks und anderen ostdeutschen Schriftstellern vorwirft, bürgerliche »Formalisten« zu sein, anstatt Brecht, Seghers, Gorki, Majakowski, Scholochow, Aragon, Neruda und Becher als den Hauptvertretern des sozialistischen Realismus zu folgen, liest man zum Problem des Formalismus folgendes: »Die Forderung nach Anerkennung des Formalismus, der >ModerneIkarus 6^< zu betrachten, inwieweit man von einem Wechsel der Perspektive sprechen darf, von der aus der Dichter in der Endfassung dieses Gedichtes die Realitäten seiner Epoche schildert, wird sich im Laufe der Analyse zeigen.

Von Ikarus zu Kassandra Die Gestalt des Ikarus zählt zu den Konstanten des lyrischen Werkes Günter Kunerts. 10 Bereits 1957 hatte er ein Gedicht mit dem Titel >Ikarus< veröffentlicht, das sprachlich den ästhetischen Diese Meinung vertritt auch Harald Härtung: »Ikarus ist mir lange Zeit als diejenige Figur erschienen, mit der Günter Kunert sich wieder und wieder identifizierte. Mehr noch: War der Dichter selbst nicht die Reinkarnation jenes Mannes, der einen Anlauf nahm >für das Unmögliche^« (Harald Härtung, Ikarus, Kassandra, graue Fee. Über Günter Kunerts neuere Lyrik oder Wie tödlich ernst kann es ein Dichter meinen?, in: Neue Rundschau, i o i. Jahrgang 1990, Heft 4, S. 63.)

Normen des sozialistischen Realismus noch stark verpflichtet ist und anders als >Ikarus 6^< außer durch die Wortschöpfung »fischhautglänzend« noch keine unverwechselbare poetische Stimme verrät: Empor und stolz stieg der Pilot mit seinem Flugzeug fischhautglänzend in den klaren Himmel. Der Motor tickte ihm als Uhr, der Kreiselkompaß galt ihm als Kalender. Die vielen Zifferblätter mit den vielen Zeigern berieten ihn."

Inhaltlich beginnt jedoch dieses Gedicht, sich von der sozialistischen Ideologie zu distanzieren. Der marxistische Fortschrittsoptimismus klingt hier gedämpft, der Glaube an die Beherrschbarkeit der Natur durch die Technik wird indirekt als naive Utopie entlarvt: Nach Zeiten sank er landend aus den Wolken, beschlagen wässrig der Maschinenrumpf und vom Motor tropfte schwarzes Öl. Den Flieger, verschmutzt, erschöpft, sie hoben ihn aus seinem Sitz. Sie sahen auf den, der weit hinaus und auch sehr hoch gewollt und ein unmeßbar kleines Stück nur des Wegs zum Ziel erkundet und trugen ihn vorsichtig in den Schatten der Hangars.12

In späteren Gedichten und Prosastücken Günter Kunerts ist der Fortschrittsoptimismus völlig verschwunden:

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Günter Kunert, Ikarus, in: Lyrische Blätter, Jahrgang 2 (1957), Nr. 7, S. . " Ebd.

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Die Piloten Haben den Glauben aufgegeben der Mensch könne fliegen.1'

Dieser Optimismus ist einer politischen Luzidität entwichen (»Wir steigen wir fallen stets tiefer / Als möglich«'4), die kritische Töne annimmt und die Sehnsucht nach dem Unmöglichen schmerzhaft aufkommen läßt: »Man müßte Etruskisch können / oder fliegen doch ohne Gerät«.' 5 Angesichts der totalen Zerstörbarkeit der Erde durch den technischen Fortschritt distanziert sich der Dichter skeptisch von dem Ideal, das Ikarus verkörpert, und fühlt sich dafür der Gestalt Kassandras als einer Unheil verkündenden Prophetin »so nahe«' 6 . Ikarus gehört bei Günter Kunert dem Bereich der Utopie an: »Vögel: fliegende Tiere / ikarische Züge /[...]/ unterwegs nach Utopia«.' 7 Sein Absturz ist in Anlehnung an Charles Baudelaires Gedicht >Les Plaintes d'un IcareIkarus 64Ikarus 6^< an diese Verse Rainer Maria Rilkes erinnert, braucht kaum noch bewiesen zu werden. Die Argumente, die Birgit Lermen und Matthias Loewen vorbringen, um den Einfluß dieses Gedichtes Gottfried Benns auf Günter Kunerts >Ikarus 64* zu zeigen, ermangeln jeglicher Überzeugungskraft, zumal die Bennsche Antinomie zwischen Hirn und Blut, die konstitutiv für sein Ikarus-Gedicht ist, bei Günter Kunert kaum thematisiert wird. (S. Birgit Lermen/Matthias Loewen, Lyrik aus der DDR. Exemplarische Analysen, Paderborn, München, Wien, Zürich 1987, S. 262.) Gottfried Benn, Ikarus, in: Ders., Gesammelte Werke in vier Bänden, Band 3, Wiesbaden 1960, S. 46f. (Fragment)

auf zeitgenössische literarische Werke sowie auf Parteidokumente und politische Diskussionsthemen der 6oer Jahre.29 Günter Kunerts >Ikarus 6^< stellt eine zwar bunte, jedoch einheitliche Mischung von Zitaten und Polemiken dar, die im Geist der Postmoderne verankert ist und aus der Spannung zwischen der Tradition des antiken Ikarus-Mythos und dessen Erneuerung lebt.

Unter der Maske des sozialistischen Realismus Diese Spannung ist bereits im Titel des Gedichtes bemerkbar, der durch den Namen Ikarus auf die Tradition des antiken Mythos und durch die Zahl 64 auf dessen Aktualisierung verweist. Der Gedichttitel vereint somit Altes und Neues, scheinbar Gegensätzliches, wie das gesamte Gedicht auch, das, wie sich zeigen wird, auf Paradoxien beruht. Beginnen wir mit der Bedeutung der Zahl 64, die als Schlüssel zum Verständnis dieses Gedichtes betrachtet werden kann. Ähnlich strukturierte Werktitel, wie etwa Pygmalion i9/8Sisyphos ^ ?1 untermauern die Hypothese, daß auch die Zahl 64 als Abkürzung einer Jahresangabe verstanden werden muß. Unter den Auslegern des Gedichtes herrscht Einigkeit darüber, daß die Zahl 64 als das Jahr 1964 zu betrachten ist, doch wird in keiner Interpretation über die historische und politische Bedeutung dieser Zeitangabe nachgedacht, die meistens auf den Zeitpunkt der Entstehung des Gedichtes reduziert wird, und der entweder eine literaturgeschichtliche32 oder eine biographisch nicht näher erläuterte Relevanz33 zugeschrieben wird. 29 30 31 32

All diese Anspielungen werden im Detail untersucht werden. Günter Kunert, Pygmalion 1978, in: Ders., Camera Obscura, Frankfurt am Main 1980, S. 4if. Günter Kunert, Sisyphos 1982, in: Ders., Stilleben, München 1992, S. 85. »Das Gedicht gehört zu der Sammlung Verkündigung des Wetters, 1966 erschienen, kann also 1964 verfaßt worden sein.« (Monique Helene-Mazerand, >Ikarus 64< von Günter Kunert, in: Ernst-Ullrich Pinkert (Hrsg.), Die Mauersegler. Annäherung an die moderne deutsche Lyrik. Arbeitspapiere des Instituts für Sprache und interkulturelle Studien. Universität Aalborg/Dänemark, Nr. 17/1992, 8.65.) Diese Meinung vertreten auch Birgit Lermen und Matthias Loewen, Lyrik 92

Das Jahr 1964 war ein für die politische Geschichte wie für die Literatur- und Kulturgeschichte der DDR wichtiger Zeitraum, mutatis mutandis vergleichbar mit dem Jahr 1989 für Osteuropa. 1964 war erstens ein Jahr von politischen Jubiläen. Die DDR beging 1964 das Jubeljahr ihres 15jährigen Bestehens und feierte zugleich das lojährige Jubiläum ihrer Souveränitätserklärung durch die UdSSR, die in diesem Jahr in einem Freundschafts- und Beistandsabkommen ausdrücklich die Unantastbarkeit der Staatsgrenzen des Landes garantierte.34 1964 ist ein Jahr, in dem die DDR wichtige Maßnahmen trifft, um in aller Deutlichkeit die Existenz von zwei deutschen Staaten zu unterstreichen, die keinerlei Gemeinsamkeiten aufweisen sollten. So trugen seit Anfang 1964 alle Bewohner dieses Staates in ihren neu ausgestellten Personalausweisen den Vermerk »Bürger der Deutschen Demokratischen Republik«. Da die Währungsbezeichnung »Deutsche Mark« zu nicht erwünschten Verwechslungen mit der Währung der Bundesrepublik führen konnte, wurden in der DDR 1964 neue Banknoten mit der Bezeichnung »Mark der Deutschen Notenbank«, abgekürzt »MDN« ausgegeben. Das Jahr 1964 hatte eine zunehmende Konsolidierung der Identität der DDR zur Folge, die das politische und soziale Klima des Landes, aber auch sein kulturelles Leben prägte. Für die Entwicklung der DDR-Literatur ist das Jahr 1964 ein entscheidendes. 1964 fand die II. Bitterfelder Konferenz für Kultur und Politik statt, auf der das Programm der sozialistischen Kulturrevolution in der DDR vertieft und der sozialistische Realismus zur verpflichtenden ästhetischen Norm erklärt wurde. Nicht zufällig hat man Günter Kunert in den 6oer Jahren wiederholt vorgeworfen, in seinen Gedichten wie in seinen Filmen oder Prosastücken »das Wesen und den Charakter des Bitterfelder

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aus der DDR. Exemplarische Analysen, a.a.O., S. 268f., sowie Paul Konrad Kurz, Vom Erhabenen zum Anti-Ikarus. Selbst- und Weltbewußtsein des Menschen in der deutschen Lyrik nach 1945. II. Teil, a.a.O., S. 390. »The reference to Icarus is at best parodic, at worst an adaptation via Benn and Rilke, while the number >6^< belongs to a chronological agenda visible only to readers familiar with Kunert's evolution as author and socialist.« (Marilyn Sibley Fries, Fetters of Allusion: The Daedalus Myth in the German Democratic Republic, a.a.O., S. 533.) S. Der große Ploetz, 29. Auflage, Freiburg, Würzburg 1980, S. 1385. 93

Weges sowohl politisch als auch künstlerisch«3' nicht verstanden oder nicht anerkannt zu haben! Angesichts so vieler Ereignisse, die im Jahre 1964 in der DDR stattgefunden haben, signalisiert ein Gedichttitel wie >Ikarus 64 < eine Auseinandersetzung mit politisch brisanten Themen der 6oer Jahre. Die politische Brisanz dieses Gedichttitels wird noch deutlicher, wenn man sich an die antike Ikarus-Gestalt erinnert, so wie sie in den Werken Ovids begegnet, die zur fruchtbaren Rezeption dieses Mythos entschieden beigetragen haben. Sowohl in den >Metamorphosen< (VIII 183-235) als auch in der >Ars amatoria< (II 23-98) weist die tragische Geschichte von dem Fluchtversuch des Dädalus und seines Sohnes Ikarus aus der kretischen Gefangenschaft eine klare politische Dimension auf. In den >Metamorphosen< hatte Dädalus, der Kunstreiche, seinen Neffen Talos, den Erfinder der Säge, der Töpferscheibe und des Zirkels, aus Künstlerneid von der Akropolis gestürzt und war daraufhin nach Kreta geflohen, wo ihm König Minos Asyl gewährte. Auf Kreta fertigte der Künstler für die Gattin des Minos eine hölzerne Kuh, die ihr die Befriedigung einer widernatürlichen Leidenschaft für einen Stier Poseidons ermöglichte. Als Strafe dafür sperrte Minos den Kunstreichen und dessen Sohn in das von Dädalus selber erbaute Labyrinth ein, aus dem es angeblich keine Rettung mehr gab. Dädalus trotzt aber mutig dem Tyrannen Minos: »Terras licet« inquit »et undas Obstruat, at caelum certe patet: ibimus illac; Omnia possideat, non possidet aera Minos.« (VIII 185-187)*

Daß Minos ein Tyrann war, der Dädalus, dem Künstler, die Freiheit willkürlich verwehrte, unterstreicht Ovid auch in der >Ars 35

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Stellungnahme der Einheit, 1963, Heft 2, zitiert nach: Elimar Schubbe, Dokumente zur Kunst-, Literatur- und Kulturpolitik der SED, a.a.O., S. 822. »Rief er: >Er mag mir die Erde, er mag mir die Wellen versperren, / Aber der Himmel ist sicher mir offen: hier wollen wir fliehen! / Alles mag Minos besitzen, die Luft besitzt er mitnichten.Ikarus 6^< weder die Gestalt Dädalus' noch die Gestalt Minos' ausdrücklich erwähnt werden, sind die politischen Konnotationen, die ihre Beziehung nicht nur bei Ovid, sondern in der gesamten Tradition der Rezeption dieses Mythos begleiten, im Titel des Gedichtes präsent, genauso wie das Bild des Labyrinthes als eines politischen Gefängnisses auch. Das Bedeutungsspektrum eines Gedichttitels wie >Ikarus 6^< bekommt in diesem Licht politisch nonkonformistische, provokative Umrisse. Während der Name Ikarus auf den Motivkreis der Gefangenschaft und des tödlich endenden Kampfes um die persönliche Freiheit verweist, zeigt die Zahl 64 auf die Realitäten der DDR, die 1964 im Begriff war, durch politische Maßnahmen die Bewegungsfreiheit ihrer Bürger und die Denkfreiheit ihrer Künstler zu kontrollieren und wesentlich einzuschränken. Was anfänglich im Gedichttitel als antinomisches Paar (Mythos und Geschichte, das Alte und das Neue, Tradition und Innovation) erschien, erweist sich bei einer näheren Betrachtung als Wesensgleiches. Der Gedichttitel >Ikarus 64* verspricht seinem mit der Geschichte der DDR vertrauten Leser eine politische Polemik, die in doppelter Tarnung auftritt: in der Tarnung des antiken Mythos (Ikarus), den Kunert selber einmal als »Spezifik des Gedichts in der DDR« 38 bezeichnet hat, und in der Tarnung der literaturgeschichtlichen Faktizität (»64« als angebliches Entstehungsjahr des Gedichtes). Unter der Maske des sozialistischen 37

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»Um dem Tyrannen zu entgehen, gibt; es nur diesen Weg.« (Publius Ovidius Naso, Ars amatoria/Liebeskunst. Lateinisch/Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Michael von Albrecht, Stuttgart 1992, S. 60.) »Es kann hierbei wohl wirklich von einer Spezifik des Gedichts in der DDR gesprochen werden: eine permanente Aufnahme und Benutzung der Antike, antiker Muster, eine Umstülpung der Mythologie ins Aktuell-Realistische, ist bei vielen, man könnte sagen, fast allen wichtigen Lyrikern feststellbar. Das stammt vom großen Vorbild Brecht her (bei dem es vorzugsweise die römische war), das auf diese integrierte, verarbeitete Weise, Einflüsse ausübt, andere kaum noch.« (Günter Kunert, Autor und Publikum in der DDR, in: Marlis Gerhardt/Gert Mattenklott (Hrsg.), Kontext 2. Geschichte und Subjektivität, München 1978, S. 78.) 95

Realismus, dem als einer ästhetischen Forderung nach Objektivität durch die scheinbar konkrete Fixierung des Gedichtes in der revolutionären Gegenwart Folge geleistet wird, stellt Günter Kunert diese ästhetische Forderung in Frage, karikiert sie und weist sie schließlich zurück. Ein weiterer Blick auf Dädalus' Geschichte, so wie sie Ovid schildert, tut not, um die Prämissen für eine ins Detail gehende Analyse dieses Kunertschen Gedichtes zu schaffen. Erinnern wir uns zunächst an den Weg, den der antike Held geht, um seine Freiheit zu erlangen. Die Flügel, die der kunstreiche Dädalus für seinen Sohn sowie für sich verfertigte, sind Produkte eines Geistes, der sich in verborgene Künste versenkt und kühn die Natur erneuert (>Metamorphosen< VIII 188-189), indem er die Schwingen wirklicher Vögel nachgestaltet (>Metamorphosen< VIII 195). Diese Flügel, die die Flucht aus dem kretischen Labyrinth ermöglichen, werden als neuartiges, nie dagewesenes Kunstwerk bezeichnet (>Ars amatoria< II 48). Eine faszinierende Paradoxie bestimmt nach Ovid das Wesen der Kunst: sie ahmt die Natur nach, um Neues entstehen zu lassen, sie imitiert die Realität, um eine neue, unbekannte Realität ins Leben zu rufen, die Auskunft über die bekannte Realität zu geben bestimmt und zugleich imstande ist, diese zu transzendieren! Es stellt sich nun die Frage, welche Entsprechung diese Ovidschen »Flügel« bei Günter Kunert haben, mit anderen Worten, ob das Gedicht >Ikarus 6q< nicht nur politische Realitäten der 6oer Jahre in der DDR schildert, sondern zugleich auch einen Versuch darstellt, das Wesen der Kunst im Kontext dieser Realitäten wie auch an und für sich zu definieren. Diese Frage zählt zu den konstitutiven meiner Interpretation. Erinnern wir uns an ein weiteres wichtiges Detail des IkarusMythos, so wie ihn Ovid gestaltet hat. Dädalus gibt seinem Sohn die Anweisung, stets auf dem mittleren Pfad zu fliegen (»Inter utrumque vola!«, >Metamorphosen< VIII 206; >Ars amatoria< II 63), und fordert ihn im imperativen Ton auf, sich von ihm geleiten zu lassen (>»Me duce carpe viam!Metamorphosen< VIII 208), denn unter seiner väterlichen Führung wird er sicher sein (>Ars amatoria< II 57-58). Es stellt sich nun die Frage, ob eine solche imperativisch klingende Stimme auch bei Günter Kunert wahrzunehmen ist, mit anderen Worten, ob das Motiv des verweigerten 96

Gehorsams einer Führergestalt gegenüber sowie das Motiv des Vater-Sohn-Konfliktes auch in >Ikarus 6^< eine näher zu definierende Rolle spielen. Schließlich gehört zum Fragehorizont meiner Interpretation auch die Überlegung, ob der ikarische Sturz im Prinzip auch bei Günter Kunert nicht als Fatalität, sondern als vermeidbare Eigenschuld dargestellt wird, so wie ihn Ovid in >Tristium< III. 4 und ein großer Teil seiner Rezipienten bis einschließlich Dante schildert, bevor Ikarus nicht mehr als mahnendes Beispiel göttlichen und väterlichen Ungehorsams, sondern als Sinnbild »menschlichen Mündigwerdens, menschlichen Denkund Erkenntnismutes, menschlicher Selbständigkeit«^ fungierte: qui fuit, ut tutas agitaret Daedalus alas, Icarus inmensas nomine signet aquas? nempe quod hie alte, demissius ille volabat; nam pennas ambo non habuere suas.4°

All diese Fragen sind nun an das Gedicht Günter Kunerts >Ikarus 6 < z u richten.

Politische Utopie, künstlerische Utopie »Fliegen ist schwer«, lautet der scheinbar nach einer Binsenweisheit klingende Anfangvers dieses Gedichtes. Offensichtlich ist hier weder von einer Ballonfahrt noch von einem motorisierten Flug als einem technischen Problem die Rede, wie man diesen Satz zweifelsohne verstanden hätte, wenn man ihm beispielsweise in Robert Waisers Prosastück >Die Ballonfahrt/ oder in Franz Kafkas Bericht >Die Aeroplane in Brescia< begegnet wäre, in Werken also, 39

Hans Schwerte, Faustus Ikarus. Flugsehnsucht und Flugversuche in der Faust-Dichtung von der Historia bis zu Goethes Tragödie, in: Goethe Jahrbuch, Band 103, Weimar 1986, S. 309. 4° »Wie ist's gekommen, daß Daedalus sicher die Flügel bewegte, / Icarus' Namen jedoch trägt ein gewaltiges Meer? / Nur weil dieser zu hoch und jener im Niederen schwebte; / beide ja hatten sich nicht eigener Flügel bedient.« (Publius Oyidius Naso, Briefe aus der Verbannung. Lateinisch und Deutsch. Übertragen von Wilhelm Willige, Zürich 1963, S. 127.) 97

die den Anfang der modernen Flugliteratur*1 markieren. Das »Fliegen« ist bei Günter Kunert als Metapher zu verstehen, was durch den Hinweis auf die antike Ikarus-Gestalt im Gedichttitel suggeriert wird. »Fliegen« war bei Ovid sowohl eine Metapher für den Kampf gegen die Tyrannei und um individuelle Freiheit als auch eine Metapher für die Kunst als einzige Möglichkeit, diese Freiheit zu erlangen. In seinem Essay >Paradoxie als Prinzips der auch einen eigenen Kommentar zu >Ikarus 6^< enthält, nennt Günter Kunert diesen lyrischen Text »ein Gedicht übers Gedichtemachen«.42 »Fliegen ist schwer« gestaltet sich zum einen als Bekenntnis eines Künstlers. Es ist schwer, Gedichte zu schreiben, es ist schwer, eine Kunst zu produzieren, die in ihrem Streben nach »Totalität, Allgemeingültigkeit, Vollkommenheit«« das Epitheton absolut verdiente. Zum anderen gestaltet sich der Anfangsvers auch als Reflexion über das Wesen der Utopie: es ist schwer, die Utopie, die der menschliche Flug »ohne Gerät«44 versinnbildlicht, zu verwirklichen. Von welcher Utopie ist aber hier die Rede? Die Zahl 64 im Gedichttitel suggeriert durch ihre politischen Konnotationen, daß es sich um die Utopie des Sozialismus handelt, welche sich die Freiheit und die Selbstverwirklichung des Individuums im Rahmen der Gemeinschaft auf ihre Fahne geschrieben hatte. In der Metapher des Fluges überlappen bei Günter Kunert die Sphären des Individuellen und des Allgemeinen, des Ästhetischen und des Politischen. Die Hindernisse, die der Verwirklichung des politischen Ideals im Wege stehen, stellen gleichzeitig auch die Gründe dar, die die Entstehung einer absoluten Kunst verhindern. Auf diese Gründe richtet sich der Blick des Dichters in den ersten beiden Strophen des >Ikarus 6^Ballade vom Gefährten IkarusDie Aeroplane in Brescia< anspielt. 99

gen durch ihre ungewöhnliche Struktur die poetologische Dimension dieses Kunertschen Gedichtes an. Genau so wie Dädalus, der Prototyp des Künstlers, versucht Günter Kunert, das in der Realität Vorhandene nachahmend (in diesem Falle: die Sprache), etwas Neues, etwas nie Dagewesenes zu schaffen: »Flügel«, d. h. Kunst, mit deren Hilfe er sich aus dem Teufelskreis der modernen Industrie- und Produktionswelt befreien kann. Die Befreiung von der Sprache als einer kollektiven Norm, die den Künstler wie in einem Labyrinth gefangen hält, erfolgt über die Ästhetisierung der Sprache. Ein Synonym des Verbes »kleben«, das in diesem Kontext ebenfalls Immobilität und zugleich Hyperaktivismus suggeriert, ist das Verb »heften«, in dem die Idee der Haft, der labyrinthischen Gefangenschaft mitschwingt: »Geheftet die Füße / An Gaspedal und Tanzparkett«. Eine weitere Metonymie suggeriert die Masse wie das Individuum, beide als anonyme Existenzen: die Füße. Auch die Füße bewegen sich entgegen ihrer natürlichen Bestimmung nicht; sie sind »geheftet«. Durch ihre Immobilität erzeugen sie aber paradoxerweise eine kontinuierliche, ziellose, irrationale Bewegung auf der Horizontalen, die mit der ersehnten Bewegung auf der Vertikalen kontrastiert. Wer die Füße ans Gaspedal geheftet hat, fährt ununterbrochen weiter, ohne sich Zeit zu nehmen für die Reflexion, für das Wohin. Ohne das Reflexionsmoment, das eventuelle Kurskorrekturen ermöglichen würde, verselbständigt sich aber die Bewegung auf der Horizontalen und führt ins Nichts. Das politische Ideal, dessen Verwirklichung eine wohl überlegte, reflektierte Art der Bewegung voraussetzt, ist dadurch zum Scheitern verurteilt. Ohne Reflexion kann aber auch keine Kunst entstehen. Ohne Distanz, die eine objektive Kritik ermöglicht, auch nicht. Dadurch, daß die Füße ans »Tanzparkett« geheftet sind, dadurch also, daß man keine Distanz zum »Tanzparkett«, 47 zu den sozialen Realitäten hat, kann man auch keine Ideale verwirklichen; weder das Ideal des Kommunismus noch das Ideal der absoluten Kunst. 47

Der Tanz als Sinnbild des sozialen Konformismus, das im Kompositum »Tanzparkett« evoziert wird, erinnert an Lessings bekannte Fabel von dem >TanzbärenIkarus 6^< im metaphorischen Sinne als geistige Verletzungen verstanden werden. Geistige Verletzungen erleidet in jeder Diktatur derjenige, der die Realitäten entideologisiert und sie so sieht, wie sie objektiv sind, d.h. anders als offiziell akzeptiert, anders als politisch konform. Um seine Bürger vor solchen »Verletzungen« zu bewahren, die sie politisch unbequem machen könnten, verpaßt jedes diktatorische System seinen Bürgern einen »Sturzhelm«, eine Ideologie, die die Denkfunktion des Gehirns übernimmt und den Menschen in eine leicht manipulierbare Marionette verwandelt. Der Kopf ist so »fest eingenietet [...]/ im [...] Sturzhelm«, daß man ihn vom Sturzhelm nicht mehr unterscheiden kann. Das selb48

Es ist nicht undenkbar, daß Günter Kunert durch die Erwähnung eines Sturzhelmes auf das Gedicht von Erich Arendt, Ode II. SaintExupery, dem Flieger der Anden, a.a.O., anspielt, im dem von einem »Flughelm« (S. 100) die Rede ist. Während aber bei Erich Arendt der Flughelm eine reale Schutzfunktion erfüllt, ist die Funktion des Sturzhelmes bei Günter Kunert pervertiert: er »schützt«, indem er verblendet.

ständige Denken ist durch eine blind funktionierende Ideologie ersetzt worden, die deutlich die Merkmale der sozialistischen Ideologie trägt. Das wird an den Epitheta sichtbar, die das Substantiv »Sturzhelm« begleiten. Die sozialistische Ideologie ist eine anthropozentrische und atheistische, die die Selbstvergöttlichung des Menschen praktiziert und in der der Stolz keine Todsünde, keine Hybris darstellt, sondern als Zeichen eines begründeten Selbstvertrauens betrachtet wird. Bei Günter Kunert hingegen bedeutet »stolz« überheblich, eingebildet, hochmütig. Selbstvertrauen schöpft der Marxist durch den festen Glauben an die Technik (»Gehebel«, »Maschinen«, »Gaspedal«), die er fetischisiert und die er mit gesellschaftlich-humanitärem Fortschritt gleichsetzt.49 Daß Günter Kunert Walter Benjamins »Fortschrittsallergie« teilt, ist bereits bemerkt worden.50 »Fortschrittlich« hat in der sozialistischen Ideologie positive Konnotationen, bei Günter Kunert hingegen ist der Fortschritt ein Synonym für die Katastrophe,51 für den ikarischen Sturz52. Daß der Fortschritt zur Verwirklichung des politischen Ideals des Kommunismus führt, ist ein Vorurteil, sagt Günter Kunert in >Ikarus 64Skeptiker< abstempeln: Wir können unsere Erfahrungen nicht ignorieren, erst recht nicht die Welt, in der zwischen technischem Können und menschlichem Dasein die Kluft wächst.« (Zitiert nach: John Flores, Poetry in East Germany. Visions and Provocations, a.a.O., S. 289, Fußnote 22.) S. dazu den Aufsatz von Alo Allkemper, Paradox. Anmerkungen zu Günter Kunerts Poetik, in: Zeitschrift für deutsche Philologie, Band 106, Heft 4 (1987), S. 609-^24. S. das Prosastück von Günter Kunert >Fußnote zum FortschreitenBenjamins Angelus NovusAn die Freude< als Brüder bezeichnet werden, gehören auch bei Günter Kunert zur gleichen großen Familie, wie die Evozierung der 9. Symphonie dies in derselben Strophe suggeriert; doch ist hier indirekt von einer »Schweinefamilie« die Rede, zwischen deren Mitgliedern keine Liebe, sondern Gewalt herrscht. Ein zweites Element, das als Ballast empfunden wird, scheint die Sexualität zu sein: »Das finstere Blut / Gestaut an hervorragender Stelle / Gürtelwärts«. Das Epitheton »finster« tritt in Verkündigung des Wetters< explizit in Verbindung mit der Sexualität des Menschen als eines Tieres auf, das sich von der »völligen Finsternis seines Hodensacks«57 leiten läßt. Im Kontext dieser zweiten Strophe des Gedichtes >Ikarus 6qIkarus 6^< entgegen der Tradition nicht als Fruchtbarkeitssymbol, sondern als eine tödliche Waffe geschildert. Nicht die Ernährung und die Sexualität erweisen sich folglich, wie das vielleicht anfänglich schien, als »Ballast«, denn die Ernährung und die Sexualität stellen unabdingbare biologische Prämissen der Verwirklichung der Utopie dar, und es wäre schlichtweg absurd und nicht paradox, sie als

" Gottfried Benn, Der Arzt II, a.a.O., S. 12. 56 Hier widerspreche ich Birgit Lermen und Matthias Loewen, die in ihrer exemplarischen Analyse, a.a.O., 8.265, das Eßverhalten des Menschen als Zielscheibe der Kunertschen Kritik betrachten. 57 Günter Kunert, Aufbruch eines bedeutenden Tieres, a.a.O., S. 75. 105

unnötige Belastung zu schildern. Der wahre, vermeidbare Ballast ist die zwischenmenschliche Gewalt. Sie verhindert die Entstehung einer »brüderlichen« Welt, so wie sie die Entstehung der absoluten Poesie verhindert. Elemente dieser wahren Poesie, so wie sie Goethe definiert hat,'8 einer Poesie, die sich von der Erde erheben, die »fliegen« kann, sind jedoch in >Ikarus 6q< vorhanden. Ein solches Element ist neben anderen Wortschöpfungen das neu geschaffene Kompositum »gürtelwärts«, das an ähnliche Wortschöpfungen Paul Celans erinnert: »blutabwärts«, »erdwärts«, »nachtwärts«, »schneewärts«.59 Ob der erotisch gefärbte Vers »Das finstere Blut l Gestaut an hervorragender Stelle / Günelwärts« auf Paul Celans erotisches Gedicht >NachtstrahlIkarus 6^< sind die 66

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Ob mit dem Syntagma »Tränen im Vorrat« Günter Kunert an Paul Celans Wortschöpfung »Herzvorrat« (s. >An niemand geschmiegts in: Paul Celan, a.a.O., S. 245) anknüpft, steht als Hypothese offen. »Es gibt ja auch eine Art von heiterer Verzweiflung. Und vielleicht ist sogar die heitere Verzweiflung die endgültigere, das wäre denkbar, weil in einer heiteren Verzweiflung, so wie ich das sehe, eigentlich sehr wenig an Aggressivität steckt und an Unternehmungsgeist oder Energie, diese Verzweiflung abstellen zu wollen oder abstellen zu können.« (Günter Kunert im Gespräch mit Fritz J. Raddatz, in: Fritz J. Raddatz, »Wenn ich so dächte wie Kunert, möchte ich lieber tot sein.« Gespräch mit Wolf Biermann und Günter Kunert, ZEIT-Gespräche 2, Frankfurt am Main 1982, S. 10.) »Das Zauberwort das heißt: / Dennoch!« (Günter Kunert, Aufbruch eines bedeutenden Tieres, a.a.O., S. 70.)

no

Anspielungen auf Goethes >FaustIkarus 6^< ist eine Antwort auf Goethes »doch!«, so wie es aus dem Munde Euphorions übermütig ertönt, als ihm Helena den gefährlichen freien Flug zu verbieten versucht: »Doch! - und ein Flügelpaar / Faltet sich los. / Dorthin! Ich muß! Ich muß! / Gönn't mir den Flug!« (9896ff.) Die Gewißheit des fatalen Absturzes hat nicht nur Euphorien (»Und der Tod / Ist Gebot, / Das versteht sich nun einmal«, 9888ff.), der im Augenblick des Todes vom Chor mit »Ikarus! Ikarus!« gerufen wird, sondern auch Günter Kunert, wenn er das »Zauberwort« »dennoch« spricht. »Breite die Arme aus«, ein Bild, in dem der gefangen gehaltene Ikarus und der ans Kreuz genagelte Christus miteinander verschmelzen, deutet auf den Märtyrertod hin, auf die »triumphierende, die tödliche Selbstverwirklichung«,70 und zitiert zugleich Paul Gerhardts »Abendlied« (»Nun ruhen alle Wälder«): »Breit aus die Flügel beide, / O JEsu, meine Freude«. 7 ' Dadurch wird die Gestalt des Ikarus und werden mit ihr die Grenzen des Mythos relativiert. In der Gestalt des Kunertschen Ikarus begegnen sich zwei Linien: die horizontale der Gefangenschaft und die 69

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>Ikarus 6^< ist nicht das einzige Gedicht, in dem Günter Kunert auf Werke von Goethe anspielt. Auf solche Anspielungen trifft man beispielsweise auch im Gedicht >Verweile doch< (in: Günter Kunert, Stilleben, a.a.O., S. 93) sowie im Gedicht >Goethe, stark verbessert< (in: Günter Kunert, Gedichte, Stuttgart 1987, S. 49), in dem die Verbindung zwischen Faust und Ikarus explizit thematisiert wird. Hans Schwerte, Faustus Ikarus. Flugsehnsucht und Flugversuche in der Faustdichtung von der Historia bis zu Goethes Tragödie, a. a. O., S. 314. Paul Gerhardt, Abendlied, in: Ders., Geistliche Lieder, Stuttgart 1991, S. 110. III

vertikale des Strebens nach Freiheit. Sie bilden nicht zufällig ein Kreuz, das Christi Tod evoziert. Günter Kunerts Ikarus ist jedoch nicht nur eine ChristusGestalt,72 sondern zugleich auch ein Sisyphus,7' der immer und immer wieder »einen Anlauf für das Unmögliche« nimmt. Die Verwandlung dieses an Faust und seinen Sohn Euphorion erinnernden Ikarus teilweise in eine Christus-, teilweise in eine Sisyphus-Gestalt stellt eine politische Polemik dar, die Günter Kunert subtil gestaltet hat. In einer bekannten Rede Walter Ulbrichts auf der II. Bitterfelder Konferenz für Kultur und Politik aus dem Jahre 1964 wird Goethes >Faust< als Teil »der besten humanistischen Tradition unseres Volkes« erwähnt und das »ewig >faustische WollenIkarus 6^Ikarus 6^< die Aufforderung: »Nimm einen Anlauf« wiederholt. ? 3 Bernhard Greiner vertritt in seinem Aufsatz >Der Ikarus-Mythus in Literatur und bildender KunstIkarus 6$< der Akt des immerwährenden Anlaufnehmens Ikarus in Sisyphus verwandeln würde, eine Meinung, der ich völlig zustimme. Den Hinweis auf diesen Aufsatz entnahm ich der Arbeit von Elke Kasper, Zwischen Utopie und Apokalypse. Das lyrische Werk Günter Kunerts von 1950 bis 1987, Tübingen 1995, S. 86, Fußnote 114. 74 Rede Walter Ulbrichts auf der II. Bitterfelder Konferenz, 24. und 25. April 1964: Über die Entwicklung einer volksverbundenen sozialistischen Nationalkultur, Quelle: Neues Deutschland, Nr. 117, 28.4.1964, zitiert nach: Elimar Schubbe, Dokumente zur Kunst-, Literatur- und Kulturpolitik der SED, a.a.O., S. 965^ 112

Frage, die in der sozialistischen Ideologie eine zentrale Stellung einnimmt. Und damit knüpft er an Albert Camus an, der in Sisyphus die Absurdität des menschlichen Daseins verkörpert sah. Dreimal ist in Günter Kunerts >Ikarus 6^< die Aufforderung »Nimm einen Anlauf« zu hören, wobei die Monotonie der Repetition durch barocke Variationen (»Anlauf für das Unmögliche«; »langen Anlauf«) gebrochen wird, die der Aufforderung persuasive Kraft und Pathos verleihen. Dieses Imperativische Syntagma bildet durch die dreifache Wiederholung einen starken Kontrast zu den deskriptiven Syntagmen der vorangehenden Strophen, in denen das Verb meist nur in der Partizipialform erscheint (»Fest eingenietet der Kopf«) oder ganz ausgelassen wurde, um Passivität und Ausgeliefertsein zu suggerieren (»Ballast: Das mundwarme Eisbein / In der Familiengruft des Magens«). Während die These des Gedichtes (»Fliegen ist schwer«) in passivischen Syntagmen ausgedrückt wurde, wird die Antithese des Gedichtes (»Dennoch breite die Arme aus und nimm / Einen Anlauf für das Unmögliche«) durch aktive Syntagmen zum Ausdruck gebracht. Es stellt sich nun die entscheidende Frage, wer der Adressat in dieser insistierenden Aufforderung zur Aktivität ist. Günter Kunert spielt auch an dieser Stelle mit dem semantischen Potential mehrdeutiger Formulierungen. Der Adressat, der aufgefordert wird, ein Ikarus zu werden, und mit ihm zugleich ein Christus und ein Sisyphus, kann ein Du, ein Dialogpartner sein, zugleich aber auch das (lyrische) Ich. Ein Blick auf Ovids >Metamorphosen< öffnet einen möglichen Interpretationshorizont, ohne freilich die Ambiguität der Kunertschen Formulierung zu lösen. Im Imperativ drückt sich bei Ovid Dädalus, also die Vatergestalt, aus. Er ist derjenige, der dem Sohn Anweisungen gibt, wie er zu fliegen hat, und von ihm unbedingten Gehorsam verlangt. Auf der Ebene der sozialistischen Utopie wäre diese Vaterfigur als der politische Machthaber zu identifizieren. Ihm wird der Gehorsam verweigert. Wenn der politische Machthaber zum »Anlauf«, zur Verwirklichung des Unmöglichen, auffordert, dann ist seine Aufforderung politische Verantwortungslosigkeit, denn sie führt zu keinem Ergebnis (Sisyphus) und ist ein mörderischer Ansporn zum Martyrium. Günter Kunerts Konflikt mit der paternalistisch strukturierten Macht wird mit subtiler Ironie als moderne Variante des Vater-

Sohn-Konfliktes vorgetragen. Der »lange Anlauf« stellt bei Günter Kunert eine Metapher für den Sozialismus dar, der nie stattfindende »Flug« entlarvt den Kommunismus als »Mythos«,75 als Lüge, der Absturz, das ikarische Ende ist der Augenblick der Ernüchterung, der Moment der Wahrheit.76 Auf der Ebene der politischen Utopie ist die Katastrophe, der Absturz keine Fatalität, sondern sie ist von den Machthabern erzeugt worden, die verantwortungslos zum »Anlauf« auffordern. 75

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In verschiedenen Interviews, Rundfunksendungen und Essays hat Günter Kunert wiederholt über den Kommunismus als Mythos gesprochen (s. Joachim Bischoff/Axel Otto, »Da die Zukunft keine Antwort mehr gibt, antwortet der Mythos«. Ein Gespräch mit Günter Kunert, in: Peter Glotz/Günter Kunert u.a., Mythos und Politik. Über die magischen Gesten der Rechten, Hamburg 1985, S. 106), und die Wesensgleichheit zwischen dem marxistischen und dem mythischen Denken hervorgehoben: »Marxismus und Ratio traten ihre Herrschaft an als das, was sie zwangsläufig wurden: als Mythos von der Erlösung nach grausamen Geburtswehen, dynamisiert durch die wenig neue Idee, daß dem Maß der Leiden entsprechend auch die Erlösung maximal sein würde.« (Günter Kunert, Auf der Suche nach einem Halt. Radioessay in der Sendereihe: >Brauchen wir einen neuen Mythos ?Der Schlüssel zum Lebenszusammenhang. Literatur als Mythos< (in: Peter Glotz/Günter Kunert u.a., Mythos und Politik. Über die magischen Gesten der Rechten, a.a.O., S. 94) zum Ausdruck gebracht: »Ähnelt nicht die marxistische Geschichtsauffassung in ihrer Darstellung von überwältigenden, ursächlichen Auseinandersetzungen den Kämpfen der Götter und Heroen, sobald man die Terminologie in eine weniger arrivierte Sprache übersetzt? Was bedeutet jener endzeitliche Kampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie, das sogenannte >Letzte Gefechts nach welchem die >Vorgeschichte< der Menschheit beendet sei und ihre wahre Geschichte überhaupt erst beginne, wenn nicht die überwältigende Vorherrschaft des Mythos im neuen Gewand?« In einem parabolischen Prosatext Günter Kunerts mit dem Titel >Der fliegende Mensch< (in: Günter Kunert, Der Mittelpunkt der Erde, Berlin, 2. Auflage 1977, S. 106-109) begegnet man einem Alten, der behauptet: »Ja, er konnte fliegen. In seiner Jugend hatte er überraschend diese Fähigkeit entdeckt, als er während einer Theateraufführung merkte, er schwebe unter der Decke des Zuschauerraumes, indes die Schauspieler zu ihm aufschauten.« (S. 106) Niemand hat ihn jedoch wirklich fliegen gesehen, nur »einige vergilbte Fotos, Amateuraufnah114

Im Dialog mit Franz Kafka Weder Faust noch Euphorien blieb der Flug versagt; der eine erhob sich über der Erde auf Mephistos Mantel, der andere besiegte das Schwerefeld der Erde für kurze Zeit aus eigener Kraft. Der Goethesche Flug wird bei Günter Kunert auf seine Potentialität reduziert und seiner Idealität enthoben. Der Goethesche Ikarus ist bei Günter Kunert kein Flieger mehr, sondern ein an Sisyphus erinnernder Läufer in einer absurden Welt. Indem er das Motiv des wiederholten Anlaufes einführt, beendet Günter Kunert den intertextuellen Dialog mit Goethes >FaustDie Aeroplane in BresciaSehen Sie! Sehen Sie!Ikarus 6^ANTIKENSAALIphigenie in 10

S. Claudia Petzold, Zorniges Gleichnis heutiger Geschichte. Volker Brauns >Iphigenie in Freiheit in Cottbus, in: Neue Zeit, Nr. 298, 22. Dezember 1992, S. 13. 11 S. Rolf Michaelis, Dein Wort in Goethes Ohr! Das letzte Werk der DDR-Literatur: >Iphigenie in Freiheit [...], in: Die Zeit, Nr. 16, . April 1992, S. 6. 12 Anthonya Visser, »Und so wie es bleibt ist es«. Volker Brauns >Iphigenie in Freiheit^: eine Dekonstruktion des deutschen Einigungsprozesses?, a.a.O., S. 131. 13 Anthonya Visser, »Und so wie es bleibt ist es«. Volker Brauns >Iphigenie in Freiheit^ eine Dekonstruktion des deutschen Einigungsprozesses?, a.a.O., S. 154. '4 Anthonya Visser, »Und so wie es bleibt ist es«. Volker Brauns >Iphigenie in Freiheit^ eine Dekonstruktion des deutschen Einigungsprozesses?, a.a.O., S. 136. 126

Freiheit, adäquat zu deuten, welche die Beziehung zwischen Mensch und Natur in denselben Termini »Fremdbestimmung«, »Krieg« und »Mord« schildert, die kennzeichnend sind auch für die Geschichte, und nicht nur für die deutsche. Gegenüber Anthonya Vissers Aufsatz zu >Iphigenie in Freiheit, der wertvolle, wenn auch nicht vollständige Hinweise auf die intertextuellen Bezüge dieses Werkes enthält,' 5 stellen Wilfried Grauerts Untersuchungen zu >Iphigenie in Freiheit in mancher Hinsicht einen Rückschritt dar. Wilfried Grauert verweist zwar auf weitere intertextuelle Bezüge16 des Werkes, doch läßt er zuweilen >Iphigenie in Freiheit zum Ausgangspunkt weit schweifender Exkurse werden, deren Thema die Kunst- und Literaturtheorie des Saint-Simonismus ist.' 7 Durch das Prisma dieser Theorie deutet er die Braunsche Iphigenie als eine Art Kassandra, so wie man sie aus Christa Wolfs Erzählung kennt, d.h. als Vertreterin der sozialistischen Intelligenz, ja sogar als Künstlergestalt.18 Auch wenn die Braunsche Iphigenie als Priesterin Kassandras »Beruf« ausübt, spricht einiges gegen Wilfried Grauerts Interpretation, vor allem Iphigenies Naivität und Sentimentalität, ihre unreflektierte Tatbereitschaft wie ihre Verblendung, die auch ihre Deutung als einer weiblichen Hamlet-Gestalt, die von einem furor melanchoaffiziert ist, als problematisch erscheinen lassen. Andere 15

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Anthonya Visser identifiziert in >Iphigenie in Freiheit Zitate aus William Shakespeares Tragödie >Hamlet, Prinz von Dänemarks aus Georg Büchners Drama >Danton's TodIphigenie auf TaurisLob der DialektikGedichte über das Land des Sozialismus< wie aus verschiedenen Liedern der Arbeiterbewegung. Einer dieser Bezüge ist Gotthold Ephraim Lessings Einakter >PhilotasDer Untergang des Egoisten Johann FatzerIphigenie in Freiheit< und übersieht die zum Teil stark verfremdeten, auf die ich im Laufe meiner Untersuchung aufmerksam machen werde. S. Wilfried Grauert, Ästhetische Modernisierung bei Volker Braun. Studien zu Texten aus den achtziger Jahren, a.a.O., S. 194-206. S. Wilfried Grauert, Ästhetische Modernisierung bei Volker Braun. Studien zu Texten aus den achtziger Jahren, a.a.O., S. 183. S. Wilfried Grauert, Ästhetische Modernisierung bei Volker Braun. Studien zu Texten aus den achtziger Jahren, a.a.O., S. 180. 127

Behauptungen Wilfried Grauerts sind genauso anfechtbar: nicht nur seine Hauptthesen, daß >Iphigenie in Freiheit »das Ende der DDR zeigt und bearbeitet«20 und daß es zwischen den vier Episoden des Textes keinen Handlungszusammenhang gibt/1 sondern auch seine Behauptung, daß »im Gegensatz zu den ersten drei Episoden, in denen jeweils ein Bezug auf Figuren der antiken Mythologie hergestellt wird, [...] eine solche intertextuelle Figuration in der letzten Szene [fehlt]«22. Diese Behauptungen werde ich im Laufe meines Kommentars direkt oder indirekt widerlegen. Angesichts der hier knapp umrissenen Forschungslage ergibt sich eine Vielzahl von Aufgaben, die es zu bewältigen gilt. Dazu zählt eine ins Detail gehende Textanalyse, die den intertextuellen Horizont des Werkes zu vervollständigen und zu systematisieren vermag. Bestandteil dieses Horizontes sind nicht nur wörtlich oder verfremdet übernommene Zitate und Anspielungen, sondern auch die Braunschen Selbstzitate, deren Schlüsselrolle in >Iphigenie in Freiheit bisher kaum bemerkt wurde. Aufgrund einer solchen detaillierten Analyse wird es möglich sein, die thematische Komplexität und Kontinuität der vier Episoden des Textes aufzuzeigen und dabei für die substantielle Einheit des fragmentarisch strukturierten Werkes zu plädieren. Die thematischen Konstanten des Werkes kristallisieren sich zu einer Weltanschauung, die es im Hinblick auf ihre Wurzeln und in bezug auf den fragmentarischen Charakter des Textes zu analysieren gilt. Der Stilpluralismus der >Iphigenie in Freiheit, der als Infragestellung der kulturellen Autorität der literarischen Tradition mit der Zertrümmerung des einheitlichen mythologischen Diskurses und der spektakulären Amalgamierung von Mythologemen korrespondiert, ist Gegenstand begleitender theoretischer Reflexionen. Ihnen schließen sich Überlegungen bezüglich der literarischen »Lesbarkeit« und der politischen Rezipierbarkeit dieses hermetischen Textes an, dessen Entschlüsselung nicht wenig Mühe erfordert.

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Wilfried Grauert, Ästhetische Modernisierung bei Volker Braun. Studien zu Texten aus den achtziger Jahren, a.a.O., S. 166.

Ebd. Wilfried Grauert, Ästhetische Modernisierung bei Volker Braun. Studien zu Texten aus den achtziger Jahren, a.a.O., S. 172, Fußnote 12. 128

Der »Wahnsinn unserer transitären Existenz« Die erste Episode der >Iphigenie in Freiheit trägt den Titel >SPIEGELZELTPhilotasSpiegelgasse< -, das den Titel eines Braunschen Gedichtes darstellt, 25 liefert den Schlüssel zu dieser Metapher. Die Spiegelgasse ist diejenige Straße in Zürich, in der im Winter 1836/37 der politisch verfolgte und ins Exil getriebene Dichter Georg Büchner lebte und starb. »In derselben Häuserreihe, am Nachbarhaus links [...] wohnte vom 21. Februar 1916 bis 2. April 1917 Lenin, der Führer der Russischen Revolution«;26 »genau achtzig Jahre später, Spiegelgasse 12 und Spiegelgasse 14, getrennt durch eine sogenannte Brandmauer ,..« 27 Volker Braun bezeichnete diesen zuerst von Max Frisch thematisierten Sachverhalt mit einer paradoxen Formulierung als einen »logische[n] Zufall« und als »unendliches / Abbild in allen Worten in allen Zeiten«. 28 Da Volker Braun im Laufe seines künstlerischen Schaffens seine Metaphern und Bildern häufig wieder aufnimmt 23

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Die Zitate aus >Iphigenie in Freiheit sind der Erstausgabe des Werkes entnommen (s. Fußnote i). Die Seitenzahlen werden in Klammern im laufenden Kommentar angegeben. Wilfried Grauert, Ästhetische Modernisierung bei Volker Braun. Studien zu Texten aus den achtziger Jahren, a.a.O., S. i88f. Volker Braun, Spiegelgasse, in: Ders., Texte in zeitlicher Folge, Band 5, a.a.O., S. 71. Max Frisch, Büchner-Preis-Rede (1958), in: Büchner-Preis-Reden. 1951-1971, Stuttgart 1977, S. 57. Max Frisch, Büchner-Preis-Rede, a.a.O., S. 57. Volker Braun, Spiegelgasse, a.a.O. 129

und revidiert, ist es nicht unwahrscheinlich, daß er den metaphorischen Inhalt des Kompositums Spzege/gasse im Kompositum Spiegelzeh radikalisiert hat. Bot die »Gasse« dem politisch Verfolgten noch eine gewisse Sicherheit und Hoffnung, verdoppelt das »Zelt« quasi pleonastisch das Bild eines prekären, hoffnungslosen Daseins. Der Titel >SPIEGELZELT< behält zwar die politische Grundsubstanz des Exilgedankens, wofür auch die im Text massiv präsenten Zitate aus Georg Büchners Drama >Danton's Tod< wie die reichen Anspielungen auf die Oktoberrevolution sprechen; er projiziert jedoch den Exilgedanken zugleich ins Existentielle und ins Metaphysische. Das Exil kann nur modell sein für die heutige Befindlichkeit, für unser aller leben im Übergang: die wir den alten kontinent unserer gefährlichen gewohnheit und anmaßenden wünsche verlassen müssen, ohne doch das neue ufer zu erkennen zwischen uns.29

Genauso wie >Transit Europa. Der Ausflug der TotenIphigeme in Freiheux ein diffuser locus amoenus, der sich sehr allgemein durch »Freiheit« umschreiben läßt und als Kontrastfolie zur Bühne der Welt gedacht wurde.

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Volker Braun, Arbeitsnotizen zu Transit Europa, in: Ders., Texte in zeitlicher Folge, Band 9, a.a.O., S. 141. Der unkonventionellen Rechtschreibung begegnet man in den meisten Arbeitsnotizen Volker Brauns, die in seiner Werkausgabe abgedruckt sind. Volker Braun, Transit Europa. Der Ausflug der Toten, in: Ders., Texte in zeitlicher Folge, Band 9, a.a.O., S. 127. Volker Braun, Arbeitsnotizen zu Transit Europa, a.a.O., S. 1411. 130

Ideologische Gefangenschaft Das erste der acht Textfragmente, aus welchen sich die Episode mit dem Titel >SPIEGEL2ELT< zusammensetzt, ist als Prolog aufzufassen. Der Prolog beginnt mit einem verfremdeten Zitat aus William Shakespeares Tragödie >Hamlet, Prinz von Dänemarks so wie es aus der Übersetzung von August Wilhelm von Schlegel bekannt ist. Zitiert wird folgender Dialog zwischen Bernardo und Francisco auf der Terasse von Helsingör zum Zeitpunkt der Ablösung des Wachhabenden um Mitternacht: Bernardo Francisco Bernardo Francisco Bernardo Francisco

Wer da? Nein: mir antwortet: steht und gebt Euch kund. Lang lebe der König! Bernardo? Er selbst. Ihr kommt gewissenhaft auf Eure Stunde. (I, i)

Bei Volker Braun liest man: Halt. Wer da. Nein, antworte du mir. Wie ist die Losung. Was für eine Losung. LANG LEBE und so weiter. Und verrecke Die Losung hab ich verlernt. DAS VOLK Ich bin Volker. DU KOMMST GEWISSENHAFT AUF DEINE STUNDE. Gewiß, aus der Haft ... Abgesessen Hab ich meine Zeit in meinem Lande. Wie ich, Genösse. In der Sitzung. LAUT BESCHLUSS. Sprich dich ruhig aus. Am Trog der Treue. Am Strick des Staats. DEM ABENDBROT ENTGEGEN. SEIT AN SEIT. Auf welcher Seite. Wie mans nimmt. Man nimmt es wie es kommt. So ist es, Bruder. ES IST NICHT EINFACH, WENN MANS DOPPELT NIMMT (S. 7)

Dem Zitat aus William Shakespeares Tragödie kommen im Braunschen Prolog mehrere Funktionen zu. Als Werk der elisabethanischen Renaissance signalisiert es durch seine literaturgeschichtli-

ehe Zugehörigkeit die für diese Epoche typische Anschauung von der Welt als einer Bühne. Diese Anschauung wird in >Iphigenie in Freiheit< explizit durch die Theatermetaphorik der zweiten Episode zum Ausdruck gebracht. Sie wird aber auch dadurch suggeriert, daß Volker Braun sich in >Iphigenie in Freiheit< hauptsächlich mit Werken der dramatischen Weltliteratur auseinandersetzt, aus denen er wörtlich oder verfremdet zitiert. Das verfremdete >HamletHamletmaschine< ist hier nicht zu übersehen. Diese gedämpfte Theatralik, die auch durch die Absenz des Ausrufezeichens am Ende imperativischer Syntagmen wie des Fragezeichens am Ende interrogativer Konstruktionen erzeugt wird, ist Teil eines in >Iphigenie in Freiheit konsequent praktizierten ästhetischen und politischen Programms, das keine Tabus kennt, alles kritisch überprüft und jegliche Verbeugung vor dem Gewohnten, dem Tradierten, dem Anerkannten und dem Etablierten verbietet. Ein solches Programm setzt als Grundlage einen polemischen Geist voraus, der Volker Braun zweifelsohne nicht fehlt. Der Dichter ist sich dessen bewußt, daß »alles Erben [...] zugleich Polemik [ist]«, daß »die Literatur ein großes Gespräch in der Gegenwart [ist], wo es zwischen den einzelnen genauso polemisch zugeht.«3* Die klar umrissenen Rollen im Anfangsdialog der elisabethanischen Tragödie sind bei Volker Braun zugunsten einer Mehrstimmigkeit aufgegeben worden, die den Rezipienten zuerst verunsichert,33 um ihn anschließend intellektuell zu aktivieren. 32

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Volker Braun und Christoph Hein in der Diskussion, in: Anna Chiarloni u.a. (Hrsg.), Die Literatur der DDR (1976-1986). Akten der internationalen Konferenz Pisa, Mai 1987, Pisa 1988, S. 440. Ich übernehme hier die Meinung von Christian Klotz, der als »durchgehendes Charakteristikum Braunscher Stücke [...] die bewußte Strategie einer produktiven Verunsicherung des Rezipienten« bezeichnet. (Christian Klotz, Volker Braun oder Wir haben die Morgenröte 132

Wächter und Bewachter, Freund und Feind sind bei Volker Braun, anders als bei Shakespeare, austauschbare Rollen. Die Frage, »auf welcher Seite« man sich befindet, ist bei Volker Braun nicht mehr eindeutig zu beantworten: »Wie mans nimmt.« Der Relativierung traditioneller Gegensätze folgt eine resignative Kompromißbereitschaft (»Man nimmt es wie es kommt«), die die soziale und politische Lähmung (»Am Trog der Treue. Am Strick des Staats«) potenziert, anstatt sie aufzuheben. Die Tragik dieses Teufelskreises wird einerseits durch Witz und Ironie (»ES IST NICHT EINFACH, WENN MANS / DOPPELT NIMMT«), andererseits durch emotional geladene Solidarität (»So ist es, Bruder«) überwunden. In der Überwindung der Tragik durch Mitgefühl, Ironie und Wortspiele, so wie sie auch Bertolt Brecht in seinen >Flüchtlingsgesprächen< erreicht, zeigt sich die Fragilität des menschlichen Daseins, entfaltet sich sein »Transitäres« und »Illusionäres«. Volker Braun steigert die Komplexität seines Diskurses, indem er mit der Polysemie einzelner Wörter spielt und seine klassische Vorlage durch ironische Dekonstruktionen politisiert. So verwendet er das Substantiv Losung sowohl in der Bedeutung Kennwort als auch in der Bedeutung Spruch, Wahlspruch, Leitsatz. Auf diese Weise prangert er die als Identitätssubstitut fungierende Ideologie an und distanziert sich von ihr als einem Vehikel der Macht. Der intakten Losung »Lang lebe der König!«, deren identitätsstiftendes politisches Moment den Problemhorizont des Dramas von Georg Büchner >Danton's Tod< ankündigt, setzt Volker Braun eine gebrochene Losung entgegen, die Identität als Negation des politisch Konformen definiert.3« Die Losung wird zum Fluch (»Und verrecke«), der Machthaber wird als beliebig ersetzbare Gestalt entmythisiert. »LANG LEBE und so weiter« ist ein Braunsches Selbstzitat. Es begegnet im politischen Drama >DmitriIphigenie in Freiheit^ eine Dekonstruktion des deutschen Einigungsprozesses?, a.a.O., S. 135.)

mik Volker Brauns gegen Friedrich Schillers Fragment >DemetriusDmitri< weist auf eine intertextuelle und thematische Dimension der >Iphigenie in Freiheit hin, die bisher nicht bemerkt wurde. Es verweist auf die Oktoberrevolution wie auf die Gestalten Lenins und Trotzkis, einen Themenkomplex, der bereits in der Metapher von dem >SPIEGELZELT< im Keim angelegt war. Volker Braun vertieft im zweiten Teil seiner >Iphigenie in Freiheit diese für >Dmitri< konstitutive Frage nach der Legitimität jeglicher Herrschaftsform, doch die Antwort darauf scheint bereits festzustehen: »Legitim! Welche Herrschaft ist legitim. Es ist Herrschaft. Es ist falsch.«37 Der politische Akzent des Prologs entfaltet sich in der Dekonstruktion des Adverbs gewissenhaft, das Volker Braun als Haft des Gewissens, ideologische Knechtschaft liest und wodurch er an Hamlets berühmtes Gespräch mit Rosenkranz anknüpft, in dem nicht nur Dänemark, sondern die ganze Welt als ein Gefängnis geschildert wird (II, 2). Für diese Interpretation plädiert auch das Verb »absitzen«, das sich dank seiner Polysemie einer doppelten Lektüre öffnet, und sowohl vergeudete Lebenszeit als auch eine im Gefängnis verbüßte Strafe suggeriert. Das Leben als Strafe, 35

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In seinen Arbeitsnotizen zu >Dmitri< schreibt Volker Braun: »es handelt sich [...] um ein stück von schiller, durch grabbes bände gegangen, von brecht bearbeitet, von mir eingestrichen.« (Volker Braun, Texte in zeitlicher Folge, Band 6, a.a.O., S. 228.) Volker Braun, Dmitri, in: Ders., Texte in zeitlicher Folge, Band 6, a.a.O., S. 218. Volker Braun, Dmitri, a.a.O., S. 206.

die im Gefängnis verbüßt wird, die Welt als Kerker sind traditionelle Topoi der barocken Literatur. Zeitgenössische Konturen scheint der Prolog durch die partielle Zitierung der bekannten Losung der Novemberdemonstrationen in der DDR »Wir sind das Volk« zu gewinnen, der eine »Gegenlosung« (»Ich bin / Volker«) entwächst. Im Syntagma »DAS VOLK / Ich bin Volker« hat man das Gegensatzpaar »ich« und »ihr« erblickt, das in mehreren Gedichten Volker Brauns von politischen Konnotationen begleitet wird, die als Bekenntnis zu den Werten des Sozialismus verstanden werden müssen.38 Verallgemeinernd hat man in diesem Gegensatzpaar die »Problematik einer Übereinstimmung bzw. Diskrepanz von Volk und Individuum« 39 erblickt. In Heiner Müllers >HamletmaschineIphigenie in Freiheit nicht nur strukturell durch das Fragmentarische und typographisch durch den Wechsel von Groß- und Kleinschreibung, sondern auch und vor allem weltanschaulich durch die Vision des theatrum mundi stark verpflichtet ist,40 begegnet man ähnlichen Sätzen: »Ich war Hamlet«,4' »Ich bin Ophelia«42. Es sind dies Sätze, in denen die Schauspieler nicht auf ihre eigene Identität, sondern auf ihre Rollen auf der Bühne hinweisen. »Ich bin Volker« ist genauso zu lesen: nicht als naive Selbstbehauptung einer auktorialen Identität, eine Lesart, zu der der Vorname des Dichters wie eine Falle einlädt, sondern als selbstironischer Hinweis auf die Rolle des Künstlers, die »jemand« im Laufe der Geschichte genauso spielt, wie andere die Rolle von Danton, Dmitri oder Lenin spielen. 38 39

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S. Rolf Michaelis, Dein Wort in Goethes Ohr! Das letzte Werk der DDR-Literatur: >Iphigenie in Freiheit [...], a.a.O. Anthonya Visser, »Und so wie es bleibt ist es«. Volker Brauns >Iphigenie in Freiheit^ eine Dekonstruktion des deutschen Einigungsprozesses?, a.a.O., S. 136. Zwischen Heiner Müllers Werk >Die Hamletmaschine< und Volker Brauns Text >Iphigenie in Freiheit lassen sie auch andere Gemeinsamkeiten herausarbeiten, die bisher nie untersucht wurden. Zu ihnen gehören u.a. der zum Teil gemeinsame intertextuelle Horizont, die Montagetechnik, die Einbeziehung von Selbstzitaten, die fünfteilige Komposition, die Betitelung der jeweiligen Episoden, die Problematik der Oktoberrevolution und die Anspielungen auf Stalin. Heiner Müller, Die Hamletmaschine, in: Theo Girshausen (Hrsg.), Die Hamletmaschine, Heiner Müllers Endspiel, Köln 1978, S. n. Heiner Müller, Die Hamletmaschine, a. a. O., S. 15. 135

Dieser »jemand« kann, historisch betrachtet, Volker Braun sein, der seine Rolle als Künstler im Bewußtsein seiner eigenen Historizität spielt. Deswegen zitiert er sich auch selber, um aus der verfremdeten Perspektive der Geschichte neue Erkenntnisse über sein Werk als historisches Produkt zu gewinnen. Volker Braun betrachtet sich als zeitgenössische Hypostase des »ewigen« Künstlers, genau so wie er Danton, Dmitri oder Lenin als historische Hypostasen ein und desselben Politikerprototyps sieht. Der Name Volker weist sicherlich mit sehr viel Selbstironie auf den prototypischen »Volker« hin: auf den gleichnamigen Minnesänger im >NibelungenliedSiegfried Frauenprotokolle Deutscher Furor< polemisiert hat. Das Syntagma: »Am Trog der Treue. Am Strick des Staats« ist ein Selbstzitat aus diesem Werk, mit dem Volker Braun das märchenhafte Bild der Burgundenkönige, so wie es Hebbel entworfen hatte, radikal korrigieren wollte. Dieses Syntagma begegnet in der Auseinandersetzung Siegfrieds, des politisch Unbequemen, mit Hagen, dem dem System Treuen, in einem Gespräch, das um das Thema Freiheit kreist: SIEGFRIED lacht Weist du mir den Weg. Den weiß ich selber. In ein freies Land. Das will ich Krimhild zeigen. Warum bei Den Knechten wohnen. Das ist euer Platz. In der Gefolgschaft jetzt. Am Trog der Treue. Im Kollektiv der Furcht. Am Strick des Staats.43

Volker, der Minnesänger, der Prototyp des deutschen Dichters, solidarisiert sich mit Siegfried und droht, selber ins Exil zu gehen, falls Siegfried aus politischen Gründen abgeschoben werden sollte. Das Thema Exil, diesmal als Form des individuellen politischen Protestes, taucht hier in einer neuen Variation auf. Volker, ein nobler Charakter, ein Träger der klassisch-humanistischen Kultur, kann nicht begreifen, warum die Weltgeschichte immer blutig sein muß. Volker ist ein Idealist, der nach Alternativen zur Gewalt 43

Volker Braun, Siegfried Frauenprotokolle Deutscher Furor, in: Ders., Texte in zeitlicher Folge, Band 8, a.a.O., S. 226. 136

sucht (»WIR MÜSSEN ANDERS DENKEN«**) und den Untergang der »Burgunden«, die Apokalypse der deutschen und der gesamten europäischen Zivilisation, verhindern möchte. Die tragische Ironie im Leben dieses noblen Charakters besteht darin, daß anders als im mittelalterlichen Epos Hagen den politisch unbequemen Siegfried mit einem Messer tötet, das ausgerechnet Volker, Siegfrieds Verteidiger, gehört. Gegen seine Instrumentalisierung durch die Macht vermag sich bei Volker Braun der Künstler kaum zur Wehr zu setzen. Durch das Selbstzitat aus >Siegfried Frauenprotokolle Deutscher FurorIphigenie in Freiheit um einen neuen Themenkomplex, zu dem die Gegensatzpaare Krieg und Frieden, Mord und Rache, Kunst und Macht, Untergang und Rettung, Mythos und Geschichte gehören. Diese Gegensätze werden in den vier Episoden der >Iphigenie in Freiheit nuanciert, variiert und vertieft. Wenn »Volker« ein auktoriales Ich, eine historische Hypostase des »ewigen« Künstlers darstellt, wer ist dann »DAS VOLK«, das typographisch so emphatisch gestaltet, den klein gedruckten »Volker« zu erdrücken droht? Um den Dichter Volker Braun mit Radek, einer seiner Gestalten aus dem Trotzki gewidmeten Drama, zu fragen: »Welches Volk meinen Sie [...]? Es gibt viel Volk«.45 Ist hier nur das Volk gemeint, das mit der Losung »Wir sind das Volk« für seine demokratischen Rechte 1989 in der DDR demonstriert hat? Wir dürfen uns von den ins Auge springenden Elementen des sozialistischen Vokabulars nicht irreführen lassen, zumal zu diesem Wortschatz auch andere historische Epochen gegriffen haben, um ihre Misere zu kaschieren. In Georg Büchners Drama >Danton's TodIphigenie in Freiheit ist, begegnet diese Losung ebenfalls: »Wir sind das Volk und wir wollen, daß kein Gesetz sei« (I, 2). Die Reduzierung des geschichtlichen Reflexionsraumes in >Iphigenie in Freiheit auf den Zeitraum vor und nach der Wende erscheint mir daher als problematisch. 44 45

Volker Braun, Siegfried Frauenprotokolle Deutscher Furor, a.a.O., S. 240. Volker Braun, T., in: Ders., Texte in zeitlicher Folge, Band 3, a.a.O., S. 194. 137

Dieser Reflexionsraum umfaßt nämlich nicht nur die Revolution von 1789 und die Oktoberrevolution, sondern auch die kubanische Revolution sowie andere revolutionäre Bewegungen auch. Das wird durch das Selbstzitat »Sprich dich ruhig aus« signalisiert, das in leicht modifizierter Form in einem weiteren politischen Werk Volker Brauns begegnet. »Sprich dich aus, Genösse«,46 fordert Fidel Castro den legendären Che Guevara in einem Gespräch über die Verwirklichung der sozialistischen Utopie auf, das im Mittelpunkt des Dramas >Guevara oder Der Sonnenstaat< steht. Die indirekte Evozierung des legendären Politikers bereichert das Problemspektrum der >Iphigenie in Freiheit um neue Dimensionen. Da Che Guevara nach seiner Ermordung eine Leitfigur für Befreiungsbewegungen in der Dritten.Welt wurde, erweitert sich der geschichtliche Reflexionsraum der >Iphigenie in Freiheit entsprechend. Die Syntagmen »DEM ABENDBROT ENTGEGEN« und »SEIT AN SEIT« tragen ebenfalls zu dieser Erweiterung bei. Das erste Syntagma ist ein verfremdetes Zitat aus dem Lied »Dem Morgenrot entgegen«, das »das erste Lied der Arbeiterjugendbewegung« 47 darstellt und gegen Anfang des 20. Jahrhunderts entstanden sein dürfte: Dem Morgenrot entgegen, ihr Kampfgenossen all! Bald siegt ihr allerwegen, bald weicht der Feinde Wall!*8

ertönte damals aus zuversichtlichem Munde. Dieser Geschichtsoptimismus ist Volker Braun abhanden gekommen. Der optimistische »Morgen« ist in >Iphigenie in Freiheit dem skeptischen »Abend« gewichen, der heroischen Verklärung der Arbeit wird ein nüchternes »Brot« entgegengesetzt, das Blutspuren aufweist. Diese Blutspuren prangern die politisch manipulierte Arbeit als mörderische Tätigkeit an, ein Gedanke, der in der vierten Episode 46 47 48

Volker Braun, Guevara oder Der Sonnenstaat, in: Ders., Texte in zeitlicher Folge, Band 5, a.a.O., S. 169. Karl Adamek (Hrsg.), Lieder der Arbeiterbewegung, 14. Auflage, Frankfurt am Main 1991, S. 144. Ebd. 138

der >Iphigenie in Freiheit^ vertieft wird. Das Syntagma »SEIT AN SEIT« zitiert das Lied »Wann wir schreiten«, das »aus den antimilitaristischen Aktionen der Arbeiterjugend während des i. Weltkrieges hervor [ging]«, »Anfang 1916 zum erstenmal öffentlich gesungen wurde« und zu den »beliebtesten Arbeiterjugendlieder[n]« gehört.49 Auch dieses Lied bringt einen Geschichtsoptimismus zum Ausdruck, den der Ablauf so vieler gescheiterter Revolutionen als erledigt erscheinen läßt: Wann wir schreiten Seit an Seit und die alten Lieder singen und die Wälder widerklingen, fühlen wir, es muß gelingen: Mit uns zieht die neue Zeit!50

Die Befreiung aus der ideologischen Gefangenschaft Wie gezeigt, skizziert der Prolog in äußerst konzentrierter Form den thematischen Horizont des Werkes. Der Prolog ist zugleich als eine arspoetica zu lesen, die den Text als polemisches Gespräch mit der literarischen Tradition wie als auktoriales Selbstgespräch definiert. Ihm folgen im >SPIEGELZELT< sieben weitere Textfragmente, deren thematische und poetologische Konsubstantialität sie als Vertiefung der Problematik des Prologs erscheinen lassen. Stand im Mittelpunkt des Prologs die These von der ideologischen Gefangenschaft des Menschen, die zu einer resignativen Kompromißbereitschaft, zur sozialen und politischen Lähmung, zum Krieg und zur Katastrophe führt, begegnet man im zweiten Textfragment der antithetischen Frage nach der Möglichkeit einer Befreiung aus dieser Gefangenschaft: Warum kommst du. Bruder oder Schwester. Ein wenig nur geschminkt wie ein Bericht. Liest du die Zeitung. MORD AN AGAMEMNON.

49

Karl Adamek, Lieder der Arbeiterbewegung, a. a. O., S. 150. 5° S. ebd. 139

Hast du gesagt Schwester. Sagte ich das. Schwester. Schwester. Schwester. Schwester. Schwester. Ich bins: Elektra. Unrecht vergeht nicht. Laß dich umarmen, liebes Ebenbild. Du bist mein Bruder ich bin deine Schwester Du täuschst mich nicht. Wäre ich blind Für die Geschichte die ich kommen seh. Mit deinem Auftrag dem Gebot der Götter Was denn für Götter, glaube ich an Götter Kommst du das Unrecht rächen, und die Toten Schaun aus der blutigen Wäsche HEIL OREST (S. 8)

Indem er die Struktur einer antiken Anagnorisis-Szene zitiert, gewinnt Volker Braun dem Motiv der Wiedererkennung zwischen Verwandten eine metaphorische Dimension ab, die durch die bewußt in der Schwebe gehaltene Ambiguität der Verwandtschaftsbezeichnung (»Bruder oder Schwester«) untermauert wird: als »liebes Ebenbild« fungiert hier das eher ideologisch als biologisch Verwandte, dessen politische »Maske« (»geschminkt wie ein Bericht«) im Akt der Reflexion als die eigene Maske erkannt und abgelegt wird. Dadurch werden die geistigen Prämissen für eine Selbstbefreiung aus der ideologischen Gefangenschaft geschaffen. Im Bild des geschminkten Berichtes gewinnt die Metapher von der Welt als einer Bühne politisch kritische Konnotationen. Zur Selbstbefreiung durch Reflexion gehört nicht nur die Hinterfragung der Instrumente, durch welche die eigene politische Manipulation erfolgt (»Liest du die Zeitung«), sondern auch die Entmythisierung derjenigen Instanzen, in deren Auftrag man handelt (»Was denn für Götter, glaube ich an Götter«). Der Zeitung als einem Instrument der politischen Manipulation begegnet man in mehreren Werken Volker Brauns. Im Drama >Lenins Tod< wird die Zeitung in einer pathetischen Rede als »unser Epos« bezeichnet, dessen »Sprache der Fakten, Zahlen, Dokumente« den Menschen »nach den Gesetzen des Kollektivs« zu modellieren hat.'1 In der Erzählung >Unvollendete Geschichte< preist sie die junge

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Volker Braun, Lenins Tod, in: Ders., Texte in zeitlicher Folge, Band 3, a.a.O., S. 158. 140

und unerfahrene Journalistin Karin als »de[n] kollektive[n] Agitator« > 2 . Karins naive Überzeugung lautet: Den Arbeitern, die ja, wie Genösse Lenin sagte, ihr Bewußtsein nicht selber bekommen können, denen muß man es bringen. Man muß es eben in sie hineintragen. Die Zeitung ist dazu am besten geeignet, man braucht sie nur zu lesen."

Die leise Kritik, der im Frühwerk Volker Brauns die Zeitung als Instrument der Macht unterzogen wurde, hat sich in >Iphigenie in Freiheit radikalisiert. »MORD AN AGAMEMNON« erscheint wie eine Sensation erregende Schlagzeile, die man mit größter Skepsis aufnehmen muß. Es ist die polemische Skepsis, die Volker Braun allem »Gedruckten«, allem Überlieferten gegenüber zeigt, und die eine Befreiung von der Vormundschaft tradierter Denkmodelle ermöglicht. Wer sich durch Reflexion aus der ideologischen Gefangenschaft befreit hat, ist fähig, klar wie Kassandra in eine Zukunft zu schauen, die im Zeichen des ewigen Unrechts steht. Ein bitter ironisches Wortspiel bringt das sprichwörtliche Unkraut, das nicht vergeht, mit dem endlos sich perpetuierenden Unrecht in Parallele. Und wie Kassandra, die weiß, daß sie das drohende Böse nicht vereiteln kann, bleibt dem politisch Luziden nur ein verzweifelter Wunsch übrig: »Wäre ich blind / Für die Geschichte die ich kommen seh«. Von welcher »Geschichte« ist nun hier die Rede? Es geht um den geplanten Muttermord, so wie dies Elektras Name suggeriert. Der Muttermord, der geplante Mord an der Mutter Erde, d.h. die bewußt vorangetriebene ökologische Apokalypse, wird in der vierten Episode der >Iphigenie in Freiheit thematisiert und im antithetischen Kontrast zum Vatermord gestaltet, den Shakespeares Tragödie >Hamlet, Prinz von Dänemark< wie unzählige antike und moderne Atriden-Dramen behandeln. Auch in dieser Akzentverschiebung vom traditionellen Vatermord auf den zeitgenössischen Muttermord darf eine typisch Braunsche Polemik mit der Tradition erblickt werden. ' z Volker Braun, Unvollendete Geschichte, in: Ders., Texte in zeitlicher Folge, Band 4, a.a.O., S. 18. 53 Ebd. 141

Über den Atriden-Stoff verbindet Volker Braun die deutsche Geschichte, die im Syntagma »HEIL OREST« als Echo des berüchtigten nationalsozialistischen Grußes präsent ist, mit der Universalgeschichte, die ebenfalls im Zeichen des Krieges und des Massensterbens steht. Der Selbsterkenntnis »Ich bin Volker« entspricht die Selbsterkenntnis »Ich bins: Elektra«. Auch wer sich subjektiv von diesem tragischen Geschichtsmuster distanziert, bleibt »Elektra«, bleibt Mitglied einer metaphorisch zu verstehenden Familie von »Mördern« (»Was für eine Familie MÖRDERVATER / MÖRDERMUTTER MUTTERMÖRDER«, S. 9), deren Identität sich über ihr Gewaltpotential definiert: Wer bin ich. Du bist mein Bruder, denn ich sehe Mich im Spiegel deines weißen Zorns. (Ebd.)

Die Tragik der Braunschen Elektra besteht darin, daß sie einerseits die Geschichte als Kette von Gewalttaten erkennt und ablehnt, andererseits aber, genau so wie Volker in >Siegfried Frauenprotokolle Deutscher FurorPhilotas< folgt ein zweites aus Georg Büchners Drama >Danton's TodDer Untergang des Egoisten Johann Fatzer< von Bertolt Brecht entnommen ist, so wie man es in der Bühnenbearbeitung von Heiner Müller kennt. Alle 142

drei Beispiele kreisen um die Frage, inwieweit das denkende Individuum, das sich subjektiv von der Gewalt als dem ewigen Geschichtsmuster distanziert hat, die Gewaltlosigkeit auch in die historische Praxis umsetzen kann. Eng damit verbunden ist natürlich die Frage, ob das pazifistische Handeln des Einzelnen geduldet oder bestraft wird, ob es auf historischer Ebene etwas bewirkt oder sich nur gegen den Einzelnen richtet, den es zum Außenseiter stempelt und ihn als Störfall liquidiert. Wenden wir uns nun diesen drei Beispielen zu in der Reihenfolge ihrer Montage. Lessings Trauerspiel >Philotas< beginnt mit einem Monolog des jungen Prinzen Philotas, der als Kriegsgefangener des Königs Aridäus über seine Gefangenschaft nachdenkt und diese als unerträgliche Erniedrigung empfindet. Es sind Themen, die wie ein roter Faden auch den Braunschen Text durchziehen. »So bin ich wirklich gefangen? - Gefangen!«,H heißt es bei Lessing. Die Gefangenschaft ist bei Volker Braun metaphorisch als Zugehörigkeit zu einer blutigen »Mörderfamilie« gestaltet, wobei die Verwandtschaft mit einem Wortspiel als »Verwundtschaft« bezeichnet wird: »So bin ich dir wirklich verwandt? Verwandt. Zugehörig dieser blutigen Verwundtschaft« (S. 8). Aus Philotas' tragischer Selbstironie (»Ein würdiger Anfang meiner kriegerischen Lehrjahre!« 55 ) macht Volker Braun einen weiteren Hinweis auf die metaphorische Dimension der blutigen »Verwandtschaft«, die ironisch als »Verwundtschaft« bezeichnet wird: »Ein trauriges Ende meiner spielenden Jugendzeit« (ebd.). Ist Philotas' Denken um traditionelle Pole zentriert (»O ihr Götter! O mein Vater!«56), die ihn als Träger eines kriegerischen Ethos und einer patriarchalischen Kultur ausweisen, wird bei Volker Braun der Akzent polemisch auf den Gegenpol, die Mutter Erde, gesetzt: »Ihr Wiesen. Du mein Bächlein« (ebd.). Philotas' Wunsch nach Freiheit (»Wie gern überredte ich mich, daß alles ein Traum sei!« 57 ) wird bei Volker Braun noch intensiver zum Ausdruck gebracht: »Wie gern überredte ich mich, daß alles nur ein Traum sei!« (Ebd.) Philotas' Gefangen54 55 56

57

Gotthold Ephraim Lessing, Philotas, in: Ders., Werke 1758-1759. Herausgegeben von Gunter E. Grimm, Frankfurt am Main 1997, S. 11. Ebd. Ebd. Ebd.

schaft ist auf die Wunde zurückzuführen, die ihm ein Feind im Krieg zugefügt hat: »Wenn ich sie nicht sähe, nicht fühlte, die Wunde, durch die der erstarrten Hand das Schwert entsank!«'8 Anders als bei Lessing stammt bei Volker Braun die lähmende Wunde nicht vom Feind, sondern vom Bruder, und sie wurde nicht durch eine Waffe, sondern durch einen Kuß verursacht: Wenn ich sie nicht sähe, die Wunde, die du auf meine zutrauliche Hand drücktest. Deine Lippen sind ein Brenneisen, Bruder, mit dem du mich stempelst, jetzt gehöre ich einer Familie, die sich schlachtet. (S. 8f.)

Der Lessingsche »Feind« (»O der grausamen Barmherzigkeit eines listigen Feindes!«'9) ist bei Volker Braun deswegen zum »Bruder« geworden (»O der zärtlichen Verschlagenheit eines blöden Bruders«, S. 9), weil in einer Welt der Kompromißbereitschaft die Grenzen zwischen Feind und Bruder labil sind, so wie dies im Prolog gezeigt wurde. Philotas sieht in der Wunde zugleich eine Freiheitschance. Stirbt er an den Folgen der Wunde, wird er frei, doch ist diese Freiheit illusorisch und der Gedanke daran nichts als Raserei: Wüßte ich, daß ich sie tötlich machte, wenn ich sie wieder aufriß, und wieder verbinden ließ, und wieder aufriß - Ich rase, ich Unglücklicher!60

Der Selbstmord scheint auch bei Volker Braun die einzige Tür zur Freiheit zu sein. Von den Küssen des Bruders heißt es: Wüßte ich, daß sie mich ersticken würden, ich würfe mich auf deinen Mund und ließe mich ließe mich ließe mich ließe mich ließe mich abschmatzen wie eine endlose Mahlzeit. Ich rase, ich Glückliche. (S. 9)

Diese Freiheit durch den Tod wird auch bei Volker Braun als Illusion und als Raserei geschildert, wobei die Raserei eine konkrete sprachliche Form annimmt, deren orgiastische Dynamik und ins Groteske gleitende Bildhaftigkeit dem Braunschen Fragment '8 Ebd. 59

Ebd.

6

° Ebd.

144

eine expressionistische Theatralik verleihen. Und wieder ist die Akzentverschiebung vom Männlichen aufs Weibliche festzustellen: war der Monologsprecher bei Lessing eine männliche Gestalt (»ich Unglücklicher«), ist bei Volker Braun eine weibliche Stimme wahrnehmbar (»ich Glückliche«), die als Gegenpol zu Philotas gedacht ist. König Aridäus hat sich durch Reflexion von der Gewalt distanziert und will durch Philotas Frieden stiften. Er plant, Philotas freizulassen und im Gegenzug den eigenen gefangengehaltenen Sohn frei zu bekommen. In Philotas erblickt König Aridäus nicht den Feind, sondern den eigenen Sohn, den ein ähnliches Schicksal ereilt hat. Nichts scheint einfacher, als durch diesen Gefangenentausch Frieden zu stiften, der im Interesse beider Kriegsparteien liegt. Philotas, dessen Befreiung bevorsteht, ist jedoch ein Gefangener seiner kriegerischen Ideologie. Er begeht Selbstmord in der Meinung, daß er dadurch seinem Vater zum Sieg verhelfen könnte. Der Vater müßte sich nach dem Tod des Sohnes nicht mehr dem Druck des Feindes beugen. Philotas' Kalkül ist nichts als falscher Heroismus, der einem verwerflichen Ethos entsprungen ist. Woran ist nun König Aridäus bei seinem Versuch gescheitert, im Einklang mit seinem Denken zu handeln, d. h. eine Alternative zur Gewalt als der Antriebskraft der Geschichte zu praktizieren? Offensichtlich am ideologischen Widerstand seines »Instrumentes«, am Widerstand des Philotas. Die wahre Gefangenschaft ist die Ideologie, die wahre Befreiung fängt mit der Befreiung von tradierten Denkmodellen an - so lautet das Ergebnis der Auseinandersetzung Volker Brauns mit Lessings >PhilotasDraht< zerreißt, das Wort, das sich nicht mehr vor den >Eckstehern und Paradegäulen der Geschichte< bückt«,74 einen »Akt der Freiheit«7'. Durch Luciles Ruf wird, so Paul Celan, keiner Monarchie und keinem zu konservierenden Gestern gehuldigt. Gehuldigt wird hier der für die Gegenwart des Menschlichen zeugenden Majestät des Absurden. Das [...] hat keinen ein für allemal feststehenden Namen, aber ich glaube, es ist... die Dichtung.76

An die Dichtung scheint Volker Braun in >Iphigenie in Freiheit^ tatsächlich noch fest zu glauben. Er ist sich jedoch dessen bewußt, daß angesichts der bevorstehenden Apokalypse, angesichts des bevorstehenden »Nichts« diese Dichtung eine transzendenzlose Dichtung ist. Sie vermag die »Eisenwand«, die den Menschen von seiner erträumten Welt trennt, nicht zu durchbrechen. Die Dichtung kann nur noch als Echo ihrer selbst existieren (»machen / machen«), sie kann nur noch sich selber reflektieren, sich nur noch mit sich selber beschäftigen. Daher das Zitieren, das Verfremden, das Montieren, das Polemisieren mit der Tradition und dem eigenen dichterischen Werk.77 Und dennoch vermag die Braunsche Dichtung in der transzendenzlosen Beschäftigung mit sich selber ihre eigenen Grenzen zu überschreiten und die Welt zu reflektieren. Allerdings entsteht das Moment der Reflexion nur in einem extrem aktiven Rezeptionsakt dieser Dichtung durch einen Leser, dessen Rezeptionsfähigkeit auf einer genauen Kenntnis des Braunschen Gesamtwertes basiert. Nicht so sehr der politische Kontext ihrer Entstehung begrenzt die Rezipierbarkeit dieser Dichtung als ihr polemischer Dialogcharaker. Außerhalb ihres Intertextualitätshorizontes ist diese Dichtung nur noch bedingt lesbar, so wie sie innerhalb ihres 74

Paul Celan, Büchner-Preis-Rede (1960), in: Büchner-Preis-Reden. 1951-1971, a.a.O., S. 90. 7 * Ebd. 76 Ebd. 77 »Ich brauche nichts. Ich bin da, da« stellt ein Selbstzitat aus dem Drama >Die Übergangsgesellschaft< dar (s. Volker Braun, Texte in zeitlicher Folge, Band 8, a.a.O., S. 161). Bezeichnenderweise erscheint dieser Satz in einem Textteil mit dem Titel >FINITA LA COMEDIAN, in dem der Untergang einer historischen Epoche thematisiert wird. 155

Intertextualitätshorizontes ein semantisches Potential entfaltet, das nur noch bedingt unter Kontrolle gehalten werden kann. Eine textimmanente Lektüre der >Iphigenie in Freiheit führt zu mageren Ergebnissen, eine Lektüre hingegen, die den intertextuellen Horizont des Werkes berücksichtigt, zu (fast zu) reichen. Doch scheint die Absicht der >Iphigenie in Freiheit< eine im Geiste Bertolt Brechts »planetarische demonstration«78 zu sein, weswegen die semantische Überladung des Werkes sich bis zu einem gewissen Punkt auch rechtfertigt. Zuweilen droht jedoch diese Überladung zur manieristischen Ornamentik zu erstarren, genau so wie die Polemik sich zu verselbständigen droht.

»Unter dem hellen Himmel der wie Blut stürzt« Die fragmentarische Struktur der ersten Episode mit dem Titel >SPIEGELZELT< kontrastiert mit der monolithischen Struktur der zweiten Episode, die die Überschrift >IPHIGENIE IN FREIHEIT« 79 trägt, genau so wie die intertextuelle Multivalenz der ersten Episode einen Kontrast zur intertextuellen Monovalenz der zweiten Episode zu bilden scheint. Während >SPIEGELZELT< keine Hinweise auf die Quellen seiner zahlreichen Zitate und auf die Zielscheibe seiner versteckten Anspielungen enthält, begegnet man in >IPHIGENIE IN FREIHEIT« wiederholt dem Namen Goethes (»DEIN WORT IN GOETHES OHR«, S. 18; »GOETHES BRAUT«, S. 22). Neben dem Namen des Weimarer Klassikers trifft man in der zweiten Episode auf geflügelte Worte, die aus seinen bekanntesten Werken stammen, hauptsächlich aus >Iphigenie auf Tauris< und vereinzelt aus dem Gedicht >Das Gött78

Zu seinem Drama >Hinze und KunzeFatzerhöchster standard technisch«, >planetarische demonstration«).« (Volker Braun, Arbeitsnotizen zu Hinze und Kunze, in: Ders., Texte in zeitlicher Folge, Band 2, S. 227.) 7 ? Der in Majuskeln angegebene Titel >IPHIGENIE IN FREIHEIT« bezieht sich auf die zweite Episode des Braunschen Werkes, dessen Titel nach wie vor in konventioneller Rechtschreibung als >Iphigenie in Freiheit« angegeben wird. 156

liche< und aus der >FaustIphigenie in Freiheit als einer polemischen Auseinandersetzung mit Goethes Werk >Iphigenie auf Tauris< zu legitimieren. Verzichtet nun Volker Braun auf einmal auf seine bewährte Strategie »einer produktiven Verunsicherung des Rezipienten«81 zugunsten einer Schreibstrategie, die den Rezipienten zu einem passiven Literaturkonsumenten verkommen läßt? Spielt nun auf einmal Volker Braun mit offenen Karten, indem er seine Zitatquellen angibt und die Zielscheibe seiner polemischen Attacken beim Namen nennt? Daran muß man zweifeln. Die expliziten Hinweise auf Goethe und sein Werk entpuppen sich bei einer näheren Betrachtung als eine bewußt in den Text eingebaute »hermeneutische Falle«, deren Funktion darin besteht, dem Leser seine unreflektierten Rezeptionsgewohnheiten vorzuführen und sie als Ergebnis einer kulturellen Manipulation zu entlarven. Mit aufklärerischem Witz wird dem Leser vorgeführt, wie falsch es ist, an das zu glauben, was man schwarz auf weiß liest! Der kulturell Manipulierte ist ein potentielles Opfer der politischen Manipulation. Ihm entgeht die Kontinuität der Geschichte mit ihren »logischen Zufällen«, ihm entgeht die tragische Essenz der Geschichte auf der Bühne des Welttheaters, ihm entgeht das Maskenhafte des eigenen Daseins. Volker Braun will seinen Leser erziehen. Seine erste Lektion lautet offenbar: mißtraue dem Bekannten, dem Gewohnten, dem unreflektiert Tradierten. Mißtraue der Apparenz! So »befreit« vom Namen Goethes und den geflügelten Worten aus seinem Schauspiel >Iphigenie auf Tauris< entdeckt man auch in der zweiten Episode von Volker Brauns Werk >Iphigenie in Freiheit ein wesentlich breiteres Intertextualitätsspektrum, das als Träger eines überaus reichen Sinnpotentials fungiert. Die ersten beiden Episoden erweisen sich allmählich eher als komplementär denn als antithetisch. 80 81

Diese Zitate aus Goethes Werk werde ich im Laufe meines Kommentars analysieren. S. Fußnote 33. 157

Anders als die bisherigen Kommentatoren der Episode >IPHIGENIE IN FREIHEIT^ erblicke ich den Schlüssel zu ihrer Interpretation weder in dem expliziten Hinweis auf Goethe noch in den geflügelten Worten aus seinem Schauspiel >Iphigenie auf TaurisIphigenie auf Tauris< stellt eine solche Utopie dar. Die Rede ist von der Utopie der Liebe, von der Utopie einer im Geiste des Humanismus erzeugten besseren Welt im allgemeinen. Die Utopie wird erst dann sichtbar, wenn der »Schlackehimmel«, die »Eisenwand« verschwindet. Die »Eisenwand« ist Bestandteil der Realität, und wenn sie verschwindet, dann nur in der Fiktion. Die Fiktion aber, die ihr Verschwinden thematisiert, muß als utopisch im Sinne von naiv, weltfremd, ja reaktionär apostrophiert werden. Goethes >Iphigenie< ist bei Volker Braun ein gutes Beispiel für eine solche Art von Fiktion, jedoch nicht das einzige. Die Mehrheit der Beispiele, die Volker Braun anführt, stammt, wie ich gleich zeigen werde, aus der russischen Literatur. >IPHIGENIE IN FREIHEIT* beginnt nicht zufällig mit der Beschwörung der Utopie: »Auf der Eiserne Vorhang« (S. 14). Der »Eiserne Vorhang« stellt als geflügeltes Wort die reale Entsprechung der fiktionalen »Eisenwand« dar. In der Metapher des »Eisernen Vorhangs«, die durch Winston Churchill berühmt wurde, doch bereits in der frühen antibolschewistischen Propaganda wie im Bildarsenal der Nazipropaganda begegnete,82 überlappen sich das Politische und das Theatralische, wird die Politik als Welttheater und das Welttheater als Politik geschildert. Die Vision des theatrum mundi, die in >SPIEGELZELT< durch Zitate aus der dramatischen Weltliteratur angekündigt wurde, bekommt in >IPHIGENIE IN FREIHEIT^ politischpolemische Akzente. Um die Schlüsselmetapher des hellen Himmels, der wie Blut stürzt, in ihrer Komplexität zu verstehen, ist es notwendig, Volker Brauns Gesamtwerk zu berücksichtigen. In der Immanenz des Textes bleibt diese Metapher ein rätselhaftes Bild. Es zu lösen, 82

S. Kurt Böttcher u.a., Geflügelte Worte. Zitate, Sentenzen und Begriffe in ihrem geschichtlichen Zusammenhang, 5. Auflage, Leipzig 1988, S. 648, Artikel 4194. 159

bedarf es wie so oft bei Volker Braun eines Umweges, der diesmal über seinen politischen Essay >RASKOLNIKOW TROTZKI GORBATSCHOW^ führt. Der Essay beginnt mit einem längeren Zitat aus einem Brief Dostojewskis an seine Frau, in dem die begeisterte Aufnahme seiner Rede über Puschkin im Kreis der Moskauer Freunde russischer Dichtung am 8. Juni 1880 beschrieben wird: Als ich am Ende die weltweite Einheit der Menschheit verkündete, war der ganze Saal wie hysterisch; ich kann Dir die Begeisterungsschreie nicht wiedergeben, als ich geredet hatte; einander unbekannte Menschen aus der Zuhörerschaft weinten, schluchzten und umarmten einander und gelobten, in Zukunft bessere Menschen zu werden, sich nicht mehr zu hassen sondern zu lieben ... [...] Es war ein vollständiger, ein absoluter Sieg! [...] Askalow (der Führer der Slawophilen) kam herein und erklärte, er werde nicht mehr sprechen, da alles gelöst sei durch die großen Worte unseres Genius - Dostojewski.84

Die Utopie, die er bei Puschkin fand, führte Dostojewski, so Volker Braun, in seinen großen Romanen aus: »Die zum Ende getriebene Beschreibung war Raskolnikow [...], besessen von einer Idee und im Besitz einer Axt, Onegin im fortgeschrittenen Stadium der Krankheit«. 8 ' Dieser literarischen Weiterführung, ja Potenzierung eines Gestalttyps »entsprach die [...] Verwirklichung des Typs im Leben. Onegin - Raskolnikow, Raskolnikow Trotzki.«86 Nach Volker Braun ist der »Kriegskommisar Trotzki das tragische Remake Raskolnikows auf dem Eis von Kronstadt«.87 In diese Reihe von literarischen Prototypen und historischen Gestalten ordnet Volker Braun auch den zeitgenössischen politischen Reformer Michail Gorbatschow ein:

8

3 Volker Braun, RASKOLNIKOW TROTZKI GORBATSCHOW, in: Sinn und Form 5/1992, S. 701-707. 84 Volker Braun, RASKOLNIKOW TROTZKI GORBATSCHOW, a. a. O., S. 701. 8 5 Volker Braun, RASKOLNIKOW TROTZKI GORBATSCHOW, a. a. O., S. 702. 86 Ebd. 8 7 Volker Braun, RASKOLNIKOW TROTZKI GORBATSCHOW, a. a. O., S. 703.

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Stalin fortgeschrieben von Dostojewski, zum romanhaften Ende gebracht, ist Gorbatschow. Sein Teil ist die Sühne für den Stalinismus, das letzte Kapitel der Sowjetunion. Der Genösse als Gentleman, das edle Extrem in der Zentrale, der Hauptreferent als philosophischer Aufklärer [...]. Dostojewskis Fantasie [...] fortentwickelt zum Reformprogramm: daß unser bettelarmes Land vielleicht zu guter letzt der ganzen Welt ein neues Wort sagen wird. Das neue Wort das NEUE DENKEN; das Gorbatschow seinerseits in seiner berühmten Rede, am 27. Januar 1987 vor dem Zentralkomitee, nüchtern formulierte.88 Der Kreis schließt sich durch eine Parodie auf den vorher zitierten Brief Dostojewskis. Als Gorbatschow am Ende die weltweite Einheit der Menschheit verkündete, war man in allen Fernsehsendern wie hysterisch; ich kann Ihnen die Begeisterung nicht wiedergeben, einander unbekannte Kommentatoren weinten sozusagen, schluchzten und umarmten einander förmlich, und die Politiker gelobten, ihre Völker zu lieben, statt sie zu hassen. Es war ein vollständiger, ein absolut vollständiger Sieg! Und tatsächlich schien es, als sei alles gelöst durch die großen Worte unseres Genius - Michail Gorbatschow.8? Von Dostojewski, dem Urheber der Utopie, heißt es: »Er starb, nach Blutstürzen, im Januar 1881.«?° Aus der Faktizität dieser Todesursache macht Volker Braun in >IPHIGENIE IN FREIHEIT< die Metapher von dem hellen Himmel, der wie Blut stürzt, ein Bild der gescheiterten Utopie, so wie er aus der Faktizität der Zürcher Spiegelgasse die Metapher von dem >SPIEGELZELT< gemacht hatte. Der Utopist verkommt zu einer tragikomischen Gestalt auf der Bühne des Welttheaters. Er schleicht aus dem zerfledderten Roman, der bürgerlich-proletarischen Prosa, zur Verbeugung aufs Theater: ein neuer Lear, der sein Reich zerstreute, er verfügt zuletzt über 20 Bewacher, eine Kleinrente und das Publikum im Hofbräuhaus [...]; der Politruk als Gottesnarr.91 88

Volker Braun, RASKOLNIKOW TROTZKI GORBATSCHOW, a. a. O., S. 7041. 89 Volker Braun, RASKOLNIKOW TROTZKI GORBATSCHOW, a. a. O., 5.705. 9° Volker Braun, RASKOLNIKOW TROTZKI GORBATSCHOW, a. a. O., S. 707. ?' Volker Braun, RASKOLNIKOW TROTZKI GORBATSCHOW, a. a. O., S. 706. 161

Untersucht man das Porträt von Thoas, so wie es in >IPHIGENIE IN FREIHEIT^ skizziert wird, entdeckt man Züge, die unmißverständlich den Typ des russischen Utopisten evozieren. An dieser Stelle muß auf das Detail insistiert werden, daß der Braunsche Thoas nicht allein mit Gorbatschow identifiziert werden darf, auch wenn der Name des Politikers ausdrücklich erwähnt wird (»PROST GORBATSCHOW. VERTILGEN WIR EINEN«, S. 17). Gorbatschow ist bei Volker Braun nur die historische Hypostase eines Prototyps, der sowohl in der Literatur (Onegin, Raskolnikow) als auch in der Wirklichkeit (Trotzki, Stalin) existiert hat. Der Braunsche Thoas ist selber eine solche Hypostase. Ihn als groteske Karikatur des edlen Goetheschen Thoas zu beschreiben (»Thoas zahnlos«, S. 17), hieße, seine polyphonisch konzipierte Gestalt auf eine einzige Dimension zu reduzieren. Der Braunsche Thoas ist gewalttätig wie Raskolnikow und wie Stalin: Er läßt mich los aus seinen Händen, seht ihr Das Würgemal. So hat er mich geliebt Für nichts als ein kindliches Lächeln. Thoas. (S. 15)

Er ist so wie Trotzki oder Gorbatschow »EIN AUFGEKLÄRTER HERR. / DER / EDLE THOAS« (S. 16), und wie die Zuhörer Dostojewskis an jenem denkwürdigen 8. Juni 1880 in Moskau ist er »EIN GUTER MENSCH GEWORDEN« (S. 16). Wie Stalin sitzt der Braunsche Thoas »auf seinen Leichen Jeder Tod ein Fehler« (S. 16), und wie Raskolnikow wird er »aus Fehlern [...] verrückt« (ebd.). »Das neue Denken / In seinem alten Kopf« (ebd.) ist die Denkart, für die sich sowohl Dostojewski in seiner Rede über Puschkin als auch Gorbatschow in seinem Reformprogramm ausgesprochen haben. Der Braunsche Thoas »wiegt sich im Glauben / Daß er die Welt versöhnt mit süßen Sätzen« (S. 17), genau so wie Dostojewski, Trotzki oder Gorbatschow. Er ist »ein Heiliger aber halb verhungert« (ebd.) genau so wie das russische Volk in den Romanen Dostojewskis, das »kein Hemd am Leibe aber lächelnd« (ebd.) auf seinen Erlöser wartet. Genau so wie Gorbatschow, der sich als Reformer »vor laufender Kamera [...] sein Amt aus den Händen nehmen [ließ]«92 und nun nach Ansicht

Ebd. 162

Volker Brauns eine tragikomische Gestalt auf der Bühne des Welttheaters abgibt, steht der Braunsche Thoas »zerrissen in dem Schauspiel« (S. 21), das seiner Kontrolle entglitten ist. Einst hat der Braunsche Thoas zusammen mit Orest Krieg »gegen den Rest der Welt« (ebd.) geführt, und ihre Allianz erinnert an den HitlerStalin-Pakt. Nun, da er die politische Macht verloren hat, konzentriert er seinen Machtwillen auf ein einziges Ziel, eine Frau namens Iphigenie.

Iphigenie, Sonja Marmeladowa, Marion Wer ist nun diese Frau, in der die meisten Kommentatoren nur ein Gegenbild zur Goetheschen Iphigenie erblickt haben? Auch sie läßt sich am besten durch das Prisma des politischen Essays >RASKOLNIKOW TROTZKI GORBATSCHOW< verstehen. Ihr Prototyp ist »die russische Schönheit, die Puschkin als erster gesucht und gefunden«?} und die Dostojewski in seinen Romanen verwandelt und gesteigert hat. Puschkins »russische Schönheit« ist, so Volker Braun, gegenüber Raskolnikows Geliebten Sonja Marmeladowa »ein pastellfarbner Entwurf [...]: das pastose Gemälde des sittlichen Ideals, die schöne Seele auf dem Strich«.94 Volker Brauns Iphigenie ist eine Hypostase der »russischen Schönheit«, eine Variante der edel gesinnten Prostituierten Sonja Marmeladowa, eine »schöne Seele auf dem Strich«. Jedoch nicht nur. Züge, die an eine andere nicht weniger berühmte Prostituierte erinnern, retten ihr Porträt vor intertextueller Monotonie. Die Braunsche Iphigenie evoziert zum Teil Marion, die Geliebte Dantons in Georg Büchners Drama. Diese gewagte Mischung aus russischer Schönheit und Büchnerscher Porträtkunst ist mehr als das bloße Gegenbild zur Goetheschen Iphigenie. Volker Braun erwähnt an mehreren Stellen Iphigenies Schönheit, die als historische Hypostase des russischen Prototyps ihre Makellosigkeit eingebüßt hat. Sie ist zwar »WOHLBEHALTEN« (S. 14), jedoch zu93 Volker Braun, RASKOLNIKOW TROTZKI GORBATSCHOW, a. a. O., S. 702. 94 Ebd. 163

gleich auch »EIN WENIG ABGESCHABT VON DEN BARBAREN« (ebd.). »SIE IST NOCH SCHÖN, OREST. / WENN AUCH NICHT KLUG« (S. 19). Ihre Schönheit vermarktet sie wie eine Ware. Nicht wie Sonja aus ethischen Gründen oder wie Marion aus einem hedonistischen Impuls, sondern aus rein pragmatischen Gründen. Bereits in >SPIEGELZELT< ist dieser Aspekt angedeutet worden: der Mensch Hat ein schönes Herz, aber Er kann es herausschneiden im Supermarkt Und wie mit jeder Die verloren ist Sache handeln. (S. nf.)

Die adversative Konjunktion »aber« trennt in diesen Versen die Utopie von der Realität, die Lüge von der Wahrheit. Iphigenie wird von Orest und Pylades, ihren Zuhältern, »geschminkt« (S. 19), »gekleidet« (ebd.), zur »Schaufensterpuppe« (ebd.) gemacht und »im Supermarkt« (ebd.) angeboten. Sie handelt »mit der Lust / Und mit der Liebe« (S. 20), so wie ihre Zuhälter »Menschenhandel. Oder Warenhandel« (S. 18) treiben. Denn: »ZUM HANDELN IST DER MENSCH. / ZUMAL DER GRIECHE« (S. 18). Derb wird sie als »HURE« (S. 20) und als »UNDANKBARES DING« (S. 19) beschimpft und einer verbalen Gewalt ausgesetzt (»LÜGNERIN UND MÖRDERIN«, S. 20; »ZEIG IHR WO GOTT WOHNT BEI / DEN GRIECHEN / IN DER FOTZE«, S. 21), gegen die sie zwar nur innerlich, jedoch genau so heftig reagiert (»Arschloch Arschloch / Arschloch«, ebd.). Diese verbale Gewalt entspricht der physischen Gewalt, die Iphigenie bei Thoas erlitten hat (»seht ihr das Würgemal. So hat er mich geliebt«, S. 15). Die Gewalt, die Iphigenie angetan wird, ist die Gewalt, die Elektra und Orest ihrer Mutter angetan haben, sie ist die Gewalt, die der Mensch der terra mater ständig antut: Mein Bruder braucht, das glaubt er, eine Schwester Er hat die Fallsucht seit dem Mord an Mutter Erde, jetzt jagt ihn die Erinnrung Mit Hunden. (S. 18)

164

Anstelle der mythischen Erinnyen tritt hier die geschichtliche Erinnerung auf. Die Projizierung Iphigenies ins Kosmische, ihre Parallelisierung mit der Mutter Erde findet hauptsächlich in der vierten Episode von >Iphigenie in Freiheit statt. Mit dieser Parallelisierung führt Volker Braun den Mythos von Agamemnons Tochter auf seinen Ursprung zurück, als Iphigenie noch eine chthonische Gottheit war. Auch wenn sie ihrer neuen Rolle gemäß »geschminkt« und »gekleidet« wurde, verliert Iphigenie keineswegs das Bewußtsein ihrer unzerstörbaren Identität als einer Hypostase des Weiblichen, vielleicht des Ewig-Weiblichen: Ich bin Iphigenie Und lebe dieses unlösbare Leben Mit meinem Leib und meiner eignen Lust. Ich lasse euch nicht los aus meinen Sinnen Mein Thoas mein Orest mein Pylades Griechen Barbaren eine wüste Welt Lust Haß Lust. Dieses Gefühl Ganz unauflöslich schneidet mich in Stücke Und wirbelt mich wie Köder vor die Fische Vögel pickt mich auf, Winde zerstreut mich Freude, in der Welt sein Alles schmecken Tod und Leben. (S. 23)

Dieses dionysische Lebensgefühl, das nach Auflösung der Identität und Verschmelzung mit dem All strebt, war bereits in der Auseinandersetzung mit Lessings >Philotas< durch die rasende weibliche Stimme angekündigt worden. Es erinnert an Marions Lebensgefühl, von dem es sich nur durch einige expressionistische Nuancen, jedoch nicht im Grundton unterscheidet: Aber ich wurde wie ein Meer, was alles verschlang und sich tiefer und tiefer wühlte. Es war für mich nur ein Gegensatz da, alle Männer verschmolzen in einen Leib. [...] Ich bin immer nur eins. Ein ununterbrochnes Sehnen und Fassen, eine Glut, ein Strom. (>Danton's Tod< I, 5)

Durch diese Gemeinsamkeiten in den Porträts Iphigenies, des weiblichen Pendants zu Philotas, und Marion, wird eine Brücke von der ersten zur zweiten Episode geschlagen, eine Brücke, die auch durch einige Züge im Porträt Thoas' getragen wird, die an Danton erinnern. Der Braunsche Thoas ist ein halb verhungerter 165

Heiliger, der Büchnersche Danton ein toter Heiliger (I, 5). Während auf Dantons Stirn das Genie der Freiheit schwebt (III, 4), trägt Thoas sein Reformprogramm, den »GEDANKE[N] DER MICH WIDERLEGT« (S. 25), »IN DER STIRN WIE EINE MINE / UND MEINE FREIHEIT IST ES, IHN ZU ZÜNDEN« (ebd.).

Weitere Elemente einer russischen Kulturwelt Man begegnet in >IPHIGENIE IN FREIHEIT* auch anderen Elementen, die zur russischen Kulturwelt gehören. Ein erstes Element wäre die »kyrillische Küste« (S. 14), an der das Geschehnis lokalisiert ist. Man denkt dabei an die kyrillische Schrift als die Schrift der Werke Puschkins und Dostojewskis, als die Schrift Trotzkis, Stalins oder Gorbatschows. Die Lokalisierung des Geschehens ist eine betont kulturelle und nicht geographische, eine betont fiktive, diffuse und keine konkrete und reale. An die DDR erinnert diese Lokalisierung jedenfalls kaum! In ihr schwingt vielmehr eine leise Anspielung auf William Shakespeares Lustspiel >Was ihr wollt< mit, dessen Handlung an der Küste von Illyrien stattfindet. Bedenkt man das gemeinsame Motiv des Wiedersehens zwischen tot geglaubten Geschwistern, das Shakespeares Lustspiel mit den meisten Atriden-Dramen verbindet, wird diese Anspielung noch deutlicher. Begann >SPIEGELZELT< mit einem Zitat aus einer Shakespeareschen Tragödie, so fängt >IPHIGENIE IN FREIHEIT< mit einer Anspielung auf eine Shakespearesche Komödie an. Auf der Bühne des Welttheaters wechseln zwar die Masken der Tragödie und der Komödie einander ab, die Essenz des politischen Schauspiels bleibt aber dieselbe. Ein zweites Element aus der russischen Welt ist der »rote[...J Platz« (S. 14), auf den Orest und Pylades treten, um Iphigenie von Thoas zurückzufordern. Der Moskauer Platz ist ein Topos in der Braunschen Dichtung, wo er meist als Schauplatz politischer Auseinandersetzungen fungiert. So beispielsweise in >DmitriIPHIGENIE IN FREIHEIT< sogar noch deutlicher. Sie kommt in der kritischen Überprüfung der von Goethe verabsolutierten Werte zum Ausdruck (»Zwischen uns sei Wahrheit! wessen Wahrheit«, S. 21) und radikalisiert sich in der Entmythisierung der von Goethe verklärten Antriebskraft des Eros (»Entwaffnet von der Werbung / Geht Iphigenie handeln mit der Lust / Und mit der Liebe. Lust und Liebe sind / Die Fittiche zu großen Taten. Ja. / Ich weiß die Zeit, wo wir sie vor uns sahn«,"2 S. 20). Die Polemik Volker Brauns gegen Goethes »Buch« >Iphigenie auf Tauris< ist jedoch nur eine Dimension seiner Polemik gegen eine literarische Tradition, in deren Mittelpunkt die Utopie steht. Zu dieser Tradition gehört nicht nur Goethe, sondern auch Puschkin, Dostojewski und Friedrich Schiller mit seinen »elend

Vgl. Goethes Schauspiel >Iphigenie auf Tauriss Verse 66 5 ff. 173

humanen Schillertexten«"3 aus dem >DemetriusDemetriusIPHIGENIE IN FREIHEIT< einer 113

So lautet die Kritik Volker Brauns an Schillers >DemetriusDemetriusIphigenie in Freiheit nicht leicht zu identifizierende Formen an. Marfa, die zu Unrecht gestürzte "Zarin, glaubt in Friedrich Schillers Drama an Demetrius als ihren Sohn und den legitimen Herrscher, der sie zu befreien kommt. Sie sagt: »Ich fasse mit lebendigem Vertrauen / Die Rettung an, die mir der Himmel sendet! Er ist's, er zieht mit Heereskraft heran, / Mich zu befreien, meine Schmach zu rächen! / Hört seine Trommeln! Seine Kriegstrompeten!« (in: Schillers Werke. Nationalausgabe. Elfter Band, Weimar 1971, S. 5if.). Volker Braun, der jegliche Form der Herrschaft als Unrecht apostrophiert und jegliches Freiheitsversprechen als utopisch anprangert, antwortet darauf: »Der Frieden den ich stifte loht wie Krieg / Thoas Orest gegen den Rest der Welt / Ich hör die Truppen roh im Hafen trommeln. / Klassische Weisen« (S. 21 f.). Die »klassischen Weisen« sind eine Anspielung auf die vorher zitierten Verse des »Klassikers« Friedrich Schiller, gegen den Volker Braun auch in seinen Arbeitsnotizen zu >Dmitri< polemisiert: »Schillers großartige Vorarbeit ist zum teil für die katz, weil ich seiner konstruktion angestrengt mißtraue. [...] wenn schiller sagt in seiner fabel, demetrius entwickle >bei dieser gelegenheit die mächtigsten kräfte der menschheits so antworte ich: irrtum, fritz. Die mächtigsten kräfte werden gar nicht angerührt, noch etwa geweckt; der fall spielt sich über den köpfen ab und ändert das leben der masse nicht.« (Volker Braun, Arbeitsnotizen zu Dmitri, a.a.O., S. 227.) 174

subtilen »Hierarchie« des Unrechts, die vom Einzelnen zu ganzen Völkern und von ganzen Völkern zum gesamten Planeten führt. Die Unterdrückung Iphigenies, die als Eigentum Thoas' zum Eigentum Orests »befreit« wird, stellt die erste Stufe des Unrechts dar, das der Einzelne erleidet. Die zweite Stufe, die bereits in der Anfangsepisode mit dem Titel >SPIEGELZELT< durch die indirekte Evozierung der Gestalt Che Guevaras angedeutet wurde, ist die Ausbeutung der Arbeitskraft in der Dritten Welt: »in den Wellblechbaracken / Verfault das Arbeitsvieh im Maul den Knebel« 1 ' 5 (S. 21). Ausgebeutet bis zur Erschöpfung wird auch die terra mater. Der Mißbrauch der Natur durch den verantwortungslosen Menschen stellt die dritte Stufe in der Hierarchie des Unrechts dar: »Hier ist der Hain der Göttin: kahle Bäume / Und Lethe unser Flüßchen stinkt zum Himmel« (ebd.). Die »HILFREICHE KUNST« verschweigt all diese Aspekte der Realität, beschönigt und verklärt deren Urheber, den gewalttätigen Menschen. Aus diesen Gründen wird die literarische Utopie heftig kritisiert und bitter ironisch als »EDELMÜLL« bezeichnet.

Eine postmoderne revolutionäre Literatur Volker Braun will der scheinbar hilfreichen Kunst, der literarischen Utopie, eine wahrhaft hilfreiche Kunst entgegenhalten, die das Unrecht in all seinen Schattierungen reflektiert. Auf die utopischen »Geschichte[n] [...], zurechtgemacht von Herrn Sophoklesshakespeareschiller in großen Abgängen, wie das Genre ankündigte«,"6 antwortet er mit dem ästhetischen und dem politischen

115

Es ist nicht auszuschließen, daß Volker Braun mit diesen Versen an das Gedicht von Erich Weinert, Puschkin in einer regnichten Abenddämmerung am Fenster seiner dunklen Stube in Michailowskoje, in: Ders., Kapitel II der Weltgeschichte. Gedichte über das Land des Sozialismus, Berlin 1947, anknüpft, zumal er in der dritten Episode der >Iphigenie in Freiheit< wörtlich aus diesem Gedichtband zitiert. Bei Erich Weinert liest man: »Dort frißt man sich am Fleisch des Volkes satt. / Das Volk kann noch nicht schrein, da es den Knebel / Noch der Bojarenfaust im Rachen hat.« (S. 13) 116 Volker Braun, Dmitri, a.a.O., S. 207.

Programm einer postmodernen revolutionären Literatur. Teil dieses Programms ist die Zertrümmerung des Bestehenden, die kritische Überprüfung der »Trümmer«, ihre Neuanordnung nach eigenen Gesetzen und Mustern. Keine Form der Autorität bleibt von der »Zerstörungswut« Volker Brauns verschont. Die Mythologie als Form der kulturellen Autorität am wenigsten. Anstelle einer einheitlichen Mythologie begegnet man in >Iphigenie in Freiheit Mythologemen, deren Neuanordnung das Unrecht als Essenz der Universalgeschichte ans Licht zu bringen vermag. Jede der vier Episoden kreist um ein Mythologem; die Sukzession der Mythologeme folgt jedoch nicht der antiken Mythologie, sondern reflektiert den Gang der Geschichte. Das dynamische, nach allen Seiten offene Fragment ersetzt die Abgeschlossenheit einheitlicher Strukturen, zersprengt das statische Moment etablierter Kontinuitäten, lädt zum Dialog und zur Selbstreflexion ein. »Die Welt ist ein Fragment, ich muß auf Montage«," 7 sagt eine Gestalt in Volker Brauns dramatischer Hommage an Anna Seghers, >Transit Europa. Der Ausflug der TotenIphigenie in Freiheit einer postmodernen Stilcollage, die sich aus Prosafragmenten, Dialogfetzen und Blankversen1'8 zusammensetzt. Der Text illustriert dank seiner Fragmentarizität, seiner Verfremdungen, seiner stilistischen Vielfalt und seines Montage- und Zitatcharakters das Programm einer postmodernen revolutionären Literatur, die im Dialog mit dem kundigen Leser entsteht und auch dessen Lese- und Rezeptionsgewohnheiten re-

117 Il8

Volker Braun, Transit Europa. Der Ausflug der Toten, a.a.O., S. 137. Vgl.: »Vorbei die Langeweile Griechenlands. / Das öde Feld belebt sich, meine Seele. / DAS IST DER AUGENBLICK: DAS GLÜCK / DAS GRAUEN«, S. 9. 176

volutionieren möchte. Der Text ist dabei kein ein für alle Male schriftlich fixiertes Produkt, sondern das lebendige, dynamische, in steter Verwandlung sich befindende Resultat eines Dialogs. Die Frage, ob die postmoderne revolutionäre Literatur, so wie sie >Iphigenie in Freiheit verkörpert, nicht selber eine Utopie darstellt, solange ihre an Ästhetizismus grenzende Hermetik die Rezeption ihrer politischen Aussage häufig verhindert, muß offen bleiben. Die postmoderne revolutionäre Literatur hat im Unterschied zu der sozialistischen Literatur den Glauben aufgegeben, einen direkten Einfluß auf den Lauf der Geschichte ausüben zu können. Sie will zwar das Bewußtsein für das Unrecht schärfen, das Unrecht selber kann sie jedoch nur ästhetisieren. Die einzige »Lösung«, die Volker Braun in der zweiten Episode seiner >Iphigenie in Freiheit< bietet, erinnert in ihrem existentialistisch gefärbten Zynismus an die Hauptthese der ersten Episode: der einzige Weg zur Freiheit ist die Selbsttötung. Auf die Gewalt als Form des Unrechts wird in >IPHIGENIE IN FREIHEIT^ mit einer Gegengewalt geantwortet, die das Opfer nicht auf das Unrecht und dessen Urheber, sondern auf sich selber richtet, einer fehl geleiteten Gegengewalt, die an Emilia Galottis tragisches Ende denken läßt. Auch Gotthold Ephraim Lessings Protagonistin reagiert auf die Gewalt, die sie erleiden mußte, mit einer Gegengewalt, die sie gegen sich selber und nicht gegen den Urheber der ursprünglichen Gewalt richtet. Die abschließenden Verse der Episode >IPHIGENIE IN FREIHEIT< stellen jedoch keine direkte Auseinandersetzung mit Gotthold Ephraim Lessings bürgerlichem Drama dar, sondern zitieren erneut in verfremdeter Form Heiner Müllers Textcollage >Die HamletmaschineANTIKENSAAL< »die DURCHGEARBEITETE LANDSCHAFT« (S. 30), von der es heißt: »die HAT ES HINTER SICH« (ebd.). Die »DURCHGEARBEITETE LANDSCHAFT« ist die Natur, die durch den »Wahnsinn« (S. 32) der industriellen Zivilisation verstümmelt wurde. Als Urheber dieser Verstümmelung gilt ein androgynes Wesen namens »Elektraorest« (S. 12), das den Menschen versinnbildlicht. Dieses Wesen hat seine Mutter, die terra mater, getötet, genau so wie im antiken Mythos die Geschwister Elektra und Orest ihre Mutter »Klytämnestra« (ebd.) umgebracht haben. Die »DURCHGEARBEITETE LANDSCHAFT« stellt nicht nur den Titel eines Braunschen Gedichtes dar, in dem die Zerstörung der Natur »mit unseren Werkzeugen«, »Stahlgestängen« und »rohen Kisten«1'1 geschildert wird, sondern ist auch eine thematische Konstante seines literarischen Schaffens von Anbeginn an. I)2 Um das mörderische Verhältnis zwischen Mensch und Natur zu schildern, appelliert Volker Braun in der vierten Episode der >Iphigenie in Freiheit erneut an den antiken Mythos. Als »Palimpsest« dient ihm der Mythos von der Entmannung des Uranos, so wie er in Hesiods >Theogonie< (153-210) erzählt wird. 129

Dieter Schlenstedt, Durchgearbeitete Landschaften Volker Brauns, in: Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik, Band 36-1993, S. 86. 130 In dem Prosatext >Der Schlamm< bildet Volker Braun ein ähnliches Wortspiel, indem er die Zivilisation höhnisch als »Ziehviehlisation« bezeichnet, s. Volker Braun, Der Schlamm, in: Ders., Das ungezwungene Leben Kasts, Berlin und Weimar 1979, S. 40. 131 Volker Braun, Durchgearbeitete Landschaft, in: Ders., Texte in zeitlicher Folge, Band 4, a.a.O., S. 88f. 132 S. dazu den Aufsatz von Dieter Schlenstedt, Durchgearbeitete Landschaften Volker Brauns, a.a.O., S. 81-100. 184

Als Uranos-Gestalt fungiert bei Volker Braun »der MANN DER NEBEN DER STARTBAHN WOHNT, FÜR DIE ER DEN BETON BEREITET« (S. 29), als Gaia-Gestalt fungiert eine weibliche »SCHÖNHEIT«: »sie muß eine SCHÖNHEIT sein, wenn man seinem Blick glauben darf, den er jetzt senkt, SCHÖN ihre Arme und Brüste« (S. 30). In der Betonung der Schönheit der Frau darf man eine Fortsetzung der »russischen Schönheit« erblicken, so wie sie Puschkin, Dostojewski und Volker Braun selber in seiner Iphigenie beschrieben haben. Diese »russische Schönheit« wurde ins Kosmische projiziert, und sie versinnbildlicht nun die Schönheit Gaias, der Mutter Natur. »Der MANN DER NEBEN DER STARTBAHN WOHNT, FÜR DIE ER DEN BETON BEREITET« ist als Metapher für den heutigen Menschen zu verstehen, der durch die gewaltsame Inbesitznahme der Natur die Grundlagen seiner eigenen Existenz vernichtet. Am besten versteht man die Paradoxie dieser Metapher, wenn man sie als Selbstzitat in ihrem ursprünglichen Kontext liest. Indem er über seine Exilsituation nachdenkt, sagt der Jude Freudental in Volker Brauns Drama >Transit Europa. Der Ausflug der TotenANMERKUNG< zu >Iphigenie in Freiheit (S. 35) bezeichnet, erwies sich als Krieg. Die Dialektik der »friedlichen Arbeit« ist vergleichbar mit der Dialektik der Aufklärung: er schreitet über sie weg an sein wahnwitziges Werk, stampft sie ins Planum mit der Preßluftramme, harte Arbeit der Männer in der freien Natur, die panisch aufblüht, ZUVIELISATION! MÖRDER!, Wahnsinn, zu dem er verurteilt ist [...]. (S. 311.)

Die industrielle Zivilisation entpuppt sich als ein Rückfall in die Barbarei (»er starrt, mit seinen verwilderten Augen, auf das Bett«, S. 30), die Spuren der gewaltsamen Vereinigung erinnern an den »Schlackehimmel«, der in >SPIEGELZELT< jede Hoffnung auf

134 Vgl. folgende Passage aus dem Prosatext >Bodenloser SatzTheogonie< wird der gewalttätige Uranos für seine Taten mit der Entmannung bestraft. Keine Kronos-Gestalt führt bei Volker Braun die Kastration durch, sondern die UranosGestalt selber. Anstelle der mythischen Sichel benutzt er dafür das Blatt der Schaufel, des Arbeitsinstrumentes, mit dem der Mord an der Mutter Natur einst begonnen hatte: »und der Gestrafte, auffahrend aus seiner antikischen Haltung, sticht das Blatt der Schaufel in sein nutzloses Geschlecht, die Hoden glitschen blutig auf den Zementsack« (S. 32). Mit der Selbstentmannung als dem Bild eines freiwilligen Verzichts auf die Gewalt kehrt das Chaos nicht als Ende des Seins, sondern als Chance auf einen Neuanfang zurück. Auf das dunkle Bild des »Schlackehimmels« in >SPIEGELZELT< antwortet >ANTIKENSAAL< mit dem Bild des Kinderleibs, »der in die Türen tritt« (S. 33) und eine neue Welt im Keim verkörpert. Der Kreis schließt sich an diesem Punkt mit der Erkenntnis, daß die Freiheit, nach der in allen vier Episoden gesucht wurde, kein glücklicher Dauerzustand sein kann, sondern nur ein schmerzvoller Augenblick ist, dessen schöpferisches Potential jedoch einen Neuanfang bedeutet: »die eine Sekunde des Schmerzes der Freiheit« (S. 32).

»Alles Erben ist zugleich Polemik« Die Analyse der >Iphigenie in Freiheit hat den intertextuellen Horizont dieses Werkes herausgearbeitet und auf die bisher kaum bemerkte Schlüsselrolle der Braunschen Selbstzitate in der Gestaltung seines Bedeutungspotentials aufmerksam gemacht. Sie hat die thematische und die stilistische Einheit des fragmentarisch strukturierten Textes bewiesen und die geistigen Wurzeln der Weltanschauung gezeigt, die diesem Text zugrunde liegt. >Iphigenie in Freiheit erwies sich als ein paradoxes Werk, das einerseits in seiner rhetorischen Polyphonic und seiner hermetischen Selbstreferentialität jegliche Schreibtradition negiert, andererseits aber traditionelle Denkmuster von selten getrübter Transparenz transportiert. 187

Für Volker Brauns Schreibweise ist dies eine konstitutive Paradoxie, die er in einer Diskussion wie folgt beschrieben hat: Alles Erben ist zugleich Polemik. Und das hat einerseits den Vorteil, daß da große Dinge bewahrt werden, und zum anderen, daß das Heutige in der Verwandlung plötzlich deutlicher wird, weil es auf der Folie von alten Abläufen oder Gedanken abrollt. Damit wird das Heutige verfremdet und zugleich vielleicht schärfer gefaßt.13'

»Das Heutige« kann in >Iphigenie in Freiheit weder auf die politischen Realitäten eines einzigen geographischen Raumes noch auf die Probleme einer einzigen historischen Epoche reduziert werden. Es besitzt zeitlich und räumlich weltumspannende Dimensionen, deren gemeinsamen Nenner Volker Braun herausdestilliert hat. Dieser gemeinsame Nenner ist in >Iphigenie in Freiheit die Gewalt. Die Ausbeutung der Natur und der Arbeitskräfte in der Dritten Welt, der Mißbrauch der Frau und ihre Degradierung zur Ware, die zynisch versprochene Freiheit, die sich als Sklaverei entpuppt, die Verdrängung der Vergangenheit und der Massenmord sind die zeitlich und räumlich sich gleichenden Facetten ein und desselben Phänomens: der Gewalt. Die »unpolitische«, weil emotional bedingte, passive Antwort auf die Gewalt ist in >Iphigenie in Freiheit das Exil: das Exil des Menschen, das »Exil« der Natur, die allmählich verschwindet. Die politische Alternative zur Gewalt wird hingegen in Bildern suggeriert, die der antike Mythos liefert. Die Alternative heißt metaphorisch »Entmannung« und wird als freiwilliger Verzicht auf ein Gewaltpotential geschildert, das traditionellerweise dem Mann zugeschrieben wird. Die Gewalt trägt jedoch in >Iphigenie in Freiheit keine geschlechtsspezifischen Merkmale. Sie kennzeichnet gleichermaßen sowohl die Hypostasen des Männlichen als auch die Hypostasen des Weiblichen. Nicht nur Thoas hinterläßt ein Würgemal um Iphigenies Hals, auch Iphigenie tötet jeden ideologischen Eindringling, der ihre utopische »bessere Welt« (S. 15), den als »Weltfrieden« getarnten »Weltkrieg« (ebd.), gefährdet. Ob die »Selbstentmannung«, der 135

Volker Braun und Christoph Hein in der Diskussion, in: Anna Chiarloni u.a. (Hrsg.), Die Literatur der DDR (1976-1986). Akten der internationalen Konferenz Pisa, Mai 1987, a.a.O., S. 440. 188

freiwillige Gewaltverzicht, für den Volker Braun in >Iphigenie in Freiheit plädiert, nicht auch eine genau so schöne politische Utopie ist wie die »Freiheit« selber, bleibt dahingestellt. Sicher ist nur, daß Volker Brauns Plädoyer für eine gewaltfreie Weltordnung zugleich ein Plädoyer für eine neue Lesart des antiken Mythos ist, dessen polemische Demontage als eine fruchtbare hermeneutische Provokation bezeichnet werden darf.

189

IV. Politisierung durch Allegorisierung: Botho Strauß' >Ithaka. Schauspiel nach den Heimkehr-Gesängen der Odyssee
Odyssee< 19, 203)

»Das souveräne Mißverständnis, das inspirierte Versehen« In einer seiner frühen Erzählungen aus den siebziger Jahren, als er noch als treuer Anhänger der Frankfurter Schule galt und weit davon entfernt war, als Gnostiker, konservativer Revolutionär, Reaktionär oder gar Faschist apostrophiert zu werden, spielte Botho Strauß mit dem Gedanken einer extravaganten »Theorie der Literatur [...], derzufolge man Texte danach beurteilt, ob sie das souveräne Mißverständnis, das inspirierte Versehen, den ungenauen Leser zulassen oder nicht.«1 Welch eine Ironie des Schicksals! Zu jenem Zeitpunkt ahnte Botho Strauß wohl kaum, daß gerade seine eigenen Werke einmal die Beurteilungskriterien dieser Pseudotheorie erfüllen würden. Neben dem berühmt-berüchtigten kulturkritischen Essay Anschwellender BocksgesangDeutsche Literatur 1993. JahresüberblickIthaka< beiwohnten, in der Straußschen Homer-Bearbeitung politischen Sprengstoff von der Kraft und der Couleur des Anschwellenden Bocksgesangs< witternd, gab es Stimmen, die enttäuscht waren, in >Ithaka< kein »ideologisches Manifest [...], ein poetologisches schon eher«« gefunden zu haben. Daß >Ithaka< ein ideologisches und zugleich ein poetologisches Manifest darstellt, werde ich in diesem Kapitel zu zeigen versuchen. Andere Kritiker monierten den »Korrekturstift«, zu dem Botho Strauß angeblich gegriffen habe, um das bei Homer detailreich ausgemalte Gemetzel der Freier zu schildern. Das Segeltuch, mit dem Botho Strauß in >Ithaka< das Blutbad an den Belagerern Penelopes verhüllt, ist, wie ich zeigen werde, weder ein Tribut, den eine bieder verstandene politische Korrektheit fordert, noch ein »Deckmantel des guten Geschmacks«5 oder gar »ein bühnendekkendes Feigenblatt«,6 sondern ein berühmtes filmisches Zitat, das einen Schlüssel zur Interpretation des Schauspiels liefert. Ich werde dieses filmische Zitat in meinem Kommentar zu >Ithaka< ausführlich analysieren und seine konstitutive Bedeutung für die Weltanschauung von Botho Strauß erweisen. Daß mit »dieser dramatischen Träumerei aus der Odyssee [...] keine Gegenwart gemeint« 7 sei, war eine in den Rezensionen zu Band 38/39-1995, S. 583-608, systematisiert die Reaktionen auf Botho Strauß' Essay und setzt sich kritisch damit auseinander. Eine Auseinandersetzung mit dem Anschwellenden Bocksgesang< würde den Rahmen dieses Kapitels sprengen; dennoch werde ich im Laufe meiner >IthakaIthaka< häufig begegnende Meinung. Man übersah dabei eine wesentliche Dimension dieses auf den ersten Blick zeitlich rückwärts gewandten Schauspiels: die Auseinandersetzung seines Verfassers mit der Problematik der deutschen Wiedervereinigung, eine Auseinandersetzung, die Botho Strauß in den Stücken >Schlußchor< (1991) und >Das Gleichgewicht (1993) begonnen hatte und die er in >Ithaka< mit anderen dramatischen Mitteln fortführt. Ich werde in meinem Kommentar zu >Ithaka< die Haltung Botho Strauß' der deutschen Wiedervereinigung gegenüber analysieren, so wie sie im Kontext seiner Auseinandersetzung mit der Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert erscheint. Dabei gilt es, die oft zum Ausdruck gebrachte Meinung zu widerlegen, der Straußsche Odysseus überwinde die Moderne »durch die Restitution der archaischen Ordnung«, indem er »das »katechontische Reich« stifte und »die Überlebenden in die >Kindheit der WeltGlaube und Liebe< [...]. Wie schon bei Novalis sind König und Königin auch hier vor allem Metaphern für die Utopie einer idealen, >organischen< Gesellschaftsverfassung.«10 Ich werde in meinem Kommentar zeigen, daß die Wiedervereinigung von Odysseus und Penelope, von König und Königin, bei Botho Strauß erst durch die blutige Zerstörung der Utopie ermöglicht wird und keineswegs ein utopiestiftendes Moment darstellt. Die Vereinigung von König und Königin führt in >IthakaIthaka< und die kulturphilosophischen Transformationen von Botho Strauß, in: Theater heute, Heft 8, August 1996, S. 7. Richard Herzinger, Die Heimkehr der romantischen Moderne. Über >Ithaka< und die kulturphilosophischen Transformationen von Botho Strauß, a.a.O., S. 8. 193

Karl Heinz Bohrer geht in seiner >IthakaIthaka< deswegen aus, weil Botho Strauß »die tödliche Metaphernsprache der Homerischen Tötungs- und Sterbeszenen [...] auf wenige Handlungselemente«12 reduziert habe. In Karl Heinz Bohrers Kommentar heißt es: Strauß [...] hat, einem generellen und persönlichen Interesse am Mythos folgend, [...] keine aktuelle Thematik erkennbar gemacht. Und gerade deshalb erweist sich seine Halbherzigkeit, sein Ausweichen vor der Homerischen Grausamkeit als unverzeihlich, weil dadurch das überaus dramatische Epos in einem Schauspiel aufgeht, das episch verlangsamt, ja stillsteht, wo Explosion und Ausbruch angemessen wären. Dieses Unentschiedene des Stücks ist der entscheidende Grund für sein künstlerisches Defizit.'3

In seiner szenischen Bearbeitung der Heimkehr-Gesänge der >Odyssee< hat Botho Strauß eine Rhetorik des Fragmentarischen entwickelt, die von den Gestalten der »Drei fragmentarischen Frauen«, »Knie«, »Schlüsselbein« und »Handgelenk« (S. 6), versinnbildlicht wird. Das bedeutet, daß die weggelassenen Fragmente aus dem homerischen Epos als relevant zu betrachten sind. Paradoxerweise sind sie relevant in absentia. Ihre Abwesenheit signalisiert eine künstlerische Intention und ein ästhetisches Programm, das Botho Strauß in >Ithaka< konsequent verwirklicht. Nicht »Explosion und Ausbruch« kennzeichnen dieses Bertolt Brecht verpflichtete Programm, sondern Reflexion. Nicht Pathos wird in >Ithaka< angestrebt, sondern intellektuelle Distanz, nüch11

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Karl Heinz Bohrer, Das Homerische Phantasma Grausamkeit. Aus Anlaß von Botho Strauß' >IthakaIthakaIthakasIthaka< »als Botho Strauß' dramatisierte Lektüre weniger Homers als vielmehr Carl Schmitts«.14 Dessen politische Theologie und Lehre von der Souveränität liefert Hans Jürgen Scheuer den Begriff des »Wunders«, das für die Theologie eine analoge Bedeutung hat wie der Ausnahmezustand für die Jurisprudenz.15 Die eigentlich gar nicht auffällige Rekurrenz des Wunderbegriffs in >IthakaIthaka< als souveränitätsstiftende Tat in einem Ausnahmezustand zu deuten. Carl Schmitt betont jedoch in seiner politischen Theologie, daß »der Ausnahmezustand immer noch etwas anderes ist als eine Anarchie und ein Chaos«,16 während Botho Strauß den Hof des Odysseus gerade als Inbegriff der Gesetzlosigkeit, der Anarchie und des Chaos schildert. Aus dem Kreis der sogenannten Konservativen Revolution17 wird in >Ithaka< nicht Carl Schmitt, sondern Oswald Spengler zitiert, und zwar wörtlich. Ich werde in meinem Kommentar zu >Ithaka< auf das Zitat aus Oswald Spenglers Werk >Der Untergang des Abendlandes< verweisen.

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Hans Jürgen Scheuer, »Von der Gestalt der künftigen Tragödie wissen wir nichts«. Zur Bearbeitungstendenz der dramatisierten Homer-Lektüre >Ithaka< von Botho Strauß, in: Text + Kritik 81, Botho Strauß, 2. Auflage: Neufassung, München 1998, S. 139. S. Carl Schmitt, Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, 4. Auflage, unveränderter Nachdruck der 1934 erschienenen 2. Auflage, Berlin 1985, S. 49. Carl Schmitt, Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, a.a.O., S. i8f. Ich verwende diesen Begriff, so wie er bei Stefan Breuer in seinem Buch mit dem Titel: Anatomie der Konservativen Revolution, 2., durchgesehene und korrigierte Auflage, Darmstadt 1995, definiert wird. 195

Die bisher umfangreichste Auseinandersetzung mit >Ithaka< ist bei Steifen Damm in seinem Buch >Die Archäologie der Zeit. Geschichtsbegriff und Mythosrezeption in den jüngeren Texten von Botho Strauß< zu finden. 18 Steifen Damm versucht zu zeigen, daß »Ithaka [...] sich wie ein szenischer Kommentar zu den Krisenbefunden des Anschwellenden Bocksgesangs« liest.19 Die »bei weitem deutlichsten Parallelen zwischen Ithaka und Anschwellender Bocksgesang« sucht Steifen Damm »in einer kritischen Bestandsaufnahme gesellschaftlicher Ermüdungs- und Degenerationserscheinungen«.20 Dagegen wäre einzuwenden, daß Botho Strauß diese »Ermüdungs- und Degenerationserscheinungen« bereits in seiner Komödie >Der Park< zum Gegenstand satirischer Darstellung gemacht hat, die 1983, d.h. zehn Jahre vor dem Anschwellenden Bocksgesang< geschrieben wurde. >Ithaka< transportiert kein Gedankengut, das ausschließlich im Anschwellenden Bocksgesang< zu finden wäre, sondern verwirklicht Konstanten des Straußschen Denkens. Weitere Argumente zugunsten dieser These lassen sich unschwer finden. »Was Strauß an den antiautoritären Erziehungsmodellen seiner Generation zu monieren hat«, schreibt Steifen Damm, »ließe sich ohne weiteres auf Ithakas Jungvolk übertragen: Beiden Generationen gebricht es an aktuellen Vor- und Leitbildern.«21 Bereits 1981, d.h. fünfzehn Jahren vor >IthakaKalldewey, Farce< der Satz zu lesen: »Es fehlt der geistige Führer im Land!« 22 Und in einem Gespräch mit Volker Hage vom 15. Februar 1980 hatte Botho Strauß verraten, daß er sich seit der Trennung von Peter Stein und Henning Rischbieter »führerlos« fühle. »Gerne würde er einmal einem alten Mann zuhören, einem älteren Schriftsteller, der Erfahrung hat und eine Autorität für ihn darstellt: so jeman18

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Steifen Damm, Die Archäologie der Zeit. Geschichtsbegriff und Mythosrezeption in den jüngeren Texten von Botho Strauß, Opladen, Wiesbaden 1998. Das V. Kapitel des Buches enthält einen ausführlichen Kommentar zu >Ithakadas von einem Fünfunddreißigjährigen zu hörenerwachsen< geworden zu sein.«23 Die Klage um die Abwesenheit von Vor- und Leitbildern hat bei Botho Strauß autobiographische Züge und hängt mit einer provokativen Pose zusammen, die er auch als Verfasser von >Ithaka< angenommen hat. Gegen die These Steifen Damms, daß sowohl in >Ithaka< als auch im Anschwellenden Bocksgesang< der »Antizipation eines drohenden, noch namenlosen Unheils, dessen >Einbruch< in naher Zukunft bevorsteht«, 24 »eine zentrale Funktion zukommt«, 2 ' ist einzuwenden, daß in >Ithaka< das »drohende, namenlose Unheil« nur anfänglich leicht skizziert, jedoch nicht weiterverfolgt wird. Penelope sagt zwar in einer der ersten Szenen des Schauspiels: »Das Ende kommt, das Ende naht. / Was ich weiß, Eurykleia, ist furchtbar« (S. 25), doch verläßt Botho Strauß noch in der Anfangsphase des Dramas diese von Penelope verkörperte apokalyptische Ebene seiner Homer-Bearbeitung. Für Penelope stellt das Unheil keine Gewißheit, sondern eine Hypothese dar, für deren Wahrheitsgehalt nur abergläubische Zeichen, jedoch kein inneres Gefühl sprechen: Hörst du, wie der Sohn meine Worte beniest? Am Ende wird noch ein fetteres Fest als meine Hochzeit sämtlichen bevorstehen, bei dem nicht nur Rinder und Schweine geschlachtet werden? (S. 43)

Zwischen der thematischen Exposition und der tatsächlichen Durchführung der angekündigten Themen tut sich in >Ithaka< nicht selten eine Kluft auf, auf die ich später meine Aufmerksamkeit lenken werde. Keiner der Protagonisten in >Ithaka< lebt im »Terror des Vorgefühls«,26 auch Penelope nicht. Zukunftsängste suchen in >Ithaka< keinen heim, aucb Penelope nicht, deren anfänglich angesprochene Ängste nicht vertieft werden. Weder 13 24 25 26

Volker Hage, Schreiben ist eine Seance. Begegnung mit Botho Strauß, in: Michael Radix (Hrsg.), Strauß lesen, München 1987, S. 201. Steifen Damm, Die Archäologie der Zeit. [...], a.a.O., S. 1941. Ebd. Meine Hervorhebung. Botho Strauß, Anschwellender Bocksgesang, in: Der Spiegel, Nr. 6/ 1993,8.204. 197

Penelope, noch ihr Sohn und die anderen treuen Anhänger des Odysseus, noch auch die Freier glauben an die Rückkehr des Hausherrn. Alle, außer vielleicht den Alten (Eurykleia und Laertes), schmieden Zukunftspläne, in denen Odysseus keine Rolle spielt. Telemach plant, die väterliche Macht zu übernehmen; Penelope plant, dem Warten auf den verschollenen Gatten ein Ende zu bereiten und einen der Freier zu heiraten. Ihrerseits planen die Freier, durch die Heirat mit Penelope sowie durch geschickte Bündnisse untereinander ihre politische Macht auf Ithaka und den benachbarten Inseln zu konsolidieren. Für keinen von ihnen stellt die Zukunft eine ernst zu nehmende Bedrohung dar, weswegen auch das Blutbad, das Odysseus anrichtet, einen starken Kontrast zur naiven Zuversicht bildet, mit der die meisten Protagonisten in >Ithaka< der Zukunft entgegen blicken. Schließlich zieht Steifen Damm eine Parallele zwischen dem blühenden Garten des Laertes, in dem Odysseus bei seiner Rückkehr alles »wie einst« (S. 98) vorfindet, und dem im Anschwellenden Bocksgesang< beschworenen »Garten der Befreundeten, wo noch etwas Überlieferbares gedeiht, hortus conclusus, der nur wenigen zugänglich ist und aus dem nichts herausdringt, was für die Masse von Wert wäre«27. Der blühende Garten des Laertes ist meines Erachtens gerade das Gegenteil des »hortus conclusus« der Befreundeten. Während der Garten des Laertes eine Utopie im Sinne einer offensichtlichen Lüge darstellt, die als politische Manipulation entlarvt und kritisiert wird, erscheint der Garten der Befreundeten als ein zu bejahendes und auch realisierbares kulturelles Ideal. Während der Garten des Laertes in >Ithaka< ein negativ konnotiertes politisches Zitat ist, wird der Garten der Befreundeten im Anschwellenden Bocksgesang< von positiven Konnotationen begleitet. Ich werde in meinem Kommentar zu >Ithaka< auf diesen Aspekt zurückkommen. Angesichts dieser unbefriedigenden Forschungsergebnisse stellt sich die Frage nach einer soliden hermeneutischen Basis für die Interpretation von >IthakaIthaka< »die großen Übertragungen von Johann Heinrich Voss und Anton Weiher« (S. 7) als Quellen seines Werkes 27

Botho Strauß, Anschwellender Bocksgesang, a.a.O., S. 206. 198

nennt und somit indirekt auch auf den Schlüssel zu seinem Schauspiel hinweist, ist der >IthakaOdyssee< einerseits und dem Straußschen Schauspiel andererseits zugrunde zu legen. Dabei sind die von Botho Strauß wörtlich übernommenen bzw. sprachlich leichter oder stärker bearbeiteten sowie die von ihm gänzlich weggelassenen Fragmente des homerischen Epos gleichrangig zu behandeln, da, wie bereits angedeutet, auch das Weglassen eine Haltung dem Epos gegenüber signalisiert, die untersucht werden muß. Indem man diese Parallele zieht, gilt es, die Frage zu beantworten, ob sich in >Ithaka< eine bestimmte Tendenz in der Rezeption des homerischen Epos erkennen läßt.28 Diese Tendenz, die ich, die Ergebnisse meiner Untersuchung vorwegnehmend, als Allegorisierung bezeichne, gilt es, zu systematisieren und zu modellieren. Des weiteren gilt es, diejenigen Dialoge und Episoden in >Ithaka< zu identifizieren, die keine Entsprechung im homerischen Epos haben. Ihnen werde ich besondere Aufmerksamkeit schenken, da sich in ihnen Botho Strauß' Denkart deutlicher zu artikulieren vermag als in den Szenen, in denen er in der Schilderung der Ereignisse den Übersetzungen von Johann Heinrich Voss und Anton Weiher folgt. Einen Schwerpunkt jeg28

Einen ersten Versuch, diesen hermeneutischen Weg zu gehen, stellt die kurze Arbeit von Albrecht Bremerich-Vos dar, mit dem Titel: »Integrierter« Sprach- und Literaturunterricht der Sekundarstufe II. Am Beispiel von Botho Strauß' Anschwellender Bocksgesang< und >IthakaDas Gleichgewicht zu vergleichen, das ebenfalls den homerischen Mythos von der Heimkehr des Odysseus im Mittelpunkt hat. Die thematische Verwandtschaft zwischen den beiden Werken berechtigt zu diesem Vergleich, zumal vieles in >Ithaka< bloß Suggerierte eine explizite Entsprechung in >Das Gleichgewicht hat, so daß die Parallele Licht in die oft verwirrende semantische Polyvalenz von >Ithaka< zu bringen vermag. Diesen soeben beschriebenen hermeneutischen Weg möchte ich im folgenden gehen. Meine Analyse zielt darauf hin, die politische Dimension von >IthakaIthaka< davon Zeugnis ab, daß die Berührungspunkte zwischen Gesellschaft und Poesie alles andere als flüchtig oder zufällig sind, und daß sein Verfasser auf die historischen Ereignisse, die seine Epoche geprägt haben, zu reagieren vermochte.

»Eine Übersetzung von Lektüre in Schauspiel« In der Einleitung3' zu >Ithaka< beschreibt Botho Strauß sein Theaterstück als »eine Übersetzung von Lektüre in Schauspiel. Nicht mehr, als höbe jemand den Kopf aus dem Buch des Homer 2

9 Botho Strauß, Die Erde - ein Kopf, in: Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung. Jahrbuch 1989, Darmstadt 1990, S. 180. 3° Botho Strauß, Die Erde - ein Kopf, a.a.O., S. 179. 31 Diese Einleitung erinnert an diejenige von Franz Fühmann zu seiner homerischen Nacherzählung >Irrfahrt und Heimkehr des Odysseus