Zur Theorie juristischer Argumentation [1 ed.] 9783428439294, 9783428039296


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Zur Theorie juristischer Argumentation [1 ed.]
 9783428439294, 9783428039296

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GERHARD

STRUCK

Zur Theorie juristischer Argumentation

S c h r i f t e n zur

Rechtstheorie

Heft 63

Zur Theorie j uristischer Argumentation

Von

Dr. Gerhard Struck

DUNCKER

& HUMBLOT

/

BERLIN

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek

Struck, Gerhard Z u r Theorie juristischer Argumentation. — 1. A u f l . — B e r l i n : Duncker u n d Humblot, 1977. (Schriften zur Rechtstheorie; H. 63) I S B N 3-428-03929-7

Alle Hechte vorbehalten © 1977 Duncker & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1977 bei Buchdruckerei Bruno Luck, Berlin 65 Printed in Germany ISBN 3 428 03929 7

Inhaltsverzeichnis

Zusammenfassende Vorschau

7 1. Kapitel

Vorüberlegungen 1. 2. 3. 4. 5.

Argumentationstheorie als Desiderat juristischer Methodenlehre Argumentationstheorie i n der juristischen Methodenlehre „Offenes Argumentieren" Argumentation i m üblichen Sprachgebrauch Hülsmanns umfassende Argumentationstheorie

15 15 16 20 24 27

2. Kapitel

Zum Stand der Literatur zur juristischen Argumentation 1. 2. 3. 4.

Argumentationstheorie als Thema der Rechtsgeschichte Der Kongreß „Juridische Argumentation" Brüssel 1971 Argumentationstheorie als Postulat Materialreservoirs zur juristischen Argumentation

31 31 32 34 36

3. Kapitel

Modelle argumentierender Sätze 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9.

N o r m — Modell — Beschreibung Systematische Ordnung der Modelle? Der Beitrag der Sprachwissenschaft Syllogistik Toulmins Schema Polyas „Plausibles Schließen" u n d Ottes „Komparative Sätze" Lorenzens „Methodisches Denken" u n d verwandte Ansätze Topik Rückblick auf die Modelle

37 37 39 41 45 49 51 56 58 66

4. Kapitel

Verlaufsmodelle von Argumentation 1. Empirische Entscheidungsmodelle 2. Möglichkeiten von Verlaufsmodellen allgemein 3. Priesters Verlaufsmodelle

69 69 71 72

6 4. 5. 6. 7. 8.

Inhaltsverzeichnis Rottleuthners Interaktionsanalyse Analytische Fruchtbarkeit von Verlaufsmodellen Heuristik Funktionalistische Betrachtung von Argumenten Nachprozesse

74 76 76 82 83

5. Kapitel Letztbegründungen — Bemerkungen zur Erkenntnistheorie 1. 2. 3. 4.

Zur Logik Z u Sachstrukturen i m Umkreis von L o g i k Z u m kritischen Rationalismus Z u r universalisierten Hermeneutik . . : . . . .

84 85 94 96 105

6. Kapitel Letztbegründungen — Bemerkungen zur Gesellschaftstheorie 1. 2. 3. 4.

Bemerkungen zum Marxismus Z u Habermasens Diskursmodell Z u r Erlanger Schule Z u r Systemtheorie

108 . 109 114 118 122

.'..'."

7. Kapitel Ansätze zu weiteren Forschungen 1. 2. 3. 4.

Eklektizismus als notdürftige Praxis Einige Quellen der Überzeugungsbildung Rhetorik als Materialfundus E r i s t i k als Erfahrungsquelle

126 ..

126 129 133 135

8. Kapitel Die Besonderheit juristischer Argumentation 1. 2. 3. 4.

Zwischenergebnis Allgemeine u n d juristische Argumentation Einzelne Argumentationsmuster Abschließende Einschätzung des Ergebnisses

Literaturverzeichnis

139 139 140 146 · · · · 152 154

Bei Belegen u n d Zitaten w i r d durch das Veröffentlichungsjahr auf den entsprechenden T i t e l i m Literaturverzeichnis hingewiesen. Nach Opportunität werden gelegentlich abgekürzte Angaben i n den T e x t aufgenommen oder einzelne Titel, die das Literaturverzeichnis unnötig belastet hätten, ausgeschrieben.

Zusammenfassende Vorschau Der Begriff Theorie w i r d i m folgenden wie i m allgemeinen Sprachgebrauch nicht ganz einheitlich verwendet. Zum einen bezeichnet er einen verfestigten Bestand von Thesen und Argumenten, die sich u m ein bestimmtes Thema kristallisieren. Die Redeweise ist i n extremer Verengung i n der Jurisprudenz verbreitet. I n der philosophischen L i teratur w i r d i n diesem Sinne zum Beispiel von den Wahrheitstheorien gesprochen. Zum anderen sagt man auch „Systemtheorie" und meint dam i t eine große Zahl von Veröffentlichungen verschiedener Autoren, die einen weiten Gegenstandsbereich betreffen und eine Vielzahl von Thesen enthalten. Für solche Gedankenkreise hat „Theorie" einen postulativen Charakter: Die Texte sollten „Theorie" i m ersteren Sinne bilden, es sollte also zumindest über die konstituierenden Probleme Einverständnis herrschen. Auch für die vorliegende Abhandlung muß man wie immer dem Leser das U r t e i l darüber überlassen, ob das angedeutete Postulat erfüllt w i r d oder nicht. I n der bisherigen Literatur w i r d von Argument ationstheorie jedenfalls nur i m zweiten Sinne gesprochen. Man vergleiche zum Beispiel die kurze Literaturübersicht von Johnstone j r . (1967), der ziemlich vielfältige Schriften nennt. Es w i r d offenbar ein weiter Sprachgebrauch von „Argumentation" vorausgesetzt und das Wort dann als Name für eine philosophische Disziplin genutzt. Damit ist die Möglichkeit einer K r i t i k derzeitiger Praxis stark eingeschränkt. Dagegen setzt die vorliegende Untersuchung eine These, bei deren Erarbeitung gleichzeitig der Zweck einer Literatursichtung erfüllt werden soll. Grundmotiv ist die Gegenüberstellung von — einerseits — Modellen von Argumentieren, also schematisierenden Beschreibungen von Textarten und Handlungsabläufen, und — andererseits — Fragen der inhaltlichen Richtigkeit von Argumentationen i n realen Problemlagen. Bezüglich des ersteren w i r d nicht zwischen Modellen, Formalisierungen, Schemata u. ä. m. unterschieden, für das zweite w i r d ohne inhaltliche Differenz der Terminus Handlungsrichtigkeit eingesetzt. Als Basis ist die K r i t i k des verbreiteten Verständnisses von Logik wichtig. Die Trennung ist dem Einwand ausgesetzt, man könne Modelldarstellungen auf die leitenden Gesichtspunkte des Entwurfes h i n untersuchen, und diese seien nur verständlich i m Zusammenhang m i t vorgefaßten Meinungen über Handlungsrichtigkeit, Sicher: Eine Verengung

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Zusammenfassende Vorschau

des Argumentationsbegriffes auf logische Schemata zum Beispiel hätte auch gesellschaftsrelevante Konsequenzen. Solche Verabsolutierungen sind aber nicht erzwungen, sondern Ideologie schon i n der kritisch-rationalistischen Fassung des Ideologiebegriffs. Alle Modelle sind nebeneinander verwendbar. Die Ursache dafür liegt i m Inhaltlichen. Die Durchsicht der m i t Letztbegründungsansprüche thematisierenden Theorien (namentlich: historisch-materialistische, analytische, systemtheoretische) zeigt, daß der Anspruch nicht eingelöst wird. Das läßt sich bereits i n den jeweiligen Darstellungen zur Argumentation als gewichtigem sozialem Phänomen plausibel machen. Die Hoffnung auf Letztbegründungen (m. a. W.: auf Wahrheitsverbürgung i n praktischen Fragen) läßt sich allein m i t Habermasens Diskurstheorie verbinden. Entscheidend ist aber, daß i n solchen Verfahren Lösungen nur für sozial erstrangige Probleme denkbar sind. Das sind die typischen Fälle der Jurisprudenz nicht. Daher ergibt sich die einzige, also graduelle, Besonderheit juristischen Argumentierens: Einerseits steht es unter verstärktem Begründungszwang, andererseits ist Vermittlung zwischen der einzelnen Fallfrage und konsensfähigen Interessen besonders schwierig, und so kommt es zu einer besonderen Häufung von Argumentation nur vortäuschenden Textformen. Zur Erläuterung sei der Gang der Überlegungen i n Vorschau auf die Abhandlung etwas genauer dargestellt: 1. Einleitend ist Argumentation als Thema der juristischen Methodenlehre zu nennen, wo sich aber keine zusammenhängenden Aussagen, sondern nur Anregungen finden. Unzureichend ist allerdings die geläufige Forderung nach „offenem Argumentieren", bei der zu Unrecht unterstellt wird, es sei notwendig etwas vorhanden, was nur noch offen gelegt werden müsse. Solche Unsicherheit kann nicht verwundern, denn i n der allgemeinen und i n der juristischen einschlägigen Literatur findet sich keine Begriffsbestimmung, die Verbindlichkeit beanspruchen könnte. A m ersten erwartet man diese von Hülsmanns Schrift: „ A r g u mentation — Faktoren der Denksozialität" (1971). Es stellt sich aber heraus, daß dieses bedeutende Werk durch seine Darstellungsart wenig zur Förderung der Diskussion beiträgt. Seine Grundthese, daß Argumentation nicht i n den bekannten Lehren über Letztbegründungsmöglichkeiten (ζ. B. Logik, Kritischer Rationalismus, etc.) aufgeht, ist außerordentlich wichtig und w i r d i m folgenden bestätigt. 2. Danach ist es angebracht, sich des Standes auf dem Gebiete der Literatur zur juristischen Argumentationstheorie zu vergewissern. Von der Rechtsgeschichte könnte man begriffsgeschichtliche Klärungen erwarten. I n i h r werden jedoch die heute i n der Phase der Konturierung befindlichen Begriffe wie „Topik" und „Argumentation" i n die Ver-

Zusammenfassende Vorschau

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gangenheit zurückprojiziert; damit w i r d die Grundfrage übergangen, i n welchem Sinne derzeitiges Recht identisch ist m i t dem, was i n anderen Zeiten so genannt wurde. — I n Brüssel fand 1971 ein Kongreß der Vereinigung für Rechtsphilosophie statt, dessen Materialien vollständig publiziert sind. Das Thema lautete auf deutsch „Die juridische Argumentation", war aber i m Hinblick auf die internationale Beteiligung nicht so eng zu verstehen. Uberraschenderweise wurde aber von Argumentation i m hier geläufigen Wortsinne kaum gesprochen und die meisten einschlägigen Referate entziehen sich durch ihre Abstraktionshöhe förderlichen Analysen. — A l l z u abstrakte Aussagen können trotzdem heuristischen Wert haben. Das läßt sich instruktiv an der Technik zeigen, „Argumentation" als (noch) leeres Wort m i t anderen Leerformeln zusammen zu sehen und dabei plausible Thesen über die Relation zu entwickeln. — Andererseits sind Abhandlungen zu nennen, die für die weiteren Überlegungen durch reiches Beispielsmaterial nützlich sein können. 3. Weithin w i r d Argumentation verstanden als eine geordnete Abfolge von Schritten, i n denen zu einem strittigen Thema Gründe genannt werden, die für eine bestimmte Lösung sprechen. Dementsprechend ist der Entwurf von Modellen ein wichtiges Teilgebiet von Argumentationstheorie. Solche Modelle werden von ihren Autoren zum Teil mit dem Anspruch vorgetragen, sie garantierten rationale Entscheidungen. Tatsächlich vermögen sie jedoch immer nur eine gewisse Kontroll Wirkung für solche-Argumentationen entfalten, die ungefähr nach jener Modellform gestaltet sind. Darin allerdings liegt eine wichtige Hilfe für praktische Arbeit, die ausführliche Aufzählungen rechtfertigt. Das ergibt sich aus Überlegungen anhand der herkömmlichen Gegenüberstellung von logisch zwingenden und anderen (nicht-demonstrativen, reduktiven, induktiven etc.) Schlußformen. A u f die (ungerechtfertigte) Hervorhebung der ersten Gruppe w i r d unter der Rubrik Logik zurückzukommen sein, von der zweiten Gruppe ist wichtig festzuhalten, daß es keine Hierarchie oder sonstige systematische Ordnung der Modelle gibt. Man kann nur, wie Botha das getan hat, ein Schema von Standardgesichtspunkten zu Fragen der praktischen Verwertbarkeit entwerfen. Zur Abschichtung ist zuvor die Frage nach sprachwissenschaftlichen Modellen von Argumentation zu stellen. Hier aber lassen sich nur Einzelanregungen gewinnen. — Syllogismen sind eine klassische Form und werden auch heute noch teilweise mit Argumentation schlicht gleichgesetzt. Tatsächlich ist jenes Oberfall-Unterfall-Denken eine geeignete Darstellung der Ableitung von Normen aus Normen und von Fakten aus Fakten; der Subsumtionsvorgang i m ganzen w i r d aber auf diese Weise nicht zutreffend erfaßt. — Das wichtigste Modell ist das Toul-

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Zusammenfassende Vorschau

min-Schema, w e i l es einen opportunen Mittelweg zwischen Simplizität und Komplexität angibt. — Durch ihre Vielfalt sind sehr interessant die auf Induktion zielenden Schemata des Mathematikers Polya. Sein „Plausibles Schließen" nennt Sätze, i n denen Wahrscheinlichkeits-, Analogie-, Unverträglichkeits- und Glaubwürdigkeitszusammenhänge beschrieben werden. — Weniger praktische Relevanz dürfte die dialogische Schreibweise der klassischen Logik haben, die durch die „Logische Propädeutik" von Kamiah und Lorenzen bekannt geworden ist. — Prinzipiell sind noch beliebig viele andere Modelle denkbar, die nach Opportunität nebeneinander zur Analyse praktischer Argumentationen herangezogen werden können. Schon die einfache Auflistung und Gegenüberstellung von Pro- und Kontraargumenten kann klärend wirken. Auch einige Inhalte, die sich m i t dem seit langem vieldeutigen Wort „Topik" verbinden, lassen sich als Modelle praktischen Argumentierens verstehen. Es sind drei Tendenzen zu unterscheiden: Erstens kann Topik heißen eine Katalogisierung aller wichtigen Sachverhaltsgebiete, die i n Argumentationen eine Rolle spielen können; das tendiert zu einer kategorialen Erfassung unserer gesamten Lebenswelt. Zweitens kann man die üblicherweise i n Praktikertexten genannten Begründungsworte untersuchen. Drittens lassen sich als „soziale Topoi" stereotype Redewendungen kennzeichnen, die als Bewußtseinsinhalte unserer Vorstellungswelt konstituieren. Man muß sich also frei machen von den Diskussionspositionen „Topik/System", die nur verständlich sind auf Grund von vermuteten politischen Implikationen von Topik und von System. Besonders wichtig ist die Tatsache, daß als Topoi manche akzeptablen Argumente genannt werden, die nicht durchsichtig zu Interessen vermittelt sind. Man könnte zwar aufklärerisch normieren, daß überall zugrundeliegende Interessen als einzige Vernunftsgründe ins Bewußtsein gehoben werden müssen. Damit überginge man aber die mögliche Rationalität durch Topik i n jenen Zwischenzonen, wo Zeitnot, mangelnde Forschung oder diffuses Bewußtsein eine Rückvermittlung von einzelnen Handlungsânweisungen zu Interessen unmöglich machen. Das aber sind inhaltliche Fragen. 4. Von Satz- oder Wortmodellen lassen sich Verlaufsmodelle unterscheiden, die faktische Phasen der Argumentationen zur Darstellung bringen. Sie können einerseits zur Erfassung von Gesprächssituationen tendieren, die nach ihrer S t r u k t u r mehr oder minder geeignet sein können, die Vernunft der Beteiligten zum Zuge kommen zu lassen. Andererseits kann man versuchen, einzelne Vorgehensschritte abstrakt zu differenzieren, was ziemliche Vollständigkeit ermöglicht. Solche Verlaufsmodelle eignen sich vorzüglich dazu, derzeit noch offene Probleme aufzuweisen, die i n zukünftigen Forschungen zu Argumentation untersucht werden müssen.

Zusammenf assende Vorschau

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Das läßt sich i n exemplarischen Überlegungen zeigen. Zum Vorstadium von Argumentation ist Heuristik zu thematisieren; betrachtet man Argumentation als bloße Handlungsphase i n einem größeren Zusammenhang und sieht von inhaltlichen Vorstellungen über Begründungskraft ab, so ergibt sich eine funktionalistische Betrachtungsweise, aus der sich viel lernen läßt; betreffend der Nachprozesse lautet eine wichtige Erkenntnis, daß dazu keine relevanten Forschungsergebnisse vorliegen. 5. A l l e Modelle bleiben insofern äußerlich, als sie die Begründungsleistung selbst, das material Zwingende des Arguments, also gewissermaßen den K e r n nicht erfassen können. Dazu ist die Frage nach Erkenntnistheorie und Gesellschaftstheorie unausweichlich, da nur dort der Anspruch erhoben werden kann, Letztbegründungen zu liefern, die Handlungsrichtigkeit i n Lebensproblemen versprechen. Ohne daß auf die Unterscheidung Wert gelegt würde, sollen dabei Logik, kritischer Rationalismus und Hermeneutik i. S. Gadamers für das erstere stehen, für das letztere Marxismus, Habermasens Diskursmodell und ferner die Gedanken der Erlanger Schule und Systemtheorie. Es kann nicht darum gehen, alle Ansätze nebeneinander zu stellen u m dann „den richtigen auszusuchen". Logik und Empirie können i n ihren bisherigen Verwendungsgebieten und -arten ebensowenig beiseite geschoben werden wie die Frage nach den Interessen und den Teilnahmebedingungen an interessenkonstituierenden Kommunikationssituationen. Das ist etwas anderes als die Frage nach Letztbegründungen. Das Darstellungsverfahren ist hauptsächlich folgendes: Die expliziten Aussagen i n einem Gedankenkreis zu Argumentation werden als Thema diskutiert, u m so zu einer Einschätzung der Leistungsfähigkeit der Theorie zu kommen. A u f diese Weise kann auch der sekundäre Zweck dieser Abhandlung erfüllt werden, nämlich Information über einschlägige Literatur aufzubereiten. Eine umfassende Darstellung aller Theorieansätze ist von einer Abhandlung der vorliegenden A r t selbstverständlich nicht zu leisten. Bezüglich der Logik ist zuerst das Mißverständnis abzuwehren, Logik sei identisch m i t oder notwendig Teil korrekter Argumentation. Moderne Logik ist gekennzeichnet durch Entwürfe von Zeichensystemen und dazugehörigen Regelsystemen, wobei Fragen der Interpretation erst nachträglich gestellt werden. Die Formalisierung ist reine Abbreviatur, deren Praktikabilität nicht für alle Themenbereiche hinreichend geklärt ist. Ein solches Zeichensystem ist die klassische Logik, die sich bei der Interpretation von Faktenkonstellationen weithin, aber nicht notwendig, bewährt. Genauso sinnvoll sind andere Logiken, also zum Beispiel die deontische oder die Interrogativlogik. Denselben Grad von Stringenz besitzen die Aussagen der spiel- und entscheidungstheoreti-

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Zusammenfassende Vorschau

sehen Modelle. Man darf also nicht bei der K r i t i k stehenbleiben, unsere Sprache richte sich nicht durchweg nach der Logik, sondern muß umgekehrt Logiken verstehen als Sprachen m i t demselben Status wie „natürliche". Das ist i m kritischen Rationalismus nicht hinreichend erkannt. Daher ist zum Beispiel der Rekurs auf Logik für die behauptete Gegenüberstellung von Sein und Sollen t r i v i a l oder nicht zutreffend. Die „ B r ü k kenprinzipien" allgemein müßten i n Zukunft ausgebaut werden zu einem Apparat pragmatischer Argumentationsfiguren — wozu bisher i m kritischen Rationalismus keine genügenden Vorarbeiten geleistet worden sind. Umgekehrt kann die Methodik verleugnende Hermeneutik i. S. Gadamers nur benützt Verden als ein i n sich geschlossener Entwurf, der gewissermaßen als Folie geeignet ist, auf der sich die systematischen Möglichkeiten der K r i t i k abbilden lassen. 6. Gesellschaftstheoretisch ist die Normalform von Argumenten i n praktischen Problemen der Hinweis auf die Übereinstimmung der befürworteten Lösung m i t akzeptierten oder konsentierten Interessen. Erschöpfte sich Argumentieren darin, so wäre eine entsprechende Theorieausarbeitung i m Marxismus zu erwarten. Es ist aber offensichtlich, daß auch hier Vermittlung zwischen einzelnen Handlungsanweisungen und grundlegenden Interessen selten geleistet wird. Es handelt sich u m eine strukturelle Schwierigkeit des Marxismus, wie man auch daran sieht, daß insgesamt intermediäre Phänomene (Ästhetik, Sprache) nicht zureichend analysiert werden. Eine Argumentationstheorie ist nicht zu erwarten. I n Habermasens Diskursmodell sind Sprache und Interessen i n eine Theorie integriert. Vom Marxismus w i r d dabei nur soviel als Prämisse übernommen, wie sowieso Gemeingut geworden ist: Man muß partikulare von allgemeinen Interessen unterscheiden und daraus resultierende Konfliktsmotive sozialen Gruppen zurechnen. Für die Jurisprudenz läßt sich vorab wenig aus Habermasens Diskursmodell lernen, da Gespräche i n juristischen Prozessen hauptsächlich den Charakter von Ritualen haben und deren K r i t i k auch m i t Hilfe von recht pragmatischen Kriterien möglich ist. Daher bleibt vorab die Frage offen, i n welchen juristischen Fragestellungen das Diskursmodell seinem Zweck, die Verbürgung von Wahrheit zu messen, genügen könnte. Weniger interessant ist die Erlanger Schule, deren Logikverständnis i m Wechselspiel m i t einem unausgeführten Naturrecht immer i n Sackgassen führt. I n der Systemtheorie dagegen w i r d Argumentation kaum thematisiert. Die einzig interessante Aussage, gerade die Ausgliederung des argumentativen Apparats aus dem Recht i n der frühen Neuzeit habe

Zusammenfassende Vorschau

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das Recht der wachsenden Komplexität besser Rechnung tragen lassen, verweist nur zurück auf ungelöste Probleme innerhalb der Systemtheorie. I m Ergebnis w i r d also m i t Habermasens Diskursmodell die verbreitete Meinung abgelehnt, es gäbe keine Wahrheit i n praktischen Fragen. Nun nützt diese Einsicht i n sehr vielen Problemfällen wenig, w e i l das Diskursmodell derzeit hauptsächlich als Instrument der K r i t i k w i r k sam ist, m i t Hilfe dessen sich aufzeigen läßt, wievieles an Vorbedingungen für rationale Entscheidungen fehlt. 7. Es verbleibt die Aufgabe, die Möglichkeit zu weiteren Forschungen zu anderen Quellen der Uberzeugungsbildung zu untersuchen. Hier lassen sich einzelne Ansätze zeigen, und zwar einerseits i n der Hoffnung, mindere Grade der Rationalität (als Habermas sie i m Auge hat) zu identifizieren, zum anderen, weil eine realistische Deskription der weiteren Gründe für Uberzeugungsbildungen eine unabdingbare A u f gabe innerhalb einer umfassenden Entwicklung von Argumentationstheorie ist. Es kann allerdings hier nur u m Überlegungen und Ansätze zu weiteren Forschungen gehen. Dazu ist zuerst von neuem „Soziale Topik" zu nennen, die ebenso wie syntaktische Fiktionen und Metaphern die Uberzeugungskraft von Äußerungen verursachen kann. — Die Lehrbücher der Rhetorik scheinen einerseits leere Figuren und andererseits inhaltliche aber appellative Sätze zu enthalten; man w i r d sie trotzdem daraufhin untersuchen müssen, was sich aus ihnen an Anregungen gewinnen läßt. — Eristische Spiele sind vermutlich die beste Möglichkeit, i n Erfahrung m i t eigenem Verhalten Neues über Argumentation zu lernen. — M i t h i n : Es gibt vielfältige Möglichkeiten der Weiterentwicklung von Argumentationstheorie. 8. I n den bisherigen Abschnitten w i r d das spezifisch Juristische nur i n der Wahl der Beispiele und i n der Bevorzugung von Autoren dieser Disziplin angedeutet. Nun also speziell dazu: Wesentlich unterscheidet sich juristisches Argumentieren nicht von anderem, und zwar auch nicht durch den Bezug auf Gerechtigkeit. Wo dieser Wert nicht durch seine Vagheit schon ohne Begründungskraft i n Entscheidungssituationen ist, da läßt sich das jeweils Gemeinte durch andere Wertungskriterien präziser angeben. Juristische Begründungstexte sind erfahrungsgemäß von anderen schon oberflächlich unterschieden. Das kann man i n einer derzeit nicht statistisch belegbaren Hypothese m i t folgendem Dilemma erklären: Einerseits steht juristisches Argumentieren besonders stark unter Begründungszwang; andererseits stehen i n der typischen und durchschnittlichen juristischen Entscheidung soziale Konflikte geringen Relevanz-

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Zusammenfassende Vorschau

grades an (Einzelfälle und Grenzfälle). Die Theorieansätze zur Handlungsrichtigkeit sind alle aber nur i n methodische Verfahren umsetzbar für gewichtige Entscheidungen. Deshalb zeigt sich der Mangel der Möglichkeit, Letztbegründungen zu geben, i n der Jurisprudenz besonders empfindlich und ruft eine Fülle von Ausweichmanövern hervor. Die wichtigsten lassen sich i n Fallgruppen aufzählen, wenngleich sie natürlich nicht i n systematischen Ordnungen stehen: Verkürzte und zielverfehlende Argumentationen; Formeln, die die Entscheidung nur vortäuschen oder offen lassen. Abschließend darf der Hinweis auf die politische Einschätzung der vorgetragenen Überlegungen nicht fehlen. Die Behauptung geringen Rationalitätsgrades juristischen Entscheidens ist ambivalent. „Progressive" Ideen gehen einher m i t der Hoffnung auf zunehmenden Einsatz wissenschaftlich-rationaler Verfahren i n der Jurisprudenz. „Konservative" Ideen stützen sich oft auf die Unterstellung besonderer Rationalität der juristischen, nämlich unpolitischen Entscheidung. Z u beiden Tendenzen verhalten sich die hier entwickelten Thesen kritisch.

1. Kapitel

Vorüberlegungen 1. Argumentationstheorie als Desiderat juristischer Methodenlehre Für die derzeitige juristische Methodenlehre müßte eine Theorie der juristischen Argumentation ein dringendes Desiderat sein. Eine der wichtigsten Veröffentlichungen des letzten Jahrzehnts, M a r t i n Krieles „Theorie der Rechtsgewinnung" (1967), stellt eindringlich immer wieder die Wichtigkeit der Argumentation heraus und endet m i t dem Postulat offenen Argumentierens (S. 315). Esser benennt i n „Vorverständnis und Methodenwahl i n der Rechtsfindimg" (1972) Argumentation unter Stichworten wie Evidenz und Sachlogik als Kernstück juristischen Arbeitens. Der Ausdruck Evidenz meint dabei die Zurückführung von Argumenten auf den Punkt, wo weitere Argumentation sich erübrigt (S. 173). K r i t i k e r lassen aber keinen Zweifel daran, daß hier die wesentliche A r beit noch zu t u n ist (ζ. B. Schwerdtner JuS 72, 359 und Nachweise bei Simon 1975, S. 140). Inzwischen ist jedoch i n Rechtsprechung, Rechtslehre und Ausbildung die Redeweise von Argumentation als Konstituens der Jurisprudenz gängig geworden. A n der Universität bekommt der Student gesagt, seine Klausurlösung müsse nur vertretbar sein, und die Qualität der Begründung sei wichtiger als die Ubereinstimmung des Ergebnisses m i t der herrschenden Meinung. Die Wichtigkeit von Argumentation beschränkt sich auf keinen einzelnen Sektor. Als Beleg dafür mag stehen, daß auch i m Strafrecht, das dem überkommenen Subsumtionsideal am besten entspricht, i n einem Ausbildungstext Argumentation abgehandelt w i r d (Arzt 1970). I n den klassischen Werken der Methodenlehre findet diese Tendenz allerdings nur geringen Ausdruck. Larenz kennt auch i n der dritten Auflage seiner „Methodenlehre der Rechtswissenschaft" (1975) Argumentation ausweislich des Stichwortverzeichnisses überhaupt nicht, sondern nur die argumenta a majore ad minus und e contrario (S. 375 f.). I n Engischs „Einführung i n das juristische Denken" (1975) verhält es sich ebenso. Bei i h m kann es sogar so scheinen, als werde m i t dem A r gumentieren jenseits klassischer Wortinterpretation und herkömmlicher argumenta der Bereich der Rechtsphilosophie erreicht, der der Rechtswissenschaft nicht zugänglich sei (S. 192).

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I. Vorüberlegungen

N u n gibt es einen besonderen Grund, weswegen auch der konservative Jurist sich dem Thema Argumentation nicht w i r d entziehen können. Das Bundesverfassungsgericht hat (BVerfG NJW 73, 1221 f.) die rechtsfortbildende Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zum Allgemeinen Persönlichkeitsrecht für legitim erklärt. Dem kommt Belegwirkung zu, weil gerade dieser Fall von Rechtsfortbildung für die damit zusammenhängenden Fragen das immer und immer wieder diskutierte exemplum abgab. A n der Kernstelle vertritt das Bundesverfassungsgericht die Meinung, mangels Lückenlosigkeit des Gesetzes könne die Rechtsprechung nicht allein auf Erfassung des Wortsinns beschränkt bleiben. Wertungen seien nötig; aber: „Der Richter muß sich dabei von W i l l k ü r freihalten; seine Entscheidung muß auf rationaler Argumentation beruhen. Es muß einsichtig gemacht werden können, daß das geschriebene Gesetz seine Funktion, ein Rechtsproblem gerecht zu lösen, nicht erfüllt." (BVerfG NJW 73, 1225). Das Gewicht dieser institutionsseitigen Stellungnahme w i r d noch dadurch erhöht, daß zumindest derzeit i n Deutschland die Justiz dazu tendiert, immer wichtigere soziale Entscheidungen an sich zu ziehen. Man denke an das Hochschul- und an das Abtreibungsurteil des Bundesverfassungsgerichts! Vieles spricht dafür, daß die — postulierte — gesteigerte Rationalität juristischer A r gumentation i m Vergleich m i t derjenigen politischer Willensakte für jene Tendenz als Legitimationsbasis dient. Wenn man das bedenkt, muß es u m so betroffener machen, daß die letzte gründliche und weithin akzeptierte Analyse gegenwärtiger bundesrepublikanischer Rechtsprechung, nämlich Essers „Vorverständnis und Methodenwahl i n der Rechtsfindung", das B i l d einer vielfach i n sich gebrochenen und ihre eigenen methodischen Prinzipien teilweise nicht mehr ernst nehmenden Vorgehensweise vermittelt. „Rationale Argumentation" kann danach jedenfalls nicht als Zustand vorausgesetzt werden. 2. Argumentationstheorie in der juristischen Methodenlehre Bei genauerem Hinsehen zeigt sich, daß Argumentation der hergebrachten juristischen Methodenlehre nicht ganz so fremd ist, wie das anfangs scheinen mochte. Dafür spricht schon die Erlaubtheit der gängigen Redeweise i n juristischen Texten wie diesem: „Das Recht aus § 911 BGB verjährt nicht, arg. § 907 Abs. 2 i. V. m. 924 BGB." Hier w i r d die systematische Auslegung als ein „Argument" angesprochen, wie übrigens eine neuere Veröffentlichung Auslegung i m herkömmlichen Sinne unter der Bezeichnung „semantische Argumentation" zusammen m i t anderen Argumentationen nennt (Rottleuthner, 1973, S. 190). Gelegentlich w i r d der Zusammenhang geradezu umgekehrt: Danach w i r d die Möglichkeit, Begründungen zu geben, zu argumentieren, als definierend für die Rechtswissenschaft aufgefaßt (vgl. Llompart in: Hubien

2. Argumentationstheorie i n der juristischen Methodenlehre

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1971, S. 89). Der Sache nach verweist die Methodenlehre auf Argumentation ζ. B. durch das Stichwort Interessenabwägung. I n der Rechtsprechung w i r d allgemein dieses Wort als Vorspann zu freiem Argumentieren verwendet. Wenn man bedenkt, daß die Interessenjurisprudenz als Basis der derzeit als herrschend angenommenen Wertungsjurisprudenz fungiert, so weist das einige Relevanz aus. Die konsequente Zurückhaltung von Larenz i n diesem Punkt (1975, S. 392 ff., 402) signalisiert nur das Fehlen einer Argumentationstheorie. Sein Schüler Diederichsen setzt herkömmliche juristische Methodik und Argumentation gleich (Diederichsen, 1969). Auch bei dem konsequentesten Autor dieser Geistesrichtung, Westerhoff (1974), gerät Interessenabwägung der Sache nach zu einer bloßen Aufzählung der einschlägigen Argumente; ein Verfahren, das man herkömmlich wohl theorielos nennen würde. Aber angesichts der dort exemplarisch vorgeführten Sorgfalt bei der Ausarbeitung von Rechtsfolgen, Wertungselementen, Innen- und Außenwirkungen usw. kann nicht geleugnet werden, daß das vorgeführte Instrumentarium mindestens denselben Grad an Sicherheit verbürgt wie Interpretationscanones. Das erhellt schon daraus, daß nach allgemeiner Anschauung die vier sog. Savignyschen Auslegungskriterien untereinander nicht von vornherein i n einem hierarchischen Verhältnis stehen, sondern ein möglicher Vorrang fallweise argumentativ zu ermitteln ist. Erst recht verweisen Stichworte wie Analogie, teleologische Auslegung, und die sog. juristischen Argumente auf Argumentation zurück. Da aber zweifelhaft ist, ob die Methodentexte die geübte juristische Methode zutreffend wiedergeben, soll noch ein exemplarisches Stück juristischer Arbeit rekonstruiert werden, u m zu zeigen, daß Argumentation tatsächlich relevant ist. Die unmittelbar am einzelnen Wort des Gesetzestexts ansetzende Subsumtion ist nur Unterfall, da viel häufiger zunächst der Gesetzestext bis zu jenem Textzustand aufgearbeitet werden muß, der erst schlichte Wortsubsumtion erlaubt. Dies läßt sich anhand einer Literaturstelle besonders gut zeigen, die als exemplarisch angenommen werden kann, weil sie sowohl „praktisch" wie „theoretisch", i n der Ausbildung, nach dem Rechtsgebiet und nach dem Autor von anerkannter Wichtigkeit ist. Es handelt sich u m den Kommentar von Schönke-Schröder zu § 242 StGB (zitiert nach der 16. Aufl.). Der Tatbestand des § 242 StGB enthält das Wort Diebstahl und eine dazugehörige Kette von Worten, die als dessen Definition aufgefaßt werden können. I n den einzelnen Kommentarrandnummern w i r d jeweils ein solches definierendes Wort aufgegriffen: „Wegnahme bedeutet Bruch fremden und Herstellung neuen Gewahrsams..." (Rn 27). Es entsteht so ein ganzer Stammbaum von Definitionen: „Unter Gewahrsam ist ein tatsächliches Herrschaftsverhältnis . . . zu verstehen . . . " (Rn 14). Weiter: „ E i n tatsächliches Herrschaftsverhältnis besteht, wenn der Ver2 Struck

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I. Vorüberlegungen

wirklichung des Willens zur unmittelbaren Einwirkung auf die Sache keine Hindernisse entgegenstehen . . . Diese Voraussetzungen bestimmen sich nach der natürlichen Auffassung des täglichen Lebens" (Rn 16). Gerade m i t dem Hinweis auf die Anschauung des täglichen Lebens ist nun angezeigt, daß nach Meinung des Kommentators auf dieser Ebene des Definitionsstammbaums der Punkt erreicht ist, wo die intuitive Identifikation von Text und Sachverhalt immer möglich sein muß. Die weiteren möglichen Differenzierungen werden jetzt von i h m mehr assoziativ katalogisiert. Nun leuchtet unmittelbar ein, daß dieses Verfahren wohl nicht alleinige Realität sein kann, sondern von anderen begleitet werden muß, wenn man bedenkt, daß die Intuition unter den Namen „tatsächliche Anschauung des täglichen Lebens" gerade dann benötigt wird, wenn man eine Ebene juristischer Subtilität erreicht hat, für die es eben keine Anschauung des täglichen Lebens mehr gibt. Wer i m täglichen Leben macht sich denn Gedanken darüber, ob die i n der Eisenbahn liegengebliebenen Handschuhe nun fernerhin noch Objekte von Diebstahl oder nur noch von Unterschlagung sein können, obwohl die Strafbarkeit sich wegen der Irrelevanz der oberen Strafrahmengrenzen i n beiden Fällen nicht unterscheidet? Man kann nur hoffen, daß der Definitionenstammbaum von anderen Verfahren gestützt w i r d ; zum Glück verhält es sich auch so. Ohne A n spruch auf Vollständigkeit sei nur auf folgendes hingewiesen: Erstens läßt sich ganz allgemein feststellen, daß bei aller Verschiedenheit der üblichen Definitionen i m einzelnen (s. dazu Krings, 1973, Stichwort Definition; ferner Eike von Savigny, 1971) Definitionen i n der Regel als Einigung über Wortgebräuche nur Zustandekommen auf der Basis eines gemeinsamen pragmatischen Interesses (Gabriel 1972, S. 96). Die pragmatischen Interessen verweisen nun wiederum über Kommunikation als wichtiger menschlicher Verhaltensform zurück auf Argumentation i m umgangssprachlichen Sinne, (Gabriel ebd. S. 123, 125 diskutiert diesen Zusammenhang präziser, vgl. auch Arnheim 1972 S. 150 ff.). Zweitens ist der Definitionenstammbaum prinzipiell nach oben wie nach unten ohne feste Grenze. Der Schematismus i n § 242 StGB kommt ja nur dort als rationalisierendes K a l k ü l zur Anwendung, wo die Idee vorausgegangen ist, § 242 StGB könne „einschlägig" sein. Beim Diebstahlsparagraphen mag es nun tatsächlich so sein, daß man nur recht selten Schwierigkeiten hat, auf die Idee seiner Anwendung zu kommen. Aber i m bürgerlichen Recht, ζ. B. beim Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter, ist es durchaus nicht selbstverständlich, daß jeder Jurist gleich eine solche Hilfskonstruktion zielsicher erfindet, wo sie fehlt. Das Finden des subsumierbaren juristischen Begriffs w i r d vom Gesetz ganz verschieden gefördert. Hier spielen schon solche Unterschiede eine

2. Argumentationstheorie i n der juristischen Methodenlehre

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Rolle wie z.B. der zwischen den Beleidigungsparagraphen und den Diebstahlsparagraphen. Der erstere enthält keinen definitionsartig geformten Tatbestand. Das vorgeschaltete Auffinden der subsumierbaren Texte w i r d von der herkömmlichen Methodenlehre der intuitiven Praxis überlassen, aber das heißt vernünftigerweise, daß dieser A b schnitt durch die Organisation aller einschlägigen Argumente weiter rationalisiert werden müßte. Hier geht es u m Assoziationsreichtum, der durch praktisches juristisches Argumentieren trainiert wird. Nach unten w i r d die Entwicklung des Definitionenstammbaums ganz verschieden weit betrieben. Es ist evident, daß Definitionen i m juristischen A l l tagsgeschäft vor allen Dingen an solchen Punkten ausformuliert werden, an denen es m i t ihrer Hilfe Zweifelsfälle zu lösen gilt. Zweifel aber werden vor allem durch sich widersprechende Argumente verursacht. Es ist also so, daß die Vorgehensweise i n der klassischen juristischen Arbeitstechnik eine backstage besitzt, auf der Interessenkonstellationen als Argumentationen eingebracht werden. Die Wichtigkeit dieser H i n terbühne kann nun dadurch belegt werden, daß sie ersichtlich gleichermaßen i n einem fallrechtlichen Arbeiten wie i n Subsumtionen und Systembildungen notwendig ist. Eine ziemliche Unsicherheit geht von solcher Doppelbödigkeit aus. Dem entspricht auch die Untersuchung der Arbeitsweise des Bundesverfassungsgerichts, das hier stellvertretend für alle deutsche Rechtsprechung stehen kann. Zutreffend stellt dazu Friedrich Müller (1971, S. 41) fest: „Unter dem Gesichtspunkt der hermeneutischen und methodologischen Rechenschaft, die von dem eignen Tun abgelegt w i r d und i m Rechtsstaat abgelegt werden muß, bietet sie das (Bild) eines richtungslosen Pragmatismus, der sich ebenso pauschal wie unkritisch zu überlieferten . . . Auslegungsmethoden bekennt, diese Regeln aber i n jedem Fall ihres praktischen Versagens ohne Begründung für die A b weichung durchbricht." I n der Tat werden recht unterschiedslos textgebundene Erwägungen, Leerformeln wie „Natur der Sache" und die von Müller sog. „Sachelemente", nämlich Erwägungen, die m i t der von Savigny herkommenden Normvorstellung unvereinbar sind, genannt. Als Beispiele gibt Müller „die Notwendigkeit eines sachgemäßen Ergebnisses, die Möglichkeit eines Bedeutungswandels einer Verfassungsnorm aufgrund faktischer Veränderungen der sozialen Welt; die konstitutive Bedeutung des von Norm und Entscheidung zu regelnden Sachverhalts; das Berücksichtigen historischer, politischer und sozialwissenschaftlicher Zusammenhänge als die Entscheidung letztlich tragende Aspekte" (Müller 1971, S. 28). Üblicher wäre es, hier schlicht von „Argumenten" zu sprechen. Müller selbst versucht sie analytisch i n die Gegenüberstellung von Normbezug und Sachbezug einzuspannen, was wohl gerade das Besondere von Argumentation verfehlt. Das zeigt sich u. a. darin, daß 2·

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I. Vorüberlegungen

Müller für Kollisionsfälle doch wieder eine nicht begründbare Vorzugsregel zugunsten der Normhermeneutik angibt (Müller 1971, S. 184 ff., 195). 3. „Offenes Argumentieren" Die Aktualität einer Argumentationstheorie w i r d i n derzeitigen Juristenpublikationen und -gesprächen hauptsächlich durch die Formulierung suggeriert, es komme darauf an, „offen zu argumentieren". Wegen der wohl immer noch zunehmenden Verbreitung dieser Formel seien hier doch einige Überlegungen wiedergegeben, die belegen, daß hierin keine zureichende Lösung der gestellten Probleme liegt. Die Rede vom „offenen Argumentieren" stammt aus der nun schon Jahrzehnte währenden Auseinandersetzung um Recht oder Unrecht der zentralen Stellung der juristischen Dogmatik i n der Jurisprudenz. Besonders w i r k sam ist wohl hier Krieles Aufsatz über „Offene und verdeckte Urteilsgründe" (1965) geworden. „Die entscheidende Aufgabe einer juristischen Grundlagenforschung ist, nach der Analyse der Einzelurteile die verdeckten Urteilsgründe zueinander i n Beziehung zu setzen und voneinander abzugrenzen und so induktiv die Gesamtrechtsordnung, wie sie tatsächlich herrscht, ins Bewußtsein zu geben: . . . " (S. 114). I n der „Theorie der Rechtsgewinnung" (1967) w i r d dann die Forderung nach Offenlegung der eigentlich bestimmenden Urteilsbegründung i m Blick auf alle Juristenarbeit erhoben, und zwar offenbar als Quintessenz des Buches (S. 315/316). Man wundert sich etwas, daß der doch recht naheliegende Gedanke nicht schon früher i n größerem Umfang die Diskussionen bestimmt hat. Man kann nur vermuten, daß dies an einer tieferliegenden Abneigung gegen Argumentation überhaupt gelegen haben mag, die auf der Identifikation von Juristenarbeit und Subsumtion und i m Zusammenhang damit der Abqualifizierung von Argumentation als Rhetorik i. S. billiger Überredung beruht. I n anderen Wissenschaftsdisziplinen mag die Abwertung auch heute noch wirksam sein (vgl. Balhorn 1974, S. 657). Die Unbestimmtheit der Formel „offenes Argumentieren" w i r d symptomatisch deutlich durch ihre unterschiedliche Funktion i n Arbeiten verschiedener Tendenz. Man kann sich das klarmachen an der Diskussion der Drittwirkungs-Kontroverse durch Eckoldt-Schmidt in: „Legitimation durch Begründung — Eine Erkenntnis kritischer Analyse der Drittwirkungskontroverse" Berlin (1974) und an Brüggemanns Herleitung der richterlichen Begründungspflicht aus dem Rechtsstaatsbegriff i n seiner Monographie: „Die richterliche Begründungspflicht", (1971). Eckoldt-Schmidt kommt bei ihrem Thema, das über mehr als ein Jahrzehnt hinweg sehr viele und sehr angesehene Juristen beschäftigt

3. „Offenes Argumentieren"

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hat, zu dem ebenso zutreffenden wie deprimierenden Ergebnis: „So wenig ein Beitrag zur Klärung der inhaltlichen Problematik einer Grundrechtsanwendung geleistet wird, so wenig werden Begründungszusammenhänge bereitgestellt, welche eine plausible Darstellung . . . ermöglichen. Dabei vermögen die zur Rechtfertigung . . . vorgetragenen Argumente nicht nur — wegen der Ausklammerung rechtspolitischer Erwägungen . . . keine inhaltliche Plausibilität zu erzeugen, sondern sie halten auch einer systemimmanenten Stimmigkeitskontrolle nicht stand" (S. 117/118). Nach diesem Ergebnis setzt die Autorin ihre fernere Hoffnung auf offene Diskussion (S. 119). — Zur Einschätzung der Arbeit Brüggemanns genügt es, seine Ausführungen über Scheinbegründungen zu lesen, da diese als Kehrseite gleichzeitig den Wert der Aussagen ber Begründungen belegen. Scheinbegründungen muß Brüggemann (mangels Theorie) als Abweichung von Motiv und Begründungstext definieren und explizit die „subjektive Ehrlichkeit" des Richters zum K r i terium erheben (S. 86). Abgesehen davon, ob es überhaupt darauf ankommen kann, ist nun sofort einleuchtend, daß die subjektive Redlichkeit wegen des Beratungsgeheimnisses kaum je nachprüfbar sein wird. Die Offenlegung von Argumenten ist für Brüggemann kein Problem, denn er beruhigt den Leser: „Aber der Schein ist schnell zu zerstören, weil die Überzeugungskraft unwirklicher Dinge von Natur schwach und allen Angriffen gegenüber anfällig ist"(S. 87). Simon sagt zum Ganzen m i t gebührender Kürze: „ I n enttäuschender Weise läuft, trotz des großen rechtsphilosophischen Aufwandes, die Untersuchung von Brüggemann . . . auf die Sentenz hinaus, daß Begründung notwendig und diese die Offenlegung der Gründe sei" (Simon 1975, S. 140). Die Beliebtheit der Forderung nach offenem Argumentieren ergibt sich aus ihrem Sinn als Alternative zu juristischer Dogmatik. Zur Erklärung sei ein charakteristisches Beispiel hierfür aus dem Zusammenhang der Irrtumsregelung des BGB genommen, die als typisch für j u ristische Dogmatik stehen kann. Beim I r r t u m über eine Eigenschaft einer Sache, der die rückwirkende Vernichtung des Rechtsgeschäfts erlaubt, w i r d meist formuliert: Der Wert ist keine Eigenschaft. Es ist klar, daß nach natürlichem Sprachgebrauch der Wert eine Eigenschaft ist, daß aber i n unserer Wirtschaftsordnung, die auf raschen Warenabsatz und Unternehmerverantwortlichkeit abgestellt ist, ein I r r t u m über den Wert nicht Rückabwicklung verursachen darf (vgl. Nachweise bei Struck 1971, S. 41). Offenes Argumentieren wäre nun die Nennung dieser plausiblen Gründe, i m Gegensatz zur Lösung des Rechtsproblems durch vorgängige Festlegung von spezifisch juristischen Wortverwendungen, die dann als Begriffssystem keine Auskunft mehr über die soziale Problematik geben. Kriele meinte, daß „sich der Richter i n sozialethischen Erwägungen orientiert, die m i t Schlagwörtern wie Rücksicht-

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I . Vorüberlegungen

nähme, Vertrauensschutz, Unzumutbarkeit, Verläßlichkeit, Konsequenz usw. gekennzeichnet werden können" (Kriele 1965, S. 114). Tatsächlich liefern Urteilsbegründungen und juristische Texte überhaupt reiches Material für einen Katalog von solchen als Begründung akzeptierten Worten, die einerseits sozial konsensfähig erscheinen und andererseits als tragende Gründe mancher juristischen Konstruktionen gedeutet werden können. Das hoffe ich i n meiner Studie Topische Jurisprudenz" (1971) belegt zu haben. Das Problem ist doch aber die Gleichsetzung solcher Begründungsworte m i t richterlichen Motivationen. Gerade die Hoffnung, i m Gegensatz zur typisch dogmatischen Arbeitsweise i n offenen Begründungen die richterlichen Motivationen selbst zur Debatte stellen zu können, gab der Dogmatikdiskussion ihren politischen Aspekt (vgl. ζ. B. nur Simon 1975 passim oder Kriele 1965, S. 113). Nun weiß man seit Lautmanns soziologischem Experiment, über das er in: „Justiz — die stille Gewalt" (1972) Rechenschaft abgelegt hat, daß man sich m i t Spekulationen über die wirklichen Motive richterlicher Entscheidungen sehr zurückzuhalten hat. Die Problematik läßt sich auch an einem an wichtiger Stelle gegebenem Beispiel zeigen. Esser hat i n seinem Vortrag „Wertung, Konstruktion und Argument i m Zivilurteil" (1965) vor der Karlsruher Juristischen Studiengesellschaft einen Fall diskutiert: Eltern lassen zu, daß ihr sechsjähriges K i n d ein Goldarmband i m Wert von 85,— D M m i t zur Schule trägt. I m Turnunterricht kommt es infolge eines geringfügigen Versehens der Lehrerin abhanden; es w i r d vom Schulträger Schadensersatz i n voller Höhe verlangt. Das Rechtsempfinden sträubt sich, die Turnlehrerin, die 28 Schulanfänger zu beaufsichtigen und zu betreuen hatte, i. S. der Amtshaftung voll verantwortlich zu machen; die Eltern des Kindes betreiben den Prozeß bis i n die Revisionsinstanz; auf Grund der dubiosen Konstruktion eines einem Schuldverhältnis ähnlichen Rechtsverhältnis rechnet der B G H den Eltern ein überwiegendes M i t verschulden an und zwar noch unter Hinweis darauf, daß der Vater des Kindes selbst Lehrer sei (Esser 1965 S. 18). — Was war i n diesem Fall Motiv? Möglicherweise war die bekannte Neigung der sich stark m i t dem Staate identifizierenden und mittelständisch sparsamen Richter am Werke, Amtshaftungsansprüche soweit wie möglich zurückzudrängen. Möglich war auch, daß dem Vater des Kindes das unter Richtern schwerwiegende Vergehen angerechnet wurde, unkollegial gegenüber seiner Kollegin handeln zu wollen, wozu die Richter ihre Hand nicht reichen wollten. Möglich ist auch, daß bei den Richtern das zum Tragen kommt, was schon aus Essers eigenen Formulierungen herauszuhören ist: M i t dem Streit um 85,— D M beschäftigt man gefälligst nicht unser höchstes Gericht; die Gerichtskosten wirken hier als notwendige Sanktion! Was aber war hier die „lebensnahe Begründung", von der

3. „Offenes Argumentieren"

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Esser (1965, S. 20) spricht? Man sieht: Es ist nicht nur so, daß w i r die wirklichen Gründe der Entscheidung nur i n Ausnahmefällen erfahren, sondern auch so, daß w i r i n vielen Fällen die erhoffte Rationalitätssteigerung durch Offenlegung bezweifeln müssen. I n einer weiteren wichtigen Hinsicht läßt sich einleuchtend zeigen, daß die Forderung nach Offenlegen der wahren Gründe entweder lediglich auf gewichtigere Probleme verweist oder bestenfalls zum Vorschein bringen könnte, welches Sammelsurium von wahren Gründen bei Juristen zu registrieren ist. Entscheidungsbegründungen „aus dem Wesen", „aus der Natur der Sache", „aus der Institution", usw. werden derzeit immer häufiger angegriffen m i t dem Hinweis, sie dienten nur dazu, zugrundeliegende andere Argumente zu verbergen (z.B. Scheuerle (1964, S. 429 ff., passim). Tatsächlich tauchen solche Begründungsformen immer und immer wieder i n juristischen Texten auf. Man kann nur vermuten, daß es Juristen gibt, die schlichtweg i n solchen Formeln denken, und für die fallweise gar keine tieferen, zugrundeliegenden A r gumente existieren. Es wäre schön, wenn alle Juristen sich ihrer w i r k l i chen Gründe bewußt wären, und sich nur aus (dann allerdings sicherlich nicht überzeugenden Gründen) daran gehindert sähen, diese auszusprechen. Vorab w i r d man aber als inhaltliche Aufgabe der Argumentationstheorie postulieren müssen, daß Kriterien zu erarbeiten sind, m i t Hilfe derer solchen Juristen plausibel gemacht werden kann, daß A r gumente aus dem „Wesen" einer Sache derzeitigen Rationalitätsanforderungen nicht entsprechen, den Rückweg zu einer offenen Bejahung der Wesensbegriffe als Teil (einer dann nicht ganz zutreffend rezipierten) phänomenologischen Philosophie w i r d wohl niemand einschlagen wollen. Damit war aber ein Fall genannt, i n dem das genannte Postulat nur auf gewichtigere Probleme verweist. Ein anderer solcher Fall ist die Behauptung einer heuristischen Funktion von Wesens- und ähnlichen Formeln. I n der gegen ein starres Dogmatikverständnis gewendeten etwas popularisierten Topikrezeption wurde die Rede davon geläufig, Topoi wie „Natur der Sache" könnten als Suchformeln, als Zwischenschritte auf dem Wege zu sachnäheren, „offenen", Argumenten die Funktion der inventio ausfüllen. Aber ohne nähere Untersuchungen über abgelaufene große Juristendiskussionen bleibt die Rede von einer inventorischen Funktion unsicher. Solange die Empirie mangelt, w i r d man es denjenigen, die die herkömmliche Dogmatik nicht aufgeben wollen, nicht verübeln können, wenn sie Dogmatik als heuristische Methode der Entscheidungsfindung bezeichnen (s. Esser 1972, S. 95). Tatsächlich entspringt es einer inneren Notwendigkeit herkömmlicher Dogmatik, ihrerseits den wichtigen Systembausteinen „Rechtsnaturen" zuzuschreiben, die nichts anderes sind als Wesensbegriffe. Ohne solche

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I . Vorüberlegungen

gewissermaßen flächendeckenden Grundideen wäre auch institutsintern nur ein Skelett von Einzelregeln zu entdecken, und das hieße: mehr Lücke als Gesetz. Trotzdem w i r d man die Realität jener heuristischen Funktion der Dogmatik anzweifeln müssen, die doch wohl besagt: Durch das, was w i r i m Repertoire von Rechtsfiguren haben, kommen w i r auf die Idee, wie auftauchende soziale Probleme zu lösen seien. Man überlege: War die Vertragsdogmatik bei der Entwicklung des Vertrages m i t Schutzwirkung zugunsten Dritter mehr fördernd oder mehr hinderlich? — Den Vorzug heuristischer Funktionstüchtigkeit nehmen m i t h i n alle für ihre Ideen i n Anspruch; um deren Realität geht es. Man w i r d sagen müssen, daß das Postulat des „offenen Argumentierens" bei der Diskussion der wirklichen Probleme keine analytische K r a f t entfaltet. U m es i n aller Schärfe auszudrücken: Die Rede vom „offenen Argumentieren" ist ebenso sinnvoll wie die vom „offenen System". Beide Formeln sind immanente K r i t i k der hergebrachten Dogmat i k und überschreiten nicht deren Problemhorizont. 4. Argumentation im üblichen Sprachgebrauch Zur Klärung der Ausgangspunkte könnte man nun versuchen, den gängigen juristischen Sprachgebrauch betreffend des Wortes „Argumentation" aufzuzeichnen. Als Wortfeld wären also Ideen, Gesichtspunkte, Hintergründe, aber auch andererseits Maximen, Prinzipien, Denkkategorien, Doktrinen, Figuren, zu untersuchen. Jeder Kenner der Literat u r w i r d nun ohne längeres Nachdenken zugeben müssen, daß der Wortgebrauch insofern bei Juristen allgemein recht unsicher ist. Das einzige Werk, das die ganze Spannweite spiegelt, ist Essers „Grundsatz und Norm" (1974). Dieser Text geht aber nicht auf Begriffserklärungen aus, sondern bildet i n teilweise paraphrasierenden Passagen jeweils Schwerpunkte innerhalb der Begriffsspektren. Tatsächlich lassen Juristen dort, wo i n Urteilstexten eine Argumentation verlangt wird, häufig die A n gabe ζ. B. einer Maxime dafür gelten, d. h. einer nach Tatbestand und Rechtsfolge inhaltlich vollständigen Norm. Esser (1974, S. 99) nennt als Maxime, daß niemand Vorteile aus einer eigenen Unrechtshandlung ziehen solle und daß der die Kosten einer Handlung tragen solle, der die Vorteile aus ihr ziehe. Es scheint klar, daß man solche Sätze m i t ihren zahllosen möglichen Variationen überhaupt nicht hinreichend identifizieren kann, u m von einem Werke ausgehend einen festen Sprachgebrauch zu unterstellen oder zu etablieren. Deshalb ist auch Dubischars Absicht, wenigstens für die Gesetzgebungslehre eine Terminologie zu etablieren (1974, S. 79 ff.) nicht aussichtsreich. Auch i n diesem Wortfeld von Argumentation am Rande berührendem Gebiet sind die Begriffe i m juristischen A l l t a g allzusehr verredet.

4. Argumentation i m üblichen Sprachgebrauch

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Nicht viel anders fällt der Versuch aus, auf genereller Ebene den Wortinhalt von Argumentation zu bestimmen. Hier wäre als erstes die letztlich wenig aussagekräftige ethymologische Herleitung der Worte Kontroverse, Dialog, Diskussion, Disputation, Gespräch, Argumentation, Argumentieren, Dialektik (Hülsmann 1971, S. 231 f.) zu registrieren. Rödig (1973, S. 116) nennt den Begriff des „Arguments" rätselhaft und greift völlig überraschend auf eine 1520 i n K ö l n erschienene Schrift zur näheren Bestimmung zurück. Die wichtigsten Wörterbücher, so das „Historische Wörterbuch zur Philosophie", hsrg. von Ritter, bieten nur Belangloses. Gewisse Möglichkeiten der Wortverwechslung werden aufgezeigt. Das „Marxistischleninistische Wörterbuch der Philosophie", hrsg. von Klaus/Buhr (1972) spaltet von der landläufigen Bedeutung von Argument diejenige i n der modernen Logik und Mengenlehre ab, und weist i n der Hauptsache darauf hin, daß Argument gleichermaßen das Beweismittel, den Beweisgrund oder i m Gegensatz dazu auch den Beweis selbst bezeichnen kann. Ähnlich meint Wunderlich in: „Grundlagen der Linguistik" (1974, S. 62): „Der Terminus ,Argument' w i r d i n zwei verschiedenen Weisen verwendet; allerdings hängen diese miteinander zusammen, und es ist nicht nötig, sich strikt auf eine der beiden Redeweisen festzulegen (man kann stets m i t Leichtigkeit die eine i n die andere übersetzen): W i r können einmal einen Ausdruck wie ,p, deshalb q' insgesamt als Argument bezeichnen; außerdem können w i r ρ als ein Argument für q ansehen. Die zweite Redeweise w i r d besonders dann verwendet, wenn man verschiedene Alternativen ins Auge faßt und die Argumentationen gegeneinander abwägt." Die bei einem so wichtigen Begriff doch als Achtlosigkeit zu charakterisierende A r t der Bearbeitung i n Wörterbüchern korrespondiert eine große Selbstverständlichkeit i m umgangssprachlichen, aber auch i m wissenschaftlichen Text. Die Formulierung: „Das ist kein Argument!" zielt fast nie auf falsche Anordnung von Begründungselementen, sondern ist fast immer sachlich gemeint. Dem entspricht etwa die Verwendung i n dem Buchtitel „Grundzüge sozial-wissenschaftlicher-statistischer Argumentation" von Ritsert/Becker (Opladen 1971). Hier w i r d A r gumentation mit Begründung i n einem weiten Sinne gleichgesetzt und dann Begründungskraft von Statistik durch eine herkömmliche Lehrbuchdarstellung beschrieben. Es lassen sich noch auf ganz abstrakter Ebene einige weitere solche Wortgleichsetzungen und -gegenüberstellungen explizieren, die möglicherweise i m weiteren einige klärende K r a f t haben können. Voreiliges Sprechen von Argumentation, so als liege der Inhalt schon fest und sei nicht noch zu erarbeiten, kann auf diese Weise vielleicht zurückgedrängt werden.

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I. Vorüberlegungen

Einmal wäre hier aufzugreifen Wunderlichs Aussage, zumindest i m alltäglichen Umgang seien nicht mehr hinterfragbare Evidenzen letzte Gründe. Man könne nur begründen, daß es möglich ist, daß man nach einiger Zeit müde werde, aber man könne nicht begründen, daß man müde sei (Wunderlich 1974 S. 61). Evidenzen könnten nicht durch andere Evidenzen begründet werden; man könne nur sagen: es ist eben so. Nun w i r d man kritisch anmerken müssen, daß es i n vielen Fällen gerade darum geht, was den Rang einer Evidenz beanspruchen kann. Aber wenigstens ist hier ausformuliert, daß der eine das „es ist eben so" nicht mehr als Argument bezeichnen wird, was bei anderen durchaus beobachtet werden kann. I n juristischen Texten ist mehr die Gleichsetzung von Argumentation m i t jeder Begründung zu fürchten, namentlich w e i l dann Begründung häufig seinerseits gleichgesetzt w i r d m i t „nach rechtsstaatlichen Kompetenzverteilungen legitimiert". Hierher gehört auch die unsorgfältige Redeweise, i n der die Wortinterpretation eines autoritativen Textes als Argument für das Ergebnis einer juristischen Problementscheidung genannt wird. Das ist nur dann akzeptabel, wenn gerade die gesetzesüberschreitende Rechtsfortbildung zur Diskussion steht. Argumentation w i r d manchmal aber auch m i t jeder A r t vordergründig plausibler Erwägung gleichgesetzt, was selbst bei Rhetorik nur i m pejorativen Wortgebrauch möglich wäre. Von der Form her bestimmt w i r d die gelegentliche Identifikation von Argumentation m i t jeder dialogischen Rollenwahrnehmung i m Streitgespräch. Die Unangemessenheit dieser Gleichsetzung zeigt sich bei richterlichen Vergleichsvorschlägen. Ein guter Richter kann mitunter durch eine zukunftsgestaltende neue Idee einen darauf gerichteten Vergleich zustandebringen, so daß der Dialog gewissermaßen die Ausgangspositionen überschreitet. Argumentation sollte wohl besser begrifflich reserviert bleiben für die auf die Ausgangspositionen bezogene begründende Denkarbeit. Schlecht wäre es jedenfalls, wenn bei der Beschreibung von Kommunikation immer als Argumentation bezeichnet würde, was i m Kommunikationsverlauf von einem von beiden Partnern als solche an der entsprechenden Stelle eingesetzt wird. Die begründende K r a f t muß auf jeden Fall durch Kriterien angegeben werden. Ob das soweit geht, daß Argumentation schlichtweg m i t Rationalitätsverbürgung gleichgesetzt werden kann, hängt von der inhaltlichen Bestimmung des letzteren Wortes ab. Hierauf ist i m weiteren eine A n t w o r t zu finden. Jedenfalls für die Zwecke dieser Monographie w i r d versucht werden müssen, auch mißverständliche Bedeutungszuschreibungen und mögli-

5. Hülsmanns umfassende Argumentationstheorie

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che Handbezirke des Argumentationsbegriffs einzubeziehen. Unter pragmatischen Gesichtspunkten interessiert eine Theorie des Mißverständnisses und des Aneinander-Vorbei-Geredes vielleicht sogar mehr als die der Argumentation und des Verstehens. Jedenfalls muß auch ζ. B. der Hinweis auf unbeabsichtigte Folgen i n einer Folgendiskussion als mögliches Argument einbezogen werden, wenn auch klar ist, daß i n solchen Fällen Folgendiskussion entnymematisch verkürzt für legitime, rationale Begründung steht. Ein eingeschränkterer Wortgebrauch würde allzu weit die umgangssprachliche Verständlichkeit hinter sich lassen. 5. Hülsmanns umfassende Argumentationstheorie Unter den hier aneinandergereihten Versuchen eines ersten Einstiegs scheint m i r noch einer zu fehlen. Es kann sein, daß es ein einzelnes Werk eines Autors gibt, das „Argumentation" ebenso überzeugend und eindringlich und damit i m Effekt festlegend behandelt wie etwa „Stigma" von Goffman das tut. Dafür kommt leider das Werk von Perelman/ Olbrechts-Tyteca (bei allen sonstigen Vorzügen) wegen der geringen analytischen K r a f t der strukturierenden Begriffe nicht i n Frage; noch weniger das m i t einem umgangssprachlichen Begriff von Argumentation unkritisch verfahrende Buch von Naess: „Kommunikation und Argumentation" (1975). Geeignet kann als einziges Hülsmanns „Argumentation — Faktoren der Denksozialität" (1971) sein, das nach Stil und Methode i n die entgegengesetzte Richtung weist. Es handelt sich dabei u m das ambitionierteste, aber auch tatsächlich u m dasjenige Buch auf diesem Felde, i n dem am weitesten und am sorgfältigsten gedacht wird. Da es trotzdem relat i v unbekannt geblieben ist, w i l l ich an dieser Stelle einige Informationen einschieben und damit Bemerkungen darüber verbinden, weshalb man dennoch nicht durch es der Aufgabe entbunden ist. Hülsmann beginnt m i t vorsichtigen Eingrenzungen des Argumentationsbegriffs: Argumentation beschreibt er zunächst als Vollzug unmittelbarer Rede und Gegenrede i n einem bestimmten Sachbezug und über ein Thema (S. 13 f.). Gewisse Mißverständnismöglichkeiten beseitigt er, wenn er hinzufügt, daß es i n einer Argumentation auch u m Formulierung des Problemfeldes gehen kann; daß auch das Ringen u m ein Thema ein Thema ist (S. 15). Des weiteren entwirft er ein Modell von Argumentation, i n dem er Subjekte, Thema und Informationsstand, die dahinterstehenden Erfahrungen und die Sprache i n ein graphisches B i l d einträgt. I n ausführlichen Erörterungen w i r d nun versucht, das ganze Gedankenfeld von Argumentation auszuleuchten. Ausgehend von der Information als Bestandteil des ersten Argumentationsmodells analysiert Hülsmann Hermeneutik, läßt dabei aber offen, inwiefern Hermeneutik als Theorie

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I. Vorüberlegungen

der wissenschaftlichen Vernunft impliziert und aus sich zu entlassen i n der Lage ist. Richtig sei nur, daß sie für eine solche Fragestellung wichtig sei und bestimmte Bedingungen der Möglichkeit von Theorie überhaupt beinhalte (S. 49). Er wendet sich dann dem Verhältnis von Wissenschaft und sozialer Basis zu und kommt zu dem Satz, zur Wissenschaft gehöre also notwendig etwas anderes als Wissenschaft, und es gehöre mehr zu ihr, als sie selbst wisse (S. 53). I m sozialen Konflikt sei Sprache Instrument, aber der Konflikt vollziehe sich auch selber i n der Sprache (S. 56). Dieser Sachverhalt sei als Aufgabenstellung für eine argumentative Sprache zu begreifen (S. 56). Sozialer Konflikt ist aber keine naturale Kategorie, sondern eine historische, und das Historische selber ist eine soziale Kategorie, i n der die Tradierung der Kontinuität, die Macht des Vergangenen i m Gegenwärtigen i n Erscheinung t r i t t (S. 63). I n diesen vielfältigen Verschränkungen geht allerdings Subjektivität nicht auf, die Hülsmann ζ. T. auch m i t Marx als reale produktive K r a f t verstehen möchte (S. 71). Als zentrales Problem erscheint nun, daß Argumentation Subjektivität nicht entbehren kann, daß aber Regeln der A r gumentation Subjektivität als Gefahr für Erkenntnis zu bannen hätten (S. 71). Das gerade macht nun die eigentümliche Zwiespältigkeit der behaupteten, oben bereits zitierten Koinzidenz von Wahrheit und Freiheit aus (S. 80). Das folgende Kapitel zur Logik der Sozialität faßt Hülsmann selbst zusammen (S. 104). Argumentation ist danach ein soziales Phänomen, i n dem sich die Subjektdifferenz als dynamisches, produktives Moment erweist; für sie ist die soziale und theoretische Situation entscheidend; sie ist soziale Struktur und i n ihrer Faktizität sowohl normativ wie auch prädikativ als produktive Praxis der Subjekte zu verstehen; sie ist Realisation von Möglichkeiten der Gesellschaft i n der Praxis der Subjekte; sie ist soziale Praxis — theoretischer sprachlicher Natur; sie ist sozialer Prozeß, darin der Primat der Möglichkeit die Wirklichkeit bestimmt; kognitive Prozesse sind konkrete Konsequenzen aus argumentativen Prozessen; die Relevanz von Sozialität i n Argumentation und die Effizienz von Argumentation i n der Forschung gehören zusammen (S. 104). — Danach diskutiert Hülsmann einige Formalisierungen, die als Argumentationsmodelle i n Frage kommen. Spieltheoretische Überlegungen scheinen aber gerade das Moment der Spontaneität und Produktivität nicht erfassen zu können und außerdem i n diversen Hinsichten zu sehr zu vereinfachen; namentlich das Freund-Feind-Modell ist für Argumentation i m theoretischen Bereich nicht akzeptabel (S. 112). Schärfer noch fällt die K r i t i k am Dialogmodell von Lorenzen aus (S. 117 ff.). Auch über den Begriff der Emanzipation ist der kognitiven und theoretischen Effektivität von Argumentation nicht beizukommen, weil der Begriff der Emanzipation selbst viel zu ungeklärt ist (S. 134). Habermasens eigen-

5. Hülsmanns umfassende Argumentationstheorie

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tümliche Verbindung von emanzipativen und therapeutischen Prozessen w i r d ebenso kritisiert (S. 135 ff.) wie Argumentation als Leerstelle i n Poppers Gedankengebäude aufgezeichnet. „ N u n ist Argumentation selber nicht unmittelbar Theorie, auch nicht Theorie von Erkenntnis" (S. 142). Der einsame Forscher, das Foscherteam, das beobachtet, protokollierend, reflektierend ein Experiment macht, argumentiert eben nicht (S. 143). Hülsmann scheint Argumentation ihrerseits durch einen sorgfältig aufgearbeiteten Begriff von „Hypothese" erklären zu wollen (S. 174 ff.). Kritisch ist dazu anzumerken, daß er aber wohl teilweise der Versuchung nachgibt, die erarbeiteten Problemexplikationen einfach vom Argumentationsbegriff auf einen Hypothesenbegriff umzuschreiben. Danach wendet sich Hülsmann dem von Husserl übernommenen Begriff der Denksozialität zu; es geht i h m um die bestimmte integrative Kraft der Wahrheit i m Zusammenhang m i t der Denksozialität, die als jene Qualität des Denkens bestimmt ist, die sich an diese Aufgabe gebunden weiß (S. 203). „Denksozialität ist die Koinzidenz von Erkenntnis der Sache und Anerkenntnis der Erkenntnis durch und i n der Gruppe — hier i m weitesten Sinne der Menschheit" (S. 203). Ein Seitenblick auf Kuhns Lehre von der Wirkung der Paradigmata für den Forschungsprozeß zeigt nun Hülsmann die entscheidende Bedeutung von Argumentation. „Die argumentative Potenz der Sozialität vermittelt jedoch und überschreitet die Paradigmata. . . . Daß die Argumentation diese ausgezeichnete Möglichkeit der Koinzidenz von Sozialität und Theorie, Kognitivität und Normativität produziert, bleibt ihr entscheidender Sinn" (S. 217). I m Resultat geht also Argumentation über den Status sowohl des Gewußten, Erforschten sachlich und kommunikativ, kognitiv kommunikat i v hinaus (S. 219). Der Abstraktionsgrad solcher Formulierungen ist von den Lesern leicht zu kritisieren; ihre Reflexionshöhe schwer zu erreichen. Dieses Zusammenspiel hat das Buch sicherlich teilweise seiner sachlich verdienten Wirkung beraubt. Jedenfalls ist es, um auf den Zweck i n diesem Zusammenhang zurückzukommen, nicht schlichtweg jedem Juristen als Theorie der Argumentation in die Hand zu drücken. Allerdings w i r d man auch zugestehen müssen, daß gerade die Formulierungsweise auch als Kritikimmunisierungsstrategie gedeutet werden kann. Die Hauptsache jedoch, daß Argumentation als analytischer Begriff aus Sachgründen kraft einer aus Subjektivität weit zu denkenden Produktivität den Themenbereich derzeit gängigen Begründungslehren überschreiten muß, dieser Hauptgedanke w i r d sich i m folgenden bestätigen. N u r einige Hinweise zur K r i t i k : Man muß sich zuerst an die durchgehende spezifisch philosophische Sprechweise des Autors gewöhnen: Postulate werden häufig schlicht indikativisch i n Form von Merkmalszuschreibungen formuliert. Dazu

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I . Vorüberlegungen

kommt, daß Hülsmann nicht komplexe Sachverhalte auf eine einer A n t wort zugängliche Frage reduziert. Das findet Ausdruck i n den Passagenüberschriften, die ζ. B. lauten: „Struktur und Zeit", „Satz und Sinn", „Die Situation", u. a. m. Diese Technik der kreisenden Erörterung bringt eine große Gedankenfülle zum Tragen und referiert vielerlei wichtige Kenntnisse. Typisch ist dafür, daß einerseits eine längere Passage über Hermeneutik eingeleitet w i r d mit dem Satz, es bestehe aber doch ein Interesse daran, den Begriff der Hermeneutik zu klären und i n Bezug zum Thema Argumentation zu setzen (S. 37), und daß andererseits sich präzise Hinweise zum sog. produktiven Denken (S. 150 ff.) und zur Interrogativlogik (S. 169 ff.) finden, die niemand sonst i n eine Arbeit über Argumentation aufgenommen hätte. Die schlichte Rezeption w i r d durch das Abstraktionsniveau verhindert. Dafür ein Beispiel: Hülsmann bestimmt i m Anschluß an Husserls nichtökonomischen Produktionsbegriff, den er auf die Kurzformel bringt „Subjektivität ist Produktivität" (S. 69), das Verhältnis von Wahrheit und Freiheit. „Wahrheit ist die i m Produktionsprozeß konkretisierte Möglichkeit, die als Freiheit genau das Ereignis ist, das den Übergang von der Möglichkeit zur Wirklichkeit schafft" (S. 80). Teilweise gleitet der Text dabei i n schlechte Metaphorik ab. So w i r d von der zitierten These gesagt, von diesem Ort und Punkt her müsse nach dem Subjekt als erkennendem, als denkendem zurückgefragt werden und der Bereich der Argumentation bestimme sich gerade von daher und daraufhin (S. 80 f.). Dem korrespondiert, daß auch naheliegende Möglichkeiten einer plastischeren Darstellung nicht wahrgenommen werden. I n dürren Worten w i r d gesagt, der Kampf u m Anerkennung der Argumente trage gewiß soziale Züge (S. 200). Manchmal aber kennzeichnet die Abstraktion inhaltliche Lücken. I m Zusammenhang m i t dem sozialen Kampf z.B. fällt das Stichwort „Ideologie". Es w i r d aber nur gesagt, i n der A r g u mentation stünden die Aussagen innerhalb einer hypothetischen Struktur, die einen Dogmatismus nicht erlaube. „Damit ist es unmöglich und w i r d verhindert, daß die Argumentation sich i n eine Ideologie verwandelt, zu einem ideologisierten Bewußtsein führt" (S. 200). Hier wünscht man sich eine anschauliche Klärung, und zwar insbesondere weil nach Hülsmann die hypothetische Struktur doch eine skeptische Konsequenz ausschließt. Anleitung zu sozialem Handeln bleibt aber immer außerhalb von Hülsmanns Darstellung. Deshalb bleibt auch die Frage nach einer spezieller auf Jurisprudenz bezogenen Argumentationstheorie offen.

2. Kapitel

Zum Stand der Literatur zur juristischen Argumentation Ein Kapitel m i t diesem Titel läuft Gefahr, den Inhalt der ganzen Untersuchung vorwegnehmen zu müssen. Argumentieren ist deshalb an dieser Stelle begrifflich enger gemeint. Es geht u m Abhandlungen, die Voraussetzungen oder Rahmen für weitere Überlegungen bieten könnten. Unter diesem Gesichtspunkt ist erstens eine Einschätzung der rechtsgeschichtlichen Literatur tunlich, da sich aus ihr begriffsgeschichtliche Klärungen ergeben könnten. Zweitens w i r d das Ergebnis des Kongresses „Die juridische Argumentation" i n Brüssel i m Herbst 1971 zu bedenken sein, soweit die Referate einen Eindruck davon verschaffen (ARSP Bh. 7 und Hubien 1971). Drittens w i r d ein Beispiel diafür analysiert werden, wie Argumentation selbst als Thema wissenschaftlicher rhetorischer Figuren zunehmend ins Bewußtsein gehoben werden kann, wobei die inhaltliche Ausfüllung noch offen bleibt. Dafür kann der Hinweis auf einige durch Materialreichtum hervorstechende Arbeiten nützlich sein. 1. Argumentationstheorie als Thema der Rechtsgeschichte Gleich zu Anfang sei das Hauptproblem der Verwertung rechtsgeschichtlicher Arbeiten i n einem Satze umrissen: Die Projektionen heutiger Begriffe i n die ferne Vergangenheit machen die Übernahme von Aussagen über die Begründungsmethoden früherer Rechtskulturen für den Aufbau einer modernen Argumentationstheorie schwierig. Dazu einige Belege: Horak hat i n „Rationes decidendi — Entscheidungsbegründung bei den älteren römischen Juristen bis Laibeo" (1969) das vielgestaltige Material mit dem derzeitigen Begriff „Methode" gewichtet: „ A l l das ergibt keinen spezifischen Denkstil" (S. 295). Auch die Begriffe „Topik" und „Methode" würden zur Bezeichnung überdehnt (ebd.). Anders verwendet Schmidlin i n seiner Schrift „Die römischen Rechtsregeln" (1970) das Wort „topisch". Er weist zustimmend auf Bunds „Untersuchung zur Methode Julians" (1965), wonach sich eine äußerst lebendige „topische" Arbeitsweise feststellen lasse; i n den römischen Texten spiegele die sich i n Anschlüssen wie ζ. B. simile est, idem est,

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I I . Z u m Stand der L i t e r a t u r zur juristischen Argumentation

sed etiam, nam igitur, quoniam, consequent, evidenter, auch wenn ein planmäßiger Topoikatalog fehle (Schmidlin 1970, S. 203). Solche Äußerungen sind verständlich auf dem Hintergrund der Topik-Diskussion, wie sie i n jenen Jahren geführt wurde, als Schmidlin seine Schrift verfaßte; ob sie das Verständnis der Motivationsstrukturen von römischen Juristen erleichtern, ist schwer zu entscheiden. Es gibt auch die Möglichkeit, historische juristische Texte m i t Hilfe des entsprechenden zeitgenössischen Methodencanons zu analysieren. Dafür liefert Otte i n „Dialektik und Jurisprudenz" ein Beispiel. Diese Untersuchung zur Methode der Glossatoren versteht Dialektik i m Wortsinn jener Zeit. Nach ihrer Intention kann diese A r t Forschung nur schwerlich Gesichtspunkte für heutige Methodendiskussion geben. Was also kann durch Rechtsgeschichte über Argumentation ausgesagt werden? Dazu ist eine Vorfrage zu stellen, die sich als die eigentliche Hauptfrage von Rechtsgeschichte erweist. W i r können zwar i n der Geschichte der Argumentation bei üblichem Verständnis dieses Wortes unter unserem Blickwinkel eine relativ kontinuierliche Entwicklung zeigen. Läßt sich aber das als Stoff oder Basis verstandene Recht gleichzeitig als kontinuierlich bleibend deuten? Sicherlich war der Textbestand (als Textbestand!) des kontinentaleuropäischen, römisch-rechtlich geprägten Rechts i n einem verblüffenden Maße konstant. Aber gerade eine geschichtliche Betrachtungsweise kann nicht Recht ohne Blick auf seine Funktion i n seiner jeweiligen Gesellschaft bestimmen. „Das Recht hat keine Geschichte" (Marx). Ist das, was vor, nach und während der industriellen Revolution Recht war, identisch geblieben? Ist nicht das B i l d einer weitgehend kontinuierlichen juristischen Argumentation gerade entgegengesetzt zu interpretieren, nämlich als Funktionswandel, insofern jene Form der Textorientierung des Juristenstandes gleich blieb trotz der diskontinuierlichen sozialen Verfassung? Eine substantiierte A n t wort auf solche Fragen würde nebenher Aussagen darüber ermöglichen, was sich aus der Geschichte lernen läßt. Vorläufig kann i n diesem Zusammenhang nur umgekehrt gegen voreilige Gleichsetzungen protestiert werden. 2. Der Kongreß „Juridische Argumentation" Brüssel 1971 Der Gedanke, die Dokumentationen des Brüsseler Kongresses (ARSP Bh. 7 und Hubien 1971) als A b b i l d des Diskussionsstandes zu benutzen, begegnet Bedenken. I n deutscher Sprache hieß das Thema „Die juridische Argumentation", auf englisch „Legal reasoning", i n französisch „Le raisonnement juridique". Das Thema mußte also von den meisten Teilnehmern weiter verstanden werden als das deutsche Wort Argumentation reicht. Beiläufig gesagt: Auch bei dem Versuch einer engeren Fassung

2. Der Kongreß „Juridische Argumentation" Brüssel 1971

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wäre angesichts der internationalen Beteiligung von vornherein nur m i t einem sehr weiten Argumentationsbegriff zu rechnen gewesen. Viehweg nimmt darauf i n seinem Beitrag (ARSP Bh. 7 S. 63) auch konsequent Bedacht: „Argumentieren heißt Gründe anführen." Trotzdem w i r d man umgekehrt eine gewisse Enttäuschung darüber äußern dürfen, daß eigentlich nicht ein einziger der Beiträge sich i m K e r n u m den Begriff der Argumentation selbst bemüht hat. Das häufigste Motiv i n den vielfältigen Arbeiten ist vielleicht die Gegenüberstellung von formaler Logik und juristisch-rhetorischer Praxis, wogegen allerdings auch die Beiträge von Teilnehmern aus sozialistischen Staaten u n d die mehr auf Verf assungsprobleme h i n orientierten Beiträge von Anglo-Amerikanern gewichtige Blöcke bilden. Erstere bleiben überwiegend i n sehr abstrakten Formulierungen von Grundpositionen stecken und letztere beschäftigen sich häufig m i t dem, was i n hiesiger Terminologie Legitimation genannt w i r d . Perelman w a r als Veranstalter und Präsident der Internationalen Vereinigung für Rechtsphilosophie anwesend, aber trotzdem wurde nur i n einem Beitrag sein Ideengut an einem praktischen Problem diskutiert (Frost 1971). Schon Perelmans Einleitungsreferat zeigt die hauptsächliche Schwierigkeit: Der Begriff Argumentation w i r d allgemein schon vorausgesetzt und nicht zuvor zum Gegenstand von theoretischen Überlegungen gemacht. Dadurch ist eine Analyse der Beiträge i m Hinblick auf die Prämissen auf zwei Möglichkeiten eingeschränkt. Entweder versucht man, die Beispiele und konkreten Aussagen zu sammeln und so den Begriff von Argumentation zu erschließen, oder man geht den schwierigen Weg, die häufig hochabstrakte Begrifflichkeit interpretierend i n konkrete Vorstellungen umzusetzen. Beide Verfahren seien jeweils m i t einem Beispiel belegt, an dem sich zugleich seine Grenzen zeigen lassen. Tarello (ARSP Bh. 7) beschäftigt sich m i t der Besonderheit juristischen Argumentierens. Er formuliert einen Katalog von Argumenten, nämlich das argumentum e contrario, a simile, a fortiori, a completudine, das Argument des Zusammenhangs der Rechtsordnung, der Rekurs auf den konkreten Gesetzgeberwillen, auf die Kontinuität des Rechts, die reductio ad absurdum, die Zweckbedingtheit des Rechts, die Ökonomie rechtlicher Regeln, das argumentum ab excemplo, das Systemargument und die Natur der Sache. Er zeigt nun, daß diese Argumente nie spezifisch und ausschließlich juristisch waren und mehr von historisch-ideologischen Situationen i n ihrer Verwendung abhängen als von Fachkontexten. Für den, der an die Eigenart juristischen Argumentierens glaubt und insbesondere daraus politische Konsequenzen für die Gewaltenteilung zieht, muß dieses Ergebnis ein wichtiger Denkanstoß sein. Andere aber werden Tarellos Aufzählung als Topoikatalog deuten, dessen hier her3 Struck

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I I . Z u m Stand der L i t e r a t u r zur juristischen Argumentation

vorgehobene Eigenschaft längst bekannt ist. Insofern führt der Beitrag nur i n die Diskussion u m Topik zurück, und es ist fraglich, ob Argumentation damit umfassend behandelt ist. Informativ ist auch ein Blick auf den w o h l ambitioniertesten Versuch i m Rahmen des Kongresses. Er steht hier als ein Beispiel problematischster Abstraktion. Lampe (1971) bezeichnet i n seinem Vortrag „Problemanalyse als Grundlage der juristischen Argumentation (juristische Aporetik)" die Gesamtheit des nicht-logischen, wenn auch keineswegs unlogischen problemorientierten Denkens als aporetisches Denken, seine wissenschaftliche Untersuchung als „Juristische Aporetik" (S. 71 ff.). Er nennt es auch sachgerechtes Denken, und es müsse dafür eine Reihe von Postulaten praktisch erfüllt werden: Eine Zielanalyse, welche deutlich machen soll, worum es geht; eine Realanalyse, die die relevanten Materialienselektiert; eine Rechtsanalyse, die relevante Berechtigungsnormen aufsucht; eine Konfliktsanalyse, deren Ziel es ist, Hinderungsgründe für eine „glatte Lösung" bewußt zu machen; die Aufstellung einer Normhypothese, welche die mögliche Lösung i m Modell konzipiert und ihren Funktionalwert hervortreten läßt (S. 74 ff.). Danach erklärt Lampe das alles zur Grundlage für die nunmehr einsetzende juristische Argumentation, welche m i t der Entscheidung über die Hypothese endet. Bei der Analyse dieser Überlegungen empfiehlt es sich, m i t dem ersten Satz zu beginnen: „ E i n Problem ist eine ungelöste geistige Aufgabe" (S. 71). Aus dem gesamten folgenden Text w i r d nicht klar, ob das Wort „geistig" die Probleme der Durchsetzungsmöglichkeiten und der gesteuerten Veränderimg faktischer Prämissen aus den Überlegungen ausschließen sollte. Ist das der Fall, so ist die gesamte Abhandlung i n ihrem Aussagewert stark eingeschränkt. Jedenfalls: Wenn Fragen solcher Relevanz sich aus einem Text nicht klären lassen, dann ist die Abstraktion zu weit getrieben. 3. Argumentationstheorie als Postulat Abstraktionen können heuristischen Wert haben, wenn sie i n entsprechenden Verfahren verwendet werden. Die juristische Literatur zur A r gumentationstheorie läßt sich zum Teil auf diese Weise positiv deuten. Als Beispiel dafür sei hier Hassemers Aufsatz „Juristische Argumentationstheorie und juristische Didaktik" (1972) vorgestellt. Er kann als Ausarbeitung eines rhetorischen Dispositionsschemas verstanden werden. Wissenschaftliche Arbeiten enthalten also (wie alle übrigen Texte auch) nicht nur satzförmige und wortbezogene rhetorische Figuren, sondern sie lassen sich auch i m ganzen als solche erfassen. Deren Kenntnis ist übrigens wegen der darauf bezogenen ökonomischen Arbeitstechniken bei der Rezeption wichtig. Die hier verwendete Figur kann man i n Er-

3. Argumentationstheorie als Postulat

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innerung an den Mathematikunterricht die „Gleichung m i t zwei Unbekannten" nennen. Wenn eine solche Gleichung m i t χ und y nach mehreren, inhaltlich gewichtigen und sicherlich Geistesarbeit erfordernden Schritten am Ende „aufgeht" (wie Schüler sagen), dann weiß man ζ. B.: „ x = 7y." Die Aussage über die Relation ist möglich und i m üblichen Sinne richtig; nur: was χ und was y der Sache nach sind, weiß man durch die richtige Lösung noch nicht. Über die Inhalte der Untersuchungsgegenstände ist nichts i n Erfahrung gebracht. Die „beiden Unbekannten" heißen bei Hassemer Argumentationstheorie und Didaktik. Er stellt zutreffend fest, eine juristische Argumentationstheorie gebe es erst i m Ansatz (S. 479). Diese Prämisse hindert i h n nicht, nach Andeutungen einer vorläufigen Aufgabenbestimmung einer juristischen Argumentationstheorie deren Rolle i n der bisherigen und Aufgabe i n einer zukünftigen juristischen Didaktik darzustellen. Der argumentationstheoretische Ansatz gehe davon aus, daß Normvorschrift, Anwendungsbedingungen und Richterrecht, die Qualität des zu beurteilenden Sachverhalts, die Konsequenzen einer bestimmten Entscheidung für das Normensystem und die mitbetroffene Gesellschaft interdependente Entscheidungsfaktoren seien, deren argumentatives Zusammenspiel — nicht deren schlichte Summe — die juristische Entscheidung bestimmen. Davon müsse eine juristische Didaktik ausgehen, was von den Forderungen der modernen allgemeinen Didaktik selber gestützt werde (S. 476). Die K r i t i k kann aber nicht darüber hinwegsehen, daß dabei „neue juristische Didaktik" (S. 480) ein noch leereres Wort bleibt als „juristische Argumentationstheorie". Man vergleiche dazu Wiethölters auch heute noch richtige Feststellungen vor dem Loccumer Arbeitskreis (Neue Juristenausbildung, hrsg. vom Loccumer Arbeitskreis, 1970, S. 34). Hassemers verbalen Vorstößen korrespondieren nun korrekte, aber durch ihre Selbstverständlichkeit zum Ritual gewordene salvatorische Klauseln: Nach einer Darstellung von zahlreichen konkreten Schwächen unserer juristischen Ausbildung erklärt Hassemer, eine vom argumentationstheoretischen Ansatz her gedachte Didaktik könne diese Schwierigkeiten nicht i m Alleingang (beseitigen; sie begründe aber eine Problemsicht, m i t deren Hilfe Zielvorstellungen entwickelt werden könnten, die eine radikale Besserung versprächen (Hassemer 1972, S. 476). Eine juristische Didaktik w i r d beim A u f - und Ausbau einer j u r i stischen Argumentationstheorie ihrerseits m i t w i r k e n können (ebd.). Der heuristische Wert solcher Ausführungen ist offenbar. Didaktik ist sicher ein wichtiges wissenschaftliches Problemfeld, und niemand, der sich fortan m i t Argumentationstheorie beschäftigt, kann sich dem Zwange entziehen, auch Didaktik i n die Überlegungen einzubeziehen. Die Gegenstände sind wichtig und die Kategorien zutreffend gewählt; namentlich die A r t der Relation, ihr Wechselspiel, ist richtig erfaßt. Nur 3·

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I I . Z u m Stand der L i t e r a t u r zur juristischen Argumentation

bleibt inhaltlich sehr undeutlich, wie (ζ. B.) die juristische Didaktik bei der Entwicklung der Argumentationstheorie wirksam werden soll. 4. Materialreservoirs zur juristischen Argumentation I n diesem Zusammenhang ist es angebracht, einige Arbeiten namentlich aufzuführen, i n denen ein dem eben genannten Prinzip entgegengesetztes verwirklicht wird. I n ihnen w i r d eine Menge von Studienobjekten zur juristischen Argumentation vorgeführt und der theoretische Hintergrund dazu w i r d vergleichsweise weniger ausführlich behandelt. M i t solchen Materialsammlungen sollte man Abstraktionen wie „Juristische Aporetik" konfrontieren und daraus lernen. A l l e n voran ist hier Lautmanns Erfahrungsbericht seiner zweijährigen Richtertätigkeit „Justiz — die stille Gewalt" (1972) zu nennen. Die 289 festgehaltenen Einzelerlebnisse — großteils Argumentationssituationen — sind das vielfältigste Material. Ergiebig ist auch Egon Schneiders „Logik für Juristen" (1972), doch ist hier die Beschränkung auf Urteilsbegründungen spürbar. Insofern ist der Kreis weiter gezogen bei den auch etwas zahlreicheren Belegen i n meiner Studie „Topische Jurisprudenz" (1971). Die dort erarbeiteten Kataloge geben mehr als 200 einzelne Argumentationsbeispiele aus der gängigen juristischen Literatur. I n allen drei Fällen sind die theoretischen Entwürfe jedenfalls nur i n geringem Grade textbestimmend, so daß durch die Vielfalt des angebotenen Materials jede Konzeption zur Argumentationstheorie substantiiert diskutierbar wird.

3. Kapitel

Modelle argumentierender Sätze 1. Norm — Modell — Beschreibung Die Bemühung u m die Theorie juristischer Argumentation verweist zuerst auf Möglichkeiten, argumentierende Sätze i n formalisierten Modellen zu erfassen. Hier sind einige Versuche zu diskutieren, die großteils von der Unbrauchbarkeit der Syllogistik als Darstellung normaler Argumentation ausgehen. Es gilt als Erfahrungstatsache, daß normales Argumentieren selten i n Syllogismen vor sich geht (statt vieler: Wunderlich 1974, S. 69), und daß auch häufigere abgeleitete Formen wie Enthymeme (Rottleuthner 1973, S. 204) als durchgängige Struktur nicht feststellbar sind. Trotzdem soll der klassische Syllogismus und vergleichbare Schlußformen nach einem Blick auf die Sprachwissenschaft am Anfang stehen, da andere Möglichkeiten erst i n Auseinandersetzung mit ihnen und als Korrektiv entwickelt wurden und daher häufig Prämissen teilen. Die Worte Modell und Schema werden i m folgenden Text nicht präzis unterschieden, w e i l der weite Sprachgebrauch eingeführt ist. Man vergleiche aus der i n dieser Arbeit verwendeten Literatur als Beispiele den Sprachgebrauch von Hacks (1974 S. 11 ff.), Hülsmann (1971 S. 17) und das Stichwort „Modell" bei Buhr/Klaus (1972). „Formalisiertes Modell" muß von vornherein i n zwei Hinsichten als flexibler Arbeitsbegriff verstanden werden. Erstens kann der Umfang dessen, was als eine zusammenhängende Argumentation aufgefaßt wird, variieren. I m Zusammenhang m i t Topik werden ζ. B. oft Einzelworte als Argumente angesprochen, wobei aber der Unterschied zwischen solchen Einzelworten und ganzen Sätzen offenbar rein technischer Natur ist; wer an „Zumutbarkeit" erinnert, meint natürlich, daß das Recht nicht Unzumutbares verlangen darf. Zweitens ist die Grenze zwischen der Darstellung eines Satzes und derjenigen eines Verlaufes längeren Argumentierens fließend. Wer zuerst normative und faktische Prämissen expliziert, um dann durch ihre Kombination i n mehreren Schritten zur Konklusion zu kommen, w i r d sicher eine Reihe von Aussagesätzen brauchen. Die nachfolgend aufgeführten Formalisierungen sind von ihren Autoren mit unterschiedlichen Ambitionen besetzt. Es scheint zweckmäßig, sie zunächst als reine Darstellungsmodelle zu verstehen, und später die

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I I I . Modelle argumentierender Sätze

von den Autoren stellenweise angesprochenen Fragen der Handlungsrichtigkeit zu diskutieren. M i t diesen Fragen verbindet sich die weitere nach der Normativität von Argumentationsregeln, da die Modelle auch als Normierungen verstanden werden können. Eine Formalisierung, wie sie ζ. B. der Syllogismus darstellt, erlaubt eben auch, bestimmte Argumentationen als „nicht regelgerecht" auszusondern. Doch muß man sich hier vor verbalen Verwirrungen hüten. Natürlich klingen Argumentationsregeln wie alle methodischen Vorschriften so, als seien sie für die beteiligten Wissenschaftler als verbindliche Verhaltensanweisungen gedacht. So mögen sie auch von manchen Autoren gemeint sein. Von Normativität sollte man aber erst sprechen, wenn vom Regelformulierenden die Legitimationsbasis vorgestellt ist, und auf der Seite des Regelbefolgenden die Kompetenz für eine relevante Anwendung jener „Normen" vorliegt. Erst recht sollte man nicht die Frage nach dem Wert und möglichen Erfolg gewisser methodischer Regeln generell „normativ" nennen. Der Naturwissenschaftler, der eine bestimmte wissenschaftliche Methode seines Forschungsbereiches propagiert, handelt nicht normativ, ebensowenig wie diese Methode normativ ist (anders Larenz 1975, S. 226 Fn 132, der allerdings die eigene Formulierung unklar abschwächt). Eine weitere Mißverständnismöglichkeit verdient vorgängige Erwähnung. M i t der geläufigen Vorstellung unabweislicher Stringenz logischer Operationen verbindet sich leicht die Vorstellung einer Zusammengehörigkeit von Formalisierung und Normativität. Man kann die hier relevanten Eigenschaften von Nachzeichnungen argumentierender Sätze i n Quadraten eintragen. 1.a) Formalisierung, Logifizierung, u. ä. m.

l.b) Normativität, Idealität, u. ä. m.

2.a) Umgangssprachlichkeit

2.b) Deskription, Empirie

I n dieser Zahlung von möglichen Eigenschaften werden nun häufig l.a) und l.b) gleichgeschaltet und Normativität an das Merkmal formaler Abstraktion gebunden. Das ist jedoch ebenso wenig zwingend wie eine Gleichsetzung von 2.a) und 2Jb). Die Deskription guter Argumente kann i m Effekt fernere reale Praxis anleiten und zur sanktionierten Konvention werden, während die bloße Angabe von Regeln der Argumentation gerade durch eine Überbetonung von Formalität Gefahr läuft, die mögliche Praxis aus dem Auge zu verlieren. Nicht ausgeschlossen ist, daß man vernünftigerweise gerade Deskription von Argumentationen i n Gestalt von Formalisierungen leistet und die Angabe von praktischen Regeln m i t Verbindlichkeitsanspruch nur umgangssprachlich verständlich w i r d .

2. Systematische Ordnung der Modelle?

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2. Systematische Ordnung der Modelle? Man könnte daran denken, etwa i n folgender Weise die Überlegungen zu strukturieren: Arbeitsgrundlage ist ein völlig leeres, terminologisches Schema, bestehend aus drei Elementen, genannt „Prämisse" und „Konklusion" und dazwischen ein Verbindungsstück „ist Argument für". Sodann könnte man sich der Frage zuwenden, was jeweils als Ausfüllung der drei Leerstellen zugelassen werden darf, wenn es sich u m eine korrekte Argumentation handeln soll. Für Prämisse und Konklusion wollen w i r hier die Frage nicht weiter verfolgen, aber was darf anstelle des „ist Argument f ü r " treten? Man denkt sofort an das Begriffspaar deduktiv/induktiv und das führt i n Rekonstruktion der üblichen Gedankenfolge zu der Frage, ob es eine Hierarchie oder sonst eine systematische Ordnung von Argumentationen gibt. Wäre die A n t w o r t positiv, so wären die folgenden Ausführungen natürlich dementsprechend zu disponieren. DieFrage (und ihre negative Antwort) hat instruktiv einzig Botha i n „The Justification of Linguistic Hypotheses" (1973) herausgearbeitet. Dort finden sich auch reiche Nachweise, namentlich zur angloamerikanischen Literatur. Er beginnt m i t der gängigen Gegenüberstellung von demonstrativen ( = stringenten, logischen, deduktiven; vgl. S. 28 F N 19) Schlüssen und nicht-demonstrativen. Während die ersteren nur entfalten, was schon i n den Prämissen enthalten war, führen die letzteren zu neuen Erkenntnissen (s. 29 f.). Deren typischer Vertreter ist die induktive Grundform: Wenn aus Α Β folgt und Β vorliegt, so ist das ein Argument dafür, daß auch A vorliegt. Z u r besonderen Stellung der hier „demonstrative Schlußform" genannten Logik w i r d unter diesem Stichwort zurückzukommen sein. Botha ist nun zu danken, daß er sich nicht von der Logik faszinieren läßt, sondern weiter die nicht-demonstrativen Schlüsse analysiert. Er stellt die Frage, w i e man die Begründungskraft der verschiedenen nicht-demonstrativen Schlüsse einschätzen kann und muß feststellen, daß die gesamte Literatur hierzu schweigt (S. 37). Das ist i n der Tat bemerkenswert, w e i l eine große Zahl von Verbalisierungen von nicht-demonstrativen Schlüssen zu registrieren ist. Aus der von i h m verarbeiteten Literatur weist Botha nach: support, confirm, provide evidence for, make propable, make plausible, sustain, indicate, explain, are explained by, can be reduced to (S. 31). Schaut man i n praktisch argumentierende Texte, so erweitert sich die Liste (vgl. S. 112 f.). Vergleichbare Sprachformen i n deutschen Texten lassen sich leicht finden (ist Argument für, bestätigt, zeigt, gibt einen Hinweis auf, steht i n Einklang oder i n Übereinstimmung mit, macht plausibel, macht wahrscheinlich, stützt, erklärt usw.). Der Versuch einer präzisen Übersetzung

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I I I . Modelle argumentierender Sätze

von einer Sprache i n die andere würde übrigens die Variationsbreite der Wortbedeutungen eindrucksvoll zeigen. Botha verfolgt die von i h m gestellte Frage anhand der Induktion i n empirischen Wissenschaften, aber die Ergebnisse sind übertragbar. Schon i m klassischen Induktionsschema (wahre Hypothese führt zu wahrer Voraussage; t r i t t Voraussage ein, so ist die Hypothese bestätigt) läßt sich i n zweifacher Hinsicht zeigen, daß der Schluß nicht zwingend, sondern schwächer ist. Die vorausgesagten Fakten können durch alternative Hypothesen gedeutet werden und ungeprüfte Voraussagen machen das Ergebnis unsicher. Für eine systematische Anordnung aller Schlußformen ist keine Möglichkeit zu sehen, und das Schweigen der Literatur ist wohl nur aus dieser, von Botha nur bestätigten Erkenntnis zu deuten. Das zeigt sich auch, wenn man naheliegende Anordnungsgesichtspunkte (Grad oder Prozentziffer der Wahrscheinlichkeit, praktische/ethische Relevanz u. ä. m.) prüft. Hier ist keine systematische Ordnung zu gewinnen. Deshalb ist Bothas Beurteilungsschema für die Relevanz von Argumenten, das hier der Vollständigkeit wegen kurz mitgeteilt sei, für empirische wie für andere Wissenschaften konsequent. Er entwirft ein „diagnostisches" Spektrum (S. 37 ff.. 53) zwischen den Polen objektiver Belegkraft und subjektiver Überzeugungswirkung, wobei als mittlere Eigenschaft Akzeptabilität genannt wird. Die Grenzziehungen zwischen diesen drei dienen nur Dispositionszwecken, weil natürlich Belegkraft erste Stütze der Akzeptabilität ist (S. 46) und diese wiederum erster Grund der Überzeugungskraft (S. 50). So finden sich i n einer Reihe als Gewichtungsgesichtspunkte: Zahl der übereinstimmenden oder widersprechenden Erkenntnisse, deren Rang oder Grad, deren Varietät; die Akzeptabilität w i r d ferner gestützt durch: Übereinstimmung m i t schon vorher gemachten Annahmen, heuristische Fruchtbarkeit, Einfachheit und allgemeine (praktische, ethische, ästhetische) Erwägungen; dazu kommt Überzeugungskraft durch besondere Geschicklichkeit des Vorbringens oder durch Übereinstimmung m i t dem „Zeitgeist" (im Original deutsch, S. 51). I n unserer Beurteilung dieses Schemas ist festzuhalten, daß alle Gesichtspunkte auf praktisch bewährten Maximen beruhen, die schon ihrerseits Teil allgemein akzeptierter Argumentationsformen sind. Nehmen w i r als Beispiel „Varietät" also die positive Stützung einer empirischen Annahme durch den Hinweis, daß sie m i t recht verschiedenen anderen Sachverhalten i n Übereinstimmung steht. Welche Stringenz hat ein solcher Schluß? Als Gesichtspunkte für die Beurteilung seiner Belegkraft könnten nur wieder die genannt werden, 'die schon Teil des Schemas sind. Aus diesem Zirkel kommt man nur heraus, wenn man erstens die Sachfragen voll als praktische Probleme formuliert und zweitens dafür

3. Der Beitrag der Sprachwissenschaft

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materiale Argumente nennt. Für das genannte Beispiel hieße das, daß man nach dem Konsens über die zu verteilenden Risiken fragen müßte. 3. Der Beitrag der Sprachwissenschaft Ein unbefangener Beobachter w i r d eine Beschreibung von Argumentation zuerst einmal von den Sprachwissenschaften erwarten. Doch ist Argumentation hier offenbar ein höchst seltenes und geradezu als neu zu bezeichnendes Thema. Es scheint, daß man sich bisher hauptsächlich m i t Vokabular und Grammatik einerseits und Belletristik andererseits beschäftigt hat. Der große Bereich der nichtbelletristischen Sprachverwendung blieb lange ausgespart und von den beiden anderen Bereichen her werden erst jetzt mühsam, aber zunehmend Anschlußstücke erarbeitet. a) Hoffnung wäre zu setzen auf die großen Innovationen, die i n den letzten Jahrzehnten das äußere Erscheinungsbild der Sprachwissenschaften gründlich verändert haben. Eine davon w i r d angedeutet m i t dem Stichwort „Kompetenz/Performanz". Aber auch hier ist für Argumentationen nicht viel zu erwarten, was sich anhand von Quasthoffs sprachwissenschaftlicher Analyse des Stereotyps „Soziales Vorurteil und Kommunikation" (1973) zeigen läßt. Sie leistet zwar eine recht plausible Typisierung von Stereotypen (S. 212 ff.), aber das Begriffspaar Kompetenz/Performanz ist i m Grunde dabei nur hinderlich (vgl. z.B. ebd. S. 222). Es finden sich natürlich i n juristischen Texten ausfüllende Beispiele der von i h r aufgezählten Typen. b) N u n einige Bemerkungen zu Konzepten i m Umkreis der Sprechakttheorie. Dabei ist zur Information als Darstellung ein Verweis auf die übersichtlichen Referate bei Braunroth u. a. (1975 S. 134 ff.) ausreichend, da hier nur zwei Aspekte interessieren können: Einerseits tendiert Sprechakttheorie zu Auflistungen von Typen sprachlichen Handelns. Immer wieder werden diskutiert die Analyse solcher Äußerungen wie „ H i e r m i t taufe ich Dich auf den Namen . . . " oder „Ich verspreche . . . " . Man braucht nun die dabei thematisierten Schwierigkeiten nicht zu kennen, u m einen Unterschied zu „Ich argumentiere . . . " zu sehen. I n allen Texten w i r d das Verständnis darüber vorausgesetzt, was „taufen" und was „versprechen" ist. Für Argumentieren gilt es das erst zu klären. Einen instruktiven Beleg für diese Schwierigkeit liefert Deimers Versuch einer sprachwissenschaftlichen Beschreibung „Argumentative Dialoge" (1975). Den Hauptteil verwendet er auf die Beschreibung von Dialogen (teilweise unter grotesker Verwendung von Zeichen, Neologismen und Editionsmarkierungen). Zum Begriff des Arguments sagt er

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I I I . Modelle argumentierender Sätze

anfangs nur, ein Argument sei ein geordnetes Paar, dessen eines Element Prämisse genannt werde und aus einer beliebigen Menge von Sätzen bestehe, und dessen anderes Element Konklusion genannt werde und aus einem Satz bestehe (S. 106). Er versucht nun durch vier Einschränkungen inhaltlich zu konkretisieren, aber diese Einschränkungen erhöhen nur die Flexibilität der Definition und eine von ihnen w i r d offen als Faustregel bezeichnet (S. 107). Der Leser würde sich wünschen, daß an dieser Stelle die logische oder Plausibilitätsbeziehung näher ins Auge gefaßt wird, aber das gerade kann eine so extrem auf das Äußerliche gerichtete Beschreibung nicht. I n die eben angedeutete Richtung geht Kummers Versuch i n „Aspects of a Theory of Argumentation" (1972). Die K r i t i k i n der anschließend abgedruckten Diskussion ist vielfältig, alber i n diesem Zusammenhang interessiert besonders eine Einzelheit. Kummer kann als Abgrenzungskriterien für Sprechakte nur die Satzgrenzen angeben (S. 51). Damit ist deutlich, daß man ebenso gut hätte von Sätzen sprechen können, m. a. W.: Die Aussagen zu den logischen Beziehungen sind vom sprachtheoretischen Hintergrund unabhängig. Übrigens fiel auch insofern die K r i t i k zu Recht durchgreifend aus (vgl. Grzyb's Diskussionsbeitrag ebd. S. 58). Die Beschreibung realer Gespräche hatte die Sprechakttheoretiker zu Analysen der Notwendigkeit von Konventionen veranlaßt. Diesen Ansatz hat Grice i n „Logic and Conversation" (1968) weiter geführt. Da dieses unveröffentlichte Manuskript* nicht allgemein erhältlich ist, verweise ich hier en bloc auf die zutreffende Darstellung und K r i t i k bei Braunroth u. a. (1975 S. 177 - 186). Grice konstatiert ein „kooperatives Prinzip", das w i r i n Konversationen vernünftigerweise befolgen. Die Gesprächsbeiträge sind auf das Verständnis des Partners h i n angelegt und eine Anzahl von Maximen lassen sich angeben, die man befolgt, wenn ein Dialogstück dem akzeptierten Zweck oder der akzeptierten Richtung des Rede wechseis entspricht: Mache deinen Beitrag so informativ wie erforderlich, sei relevant, vermeide Mehrdeutigkeit, sei kurz, usw. Die K r i t i k hat bemerkt, daß die hier angegebenen Maximen nicht auf jede A r t Kommunikation bezogen sind. Sie sind entwickelt für argumentierendes Reden als Vorspiel oder i n Begleitung von arbeitsteiliger Kooperation (Braunroth u. a. 1975, S. 181; vgl. Habermas i n Apel 1976 b, S. 183). Grice' Maximen könnten eine Propädeutik der Argumentation sein, wenn sicher wäre, daß diese dem Modell arbeitsteiliger gemeinsamer Leistung (und nicht ζ. B. dem des Streites) folgte. Ferner ist darauf hinzuweisen, daß solche Maximen eben bloße Maximen sind, also mehr oder * Das MS stand m i r i n einem v o m Z e n t r u m für interdisziplinäre Forschung (Universität Bielefeld) zuvorkommend überlassenen Reader für die Tagung „Theorie der Argumentation" (1975) zur Verfügung.

3. Der Beitrag der Sprachwissenschaft

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minder nützlich je nach Situation. Die Gesprächsteilnehmer können nach ihren eigenen Gewohnheiten unterschiedlich stark die Einhaltung von anderen erwarten. Deshalb haben die Maximen gerade jenen analytischen Wert, den die klassischen rhetorischen Redefiguren hatten. Auch die captatio benevolentiae ist i n einem bestimmten Situationstyp als Vorspiel zur Kooperation vernünftig. Die Maximen können also höchst vielfältig sein und i h r konkreter Inhalt ergibt sich aus unseren Formen des Zusammenlebens, deren Spiegelung i n Textstrukturen nicht überall so problemlos ist, wie bei gemeinsamer Arbeitsleistung. I n dieser Richtung w i r d man bestenfalls zu einer modernisierten Rhetorik gelangen. c) I m ferneren Umkreis der Sprechakttheorie steht auch Maas, der sich explizit für eine aufgabenorientierte Linguistik auch i n bezug auf j u r i stische Argumentationsstrukturen eingesetzt hat und sich gegen den esoterischen Strukturalismus gewendet hat (1971, S. 58). Zur Analyse von Argumentation hat er einen kurzen Abschnitt vorgelegt (Maas/ Wunderlich 1972, S. 258 ff.; inhaltsgleich m i t Bühler u. a. 1973, S. 158 ff.). Er gibt i m wesentlichen eine beschreibende Darstellung von Argumentation, die er als einen solchen Handlungszusammenhang definiert, indem widerstreitende Voraussetzungen bzw. Behauptungen ausgetragen werden (1972 S. 260). Voraussetzung für eine Argumentationssituation sei das Problematisieren von Sprechhandlungen, wobei er das i n Frage Gestellte „das Strittige" nennt. Beendet sei die Argumentation, wenn eine der beiden strittigen Behauptungen von einem Beteiligten aufgegeben w i r d (ebd. S. 260). Maas versucht eine Parallelisierung von Aussagen über Sprechhandlungen und Argumentation, die er als möglichen Anwendungsbereich jener Kategorie i n größeren Handlungszusammenhängen versteht. Sprechhandlung meint dabei ein Gesprächsstück, deren Bedeutung die soziale Situation ist, wie sie vom Sprecher m i t seiner Handlung eingeleitet u n d von seinem Partner daraufhin ausgeführt w i r d (S. 260). Die folgenden Parallelisierungen scheinen aber zu zeigen, daß es sich doch nicht um eine einfache Erweiterung handelt. Maas w i l l nämlich dem Mißverständnis als mißglückter Sprechhandlung den Abbruch der Argumentation gleichstellen. Gesprächsabbrüche sind aber überall denkbar und dem Mißverständnis wäre eher der Rückgriff auf unsinnige Argumente gleichzustellen. Das aber würde analytisch wieder einen Rückgriff auf eine Kategorie aus dem Umkreis von „Vernunft" m i t sich bringen, und damit eben über die beobachtbaren Verhaltensweisen, beim Schweigen oder beim Gebrauch der Worte innerhalb ihrer üblichen Wortsinne und üblicher Grammatik hinausgehen. Die Parallelisierung der Bedeutung von Logik für Argumentation und von Grammatik für übliches Sprechen

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I I I . Modelle argumentierender Sätze

als notwendige Bedingungen von Argumentieren und Sich-verständigen (ebd. S. 266) soll hier nicht untersucht werden. Was dazu zu sagen ist, ergibt sich implizit aus den später folgenden Ausführungen zur Logik. Der Wert des Textes von Maas liegt denn auch i n etwas anderem. Er liefert eine ganze Reihe von überzeugenden Beobachtungen, deren Deutung einen legitimen Platz i n einer Argumentationstheorie hat. Dafür ist das wichtigste Beispiel der Hinweis auf die Ähnlichkeit von Argumentationsvorgängen und Lernprozeß. Genauer gesagt: Wenn sich nicht restriktive Bedingungen dafür nennen lassen, was den Begründungsgehalt von Argumentationen i m K e r n ausmacht, dann kann man Argumentationen von Lernprozessen nicht unterscheiden. Maas diskutiert die Frage an folgender Situation: „ K i n d : Papa guck mal, da ist eine K u h ! — Vater: Das ist keine K u h , das ist ein Pferd. — K i n d : Da ist ein Pferd" (ebd. S. 258). Maas meint, hier liege ein Beispiel dafür vor, daß das K i n d die autoritäre Zurückweisung durch den Vater akzeptiert. Die damit angebotenen zwei Kriterien für die Andersartigkeit von Argumentationen weisen beide fließende Übergänge zu entsprechenden Elementen von Argumentationsvorgängen auf. Ob das K i n d akzeptiert hat, w i r d man etwas genauer nachprüfen müssen. Wirkliche Überzeugungsleistung ist nicht immer daran erkennbar, daß die gleichen Worte wiederholt werden. Ob die autoritäre Sprechweise des Vaters und seine Stellung als Ursache wirksam geworden sind, kann man nicht wissen. Möglicherweise kannte das K i n d das Wort für Pferde bereits u n d hatte sich nur jetzt einmal wieder vertan. Bei dem, was umgangssprachlich Argumentation genannt wird, bestehen Argumente auch häufig nur darin, daß Sachverhalte i n Erinnerung gebracht werden. Maas versucht den Schwierigkeiten m i t dem Begriffspaar „direktes — indirektes Lernen" gerecht zu werden, aber sein etwas vereinfachtes B i l d von Argumentation läßt hier, wie er selbst sieht (S. 262 f.), keine genauen Aussagen zu. Der Hinweis auf die Teilidentität und den Zusammenhang von Argumentieren und Lernen bedarf näherer Überlegung. Dazu bieten aber nun die geläufigsten Lerntheorien, die auf das Stimulus-Response-Modell zurückgehen, keine Hüfe. d) Auch die Fachsprache der Juristen ist als Ausgangspunkt für Überlegungen zur juristischen Argumentation zu prüfen. Z u m Phänomen Fachsprache liegen erst aus neuester Zeit übersichtliche Veröffentlichungen vor, so die Einführung m i t Bibliographie von Fluck (1976) und der sehr klärende Aufsatz von Eike von Savigny „Inwiefern ist die Umgangssprache grundlegend für die Fachsprachen?" (Petöfi u. a. 1975, S. 1 ff.). Danach ist festzustellen, daß Fachsprache meistens nur Fachvokabular bedeutet und dieses ein rein empirisch erforschbares Problem ist. Für

4. Syllogistik

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entsprechende Fragestellungen lassen sich vorab die Kategorien terminologisch klären, wie dies Eike von Savigny tut. Die interessanteste Aussage selbst, Fachsprache sei eine wichtige Kommunikationsbarriere, w i r d zur Zeit noch i n der Form einer plausiblen Alltagstheorie gemacht (vgl. Fluck 1976, S. 37 ff.). Dadurch bleibt die Grundfrage zu diesem Komplex ungeklärt, und zwar für die Jurisprudenz wie für andere Wissenschaften auch: Wie weit ist Fachvokabular nur Spiegel von Fachwissen u n d die beschriebene Barriere Wissens- und nicht Sprachproblem? (Vgl. ζ. B. Eike von Savigny a.a.O. S. 20 ff.). Instruktiv zeigt diese Schwierigkeit die Aufzählung von Fluck (a.a.O. S. 36) zum Wort „Benzin". Sie nennt eine Reihe von fachsprachlich abweichenden Worten für dieselbe Sache (Normal/Benzin) aber auch verschiedene Worte für verschiedene Sachen (Mineralöl/Benzin) und bei einigen fachsprachlichen Vokabeln kann der Laie mangels Wissen nicht entscheiden, ob es um das i h m bekannte Benzin geht (Benzinum petrolei/Benzin). Das Problem w i r d auch von Podlech (in: Petöfi 1975, S. 181) nur übergangen. I n der Rechtswissenschaft ist es sonst bekannt. Sind die i n den typischen „dogmatischen" Schlußketten und Argumentationen auftauchenden Worte ohne Sinnverlust rückübersetzbar i n Umgangssprache? Dann bezeichneten sie Gegenstände, die umgangssprachlich nur eben keinen Namen haben, aber keine Besonderheit der Argumentation bedingen können. Die Diskussion u m Fachsprache hat hier bisher keine Klarheiten gebracht. Fachsprachen können auch syntaktische Abweichungen zeigen, aber i m hier interessierenden Sektor zeigen sich solche nur i n der statistischen Häufigkeit von grammatischen Formen, nicht i n deren Bestand. Darauf ist an anderer Stelle zurückzukommen. 4. Syllogistik Unter Juristen ist die Meinung verbreitet, die klassische argumentierende Sprachform sei der Syllogismus. Dabei w i r d kein Unterschied gemacht zwischen dem sog. Justizsyllogismus und den nahestehenden Formen, von denen sich eine übersichtliche Aufzählung zum Beispiel i n der Einführung von Tammelo und Schreiner (1974, S. 110 ff.) findet. I m Standardlehrbuch, der Einführung i n Methodenlehre von Larenz, findet sich folgende Darstellung (1975, S. 256): Wenn man Tatbestand m i t T, Rechtsfolge m i t R und Sachverhalt mit S abkürzt, so gilt Τ S =

R Τ

S

R

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I I I . Modelle argumentierender Sätze

Larenz selbst schränkt die Bedeutung dieses Syllogismus ein durch einen Hinweis auf die Hauptschwierigkeiten, namentlich die Beschaffenheit der sprachlichen Ausdrucksmittel und die „unvermeidbare Diskrepanz zwischen der auf eine 'bestimmte Wirklichkeit h i n entworfenen Regelung u n d der Veränderlichkeit dieser Wirklichkeit, dem »fließenden 4 Charakter der meisten geregelten Sachverhalte" (ebd. S. 255). Hier ist kritisch darauf hinzuweisen, daß die Genannten keine spezifischen Schwierigkeiten des Syllogismus sind. Solche dahingegen nennt Rödig (1973, S. 164 f.). E r greift die zweite Zeile überzeugend an: Meint das Gleichheitszeichen i n der zweiten Zeile Identität, dann ist sie falsch, weil die Symmetrie nicht gegeben ist. Der Sachverhalt mag sich dem Tatbestand unterordnen, aber das Umgekehrte gilt nicht. Ein anderer Inhalt des Gleichheitszeichens ist nicht definiert. „Logisch" ist das Schema also nicht korrekt. Korrekturen zur zweiten Zeile helfen auch nicht (vgl. Rödig 1973, S. 165). Wie immer man den Syllogismus faßt, das Entscheidende w i r d i n i h m nicht logisch korrekt dargestellt: der Ubergang vom Allgemeinen zum Besonderen. Rödig nennt eine weitere Stelle, an der dieses Problem sich stellt: R ist die abstrakte Rechtsfolge; der Sachverhalt w i r d aber nicht m i t der abstrakten Rechtsfolge verbunden, sondern m i t einer konkreten. Man könnte dieses Problem nun innerhalb der Zeilen hin- und herschieben, indem man zum Beispiel das R i n der ersten Zeile als „die Rechtsfolge" ohne Unterscheidung von abstrakt und konkret interpretiert und die so entstandene Doppeldeutigkeit ausnützt. Ferner fügt es sich gut dazu, wenn man m i t einem geschickten Beispiel operiert, nämlich m i t der absoluten Strafe des § 211 StGB. Hier ist das Problem der Variationsbreite von Rechtsfolgen schwerer als sonst erkennbar. Rödig selbst versucht genauer zu sein, indem er „Annäherung" (a.a.O. S. 181) von Hassemer als Terminus übernimmt, und letztlich seine Hoffnung auf Kommentierungen setzt, die die Gesetze so fassen, daß nur noch Termini vorkommen „über deren Inhalt man sich vermutlich m i t relativ großer Sicherheit w i r d verständigen können" (S. 183). Aber die Annäherung von Tatbestand und Rechtsfolge i n Fallgruppenbildung (S. 176) vollzieht Rödig m i t solchem Aufwand an Formalisierung, daß die Ubersichtlichkeit wieder verloren geht. Schreibt man — m i t Rödig — der Logik lediglich instrumenteilen Charakter zu (S. 177), dann ist letztlich auf diese Weise nichts gegenüber der Larenzschen Fassung des Syllogismus zu gewinnen. Die „Annäherung" mag stattfinden, aber „zur Dekkung" lassen sich Tatbestand und Rechtsfolge nicht bringen. Fassen w i r also den klassischen Justizsyllogismus als Darstellungsschema ins Auge. Seine notorische Anziehungskraft beruht darauf, daß ein ziemlich großes Teilstück der ganzen praktischen Arbeit der Urteils-

4. Syllogistik

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findung i n einem Schema zusammengefaßt ist. I n vielen Fällen ist überhaupt nur ein Tatbestand einschlägig. Aber die entscheidenden Denkschritte, die Einzelargumente, betreffen meistens nicht gleich den ganzen Tatbestand. Das Schema taugt deshalb mehr für die Darstellung von unproblematischen Fällen, für die es eben der Kontrollwirkung eines solchen Schemas dann doch wieder nicht bedarf. Schon die einzelnen Auslegungskanones werden nicht abgebildet, und häufig tauchen die offenen Fragen erst bei deren Ausfüllung auf; zum Beispiel: Läßt sich aus einem anderen Paragraphen i n systematischer Auslegung ein Umkehr- oder ein Analogieschluß ziehen? Der Syllogismus ist ein brauchbares Sprachschema, aber die Deckung von Ober- und Untersatz ist weniger eine förderliche Darstellung für Tatbestand und Sachverhalt als für den Schluß von Normen auf Normen und von Fakten auf Fakten (und entsprechend für Werte und Folgen, etc.). Was hier für den Syllogismus gesagt wird, gilt zugleich für die geläufigen Schlußschemata der traditionellen Logik. Hier ein Hinweis auf zwei instruktive Arbeiten, i n denen deren Leistung exemplifiziert wird. Winter hat sich m i t „Tatsachenurteile i m Prozeß richterlicher Rechtsetzung" (Rechtstheorie 2, 1971) beschäftigt. Er führt aus, daß weder logische noch semantische Regeln zur Verfügung stehen, die die Rückführung eines Werturteiles unmittelbar auf ein Tatsachenurteil erlauben. Nur auf Grund von Maximen praktischen Argumentierens, die neben Werten auch Faktenurteile zur Voraussetzung haben, ist das möglich. Hauptsächliche Maximen sind: Die Wahrung der Geeignetheit von M i t teln für Zwecke und von Opportunität der Handlungsfolgen. Nach Winters Meinung wirken auf der soziologischen Ebene des Entscheidungsprozesses Tatsachenurteile aufklärend gegen personale und organisatorische Verfestigungen. Es sei eben eine politische Frage, ob man durch die vermehrte Einschaltung von Tatsachenurteilen i n die Rechtsfindung der Justiz gegen diese Eigenschaften angehen wolle. Ungewißheit und Komplexität sieht Winter nur bei der Ermittlung von weit i n der Zukunft liegenden Faktenkonstellationen (S. 81). I n diesem Zusammenhang interessieren uns nicht die Maximen, sondern daß Winter offenbar nach dem Gedankengang und i n Formulierungen als selbstverständlich voraussetzt, i n der Gegenwart seien Fakten sicher und ständen i n sicheren Beziehungen zueinander. I n dieser unterstellten Gewißheit (die man natürlich m i t einem terminologischen Trick schon als vorausgesetzte Eigenschaft von Tatsachenurteilen definieren kann) liegt der eigentliche Grund für die Schlüssigkeit der zugeschriebenen Folgen. Gewißheit des Gegenteils kann Vorurteile zurückdrängen und so Verfestigungen abbauen. Wenn die Fakten wirklich i n so klaren, „logischen" Beziehungen zueinander stehen, dann wirken sie aufklärend.

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I I I . Modelle argumentierender Sätze

A n dieser Stelle kann exkursorisch die Gelegenheit benutzt werden, einige Topoi der Diskussion über juristische Argumentation zu prüfen, die üblicherweise i m Zusammenhang m i t dem logischen Syllogismus und der daraus folgenden Trennung von Sein und Sollen geäußert werden. Eike von Savigny hat sie neuestens so kurz zusammengefaßt, daß er seine Darstellung ausdrücklich Schlagworte nennt. „Wertungen sind notorisch weniger intersubjektiv als empirische Feststellungen; der Versuch, sich über sie zu einigen, sieht häufiger hoffnungslos aus als der Versuch, sich über die Wahrheit von Beobachtungsberichten oder die Wahrheit von empirischen Verallgemeinerungen niedriger Stufe zu einigen. Des weiteren sind diejenigen Haltungen, welche Wertungen zugrundeliegen, leichter beeinflußbar als diejenigen Dispositionen unseres Wahrnehmungsapparates, welche unseren Beobachtungen zugrundeliegen; deshalb verwischt sich i n Diskussionen über Wertungen leichter die Grenze zwischen Uberzeugen und Überreden. Damit hängt zusammen, daß ein u n d dieselbe Person i n bezug auf ihre Wertungen zeitlich keine Konstanz auf zuweisen braucht; was sie heute für gut hält, kann sie i n drei Jahren für schlecht halten. . . . Schließlich kann als letztes darauf hingewiesen werden, daß jedenfalls für die Zwecke einer dogmatischen Diskussion Billigkeitserwägungen i n vielen Fällen kein hinreichend scharfes K r i t e r i u m hergeben; es kann sein, daß nur eine von zwei dogmatischen Lösungen zulässig ist — zum Beispiel, weil darauf zwei verschiedene Strafrahmen folgen —, daß aber beide Lösungen für Billigkeitserwägungen gleich akzeptabel scheinen" (1976, S. 142). Wie bei Winter scheint es auch hier, als seien Tatsachenurteile belegkräftiger als Werturteile. Eine andere Darstellung desselben Stereotyps lautet: I n den Naturwissenschaften richten sich die Gegenstände nach Logik und Mathematik, und deshalb sind ihre Erkenntnisse sicherer. Was hat es damit auf sich? Dazu ein einfacher Test: Vertauschen w i r i m Geiste i n dem Zitat die Worte Wertungen und Beobachtungen (oder jeweils ihre Synonyma). Dann erhält man ζ. B.: „Der Versuch, sich über das Zutreffen von Fakten zu einigen, sieht häufiger hoffnungslos aus als der Versuch, sich über . . . Wertungsverallgemeinerungen niedriger Stufe zu einigen." Der rhetorische Charakter dürfte hinreichend deutlich sein. Die unauffällig piazierte Kautele „niedrige Stufe" ist es, die die Aussage plausibel macht. Es kommt alles auf den Gradmesser der Wertungs- und Beobachtungsschwierigkeit an, und die sind nicht kommensurabel. Das Anspruchsniveau ist keine Vorgegebenheit, sondern es muß normiert werden. Wie solche Normierung gerechtfertigt werden kann, ist i n Natur- und Geisteswissenschaften gleichermaßen problematisch. Für die Jurisprudenz liefert das Prozeßrecht Teillösungen: Der Richter darf keiner Wertungsfrage wegen deren Schwierigkeiten ausweichen, aber für Fakten gelten § 287 ZPO und der Satz „ I n dubio pro reo".

5. Toulmins Schema

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Was hier für Fakten- und Wertungsevidenzen ausgesagt worden ist, gilt genauso für die Sicherheit von syllogistischen Deduktionen zwischen Wertungen und zwischen Fakten. Daß die Beziehungen bei den einen „sicherer" feststellbar seien, ist nicht einmal eine Alltagstheorie, sondern eine unsinnige Redeweise. Das gleiche Anordnungsschema besagt nichts über die Vergleichbarkeit der Inhalte, aber weiterhin auch nichts über die Vergleichbarkeit der Stringenz der Schlußketten. — Die Beziehungen zwischen Elementen der Wertungsebene hat Eike von Savigny i n seiner Dissertation „Die Uberprüfbarkeit von Strafrechtssätzen" (1967) thematisiert. Er hat zwei Behauptungen belegt: Das Rechtsgefühl (Wertevidenz, ethische Evidenz, ethische Intuition) teilt alle Eigenschaften der Beobachtungsevidenz, welche für die Rolle der Beobachtungsevidenz i n den empirischen Wissenschaften wesentlich sind (S. 7). Und: Das Rechtsgefühl hat i n Diskussionen straf rechtswissenschaftlicher Sätze durch den Bundesgerichtshof die gleiche Rolle, die Beobachtungsevidenz bei der Überprüfung naturwissenschaftlicher Hypothesen spielt (ebd.). Überprüfbarkeit w i r d hier verstanden als Rückführbarkeit auf eine akzeptierte Diskussionsbasis i n den geläufigen Formen. Dabei sind die Naturwissenschaften insofern ein glücklicher Sonderfall, als Beobachtungsevidenz eine nahezu sichere Chance hat, akzeptiert zu werden. „Einigung auf Argumente durch unwillkürliche Zustimmung ist das, was die empirischen Wissenschaften der Beobachtungsevidenz verdanken" (S. 10). Einzelne Wertungssätze basieren nun i n genau derselben A r t und Weise auf dem Akzeptieren von Basiswerturteilen und haben dann als Argument i n dem gleichen Sinn einen Ergebniswert für die wissenschaftliche Diskussion, wie man i h n gemeinhin der Beobachtungsevidenz zuschreibt. Das sollte eigentlich nicht überraschend sein, da Eike von Savigny den Sachverhalt empirisch an einer großen Reihe von U r teilen belegt, wie sie jedem Juristen bekannt sein müßten. Das Aufzeigen der Argumentationsstruktur i n bezug auf Werturteile sagt aber natürlich noch nichts darüber, ob eine Begründung richtig ist. 5. Toulmins Schema Noch vor seiner längst fälligen Ubersetzung ins Deutsche war Toulmins „The Uses of Argument" (1958) weit vor Perelmans Traktat das am meisten geschätzte Standardwerk auf dem hier interessierenden Feld. Die Formalisierung, die sich erfolgreich durchgesetzt hat, ist mehrfach aufgegriffen worden, so von Habermas (1973, S. 242) i n der allgemeinen theoretischen Diskussion und von Rottleuthner (1973, S. 187 ff.) i n der juristischen. Wunderlich hat es i n seinen „Grundlagen der Linguistik" ohne Substanzverlust übersichtlicher als i m Original dargestellt (1974, S. 70 f.), wobei er übrigens i n diesem Zusammenhang einen sehr guten 4 Struck

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I I I . Modelle argumentierender Sätze

Test für die Adäquanz von Argumentationsschematisierungen anwendet: Er entwirft eine fiktive Gesprächssituation, i n der das Gespräch i n weder unsinniger noch trivialer Weise ungefähr der Argumentationsform des „Toulmin-Schemas" folgt (S. 72). Danach folgt aus Daten (data) eine Konklusion (bei Toulmin aber auch Inhalt der Behauptungsäußerung: claim) kraft einer Rechtfertigung (warrant) die wiederum aufgrund einer Stützung (backing) erfolgt; vor der Konklusion sind häufig ein Qualifikator (qualifier) einzubauen, der z. B. einen Unsicherheitsfaktor oder einen Wahrscheinlichkeitsgrad angeben kann, sowie die Ausnahmebedingungen (rebuttal). Eine kurze Verbalisierung: Wer ein Extremist ist (Datum) muß nach A r t . 33 Abs. 5 GG (Rechtfertigung), wie er auch ganz allgemein ausgelegt w i r d (Stützung) unbedingt (Qualifikator) aus dem öffentlichen Dienst entfernt werden (Konklusion), außer wenn er i n einem Vorbereitungsdienst steht, der nicht notwendig zu einem an den öffentlichen Dienst gebundenen Beruf führt (Ausnahme). Oder: Wer ein radikal Denkender ist, darf nach A r t . 33 Abs. 3 Satz 2 GG (Rechtfertigung), der hier als einschlägigste Norm anwendbar ist (Stützung) niemals deswegen (Qualifikator) aus dem öffentlichen Dienst entfernt werden (Konklusion), außer wenn sein Denken i n sich so widersprüchlich und so wenig von der i h n umgebenden Lebenswelt verarbeitend ist, daß es nicht Weltanschauung genannt werden kann (Ausnahme). Es bleibt bei einem ganz einfachen Wenn-DannSchema, das aber durch den ausdrücklichen Hinweis auf eine mögliche inhaltliche Qualifikation der Konklusion sowie durch die Einfügung von Randbedingungen, wie man i n den Naturwissenschaften sagen würde, als Ausnahme und durch Kombination zweier Wenn-Dann-Schritte der Komplexität normalen Sprechens angenähert ist. Gerade das Letztere sollte deutlich hervorgehoben werden (so auch Wunderlich S. 74). Z w i schen Stützung u n d Rechtfertigung besteht dasselbe Verhältnis wie zwischen Konklusion und Datum. Die Angemessenheit des Schemas ergibt sich daraus, daß die Rechtfertigungen selbst häufig wiederum Gegenstand von Randargumenten werden. Solche einzelnen Wenn-DannBeziehungen können allerdings wiederum enthymematischen Charakter haben. Toulmin selbst sieht (S. 95), daß das Schema durch Kombination von noch mehr rechtfertigenden und anderen Elementen komplexer gestaltet werden kann. Die oben angegebenen Verbalisierungen zeigen, daß m i t einem weiteren Ausbau i n vielen Fällen nicht mehr die übliche argumentierende Sprechweise getroffen werden könnte. A u f die Würdigung des Schemas als solchem w i r d zurückzukommen sein. I n diesem Zusammenhang muß nur darauf hingewiesen werden, daß sich gewisse Hoffnungen nicht teilen lassen, die Toulmin offenbar i n theoretischer Hinsicht m i t seinem Schema verbindet. Vor allem kann

6. Polyas „Plausibles Schließen" u m Ottes „Komparative Sätze"

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es dem Syllogismus nicht so kontrastiert werden, wie dies auch Wunderlich (a.a.O. S. 74) t u t : I m syllogistischen Schema würden zeitlose logische Entitäten verwendet, i m Toulminschen Schema dagegen inhaltliche Äußerungen, die zeitlich beschrieben werden müssen. Faßt man das Toulminsche Schema als „reines" Schema auf, dann haben seine Elemente genau den gleichen ontologischen Status wie die Elemente des Syllogismus. Richtigerweise kann man den Syllogismus nur insofern vergleichen, als auch er fallweise als formalisierende Darstellung realer, zeitlich^sachlich inhaltlicher Äußerungen interpretiert werden kann. Toulmins Wendung gegen eine voreilige Gleichsetzung von Logik und Argumentationstheorie (1975, S. 132 f. u. ö.) ist — besonders bezogen auf die Entstehungszeit des Buches — sicherlich verdienstvoll. Umgekehrt werden w i r aber seinen Begriff einer „logic which lifelike and applicable" (Paperback-Ausgabe Cambridge 1969, S. 185) besser nicht übernehmen. Toulmin selbst versucht eine Hilfe dafür zu geben, wann eine Argumentation als bloße Umformulierung von etwas anzusehen ist, was schon implizit i m Datum und i n der Stützung angegeben wurde und wann nicht. Argumentation des ersteren Types nennt er analytisch, des zweiten substanziell (Toulmin, dt. Ü. 1975, S. 112,113). Die erstere Eigenschaft läßt sich leicht dem Syllogismus i m üblichen formalen Verständnis zuschreiben, was Wunderlich präziser definiert: „Formal heißt dabei, daß lediglich die i n den Prämissen auftretenden Terme i n geeigneter Weise umsortiert werden" (Wunderlich 1974, S. 73). I n Toulmins Wortwahl kommt aber anders als i n seinen Behauptungen zum Ausdruck, wie schwierig es sein kann, logische Implikationen i n terminologisch festgefügten Themen von der A r t von Implikation zu trennen, i n der schlagende Argumente ihre Folgerungen tragen: Von einem gewählten Beispiel sagt er, es könne leicht aus der analytischen i n die substanzielle Klasse rutschen (Toulmin 1975, S. 113, engl.: slip out). A n anderer Stelle verwendet er die Redeweise „ipso facto": „ W i r bezeichnen deshalb eine Argumentation als analytisch genau dann, wenn . . . eine Überprüfung der Stützung für die Schlußregel ipso facto die Uberprüfung der Wahrheit oder Falschheit der Schlußfolgerung beinhaltet" (ebd. S. 119). So bleiben die Ausführungen an dieser entscheidend scheinenden Stelle etwas unbefriedigend, wenn man sie als eine Theorie der Rationalität auffassen w i l l . Ferner wäre noch zu bedenken, daß die etwas leichthin eingebauten Qualifikationen und Ausnahmen miteinander wie mit allen übrigen Elementen, namentlich der Stützung, i n komplizierten Wechselspielen stehen können. 6. Polyas „Plausibles Schließen" und Ottes „Komparative Sätze" I m Gegensatz zu denjenigen Toulmins haben die Schlußschemata des Mathematikers Polya i n „Mathematik und Plausibles Schließen" (1963) 4·

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I I I . Modelle argumentierender Sätze

nicht die verdiente Verbreitimg u n d Diskussion erfahren. Deswegen ist hier ein etwas breiteres Referat angebracht. Polyas Denken n i m m t seinen Ausgangspunkt bei den klassischen Schlußschemata, die er demonstrative nennt: Aus A folgt Β ; Β falsch; also: A falsch (S. 15, S. 35). Dem stellt er gegenüber das induktive Grundschema oder heuristische Schema: Aus A folgt Β ; Β wahr; also: A glaubwürdiger. Er versteht die darauf aufbauenden Aussagenkomplexe als eine Ergänzung zur klassischen Logik, die eben i n i h r keinen Platz hat. Er entwirft eine ganze M a t r i x von Schemata. Die Spalten benennt er m i t den leider nicht sehr instruktiven Worten: demonstrativ, nuanciert demonstrativ, nuanciert induktiv, induktiv. I n der ersten Zeile beschäftigt er sich m i t der Untersuchung einer Konsequenz, ausgehend von der Prämisse Aus A folgt B ; wenn nun Β falsch, dann A falsch; wenn Β weniger glaubwürdig, dann A weniger glaubwürdig; wenn Β glaubwürdiger, dann A etwas glaubwürdiger; wenn Β wahr, dann A glaubwürdiger. Als zweites folgt die Untersuchung eines möglichen Beweisgrundes, ausgehend von A folgt aus B ; wenn Β wahr, dann A wahr; wenn Β glaubwürdiger, dann A glaubwürdiger; wenn Β weniger glaubwürdig, dann A etwas weniger glaubwürdig; wenn Β f alsch, dann A weniger glaubwürdig. Für die Untersuchung einer widersprechenden Vermutung diskutiert Polya die Prämisse A unverträglich m i t B ; wenn Β wahr, dann A falsch; wenn Β glaubwürdiger, dann A weniger glaubwürdig; wenn Β weniger glaubwürdig, dann A etwas glaubwürdiger; wenn Β falsch, dann A glaubwürdiger (S. 45). Diese Schemata lassen sich natürlich kombinieren. Eine wesentliche Erweiterung bringt aber die Einführung der Verknüpfung „analog". Hierbei spricht Polya die Problematik der Analogie an (vgl. nur ζ. B. Krings u. a. 1975, Stichwort Analogie, 2.3.). Polyas Schlüsse meinen Analogie i m umgangssprachlichen Sinne. Deshalb aus: A analog zu Β ; Β wahr! folgt: A glaubwürdiger (S. 48). Man sieht sofort, daß hier ähnliche Schematakomplexe folgen, wie das oben Dargestellte.

6. Polyas „Plausibles Schließen" u m Ottes „Komparative Sätze"

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I n gleicher Weise anreihend beschäftigt sich Polya m i t dem, was er „Folgerung mit Zusatzbedingung" nennt (S. 48). Gibt es zu der Prämisse „Aus A folgt B " die Zusatzbedingung „ B ohne A kaum glaubwürdig" und ist jetzt Β wahr, so folgt daß A sehr viel glaubwürdiger. Gibt es zu der Prämisse „Aus A folgt B " dahingegen die Zusatzbedingung „B sowieso fast gewiß" und ist nun Β wahr, so folgt, daß A u m ein geringes glaubwürdiger w i r d (S. 50). Eine weitere neue Idee liegt i n der Beschäftigung m i t der sog. Konkurrenzvermutung. Diesen Terminus prägt Polya für Vermutungen A und B, welche beide die Erklärung ein und derselben Erscheinung zum Ziel haben, und die entgegengesetzt, wenngleich nicht notwendig logisch unverträglich sind. Jede macht bloß die andere überflüssig (S. 52). Ist A Konkurrent von B, und Β falsch, so ist A ein wenig glaubwürdiger; ist bei gleichem Ausgangspunkt Β weniger glaubwürdig, so ist A u m ein geringes glaubwürdiger. Gerade aus der Analyse eines Kriminalfalles gewinnt Polya ein weiteres Schema, bei dem jetzt klarer als zuvor wird, daß die eigentlichen Schwierigkeiten i n der Wortbedeutung der relationierenden Vokabeln liegen. Bei der Beschäftigung m i t einem Indizienbeweis w i r d i n der Tat häufig ein Schluß von jener A r t auftauchen: Prämissen sind „ B m i t A durchaus glaubwürdig" und zugleich „ B ohne A kaum glaubwürdig"; wenn nun Β wahr, dann folgt daß A glaubwürdiger ist. Polya sieht nun, daß dieses Schema aus einem der vorangegangenen dadurch zu gewinnen war, daß die Prämisse „aus A folgt B " durch die abgeschwächte Prämisse „ B m i t A durchaus glaubwürdig" ersetzt werden konnte (S. 55 f.). Der entscheidende Punkt muß etwas deutlicher herausgestellt werden, als das bei Polya selbst geschieht, wobei aber das von i h m zuletzt benutzte Beispiel sehr instruktiv ist. Polya entwirft einen neuen Schematakomplex, für den er den Begriff „äquivalent" benützt. A und Β sind danach äquivalent, wenn nur zwei Fälle möglich sind: entweder sind beide Aussagen wahr oder es sind beide falsch (S. 68). Er untersucht nun bekannte Schemata unter dem Gesichtspunkt der Stetigkeit i m mathematischen Sinn, die man hier kurz als die Eigenschaft einer Variablen beschreiben kann, i n einem interessierenden Intervall jeden beliebigen Wert anzunehmen. Betrachtet man nun die logische Beziehung „aus A folgt B " zusammen m i t der Glaubwürdigkeit von Β ohne A, und unterstellt, diese Glaubwürdigkeit nähme monoton ab (B ohne A w i r d weniger und weniger glaubwürdig), so ergibt sich i m Grenzfall, daß Β ohne A unmöglich w i r d und es folgt aus der Wahrheit von Β die von A. Damit hat sich nun aber aus dem induktiven Grundschema oder Schema heuristischen Schließens ein demonstratives Schema ergeben.

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I I I . Modelle argumentierender Sätze

Das ist i n sich richtig. Schreiben w i r also den hier verwendeten Zeichen und ihren Beziehungen Eigenschaften zu, die i n der Mathematik definiert sind (hier also Stetigkeit), dann lassen sich heuristische und demonstrative Schemata gewissermaßen als Teilbereiche eines einzigen Aussagekomplexes erfassen. Betrachten w i r aber die Zeichen als Stellvertreter natürlicher Worte, so zeigt sich, daß die Eigenschaften der Sprache andere sind: Sprache ist nicht stetig. W i r können formulieren: „glaubwürdig, weniger glaubwürdig, sehr viel weniger glaubwürdig, um ein geringes glaubwürdiger usw.". Wenn das Ergebnis nicht bloß ein Zeichensystem sein soll, i n dem natürliche Worte an Stelle von Buchstaben als Zeichen fungieren, dann sieht man sprachliche Grenzen. Zwischen „sicher" und „sicher nicht" w i r d man kaum mehr als 6 - 8 sinnvolle Z w i schenangaben machen können. Das Durchspielen jener Schemata als mathematischer Funktionen ist ein brauchbares heuristisches Verfahren zur Gewinnung neuer Schemata und zur Arrondierung des vorhandenen Repertoires. Für uns stehen aber die Fragen der Semantik i m Vordergrund, nämlich ob w i r m i t verfügbaren Zeichen i n ihren Kombinationen sinnvolle Bedeutungen, Wortinhalte also, verknüpfen können. Die Frage ist, wann w i r es m i t Beziehungen zu t u n haben, die hinreichend der Äquivalenzdefinition Polyas genügen. Oder: Können w i r (z. B. durch Umschreibung i n Prozentziffern) ein Spektrum von Wahrscheinlichkeiten angeben, das eine ähnliche Werte-Dichte aufweist wie eine stetige Funktion? Es ist aber für die allermeisten Fälle, i n denen w i r umgangssprachlich von „wahrscheinlich" sprechen können, eine Angabe von Prozentziffern der Wahrscheinlichkeit nicht sinnvoll. Oft geht es u m einmalige zukünftige Ereignisse. W i r können also keine volle Kongruenz von stetiger, zeichenverknüpfender Funktion mit der Variationsfähigkeit sprachlicher Ausdrucksmöglichkeiten erreichen. Ebenso bleiben alle Aussagen über Glaubwürdigkeit m i t der Frage belastet, was der einzelne Hörer m i t dem Wort „glaubwürdig" an Bedeutung verbindet. Es handelt sich also, wie schon bei Toulmin, u m Darstellungsschemata. So gesehen ist Polya allerdings der verdienstvollste Autor auf dem Felde. Es bedarf gar nicht seiner eigenen (auch wieder sehr instruktiven) Beispiele, um die enorme praktische Relevanz der von i h m schematisierten Schlüsse darzutun. Sie haben sich nämlich gerade auf dem Gebiet der Semantik als sehr geschickt erwiesen. Das Repertoire von z. B. analog, äquivalent, weniger glaubwürdig, usw. findet bei fast jeder Gerichtsentscheidung Anwendung. Hier geht es ja entgegen häufigen Formulierungen nicht um Wahrheiten. Völlig zu Recht hat z. B. das Oberlandesgericht K ö l n folgenden Leitsatz formuliert: „Der immer mögliche und auch meist vorhandene Zweifel darf nicht ausschlaggebend sein; es muß genügen, wenn die richterliche Uberzeugung zu einem für die Erfordernisse des praktischen Lebens ausreichenden Grad von G e w i ß h e i t . . . gelangt" (OLG

6. Polyas „Plausibles Schließen" u m Ottes „Komparative Sätze"

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K ö l n NJW 68, 202). Es braucht nur einen hunch, u m ein „sehr, sehr glaubwürdig" i n einem der Schemata umzuschreiben i n ein „ f ü r die Erfordernisse des praktischen Lebens ausreichenden Grads von Gewißheit". Ähnlich i n der Formalstruktur, aber von geringerer Vielfalt sind die Schemata, die Otte i n seinem Beitrag „Komparative Sätze i m Recht" (JbRsozRth II) darstellt. Die vergleichenden Sätze betreffen (I) die Beziehung zwischen den Intensitäten zweier Prädikate (je mehr, desto mehr), (II) die Beziehung zwischen der Intensität eines Prädikats und dem Grad der Wahrscheinlichkeit eines anderen Prädikats (je mehr, desto eher; wenn mehr, dann; wenn mehr, desto mehr; je eher, desto eher; wenn eher, dann;), (III) Beziehung zwischen dem Zutreffen eines Prädikats und der Intensität eines anderen Prädikats (wenn, dann mehr) und (IV) Beziehung zwischen dem Zutreffen eines Prädikats und dem Grad der Wahrscheinlichkeit eines anderen Prädikats (wenn, dann eher). Solche Beziehungsdarstellungen sind i n der üblichen juristischen Dogmatik sehr geläufig. Otte stellt zutreffend fest (S. 311), daß mit solchen Sätzen nur Aussagen gewissermaßen über die Richtung, nicht aber über Anfangspunkt oder Endpunkt der Bewegung gegeben sind. Eine vergleichende Aussage liefert dann Informationen, wenn z. B. durch ein Präjudiz (S. 312) oder durch das Gesetz ein Festpunkt gesetzt ist. Ferner kann man (S. 315) die Zuteilung der Argumentationslast und (im Prozeß) der Beweislast m i t vergleichenden Sätzen begründen; das aber nur unter Rekurs auf die Notwendigkeit einer anderweit gewonnenen Begründung dieser Zuteilung. Es kann an dieser Stelle offen bleiben, ob Otte alle Schwierigkeiten der logischen Erfassung von Komparativen gesehen hat (vgl. Morscher 1971). Mißverständlich ist aber, daß Otte die von i h m angegebenen Schemata als Grundform von Gesetzen i m wissenschaftstheoretischen Sinne auffaßt (S. 303). Auch i m weiteren Text formuliert Otte so, als ob diese Gesetze Geltung hätten und nur angewendet werden müßten. Deshalb sei hervorgehoben, daß die entscheidende Frage primär lautet: G i l t die komparative Relation i n dem zur Entscheidung anstehenden Fall? Das läßt sich an einem Beispiel Ottes demonstrieren: „§ 44 I StGB (Das versuchte Verbrechen oder Vergehen kann milder bestraft werden als das vollendete) entspricht, wenn man zunächst einmal vereinfachend die Nichtvollendung als einziges Strafzumessungskriterium betrachtet, m. a. W. ,kann' durch ,muß' ersetzt, der Form I I I : ,Wenn ein Verbrechen oder Vergehen nur versucht worden ist, ist die Strafe geringer, als wenn es vollendet wäre'" (S. 305). Hier ist es eine materielle Frage, ob die Norm so zu verstehen ist, wie Otte das tut. Man könnte, meinen, daß der Komparativ i n diesem Falle nicht eine Anweisung zur Verringerung der

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I I I . Modelle argumentierender Sätze

Strafe konkret meint, sondern nur eine niedrigere feste Untergrenze der abstrakten Strafrahmen angibt. I n ersterem Fall gebe es nicht die Möglichkeit, einen Versuch (ζ. B. bei ganz zufälliger Verhinderung des Erfolgs) und das vollendete Delikt gleichzubehandeln, was bei der zweiten Interpretation nicht ausgeschlossen ist. Was sprachlich ein Komparat i v ist, muß nicht eine sachliche Steigerung sondern kann auch ein aliud bedeuten. 7. Lorenzens „Methodisches Denken" und verwandte Ansätze a) Bei der Aneinanderreihung von Modellen bietet sich der Ubergang zu Lorenzen zuerst i n „Methodisches Denken" (abgedruckt i n Lorenzen 1974 b) entwickelten Schema an. Bekannter ist es w o h l geworden durch die Übernahme i n dem von Lorenzen bearbeiteten Teil der „Logischen Propädeutik" (Kamlah/Lorenzen 1967, S. 196 ff.). Inhaltlich scheint eine Weiterentwicklung nicht stattgefunden zu haben, auch nicht i n der neuesten Veröffentlichung von Gerhardus u. a. „Schlüssiges Argumentieren" (1975), die durch Kuno Lorenz' Habilitationsschrift „Elemente der Sprachkritik — eine Alternative zum Dogmatismus und Skeptizismus i n der analytischen Philosophie" (1970, S. 147 ff.) der Schulentradition vermittelt ist. Soweit i n diesem Gedankenkreis m i t dem Schema weitergehender Hoffnungen als diejenige auf eine darstellende Disposition verbunden sind, w i r d auf die K r i t i k zurückzukommen sein. Als Darstellungsschema wurde es öfters übernommen (z. B. Rottleuthner 1973, S. 187 ff. und Winter 1971), aber die prinzipiellere Übernahme von Philipps hat sofort folgend deutlichen Widerspruch gefunden bei Eike von Savigny (beide i n JbRsozRth Π). Lorenzen beschreibt den Dialog zwischen zwei Partnern, die er Proponent und Opponent nennt (Kamlah/Lorenzen 1967, S. 199 ff.) i n zwei Spalten, und die einzelnen Gesprächseinheiten darunter i n Zeilen, so daß der Dialog v o l l und neben dem Zeitverlauf entsprechend abgebildet ist. Der Proponent stellt eine Behauptung aiuf, der Opponent bezweifelt sie. Nun ist wichtig, daß bei Lorenzen selbst entweder unvermittelt prädikatenlogische Zeichenkomplexe als Propositionen auftreten (S. 199) oder Sätze von der bekannten A r t „alle Raben sind Raben" (Lorenzen 1974 b, S. 38). Auch für die komplizierteren prädikatenlogischen Aussagen läßt sich nun eine Gewinnstrategie angeben, d. h. daß i n einem nicht endlosen Algorithmus sämtliche Einzelaussagen i n der Weise überprüft werden können, daß zusammen gesehen die Gesamtaussage als wahr oder falsch erwiesen ist. Es mag auch (ζ. B. bei Sachverhaltsfragen) Fälle geben, i n denen es nützlich ist, die Einzelaussagen rein optisch auseinanderzuhalten und die Gesamtaussage so fortschreitend zu analysieren. Bemerkenswerterweise stößt Lorenzen hierbei auf einen Punkt, der selten explizit

7. Lorenzens „Methodisches Denken" u n d verwandte Ansätze

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wird: U m die mögliche Endlosigkeit von Zweifeln zu vermeiden, muß er die Regel einführen, daß nicht zweimal dasselbe beweifelt werden kann. Es gibt ein allgemeines Wiederholungsverbot (Kamlah/Lorenzen 1967, S. 202). Zudem w i r d die Ordnung der Schritte dadurch gewahrt, daß sich Proposition und Zweifel aufeinander beziehen müssen. Jene A r t von Dialogschematisierung kann sicherlich fallweise nützlich und klärend sein. Eine gewisse A t t r a k t i v i t ä t hätte dieses Schema durch die naheliegende Idee, Proponent m i t Kläger und Opponent m i t Beklagtem i m Zivilprozeß gleichzusetzen. Doch sieht man sofort die Grenze: Der Prozeß ist mindestens ein Dreiecksverhältnis. Die Richterposition ist i m Schema nur zu integrieren, wenn dem Richter eine von beiden Rollen zugeschrieben wird. Ein zweiter wesentlicher K r i t i k p u n k t ist der Mangel an Differenzierung beim Bezweifeln, was damit zusammenhängt, daß hier nur Grundmuster der Prädikatenlogik i n eine andere optische Darstellungsform gebracht werden. Argumentieren w i r d nur dann zutreffend erfaßt, wenn man die Möglichkeit von Gegengründen, Teilentkräftungen, Gegenkonzepten, etc. einplant. Diese beiden Gegenerwägungen sind natürlich fallweise irrelevant, aber sie schränken doch die Verwendbarkeit des Schemas von Lorenzen ganz wesentlich ein. b) Als Ergänzung dazu kann man die Darstellungen und den Vorschlag eines Schemas von Naess in: „Argumentation und Kommunikation" (1975, S. 134 f., 142 f.) heranziehen. Er unterscheidet erstens Proet-contra-Übersichten und zweitens Pro-aut-contra-Übersichten. Die einen nennen alle i n bestimmten Diskussionen jeweils bekannten Argumente, die zweiten nur diejenigen einer bestimmten Person oder Gruppe, und zwar jeweils sowohl pro als auch contra. Der Unterschied liegt darin, daß i n ersterem Falle die Argumente gleicher Tendenz untereinander widersprüchlich sein können, während i m zweiten Falle zu verlangen ist, daß eine Person oder eine Gruppe i n sich konsistent argumentiert; daher kann beim zweiten am Ende eine Schlußfolgerung stehen. Instruktiv ist weiterhin, wie Naess die Tatsache realisiert, daß jedes Argument wiederum Ausgangspunkt neuer darauf bezogener Gegenargumente sein kann und so ganze Stammbäume von Argumentationssituationen entstehen können. Es besteht also ein Unterschied, ob man eine Liste derjenigen Argumente aufmacht, die für eine bestimmte Sache und gegen sie zu sprechen scheinen, oder ob man um eine Entkräftung der Widerlegung eines Kontraarguments streitet. Findet man sich i n einer Diskussion m i t vielen und weit durchdiskutierten Argumenten, so empfiehlt sich tatsächlich, die Übersicht optisch herzustellen, wozu Naess einen Vorschlag macht (S. 142 f.). War die Schreibweise von Kamiah/ Lorenzen nur für minimale Argumentationsschritte brauchbar, so ist die-

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I I I . Modelle argumentierender Sätze

jenige von Naess sicherlich nur angebracht bei Diskussionen vom Ausarbeitungsgrad etwa derjenigen um die Todesstrafe oder derjenigen um das Abtreibungsverbot. c) Wo i n der juristischen Literatur überhaupt das Erfordernis der vollständigen Auflistung und Gegenüberstellung von Argumenten gesehen wird, da w i r d gewöhnlich dem Problem der Konsistenz nicht mehr hinreichende Aufmerksamkeit geschenkt. Prototypisch für diesen Sachverhalt ist immer noch die Verfahrensweise betreffend die vier sog. savignyschen Kanones, für deren „organische" oder sonstwie geartete nachträgliche Harmonisierung Regeln zur Verfügung stehen, die nicht einmal den Explikationsgrad der Kanones selbst aufweisen. Ein i m Positiven wie i m Negativen instruktives Beispiel ist Hattenhauers „ K r i t i k des Zivilurteils", i n dem ein Fragebogen zur Urteilskritik entworfen w i r d (1970, S. 147). Hier sind die Kanones einschließlich der verfassungskonformen Auslegung, Argumente wirtschaftlicher und sozialpolitischer A r t , aus Philosophie und Theologie, Billigkeitsargumente sowie die Diskussion der sozialen Auswirkungen und vieles andere mehr hintereinander aufgereiht. Eine solche Liste zwingt immerhin zu Klarstellungen darüber, welche Argumente überhaupt zulässige sein sollen oder (ζ. B. Argumente aus der Theologie?) a limine abgewiesen werden können. Der Sinn dieser Fragestellung ist natürlich nur dann einzusehen, wenn ein Argumentenkatalog wie hier i n Wahrheit nur ein Katalog von Leerstellen ist, gewissermaßen von Stichwörtern, zu denen einem gewöhnlich fallbezogene Argumente einfallen. Die Abweisung eines Argumentes als unzulässig ist — bezogen auf einen Einzelfall — nicht mehr und nicht weniger wert als jede andere Form der Entkräftung. 8. Topik Auch Topik läßt sich als Modell üblichen Argumentierens auffassen. W i r beobachten häufig, daß i m juristischen und außer juristischen Sprechen Argumentieren darin besteht, daß ein Wort wie ζ. B. „Interessenabwägung", „Zumutbarkeit", oder ein Satz wie, man solle Bagatellen keine unnötige Aufmerksamkeit schenken, hingeworfen wird. Längere Ausführungen erweisen sich häufig als auf ein solches Stichwort reduzierbar, wobei eine geläufige sprachliche Wendung dafür lautet „unter Hinweis a u f . . Man w i r d sich zuerst bemühen müssen, das etwas zerredete Wort Topik auf seinen Inhalt hin zu untersuchen. Es ist einige Verwirrung zu registrieren, die auch nicht durch die Diskussionszusammenfassungen von Otte (1970) und Klenner (1972) beseitigt wird. Wollte man die darin gegebenen Literaturanalysen nachvollziehen, so wäre allerdings ein bisher nicht geübtes Verfahren unentbehrlich: Es

8. Topik

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wäre synoptisch zusammenzustellen, was die verschiedenen Autoren als Beispiele für Topoi nennen. Man notierte: Viehweg nennt Interesse, Vertrauensschutz, nemo turpitudinem suam allegans auditur, Verschuldens-, Verursachungs-, Gefährdungs-, Billigkeitsgrundsatz (1975, S. 95,104,106 und — i m Anschluß an Wilburg — S. 107). Angeblich i n direkter K r i t i k daran spricht Diederichsen von Topoi wie: Bürgen soll man würgen, was die Fackel zehrt ist Fahrnis, Hand wahre Hand (NJW 66, S. 703). Zippelius nennt die tatsächlichen Vorgegebenheiten des Rechts wie: anthropologische Tatsachen, soziale Strukturen und ökonomische Interessen und Gesetzlichkeiten, aber auch Billigkeit, Gleichheit, Rechtssicherheit und sog. axiologische Gesetzlichkeiten, ζ. B., das dauerhafte Gut sei dem weniger dauerhaften vorzuziehen (NJW 67, 2233). Von den Rechtshistorikern war oben bereits die Rede, es sei nur ζ. B. erinnert an die Einstufung des argument u m e contrario als topisch. Man sieht: I n der Diskussion werden recht verschiedene Gedankenkreise mit demselben Worte Topik angesprochen. Seit neuestem liegt ein Klärungsversuch vor, nämlich Bornscheuers Monographie „Topik — zur Struktur der gesellschaftlichen Einbildungskraft" (1976). Ausgangspunkt ist eine historische Darstellung, die Bornscheuer selbst zusammenfaßt. „Während das aristotelische Topos-Verständnis auf die sachlich-dialektische Problemerörterung i m Vorfeld aller fachmethodischen Spezifikationen bezogen ist, hat sich bei Cicero der Argumentationsaspekt einerseits auf die schulrhetorische bzw. fachjuristische Gebrauchsfunktion des ,locus' als ,sedes argumentorum' verengt und andererseits zu der rhetorisch-amplifikatorischen Gebrauchsfunktion des ,locus communis' verwandelt, so daß man i m Ubergang zur Spätantike insgesamt schon von drei verschiedenen historischen Topos-Vorstellungen sprechen könnte. Seit Boethius kommt i m Frühmittelalter die neue Variante eines strengeren logikwissenschaftlichen Topos-Begriffs hinzu und m i t der allmählichen Entfaltung anderer fachwissenschaftlicher Disziplinen konsolidieren sich seit dem Hochmittelalter auch entsprechende fachliche Sondertopiken (vor allem i n Jurisprudenz und Theologie)" (S. 91). Seine Absicht ist nun, den aristotelischen Gedanken ernst zu nehmen, „es gebe so etwas wie ein aus dem Alltagsdenken und den Problemen der Alltagspraxis erwachsendes allgemeinverständliches inventorisches Forschungsverhalten, das allen Künsten und Wissenschaften vorausliege . . . " (S. 93). A n zentrale Stelle t r i t t nun die Aufzählung von Eigenschaften von Topoi, bei der allerdings kein Anspruch auf Vollständigkeit oder begriffliche Systematik erhoben wird. Bornscheuer nennt Habitualität, Charakter der Fülle oder Potentialität, konkreten Argumenta-

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I I I . Modelle argumentierender Sätze

tionsbezug oder Intentionalität und zuletzt Symbolizität. „Der strukturelle Wesenskern des Topos ist zweifellos das Habitualitäts-Moment" (S. 107). Die eigentliche inventorische Leistung vollzieht sich demnach psychologisch betrachtet i m Individuell-Unterbewußten (S. 105). Diese Ausführungen legt nun Bornscheuer an alle wichtigen Arbeiten, die sich explizit m i t Topik beschäftigen, als Maßstab »an. Autoren wie Curtius und Viehweg werden scharf kritisiert. Letzterem w i r d als gravierendster Fehler angerechnet, daß er den Unterschied zwischen einer vorwissenschaftlichen Problemverständigung, also der Allgemeintopik, die Aristoteles allein i m Auge gehabt habe (S. 117), und andererseits der fachspezifischen juristischen Methodologie m i t Sondertopik, wie sie ihren Ausgang bei Cicero nehme, nicht genügend trenne. Dafür ist nach Bornscheuer mangelnde Klarheit über den Begriff des Topos bei Aristoteles ursächlich. Es steht außer Zweifel, daß Bornscheuers Vorgehensweise nach geisteswissenschaftlicher Methodologie konsequent ist. Trotzdem muß man sagen, daß es durch das Zusammenwirken mehrerer Faktoren nicht sehr erhellend w i r k t . Allgemein ist die Arbeit als Text durch die Abstraktionshöhe der entscheidenden Passagen schwierig. Die vier Grundaspekte werden nicht an einem einzigen Topos erläutert, und für die wichtige Trennung von Allgemeintopik und Fachtopik w i r d kein Beispielsfall genannt. Es ist eine Stilfrage, ob man auf der Basis einer so unausgeführten Bestimmung des Toposbegriffs scharfe K r i t i k an allen anderen äußern sollte. Keine Stilfrage ist aber, daß dabei eine forschungsstrategische Vorentscheidung nicht explizit wird. Bornscheuer kritisiert häufig Aussagen, i n denen „Topik" vorkommt, sinngemäß m i t dem Hinweis, jene Wortverwendung entspreche nicht der originalen Bedeutung. Dem ist entgegenzuhalten, daß es bei genügender Klarlegung auch das Recht gegenwärtiger Autoren ist, ihren Teil zu einer Fortentwicklung von Begriffen beizutragen. I n Wahrheit t u t Bornscheuer das seinerseits auch, indem er Aussagen i n moderner Terminologie über Topik macht. Dafür ist das wichtigste Beispiel das weichenstellende Wort „vorwissenschaftlich" i n der K r i t i k an Viehweg (S. 119). Der Wissenschaftsbegriff steht oft erst zur Debatte, und der richtige Ansatz der Überlegungen ist eine Vergewisserung, wie weit man i n einzelnen modernen Disziplinen über eine Allgemeintopik hinaus zur Wissenschaft i m modernen Sinn gelangen kann. Das Recht, den Toposbegriff selbst als Topos auf heute entstehende Probleme zu beziehen, hat noch einen zweiten Grund. Bornscheuer hat i n seiner K r i t i k noch i n einem zweiten Kernpunkt eine offene Frage schon als beantwortet vorausgesetzt. Er verwendet z. B. i m Zusammenhang m i t der Jurisprudenz ohne Bedenken das Wort „fachspezifisch"

8. T o p i k

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und spricht von der sich zwei Jahrtausende stetig fortentwickelnden j u r i stischen Methodologie (S. 117). Bei solchen geistigen Disziplinen sind Identität und Funktionen problematisch. Hat Recht i n einer Sklavenhaltergesellschaft nicht andere Funktionen als i n einer Industriegesellschaft? Das ist auch eine Frage der Ansprüche, die w i r an gegenwärtiges Recht stellen. Es könnte sein, daß eine vorwissenschaftliche Problemverständigung i n gesellschaftlichen Konflikten eine Leistung ist, die gegenwärtig dem Recht als positive Funktion postulativ zugeschrieben werden muß, und die wichtiger ist als überkommene Fachtopik. — Zur Begriffsklärung erscheint es nützlich, drei Tendenzen der Verwendung von „Topik" zu unterscheiden. a) Ein immer genannter Ausgangspunkt ist die Schrift des Aristoteles. M i t diesem Autor beginnt eine der geistigen Hauptlinien, nämlich die des Verständnisses von Topik als Lehre von Standardgesichtspunkten, Kategorien, bei deren Nennung einem fallbezogener Argumente zur Erörterung eines konkreten Problems einfallen können, Gemeinplätze, die gerade dadurch, daß sie keinen genauen Inhalt haben, universal anwendbar und zugleich allgemein akzeptiert sind. I n diesem Sinne kann man i n juristischen Debatten die Ausdrücke „Natur der Sache" heute vielleicht schon „Interesse" nennen. Unzählige juristische Entscheidungen begnügen sich m i t Formeln dieses Typs, die — fallweise i n Zweifel gezogen — die Ausformung konkreter Argumente zulassen müssen. E i n Katalog solcher Formeln darf n u n nicht inhaltsgleiche nebeneinander aufführen, wie das ζ. B. bei „Natur der Sache" und „Wesen der Sache" der Fall wäre. Daher muß ein solcher Katalog dazu tendieren, die Gesamtheit der Welt zu erfassen. Tatsächlich ist aber bei einer Katalogisierung infolge des Allgemeinheitsgrads jener Formeln nicht m i t einer unüberschaubaren Masse zu rechnen. Ein solches Repertoire verführt dazu, die Topoi i n systematischen Abhängigkeiten voneinander anzuordnen und so zu dem zu gelangen, was man i n den neueren Diskussionen m i t „geschlossenem System" bezeichnet. Bleibt man dabei, daß die Topoi verbale Erfassung des gesamten Geisteslebens sind (also ζ. B. auch Fragen enthalten), dann gerät man i n die Sackgasse der ars combinatoria, die Viehweg am Beispiel des Raimundus Lullus kennzeichnet (Viehweg 1974, S. 78 f.). Versucht man aber, die Topoi nicht als Formen aufzufassen, sondern als Inhalte, so gerät man i n jene Schwierigkeiten, die sich i n Henkels Rechtsphilosophie zeigen (1964, S. 418 f.). I n einer ersten Hauptgruppe finden sich „anthropologische Grundbestimmung", „Naturgesetzlichkeiten", „Seinsstrukturen", „Sozialstrukturen", „Interessenstrukturen", „Gebräuche", „Institutionen", usw. Die zweite Hauptgruppe enthält die „Wertideen des Rechts", nämlich: Gerechtigkeit, Billigkeit, Zweckmäßigkeit, Rechtssicherheit. Eine solche Aufzählung kann hoch-

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fahrend interpretiert werden als Gesellschaftstheorie, richtiger aber als Eingeständnis ihres Fehlens. b) Eine andere geistige Richtung nimmt i n der Darstellung bei Cicero ihren Ausgang. Man versucht, die Elemente realer Argumentationsvorgänge zu erfassen. Meistens werden hier nicht allgemeine, i n ihrer Bedeutung für das -anstehende Problem noch nicht spezifizierte Kategorien genannt, sondern Argumente, die wie subsumtionsfähige Normen fungieren. Auch eine so allgemeine Formel wie „Interesse" w i r d i n juristischen und außer juristischen Diskussionen nur eingesetzt i n der Annahme, das Recht müsse wie unser Verhalten überhaupt auf die Interessen Rücksicht nehmen, sie bestätigen, ihnen entsprechen. Von hier aus ergibt sich ein gleitender Ubergang zu doch recht scharf konturierten Normen wie ζ. B. „et audiatur altera pars", „ i n dubio pro reo", „ i m Zweifel zu gleichen Teilen". Eine solche Bestimmung setzt übrigens stillschweigend voraus, daß die Sachverhaltsfeststellung nicht Teil der Argumentation ist. Ich glaube gezeigt zu haben (Struck 1971), daß man mit weniger als 100 Topoi dieses Typs das allgemein akzeptierte Argumentieren i n erstaunlich großem Umfang beschreiben kann. M i t diesem Punkt verbindet sich der bekannte literarische Streit u m den Vorgang von Topik oder Systemdenken. Sachlich hat er zu wenig geführt. Ich verweise zur Entlastung dieser Darstellung auf die Schrift von Canaris „Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz" und ihre außerordentlich instruktive Rezension von Wieacker (Rechtstheorie I, 1970, S. 107 ff.), die i n der Form dezent, in der Sache deutlich (so Wiethölter) ist. c) Folgerichtig gibt es noch einen dritten Wortgebauch von Topos, i n dem das letzte verbleibende wesentlichste Moment des Begriffs zum Schwerpunkt gemacht wird. Topoi sind festliegende Sprachwendungen. I n diesem Diskussionszusammenhang interessiert nur eine bestimmte Zitatengenealogie, die m i t Ernst Robert Curtius beginnt und ihre entscheidende Weichenstellung i n Popitz u. a., „Das Gesellschaftsbild des Arbeiters", hat (1967, S. 82 ff.; wobei dieser Abschnitt von Kesting geschrieben ist). Negt stützte sich darauf i n seinem erfolgreichen Buch „Soziologische Phantasie und exemplarisches Lernen" (1975) und gibt folgende Worterklärung: „Topos: Bestimmte gedankliche oder sprachliche Form, Redewendung, festes Klischee i m Sprachgebrauch, formelhafte Wendung, Gemeinplatz" (S. 135). Darauf basieren wieder Ausführungen von Maas/Wunderlich 1972, S. 272 ff.). I n diesen Veröffentlichungen w i r d als terminus technicus „soziale Topik" eingeführt. Grundmodell sind die Antworten von 600 Arbeitern auf eine nichtbeantwortbare Frage: „Wie w i r d die Welt i n 50 Jahren aussehen?" (Popitz u.a., S. 55 ff.). Hier erscheinen als Stereotypen Fort-

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schrittsglaube wie Klassengesellschaft, Angst vor der Arbeitslosigkeit und vor einem 3. Weltkrieg, Utopismen und Eschatologisches. Wichtig ist nun, daß auch sich widersprechende Topoi unbefangen geäußert werden. Das geht bis zu Stereotypen i. S. Quasthoffs, i n Einzelfällen sogar bis zur Angst vor der „Gelben Gefahr" (Popitz u. a. 1967, S. 72). Davon absetzen w i r d man den Gebrauch von Topos als gehobenes Fremdwort für einen Gegenstand der Kommunikation. I n diesem Sinne leitete Erik Voegelin gelegentlich seine Vorlesung zur Rechtsphilosophie m i t den Worten ein: „Rechtsphilosophie ist ein Topos; d. h. ein Gegenstand des allgemeinen Geredes." — Betrachten w i r Topik i m weiteren als Beschreibungsmodell von Argumentationen. Ausgangspunkt ist die schon angedeutete Tatsache, daß Topoi — und zwar der i n a), b) und c) geschilderten Typen — unterschiedslos häufig und explizit juristische und außer juristische Diskussionen bestimmen. I n juristischen Augumentationen taucht ebenso „Natur der Sache" auf wie „et audiatur altra pars" und der Durchbruch der Rechtsprechung zur Erkennung von Schadensersatz bei Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts ist sicherlich nur verständlich auf dem Hintergrund eines i n Form eines Stereotyps wirksamen Menschenbildes (vgl. Wiethölter, Rechtswissenschaft, 1968, S. 190). Interessant ist nun die Frage einer möglichen Katalogisierung von Topoi, da solche Kataloge als Prüflisten Dienste leisten könnten und umgekehrt ein neues, bisher unbekanntes Argument leichter gebührende Aufmerksamkeit fände. Kataloge von Topoi wie „Natur der Sache" werden nun aber diese Leistungen nicht erbringen können. Eine Katalogisierung der Bestandteile dieser Welt, wie sie Henkel versucht, ist schon oben kritisiert, Kataloge mittleren Abstraktiosgrades und von Argumenten m i t i m einzelnen eindeutiger Tendenz könnten dergleichen Nützliches leisten. Davon bleibt unberührt, daß Viehwegs Ideengut als eine i m wesentlichen zutreffende K r i t i k am Sprechen vom rechtswissenschaftlichen System verstanden werden kann. Das beruht aber mehr auf den immanenten Unklarheiten und Undurchführbarkeiten eines Systembegriffs i n jenem Sinne als auf den Vorzügen der Topik. Topik w i r k t insofern als bescheidenere und eben deshalb richtigere Darstellung. Wenn Topik nicht — so bei Viehweg selbst (S. 111) — verbunden ist mit einem Interesse an inhaltlicher Topik, dann bleibt sie i n der Tat eine A r t M i n i malprogramm der Argumentationsdarstellung. Die Hoffnung auf eine heuristische Funktion der formalen Topoi hingegen ist nämlich nicht aus der Geschichte belegbar oder mit dem Instrumentarium zu stützen, das Viehweg selbst angibt. Für die inhaltliche Topik stellt sich aber ein konstitutives Problem. Recht ist nach heutigem Verständnis hauptsächlich Rechtsgüterschutz,

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I I I . Modelle argumentierender Sätze

rechtliche Argumente hauptsächlich Hinweise auf negative Folgen für Güter. Dieser Typus von Argumentation ist nicht sinnvoll unter Topik zu fassen, da sonst der Topoikatalog die gesamte bekannte Welt umfassen müßte und zudem das Problem der Kollisionen brennender würde. Als typischen Topos möchte ich den der „Priorität" kontrastieren (vgl. Struck 1971, S. 24). Niemand kann auf Anhieb sagen, welche Interessen durch die Verwendung des Standardarguments „Priorität" gesellschaftlich gefördert werden. M i t diesem außerordentlich bedeutsamen Sachverhalt hängt ein hinzutretendes konstitutives Moment für Topik zusammen: „Echte" Topoi sind allgemein akzeptabel, weil sie nicht Ausdruck eines Gruppeninteresses sind, bei dem einem sofort die Interessen der sozialen Konkurrenten einfallen. Auch gegen „et audiatur altera pars" polemisiert niemand. Solche Topoi sind allerdings nur fallweise schlüssige Argumente, wie schon die altbekannten: Von zwei guten Sachen sei die dauerhaftere vorzuziehen, etc. Uber Dauer, die unser Lebensalter überschreitet, läßt sich nur kraft moralischer Entscheidung argumentieren — ganz gleich, u m was es geht. Die Hauptfrage ist, welchen Status solche Argumente haben. Eine Auskunft läßt sich geben: Topoi sind sprachliche Einheiten. Ob dieser Hinweis nun vordergründig oder hintergründig ist, das genau heißt das Problem von neuem stellen. Ist Sprache hier Darstellung von Interessen, Bedürfnissen? Oder hat sie Eigenleben gewonnen; wenn dies, ist das nun eine begrüßenswerte oder bekämpfenswerte Erscheinung? Gegenüber den idealistischen, postulativen Systembegriffen bürgerlicher Rechtswissenschaftler bezog Topik gerade ihre Überzeugungskraft aus dem Hinweis auf die Sprache als Faktor i m sozialen Geschehen. Gegenüber einer materialistischen Gesellschaftstheorie w i r d gerade das zur Belastung. Wo letztendlich Bedürfnisse das gesamte soziale Geschehen steuern, da kann die Sprache nicht wichtig sein. Sie muß sich doch wieder auf Darstellung reduzieren lassen. Es ist aber wichtig zu sehen, daß i m Zuge dieser K r i t i k an Topik häufig zu kurzschrittig argumentiert wird. Nehmen w i r als Beispiel „Rechtssicherheit". M i t Hinweis auf Max Weber ist es üblich geworden, Rechtssicherheit als das Interesse selbst hochkapitalistischen Unternehmerstandes an Vorausberechenbarkeit, w i r t schaftlicher Kalkulierbarkeit also, zu „decouvrieren". Dazu einige wichtige Zweifel: Wie ist Rechtssicherheit meßbar? Durch die Häufigkeit der Rechtsmitteleinlegungen? Durch die Zahl der nicht vor Gericht gebrachten Rechtskonflikte? Ist sie ein i n der Bevölkerung verbreitetes Gefühl? Nehmen w i r an, w i r hätten einen Maßstab, so ließe sich das nächste Problem ins Auge fassen: Stellt der Richter fest, ob seine einzelne m i t dem Hinweis auf „Rechtssicherheit" gefällte Entscheidung auch tatsächlich die Rechtssicherheit fördert? I n Wahrheit ist Rechtssicherheit nichts anderes als ein sprachliches Klischee, jederzeit abrufbar und durch nichts

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anderes zu einer Entscheidung legitimierend als durch die verbreitete Bereitschaft der Betroffenen, dieses Klischee als Argument m i t Uberzeugungswert zu akzeptieren. Auch scheinbar so zweckrationale Argumente wie Rechtssicherheit sind also häufig nichts anderes als soziale Topoi, ungeprüfter und unbegriffener Ideologieschutt. Andererseits wiederum ist die Interessenabhängigkeit allen Argumentierens selbst ein außerordentlich eingängiger Topos, der als Vorverständnis wirksam ist. So w i r d ζ. B. die Meinung, zwei Argumente seien besser und überzeugender als ein Argument, als Beispiel topischen Denkens i n Anspruch genommen (Horn, NJW 67, 604 f.). I n der Wendung gegen das Systemdenken, bei dem es konsequent wohl für jeden Schluß nur ein Argument geben kann, kann das überzeugen. Trotzdem ist der Schluß sachlich problematisch. Wenn Topik aber nicht leeres Gerede sein soll, dann muß wohl mit mehr Argumenten die Hoffnung auf einen gewichtigeren Rechtsgüterschutz verbunden sein. Von diesen Überlegungen aus läßt sich nun rückwärts erschließen, wie es zu der eigenartigen K r i t i k von allen Seiten an der Topik kommt. Für halbwegs orthodoxe Marxisten ist Topik ein Ärgernis. Man sehe dazu K a r l Raimund Beyers A r t i k e l „Topik" i m Marxistisch-leninistischen Wörterbuch der Philosophie (Klaus/Buhr). „Die Gefährlichkeit des Topik-Denkstils, die Außerachtlassung des allgemeinen Zusammenhangs aller Erscheinungen i n der Natur, i n der menschlichen Gesellschaft und i m Denken zeigt sich gerade i n dem modernen Lieblingsfeld der Topik, i n der Rechtswissenschaft." Es fehlt der Topik eine Gesellschaftstheorie, an der sich Wahrheit oder Falschheit juristischer Erkenntnisse messen ließe (Klenner 1972, S. 17). Sogar Aristoteles w i r d wegen seiner „materialistischen Wahrheitskonzeption" gegen den Mißbrauch seines Namens durch die Topiker i n Schutz genommen. Die politische Stellung der Topik innerhalb der bürgerlichen Rechtswelt w i r d geschildert: Die Theoretiker zeigen eine allgemeine Bereitschaft, die praktischen Juristen zögern und sind ζ. T. aggressiver ablehnend, namentlich soweit sie politisch rechts stehen (vgl. Klenner 1972, S. 17). Für die neue Linke der Bundesrepublik, deren Standarte der Begriff „Emanzipation" ist, muß Topik ein Greuel sein. Daß Arbeiter wie andere Menschen auch häufig krauses Zeug daherreden, sollte möglichst nicht wahr sein und wenn, so sollte es bekämpft werden. „Die topische Argumentation dagegen als eine, die m i t der Welt der wirklichen Erfahrung nicht vermittelt ist, spiegelt die Ohnmacht der Arbeiter" (Maas/ Wunderlich 1972, S. 274). Dazu ist anzumerken, daß i n diesem Zitat das Wort „wirklich" i n einem eigentümlichen Sinn steht. „Wirkliche Erfahrungen" sind die Erfahrungen der Arbeiter m i t von ihnen selbst nicht bewußten Kollisionen der Wirklichkeit m i t latenten Bedürfnissen, über die uns — leider seltener ihnen — eine bestimmte Gesellschaftstheorie 5 Struck

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I I I . Modelle argumentierender Sätze

Auskunft gibt. Für Maas ist die Konsequenz klar: Soziale Topik ist durch Aufklärung m i t den Verhältnissen, die sie spiegelt, aus der Welt zu schaffen. A u f der anderen Seite stehen die, denen die Sondersprache der Juristen als Herrschaftsmittel der derzeitigen Juristenschaft politisch opport u n erscheint. Wenn Juristen sprächen, wie jedermann spricht, wären sie dann überhaupt noch sich selbst und den anderen Bürgern i m Staate als Juristen erkennbar? Die manchmal kuriosen Argumentationen gegen Topik basieren darauf, daß sie gewissermaßen prophylaktisch erfolgen. Die eigentümliche Aufgeregtheit, m i t der Viehwegs kleine, hauptsächlich rechtsgeschichtlich orientierte Schrift seit der Mitte der sechziger Jahre diskutiert wurde, galt nicht ihr. Sie galt ihr stellvertretend für eine über sie hinausgehende weitere unbefangene K r i t i k der Elemente der seit langem exponierten ständischen Machtposition der Juristenschaft.

9. Rückblick auf die Modelle Uberlegen w i r i m Zusammenhang die Vor- und Nachteile der formalisierenden Beschreibungen argumentativen Sprechens. Als erstes muß festgehalten werden, daß alle Modelle nebeneinander anwendbar sind. Der Unterschied kann nur i n verschiedenen Graden der Nützlichkeit bestehen, oder i n der verschiedenen Häufigkeit der zwanglosen Identifizierung realer Argumentationen mit den hier angegebenen Formen. Alle können nur der Nachkontrolle und Analyse der Argumentationen dienen, und dürfen i n keinem Fall verstanden werden als Normen, an die man sich zu halten hätte. Wollte man sich angewöhnen, die Modelle so zu verstehen und zunehmend i n den Sprachformen ihnen zu folgen, so müßte man w o h l auf jeden Fall alle hier angegebenen Nebeneinander i m Gedächtnis behalten und einsetzen. Dazu käme allerdings der klassische Syllogismus und seine Variationen. Viel seltener als ζ. B. das Dialog-Schema von Lorenzen dürfte er auch nicht Anwendung finden. Allerdings sind nun auch gar nicht so viele Formen angeboten worden, so daß man als erste Leistung der Beschreibungsmodelle die einer Formulierungshilfe beim Argumentieren festhalten muß. M i t dem Wort „Formulierungshilfe" ist nun umgriffen, daß einerseits solche Schemata immer durch Erleichterung von Artikulation kreativitätsfördernd sind, und daß sie andererseits genau die gegenteilige Wirkung haben können: Sie können als Filter der Artikulation von neuen Gedanken hinderlich sein, wenn diese neuen Gedanken nur i n neuen Formen ihren Ausdruck finden können. Ein Richter, der ζ. B. vergleichbereiten Parteien nicht nur zu einem Zugeben und Abstreichen rät, sondern einen Plan vorschlägt, der die gegenseitigen Beziehungen i n den Zusammenhang eines größeren

9. Rückblick auf die Modelle

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Konzeptes mit zukunftsgestaltendem Charakter stellt, w i r d das i n einer anderen Sprachform als i n einem Topoikatalog tun müssen. Noch ungeeigneter wäre dafür allerdings eine Aufzählung der Schritte, die die bisherige Methodenlehre vorsieht und die man ζ. B. bei Hattenhauer aufgelistet nachlesen kann (1970, S. 147 f.). Selbst die allereinfachste Liste von Argumenten hat noch positiven Effekt. So nämlich kann man so gegen die Gefahr angehen, einzelne Argumente i m Verlauf der Uberlegungen stillschweigend wieder zu vergessen und zu ignorieren. Namentlich den Schemata Polyas und Toulmins w i r d man darüber hinaus auch eine regelrechte kontrollierende Funktion zuschreiben können. Wenn ein argumentierender Satz einer der hier genannten Formen nicht entspricht, so kann man überlegen, ob er sich i n jener Weise umformen ließe. Wenn nicht, wieso nicht? Bleibt es aber bei dem puren Hinweis auf einen Gemeinplatz, so läßt sich aus der Topik lernen, daß Topoi immer vage sind, daß es immer widersprechende Topoi gibt, und daß sie sich gegenseitig durchdringen (Struck 1971, S. 46 ff.). Eine Probe könnte zeigen, an wievielen Stellen i m Durchschnitt die Modelle als Maßstab Unregelmäßigkeiten und Leerstellen aufzeigen. Man sehe sich ζ. B. einige von Lautmanns Protokollen, z. B. Nr. 145 - 155 (1962, S. 122 ff.) an. Oder man analysiere eine der klassischen Entscheidungen des Bundesgerichtshofs, nämlich den „Herrenreiter"-Fall (BGH NJW 58, 827). Was kann man i n diesem wichtigen Text überhaupt als das Argument identifizieren? Hier die mögliche Kernstelle des Urteils: „Bereits vor dem Inkrafttreten des Grundgesetzes ist jedoch schon mehrfach die Ansicht vertreten worden, daß als Freiheitsverletzung i. S. des § 847 BGB jeder Eingriff i n die ungestörte Willensbestätigung anzusehen sei (Staudinger BGB Anm. I I A 2 c zu § 823 BGB). Nachdem nunmehr das Grundgesetz einen umfassenden Schutz der Persönlichkeit garantiert und die Würde des Menschen sowie das Recht zur freien Entfaltung der Persönlichkeit als einen Grundwert der Rechtsordnung anerkennt und damit die Auffassung des ursprünglichen Gesetzgebers des BGB, es gäbe kein bürgerlich-rechtlich zu schützendes allgemeines Persönlichkeitsrecht, berichtigt hat, und da ein Schutz der ,inneren Freiheit* ohne das Recht auf Ersatz auch immaterieller Schäden weitgehend unwirksam wäre, würde es eine nicht erträgliche Mißachtung dieses Rechts darstellen, wollte man demjenigen, der i n der Freiheit der Selbstentschließung über seinen persönlichen Lebensbereich verletzt ist, einen Anspruch auf Ersatz des hierdurch hervorgehobenen immateriellen Schadens versagen" (BGH NJW 58, 830). Versucht man den ersten und den zweiten Satz miteinander i n eine schematische Beziehung zu setzen, so scheitert man. Die „h. M." w a r i n der Topikdiskussion manchmal als Topos gedeutet worden; i m ersten Satz aber geht es nur um vereinzelte Stimmen und so greift nicht einmal diese minimale argumentative Form. 5·

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I I I . Modelle argumentierender Sätze

Man kann sich verschiedene Evolutionsideen als Strukturierung der nötigen Zwischenschritte ausdenken, aber man gerät hier wohl i n seltsame soziale Topik. Der zweite Satz paßt i n das Toulminsche Schema, wobei die Einpassung i n dieses Schema nicht nur eine S t i l k r i t i k an dem U r t e i l bedeutet, sondern auch unser Interesse auf das Wort „weitgehend" lenken muß, das ja nicht an der Stelle eines Qualifikators eingesetzt wird. Schematisierungen von Argumentationen ergeben auch einen guten Hintergrund, vor dem sich nicht-argumentative Phänomene kontrastieren lassen. Ein Beispiel ist „Die Prägnanztendenz i n S traf urteilen", wie sie Rolinski (1965) dargestellt hat. I n dem hier zu interessierenden Zusammenhang genügt zur Information das instruktive Schaubild, das auch Haag (JbRsozRth I, S. 436) nach der Dissertationsfassung von Rolinskis Abhandlung übernommen hat. Richter tendieren eben bei der Strafzumessung zu glatten Beträgen, bei Freiheitsstrafen also zu viertel, halben und ganzen Jahren (vgl. auch Struck 1971, S. 87). Hier liefert Topik die Erinnerung daran, daß es auch bei so scheinbar aussichtslosen Unterscheidungsversuchen wie dem zwischen der Berechtigung von 12 oder 14 Monaten Freiheitsstrafe gewöhnlich weitere Argumente gibt. Fällt ζ. B. das „glatt" bemessene Ende einer Freiheitsstrafe i n die saisonale Arbeitslosigkeit und erschwert damit die Wiedereingliederung des Straffälligen? Die Grenzen der Leistung von Schemata ergeben sich i n klarer Konsequenz. Rottleuthner hat ζ. B. i n ein- und demselben Schema rechtspolitische Argumente, empirische Argumente, Textauslegungsargumente und den Hinweis auf Maßnahmezweckmäßigkeiten dargestellt (1973, S. 190 ff.). Noch mehr: Schemata kennen keine Unterscheidung zwischen der Wiederholung m i t anderen Worten und inhaltlicher Begründungsleistung. Man kann sie immer leerlaufen lassen, oder (in größeren sozialen Zusammenhängen) als Rituale veranstalten.

4.

Kapitel

Verlaufsmodelle von Argumentation 1. Empirische Entscheidungsmodelle Es ist ein geläufiger Fehler, anzunehmen, berufliches Handeln entspreche der Methodenlehre des einschlägigen Wissenschaftszweiges. Dieses Faktum w i r d oft diskutiert anhand von Poppers Lehre und der manchmal damit einhergehenden Meinung, Naturwissenschaft sei auch i n der Geschichte i n der Reihenfolge der daraus ersehbaren Schritte und i n Anwendung jener Kategorien betrieben worden; spätestens seit Kuhns Theorie „ Z u r Struktur wissenschaftlicher Revolutionen" weiß man aber, daß auch naturwissenschaftlicher Fortschritt nicht der „Logik der Forschung" folgt. Auch die Lehrdarstellungen der rechtswissenschaftlichen Methodenlehre gehen implizit von einem ähnlichen Vorurteil aus. Die Darstellungen sind aber meist für die Konzeption eines ökonomisch organisierten Arbeitsablaufs ungünstig. Die empirische Beobachtung realer Entscheidungen hat ganz andere Kategorien als adäquat erwiesen. Lautmann hat seinen Arbeitsbericht „Justiz — die stille Gewalt" (1972) nach diesem Schema angeordnet, das ich der Einfachheit halber unter Bezug auf seine Nachweise übernehme. „ I n der ersten Phase w i r d das Problem identifiziert; der Richter klärt, ob und worüber er zum Urteil angerufen ist. I n der zweiten Phase werden Alternativen zur Lösung gesammelt; der Richter erwägt die Möglichkeiten, zu einem Urteil zu kommen. I n der dritten Phase werden zu jeder Alternative Fakten eingeholt; der Richter ermittelt aus Schriftsätzen und Beweisaufnahmen den Sachverhalt. I n der vierten Phase werden die normativen Prämissen betrachtet; der Richter überlegt, ob die Alternativen rechtlich zutreffen. I n der fünften Phase w i r d eine Alternative ausgewählt; der Richter entschließt sich zum Urteil. I n der sechsten Phase w i r d die gewählte Alternative ausgeführt; das Urteil w i r d verkündet, begründet und zugestellt. I n der siebten Phase schließlich finden diverse Nachprozesse statt (post-decision-processes); der Entscheider erlebt und reduziert Dissonanz, empfängt K r i t i k , lernt für künftige Entscheidungen. Keineswegs immer sind diese sieben Phasen getrennt oder laufen in der angegebenen Reihenfolge ab; oft kehrt der Ent-

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I V . Verlaufsmodelle von Argumentationen

scheider zu früheren Phasen zurück und überspringt andere" (Lautmann 1972, S. 15). Diese Deskription ist für normative Entscheidungen aller A r t und nicht nur für die richterlichen ersichtlich brauchbar. I n der K r i t i k w i r d man ihr sogar präskriptive Funktionen insofern zuschreiben können, als für durchschnittliches juristisches Entscheiden einiges gewonnen wäre, wenn es wenigstens diesem Schema folgte, und vermieden würde, daß manchmal Alternativen nicht bedacht werden und Nachprozesse unbewußt bleiben. Es lassen sich Wechselspiele zwischen den einzelnen Phasen charakterisieren. Wenn sich z.B. bei den Fakten eine Verwirrung ergibt, so kann das auch darin liegen, daß man die Alternativen zur Lösung nicht gründlich genug bedacht hat und deshalb kein geordnetes Dispositionsprogramm für die Fakten bereit hält. Solche Überlegungen lassen sich nicht nur anhand richterlicher Entscheidungen anstellen u n d durch teilnehmende Beobachtung prüfen, sondern es stehen als interessantes Analysematerial auch die Serien von Entscheidungen und Aufsätzen zur Verfügung, die zur Entwicklung von neuen Rechtsinstituten geführt haben. Man denke etwa an den Vertrag m i t Schutzwirkung zugunsten Dritter. Es wäre sehr verdienstvoll, das Wechselspiel von Problemrealisation, Prämissensuche und Alternativenauswahl bei jener Entscheidungsfindung i n einer Fallstudie darzustellen. Lautmann hat i n seinem Zusammenhang klar ausgesprochen, daß die Fruchtbarkeit des genannten Schemas nur durch die erzielten Resultate gezeigt werden kann (a.a.O. S. 60). Damit bezeichnet dieses deskriptive Schema einen Extrempunkt der Möglichkeit von Erfassung von Argumentation. Das Spezifische der Überzeugungsleistung fällt i n diesen Kategorien überhaupt nicht an. Das Phasenmodell als Vergleichsfall erweist die i m vorangehenden Kapitel genannten Modelle argumentativer Sätze als voraussetzungsvoll und von Vorverständnissen strukturiert. Man muß schon i n den historisch gewachsenen argumentativen Gedankenformen denken, u m Toulmins und Polyas Schemata als günstige Form der Überzeugungsbildung zu akzeptieren. Hier sei nachdrücklich an das Faktum erinnert, daß unsere Vorstellungen vom Begründen ethnologischer Relativierung fähig sind (vgl. ARSP 54,1968, S. 156). Man mag sich gewundert haben, daß hier unbefangen eine Deskription von Entscheidungen als argumentationstheoretisch relevant angesehen wird. Bei einer den K e r n der Begründungsleistung nicht berührenden Aufzählung von Handlungsschritten sind Entscheidungen von argumentativer Überzeugungsgewinnung i n ihrem Stellenwert nicht zu unterscheiden. Auch vor Dezisionen pflegt man sich die Ausgangslage klarzumachen, und die explizierten Umstände der Entscheidung können ebenso als Kausalfaktoren der Entscheidung gedeutet werden wie dies

2. Möglichkeiten von Verlaufsmodellen allgemein

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bei Argumenten u n d den daraus gewonnenen Einsichten möglich ist. Die Wiedergabe von Entscheidungsprozessen vermag zu verdeutlichen, an welcher Stelle üblicher- und legitimerweise die Entscheidung für oder gegen das Akzeptieren eines Arguments fallen muß. Das Anerkennen der zwingenden K r a f t eines Arguments ist ein Willensakt wie andere auch. 2. Möglichkeiten von Verlaufsmodellen allgemein Das Besondere dieser Verlaufsmodelle ist, daß i n ihnen Argumentation als ein Handlungszusammenhang thematisiert wird. U m diese Dimension auszuleuchten, sollen i m folgenden zwei Arbeiten gegenübergestellt werden, die das Problem i n entgegengesetzter Weise behandeln. Beide sind von ihren Autoren charakteristischerweise nicht m i t dem Stichwort Argumentationstheorie i n Zusammenhang gebracht worden. Einerseits handelt es sich u m Rottleuthners Aufsatz „ Z u r Soziologie richterlichen Handelns" (1971) und andererseits u m Priesters Dissertation „Rationalität und N o r m k r i t i k " (1972, bis S. 95 abgedruckt i n JbRsozRth I). Die gegensätzlichen Entwicklungsmöglichkeiten seien zuerst abstrakt angedeutet. Rottleuthners einschlägiger Text (a.a.O. S. 83 ff.) scheint auf den ersten Blick eine bloße Beschreibung einer realen Situation zu sein, die am B i l d einer Kommunikation orientiert ist, in der jeder seine Interessen artikulieren kann und die Entscheidungen nicht durch vorgängige Kommunikationsverzerrungen determiniert werden. Diese realen Verzerrungen i n der Praxis, die sich mit der Rollentheorie erfassen lassen, deformieren aber alle eingebrachten Inhalte und bestimmen so die Entscheidung selbst. Die möglichen Verhaltensanweisungen für Beteiligte i n solchen Situationen können nur darin bestehen, sich von ihren Rollen zu distanzieren. Kritisch ist aber anzumerken, daß allein der Bruch mit den Ublichkeiten der Verfahren noch nicht Vernunft zum Zuge bringen muß. Ob die entzerrt artikulierten Bedürfnisse dann gerade i n jenen Verfahren befriedigt werden können oder sonst das Problem einer vernünftigen Lösung näher gebracht wird, ist nicht vorweg für alle Verfahren entscheidbar. Gerade der Strafprozeß w i r d insofern ein schwieriger Fall sein. I n Priesters Modellen stehen nicht die realiter gebrauchten Argumente, sondern alle vernünftigerweise ausdenkbaren. Vollständigkeit soll durch die traditionelle Differenzierung von faktischen und normativen Prämissen erreicht werden. Das setzt anstelle expliziten Rollenspiels und der dadurch festgelegten Kompetenzen etwa zu Äußerungen und zur Sachverhaltserforschung voraus, daß Gleichheit i n den Äußerungschancen herrscht und alle Gegenstände den Beteiligten gleichermaßen zugänglich sind. Dabei w i r d die Analyse der Einzelrollen der Be-

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I V . Verlaufsmodelle von Argumentationen

teiligten überflüssig, so daß das Modell für Entscheidungen eines Individuums ebenfalls angängig ist. Interessengegensätze, deren Abarbeitung i n einem nicht formalen Modell gerade Rationalität verspricht, haben dabei keinen systematischen Ort. Sie können höchstens als i n der Außenwelt feststellbare Fakten wie andere Fakten auch analysiert werden oder als Dilemma Anwendungsfall des Schemas i m ganzen sein. Vollständige Prämissenerfassung w i r d nur gewährleistet, wenn das Modell die Möglichkeit zu weiterer Empirie offen hält. Daß Priester das tut, berechtigt zu der Hervorhebung seiner Disposition als Verlaufsmodell. Eine wichtige Frage bleibt allerdings ohne Antwort: Man sollte denken, daß die Theorie Prognosen von Einzelheiten betreffend der Zeitdauer erlaubt, aber die infolge ihrer Komplexität von den theoretischen Kategorien nicht voll erfaßte Praxis zeigt eine größere Variationsbreite. Ein formales Modell kann leicht das Ende des Entscheidungsprozesses als einen Gliederungspunkt wie andere auch formulieren. Die vorangegangenen verbalen Beschreibungen schließen aber die Möglichkeit nicht aus, daß ζ. B. die Erforschung des Sachverhaltes den Verlauf ins Endlose dehnt. Bei der Beschreibung realer Entscheidungssituationen stößt man hingegen nie auf endlose Verfahren, obwohl die Furcht davor offenbar ein gewichtiger sozialer Topos ist. Für die Dauer von Gerichtsverfahren gibt es andererseits relativ feste Taxwerte, nur ist deren Berechtigung bisher durch keine Theorie nachprüfbar geworden. 3. Priesters Verlaufsmodelle Priester leistet die sorgfältigste Darstellung eines formal-rationalen Verlaufsmodells und es läßt sich daher an diesem noch weiteres lernen. Seine Differenzierung der Einzelschritte i m Verlaufsmodell nennt i m wesentlichen: Feststellung der A r t der Entscheidungssituation, Entscheidung über das weitere Einholen von Informationen, Bestimmung der bekannten möglichen Handlungen, Feststellung aller möglichen Ergebnisse der Handlungen, Zuordnung von Wahrscheinlichkeitswerten zu den Ergebnissen, Prüfung des Wertsystems i m Hinblick auf Konsistenz und Transitivität, Bewertung der Ergebnisse, Kondensation des Entscheidungsfeldes, Auswahl der Entscheidungsmaxime (1972, S. 57 ff.). Hier zeigt sich die eigentümliche Formalität des Modells bei der Entscheidung über das weitere Einholen von Informationen. Dieser Schritt nämlich bedarf von neuem einer Entscheidung, für die wieder das Verlaufsmodell als ganzes einschlägig ist. Das ließe sich nun weiterspielen. Die Größenordnung von Umweltphänomenen, die i m Modell abgebildet werden soll, muß immer i n t u i t i v ausgewählt werden. Das Schema zeigt also nicht nur explizit Stellen auf, an denen Entscheidungen nötig sind (ζ. B. die

3. Priesters Verlaufsmodelle

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Auswahl der Maxime), sondern es stellt sich auch das Problem, wann man es überhaupt zum Einsatz bringen w i l l . Dieses Faktum hatten die Formalisierungen von Sätzen (Toulmin, Polya) dadurch anerkannt, daß von vornherein alle erdenklichen Satzinhalte zugelassen waren. Bei Priester scheint eine unbestimmte Vorstellung von Handlungen mittlerer Relevanz als Anwendungsgebiet m i t zuschwingen. Ferner zeigt sich, daß die Differenzierung von Einzelschritten eines Verlaufsmodells stets auf einer bestimmten Theorie basieren muß, da andernfalls weder Konsistenz noch Vollständigkeit bestimmbar sind. Bei Priester handelt es sich um eine Darstellung i m Umkreis des k r i t i schen Rationalismus, die namentlich durch die starke Betonung des Gegensatzes von Fakten und Werten deutlich wird. N u r auf diesem Hintergrund ist die These der Arbeit relevant, zur Aufstellung eines Modells des voll rationalen Handelns brauche man keine neue, zweite Rationalitätskonzeption für den Bereich der Wertungen und Zielsetzungen entwickeln. „Über den Bereich des Zweckrationalen kann man schon dadurch hinausgelangen, daß man das Problem der Begründung und Rechtfertigung von Zielsetzungen und Wertungen als ein Entscheidungsproblem auffaßt, auf das i m Grundsätzlichen die Kategorien und Maximen des zweckrationalen Handelns angewandt werden können" (1972, S. 151). Diese Aussage kann nicht überraschen, da das Modell für Verhalten gedacht war als Oberbegriff von Handlungen, also auch für Begründungen und Rechtfertigungen. Für einen kritischen Rationalisten bleibt die Erkenntnis sicher bemerkenswert, da i m Umkreis dieser Idee die scharfe Unterscheidung zwischen kognitiven und anderen Geistesleistungen getroffen wird. Wenn man diese Unterscheidung — sei es auf Grund soziologischer Erfahrung, sei es auf Grund hermeneutischer Philosophie — nicht m i t gleicher Schärfe zu machen bereit ist, dann ist die Strukturgleichheit der Diskussionen über Werte und über Fakten weniger neu. Da aber diese Unterscheidung derzeit ganz allgemein als wichtige akzeptiert ist, bleibt das Verlaufsmodell als Rekonstruktion normalen Denkens bedeutsam. Das zeigt sich auch i n seiner Ähnlichkeit mit der oben genannten soziologischen Phasenbeschreibung. Priesters Ausrichtung auf den kritischen Rationalismus w i r d nicht nur deutlich aus seinen sorgfältigen Differenzierungen, sondern auch aus seinem instrumentellen Verständnis von Logik. Er verarbeitet Entscheidungstheorie, wie sie schon i n der Volkswirtschaftslehre mathematisiert ist, und die Problemstellung der Sozialwahl. Auf beides w i r d zurückzukommen sein.

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I V . Verlaufsmodelle von Argumentationen

4. Rottleuthners Interaktionsanalyse Auch an Rottleuthners Analyse der Kommunikationssituation i m Strafprozeß ( K r i t J 1971, S. 83 ff.) läßt sich viel lernen, doch soll auf ein Referat dieses durch seine Beobachtungsdichte hervorstechenden Textes verzichtet werden. Die Disposition der Darstellung hängt ersichtlich m i t der Idee der idealen Sprechsituation i. S. Habermasens zusammen. Danach fördert die Gesprächssituation Vernunft kraft Unterstellung der Gleichheit der Beteiligten, die so ihre legitimen Interessen i n die Entscheidung einbringen können. Während die ideale Sprechsituation gewissermaßen i m großen, also bezogen auf gesamtgesellschaftliche Vorgänge, ihr Hauptproblem i n der Verallgemeinerungsfähigkeit von Interessen hat, t r i t t diese Frage i n Gesprächssituationen m i t überschaubaren Personenzahlen zurück. Hier geht es allein darum, einen Idealzustand als Maßstab und Korrektiv für die allgegenwärtigen Kommunikationsverzerrungen zu denken. Rottleuthners Analyse zeigt den Strafprozeß als barbarisches Ritual. Darin liegt nicht nur ein Protest gegen Inhumanität, sondern auch gegen die Unvernünftigkeit, die darin steckt, daß einem vernünftigen Teilnehmer von vornherein die Chance genommen wird, seine Vernunft zum Zuge zu bringen. Dies zu zeigen liegt i m Zivilprozeß näher als i m Strafprozeß. Die Analyseform ist also nicht auf bestimmte Kommunikationssituationen eingeschränkt. Zum Zivilprozeß w i l l ich einige eigene Beobachtungen anschließen, da diese A r t von Lernen aus einem darin vorbildlichen Text die einzig adäquate ist. Die am Prozeß Beteiligten dürfen nach den Gepflogenheiten ihre Interessen nicht nennen. Richter und Rechtsanwälte unterhalten sich normalerweise nicht über ihre materiellen Interessen am geringen Arbeitsaufwand, an Geibühren, Prestige etc. — Redlichkeit kann gegenseitig nicht unterstellt werden, da auch unausgesprochene Interessen das Verhalten steuern können (harmlosester Fall: Exceptio mandantis praesentis). — Bei Kollegialgerichten ist nicht einmal sicher, daß sich die Entscheidenden am Gespräch beteiligen. Das wichtigste Prozeßgeschehen, die U r teilsberatung, bleibt der Mehrzahl der Beteiligten i n der Regel verborgen. — Der Anwaltszwang ist geeignet, die wirklichen Äußerungen der Naturalparteien zu verdrängen. Die verbreitete Angst vor den Anwaltskosten läßt viele schon gar nicht i n den Prozeß eintreten. — Die Fachsprache verdrängt die Umgangssprache. Schon das beim Rechtsanwalt zu unterschreibende Vollmachtsformular für den Landgerichtsprozeß ist nicht verständlich; die Sprachformen bei einer Konventionalscheidung müssen wie Theaterrollen auswendig gelernt werden. — Die Repräsentation ist schichtenspezifisch. Hochdeutsch sprechende, mittelständische Akademiker als Anwälte sollen eine Bürgerschaft vertreten, die zur Hälfte aus

4. Rottleuthners Interaktionsanalyse

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Arbeitern besteht. — Individualität von Personen und Fällen w i r d durch den Anwaltszwang mediatisiert. Wer etwas Ausgefallenes („Verrücktes") w i l l , w i r d schwer einen A n w a l t finden. Auch sonst sind Abweichungen zwischen Parteiinformationen und Anwaltsvortrag sehr häufig. — Situat i v ist i m Prozeß schon durch die Roben klargestellt, daß die Juristen nicht reine Vertreter oder Funktionsträger sind, sondern eine Gruppe für sich. Die zwei Parteien stehen — unter sich zerstritten — hilflos einer Versammlung von fünf Robenträgern gegenüber. — Die Relevanz der tatsächlichen Gesprächssituation i m Prozeß bleibt unklar, da das Verhältnis von Schriftlichem und Mündlichem zueinander den Parteien nicht geläufig ist. — Der Anwaltszwang widerspricht dem B i l d vom mündigen Bürger und ist auch nach dem Grundgesetz nicht zu begründen. , Die Relevanz solcher Fakten für die Chance von Konsensgewinnung i n vernünftigen Gesprächen ist plausibel. Hatte Rottleuthner für den Strafprozeß die Beobachtungen an den Gesichtspunkten der Asymmetrie und der Pathologie der richterlichen Rolle orientiert, so scheinen für den Zivilprozeß folgende Probleme wichtiger: die Unsicherheit der Parteien über die eigene Rolle (ζ. B. i m Verhältnis zum eigenen Anwalt), über die kommunikative Bedeutung von Äußerungen (vgl. das Verhältnis von schriftlich und mündlich), über die Rollenwahrnehmung der übrigen Beteiligten (ist der Richter neutral? N i m m t der A n w a l t eigene Interessen wahr? Ist der Beisitzer geistesabwesend? Oder sind alle hauptsächlich arrogante Juristen, für die der Fall schon klar ist, bevor der Laie auch nur gesprochen hat?); die Verdrängung naheliegender Gesprächsinhalte (eigene Interessen der Verfahrensfunktionäre; Gespräche über Sachund Rechtslage zwischen den Richtern). Man gewinnt geradezu den Eindruck, der Justizbetrieb sei das ideale Entwicklungsfeld für Kategorien verzerrter Kommunikation. Brauchbare Hinweise zu solchen Analysen gibt die soziologische Rollentheorie. Man denke ζ. B. an die Polizisten, die i n ihrer gesamten Ausbildung auf Entschlußfreudigkeit und A k t i v i t ä t h i n ausgerichtet werden, und eben nicht auf präzise Wiedergabe fremder Willensäußerungen und Beschreibungen; das Protokollieren von Anzeigen stellt daher Ansprüche an sie, die sie möglicherweise schwerer erfüllen als irgend jemand sonst. Man denke auch an die Rolle des Opfers i m Strafprozeß, das als Zeuge auftritt und von dem nach der StPO i m Falle seiner Aussagebereitschaft völlige Unparteilichkeit erwartet wird. Entscheidungen i n Verfahren m i t solchen Randbedingungen müssen unter dem Verdacht stehen, auf ungenügender Situationserfassung zu basieren. Weiterhin sind wichtig die Kategorien der i n der Entwicklung begriffenen Kommunikationstheorie, wie sie i n der Darstellung von Watzlawik (1974) begriffen wird. Die hauptsächlichen Voraussetzungen gelingender Kommunikation sind danach, daß

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I V . Verlaufsmodelle von Argumentationen

man über alles sprechen kann, daß der Bartner zuhört, daß Redlichkeit unterstellt wird, daß keine durch Paradoxie unerfüllbaren Forderungen erhoben werden. 5. Analytische Fruchtbarkeit von Verlaufsmodellen Es könnte so scheinen als ob die zuletzt kontrastierten Verlaufsmodelle grundverschieden seien. Der verbindende Gesichtspunkt ist aber höchst wichtig. I n Verlaufsmodellen w i r d die Realität von Handlungen thematisiert. Das bedeutet, daß auch i n recht formal wirkenden Modellen die Fragen der Rollenorganisation nicht fehlen. Dafür ein Beispiel: Priester nennt als einen Schritt „Feststellung aller möglichen Ergebnisse der Handlungen. Für jede Handlungsmöglichkeit sind die denkbaren Ergebnisse festzustellen" (1972, S. 58). Versucht man, dieser Anforderung optimal zu genügen, so muß man sich über die organisatorischen Bedingungen von Prognostik Gedanken machen. Die Rollenanalyse t r i t t hier i n i h r Recht. Versuchte man umgekehrt die Beobachtungen Rottleuthners für eine Vielfalt von Verfahren zu verallgemeinern, so wäre die umgekehrte Entwicklung i n der Darstellung die Folge. Die Asymmetrie müßte zunehmend an Verfahren i m ganzen gezeigt werden und damit rückte die formale Bezeichnung einzelner Phasen i n den Vordergrund. Die Thematisierung von Handlungen i n Verlaufsmodellen bedingt deren analytische Fruchtbarkeit. Sie geben eine Folie ab, auf der sich die Probleme realer Argumentation abzeichnen. Die Chronologie ist durch ihre Üblichkeit bei der Strukturierung von Erfahrungsdarstellungen und Prognosen optimal zum Erfassen von Problemen. Dies läßt sich an Anfang, Mitte und Ende von Argumentation zeigen. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit sollen i m folgenden dazu einige Belege geliefert werden. Zuerst sollen einige Überlegungen zur Findung von Argumenten, also zur Heuristik, angestellt werden. Weiterhin kann man sich mit der W i r kung von Argumenten beschäftigen, wie sie sich darstellt, wenn man die idealistische Unterstellung bzw. das normative Postulat beiseite läßt, A r gumente wirkten durch ihre Vernünftigkeit. Zu den Nachprozessen ist wenig zu sagen. Das ins Bewußtsein zu heben ist ebenfalls eine Leistung des Verlaufsmodells als heuristisches Schema. 6. Heuristik Noch in stärkerem Maße als „Argumentation" stand bisher der Be-* griff „Heuristik" jedermann zur freien Verfügung. Auch die juristische Dogmatik wurde als heuristische Methode der Entscheidungsfindung bezeichnet, weil sie eine Speicherung begrifflicher Möglichkeiten darstellt. I n einem so weiten Sinne ist alles, was geistige Prozesse fördert, Heuristik.

6. Heuristik

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A n dieser Stelle kommt es nur darauf an, gegen die verbreitete, aus dem Neopositivismus erwachsene Meinung Stellung zu nehmen, Heuristik sei kein Gegenstand von Wissenschaft. Argumentationstheorie muß sich m i t diesem Problembereich beschäftigen und kann ihn nicht als erledigt oder nicht einschlägig abweisen. Da es aber eine überzeugende Darstellung der Heuristik, auf die man verweisen könnte, nicht gibt, seien hier exemplarische Überlegungen angestellt. Es läßt sich nämlich zeigen, daß mehr als nur Ansätze oder Elemente einer wissenschaftlichen Heuristik erarbeitet sind. Diesen Sachverhalt hat Spinner i n „Pluralismus als Erkenntnismodell" (1974, S. 174 ff.) ins Bewußtsein gehoben. Wichtig ist hier, daß einige Aussagen zur Heuristik, die meistens auf anderem als auf geisteswissenschaftlichem Beispielsmaterial beruhen, als Denkanstöße zu analogen Überlegungen i m hier interessierenden Bereich nützlich sind. a) Für logische wie mathematische Probleme gilt, daß sie ζ. T. Beweise erfordern, die i n der tatsächlichen wissenschaftlichen Arbeit nur durch plötzliche Beweisideen eingeleitet werden können. Für die moderne Logik hat Serebrjannikov i n seiner Monographie „Heuristische Prinzipien und logische Kalküle" (1974) versucht, diese Mißlichkeit zu ändern. Leider ist seine Arbeit i n ihrer Bedeutung und i n ihren Ergebnissen für Nichtfachleute nicht abschätzbar, ja kaum lesbar. Eine Diskussion oder Aufnahme seiner Gedanken ist m i r nicht bekannt geworden (so auch Wessel 1972, S. 23). Seine Grundlage ist die logische Rekonstruktion der Methoden des Lösens von Aufgaben durch Kalkülisierung heuristischer Prinzipien. Es geht zunächst um das Auffinden einer Lösungsidee i n Form eines mehr oder weniger detaillierten Schemas der Lösungsmöglichkeiten überhaupt, so dann darum, gewissermaßen die freien Zeilen aufzufüllen, um die wirkliche Lösung zu finden, und schließlich um Kriterien der Nichttrivialität, also u m das Aussieben der uninteressanten, trivialen Aufgaben. Daran ist interessant, daß tatsächlich die durch die A r t der Aufgaben präjudizierten generellen Formen ihrer Lösungen vielfach erste formale Beschreibungen ermöglichen, die bereits einen Schritt vorwärts bedeuten. Wer ein Argument sucht, erwartet als Lösung einen indikativischen Satz, nicht eine Handlung, und auch nicht einen Satz i m Konjunktiv. — Uber Nichttrivialität läßt sich i n realen Argumentationen scheinbar wenig diskutieren. Dieser Eindruck trügt. Sicher sind Begründungen, wie sie die Topik vorzüglich beschäftigen, nicht trivial. Wo aber geht bei der Umformulierung von Texten aller Sinngehalt verloren und wo t r i t t neuer hinzu? Umformulierung wie Kürzung sind i n der Praxis ein wichtiges Problemfeld durch die A r t , wie i n der juristischen Literatur m i t Belegen und Leitsätzen gearbeitet wird. Verändert sich ein Satz ζ. B. i n seinem Sinngehalt, wenn man eine schlichte Bejahung anstelle einer doppelten Verneinung setzt?

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I V . Verlaufsmodelle von Argumentationen

Hier hat man Schritte von jener geringen Reichweite vor sich, wie sie i n logischen Ableitungen vorherrschen. Ihre Betrachtung stellt klar, daß bei fortschreitender Umformulierung immer wieder zu lernen ist, wie wenig unsere Sprache der Logik folgt. Auch bei sehr kurzen Schlußschritten darf man nicht der Suggestion logischer Stringenz verfallen. Was hier vorab negativ formuliert war, hat freilich seine positive Kehrseite: Schrittweises Umformulieren, das eingeübt werden kann, stellt ein kontrollierbares Verfahren zur Gewinnung neuer Inhalte dar. Wechsel der Darstellungsform hebt ins Bewußtsein, m i t welchen Assoziationsfeldern Terminologien wie syntaktische Fügungen verknüpft sind, und ermöglicht die Assoziationen entspringende Vielheit von Argumenten zu verwerten. b) Damit verwandt sind die i n den Wirtschaftswissenschaften eingeführten heuristischen Verfahren. Hier stehen inzwischen mathematische Entscheidungsmodelle i m großen Umfang zur Verfügung, die i n Annäherung an Realsituationen einen solchen Grad der Komplexität erreicht haben, daß nicht immer geeignete Algorithmen zur Lösung der eingegebenen Aufgaben zur Verfügung stehen. I n solchen Fällen kann man versuchen, durch systematisches Probieren unter Anwendung bestimmter Regeln die optimale Lösung zu finden (Hax 1974, S. 93). Die scheinbare contradictio i n adjecto „Systematisches Probieren" löst sich durch H i n weis auf die Tatsache auf, daß das Repertoire der zu erwartenden Lösungen immer kleiner ist als die Gesamtheit aller denkbaren. Dabei interessieren i n den Wirtschaftwissenschaften vor allem die sog. Optimierungsfragen, die i n den übrigen Sozialwissenschaften keine Entsprechung haben. Für die Jurisprudenz läßt sich dennoch daraus lernen, da es i n i h r der Normalfall ist, daß kein Algorithmus zur Lösung von Problemen zur Verfügung steht. Es wäre ein großer Fortschritt, wenn wenigstens einige der i n Frage kommenden Lösungen i n allen ihren Verzweigungen durchgespielt würden. Die traditionelle Ausbildung, der auch die Urteilsbegründungen weithin entsprechen, verbietet das aber. Hier kann nur ein Gedankengang abgebildet werden, und es können nicht mehrere Varianten nebeneinandergestellt werden, u m anschließend i n rückschauender Selektion das günstigste zu finden. Für eine Diskussion der realen Folgen eines Urteils, aus der es nach neuerer Doktrin seine wirkliche Überzeugungskraft bezieht, ist ein systematisches Probieren verschiedener Möglichkeiten unabdingbar. Auch ist dort, wo Volkswirtschaftler auf Grund der relativen Homogenität ihrer Bewertungskriterien einfache Optimierungsfragen behandeln, bei den Juristen immer m i t einer Vielzahl von Kriterien zu rechnen. Systematisches Probieren ist auch deshalb nötig, weil sich bei juristischen Problemen häufig erst anläßlich der Durchsicht der Varianten Vielfalt ergibt, welche K r i terien für die Lösungswahl herangezogen werden können.

6. Heuristik

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c) Neben diesem auf die technische Struktur von Entscheidungsvorgängen ausgerichteten Blickpunkt ist auch ein individualpsychologischer denkbar. Dabei ist allerdings die mit Kreativität befaßte Literatur wenig ergiebig. Diese Aussage kann hier aus Umfangsgründen nicht weiter belegt werden. Anders die Literatur zum „Produktiven Denken". Ich greife auch hier nur eine Stelle heraus, wo sich die Verwendungsmöglichkeit von Diskussionsergebnissen auch für den juristischen Bereich i n Entsprechung zeigen läßt. Duncker beschäftigt sich i n seiner Schrift „ Z u r Psychologie des produktiven Denkens" (1963) m i t der heuristischen Funktion von Figuren und Modellen. Er meint, es sei deren abkürzende Wirkung, die posit i v wirke (S. 32). Richtiger erscheint, daß auch hier der Effekt der Variation neue gedankliche Zugänge schafft. Praktischer Hauptfall solcher Variation ist die Umformulierung von Problemen. Das zeigt sich m. E. auch bei der von Duncker diskutierten sog. „Dreizehner-Aufgabe" (S. 37 ff., alle Zahlen von der Form abcabc, also ζ. B. 941941, sind durch 13 dividierbar; Beweis?). Duncker nimmt an, m i t der Herausarbeitung des Teilers 1001 sei die eigentliche Schwierigkeit der Aufgabe geleistet. I m Sinne systematischer Heuristik ist es wohl wichtiger darauf hinzuweisen, daß sich die Form der Aufgabenstellung so kurz und übersichtlich nur i n unserem System der Darstellung von Zahlen durch Stellenwerte i m Zehner-Potenz-System geben läßt. I n einem binären System läßt sich die Aufgabe nur durch Aufzählung aller i n Frage kommenden Ziffern stellen. Dementsprechend liegt es nahe, die Herausarbeitung des Teilers 1001, also die Weichenstellung zur Lösungsfindung, durch eine Schreibung der fraglichen Ziffern als Summen von Zehnerpotenzen anzusteuern. Der Versuch einer Umformulierung der Aufgabenstellung gibt H i n weise auf die konstitutiven Elemente, die für die Lösung wichtig sind. Wenn dieser Punkt nicht erfaßt wird, dann kann das Spezifikum methodischer Problemlösungsfindung nicht angegeben werden. Dafür liefert ein Beispiel Kummer, der die Dreizehner-Aufgabe analysiert und die Problematik der Lösungsfindung einfach m i t dem Satz übergeht: „ I t turns out t h a t . . . (Kummer 1972, S. 30). I n dogmatischen juristischen Problemstellungen bedeutet es häufig einen entscheidenden Fortschritt, wenn man sich klargemacht hat, welche dogmatischen Eingriffe explizit oder implizit die Problemstellung formulieren. Damit verbinden sich häufig solche Vorstellungsfiguren, wie sie beliebtes Thema der Gestaltspsychologie sind. Man denke etwa an das Sprechen von „innen" und „außen" i m Zusammenhang m i t Haftungsproblemen i n Dreiecksverhältnissen. Bemerkenswert ist auch Dunckers Hinweis, daß lange Darstellungen häufig heuristisch günstiger sind als kurze (a.a.O. S. 55). Dabei genügt es aber nicht, hier bloß den Vorteil einer sog. „organischen Darstellung"

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I V . Verlaufsmodelle von Argumentationen

(Duncker) zu nennen, sondern man muß beachten, daß Redundanz meist einhergeht m i t der Chance größerer Assoziationenvielfalt. I n juristischen Problemen geben ausführlichere Sachverhaltsdarstellungen nicht nur bei den zusätzlich genannten Einzelheiten Ansatzpunkte zu rechtlichen Überlegungen, sondern sie rufen auch betreffend der Kernstrukturen des Falles wegen der größeren Assoziationenzahl mehr einschlägige Normen und mögliche Konstruktionen ins Gedächtnis. d) Von der Gestaltspsychologie läßt sich eine Verbindungslinie zu der Diskussion um die Fortschritte i n den Wissenschaften ziehen, die als Beispielsmaterial hauptsächlich naturwissenschaftliche Entwicklungen über Jahrzehnte und Jahrhunderte hinweg benutzt hat. Der Ubergang von der Vorstellung kreisförmiger zu ellyptischen Planetenbahnen läßt sich ebenso als ein Beispiel der Gestaltspsychologie interpretieren wie als ein Beispiel jenes dichten Zusammenspieles von Theorien, Begriffen, Experimenten und Weltanschauungen, das reale Naturwissenschaftsgeschichte bestimmt hat. Lange Zeit existierte eine zum Gemeingut gewordene positivistische Methodologie, dergegenüber der reale Verlauf der naturwissenschaftlichen Erkenntnisfortschritte als Uberwindung von Dummheit, Aberglauben und technischer Inkompetenz interpretiert werden konnte. Auch eine Darstellung wie ζ. B. Hansons „Patters Of Discovery" (1959) veränderte die Lage wenig, obwohl i n i h r das Zusammenwirken von Begrifflichkeit und Theorieformulierung m i t Beobachtungen und Experimenten i m naturwissenschaftlichen Fortschritt vorzüglich dargestellt war. Fehlleitende Theorien blieben nach verbreiteter Vorstellung Störquellen, die ein guter Methodiker der Naturwissenschaften von vornherein hätte ausschalten müssen. Erst m i t Kuhns Entwurf der „Struktur wissenschaftlicher Revolutionen" stellte sich die Frage unausweichlich, ob nicht naturwissenschaftlicher Fortschritt insgesamt angebbaren anderen Gesetzen gehorche als einer zunehmenden Annäherung an die vorgegebene Wahrheit und Wirklichkeit. Bis dahin war die Diskussion für einen Geisteswissenschaftler nicht sonderlich interessant. Dort verhielt es sich gerade umgekehrt, nämlich so, daß nicht erst die Relevanz von Begriffen und Theorien zu erweisen war, sondern weithin die idealistische Vorstellung herrschte, die zunehmende Entwicklung von Begriffen und Einsichten benötige kein Anschauungsmaterial und sei auch von sozialen Hintergründen unabhängig. Auch wenn man dies i n dieser Schärfe meistens nicht zugegeben hätte, so ist nur so der durchschnittliche Typus von philologisch-historischer Philosophenliteratur verständlich, der jeden Rück- und Seitenblick auf die sozialen Entstehungsbedingungen vermissen läßt. Die naturwissenschaftlich orientierte Diskussion hat ihre Weiterentwicklung namentlich durch Lakatos' Idee eines wissenschaftlichen Forschungsprogramms genommen, und ist zur Zeit noch

6. Heuristik

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lebhaft i m Gang. K u h n hatte nicht befriedigend darstellen können, aus welchen Gründen oder i n welchen Zeiträumen es zum Wechsel von Paradigmen kommt. Damit war i n der Tat ein Irrationalismus des Wissenschaftsprozesses behauptet, der einen Teil der großen Beachtung verständlich macht, die Kuhns Werk erfahren hat. Lakatos (1974) versucht hier Verfeinerungen. I h m zufolge sind naturwissenschaftliche Theorien Forschungsprogramme, an denen festgehalten wird, so lange sie wenigstens unter anderem oder mehrheitlich konsistente und plausible Ergebnisse abwerfen. I m Hinblick darauf werde ein gewisses Maß an offenen Problemen und widersprechenden Beobachtungen hingenommen. Man braucht das hier nicht weiter zu verfolgen, da der Vergleich m i t der Jurisprudenz möglich ist, die sich i n einem Übergangsstadium von Geisteswissenschaft zur Sozialwissenschaft befindet. Betrachten w i r als ein Beispiel für ein Forschungsprogramm die marxistischen Grundideen. Ihre konkreten Teiltheorien stimulieren derzeit immer neue Forschungen, die zu plausiblen Ergebnissen führen. Die Idee z. B. des Vorranges der Innen- vor der Außenpolitik oder der gegenseitigen Abhängigkeit von Staat und Wirtschaft ermöglicht Interpretation von geschichtlichen Daten, die bisher nur beschrieben werden konnten. Die Theorie, Recht begünstige die obere und namentlich die herrschende Schicht, hat sich bei der Analyse großer Rechtskomplexe bewährt und ist immer noch Generator neuer Erkenntnisse. Diese sind zwar nicht völlig konsistent und widerspruchsfrei, aber man befindet sich immer noch i m Stadium des zunehmenden Entfaltens jener Theorien. Man vergleiche etwa neuestens die „Theorie des Familienrechts" von Heinsohn und Knieper (Ffm. 1974). Hinweise auf manche unstimmigen Prognosen und nicht interpretierbare Phänomene verschlagen nicht. Ein Theorienset wie der Marxismus i n seiner heutigen Variationsbreite läßt sich nicht durch ein einziges Gegenbeispiel falsifizieren, wie sich nach vulgärpositivistischer Vorstellung eine naturwissenschaftliche Theorie durch das Ergebnis eines Experimentes falsifizieren läßt. Deshalb können auch entgegengesetzte Vorstellungen nebeneinander bestehen. Sonst müßte man annehmen, daß die Diskussion sich auf die Auseinandersetzung konzentrieren müßte zwischen der grundlegenden Vorstellung von der Abhängigkeit des Bewußtseins vom Sein und der umgekehrten Idee der steuernden K r a f t von geistigen Phänomenen i m sozialen Geschehen. Tatsächlich ist aber die Auseinandersetzung zwischen marxistischem Gedankengut und der These i n Max Webers „Der Geist des Kapitalismus und die protestantische Ethik" seit Jahrzehnten unentschieden. Die Richtigkeit einer Grundannahme erweist sich als weniger wichtig als die Fruchtbarkeit.

6 Struck

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I V . Verlaufsmodelle von Argumentationen

7. Funktionalistische Betrachtung von Argumenten Betrachtet man Verlaufsmodelle, so zeigt sich deutlicher als sonst die mögliche Funktionalisierung von Argumenten. Was an Argumentenstelle steht, fungiert auch als Argument — was immer es sei. Das verweist auf den Übergang von hinzutretendem neuem Begründungsinhalt und bloßer Wiederholung des bekannten. Man darf für keine juristische Textsorte das Verhältnis von Wiederholung und Begründung für ausgemacht halten. Vielleicht ist die normale Begründung unter Juristen dafür, daß Sokrates sterblich ist, daß er eben sterblich ist. Dieser Verdacht bezieht sich aber nicht nur auf das herkömmliche Auslegungsgeschäft, das gedacht sein mußte als bloße Wiederholung eines gegebenen kurzen Gesetzestextes m i t ausführlicheren Worten. Einerseits ist das, was der Form nach bloße Auslegung ist, durchdrungen von argumentativen Elementen, aber genauso gut ist andererseits das, was sich der Form nach als Argument darstellt, häufig nur Paraphrasierung. Das Beherrschen dieses M i t tels i n echten Verhandlungssituationen ist für die juristische Berufspraxis sehr wichtig; so ζ. B. für den Zivilrichter wegen der Vorzüge des Herbeiführens eines Vergleichs. I n Vergleichsgesprächen stehen nebeneinander Überlegungen zu Tauschbeziehungen zwischen Wertobjekten, Argumente zur rechtlichen wie psychischen Lage, und dazu kommen reine Überredungssätze. Viel hängt davon ab, ob man die Kunst beherrscht, je nach Günstigkeit das eine für das andere oder für das dritte aufzugeben. Dabei können die Rollen sehr verschieden sein. Der Richter kann Gerechtigkeit ζ. B. auch dadurch intendieren, daß er zum Zwecke der Streitvermeidung über die gerechte Lösung schweigt und seine Vorstellungen als reine Überredungsmanöver einkleidet. Üblicher ist es aber, daß die undurchschaubare materielle Lage und das immer nötige Überredungsmoment i n Form von Argumenten eingeführt werden. Für die Praxis wäre es wichtig, zu wissen, wann man welche Sprachformen m i t welchem Effekt wählt. Darüber kann weitere empirische Forschung Auskunft geben. Hier sind verschiedene Wege denkbar. Einmal ist auf die große Zahl von Untersuchungen über Verhandeln hinzuweisen, über die L a m m den sozialpsychologischen Literaturbericht „Analysen des Verhandeins" (1975) vorgelegt hat. Die dort verzeichneten Ergebnisse sind zwar nicht auf die Jurisprudenz direkt übertragbar, aber die Entwicklung ist i m Fluß. Wo Feldforschung fehlt, sind Laborexperimente zumindest zum Zwecke der Hypothesenbildung brauchbar. Lamm referiert ausschließlich fingierte Verhandlungssituationen, i n denen sich alle Elemente variieren lassen, wie ζ. B. Sanktionen, Zeitdruck, Persönlichkeitseigenschaften, Sprachstil usw. Diese Forschungen beziehen sich aber noch nicht auf die Prozesse des Aushandelns, also nicht auf Verhandeln i m weiten Sin-

8. Nachprozesse

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ne, den das Wort i m deutschen hat (S. 21). Es geht immer u m Verhandlungen über Objekte, nicht über Beurteilungsfragen, während doch i n realen Situationen immer Bewertungskonflikte i n das Aushandeln einbezogen werden (S. 29). Realität hingegen kann man untersuchen m i t Hilfe der soziologischen Inhaltsanalyse. Das hat Eichenhofer als „Frequenzanalytische Untersuchungen juristischer Argumentation" (1974) bezeichnet und anhand der Debatte u m die Rechtslage bei den Berufsverboten als fruchtbar erwiesen. Das Beispiel zeigt m i t aller Deutlichkeit, daß juristische Argumentation nicht immer fortschreitend auf Ergebnisse hinzielt, sondern teilweise i m bloßen Schlagabtausch verharrt. Man könnte ferner meinen, über Verhandeln sei viel von der Berufsausbildung der Manager zu lernen. I n der Literatur findet man dazu allerdings nur theorielose Appelle und Faustregeln, und zwar auch von Autoren (Goossens, 1974, Nierenberg, 1972, Weller), die von ihren Verlegern i n Klappentexten als erfolgreiche Trainer von Managern geschildert werden. 8. Nachprozesse Verlaufsmodelle verweisen auf die Phase, die sich an die formulierte Entscheidungsbildung anschließt. Was und wie w i r d für die Zukunft gelernt, was w i r d verdrängt, was w i r d psychisch i n der Zukunft verstärkt? Zu diesen wichtigen Fragen liegen zur Zeit nur wenig fundierte Aussagen vor, daß die oben gemachte Andeutung hier nur wiederholt werden kann. Verlaufsmodelle heben die Notwendigkeit weiterer Empirie ins Bewußtsein.

5. Kapitel

Letztbegründungen — Bemerkungen zur Erkenntnistheorie I n den nächsten zwei Kapiteln sollen einige wichtige theoretische A n sätze (u. a. kritischer Rationalismus, universalierte Hermeneutik, Frankfurter und Erlanger Schule), die ich i n diesem Text mit dem üblich gewordenen Ausdruck Theorie bezeichnen w i l l , daraufhin untersucht werden, inwieweit sich durch sie letzte Begründungen geben lassen. Der Terminus Letztbegründung spielt an auf die Ableitung i n Begründungshierarchien. Dabei bewahrt er die i n der Sache liegende Zweideutigkeit. Gemeint sein können die letzten Begründungen, die uns noch zugänglich sind oder auch die Begründungen, die als letzte Stufe zu denken sind und für die es weitere Begründung nicht mehr gibt. Der Gemeinplatz, letzte Begründungen ließen sich nicht geben, macht von einer voreiligen Entscheidung über den Wortsinn Gebrauch. Ein Beispiel: Dafür, daß Recht letztlich der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse dienen soll, läßt sich ein Grund nicht mehr angeben; in jenem Sinne fehlt eine Letztbegründung. Dieser täuschungsfrei zustande gekommene Basiskonsens ist aber selbst die Letztbegründung, und der — i n Diskussionen häufig zu hörende — bedauernde Hinweis auf das Fehlen einer weiteren Begründung ist metaphysisch. Zuerst erscheint es zur Darstellung zweckdienlich, die Lage i n der modernen Logik zusammenhängend zu erörtern, da sie i n verschiedenen Theorieansätzen letztlich eine zentrale Rolle spielt. Es kann hier nicht versucht werden, eine Auswahl zwischen den Theorien i n jenem Sinne zu treffen, i n dem der Positivismusstreit gewöhnlich verstanden wurde. Die eine ist nicht „richtig" und alles andere ist nicht „falsch". Nur durch die Kürze der Darstellung klingt manches unbescheidener als es gemeint ist. Sachlich w i r d man zu unterscheiden haben zwischen Theorien, die als Erkenntnistheorien und solchen, die als Gesellschaftstheorien gedacht sind. Damit soll nicht behauptet werden, daß diese beiden Gruppen sich scharf trennen ließen, aber Akzentuierungen sind immerhin möglich. I m Neopositivismus und i m kritischen Rationalismus, für die Logik wesentlich ist, fällt — grob gesprochen — praktisches Handeln und Entscheiden i n einen Freiraum von Dezision. Das ist der Sache nach zwar Gesellschaftstheorie, aber unausgeführte und i n Negation verharrende. A n -

1. Z u r L o g i k

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dererseits w i r d i m Marxismus der eigene Status als Erkenntnistheorie engagiert verteidigt, obwohl das spezifisch Marxistische seiner erkenntnistheoretischen Sätze oft nicht zu sehen ist. Die Unterscheidung kann hier nur Zwecken der Disposition dienen. Die Darstellung der verschiedenen Theorien interessiert hier vor allem unter dem Gesichtspunkt ihrer Abgeschlossenheit als Entwurf einer ausreichenden Begründung für solche Entscheidungen, wie sie i n der Rechtswissenschaft ansteht. Argumentation selbst soll als das zu erklärende Phänomen, als Testfall für verschiedene Theorieansätze betrachtet werden. Als soziales Phänomen ist sie wichtig genug, um auf diese Weise doch wieder zu Relevanzeinschätzungen zu kommen. A u f diese A r t werden dann auch einige Einsichten über Argumentation selbst zu gewinnen sein. Das Verfahren i n den folgenden beiden Kapiteln ist also der Zirkularität verdächtig: Die Theorien werden diskutiert, aber bereits unter dem Gesichtspunkt „Argumentation". Das setzt voraus, daß Argumentation ein Realphänomen ist. Wenn ζ. B. ein K r i t i k e r annimmt, daß es jenseits von wissenschaftlicher Empirie nur Überredung, aber keine Begründung gibt, dann ist damit das Verfahren für i h n als unbrauchbar abgetan. Daher kann man sich nicht darauf beschränken, einige Schwächen der Theorieansätze zu nennen, sondern man muß zugleich positiv aufzeigen, daß Argumentation doch i n diesen Theorieansätzen explizit oder implizit thematisiert ist. Das hat auch technische Vorteile. Einerseits wäre es unmöglich, die Fülle von Diskussionsstoff i n einer Monographie zu verarbeiten, wenn man sich mit allen Theorien vollständig auseinandersetzen wollte. A n dererseits kann so die sekundäre Zielsetzung der Arbeit am besten verfolgt werden, nämlich Referat und Diskussion der zu Argumentation einschlägigen Literatur. 1. Zur Logik Es empfiehlt sich, zunächst eine Diskussion der Logik zu beginnen, obwohl diese gemeinhin nicht als Theorienansatz m i t gesellschaftstheoretischen Qualitäten gedacht wird. I n sehr vielen Darstellungen fungiert sie als der archimedische Punkt aller Überlegungen, und explizite Zweifel ζ. B. hinsichtlich der Relevanz und Allgemeingültigkeit des Prinzips der Widerspruchsfreiheit rufen höchstens Verwunderung, ja sogar Erschrecken hervor. Logik ist „die" Argumentationstheorie; fast alle, die von Argumentation sprechen, rekurrieren i n Beispielsfällen auf logische Strukturen. Was hat es damit auf sich? a) U m Mißverständnisse abzuwehren, sei zuerst gewarnt vor dem unsinnigen Terminus „Sachlogik", der leider i n der juristischen methodischen Literatur vorkommt (vgl. Esser 1972, S. 109) und m i t dem einige

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V. Letztbegründungen — Bemerkungen zur

etstheorie

Autoren dunkel quasi-naturrechtliche Inhalte verbinden. W i l l man „Sachlogik" als bloße Bezeichnung für den Umstand verwenden, daß es manchmal überzeugende Argumente gibt, dann ist das Wort durch die überraschende Verbindung seiner beiden Bestandteile überzogen und es verdinglicht durch seine substantivische Form unnötig. b) Aber noch weitergehend ist die Bekämpfung von gängigen Mißverständnissen nötig. Häufig w i r d m i t einem antiquierten Verständnis von Logik operiert. Dieter Simon spricht treffend von der „majestätischen Verachtung der gesamten neueren Logik seit G. Frege durch J u ristische Logiker'" (1975, S. 91). Nun ist die Verachtung der neueren Logik bei Wissenschaftlern anderer Disziplinen meist auch nicht geringer, aber die verstärkte Polemik gegen die Unkenntnis der Juristen ist berechtigt wegen der Häufigkeit, m i t der Juristen das Wort „logisch" gebrauchen. Die gängige Vorstellung von Logik w i r d wohl am besten m i t dem Titel „Traditionelle Logik für Juristen" bezeichnet, den Diederichsen für seine referierende Rezension von Schneiders „Logik für Juristen" gewählt hat (Diederichsen 1970). Hier werden die Lehren von Begriff, U r teil, von den logischen Fehlschlüssen und von der Definition i n hergebrachter Weise abgehandelt und deren Anwendbarkeit auch i m Gebiet der Jurisprudenz dargestellt. Logik erscheint als die Lehre vom richtigen Denken, und Diederichsen teilt Schneiders Auffassung, „daß Rechtswissenschaft ohne bewußtes logisches Denken nicht möglich ist" (S. 3). Danach gibt es zwei Bereiche, den einen der Logik und Erkennens, und den anderen des Wertens und Fühlens, und beide schließen einander aus. Zum ersten gehört ferner als übliches Eigenschaftswort „objektiv", denn die Dinge dieser Welt richten sich nach den Gesetzen der Logik, zum zweiten „subjektiv", denn gewertet und gefühlt w i r d i n Freiheit. Die meisten i n jene traditionellen Schlußformen eingekleideten A r gumente sind tatsächlich dadurch einer gewissen Überprüfung ausgesetzt. Von dieser Funktion logischer Figuren war oben bereits die Rede. Allerdings fällt auf, wie häufig selbst bei den gegebenen Beispielen i n terpretative Spielräume übersehen werden. Diederichsen erläutert z. B. den Satz vom ausgeschlossenen Dritten: „Eine Klage kann nur zulässig oder unzulässig sein; eine dritte Möglichkeit scheidet aus" (a.a.O. S. 12). Dagegen ist zu sagen: Natürlich kann sie auch teilweise zulässig sein, prinzipiell kann die Zulässigkeit als irrelevant dahinstehen oder ZuIässigkeit kann i n mancher Hinsicht eine unsinnige Begriffsbildung sein. Doch ist die Interpretationsfähigkeit aller normativen Ausdrücke kein durchschlagender Einwand gegen die Wirksamkeit traditioneller Logik, denn i n vielen Fällen sind die Auslegungsspielräume belanglos und hier träte traditionelle Logik i n i h r Recht.

1. Z u r Logik

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c) Dabei kann man nicht stehenbleiben. Das liegt aber nicht an der starken Formalisierung der modernen Logik. Zu deren Rolle eine K l a r stellung: Die Ersetzung von Worten oder anderen Elementen der Wirklichkeit durch Zeichen ist Abbreviatur — oder die Zeichen sind nicht Repräsentant für etwas anderes, sondern führen ein Eigenleben. Formalisierungen müssen deshalb allein unter Gesichtspunkten der Opportunität betrachtet werden. Beiläufig sei bemerkt, daß i m Zuge der derzeit vorherrschenden analytisch-wissenschaftstheoretischen Grundströmung oft zu voreilig gemeint wird, Formalisierung sei auch für alle Zusammenhänge opportun. Umgekehrt beobachtet man auch unzulässige Vereinfachungen i n Texten von Logikern. Dafür nur ein Beispiel: „Natürlich kann die Umgangssprache nur formalisiert werden, wenn sie selbst eindeutig ist" (Siebel, Grundlagen der Logik, 1974, S. 17). Zum Kernproblem der Formalisierung eine instruktive Textstelle: Wagner und Haag übernehmen das gängige Beispiel für Verbalisierungsprobleme, nämlich den binomischen Satz. Bei ihnen lautet die Verbalisierung: „Das Quadrat der Summe zweier beliebiger reeller Zahlen ist gleich der Summe aus dem Quadrat der ersten Zahl, dem doppelten Produkt aus erster und zweiter Zahl, sowie aus dem Quadrat der zweiten Zahl" (1970, S. 13). I n Hasenjägers „Einführung i n die Grundbegriffe und Probleme der modernen Logik" (1962) liest man: „Das Quadrat einer Summe von zwei Zahlen stimmt überein m i t der dreigliedrigen Summe aus dem Quadrat der ersten Zahl, dem doppelten Produkt der beiden Zahlen und dem Quadrat der zweiten Zahl" (S. 13). Schon i n diesem gängigen Beispiel zeigt sich die Gefahr der Formalisierung: Wagner und Haag sprechen von „beliebigen reellen Zahlen", Hasenjäger von „Zahlen"; die genannten Autoren sind sich über die Bedeutung der Zeichenserie (α + b) 2 = α 2 + 2 ab + b 2 gerade nicht einig. Nach verbreiteter Vorstellung soll Formalisierung kraft Präzision leichtere Einigung über Bedeutungen herbeiführen. Viel häufiger beobachtet man indes, daß Formalisierung unterschiedliche Bedeutungen unkenntlich macht und auf diese A r t und Weise zu Einigkeit führt. Weiterhin ist bemerkenswert, daß die Musterbeispiele für Verbalisierungsschwierigkeiten aus dem Bereich der Mathematik gewählt werden. I n der Tat ist i n dieser Disziplin Formalisierung zweckmäßig. Ob als M i t t e l immer Zeichen am geeignetsten sind und ob nicht häufiger Zeichnungen zweckmäßig wären, stehe hier dahin. Bei juristischen Texten erleben w i r hingegen oft, daß Darstellungen von großer Präzision, i n der jeder Gedankenschritt expliziert ist, m i t Verbalisierungen auskommen. Nicht nur das — die Verbalisierungen fördern spätere Diskussionen (exemplarisch Podlech 1971, S. 202 - 207). Leider sind

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V. Letztbegründungen — Bemerkungen zur

etstheorie

solche Beispiele inzwischen seltener als das Gegenteil, nämlich die völl i g sinnlose Einführung von Formeln m i t drucktechnisch schwierigen Zeichen, m i t griechischen oder gotischen Lettern u. ä. m. (vgl. als Beispiel Rottleuthner 1975, S. 85 ff.). Zumindest wegen der nicht zu leugnenden Verwirrung auf dem Gebiet der Zeichenwahl (s. Wagner/Haag 1970, S. 109) sollte man nicht immer neue Zeichen i n Umlauf setzen. Wenn man das aber schon tut, dann sollte man nicht auf den Beweis von Zweckmäßigkeit und didaktischer Brauchbarkeit verzichten. Generell scheinen gerade die Logiker häufig der Suggestion der A n schaulichkeit unterlegen zu sein. Die Zeichen sehen schwarz auf weiß so präzise aus. Diese A r t Abstraktion ist sehr problematisch. Daß man ζ. B. Zahlen als Abstraktion anerkennt, ist eine situationsbezogene Konvention (vgl. Arnheim 1972, bes. S. 191 f.). d) Wenn dennoch immer wieder die Formalität für das entscheidende Zeichen moderner Logik genannt wird, dann deshalb, weil sie i n den letzten 100 Jahren gleichzeitig m i t dem entfaltet worden ist, was mit wechselndem Namen mathematische Logik, Logistik, moderne Logik usw. genannt und von Bochensky als „revolutionäre Neuerung" bezeichnet w i r d : „ A l l e anderen uns bekannten Gestalten der Logik bedienen sich einer abstraktiven Methode: die logischen Sätze werden durch A b straktion aus der natürlichen Sprache gewonnen. Die mathematischen Logiker verfahren i n entgegengesetzter Weise: sie konstruieren zuerst rein formalistische Systeme, und suchen erst nachher für sie eine Deutung i n der Alltagssprache. Freilich erscheint dieses Verfahren nicht immer rein; und auch w i r d es nicht unmöglich sein, gewisse i h m entsprechende Gedanken i n andere Gestalten der Logik zu finden"(1962, S. 311). Natürlich ist die moderne Logik auch durch eine große Zahl anderer Einsichten vorangebracht worden, aber die i m Zitat gekennzeichnete Entwicklung erscheint einem Außenstehenden als der Kern der Sache oder die treibende Kraft. Sie ermöglicht ζ. B. die Pluralbildung von Logik, also die Entwicklung einer deontischen Logik neben der traditionellen. Aber die Entfaltung des zunehmenden Verständnisses von Logik als reinem Zeichensystem ist noch i n vollem Gang. Jeder kann Zeichensysteme m i t dazugehörigen Regeln nach Gutdünken entwerfen und dann i n einem neuen Schritt eine Entsprechung dazu i n der U m welt suchen. Erschwert w i r d ein solches Verständnis dadurch, daß natürlich niemand tatsächlich willkürlich Logiken entwirft, sondern die Entwürfe immer bereits m i t einem Seitenblick auf jene Umweltbezirke und -phänomene gefertigt werden, für die sie als Formalisierung fungieren sollen. I n unserem Zusammenhang ist das Verhältnis von Zeichen und Worten wichtig. Hierzu w i r d allgemein angenommen, mehrdeutige Worte

1. Z u r Logik

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müßten durch mehrere Zeichen dargestellt werden und ein Begriff m i t wechselnden Konturen könne nicht i n die Logik eingehen. So jedenfalls lassen sich die Diskussionen u m das Wort Wahrscheinlichkeit interpretieren, für die auch heute noch Toulmins Klage gilt, daß bei den professionellen Wahrscheinlichkeitstheoretikern die Grundlagenfragen viel zu kurz kommen (Toulmin 1975, S. 44 ff.). Üblich ist der Hinweis, daß die logischen Zeichen nicht dazu bestimmt sind, umgangssprachliche Wörter genau wiederzugeben, sondern daß sie gewisse Nachlässigkeiten bei ihrer Verwendung abstellen sollen. Ein dafür beliebtes Beispiel liefert der Vergleich zwischen dem Allquantor und dem „alles" der Umganssprache (Toulmin 1975, S. 104; Ryle, Begriffskonflikte, Göttingen 1970, S. 147; vgl. Lorenzen 1974 b, S. 37). Danach kann „alles" als eine nachlässig verwendete Abart des Allquantors erscheinen. Dagegen ist einzuwenden, daß man gemeinhin, wenn von „allen" die Rede ist, gar nicht nachprüfen w i l l und kann, ob die gemachte Aussage auch wirklich auf alle zutrifft. Eine inhaltsanalytische Untersuchung würde sicher zeigen, daß i n den meisten Verwendungsfällen von „alles" es genügt, wenn die Aussagen auf alle wesentlichen Fälle oder auf die große Mehrheit oder auf alle bekannten oder normalen Fälle zutrifft. Das Wort „alles" hat eine eigene, eben andere Bedeutung als der Allquantor. Man muß aber noch einen Schritt weitergehen, wofür die Untersuchungen zur Bedeutung des Wortes „ist" als Beispiel dienen können. Der Vorzug der modernen Logik w i r d (Wagner/Haag 1975, S. 13) darin gesehen, daß ihre künstliche, ideale, d. h. nach logischen Grundsätzen aufgebaute Sprache Verwechslungen der verschiedenen Bedeutungen des Wortes „ist" bereits durch graphisch verschiedene Zeichen oder genaue Bestimmung ihrer syntaktischen Kategorie unmöglich macht. Es muß eben unterschieden werden zwischen der Identität. „Goethe ist der Verfasser des Faust" und einer Prädikation von der A r t „Goethe ist ein Dichter" usw. Demgegenüber beanspruchen Logiker, die übliche Kopula m i t solcher Inhaltsschärfe zu definieren, daß i n der Logik jede Zweideutigkeit vermieden ist. A n dieser Stelle ist hinzuweisen auf Gippers Untersuchung i n seiner Habilitationsschrift „Bausteine zur Sprachinhaltsforschung" (Gipper 1962, S. 174 ff.), der hier ein durchgreifendes Argument ausgearbeitet hat. Gipper hat folgende Beispielssätze i n 17 Sprachen übersetzen lassen: „Gott ist; Berlin ist die Hauptstadt Deutschlands; K ö l n ist eine Stadt; der Wal ist ein Säugetier; Hans ist klug; das ist rot; so ist es; 7 und 2 ist neun." Die Sprachen sind ausgehend vom Deutschen: Niederländisch, englisch, dänisch, schwedisch, französisch, italienisch, spanisch, rumänisch, lettisch, russisch, polnisch, serbokroatisch, finnisch, ungarisch, georgisch, türkisch, arabisch, chinesisch und japanisch. Die auf diese A r t und Weise erzeugte Satzmenge zeigt eine große Vielfalt. Keine Sprache

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V. Letztbegründungen — Bemerkungen zur

etstheorie

gleicht der anderen vollständig. Immer wieder haben die Ubersetzungssätze Sinne, die i m Deutschen nicht erfaßt sind. Um den Inhalt der deutschen Sätze klarzumachen, muß man ebenso ausführliche Kommentare geben, wie es bei den Ubersetzungsvarianten fremdsprachiger Sätze nötig ist. Eigentlich benötigte der Vergleich aller so gewonnener Sätze unendlich inhaltliche Kommentare. Ohne daß man damit metaphysische Erwägungen heranziehen müßte, läßt sich allein auf Grund des Ubersetzungsproblemes plastisch vorführen, daß es „den" Sinn des Wortes nicht gibt. Man kann also die Verwendung des deutschen Wortes „ist" nicht als eine nachlässig abgeschliffene Variante der logischen Kopula verstehen. Die Kopula ist selbst nur eine der vielen Bedeutungsvarianten von möglichen Aussagen des genannten Umkreises. Natürlich kann man den Logikern nicht das Hecht abstreiten, die Kopula i n ihrer Sprache, den formalen Zeichenkalkülen, zu verwenden; damit ist nur nichts besseres oder anderes erreicht als m i t jeder Wortverwendung irgendwo anders auch. Man w i r d vielleicht dagegen geltend machen wollen, daß die Kopula bei ihrem Einsatz i n logischen Kalkülen doch präzise und nicht mehrdeutig sei. Das beruht aber auf einer Verwechslung. „Präzise" ist ein Wort der Umgangssprache. Umgangssprache ist Teil unserer Lebenswelt. Von Präzision läßt sich unbefangen nur sprechen bei einem Gegenstand, der Teil unserer Lebenswelt ist. Ob das Wort Präzision für die von uns erdachten Entwürfe von Zeichensystemen einen Sinn hat, ist eine offene Frage. I m Alltag kommt Präzision dadurch zustande, daß man sich genau an Konventionen hält. Sie ist das Ergebnis eingeübten Verhaltens und nicht eine den Worten selbst zukommende Eigenschaft; sogar über die Bedeutung von Zahlen entscheiden Konventionen. Man kann auch Zeichen i n Logiksysteme von vornherein als zeitlose Entitäten interpretieren und so der Logik einen Bezug zur Lebenswelt zuschreiben (vgl. Wunderlich 1974, S. 74). Jetzt aber fällt der Vergleich m i t der Umgangssprache nicht zu deren Nachteil aus, denn diese hat eben eine viel größere Anzahl von Zeichen und Regeln. Bei einem kleinen Repertoire an zugelassenen Elementen ist es leicht, sich an Konventionen zu halten und dadurch eindeutig zu sprechen. Dieser Sachverhalt w i r d öfters verschleiert dadurch, daß große Reichweiten der Aussagen i n logischen Formeln vorgetäuscht werden, indem Voraussetzungen nicht expliziert werden. Spricht man ζ. B. ohne Berücksichtigung der Zeit über ein Element unserer Lebenswelt, so klingt die Aussage leicht sehr gehaltvoll, nämlich so, als sei die Aussage „ f ü r alle Zeiten" gemeint. Ob sie dann auch zutrifft oder nicht zutrifft, ließe sich nur diskutieren, wenn das Problem der Zeit i n der betreffenden Logiksprache formulierbar wäre. N u r dann ließen sich i n dieser Sprache Kriterien für Richtigkeit oder Unrichtungkeit der i n ihr gemachten Aussagen gewinnen.

1. Z u r L o g i k

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Solchen Problemen entgeht man nicht, indem man behauptet, für manche Aussagen spiele die Zeit keine Rolle. Das ist eine Voraussetzung, für die ein logischer Beweis nicht angetreten werden kann. Ein wesentliches Kennzeichen der verschiedenen derzeit i n Entwicklung befindlichen Logiken ist es daher auch, daß jeweils lebensweltliche Phänomene unter Vernachlässigung ihrer sonst gegebenen Bezüge aufgegriffen werden. Allerdings zeigt ein Blick auf die i n unserem Zusammenhang am stärksten interessierenden Logiken (die der Fragen, der Befehle, der Normen, der Zeit etc.), daß noch nicht einmal brauchbare Rekonstruktionen auch unter eingeschränkten Bedingungen vorliegen. Für die Logik der Fragen vergleiche man ζ. B. Hülsmanns Diskussion (1971, S. 169 ff.) des einzigen bekannt gewordenen Versuches. U m den Hauptpunkt noch einmal von einer anderen Seite her zu beleuchten: Nach der allgemein akzeptierten Darstellung (Stegmüller 1975, S. 147 ff.) ist die Konstruktion von Modallogik, Deontik u. a. m. dadurch möglich, daß weitere Worte (ζ. B. möglich, sollen) per Konvention i n jenen Status erhoben werden, den i n den klassischen Bereichen der Logik „und", „oder", „nicht", „ f ü r alle" haben. Das interessiert für unseren Gedankengang die ebenso richtige Umkehrung: Die Worte „und", „oder", usw. haben keinen anderen Status als „möglich", „sollen" usw., es sei denn durch Konvention. Diese Konvention kann vorläufig für die Diskussion eines Systems i m akademischen Kreis akzeptiert werden, und sie ist i m Frühstadium immer Postulat oder Vorschlag. Jede Meinung, es ließe sich innerhalb der Sprache ein Kreis von Worten (ζ. B. „ist", „und", „nicht") auszeichnen, der einen wahreren, tieferen Zugang zu unserer Welt konstituierte als beliebige andere, ist Metaphysik. Hier werden buchstäblich Idole errichtet, nämlich Entitäten erdacht. — I n diesem Zusammenhang eine Bemerkung zur analytischen Wissenschaftstheorie. I n ihr ist die Hoffnung verbreitet, durch Konstruktion präziser Wissenschaftssprache zu Eindeutigkeit von Begründungszusammenhängen und so zu lebenspraktischen Leistungen vorzustoßen. Es bedarf aber der Klärung, ob man damit nicht durch Metaphorik von der „Grundlage", aus der etwas anderes „erwachse", sich hat täuschen lassen. „Begründungen geschehen i n Sätzen, basieren also auf Sprache" läßt sich vergleichen m i t „Menschen bestehen aus Atomen und die Psychologie basiert also auf der Atomphysik". e) Natürlicherweise hat die Idee einer Logik der Sollsätze das besondere Interesse der Juristen gefunden. Es liegt denn auch eine ganze Reihe von Entwürfen von solchen Logiken vor (instruktiv ζ. B. Wagner/ Haag 1970), wobei sich als Vorfrage stellt, ob jeweils eine Logik der Normen oder eine Logik der Befehle beabsichtigt ist (vgl. von Kutsche-

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V. Letztbegründungen — Bemerkungen zur

etstheorie

ra 1973, S. 14, Rescher 1966). Jedenfalls kann man nicht wie von K u t schera eine Logik der Befehle mit dem Argument ablehnen, aus dem Imperativ „Gefährde andere Verkehrsteilnehmer nicht unnötig!" folge kein Imperativ „Fahre nicht zu schnell!" (a.a.O. S. 14), weil es dabei um Handlungen gehe, und Folgebeziehungen nur für Aussagen, nicht aber für Handlungen erklärt seien. W i l l man so argumentieren, so ist dem entgegenzuhalten, daß auch Aussagen Handlungen sind. Man kann I m perative ebenso als sprachliche Elemente auffassen wie Aussagen und daher sind Imperativsätze als Sätze kein ungeeignetes Objekt für logische Analysen. Darauf w i r d hier nicht weiter eingegangen, denn von der Logik der Imperative ist bisher kein Anstoß für die juristische A r gumentationstheorie ausgegangen. A u f dem Gebiete der Logik der Normen ist ein eigentümlicher Zustand zu beobachten. Es existiert umfangreiche Literatur, die den Eindruck eines ganz außerordentlichen geistigen Aufwandes macht. Man vergleiche die 805 Nummern enthaltende Bibliographie von Berkemann und Strasser i m von Lenk herausgegebenen Sammelband „Normenlogik" (1974, S. 207). Trotzdem scheint die Bemerkung von Rödig: „Einen nennenswerten Fortschritt kann man gleichwohl nicht erkennen", unverändert zuzutreffen (JbRsozRth I I S. 163). Danach beschäftigt sich ein Großteil der Diskussion m i t immanenter K r i t i k von offenbar unzureichenden Vorschlägen oder verliert sich i n der Erörterung von Grundlagenfragen. So ist i n der Tat noch nicht ausgemacht, ob man überhaupt eine besondere Logik der Normen braucht. Das Hauptinteresse konzentriert sich derzeit auf eine Normlogik als Teil der Weiterentwicklung der Modallogik. I n dieser Stelle soll ein Zitat exemplarisch die Elementarität der hier zu diskutierenden Probleme kennzeichnen: „Wie wichtig es ist, bereits die innere Struktur der deontischen Modalitäten zu klären, macht man sich beispielsweise anläßlich der Überlegung klar, ob aus ,a ist geboten' und ,b ist geboten' auf ,(a & b) ist geboten' geschlossen werden dürfe (wobei ,&' an den Konjunktor erinnert). — Ist jemand verpflichtet, Hilfe zu leisten, so muß er Hilfe leisten i n dem Sinn, daß er die Verpflichtung durch jedes andere Verhalten verletzt. Ist daher a geboten und b von a verschieden, so fragt es sich, wie das gleichzeitige Bestehen der Gebote ohne die Annahme mehrerer Wertungsbasen überhaupt erklärt werden kann. Was die Gebotenheit von ,(a & b) betrifft, so ist überdies zu bedenken, daß der Operator ,&' schwerlich als Junktor zu fungieren i n der Lage ist. M i t der Gebotenheit von ,(a & b)' ist ja nicht die Gebotenheit eines (zusammengesetzten) Satzes oder des durch diesen Satz ausgedrückten Gedankens gemeint. Es w i r d sich bei ,&' vielmehr u m einen lediglich termbildenden Funktor handeln. Derartige Funktoren sollte man indessen nicht verwenden, ohne sie vorher definiert zu haben. I n

1. Z u r Logik

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diesem Zusammenhang könnten sich auch Kennzeichnungsoperatoren als zweckmäßig erweisen (ζ. Β. ,dasjenige Verhalten, welches die Bedingungen F 1 und F 2 e r f ü l l t 4 ) ; . . ( R ö d i g , JbRsozRth II, S. 180). Interessant klingende Ergebnisse sind hier vorläufig nur zu erhalten, wenn man die logische und die lebensweltliche Dimension verwechselt. Dafür ist instruktiv die Diskussion von „ w a h r " und „falsch" als Eigenschaften von Normen. Die Aussage, daß Normen nicht wahr sein können, ist trivial, wenn derjenige Wahrheitsbegriff verwendet wird, der für logische Ableitungen definiert ist (vgl. Rödig JbRsozRth II, S. 170 ff.). A n die Differenz von Logik und Praxis zu erinnern besteht immer noch Anlaß. Man sehe ζ. B. die Deutung der deontischen Logik durch Cornides i n der Einleitung zu seiner sicher i m weiteren vorzüglichen Arbeit „Ordinale Deontik" (1974 b, S. 7). Nach i h m beruht deontische Logik auf der Annahme, Adressat, Zeit und Autorität seien für alle Sollsätze eines Systems konstant. Damit hänge das wichtige Theorem zusammen, es sei nicht möglich, daß sowohl ρ gesollt sei als auch Nicht-p gesollt sei. Dieses Theorem besagt allerdings nicht, eine Autorität A könne keine Befehlsakte setzen, die implizierten, daß ein Adressat gleichzeitig ρ und Nicht-p solle. Natürlich komme es vor, daß Menschen sich m i t ihren Sprechakten, seien es Befehle oder Behauptungen, i n Widersprüche verwickeln. „Wenn eine Autorität perfekt rational ist, dann können ihre Befehle und Behauptungen keinen Sollens- bzw. keinen aussagelogischen Widerspruch implizieren" (ebd. S. 8). Theoreme der deontischen Logik wie der subjektiven Theorie der Wahrscheinlichkeit oder der Präferenztheorie besagten nur, welche Wahrscheinlichkeitszuordnungen, Rangordnungen bzw. Normen vernünftigerweise aufgestellt werden könnten. „Vernünftigerweise" ist von Cornides i n Kursivschrift gesetzt (ebd. S. 9). Ich halte diesen Wortgebrauch für einen grundlegenden Fehler. Man mag über den Gebrauch des Wortes „rational" verschiedener Meinung sein, respektive anerkennen, daß er sowohl für lebenspraktische als auch logische Zusammenhänge definiert sei. Es ist aber ein Gebot vernünftiger Lebenspraxis, wenigstens das Wort „Vernunft" nicht auch noch m i t jenen Doppeldeutigkeiten zu befrachten, und es deshalb, der bisherigen Tradition folgend, für Aussagen über Lebenspraxis zu reservieren. Bei Cornides sind außerordentlich gewichtige Probleme praktischer Philosophie übergangen. Es spricht nämlich vieles dafür, daß vernünftige individuelle und soziale Lebenspraxis verlangt, daß eine Mehrheit von Werten gleichzeitig verwirklicht w i r d und zu diesem Zwecke Konfliktkonstellationen zwischen verschiedenen Werten hingenommen werden. Damit ist ein politologischer Problemkreis angesprochen, kein logischer.

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V. Letztbegründungen — Bemerkungen zur

etstheorie

Es scheint also nicht ausgeschlossen, daß deontische Logik einmal als Formalisierung von Normrelationen brauchbar sein wird. Eine darüber hinausgehende Relevanz ist jedoch nicht zu erwarten. f) Bei korrekter Durchführung der Unterscheidung von K a l k ü l und Lebenswelt erscheint also als Ergebnis, daß Logik nicht die Argumentationstheorie ist. Praktisches Argumentieren konstituiert Logik, (nicht umgekehrt!), insofern es ein praktisches Problem ist, welches Zeichensystem mit welchen Regeln man unter bestimmten Zielsetzungen vereinbaren w i l l . Betreffend dieser vorrangigen praktischen Fragen fehlt es an sorgfältiger Diskussion. Vor der Ubersetzung des Wortes „Präzision" durch „Formalisierung" wurde bereits gewarnt. Die i n dieser Hinsicht geringen Materialien zur deontischen Logik lassen nur vage Meinungsäußerungen zu. Allerdings sind auch für den Bereich der traditionellen Logik keine auf nachprüfbaren Kriterien beruhenden Aussagen zum Praxisbezug bekannt. A m wichtigsten erscheint folgende Verwendungsmöglichkeit: Durch logische Analysen kann man Erfahrungen über die Komplexität realer Argumentation sammeln. Was damit gemeint ist, läßt sich am besten i n dem oben gegebenen Zitat über die innere Struktur der deontischen Modalitäten von Rödig zeigen. Man betrachte den zweiten Satz! Rödig führt darin eine vorher nur mitgedachte Voraussetzung explizit ein, nämlich die Annahme, daß die beiden i m K a l k ü l zu kombinierenden Aussagen „gleichzeitig" i n Frage stehen. Die Zeitdimension ist es also, die i n diesem Falle die Schwierigkeiten macht. Der Versuch der Darstellung i n einem K a l k ü l verweist darauf, daß i n der Praxis alles komplizierter ist. Diese Verwendungsrichtung der Kalkülisierung ist wohl wichtiger als der Versuch der Rekonstruktion praktischen Argumentierens. 2. Zu Sachstrukturen im Umkreis von Logik I m Anhang zur Beschäftigung m i t Logik sei auf mehrere ähnliche Phänomene hingewiesen, die entweder durch Formalisierung oder auch durch Kalkülisierung Grundprobleme der Logik teilen und m i t denen häufig die Hoffnung auf Handlungsrichtigkeit i n praktischen Problemen verbunden wird. a) Die Entscheidungstheorie, deren einer wichtiger Teilbereich die Spieltheorie ist, kann verstanden werden als ein Spezialfall von Logik. Die Gründe gegen den Terminus Entscheidungslogik sind rein pragmatischer A r t (vgl. Braun, in: Zeitschr. für allg. Wissenschaftstheorie VI, 1975, 321). Auch hier werden Kalküle m i t bestimmten Regeln konstruiert, deren Zeichen als Abbildungen von Realphänomenen verstanden werden können. Prinzipiell sind die Einsatzmöglichkeiten nicht zu be-

2. Z u Sachstrukturen i m Umkreis von L o g i k

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streiten. So läßt sich etwa Normsetzung analysieren. „Das Setzen von Normen, auch von Rechtsnormen, kann man als einen Zug i n einem großen und langwierigen Spiel sehen, zu welchem sich Autoritäten und Adressaten (Entscheider) treffen. Es handelt sich um ein kooperatives (nicht Nullsummen-)Spiel, da die Rechtsgenossen gemeinsame, aber auch divergierende Interessen haben. W i r begegnen hier den wichtigen Begriffen der Spiel- und Entscheidungstheorie: Präferenz, Nutzen (Wünschbarkeit), Wahrscheinlichkeit (Zufall), Bayessches Prinzip, M i n i max-Prinzip, kooperatives Spiel, reine und gemischte Strategie, Rollback-Analyse, Information, Bluff, Drohung, Abschreckung, Glaubwürdigkeit, Fairnis. Die Modelle und Erklärungen der Spiel- und Entscheidungstheorie sind zunächst rein spekulativ" (Cornides, 1974 a, S. 30). Plausible Relevanzeinschätzungen zeigen dasselbe Ergebnis wie bei der Logik. „Entscheidungstheorie ist somit für das theoretische Erfassen und praktische Bewältigen auch nur der juristischen Ermessensentscheidungen deswegen schwer einsetzbar, weil sich ihre Modelle als so subt i l und voraussetzungsvoll erweisen. Dennoch kann ihr ein Wert für die juristische Argumentation stets dann abgewonnen werden, wenn diese u m Zwecke und Folgen von Entscheidungen geht. Der Wert liegt allerdings nicht i n der Bereitstellung von Lösungen, sondern von Fragestellungen" (Schlink JbRsozRth I, S. 344, zu Unrecht kritisch dazu Wälde 1975, S. 206). b) Ähnlich wie die Entscheidungstheorie ist die Analyse von Sozialwahlen i. S. des Arrow-Theorems als Kalkülisierung einer bestimmten sozialen Situation für Argumentationstheorie interessant. Es geht darum, daß sich bei mehreren Personen, die mehrere Werte hochschätzen, durch Abstimmung keine gemeinsame Wertehierarchie bilden läßt, und zwar auch gerade dann nicht, wenn alle Beteiligten jeweils ihre Werte streng hierarchisiert haben. Ausgenommen sind Trivialfälle, wie der, daß alle einer Meinung sind. Luhmann hat m i t der bekannten Tendenz i n „Rechtssystem und Rechtsdogmatik" (Stuttgart 1974, S. 31, 83) die ungenügende Auseinandersetzung der Juristen damit beklagt, und deshalb seien zusätzlich zu den dort schon genannten Autoren hier noch einige Diskussionsbeiträge genannt: Priester (1972, S. 105 ff.), Streissler (1967, S. 9 ff.), Hopt (JZ 75, S. 344) und Teubner (Standards und Direktiven i n Generalklauseln, 1971, S. 99 f.). Es hat sich eine plausible und konstante Bewertung des Theorems herausgebildet, die Luhmanns A n sicht, die Juristen könnten keine Folgendiskussionen leisten, jedenfalls nicht stützt. Reale Argumentationen werden von der Sozialwohlproblematik nämlich gar nicht wiedergegeben. Die dort gemachten Voraussetzungen sind eine solche Vereinfachung der Wirklichkeit, wie sie auch bei den vorher erwähnten Normkalkülisierungen stets schon die entscheidende Rolle spielte. Eine bestimmte Wertehierarchie hätte näm-

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V. Letztbegründungen — Bemerkungen zur

etstheorie

lieh für die Einzelentscheidung immer noch große Vermittlungsprobleme (Hopt a.a.O. und neuestens ausführlich Podlech 1976, S. 27). Allerdings sollte man nicht die Problematik verkleinern, indem man etwa von möglichen „Homogenisierungen" (Streissler a.a.O. S. 11) spricht. Natürlich ist ζ. B. autoritäre Werteverwirklichung durch nichtkonsentierte repressive Gesetze möglich, aber diese A r t von Homogenisierung interessiert i n unserem Zusammenhang nicht. Noch ein Hinweis zur Problematik der Ubersetzung von konsistenten Wertordnungen i n Einzelentscheidungen: Der Wunsch nach solchen Wertordnungen ist nach einer durch sorgfältige Sekundäranalysen belegten Hypothese schichtspezifisch. N u r die, die an gesellschaftlicher Macht teilhaben, benötigen danach die Entwicklung einer konsistenten gesellschaftlichen Wertordnung (Mann 1970, S. 435). c) Es zeigt sich m i t h i n insgesamt für solche Sachstrukturen, wie sie i n den letzten Passagen behandelt wurden, daß sie existieren, soweit w i r sie durch Festlegung von Prämissen schaffen. Es ist dies auch das immer wiederkehrende B i l d etwa i m Zusammenhang m i t Versuchen konsequenter Ausformung des Utilitarismus oder von wohlfahrtsökonomischen Gedanken. Dergleichen ist Gegenstand praktischer Argumentation und nicht umgekehrt Strukturierung praktischer Argumentation. Es gibt auch keinen Teilbereich, i n dem Argumentation durch solche Sachstrukturen festgelegt wären. Ein solcher Teilbereich w i r d erst durch die Prämissenwahl ausgezeichnet und d. h. willkürlich geschaffen. 3. Zum kritischen Rationalismus Gehen w i r also über auf die Analyse der Grundlinien des Kritischen Rationalismus, wegen der wichtigen Rolle, die Logik i n i h m spielt. Er dürfte gegenwärtig die am weitesten verbreitete Grundanschauung unter Wissenschaftlern sein. I m Rahmen unserer Fragestellung geht es darum, ob eine vollständige Theorie des Erkennens gegeben w i r d und ob wenigstens systematische Ansatzpunkte für eine Theorie der Argumentation vorhanden sind. a) Zur Darstellung des Gedankengangs empfiehlt es sich, zunächst eine Anschauung zu betrachten, die man als Vulgär-Popperianismus kennzeichnen könnte. Danach gibt es einen Bereich, i n dem Erkenntnis möglich ist; als Musterbeispiel dient die klassische Physik. Der Bereich, i n dem keine Erkenntnis möglich ist, bestimmt sich rein negativ. Die Physik ist nun dadurch bestimmt, daß sich ein Forscher (auf Grund welcher Umstände auch immer) Hypothesen einfallen läßt und diese experimentell überprüft. Verifizieren kann er nicht, da immer neue Erkenntnisse nicht ausgeschlossen werden können. Falsifikation von Sät-

3. Z u m kritischen Rationalismus

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zen über die Wirklichkeit, also von Hypothesen, ist aber möglich, wenn prognostizierte Ereignisse nicht eintreten. Träfe dies zu, so gebe es zumindest einen Bereich, i n dem ein fester Methodenkodex sichere Erkenntnis vermittelte. A u f dieser Basis ließen sich dann Verhaltensanweisungen formulieren, die rationale Argumentation verbürgten. Der Bereich, i n dem solche Erkenntnisse nicht möglich sind, könnte dann immer noch jene kommunikativen Phänomene zeigen, die umgangssprachlich mit Argumentationen bezeichnet werden; dergleichen wäre aber als bloße Rhetorik abqualifiziert und ohne Interesse für den, der sich u m Erkenntnis bemüht. Die K r i t i k muß m i t der Frage beginnen, ob die Idee möglicher Falsifikation tatsächlich ein Fortschritt gegenüber dem überwundenen Vertrauen auf Verifikation darstellt. Kurz gesagt: das ist nicht der Fall. Man kann hier aus Umfangsgründen nicht einmal die Literatur angeben, geschweige denn die ganze Diskussion nachzeichnen. Ich verweise nur auf Rapp (1975) und Kellmann (1975, S. 96). Alle einschlägigen Überlegungen konzentrieren sich heute folgerichtig auf die Frage, wie trotzdem eine Beurteilung von Hypothesen möglich ist. Man kann nun die Realität idealisieren, in der die Mehrheit der anerkannten Autoritäten die Wahrheit macht; man kann einen Begriff der Bewährung einführen, der definiert ist durch die Ubereinstimmung m i t vielen oder wichtigen oder ausgefallenen Experimenten, oder man kann auf ähnliche A r t und Weise versuchen, einen Begriff der Penetranz der Forschung zu konstituieren, usw. Eine andere Möglichkeit besteht i n der Konzession, daß Wahrheit gar nicht interessiere, sondern nur praktische Suffizienz für gestellte soziale Aufgaben. Allen solchen Versuchen ist jedenfalls gemeinsam, daß sie nicht systematisch aus den Grundideen des angedeuteten Erkenntnismodells abzuleiten sind. I n unserem Zusammenhang ist besonders instruktiv, daß Argumentation als soziales Phänomen (also i m weiten umgangssprachlichen Wortsinn) hier wieder ins Blickfeld rückt. Böhme hat i n seinem Aufsatz „Die soziale Bedeutung kognitiver Strukturen" (1974) formuliert, daß wissenschaftliche Kommunikation als Informationsaustausch nicht richtig verstanden sei, sondern Argumentationszusammenhang genannt werden müsse. Allerdings vermag er (mangels Argumentationstheorie) nicht, Argumentation und I n formation inhaltlich zu trennen, sondern er muß auf den unklaren Begriff „Funktion" rekurrieren. M i t Funktion w i r d der soziale Zusammenhang nur zirkulär beschrieben (s. Böhme a.a.O. S. 194). Es ist nicht erforderlich, Böhmes Beitrag noch weiter zu verfolgen, da er weder Realität beschreiben w i l l noch Erkenntnistheorie betreibt, sondern einen Kategorienapparat für mögliche Forschungen anbietet. I n einer H i n sicht kann man i h m vorab recht geben: Der Argumentationsbegriff 7 Struck

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rückt i n die Wissenschaftstheorie an entscheidender Stelle ein. Für seine Entwicklung ist damit freilich wenig geleistet. b) Angesichts der grundsätzlichen Schwierigkeiten mag es genügen, i m weiteren nur die für den juristischen Bereich besonders interessanten Einzelheiten i n der kritisch-rationalistischen Geistesströmung aufzugreifen und unter den genannten Gesichtspunkten zu betrachten. Erstens interessiert der Begriff der K r i t i k . Nun ist allerdings irritierend, wie oft er emphatisch gebraucht wird. Albert sagt z. B. an programmatischer Stelle (Albert JbRsozRth II, S. 81) Erkenntnislehre lasse sich als „ein kritisches Unternehmen" auffassen, das darauf abziele, die Ergebnisse und Methoden der einzelnen Wissenschaften „zu durchleuchten und i m Lichte bestimmter Erkenntnisideale und Forschungsprogramme einer K r i t i k zu unterziehen", wobei ζ. B. auch die Resultate der jeweils anderen Wissenschaften „kritisch und konstruktiv ins Spiel gebracht werden können". I n solchen Sätzen könnte „kritisch" teilweise ohne Sinnverlust gestrichen werden, und allzu begeisterndes Reden vom Lichte erleuchtet durchaus nicht. Schwerdtner gesteht i n seinem instruktiven Aufsatz „Rechtswissenschaft und kritischer Rationalismus" zu (1971, S. 226), daß die Idee der kritischen Prüfung nach Kriterien verlange, die doch wieder nur auf dem Hintergrund eines Wahrheitsbegriffs denkbar sind. Auch die von i h m gebrauchten Worte „Erklärungskraft" und „Leistungsfähigkeit" verweisen darauf, denn erklärt w i r d immer nur durch ein anderes, und die entscheidende Frage ist, welchen Status dieses „andere" hat und welches die Meßzahlen der Leistung sind. Schwerdtners Behauptung, es werde eingeräumt, daß jede Theorie ihre Schwächen habe (ebd.), stimmt mit der publizistischen Praxis kritischer Rationalisten nicht überein. I n ihr werden die Schwächen der anderen Theorien immer als unvergleichlich viel gravierender dargestellt als die eigenen. Dagegen ist einzuwenden, daß ein solches Urteil immer nur auf der Basis gelöster Kernprobleme möglich ist; die zum Gemeinplatz erstarrte Mentalreservation, daß Menschen sich irren können, verdient noch nicht den Namen „kritische Einstellung gegenüber der eigenen Erkenntnisfähigkeit". Auch kritische Rationalisten müssen i m Wissenschaftsbetrieb wie i n jeder Praxis durch ihre praktische Anwendung eine Theorie vor anderen auszeichnen. Beschäftigung damit w i r d als unwissenschaftlich abqualifiziert, wenn man hierzu keine eigenen Vorstellungen anbietet, aber gleichzeitig alle anderen Bemühungen auf diesem Felde als Metaphysik kritisiert. Die Vormeinung, i n praktischen Fragen (im Wissenschaftsbetrieb bei der Hypothesenbildung) seien Dezisionen nötig, ist voreilig. Dieser Sachverhalt w i r d dadurch nicht besser, daß man Entscheidungsfähigkeit und -möglichkeit als individuelle Freiheit idealisiert.

3. Z u m kritischen Rationalismus

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Exemplarisch für die Problematik der K r i t i k kann einer der seltenen konkreten Hinweise eines kritischen Rationalisten zu einer juristischen Problemstellung sein. „Eine kritische Rechts- und Sozialphilosophie w i r d . . . versuchen, die Erkenntnisse der Realwissenschaften zur k r i t i schen Durchleuchtung des geltenden Rechts heranzuziehen,... Eine solche K r i t i k w i r d dadurch ermöglicht, daß i n . . . Problemlösungen Ideen über reale Zusammenhänge enthalten zu sein pflegen, die dem heutigen Stande der Erkenntnis nicht mehr entsprechen. Oft handelt es sich u m Relikte einer theologisch geprägten Metaphysik, der die Umgestaltung unseres Weltbildes unter dem Einfluß des wissenschaftlichen Erkenntnisfortschrittes längst den Boden entzogen hat, wie etwa die Sühnetheorie der Strafe, die bei uns immer noch Anhänger zu haben scheint, oder die i n der christlichen Tradition kultivierten Vorstellungen, die zur Diffamierung der Sexualität als sündhaft und zur entsprechenden rechtlichen Regelung geführt haben" (Albert JbRsozRth II, S. 95). Wenn das mehr sein soll als ein dogmatistisch verabsolutierter antimetaphysischer Affekt, dann müßten Antworten auf einige Fragen systematisch erschließbar sein. Wie verläuft die Abgrenzung von Metaphysik und Nichtmetaphysik? Sind ζ. B. das vierte, fünfte und sechste der Zehn Gebote Metaphysik (Du sollst nicht stehlen — Eigentum ist Diebstahl)? Wie weit ist der Schutz von Ehe und Familie Metaphysik? Wie weit ist die Würde des Menschen, ohne die der „Schamwandfall" (OLG Hamm NJW 67, 2024) nicht zu lösen gewesen wäre, zu eliminierende Metaphysik? Wie verhält es sich damit, daß Metaphysik durch ihre realen W i r kungen i m sozialen Gefüge einen Gegenstand und eine Bedingung von Recht ist wie andere auch. Homosexuell zu sein ist nachteilig wegen verbreiteter, metaphysisch fundierter Einstellungen i n der Bevölkerung; darf man deshalb Kinder mit Sanktionen vor Entwicklung von minoritärer Sexualität bewahren? Wie weit reicht die Meinungsfreiheit der Mission der Zeugen Jehovas? Läßt sie sich legitim enger fassen als die Freiheit missionarischer Tätigkeit von kritischen Ratonalisten? — Antimetaphysik ist eine politische Idee und als solche kann man sie teilen; man sollte sie nur nicht durch rhetorische Inanspruchnahme von Worten wie „Erkenntnistheorie" zu etwas Bedeutsameren emporstilisieren. Missionarisches Agieren gegen Metaphysik ist ohnehin ein Widerspruch in sich. Damit soll nicht gesagt sein, daß nicht i n kritisch-rationalistischen Stellungnahmen von Juristen sehr viel Vernünftiges vertreten worden ist, das den Namen „ K r i t i k " verdient. Das Insistieren auf Empirie, die Forderung nach Interdisziplinarität, nach operationalen Begriffen und die Ablehnung von kritikimmunen Mystizismen sind berechtigte pragmatische Maximen. Als solche sind sie Teil vernünftigen Argumentierens, aber weitergehende erkenntnistheoretische Hoffnungen lassen sich 7*

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V. Letztbegründungen — Bemerkungen zur

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m i t ihnen nicht verbinden. Ebenso bleibt der Begriff der K r i t i k als pragmatischer sinnvoll und der Sache nach selbstverständlich unentbehrlich. Es stellt auch keine durchgreifende K r i t i k am kritischen Rationalismus dar, wenn man darauf hinweist, daß seine pragmatischen methodischen Maximen nicht neu sind. Allerdings: Den Zusammenhang aller Wissenschaften haben von jeher die „Dialektiker" betont, und Adorno hat schon 1957, also noch lange vor dem Positivismusstreit Empirie als M i t t e l der Abwehr „blinder Konstruktion von oben her" und von „ M y thologisierung" bestätigt (in: Topitsch, Hrsg., Logik der Sozialwissenschaft 3. Aufl. K ö l n 1966, S. 523). Es kommt nämlich darauf an, welche wissenschaftstheoretischen Postulate i n relevantem Umfang für die Praxis — und sei es als praktische Maxime — wirksam gemacht werden. Deshalb kann man auch nicht für den juristischen Bereich die traditionelle Wissenschaft als besseres Gegenbild zum kritischen Rationalismus ausspielen, wie das i n der Tradition der älteren juristischen Methodenlehre z. B. von Kellmann getan w i r d : „Uns muß es genügen, daß w i r ein Verfahren kennen, auf dessen praktische Zuverlässigkeit und Fruchtbarkeit w i r nach den bisherigen Erfahrungen wenigstens setzen können. Es ist das u m approximative Erkenntnis der Wahrheit bemühte Verfahren der traditionellen Wissenschaft, das w i r auch i n der Jurisprudenz nicht durch ,bindungsfeindliche kritische Diskussion 4 , womöglich nach topisch-rhetorischen ,Spielregeln' ersetzt sehen wollen" (Kellmann 1975, S. 102). Kellmann hat i m Zitat das Wort „setzen" selbst hervorgehoben und damit ein Exempel dafür geliefert, m i t welch unpräzisen Worten man traditionell auf der Wahrheitssuche auszukommen gedenkt. — Eine zweite Überlegung soll der Sein-Sollen-Problematik i n der Sicht Alberts wegen ihrer Relevanz für juristisches Argumentieren gelten. Zur Entlastung verweise ich auf Darstellungen und Nachweise bei Rüssmann (JuS 75, S. 356). Betrachten w i r zunächst die weithin akzeptierte Basis, nämlich die strikte, logische Trennung von Sein und Sollen, deren Berechtigung nicht angezweifelt werden kann. N u r die Einschätzung dieses Sachverhalts ist meistens fehldeutend. Die Trennung von Sein und Sollen ist nämlich keine Leistung der Logik, sondern beschreibt k r i tisch die Grenzen der Logik. Morscher hat i n seiner großen Zusammenstellung der Literatur zum gegenwärtigen Stande der logischen Diskussion über das Sein-SollenProblem die übliche Begründung der Trennung zutreffend als Trivialisierung kritisiert (1974, S. 27). I n der Tat: Setzen w i r für Sein „Äpfel" und für Sollen „Birnen" dann ist klar, daß i n einem Kalkül, das für „Äpfel" definiert ist, „Birnen" nur durch eine willkürliche zusätzliche Setzung auftreten können. Logisch kann man nicht von Äpfeln auf B i r -

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nen schließen. Das ist trivial. Alle Brückenprinzipien zwischen Äpfeln und Birnen müssen neu eingeführt werden. Die Relevanz der behaupteten Trennung erweist sich erst am Abstand gegenüber jener T r i v i a l i sierung. Andererseits sind Bemühungen u m Darstellung logischer Verbindung zwischen Sein und sollen dann unsinnig, wenn sie als K r i t i k an der trivialen Unterscheidung gemeint sind. Es lohnt nur das zu diskutieren, was jeweils an kalkülkonstituierenden Sätzen gewählt wird. Albert w i l l Begründungszusammenhänge zwischen Sein und Sollen durch Brückenprinzipien angeben. Sie sind von i h m meist als Verbote bestimmter Argumentationen formuliert, ζ. B. als Ablehnung jeder A u torität und jedes Dogmas als Begründung, ferner als Möglichkeit, i m manent Wertungszusammenhänge auf ihre logische Konsistenz h i n zu prüfen, als Kongruenz von normativen Aussagen m i t zugrundegelegten Sachverhalten nach jeweiligem realwissenschaftlichem Erkenntnisstand, Realisierbarkeit (Sollen impliziert Können) und Diskussion von realen Folgen von Normen. Dazu ist zweierlei anzumerken. Einerseits sind die Brückenprinzipien selbst erst durch bestimmte Ideen, normative Vorstellungen, entstanden, und verweisen auf den historischen Stand unserer Gesellschaft, deren Entwicklung u. a. auch von Ideen bestimmt wird. Daß Sollen Können impliziere, ist zweifelhaft, und zwar schon deshalb, weil die Konfliktsituation zwischen verschiedenen Werten i n einer Normenordnung als durchaus vernünftig und zweckmäßig zum Erreichen bestimmter Ziele anerkannt werden kann. Ferner aber kann i n einer Normenordnung — wie sie unserer Kulturtradition entspricht — eine tragische Situation vorgesehen sein, i n der jemand soll, aber nicht kann. Man kann der A n sicht sein, daß es solche Situationen nicht geben dürfe. Die Wortwahl war hier bewußt: Es handelt sich dann um eine Frage des „Dürfens" Behauptet man als wissenschaftliche Wahrheit, Normen könnten sich nur auf reales Verhalten beziehen, so ist das leicht als ein Vorverständnis kritisierbar, das aus bestimmten Verbindungen des aufklärerischen Ideengutes m i t den Bedürfnissen des liberalen Bürgertums zu erklären ist. Daß der Staat nur über Äußerliches regieren dürfe, ist ein Topos i n der Vorstellungswelt des 19. Jahrhunderts. A u f der anderen Seite verweist Albert auf den „Stand der Forschung". So hatte er die Verdrängung metaphysischer Gehalte aus dem Recht i m Straf- und Familienrecht m i t „dem heutigen Stande der Erkenntnis" (Albert JbRsozRth II, S. 95) rechtfertigen wollen. „Stand der Erkenntnis" nun ist Konglomerat der Masse der einigermaßen überprüften H y pothesen, wobei diese Hypothesen nun nach Interessengesichtspunkten, also auf Grund von sozialen Ideen, gebildet worden sind. Für die Methodologie kann man normativ verlangen, daß Hypothesen nicht aktuellen Bedürfnissen entsprechen sollen. Ob man das tut, ist eine andere

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V. Letztbegründungen — Bemerkungen zur

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Frage. Beim Ziehen praktischer Konsequenzen muß man auf das Faktum Rücksicht nehmen, daß der wissenschaftliche Erkenntnisfortschritt i n einem i m ganzen ungeklärten Prozeß jedenfalls u. a. auch aktuellen Interessen folgt. Eine zweite kritische Anmerkung zu den Brückenprinzipien: Woher kommt das besondere Interesse für die Brücke zwischen Sein und Sollen? Wie steht es m i t Fragen, Wünschen, Möglichkeiten, Imperativen, Hoffnungen, Bedingungen usw.? Ohne auf den ontologischen Status i m einzelnen einzugehen, kann man jedenfalls sagen, daß ζ. B. zwischen Hoffnungen und Wirklichkeit sowie zwischen Hoffnungen und Normen ebenfalls Brückenprinzipien existieren. Das Beziehungsdreieck läßt sich sofort namentlich jeweils durch Brücken zu „Fragen" erweitern. Da der Katalog der Brückenprinzipien auch betreffend Sein und Sollen nicht abschließend sein kann, entsteht hier ein ganzes Geflecht von Brückenprinzipien und zwar m i t einer exponential steigenden Anzahl von Prinzipien. Diese Idee ist jedenfalls nicht damit abzulehnen, daß man dekretiert, die Welt bestehe aus Fakten und Normen und sonst nichts. Entscheidend ist nun: Die Masse von Prinzipien, die hier der Entdekkung harrt, ist gerade die Welt der praktischen Argumente. Was hier an Entwicklungsarbeit für eine Methodologie nötig ist, das ist am ehesten noch m i t dem Wort „Argumentationstheorie" zu bezeichnen. Die Konzentration der Diskussion auf Sein und Sollen, (die ja auch zu den endlosen Bemühungen geführt hat, sehr verschiedene Phänomene auf den einen Nenner des Sollens zu bringen) ist bei realistischer Sichtung der Vielfalt von Realitäten nur ideologiekritisch zu verstehen. Was leistet diese Gegenüberstellung? Sie impliziert die Vorstellung einer Recht-losen Welt, wobei natürlich die Position eines Recht-losen Menschen darin interessiert. Dabei w i r d i n einer starken Tradition Sein als Naturzustand und Sollen als späteres Kulturphänomen gedeutet. Entgegen aller soziologischen Realität erscheint dadurch Sollen als nachträglich hinzugetreten, als neu gestellter Anspruch an einen anders gearteten Naturmenschen. Für den sozialen Hintergrund solchen Ideenguts sei auf die homo-homini-lupus-Formel verwiesen. Diese reflektierte frühkapitalistische Zustände i n England. Heute hat sich das Bürgertum weitgehend von solchen Vorstellungen getrennt, aber ein soziales Substrat ist noch vorstellbar: „der freie Unternehmer". Daß er t u n kann was er w i l l , nennt man juristisch Privatautonomie, und daß er bekämpft, was seine Position schmälert, den freien Wettbewerb. Realität ist dergleichen nicht mehr für Unternehmer, sondern höchstens noch für Unternehmen und auch i m ferneren muß die Problematik solcher Vorstellungswelt hier nicht erläutert werden. Jedenfalls: Wenn der kritische Rationalismus die Bewußtmachung von Wertungen zum Programmsatz er-

3. Z u m kritischen Rationalismus

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hebt, dann sollte er vor der eigenen ideologischen Belastung nicht die Augen verschließen. — Für Argumentationstheorie ist ein dritter Einzelpunkt i m kritischen Rationalismus wichtig: K r i t i k an Leerformeln. Die praktische Relevanz scheint klar; man vergleiche Goerlichs K r i t i k der Argumentationsfigur „Wertordnung" i n der Verfassungsrechtsprechung (1973), und Stolleis Untersuchung zu den Gemeinwohlformeln i m nationalsozialistischen Recht (1974). Auch unter ausdrücklichem Hinweis auf kritisch-rationalistische Methodologie ist viel an praktisch überzeugender K r i t i k von schlechter Praxis geleistet worden (ζ. B. Opp 1973, S. 162 ff.). LazariPawlowska (ARSP 1969 S. 534) hat i n einem auch sonst sehr übersichtlichen Exposé zu diesem Fragenkreis dargestellt, daß Leerformeln sogar Arbeit mit sinnlosen In-Sich-Problemen m i t sich bringen können. Aber: Der Topitsch-Schüler Degenkolbe hat i n seinem als authentische Interpretation geltenden Beitrag darauf hingewiesen, daß es soziale Definitionen von Leerformeln gibt (KZSS 1965, S. 333). M i t anderen Worten: Was Leerformel ist und was nicht, darüber entscheiden Konventionen, die operational oder präzis oder das Gegenteil davon sein können. Natürlich wäre es möglich, i n einer Hexenjagd ringsrum alle i n aktuellen Diskussionen gebrauchten Begriffe m i t dem Wort „Leerformel" zu diffamieren. Was ist ζ. B. „Leistungsfähigkeit" und „Erklärungskraft", auf die sich Schwerdtner i n seinen Ausführungen stützt (1971, S. 226)? Man vergleiche ζ. B. das Problem der kurzen Formulierungen i m Gesetz, ζ. B. der „Würde des Menschen" und dem „Wesen der Ehe". Man kann meinen, der Gesetzgeber, der sich an eine i n Ausdifferenzierung von Einzelformen trainierte Juristenschaft wendet, könne sich solche Formulierungen leisten, während ein Gesetzgeber, der darauf nicht vertrauen könne, alle nur erdenklichen Einzelfälle selbst aufzählen müsse. Dagegen kann man eine andere Deutung setzen: Der Gesetzgeber kann Leerformeln als Generalklauseln setzen, wo er sich politisch auf die ausführenden Gruppen verlassen kann, respektive i n direkter Repression unerwünschte Ergebnisse zurechtbiegen kann. Dafür spricht z. B. Stolleis' Analyse der Wirksamkeit von Carl Schmitts Ideengut i n der deutschen Rechtswissenschaft nach 1934 (Stolleis 1972, S. 139 ff.). Für solche Zusammenhänge ist der Leerformelbegriff zu oberflächlich. c) Wegen der Geschlossenheit des Entwurfes sei gesondert eingegangen auf Göttners „Logik der Interpretation" (1975). Ihre Ergebnisse besitzen einen Allgemeinheitsgrad, der eine Übertragung auf die Rechtswissenschaft möglich macht und sie sind von Stegmüller (1973) i n den Kernbestand seiner Auffassung von Wissenschaftstheorie aufgenommen worden. Damit gehört sie zwar nicht zum kritischen Rationalismus, aber ihre Logik- und Hermeneutikauffassung lassen eine Behandlung an dieser Stelle angebracht erscheinen.

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V. Letztbegründungen — Bemerkungen zur

etstheorie

Göttner untersucht verschiedene Interpretationen eines aus fünf Strophen bestehenden Liedes von Walther von der Vogelweide, bei dem namentlich Streit darüber besteht, ob die übliche Schreibung der Strophenreihenfolge richtig ist. Sie entwickelt einen Kodex der in den untersuchten wissenschaftlichen Interpretationen verwendeten Argumente und stellt mit bewundernswerter Akribie das komplizierte Beziehungssystem zwischen den Einzelaussagen dar. Sie macht einleuchtend, daß sich solche Interpretationen von naturwissenschaftlichen Forschungen nicht i n der A r t der Argumentatorik (die i m Titel des Buches „ L o g i k " genannt wird) unterscheidet, sondern durch die üblichen Mengen von Zwischenhypothesen, die der Adressat beim Verständnis der Interpretation intuitiv miterfaßt. Diese Sicht der Dinge ist plausibel und unterscheidet sich positiv etwa von den Überlegungen Lazari-Pavlowska zu der Stützung des Postulates „Die Rassendiskriminierung muß abgeschafft werden" durch den Satz „ M a r t i n Luther K i n g hat den NobelFriedenspreis bekommen" (ARSP 1969, S. 522/23). Auch i n Diskussionen über Normen ist es nötig, die Zwischenschritte zu rekonstruieren, die den psychologischen Grund für die argumentative Akzeptabilität bilden oder bilden müßten. A u f der Basis ihrer subtilen Vorarbeiten wendet sich Göttner nun gegen die Hermeneutik. Hier aber verfällt sie der Versuchung, die eigene Arbeit in ihrer Relevanz zu überschätzen. Die hermeneutische Einsicht, daß Sprachen sich nicht einfach durch Zuordnung von Wörtern und Sätzen, wie das i n Vokabelheften von Schulkindern geschieht, übersetzen lassen, weist Göttner zurück. Sie w i l l den ganzen Lebenszusammenhang, i n dem ein Wort gebraucht wird, einbeziehen und hält danach doch die für formalisierte Wissenschaftssprache notwendige eindeutige Zuordnung für erreichbar (S. 89). Dazu kritisch: Solches Sprechen vom Lebenszusammenhang ist vorwissenschaftlich, w e i l der behauptete Zusammenhang ein Produkt unserer Geistestätigkeit ist und nicht schlicht beobachtbare objektive Realität. Weiterhin hält Göttner Gadamers Argument der Geschichtlichkeit, für das er die bekannte Horizont-Metapher verwendet, für falsch. Hier macht sich das von ihr verwendete Beispiel negativ bemerkbar. I n Verteidigung der Hermeneutik läßt sich sagen: Wer keinen Horizont hat, sondern i n einer Gefängniszelle m i t einem Fensterloch hausen muß, der kann auf- und abgehen und w i r d dabei doch nur einen der Gitterstäbe als Horizont auswählen können. Das ist die Perspektive betreffend solcher Liederstrophen. Bei einer so winzigen Einzelfrage läßt sich natürlich nicht sinnvoll über Vorverständnis und Wirkungsgeschichte i m Hinblick auf praktische Verwendungssituationen reden. Das Aussagenraster Gadamers könnte höchstens das Thema problematisieren: Welchen Sinn hat jene Menge von subtilen Interpretationen, die ohne

4. Z u r universalisierten Hermeneutik

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Kenntnis des sozialen Hintergrundes mittelalterlicher Ästhetik Gegenstand von Germanistenbildung sind? A u f der vorletzten Seite — das ist die i n diesem Geisteskreis typische Stoffdisposition — kommt Göttner auf die allgemein akzeptierten K r i t e rien für das Abwägen von Interpretationen untereinander zu sprechen (S. 77). Sie nennt das K r i t e r i u m des höheren Bestätigungsgrades, das sie laufend benutzt habe, aber auch das der Eleganz von Interpretation und die größere Fruchtbarkeit. — Solche Kriterien haben genau den Status von Brückenprinzipien. Daß kritischer Rationalismus keine abschließende Theorie liefert (und zwar i n einem anderen Sinn, als das seine Vertreter verbaliter zugeben) läßt sich hier noch einmal bestätigen. Erstens hätte nur die ausführliche Diskussion solcher Kriterien die A r t von Begründung von Interpretationen bestimmen können. Zweitens gerät i n der Kürze der Darstellung völlig ins Hintertreffen, daß die K r i t e rien allgemein akzeptiert sein müßten. Göttner scheint das Problem nicht zu sehen und formuliert sogar so, als sei Publikumserfolg Verbürgung von richtiger Erkenntnis. Drittens die wichtigste Überlegung zur weiteren Diskussion solcher Gedanken: Das einleuchtende K r i t e r i u m „Bewährung" verweist auf die Zahl von als gültig angesehenen Sätzen, m i t denen eine Interpretation übereinstimmt. Diese „Zahl von Sätzen" bedarf näherer Diskussion. Wieviele solcher Sätze w i r zählen hängt nämlich von der Sprache ab, i n der w i r sie sagen. Es wäre naiv anzunehmen, daß es nur eine Welt von Objekten gibt, denen w i r einfach Worte zuordnen könnten, so daß jeweils einem Objekt ein Wort entspricht. Dementsprechend sind Beobachtungssätze und erst recht Sätze i m geisteswissenschaftlichen Bereich sprachliche Erscheinungen und es gibt keinen gesetzesähnlichen Erfahrungssatz, daß Übereinstimmung m i t vielen Sätzen auch Übereinstimmung m i t gewichtigen Fakten bedeutet. Das Problem der Sprache w i r d aber i n jenem ganzen Gedankenkreis gar nicht erst angegangen und Argumentationstheorie läßt sich danach dort leichthin als geleistet oder als belanglos erklären. 4. Zur universalisierten Hermeneutik Knüpfen w i r einige Überlegungen an den derzeitigen Stand der Diskussion über Hermeneutik als philosophischer Ansatz, klassisch formuliert i n Gadamers „Wahrheit und Methode" (1975). Einige Andeutungen sollen die i n unserem Zusammenhang interessierenden Punkte ins Gedächtnis zurückrufen. Nach Gadamer sind Subjekt und Objekt eingebunden i n denselben historischen Geschehenszusammenhang. Der Auslegende steht immer i n einer Überlieferung, geistigen Tradition, und zugleich i n einer Situation, die Ansprüche an ihn stellt. Verstehen ist danach nicht als eine

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V. Letztbegründungen — Bemerkungen zur

etstheorie

Handlung der Subjektivität zu denken, sondern als ein Einrücken i n ein Überlieferungsgeschehen und zugleich als Lebenspraxis. Dabei w i r d zuerst an die großen geistesgeschichtlichen Traditionen gedacht, i n denen alles Verstehen nur geschieht durch Vorverständnis. Das w i r d nun ins Positive gewendet. Gerade dadurch, daß w i r i n denselben Traditionen stehen, können w i r uns gegenseitig verstehen. Dafür ist immer gleichzeitig wirksam, daß Verstehen überhaupt nur geschieht i m H i n blick auf konkrete Situationen. Die Heilsbotschaft der Bibel und das j u ristische Gesetz sind Prototypen alles Verstehens, und sie werden nur sinnvoll i n der Lebenspraxis. Der Begriff der Autorität w i r d zum Positiven gewendet: er vermittelt Tradition. Objektivität besteht gerade darin, daß man anerkennt, daß man nur durch Vorverständnisse geleitet versteht. Der Zirkel des Verstehens ist also kein methodischer, sondern ein Faktum. Damit ist die Bedeutung von abschichtendem Aufzählen von Sachaspekten, Verwertungszusammenhängen und gar erst von Regeln des Verstehens stark relativiert. Gadamer kritisiert den Stand der Hermeneutikdiskussion, für den Betti und die übliche juristische Auslegungslehre als Beispiel gelten können. Nach jener Auffassung verlangt I n terpretation zwar eigenes geistiges Zutun, aber Kanones sind methodische Hilfe. Dagegen setzt Gadamer (insofern extremistisch) seine Hoffnungen auf den Zeitabstand, durch den immer neue Fehlerquellen ausgeschaltet werden und allerlei Trübungen herausgefiltert werden und der die Möglichkeit zu immer neuen bis dahin ungeahnten Sinnbezügen gibt (1975, S. 282). Völlig konsequent hat Gadamer seinen Ansatz nicht als Methodik, sondern i n K r i t i k zum Methodenglauben formuliert (ebd. X X I X ) . Das ist zumindest als Grundströmung in den Rezeptionen höchst wirksam geworden. Für die juristische Diskussion ist voran auf Essers „Vorverständnis und Methodenwahl i n der Rechtsfindung" (1972) hinzuweisen, i n dem juristische Methoden i m Grunde gar nicht durch ihre spezifischen Leistungen beschrieben werden, sondern nur als Elemente der Basistraditionen fungieren. Sie sind entscheidungswirksam, aber sie helfen nicht i n einem echten Sinne. Diese Andeutungen sollten nicht K r i t i k an Gadamers Darstellung ermöglichen, sondern sie können nur dazu dienen, die folgenden Relevanzeinschätzung plausibel zu machen. Man muß Hermeneutik i m Sinne Gadamers sehen als Problemstellung, die als i n sich geschlossene Darstellung als Folie für kritische Gegendarstellungen fungieren kann, i n denen die Möglichkeiten von K r i t i k und Methode behauptet werden. Daß w i r überhaupt praktische Probleme methodisch lösen könnten, ist nicht fraglos als Faktum vorauszusetzen und bedarf ebenso wie der Glaube an geschichtlichen Fortschritt

4. Z u r universalisierten Hermeneutik

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der Begründung. Eine Ablehnung von Gadamers Philosophie kann nur substantiell geschehen: Man kann wie Habermas i n der berühmten A n t w o r t auf den Vergleich von Verstehensleistungen i m sozialen Bereich m i t der Psychoanalyse rekurrieren. Dort ermöglicht das Angebot von kausalen Erklärungen i m Gespräch die Erweiterung des eigenen Vorstellungskreises i n K r i t i k und Verständnis. A u f soziales Geschehen übertragen ist dieser Vorschlag nur beziehbar auf Interessenkonstellationen, die erst bewußt gemacht werden müssen. Hier stecken Chancen methodischer K r i t i k . Argumentationstheorie als Arbeitsbereich könnte ebenso als substantielle K r i t i k wirksam werden. Man könnte sie verstehen als funktionales Äquivalent der von Gadamer zutreffend kritisierten älteren, als Methode konzipierten Interpretationstheorie. Ob damit viel gewonnen ist, läßt sich gegenwärtig schwer entscheiden. Jedenfalls muß man einen Sachbereich wahren, i n dem die Intention der älteren Interpretationstheorie aufgenommen bleibt: methodisch begründetes Verstehen als Basis von sozialem Handeln.

6. Kapitel

Letztbegründungen — Bemerkungen zur Gesellschaftstheorie Begründungen für praktisches Handeln bestehen normalerweise i n der Angabe von entsprechenden Bedürfnissen oder Interessen (die letztere Unterscheidung kann i n diesen Ausführungen übergangen werden). Wäre es möglich, aus generalisierbaren Interessenstrukturen Handlungsanweisungen für Einzelsituationen abzuleiten, so wäre damit Rationalität erreicht. A u f der gleichen Ebene wäre der Nachweis, daß nicht I n teressen steuern, sondern daß sich Systemstrukturen i n einer andersartigen Evolution befinden, eine wichtige Aussage über die Möglichkeit von Argumentation i m Sinne einer Begründung für praktisches Handeln. Stände uns aufgrund der Analyse von Interessen ein K a l k ü l zur Verfügung, das für praktische Probleme hinreichende Differenzierungen leistete, so wäre das eine Theorie, die Argumentation über Handlungsnormen absorbieren könnte. Theorie und Methode könnten zusammenfallen und die Existenz der letzteren wäre Frage der Terminologie. Daß w i r unsere Interessen individuell kennen, w i r d i n der herrschenden, auf der Interessenjurisprudenz basierenden Wertungsjurisprudenz nicht angezweifelt. Geläufig sind auch aggregierte Interessen wie „Gemeinwohl". Nun zeigt gerade dieses voreilige Wort, daß hier die Methode praktischen Argumentierens die notwendige Gesellschaftstheorie absorbiert hat, und nicht umgekehrt. Es ist klar, daß „Gemeinwohl" Topos ist und nicht formuliertes Ergebnis durchschauter gesellschaftlicher Mechanik. Hier fungieren Worte, die eine Gesellschaftstheorie eigentlich voraussetzen, als Letztbegründungen. Sie spiegeln geradezu Gesellschaftstheorie vor und verschleiern dadurch den Charakter dieser A r t Argumentation, die bloßes Wortgefecht ist. Es kommt also darauf an, die Ansatzpunkte für eine Argumentationstheorie i n verschiedenen Gesellschaftstheorien aufzusuchen. Beginnen w i r beim Marxismus. Dafür ist eine volle Darstellung entbehrlich. Es müßte sich nämlich gerade i n der marxistischen Rechtstheorie eine A r gumentationstheorie aufweisen lassen und daß eine solche fehlt, hat zugleich Belegwert. Dies verweist nämlich auf die generelle Schwierigkeit, Argumentation als Phänomen von einer Theorie aus zu erfassen, i n der Bedürfnis und Produktion Zentralbegriffe sind. Anschließend kann Ha-

1. Bemerkungen zum Marxismus

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bermasens Diskursmodell i n die Überlegungen einbezogen werden. Dieses teilt mit marxistischen Vorstellungen die Prämissen, die auch sonst Gemeingut geworden sind: die Idee, daß es verallgemeinerungsfähige Interessen und partikulare gibt, und daß Interessen letztlich Handlungen bestimmen. A u f dieser Basis errichtet Habermas das Modell, das Sprache und Interessen integriert und so den derzeit überzeugendsten Ansatz für die Frage der Handlungsrichtigkeit von Begründungen abwirft. Abwehrende Bemerkungen zur Erlanger Schule und zur Systemtheorie (namentlich i n der Fassung Luhmanns) vervollständigen die Sichtung der Möglichkeiten. Geht man von einer ungefähren Dreiteilung der Theoriekonzepte der Gegenwart aus (materialistisch, analytisch, systemtheoretisch), dann mag verwundern, daß an dieser Stelle die Erlanger Schule für alle analytischen Ansätze steht. Dafür war ausschlaggebend ihr gesellschaftstheoretischer Anspruch i n Verbindung m i t der Meinung, der Kern der behaupteten Begründungsleistung liege i n der Voraussetzung der Verbindlichkeit traditioneller Logik. 1. Bemerkungen zum Marxismus a) I m marxistischen Gedankenkreis ist Rechtstheorie kein wichtiges Thema. Verglichen mit manchem anderen kann man sie geradezu vernachlässigt nennen. Es gibt einige ältere Klassiker, die versucht haben, das Verhältnis von Recht und anderen Sozialphänomenen voll aufzugreifen. Unter diesen gilt zu Recht als hervorragendster Paschukanis. Es täuscht sich aber niemand über Oberflächlichkeiten und Inkonsequenzen i n jenen Werken (vgl. ζ. B. Paul/Böhler 1972, S. 76). Für die hier interessierenden Zusammenhänge lassen sich keine Erkenntnisse bei Paschukanis gewinnen, da er Recht als bloße Spiegelung der Produktionsverhältnisse darstellt; rechtliches Argumentieren ist dadurch thematisch außer Ansatz (ebd. S. 81). I n den sozialistischen Ländern sind die frühen Versuche ohne adäquate Fortsetzung geblieben. Es herrscht statt dessen ein Positivismus, der rechtstheoretische Überlegungen i n eine völlige Außenseiterposition gedrängt hat. Man sehe ζ. B. das Stichwort „Recht" i m Wörterbuch von Klaus/Buhr (1972). Großenteils w i r d die positive Rechtsordnung m i t einigen verbalen Ausflüchten beschrieben und i m übrigen Recht — nur offener als hierzulande — als gesellschaftlich produziertes, politisches Instrument begriffen. Daß das nicht der Weisheit letzter Schluß sein kann, mag man schon am Problem der offenbaren Ungleichzeitigkeit von Rechtsentwicklung und Entwicklung der Produktionsverhältnisse i n vielen Fällen erkennen. Teilen w i r die Anschauung von Recht als gesellschaftlichem Instrument, dann ist (auf dieser A b straktionshöhe) Argumentationstheorie höchstens ein Desiderat; jedenfalls wären ihre systematischen Ansatzpunkte selbst erst zu entwickeln.

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V I . Letztbegründungen — Bemerkungen zur Gesellschaftstheorie

b) Einen Eindruck davon geben die Referate auf dem bekannten Brüsseler Kongreß. A l l e Beiträge von Vertretern aus sozialistischen Ländern sind auf einer Abstraktionshöhe gehalten, die die Beurteilung schwierig macht und die nur erklärlich ist aus der Angst der Autoren vor Differenzierungen, die nicht mehr aus einem Apparat von hochabstrakten Prämissen ableitbar sind. Kerimov/Toumanov (ARSP B h 7 S. 100 f.) definieren juristische Argumentation als gewissenhafte und kreative Anwendung verschiedener Methoden wissenschaftlichen Erkennens auf der Basis des dialektischen Materialismus. Besonders das Wort „kreativ" könnte unser Interesse erregen, aber dazu ist keine Auskunft i m Text zu erhalten und es berührt eigenartig, daß es i n der Zusammenfassung des Referates nicht erscheint. Die Unterschiede der Texte verschiedener Juristen aus der DDR lassen auf eine gewisse Unsicherheit schließen. I m programmatischsten A r t i k e l sagt A r l t : „Das sozialistische Recht findet seine Begründung allein i n den Gesetzmäßigkeiten der Entwicklung der Gesellschaft zum Sozialismus und Kommunismus" (Arlt 1971, S. 435). Das konstituiert das Problem: Welchen Stellenwert hat Argumentation? A r l t betont den schöpferischen Charakter von Rechtsverwirklichung wie Rechtsetzung (ebd. S. 436). Nachdem Verwertung von naturwissenschaftlichen Erkenntnissen und von Diskussion an der Basis für richtig gehalten wird, ist damit anscheinend alles gesagt. Statt Argumentation zu ignorieren, tendiert Mollnau i m Effekt dahin, juristische Argumente und Normen gleichzusetzen. Er führt aus: „ J u r i stische Argumente sind Abbilder objektiv-realer gesellschaftlicher Verhältnisse und der sie repräsentierenden Interessen. Sie bilden mehr oder weniger adäquat diejenigen materiellen Interessen einer herrschenden Klasse ab, die rechtlich normiert sind oder werden sollen oder sie bilden die Wirklichkeit unter dem Blickwinkel dieser Interessen ab" (Mollnau 1971, S. 540). Die Gleichsetzung von Argumentation und Normen erlaubt einige Ausführungen ohne Erkenntnisgewinn; man vergleiche: „Die j u ristische Argumentation kann nicht dieselbe sein für alle Rechtsordnungen und für alle geschichtlichen Epochen. I n concreto entwickelt jede herrschende Klasse (bzw. jede zur Herrschaft strebende Klasse) nicht nur einen bestimmten Rechtstyp, sondern die diesem Rechtstyp gemäße juristische Argumentationsweise" (ebd. S. 539). Klenner scheint Argumente mit anderen inhaltlichen Sätzen zu identifizieren. „Jedes Argumentationsinstrumentarium generalisierter j u r i stischer Entscheidungen, das nicht die i n der Eigentumsstruktur der Gesellschaft liegende Wurzeln der Rechtsnormen aufzudecken i n der Lage ist, leistet Verzicht auf die Entschleierung der Welt, das wiederum selbst (bewußter oder unbewußter) ideeller Ausdruck materieller Klassenin-

1. Bemerkungen zum Marxismus

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teressen ist" (Klenner 1971, S. 502). Bei i h m w i r d wenigstens auch das Heden von „Ausdruck" und „Widerspiegelung" dadurch verbessert, daß ein Wechselspiel ins Auge gefaßt wird. Er sagt, daß generalisierte j u r i stische Entscheidungen den objektiven Gesetzmäßigkeiten selbst unterliegen und gleichzeitig eine Bedingung zu deren Wirksamkeit darstellen; eine dialektisch-materialistische Rechtfertigungstheorie stelle den konkreten Bezug der generalisierten juristischen Entscheidung zum jeweiligen gesellschaftlichen Fortschritt her und trage so auf kritische Weise zum politisch-juristischen Selbstverständnis der Menschheit i n unserer Epoche bei (ebd. S. 504). Das würde man am ehesten als Problembeschreibung gelten lassen. Doch Kienners Schlußsatz kann man lediglich als Desiderat teilen: „Als Interessenausdruck der Arbeiterklasse bietet eine solche Theorie Anregung und Orientierung auch all jenen progressiven Kräften, die aus diesen oder jenen Gründen für Demokratie und Sozialismus eintreten" (ebd. S. 504). Von der anregenden Wirkung ist i m späteren Kongreßbericht nichts zu spüren. Statt dessen liest man hymnische Sätze: Toumanov (Moskau) habe nachgewiesen, daß die materialistische Dialektik eine Methode ist, „die den Weg zur Wahrheit ebnet, die es gestattet, der gesellschaftlichen Wirklichkeit i n umfassender Weise immer neue, tiefergreifende Erkenntnisse abzuringen, deren Wahrheitsgehalt zu beweisen und deren Anwendung zu ermöglichen" (Klenner N J 1972, S. 18). Zusammenfassend läßt sich also sagen, daß die Texte marxistischer Juristen recht undeutlich bleiben und daß schon von Anfang an wichtige Differenzierungen fehlen. Namentlich w i r d nicht methodisches Arbeiten als Problem von Fragen der Norminhalte getrennt. Das Fehlen von Beispielen tut ein übriges. Das Bild, das sich bietet, ist eine Spiegelung der Schwierigkeiten, die auch i n „westlichen" Texten beim Argumentationsbegriff bestehen. Spezifisch marxistische Gedanken dazu sind in die Diskussion nicht eingedrungen. c) Man könnte zweifeln, daß i m Marxismus eine derart relevante Sache wie eine Theorie der Argumentation nicht besteht. Deshalb, und weil man von der Sprache Basiserkenntnisse für Argumentation erwarten kann, sei die Situation i n der materialistischen Sprachtheorie verglichen. Für die generellen Schwierigkeiten des Marxismus mit den intermediären handlungsrelevanten aber nicht direkt interessendeterminierten Phänomene sei auf Ästhetik und Strukturen i. S. des Strukturalismus hingewiesen (vgl. Gallas 1972). Nach den Grundgedanken des Marxismus strukturieren menschliche Interessen durch Produktionsverhältnisse alles soziale Geschehen. Danach bestimmen Interessen die Sprache und deren Funktion ist rein in-

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V I . Letztbegründungen — Bemerkungen zur Gesellschaftstheorie

strumentell und sie ist bloßes Abbild der von Bedürfnissen strukturierten Welt. Das Geniale an Habermasens Idee der Wahrheitsverbürgung durch Diskurse ist die Analyse, die i n entgegengesetzter Richtung verläuft. Ihrzufolge sind kommunikative Geschehen strukturierend für soziale Ansprüche, also Bedürfnisse. Der Vergleich damit verdeutlicht die marxistische Grundposition. Während hier Interessen die nötige Sprache produzieren, ist dort ein Wechselspiel erfaßt. Die i n diesem Satz gekennzeichnete Problematik w i r d zwar allgemein gesehen (vgl. ζ. B. Braunroth 1975, S. 200/201), aber die Ansätze sind bisher i n der marxistischen Sprachtheorie nicht über ungreifbare Abstraktionen hinaus gekommen (vgl. z. B. ebd. S. 241). Die Ansätze bilden zwar ein ganzes Spektrum, führen aber nach allgemeiner Einschätzung allesamt nicht weit. Man vergleiche zur Lage i n der BRD Braunroths Literaturbericht (ebd. S. 241 ff.) und zum anregendsten Versuch, dem von Rossi-Landi, Erckenbrechts K r i t i k (1975, S. 59 ff.). I m juristischen Bereich fällt auch der Mangel an Interpretationslehren auf. Nennenswert scheint nur Szabos Vortrag „Die theoretischen Fragen der Auslegung der Rechtsnormen" (1963) zu sein, denn jedenfalls Pfarr hat i n ihrer Untersuchung „Auslegungstheorie und Auslegungspraxis i m Z i v i l - und Arbeitsrecht der DDR" (1972) außer einigen H i n weisen i n Lehrbüchern nur eine unveröffentlichte Dissertation auffinden können. Von dieser berichtet sie dann nichts Überraschendes: Es w i r d eine konventionelle Auslegungslehre vorgetragen und die Beantwortung der sich aufdrängenden Frage nach der konkreten Bedeutung der dialektisch-materialistischen Methode für den Auslegungsprozeß m i t einem harmonisierenden metaphorischen Hinweis übergangen. Dem gleicht auch Szabos Referat. I m wesentlichen stellt er die traditionellen Methoden der Auslegung dar (Szabo 1963, S. 13), und was darüber hinausgeht, bleibt harmonisierend und dunkel. „Die sozialistische Auslegungstheorie erschließt diesen objektiven Inhalt (der Rechtsnorm) aus dem letzen Endes durch die sozialistischen Produktionsverhältnisse determinierten Willen der Arbeiterklasse, der Werktätigen bzw. durch den Willen des sozialistischen Staates . . . Sowohl durch die immer tiefergehende Analyse als auch i m Vergleich m i t den sich stetig entwickelnden Verhältnissen, die doch stets innerhalb des Willens des Gesetzgebers bleiben, ist die aufgezeigte Methode der Auslegung geeignet, den i n Entwicklung befindlichen Inhalt der Rechtsnorm zu erfassen" (ebd. S. 19). Die von Pfarr betreffend der sozialistischen Beiträge i n Brüssel diagnostizierte „Kürze der Beiträge, der teilweisen Beschränkung auf Thesen und der auffallenden Verschwommenheit" (Pfarr 1972, S. 47) t r i f f t hier i m mindestens demselben Maße zu. M i r ist nicht bekannt ge-

1. Bemerkungen zum Marxismus

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worden, daß die Brüsseler Beiträge i n Erfüllung von Pfarrs Hoffnungen (ebd. S. 14) bisher wesentlich Neues zur Auslegungslehre produziert hätten. Ich kann diese Hoffnung nicht teilen. Der vom Thema her wichtigste Beitrag i n Brüssel über die gesellschaftswissenschaftlichen Grundlagen der gerichtlichen Entscheidung begnügt sich nämlich m i t Wendungen wie der folgenden: „Die i m Prozeß der Wahrheitsfindung und zur gerichtlichen Entscheidung notwendigen Wissenschaften, wie ζ. B. die Logik, die Kriminalistik oder die Psychologie, vermögen nur dann zu wissenschaftlich gesicherten Ergebnissen zu führen, wenn sie auf der marxistisch-leninistischen Weltanschauung beruhen. Da i m Mittelpunkt der sozialistischen Entwicklung wie jeder sozialistischen staatlichen Tätigkeit der Mensch s t e h t , . . . " (Stiller 1971, S. 401). d) „Dialektische Logik" gehört nicht zu den häufigen Themen von sozialistischen Theoretikern, aber unter dem Gesichtspunkt einer Argumentationstheorie könnte man gerade hier neue Einsichten erwarten. Deshalb ein kurzer Hinweis. Vorab ist zu erinnern an die Schwierigkeiten, von Dialektik zu reden. Ritsert hat i n einem so betitelten Exkurs dargestellt, daß auch anspruchsvollste Texte sachlich insofern nicht befriedigen (1973, S. 97). Als Handlungsanweisung ist daher die von Rottleuthner (1975, S. 262) ernst zu nehmen, man solle immer anstelle der Behauptung einer „dialektischen Beziehung" die Worte „irgendeine Beziehung" setzen; das Gemeinte müsse auf andere Weise als durch das Wort „Dialektik" klar werden. — Sandkühler als qualifizierter Theoretiker findet ein „entwickeltes Programm einer dialektischen Logik, einer logisch eingesetzten Dialekt i k " (1973, S. 99) i n einer Randbemerkimg Lenins zu einem Hegeltext, von der hier der Einleitungssatz und die ersten von 16 Punkten zitiert seien. „Dies sind allem Anschein nach die Elemente der Dialektik. Man kann sich diese Elemente detaillierter wohl so vorstellen: 1. Die Objektivität der Betrachtung (nicht Beispiele, nicht Abschweifungen, sondern das Ding an sich selbst). 2. Die ganze Totalität der mannigfaltigen Beziehungen dieses Dinges zu den anderen. 3. Die Entwicklung dieses Dinges (respektive der Erscheinung), seine eigene Bewegung, sein eigenes Leben. 4. Die innerlich widersprechenden Tendenzen (und Seiten) i n diesem Ding " Man kann nicht bestreiten, daß hier verbale Kategorien gegeben sind, die nicht als völlig ungeeignet zum Aufbau einer Erkenntnistheorie erscheinen. A u f dieser Basis kann Sandkühler jedenfalls überzeugend Fogarasi's „Dialektische Logik" (1973) als eklektizistisch kritisieren, wie auch den DDR-Positivismus, der dialektische Logik nicht kennt (vgl. 8 Struck

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V I . Letztbegründungen — Bemerkungen zur Gesellschaftstheorie

Klaus/Buhr, Stichwort „Dialektische Logik") (Sandkühler 1973, S. 101 f.). Seine eigenen Ausführungen befinden sich aber auf einer Abstraktionshöhe, die zum Grotesken tendiert; ζ. B. zitiert er als offenbar fortschrittlichste Arbeit zur dialektischen Logik diejenige eines Bulgaren, i n der als erste Hauptaufgabe der dialektischen Logik selbst genannt w i r d : „ E r forschung der Gesetze der dialektischen Logik und allgemein des dialektischen Denkens" (ebd. S. 292). Offenbar stehen hier die wesentlichen Entwicklungen noch aus. e) Noch ein letzter Hinweis zur Beleuchtung der Situation: Rhetorik ist i m sozialistischen Machtbereich und bei hiesigen Sozialisten als Phänomen», Problem- und Forschungsbereich nicht beliebt. Wenn man auch nur ein wenig Anschauung der realen Herrschaftstechniken i n sozialistischen Ländern und i n hiesigen sozialistischen Parteiapparaten hat, dann muß man annehmen, daß hier Verdrängungsmechanismen am Werke sind, die sich nur i m Hinblick auf massive Herrschaftsinteressen interpretieren lassen. — Aufklärung geschieht nicht dadurch, daß man Rhetor i k leugnet und zugleich praktiziert, sondern durch deren Reflexion. 2. Zu Habermas' Diskursmodell Habermas behauptet die Wahrheitsfähigkeit praktischer Fragen. Hätte er damit Recht, so bedeutete das nicht nur eine Lösung der praktisch wichtigsten Fragen zur Argumentationstheorie, sondern lieferte zugleich ein Modell für Argumentation. Leider ist auch die Stellungnahme, auf die ich mich hier besonders beziehen w i l l , i n der Schrift „Legitimatonsprobleme i m Spätkapitalismus" (1973 b, S. 131 ff.) wie die anderen auch ziemlich unausgeführt. N u r i n der zwischenzeitlichen Rede aus A n laß der Verleihung des Hegel-Preises (1974) hat Habermas noch einige Implikationen angedeutet. a) Es seien zunächst einige Stichwörter zu Habermasens Vorstellung i n Erinnerung gerufen. Habermas analysiert die Gesprächssituation. Vernünftig darf i h m zufolge der diskursiv gebildete Wille über die A n erkennung des Geltungsanspruchs einer Handlungsnorm dann heißen, wenn die formalen Eigenschaften des Diskurses und der Beratungssituation hinreichend garantieren, daß ein Konsens nur über angemessen interpretierte verallgemeinerungsfähige, d. h. kommunikativ geteilte I n teressen Zustandekommen kann. Die Trennung der verallgemeinerungsfähigen von den partikulären Interessen ermöglicht so die Konstitution des einzig interessanten „Brückenprinzips" zwischen Sein und Sollen, nämlich Universalisierung. Ebensowenig wie schon zuvor die neopositivistischen Irrwege interessiert hier der normative Vorgriff, man dürfe nur verallgemeinerungsfähige Interessen i n Diskurse einbringen. Statt

2. Z u Habermas' Diskursmodell

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dessen kommt es Habermas darauf an, zu zeigen, daß derjenige, der einen praktischen Diskurs aufnimmt, schon immer unvermeidlich eine ideale Sprechsituation unterstellt, die kraft ihrer formalen Eigenschaften einen Konsensus ohnehin über verallgemeinerungsfähige Interessen zuläßt. Die Antizipation ist ein reales Phänomen, eine wirksame Fiktion (vgl. Habermas 1973 a, S. 252 ff.). Für die nicht verallgemeinerungsfähigen Interessen deutet Habermas die Möglichkeit von Kompromissen an, die sich allerdings nur bei Machtgleichgewicht der beteiligten Parteien rechtfertigen lassen (1973 b, S. 154). Es wäre nicht unmöglich, alle i n Frage kommenden Texte von Habermas heranzuziehen und wechselweise wegen ihrer Abstraktionshöhe und i n Einzelpunkten zu kritisieren. Man scheut aber davor zurück. Das liegt nun sicherlich ζ. T. auch daran, daß das Diskursmodell die für Autor und Leserschaft gemeinsame soziale Situation i n der bundesrepublikanischen Wirklichkeit i n positiver Weise spiegelt. Man vergleiche etwa die Stelle, an der Habermas das von Offe kritisierte advokatorische Modell der Interessenrekonstruktion vorsichtig i n Schutz n i m m t (1973 b, S. 161 f.). Der wichtigere Grund dafür, daß Habermasens Diskursmodell als analytisches Instrument unvergleichlich viel aussichtsreicher erscheint als z. B. der Kritische Rationalismus liegt darin, daß Habermas Sprache wie Interessen nicht bloß reflektiert, sondern i n ein Modell integriert. Sprache war i n den bisherigen Zusammenhängen nur begegnet als ein Medium, i n dem sich formale Strukturen einzeichnen lassen. Dagegen ist plausibel, daß Sprache als die hervorstechendste Eigenschaft von Menschen evolutionär ihre Bedürfnisse und deren Entwicklung mitkonstituieren müsse. Dadurch gewinnt i n der Theorie das Insistieren auf Interessen eine neue Qualität. Bisher ließen sich materialistische Ideen, die auf Bedürfnisse und Interessen rekurrierten, leicht kritisieren: Plausible Beispiele gaben immer nur die sog. elementaren Bedürfnisse ab, die aber schwer zu Aussagen über Emanzipation zu vermitteln sind. Die Gleichheitsantizipation hingegen betrifft dieses wesentliche Thema. Das Insistieren auf Interessen bezeichnet wahrhafte K r i t i k . Die gesamte Menge von Sätzen sog. immanenter K r i t i k , also von Forderungen nach präziser Sprache, überprüfbarem Vorgehen, Vergegenwärtigung von Prämissen, usw. haben ihre Berechtigung; das kann aber nichts daran ändern, daß die wesentliche K r i t i k von Normen die Artikulation gegenläufiger Interessen ist. Habermas bezieht sich an dieser Stelle direkt auf den Vergleich seiner eigenen Voraussetzungen m i t denen von M a r x bei dessen Analyse der Klassenkämpfe. „ E r muß a) partikulare von allgemeinen Interessen überhaupt unterscheiden, b) das Bewußtsein von gerechtfertigten und gleichwohl unterdrückten Interessen als hinrei8·

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V I . Letztbegründungen — Bemerkungen zur Gesellschaftstheorie

chendes Konfliktmotiv verstehen und c) sozialen Gruppen Interessenlagen begründet zurechnen" (1973 b, S. 158). Die Uberprüfung der Richtigkeit solcher Voraussetzungen verweist wieder auf den praktischen Diskurs. Das zeigt, daß die Kategorien i n diesem Modell abgesteckt sind, und die fernere Entwicklung i n der Suche nach Indikatoren für Substantiierungen gesehen w i r d (ebd. S. 162). Nach der neuzeitlichen Erschöpfung aller Versuche metaphysischer Verbürgung von Handlungsrichtigkeit, also von Wahrheit und praktischen Fragen, verbleibt insofern nur der Rückgang auf Interessen und Konsens über Interessen. Das läßt sich auch daran erkennen, daß die beiden wichtigen Gegenentwürfe entweder i m Grunde zum Dezisionismus tendieren (so die neopositivistische, sprachanalytische, i n Deutschland „kritisch-rationalistische" Geistesströmung) oder ideologisch-technokratisch sind (namentlich ζ. B. die Systemtheorie i n der Fassung L u h manns); vom Marxismus selbst i n seiner heutigen Erscheinungsform war bereits die Rede. Nun könnte es nach dieser Bemerkung so scheinen, als sei hier ein Ausscheidungsverfahren gewählt worden, dessen positives Ergebnis auf einer Unterstellung beruhe. Man könnte also einwenden, die Option für Habermasens Lösung des Problems der Wahrheitsfähigkeit praktischer Fragen gehe schon davon aus, daß es eine Lösung geben müsse. Da aber Konsens dem nicht genüge, was i n der philosophischen Tradition als Wahrheit postuliert werde, sei die Suche nach Begründung von Handlungsrichtigkeit ergebnislos abzubrechen. Diesem Einwand wäre entgegenzuhalten: Geltung eines täuschungsfrei festgestellten gemeinsamen Interesses aller Betroffenen ist diejenige A r t von vernünftigen Normen, die uns zugänglich ist; andere oder weitergehende Wahrheit ist nicht möglich. Insofern liegt hier eine Letztbegründung i m spezifischen Wortsinne vor und das rechtfertigt den Gebrauch des Terminus Wahrheit. Einen i m Grunde gleichen Gedanken zum Verhältnis von Konsens und letzter Legitimation hat neuestens Dux i n „Strukturwandel der Legitimation" (Freiburg/München 1976) ausführlich dargelegt. Darauf kann hier nur verwiesen werden. b) Eine zusammenfassende Beurteilung ist allerdings m i t großen Unsicherheiten belastet. Wie sähe einerseits eine ausgearbeitete Diskurstheorie aus, und was könnte dann i n i h r vielleicht noch unerledigtes Phänomen sein, Phänomen vielleicht nämlich, das i n der heutigen Situation noch gar nicht gesondert ins Auge gefaßt werden kann? Nennen w i r nur einen etablierten Problembereich zur Verdeutlichung: W i r d es sich vielleicht herausstellen, daß die Ästhetik (man vgl. den Goldenen Schnitt) sich nicht letztendlich emanzipativen Interessen oder schlichten faktischen Strukturen unterordnen läßt. Die Suggestivität von

2. Z u Habermas* Diskursmodell

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Argumenten hat sicherlich auch m i t Ästhetik zu tun. Ob Argumentation sich letztlich auflösen läßt i n Interessenartikulation, ist derzeit nicht prognostizierbar. Versuchen w i r nun einige Verbindungslinien zur Jurisprudenz zu ziehen. Keinesfalls darf man Habermasens Abstellen auf Konsens als Legitimation zur Entscheidung praktischer Fragen für die juristischen Konsens thematisierenden Formulierungen i n Anspruch nehmen. Ob sich innerhalb der Gruppe der Juristen eine „h. M." ausgebildet hat, ist nicht einmal für diese Gruppe anhand von nachprüfbaren Kriterien zu klären. Generell ist der Kontakt von Juristen und Recht m i t der Bevölkerung und deren Denken ein so komplexes Feld von Phänomenen, daß man besser nicht von Konsens i m Zusammenhang m i t Übereinstimmungen i n Juristenpublikationen sprechen soll (vgl. Esser 1972, S. 118 u. ö.). Auch Horn weist auf den Unterschied zwischen wirklichem Konsens der Rechtsgemeinschaft und h. M. hin, die durch Referentenkommentare und Aufsätze von interessierten Fachanwälten hergestellt werden könne (1975, S. 159). Ob allerdings die „Entzauberung" dieser A r t von Konsensen wirklich eine „relativ harmlose Aufgabe" (ebd.) ist, ist sehr zweifelhaft.— Es bietet sich an, die Idee der idealen Sprechsituation direkt m i t realen juristischen Gesprächssituationen zu vergleichen. Dazu eine Vorüberlegung. Was ist als Gegenbild zur idealen Sprechsituation zu denken? Man könnte einmal an Situationen erinnern, i n denen Gesprächspartner kraft sozialer Machtstellung unterschiedliche Wirkung ihrer Äußerungen erwarten können. Wie auch die Angleichungsprozesse zwischen dem, was der Mächtige erwartet und dem, was der weniger Mächtige denkt beschaffen sein mögen, jedenfalls bleibt i n dieser Situation die Gleichheitsunterstellung wirksam. Das interessantere Gegenbild zur idealen Sprechsituation ist das bewußtlose, rituelle Sprechen. Für dessen Wichtigkeit spricht auch, daß eine sozial höchst relevante Sprechsituation das Gebet ist, bei dem das Verhältnis seiner Eigenschaften als Gespräch und als Ritual ständig unentschieden bleibt. Der rituelle Charakter i n manchen Kommunikationen ist ein Gesichtspunkt, der i n der Analyse praktischer Situationen größeres Interesse verdient. I m juristischen Bereich ist relativ viel an Analyse der Repressivität üblicher Verhandlungssituationen und der darin gepflegten Rituale geleistet worden. Man braucht nicht nur auf das zurückverweisen, wofür Rottleuthners Beobachtungen zum Strafprozeß als Musterbeispiel stehen, sondern man kann auch die A r t vergleichen, wie i n der wirtschaftsrechtlichen Diskussion Grundprobleme i n immer neuen Variationen systematisch ungelöst bleiben (s. Wiethölter 1974, S. 659 ff.).

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V I . Letztbegründungen — Bemerkungen zur Gesellschaftstheorie

Für juristische Probleme ist aus dem Umkreis der Diskussion über ideale Sprechsituationen bisher wenig zu gewinnen. Der Großteil der nötigen K r i t i k der juristischen Gesprächspraxis ist auch ohne großen Theorieaufwand plausibel. Hier besteht jedoch die wichtigere Schwierigkeit darin, daß die Interessen der Juristenschaft solcher K r i t i k entgegenstehen. Sie sind so stark, daß es großer Mühe bedarf, selbst m i t ganz naheliegenden Einwänden und Überlegungen zur Praxisverbesserung die Verfestigungen zu durchdringen. 3. Zur Erlanger Schule Bei den Modellen von Argumentation wurde bereits die Erlanger Schule erwähnt. A n dieser Stelle ist nun die Untersuchung nötig, ob von i h r mehr als ein formalisierendes Modell geleistet wird. Dabei sind zwei von der „Logischen Propädeutik" ausgehende Linien zu unterscheiden, für welche die Namen Lorenz und Schwemmer stehen können. Nach der Betrachtung des Logikaspektes (a) der schon i n der logischen Propädeut i k v o l l entwickelt war, interessiert der Versuch der Gewinnung einer Basis durch Sprachrekonstruktion i n der Fassung von Gerhardus u. a. (b) und schließlich der Rekurs auf naturrechtliche Gedanken bei Schwemmer (c). Für die Rechtsphilosophie sind die Gedanken der Erlanger Schule nur vereinzelt rezipiert worden. A m ausdrücklichsten hat das Heyen i n seinem Aufsatz „Bedingungen einer Rekonstruktion rechtlichen Argumentierens" (ARSP 1974) versucht. Er bestätigt die Rolle dialogischer Verständigung als entscheidend für die Rechtfertigung j u ristischer Institutionen, die er als zentrales Problem der Philosophie der Rechtswissenschaft anspricht (S. 365 ff.). Dabei analysiert er vor allem den naturrechtlichen Aspekt, der sich m i t dem Stichwort „normative Genese" verbindet (S. 369). Damit werden aber nur bekannte Probleme erneut zur Debatte gestellt. a) Schon für die Vorläufer der „Logischen Propädeutik" war das Grundproblem formuliert, nur scheint es, daß i h m immer noch nicht die nötige Aufmerksamkeit gewidmet wird. Man sehe: Lorenzen stellt die Symbolisierung von Aussagen dar, und geht dann unbedenklich über zu logischen Formeln, i n denen Junktoren (wenn — dann) und Quantoren (für alle) vorkommen (1974 b, S. 137 f.). Der Gebrauch des Wortes „alle" i m Deutschen lege nahe, für den Allquantor die folgende Verwendungsregel festzusetzen. Ein Opponent darf einen beliebigen Beispielsfall wählen und dann ist vom Sprecher die Allquantifikation für jene Aussagen zu verteidigen. Dadurch, daß man es das eine Mal m i t dem logischen „wenn — dann" und „alle" und das andere M a l m i t dem praktischen „wenn — dann" und „alle" zu t u n habe, werde ein Zirkel oder ein unendlicher Regreß von Metasprache zu Metasprache vermieden (ebd.).

3. Z u r Erlanger Schule

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Dem läßt sich zustimmen, wenn man eine Zusatzannahme anschließt: Die Dialogpartner müssen sich darüber einigen, ob die Behauptung zu Recht gemacht ist oder nicht. Das bedeutet: Unter der Voraussetzung des realen Konsenses interessiert die Differenz von logischer und praktischer Wortverwendung nicht mehr. Diese Voraussetzung ist aber erst das Problem. Bei Gerhardus u. a. w i r d i n ihrem logisch-proprädeutischen Lehr- und Arbeitsbuch „Schlüssiges Argumentieren" (1975) durch einen technischen Trick der springende Punkt nur unklar. Die Autoren wählen ein Beispiel aus dem Bereich der elementaren Mathematik, wo w i r unserer bestätigten Praxis folgend „logisch" und „praktisch" nicht trennen (S. 115 u. ö.). Es bleibt ungeklärt, woher die Einigung i m Dialog ihre inhaltliche Verbindlichkeit nimmt: aus sozialem Verhalten oder aus Logik. A u f diesem Hintergrund bleibt die terminologische Setzung unangreifbar: „ E i n solcher Einigungsprozeß zwischen Dialogpartnern heiße A r gumentationsprozeß, kurz: Argumentation" (ebd. S. 116). Hülsmann hat die Grundprinzipien zutreffend charakterisiert (1971, S. 117 f.): Die Strategie zielt auf Befreiung von Sprachverhexung und Sprachverwirrung dadurch, daß Logik Sprache absorbieren soll. Die Verwendung von Sprache w i r d folgerichtig als ebenso einfach dargestellt wie die Konvention logischer Zeichen. I n der Logiksprache mögen die Dialoge von Lorenzen richtig oder falsch geführt sein — als Dialoge i n der Umgangssprache sind sie Kunstprodukte und ohne jede Relevanz. Das grundlegende Ignorieren von Sprache überhaupt muß fortgeschrieben werden, wenn nicht das Gedankengebäude zusammenbrechen soll. Man versteht, daß Hülsmann, der sich sonst durchweg als nüchterner Beobachter gibt, an dieser Stelle durch Emotionalität zu erkennen gibt, daß er jene Problemverdrängung für bewußte oder unbewußte Unredlichkeit hält. „Die Sozialität und die konkrete Historizität verschwinden ebenso wie die sozialen Antagonismen und die konkreten Problemstellungen. Die Positivität der Logik ist diesem Elend entzogen. Sie ist das Reich all derer, die guten Willens sind, wie sie auch guter Intelligenz sind. N u r die Dummen und die Bösen sind von diesem Reiche ausgeschlossen. — Der Dialog aber hat i m Ernst nie begonnen. Es gibt eigentlich nicht das, worüber gestritten werden könnte und zu streiten sich lohnt" (ebd. S. 119). I n der Tat! Man sehe ζ. B. die Idylle bei Gerhardus u. a. „Jemand ist darauf angewiesen, sich i n einem fremden Land zu orientieren und zurecht zu finden, ohne über ausreichende Kenntnisse der Landessprache zu verfügen. Prädikatoren, deren Verwendung die Befriedigung unserer Grundbedürfnisse gewährleisten, lernt er zuerst: ,Essen',,Trinken 4 , ,Brot f , Apfel·, ,Fahrkarte 4 usw. Gestützt auf die jeweilige Redesituation, dem Kontext also, gelingt es ihm, die Prädikatoren verschieden zu verwenden, indem er andere Äußerungsweisen wie Ge-

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V I . Letztbegründungen — Bemerkungen zur Gesellschaftstheorie

sten und M i m i k zu Hilfe n i m m t " (a.a.O. S. 119). Dem läßt sich entgegensetzen: Man lebt i n einem fremden Land, i n der BRD; gegenseitiges Unverständnis ist tägliche Erfahrung; Grundbedürfnis ist das Verlangen nach Emanzipation; nun: Man verständige sich also als Erlanger durch Gesten...; und hätte man noch Gesten gefunden, so wäre schon i m voraus zu sehen, wie lange man auf die gewährleistete Befriedigung der Bedürfnisse w a r t e t e . . . — Die eigene soziale Rolle i n jenem Land, i n dem man zuerst den Prädikator „ B r o t " lernt, ist ausgemacht: Es ist die Rolle des Bettlers. Er kann sich m i t der Sprache verständigen während andere m i t einem Geldstück auf Brot deuten müssen und dann allerdings Sprache auch gar nicht mehr brauchen. — Die Kongruenz von Logik und Sprache ist also nicht zu unterstellen. b) Dieses Problem könnte durch die Rekonstruktion einer kontrollierten Einführung von Sprache zu lösen sein. Erst auf der Basis einer solchen Sprache ließe sich wieder Logik als alleinige Argumentation postulieren. Analysieren w i r die von Gerhardus u. a. gewählte folgende Ausgangsszene: Mehrere Personen hüpfen i n verschiedenen Variationen und sagen dazu „hüpfen" und nach einer Weile sagt einer von ihnen m i t auffordernder Geste zu einem fremd Dabeistehenden, „hüpfen!" So lasse sich Sprache lernen. — Machen w i r das Gedankenexperiment m i t und vergleichen die bekannten Erfahrungen über den weiteren Fortgang, indem w i r reale Situationen von der hier geschilderten A r t aufsuchen, i n denen sich völlig fremde Menschen gegenüberstanden. Man denke an die Kolonialzeiten, wo solche Situationen wohl tatsächlich vorgekommen sind. Von daher wissen w i r , daß häufig dann der Eine den Anderen gepackt hat und i n die Sklaverei geschleppt, oder der Andere den Einen gepackt hat und i n den Kochtopf gesteckt. Die Beteiligten des Gedankenexperiments müssen also zum Gelingen eine unkontrollierbare Vorbedingung erfüllen: Sie müssen lernwillig sein. Hier h i l f t auch nicht die Verteidigung, es sei sowieso an die Erziehungssituation gedacht. Zwar mag die zweite Variante der realen Begegnung i n der Kindererziehung nicht vorkommen, aber Entsprechungen zur ersten Variante liegen nicht i m Bereich der Abstrusität. Aber auch bei lernwilligen Menschen i m Gedankenexperiment zeigt es anderes, als die Autoren zeigen wollen. Immer muß schon ausgemacht sein, welcher von beiden es ist, der lehren w i l l und daß der andere lernt. Beide müssen den Ereignisablauf i n diesem Sinne interpretieren. So einfach wie das Gerhardus und seine Koautoren tun, läßt sich das Ausgangsproblem der Hermeneutik nicht leugnen, daß man nämlich eine Verstehenssituation immer schon für sich selbst als solche definiert haben muß, u m zu verstehen. Rodingen (ARSP 1972, S. 179) hat einen weiteren schla-

3. Z u r Erlanger Schule

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genden Einwand beigetragen: Bei der Anzahl von Fehlerquellen i n diesem vielschrittigen Lernvorgang ist die statistische Wahrscheinlichkeit des Gelingens so gering, daß Verstehen nicht Ergebnis, sondern schon Voraussetzung sein muß. Schon i m Gedankenexperiment zeigt sich der Beginn von Verständigung i n Imperativischen, nicht i n indikativischen Sätzen. I n der Tat w i r d hier der reale Anfang von Verständigimg zu suchen sein. Ohne die Kenntnis von Bedürfnissen und Abhängigkeitsstrukturen ist Verständigung nicht zu verstehen. Gibt man das zu, dann ist der Übergang von der Ursprungssituation zur Sprachverwendimg i n Argumentationen ein größeres Problem als es i m Gedankenexperiment scheint. Ignoriert man einfach das Moment der Herrschaft, dann w i r d wissenschaftliches A r beiten für sie förderliches Instrument. Weiterhin ist Schnelle (1973, S. 50) darin Recht zu geben, daß jene A r t Sprachrekonstruktion von der Komplexität realer Äußerungen vor besondere Probleme gestellt wird. Zusammengesetzte Aussagen stellen das pragmatische Problem der Interpunktion. Gerhardus u. a. geben als ein Trainingsbeispiel für Argumentation die Verteidigung des Satzes „1975 ist das Jahr des Denkmalschutzes und der größten Arbeitslosenzahlen" auf. Bei ihnen ist sicherlich an Angriffe gedacht wie „1975 ist nicht das Jahr des Denkmalschutzes". Der normale Angriff w i r d aber lauten „Das ist Zufall!" Man muß wissen, daß die erste und die zweite Hälfte des Satzes getrennt gemeint sind, wenn man die Aufgabe verstehen soll. Dieses Problem der Interpunktion ist aus der pragmatischen Kommunikationstheorie bekannt (vgl. Watzlawik 1974, S. 57 ff.). Auch hier wieder t r i t t Hermeneutik i n i h r Recht. c) Schwemmer hat i n seinen Schriften zentrale Aussagen zu jenem Aspekt gemacht, der Juristen an Argumentationstheorie interessiert: zum Prozeß der Begründung von Normen. Auch hier ist sein Vokabular ambitioniert, namentlich die Termini Moral, Prinzip und Beratungsprinzip. Man kann aber hier zur Entlastung der Darstellung i m ganzen verweisen auf die Rezension von Schwab (Philosophische Rundschau 21, S. 177 ff.). I h r ist v o l l zuzustimmen (vgl. auch Habermas 1973 b, S. 150 f.). Schwab kritisiert die Schwemmersche Verfahrensethik als leer: sie verharrt i m abstrakten Appell an die Einigung (S. 187). Inhaltliche Strukturierung wäre allein zu erwarten durch den Ausbau der Lehre Schwemmers von den kulturinvarianten Grundbedürfnissen, wie Kleidung, Nahrung und Wohnung. Damit allerdings gerät man nur wieder i n die Sackgassen der Konstruktion von Naturrecht. Insgesamt zeigt er den bekannten Verlauf: Vertrauen i n Rationalität durch Logik schlägt u m i n naive Anthropologie (S. 185 f.). Schwemmer leistet keine hinreichende Naturrechtslehre, was sich auch darin zeigt, daß er das Problem möglicher Ungerechtigkeit von Normen nicht genügend reflektiert (S. 182).

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V I . Letztbegründungen — Bemerkungen zur Gesellschaftstheorie

Gerade darauf sei hier hingewiesen, weil Habermasens Diskursmodell reichhaltiger angelegt ist und trotzdem manchmal m i t Gedanken der Erlanger Schule identifiziert wurde. Eine weitere Aussage Schwemmers ist gerade unter dem Gesichtspunkt juristischer Argumentation von Interesse. Schwemmer bestimmt die Grenzen der Konfliktlösung durch Argumentieren (1974, S. 228 f.). Ihmzufolge gibt es Konfliktsituationen, die sich etwas dramatisch als „Kampf auf Leben und Tod" bezeichnen lassen, nämlich Situationen, i n denen die Befriedigung der primären Bedürfnisse nicht mehr für alle Mitglieder der Gruppe gewährleistet werden kann; diese Lage sei „argumentationsunzugänglich" und könne nur durch Veränderung der Außenbedingungen geändert werden. — Das überzeugt nicht, w e i l es mit der Starre nacturrechtlicher Gedankengänge die Geschichtlichkeit sozialer Probleme verfehlt. Einerseits: Was i n unserer geschichtlichen Phase „primäres" Bedürfnis ist, w i r d i n Diskursen als Anspruch geltend gemacht und wächst m i t den Produktionsverhältnissen mit; das Maß an Arbeit, das auf jedes Gruppenmitglied arbeitsteilig zur Verbesserung der Außenbedingungen entfällt, ist schon Gegenstand der Konflikte. Andererseits: Auch i n unseren Gesellschaften werden i n unregelmäßiger Folge Kriege geführt, die folgendermaßen gerechtfertigt werden: Ein Teil der Bevölkerung müsse das Leben (primäres Bedürfnis) opfern, u m andere zu retten (konkurrierendes primäres Bedürfnis). I n diesem Zusammenhang ist aber der Ausdruck „argumentationsunzugänglich" mißverständlich, da immer die Unausweichlichkeit der Konfliktsituationen die entscheidende Frage ist, und diese ist offenbar vernünftigen Überlegungen zugänglich. 4. Zur Systemtheorie Die Systemtheorie stellt i n Deutschland ein besonderes Problem: Jeder Interessierte ist so beschäftigt m i t der Lektüre von Texten eines bestimmten Autors, daß man nicht sicher sein kann, daß nicht anderes unterschätzt wird. Versucht man zu frühen und allgemeinen Klassikern zurückzugehen, ζ. B. zu Deutschs „Politische Kybernetik", dann zeigt die redliche Rezeption nur Berührungspunkte (s. Suhr JuS 68, S. 351 ff.). M i t Recht i m Verhältnis zur Systemtheorie haben sich i n Deutschland nur Luhmann und Callies ausführlich beschäftigt. Während der erste das angedeutete Sonderproblem ist (man pflegt hier Ballwegs Bemerkung zu zitieren, Luhmann schreibe schneller, als andere Leute lesen können) hat sich Callies i n seinem Aufsatz „Rechtstheorie als Systemtheorie" (1971) i n übersichtlicher Form u m die Möglichkeit der kategorialen Erfassung von Recht durch Systemtheorie bemüht. I h m geht es u m eine

4. Z u r Systemtheorie

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Darstellung einer Rechtstheorie durch Abstraktionsleistung. Probleme der Praxis sollen offenbar durch Formulierung einer Theorie miterledigt werden. „ I m Prozeß der Theoriegewinnung rekonstruiert sich das System i n seiner Struktur" (S. 155). a) I n diesem Zusammenhang genügt die Betrachtung einiger wichtiger Einzelpunkte. Callies hebt besonders die Bedeutung der Kommunikation hervor, die auch hier als mögliche Basis von Argumentation interessiert. I n einem dialogischen Kommunikationsprozeß vollzieht sich die Stabilisierung jener Erwartungen, die Verhaltensanpassung und -regelung ermöglicht. Kommunikationsmöglichkeit ist an Intersubjektivität von Erfahrungen gebunden (ebd. S. 156). Recht als dialogische Struktur von sozialen Systemen verstanden mache ideologisches Denken i n Substanzen, Sachen und gegeneinander personell wie sachlich begrenzten Bereichen obsolet. Damit ist der Punkt erreicht, an dem Callies praktische Folgerungen zieht. Er beschäftigt sich m i t der Elimination des Verbrechers i m geschlossenen System der Strafanstalt, m i t Bereichsdenken i m Staatskirchenrecht, m i t Eigentum, das zunächst unbegrenzt gedacht werde, so daß Sozialpflichtigkeiten sekundär herangetragen werden müssen usw. (ebd. S. 160). Das klingt für den Leser plausibel, auch wenn die zugeschriebenen Wirkungen nur i n t u i t i v ermessen worden sind. Man findet aber gute Einzelbeispiele für fast alles. Die als kategorialer Rahmen gemeinte dialogische Strukturtheorie von Recht soll nach Callies den Abbau autoritärer Kommunikation, etwa i n Gerichtsverfahren, erst möglich machen (ebd. S. 166). Wie jedoch diese Leistung nicht nur der Kommunikationstheorie zugeschrieben werden kann, so ist umgekehrt nicht zu sehen, wie das Moment sprachloser Gewalt aus dem derzeitigen justizförmigen Verfahren soll völlig verdrängt werden können. Für solche Leistungen bleibt der systemtheoretische Kommunikationsbegriff zu technisch. Callies spricht von der „Beschreibung des Rechts als dialogischer Prozeß, als Kommunikationsnetzwerk, das auf eine Informationseingabe m i t einer A k t i o n reagiert, deren Ergebnis als Teil einer neuen Information auf das weitere Verhalten der Systeme zurückwirkt — . . . " (ebd. S. 163). Der Vergleich m i t Habermasens Diskursmodell verdeutlicht: Erwartungen und Erwartungserwartungen i n einem als Strukturmodell gesehenen Dialog sind etwas anderes als die Konstitution von emanzipativen Interessen i n einer als Realphänomen untersuchten Kommunikationssituation. b) Luhmanns „Legitimation durch Verfahren" (1969) ist allgemein aufgenommen worden als eine zynische Beschreibung derzeitiger hiesiger Prozesse, i n denen eben nicht Kommunikation und Argumentation regieren, und (im Effekt) als Versuch, dergleichen zu rechtfertigen. So kann nicht verwundern, daß Argumentation i m Stichwortverzeichnis

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V I . Letztbegründungen — Bemerkungen zur Gesellschaftstheorie

nicht auftaucht. I n der „Hechtssoziologie" Luhmanns tauchen Betrachtungen zur Argumentation vereinzelt, und zwar nur i m Zusammenhang m i t dem Ubergang eines vorneuzeitlichen zum neuzeitlichen Recht auf. M i t dem neuen Verständnis von Recht als Entscheidungsprogrammen w i r d auf eine wichtige Begleiterscheinung dieser Umformimg hingewiesen: „Das Streithandeln selbst, die Rechtsbehauptung und m i t i h r der gesamte argumentative Apparat, die Regeln der Rhetorik und der Interpretation, die Topologie, die Kriterien der Begriffswahl und der Überzeugungskraft scheren aus dem Recht selbst aus . . . Das Recht ist kein Kampf — auch kein Kampf von Topoi und Argumenten—mehr, sondern abstrakt geregelte Ordnung. Die Kunstgriffe des Juristen, j a selbst die konstruktiven Denkfiguren der Dogmatik sind nicht immanente Bestandteile des Rechts . . . Obwohl gerade die neuere rechtswissenschaftliche Literatur gegen diese Verengung m i t Erfolg Opposition angemeldet hat, muß sie unter evolutionären Gesichtspunkten zunächst als Errungenschaft gesehen werden, auf der alle weitere Rechtsentwicklung basiert . . . A u f der Grundlage dieser Veränderungen kann sich das Recht nicht nur abstrakter, sondern auch differenzierter entfalten und damit der wachsenden Komplexität der Gesellschaft besser Rechnung tragen." (Luhmann 1972, S. 178 f.). Nehmen w i r diesen Text als exemplarisch und formulieren die k r i t i schen Fragen. Erstens w i r d eine Entwicklung des Rechts dargestellt. Manche Dinge sind also dem Recht „immanent" und andere nicht. Woher läßt sich so einfach sagen, was Recht ist? Spricht hier nicht die Blickverengung der Kodifikationsära? Das Sprechen von immanenten Bestandteilen belegt nicht, weshalb das, was Luhmann als ausgestoßen ansieht, nicht auch fernerhin Bestandteil des Rechts gewesen sein soll. Es gab das alles und es gab auch Mitteilungs- und Traditionsformen dafür i n der Juristenschaft. Schon die einfache Beschreibung stellt hier das Problem der historischen Identität von Phänomenen. Darauf geht Luhmann nicht ein. Das ist beispielhaft, insofern auch wichtigere Begriffe (namentlich „System") i n Luhmanns Systemtheorie i n dieser Hinsicht nicht hinreichend expliziert sind. Zweitens w i r d eine Kausalität behauptet: Die Verdrängung des argumentativen Apparates sei Grundlage für die weitere Entwicklung. Aber: Wäre nicht die differenzierte Entwicklung des Textbestandes von Recht auch bei weiterer Pflege des argumentativen Apparats möglich gewesen? Es sind keine Kriterien i m Text angegeben, die die Frage nach Kausalitätsbeziehungen i n historischen Abläufen entscheidbar machten. Man vergleiche dazu Luhmanns Ausführungen über Evolution: „Der Motor der Evolution ist die steigende Komplexität der Gesellschaft, . . . " (1972, S. 106), wobei i m weiteren die Differenzierungen i m Text auch nur zir-

4. Z u r Systemtheorie

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kelschlüssig darauf zurückbezogen werden. Die Ausführungen zu A r gumentation sind also auch insofern beispielhaft. Drittens w i r d der beschriebene Vorgang positiv bewertet („Errungenschaft!"). Solche aus dem Konzept der Systemtheorie nicht begründbaren Wertungen sind ein durchgängiger Gegenstand der materialistischen und der liberalen K r i t i k an Luhmanns zahlreichen Veröffentlichungen.— Eine vollständige Erörterung konnte hier nicht versucht werden. Das gewählte Verfahren ist aber zu Ende geführt: Es dürfte einsichtig sein, daß überzeugende Letztbegründungen aus diesem Theoriekonzept gegenwärtig nicht zu erwarten sind.

7. Kapitel

Ansätze zu weiteren Forschungen 1. Eklektizismus als notdürftige Praxis Überlegen w i r das Ergebnis der vorangegangenen Skizzen und kehren dazu noch einmal zu den Grundfragen zurück. Die bisherige Arbeit ließe sich von einem K r i t i k e r darstellen als die Jagd nach einem Phantom: der Argumentation. Was rechtfertigt es, über die beachtliche Vielfalt von Modellen und Theorien hinaus noch weiteres zu erwarten? Jedenfalls nicht die Umgangssprache, i n der Argumentation häufig m i t Syllogistik gleichgesetzt wird, und die verdeckt, daß das Problem der Heuristik m i t dem der Argumentation aufs engste verbunden ist. Aber die Umgangssprache rechtfertigt auch nicht die Reduktion von Argumentation auf eines der hier vorgetragenen Modelle oder eine der Theorien. Rhetorisches Überzeugen und Argumentieren, sachliche wie unsachliche Argumente bleiben i m allgemeinen Argumentationsbegriff angesprochen. Ein kritischer Rationalist (ζ. B.) hat natürlich die jedem Wissenschaftler gegebene Freiheit, seinen Argumentationsbegriff auf seine Theorie zuzuschneiden, aber solche Festlegungen haben letztlich nur terminologisch Bedeutung. Umgekehrt wäre es auch völlig verfehlt, einem kritischen Rationalisten das Sprechen von Argumentation streitig machen zu wollen. Ein substraktives Verfahren, bei dem als Argumentation nur das bezeichnet würde, was von keiner der Theorien erfaßt w i r d und den Modellen als Inhalt unfaßlich bleibt, wäre nicht nur vom umgangssprachlichen Argumentationsbegriff her nicht zu begreifen, sondern auch ein zweifelhafter Wechsel auf die Zukunft. Die K r i t i k an den Modellen und Theorien erfolgte nicht i n der Absicht, die Unbrauchbarkeit zu zeigen, sondern allein u m die Tür zu weiteren Forschungen offenzuhalten. Was diese weiteren Forschungen bisher an Konturen erkennen lassen, ist sicherlich von nicht geringer Relevanz. Kriterien, die ihre zukünftige Bedeutung einschätzbar machen, sind jedoch nicht zu sehen. Deshalb ist Eklektizismus als Praxis unentbehrlich. Relevant für die Begründung von Sätzen bleibt also das ganze Konglomerat von Fakten und ihre durch Erfahrung zur „Logik" erstarkten Beziehungen und von zu Normen umgeschriebene Bedürfnisse und Interessen und von Sachstrukturen, bei denen die Frage einer Vermittlung zu einer Basis von

1. Eklektizismus als notdürftige Praxis

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Fakten und Bedürfnissen zumindest durch die Weite unentscheidbar geworden ist. W i r werden also bereits diese Vielfalt der beschriebenen Modelle und Theorien als Argumentationstheorie bezeichnen müssen, weil ein anspruchsvollerer Theoriebegriff, i n dem ein Moment der Geschlossenheit als Erkenntnissystem behauptet würde, nicht inhaltlich zu füllen ist. Es wäre eine taktische Frage, ob man Überlegungen i n der Dunkelzone zwischen Sprache und Interessen auf jenem Abstraktionsniveau, das i n Deutschland nach wissenschaftlichen Standards zugelassen ist, m i t kühnen Worten an die Idee der sozialen Topik und an das Habermassche Diskursmodell anschließen soll. Die i n diesen beiden Gedankenumkreisen thematisierten Fragen scheinen ja i m Rückblick die interessantesten zu sein, und es ist eine geläufige Technik, durch ihre Neuheit verletzliche Ideen i n den Geleitschutz von etablierten Vokabeln wie „soziale Topik" oder „Diskursmodell" zu stellen. I n solchen Anschlüssen liegen nicht ernsthafte Probleme. Zwischenergebnis ist also, daß Letztbegründungen weder i m Bereich der Erkenntnistheorie durch vorgegebene Wahrheit (Prototyp Logik) noch i n der Gesellschaftstheorie durch Vermitteln von Legitimation von Handlungen m i t Bedürfnissen (Prototyp Marxismus) i n beherrschbaren Verfahren, also „methodisch", zu leisten sind. Was das letztere angeht, so ist diese Aussage nur eingeschränkt durch die Hoffnung auf Habermasens Diskursmodell. Eine schlüssige Erfassung von Kreativität als i n dividueller Eigenschaft i m Zusammenhang m i t argumentierenden Sätzen und von Plausibiltät als beobachtbares Realphänomen ist von keiner Einzelwissenschaft zu erwarten. Spekulativ könnte man weitere Belege für die Relevanz eines Denkens ohne Letztbegründungen anführen. Angenommen, es gelänge, einen stringenteren Zusammenhang zwischen unseren Bedürfnissen und daraus zu folgernden Handlungsanweisungen herzustellen, so wäre damit noch nicht gesagt, daß es i n allen Fällen möglich sein wird, Letztbegründungen anzustreben. Die begrenzte Lebenszeit des Menschen und die i n den Zeitablauf gebundene Tätigkeit des Denkens i m Kampf u m die Beherrschung der Natur, deren Probleme zeitlich drängend sind, könnten denkbare Letztbegründungen nicht zum Zuge kommen lassen. I n der Lebenspraxis w i r d ja gerade i n Zeitnot meistens m i t sozialen Topoi operiert. Solche Zeitprobleme werden häufig angesprochen, aber nicht m i t demjenigen Konkretisierungsgrad, der wirkliche Aussagen erlaubt. Man vergleiche bei Horn (1975, S. 149): „Es besteht doch die Gefahr, daß je nach der Komplexität und der Masse der Argumente der dialektische Prozeß ins Unendliche v e r l ä u f t : . . . " Es käme darauf an, das „unendlich" i n Ziffern zu fassen. Ist nicht ζ. B. für einen Prozeß nach einem kleinen Diebstahl eine Prozeßdauer von drei Jahren „unendlich",

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V I I . Ansätze zu weiteren Forschungen

weil alle Verfahrenszwecke vereitelnd? Wenn das Bundesverfassungsgericht den Fall eines Schulversuchs soviele Jahre später entscheidet, daß die Kläger längst der i n Frage stehenden Phase entwachsen sind, dann war der Prozeß für sie „unendlich". Bevor hier nicht m i t substantiierenden Kriterien gearbeitet wird, sind die Aussagen nicht interessant. Der Versuch, Letztbegründungen zu finden, kann ebenfalls auch daran scheitern, daß dieses Unternehmen einen realen Arbeitsaufwand verlangt, den gegenwärtig niemand zu erbringen bereit ist. Die Zeitproblematik steht hier nur als ein Unterfall für alle von uns unbeherrschten Momente unserer Natur. Das Zeitnotproblem kann auch verstanden werden als ein Verweis auf die allgegenwärtige Notwendigkeit von Routinen verschiedener Relevanzstufen, Luhmann böte vielleicht das als einzige Lösung anstelle des Postulates begründeter Entscheidungen an. Diese A n t w o r t wäre aber eine verabsolutierte Teilerkenntnis, also Ideologie schon i n dem Sinne, i n dem man i m kritischen Rationalismus das Wort gebraucht. — Die folgenden Überlegungen (2., 3., 4.) haben ganz unterschiedliche Bedeutung. Gemeinsam ist ihnen, daß Ansätze zu weiteren Forschungen gesucht werden. Die Hinweise zur Rhetorik basieren auf der Vermutung, daß die Beschäftigimg m i t reichem Beispielsmaterial neue Erkenntnisse i n der Sache befördern wird. Das ist natürlich eine Alltagstheorie: „Beschäftige dich lange genug m i t dem Objekt, und du wirst mehr davon verstehen lernen!" Ob dem auch i n diesem Fall so ist, w i r d sich nur nach einschlägigen Arbeiten sagen lassen. Die Hinweise zur Eristik werben für spielerische Erfahrung m i t dem eigenen Verhalten i n Argumentationssituationen. Abgesehen von praktisch nützlichen Effekten für juristische Berufsausübung hat die Beschäftigimg m i t Eristik sehr wahrscheinlich den Vorzug, zu einer engagierten Beschäftigung m i t Argumentationsstrukturen anzuregen. Dieser Wirkung w i r d sich nur entziehen können, wer keine Selbstkritik aufbringt, denn die Karrikatur guter Begründungen ist oft genug getreues A b b i l d der eigenen. Das daraus resultierende Engagement dürfte wohl — auch das eine Alltagstheorie — neuen Einsichten förderlich sein. I m unmittelbar anschließenden Abschnitt sollen Hinweise gegeben werden auf seltener erkannte Quellen der Überzeugungsbildung. Diese Faktoren — soziale Topik, syntaktische Gewohnheiten und gelungene Metaphorik — sind ambivalent. Oben waren schon zur sozialen Topik die Angriffe derer angedeutet, die sie als irrational ablehnen und die Hoffnung auf tiefergreifende Rationalität aufrechterhalten. Es ist eine derzeit nicht sicher beantwortbare Frage, ob nicht soziale Topoi wenigstens rationaler als bloße Dezisionen sind. Ebenso könnten gelungene

2. Einige Quellen der Überzeugungsbildung

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Metaphern auf Vernunftsgründe verweisen, für die eine greifbarere Darstellung erst noch i n Zukunft zu finden ist. Die hier erwogenen Gesichtspunkte sind nicht abschließend, sondern ihre Nennung dient auch dazu, bisher ungenügend Beachtetes ins Bewußtsein zu heben. Daher w i r d auch noch ein Hinweis auf syntaktische Figuren angeschlossen, die mit sozialer Topik und Metaphorik wohl nur den Effekt teilen: auch sie können erfahrungsgemäß Aussagen akzeptabel machen. Diese Aufzählung schien auch aus folgendem Grund opportun: Nach einem Gemeinplatz w i r d eine Sache entweder strikt bewiesen, oder jeder Diskussionsteilnehmer äußert und akzeptiert nur die Argumente, die seinen materiellen oder immateriellen Interessen dienlich sind. M i t diesem Gemeinplatz w i r d das Maß an Zweckgerichtetheit menschlichen Denkens überschätzt. Es gibt auch andere Ursachen, die Argumente effektiv überzeugend machen zu können. 2. Einige Quellen der Überzeugungsbildung a) W i r hatten „Rechtssicherheit" als sozialen Topos gekennzeichnet, weil sie weder definiert w i r d noch die W i r k u n g der m i t „Rechtssicherheit" begründeten Urteile entsprechend überprüft wird. Solche Verwendung von Argumenten ist häufig. Es ist leicht, dergleichen als irrational abzulehnen, aber man sollte sich sorgfältiger nach dem Grad von Rationalität fragen, auch wenn dieser ein geringer ist. Die Wortbedeutungen von Topoi sind durchaus nicht völlig disponibel. Dafür nur ein Beispiel: Das Wort „Recht" besaß eine so starke Tradition, daß es den heutigen Inhalt nur durch Hinzufügung des Wortes „Ordnung" gewinnen konnte; „Recht und Ordnung" mag heute für die, die es benutzen, Hendiadyoin sein, aber es bedurfte erst eines Entwicklungsprozesses. Es mag sein, daß w i r über die konkrete Wirkung der Anwendung des Wortes „Rechtssicherheit" i n sehr vielen, sozial belanglosen Fällen nichts sagen können. Eine präzise Folgenanalyse, die eine Basis für Konsensprozesse abgäbe, ist bei Einzelfällen schwierig. Darauf w i r d zurückzukommen sein. Die Verwendung des Argumentes „Rechtssicherheit" könnte aber eine Erfahrimg reflektieren, die sich i n einer Kette von sehr vielen Rechtsprechungsfällen gebildet haben mag. Auch wenn w i r vom Einzelereignis wenig wissen, so könnte i m Großen doch das Operieren mit jenem Argument per saldo Sicherheit gefördert haben. Das bedeutete, daß ein Wahrscheinlichkeitszusammenhang besteht, also eine gewisse Rationalität. Zusätzlich kann man annehmen, daß jenes ständige Sprechen von Sicherheit die reale Lage des Mittelstandes reflektiert, der seine materiellen Interessen so am besten gewahrt sieht. Die Verwendung von „Rechtssicherheit" i n Begründungstexten wäre danach ratio9 Struck

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V I I . Ansätze zu weiteren Forschungen

nal, insofern sie für ein interessenbedingtes Ergebnis positiv wirksam wäre. Man w i r d einwenden, daß solche Begriffsbildungen manipulativ gesteuert werden können. Das ist eine Frage, auf die sicher nur graduelle Angaben als A n t w o r t gegeben werden können. Auffällig ist jedenfalls, daß bewußt eingeführten sozialen Topoi häufig die Suggestivkraft fehlt, die bei „Rechtssicherheit" deutlich ist. Der „freiheitlich demokratischen Grundordnung" z. B. hängt sprachlich stark das Moment einer von Beamten eingeführten Dienstanweisung an und i h r fehlt jenes suggestive Moment, das auf Identifikationsmöglichkeit für den Einzelnen i n konkreten Situationen beruht. Die hier gewählten Symbolworte müßten, u m wirksamer zu sein, ein Segment individueller Selbstdarstellung sein können. — Sicherlich kann man von Aggregationen wie „Klassenbewußtsein" leichter einen mythisch-vernebelnden Gebrauch machen als einen analytisch-forschungsleitenden. Das sollte aber nicht dazu führen, die mögliche Rationalität von sozialen Topoi überhaupt zu leugnen. b) Soziale Topoi lassen sich häufig als Metaphern kritisieren. M i t ihnen verhält es sich ähnlich wie m i t Alltagstheorien: sie zu kritisieren ist scheinbar leicht. Die Gefahr ist nur, daß unversehens fast alles, was w i r an Aussagen treffen und an Argumenten nennen, einem Verdikt unterliegt. Das führt zu Nonsens. Es kommt darauf an, Kriterien zu erarbeiten, wo eine Alltagstheorie durch weitere Forschungen beseitigt werden muß, respektive welchen Grad von Erfolg solche weiteren Forschungen ermöglichen. Bei Metaphern wurde bisher die A r t der Ersetzung von „ w i r k l i c h Gemeintem" durch Worte anderen Inhalts analysiert. Das waren die Probleme, i n die die älteren Texte zur Metaphorik ausweglos verstrickt waren. U m sich davon zu überzeugen, kann man neuestens zeitsparend auf die kommentierte Literaturliste bei Pausch (1976) zurückgreifen, oder beispielhaft auf den einflußreichen Text von Black „Metaphor" (1962). Eine Beschreibung von Metaphorik muß die Gefahr vermeiden, jede A r t von symbolischen Inhalten als Aberglauben abzutun. Auch bei den tatkräftigsten Kämpfern gegen metaphorische Ausdrucksweise, den „exakten" Wissenschaftlern, zeigt sich die Unabdingbarkeit von vorläufigen Begriffsbildungen i n vagen Analogien zu unserer Lebenswelt. Man kennt i n wissenschaftlichen Texten jene Dimensionen, Ebenen, Oberflächen, Kehrseiten, usw., u m nur eine Familie solcher vager Worte anzudeuten. I n der analytischen Wissenschaftstheorie müßte man versuchen, ohne solche Ausdrücke auszukommen. Man mag das bei „Metaund Objektsprache" noch als hinreichend geleistet ansehen; bei den „Ebenen" Syntax, Semantik und Pragmatik aber hat sich das Sprechen von Ebenen schon so fest eingefahren, daß z. B. „Zwischenschichten"

2. Einige Quellen der Überzeugungsbildung

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denkbar erscheinen oder „Verbindungen" dieser drei „Bereiche" als Aufgabenstellung akzeptiert werden. Positiv läßt läßt sich über Metaphern sagen, daß sie offenbar Vorverständnis aktualisieren. Koller nennt i n seiner hervorragenden Analyse „Semiotik und Metapher" (1975) am Anfang die schlichte Erfahrung, daß auch völlig neugebildete Metaphern von kompetenten Kommunikanten i n ihrem kontextualen Zusammenhang verstanden werden (S. 4). Es w i r d i n Überlegungen Neues zugänglich gemacht, das ohne metaphorische Ausdrucksweise der Darstellung noch entzogen gewesen wäre. M i t Metaphern verständigt man sich schneller, w e i l m i t wenig Worten vielerlei Informationen erschließbar gemacht werden. Die Redeweise „Er ist ein kalter Mensch" informiert, insofern sie Prognosen über zukünftiges Verhalten möglich macht, über viele Eigenschaften gleichzeitig und setzt buchstäblich ins Bild. Die Bedeutungsweite von Metaphern braucht nicht vom Hörer bewußt realisiert zu werden. Deshalb werden metaphorisch formulierte Argumente manchmal auch da m i t Zustimmung aufgenommen, wo die dazu Anlaß gebenden Einzelinformationen nicht bewußt werden (vgl. Arnheim 1972 S. 168). Es hat auch die Unterscheidung zwischen guten und schlechten Metaphern ihren Sinn. „Da i n guten Metaphern als Bestimmungsbegriffe meist Wörter fungieren, die sehr konkrete sinnliche Erfahrungseinheiten repräsentieren, nähren sie psychisch die Illusion, daß die genannten Sachverhalte nicht i n abstrahierender und distanzierender Weise zur Erklärung herangezogen werden, sondern sich durch ihre sinnliche Übermacht selbst erklärende Wirksamkeit verschaffen, gleichsam selbst sprechen. Damit brechen dann analoge Kommunikationsformen i n die Sprache ein, die offenbar eine wichtige anthropologische Funktion haben, weil sie verhindern, daß die natürliche Sprache ihre Polyfunktionalität einbüßt und zu einem chemisch reinen digitalen Zeichensystem erstarrt, wie es beispielsweise bei den formalisierten Sprachen zu beobachten ist" (Koller 1975, S. 332). Die Ambivalenz ist dieselbe wie bei Stereotypen. „Stereotype erleichtern und ermöglichen dem einzelnen die Orientierung i n einer immer komplexer werdenden Wirklichkeit, die es i h m zunehmend unmöglich macht, aufgrund persönlicher erfahrung oder gesicherter i n formation jenen einblick zu gewinnen, der für empirisch nachprüfbare urteile erforderlich ist" (Bayer 1976, S. 81). Argumentieren m i t Metaphern und Stereotypen muß also daraufhin untersucht werden, ob ihre Verwendung nicht eine höhere Wahrscheinlichkeit der Richtigkeit für sich hat als bloßes Entscheiden. Für den Einzelfall w i r d sich das nicht zeigen lassen, denn sonst brauchte man jene angreifbaren Ausdrucksformen nicht. Jedenfalls erhalten sie den Kommunikationsfluß und schaffen so zumindest eine Voraussetzung für weitere Klärung. Eine Norm, Sprache nur soweit zu verwenden, wie sie 9·

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formalisierbar ist, oder als Argumentation nur logische Beziehungen anzuerkennen, ist deshalb inopportun. I h r zufolge müßte man an den Stellen des Unverständnisses oder der Unwissenheit abbrechen, ohne daß für den Fortgang der Überlegungen immanente Ansatzpunkte gegeben wären. c) Die von keiner Logik oder Faktenfolgendiskussion gedeckte Akzeptabilität von Argumenten muß untersucht werden auch als mögliche Folge der Syntaktik. „Syntaktische Fiktionen" (Frese 1972, S. 107) sind das Kleingeld der politischen Sprache. Die oberflächlichen semantischen Differenzen von „es regnet", „der Regen fällt" oder „der Himmel läßt es regnen" werden pragmatisch kaum berücksichtigt: Niemand glaubt (mehr) ernsthaft an ein Regensubjekt. Anders i m politischen Sprechen — die Schöpfung und Beseitigung von Subjekten ist die interessanteste Wirkung unserer Grammatik. Frese weist auf die „soziale M a r k t w i r t schaft" hin, die ihrem eigenen Konzept nach ein opportunes Unterlassen war und trotzdem i n der Öffentlichkeit unentwegt als agierendes Subjekt dargestellt w i r d und darstellbar ist. Z u den syntaktischen Fiktionen ist es auch zu rechnen, daß für uns A k t i v nach A k t i v i t ä t und Passiv nach Passivität klingt. Der Vergleich verschiedener Sprachen miteinander zeigt bekanntlich hier historisch gewachsene Willkürlichkeit. Ihre geschickte Verwendung gehört zu den gängigen rhetorischen Tricks. Von Juristen w i r d er internalisiert angewendet z. B. i n der gebundenen Verwaltung. Die Untersuchung von Wagner „Die deutsche Verwaltungssprache der Gegenwart" (1972) hat ergeben, daß der auffallendste Unterschied zur Umgangssprache die häufige Verwendimg des Passivs ist. I n der Umgangssprache sind 15 %>, i n der Verwaltung 26 % der Sätze passivisch (Wagner 1972, S. 17). Das läßt sich plausibel interpretieren: Das aktivische „Ich befehle D i r . . . " fordert die Gegenfrage heraus „Wie kommst D u dazu ...?". Das passivische „ D i r w i r d befohlen . . . " fordert nur die Frage heraus „Wie komme gerade ich d a z u . . . ? " . Außerdem leistet das Passiv zwanglos i n Wendungen wie „Es w i r d D i r befohlen . . . " durch die Unpersönlichkeit die Fiktion der Objektivität. Der syntaktische Aspekt trägt also zum Überzeugungsgehalt eines Textes bei. Das ist bemerkenswert, weil dieser Umstand nicht allgemein bekannt ist. Durch das letztere gerade ist diese Quelle der Einflußnahme eine unbeherrschte. Sie ist so unbeherrscht wie die sog. Prägnanztendenz, d. h. die Tendenz zu glatten Zahlen bei kontinuierlichen Entscheidungsspielräumen wie z. B. Strafmaß bei Geld- und Freiheitsstrafe oder Schmerzensgeld. Bei der Konstituierung von Subjekten gibt es die auf der semantischen Ebene liegende Möglichkeit vom „Wesen" einer Sache zu sprechen; dagegen läßt sich relativ leicht kämpfen, w e i l das kritisier-

3. Rhetorik als Materialfundus

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te Phänomen abgrenzbar ist. Syntaktische Strukturen hingegen sind i n ternalisiert und Alternativen deshalb „undenkbar"*. 3. Rhetorik als Materialfundus Für den hier konturierten Problembereich ist Rhetorik als Materialfundus unentbehrlich. Man sollte sich also frei machen von der geläufigen Herabsetzung von Rhetorik i n mißverstandener Aufklärung. Diese ist schon deshalb häufig sinnlos, weil der Rhetorikbegriff weite Schwankungen aufweist. Esser ζ. B. (1965, S. 20 f.) setzt dem logischen Argument das praktische gegenüber und sieht i m letzteren die Bedeutung der Rhetorik. Aber das bringt noch keine Klarheit. Andererseits ist für uns, wenn auch nur zur Anregung und zum Vergleich, Adornos große Verteidigung der Rhetorik i n der „Negativen Dialektik" (Frankfurt 1970, S. 63 f.) von Nutzen. „Durch die sei's offenbare, sei's latente Gebundenheit an Texte gesteht die Philosophie ein, was sie unterm Ideal der Methode vergebens ableugnet, i h r sprachliches Wesen. I n ihrer neuen Geschichte ist es, analog der Tradition, verfemt worden als Rhetorik. . . . Rhetorik vertritt i n Philosophie, was anderes als i n der Sprache nicht gedacht werden kann. Sie behauptet sich i n den Postulaten der Darstellung, durch welche Philosophie von der Kommunikation bereits erkannter und fixierter Inhalte sich unterscheidet. Gefährdet ist sie, wie alles Stellvertretende, w e i l sie leicht zur Usurpation dessen schreitet, was die Darstellung dem Gedanken nicht unvermittelt anschaffen kann. . . . Die permanente Denunziation der Rhetorik durch den Nominalismus, für den der Name bar der letzten Ähnlichkeit ist m i t dem, was er sagt, läßt sich indessen nicht ignorieren, nicht das rhetorische Moment ungebrochen dagegen aufbieten." Die ungebrochene Darstellung von Rhetorik i n Lehrbüchern befindet sich seit der Aufklärung i n unaufhebbaren Spannungen. Ohne die umfangreiche Literatur vollständig zu kennen (vgl. die Bibliographie bei Schanze 1974, S. 217 ff.) kann man wohl sagen, daß trotz zunehmender Rehabilitierung die Rhetorik einer Aporie verhaftet bleibt. A u f der einen Seite stehen schulmäßige Aufzeichnungen von Figuren, die großteils schon aus der Antike tradiert sind. Nur zur Erinnerung mag der Name Lausberg genannt sein. A u f der anderen Seite stehen Bücher voller Appelle, man möge präzise, ohne falsche Affekte usw. sprechen, ordentlich, situationsgerecht, usw. disponieren. So stehen einerseits Figu* Weitere interessante Überlegungen enthalten die i m Literaturverzeichnis genannten Manuskripte v o n Rodingen u n d Seibert. Sie sollen aber v o n ausführlicheren Arbeiten abgelöst werden, deren Erscheinen abgewartet werden sollte. Während der Drucklegung erschien T h . - M . Seibert „ Z u r Fachsprache i n der Juristenausbildung".

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V I I . Ansätze zu weiteren Forschungen

ren ohne die Angabe situativen Sinnes und andererseits sinnreiche Ratschläge ohne adäquate Formen. M i t der ersteren Tendenz verbindet sich meist der Rückgriff auf historische Traditionen, mit der zweiten meist die Hoffnung, jene A r t Rhetorik sei i n der Lebenspraxis profitabel. Der großartigste Versuch, diesem Dilemma zu entgehen, ist die „Neue Rhetorik" Perelmans. Hier w i r d jede Redefigur m i t solchem Beispielsreichtum eingeführt, daß der Leser die Chance hat, Argumentieren adaptiv einzuüben. — Man mag erstaunt sein, daß diese Abhandlung zur Argumentation hier nicht ausführlicher gewürdigt wird. Aber seine Leistung liegt weniger i m kategorialen Apparat, auf dessen Darstellung Sekundärliteratur großteils beschränkt ist. Es ist nicht adäquat, dieses einzigartige Werk zu loben — man muß es vor allen Dingen lesen! Die wenigen Versuche, das Spezifikum der Rhetorik doch m i t einem Begriff zu fassen, fallen nicht überzeugend aus. Verabsolutierte Teilaspekte aber — u m solche handelt es sich nämlich — sind trotzdem als Anregung wertvoll. Man sehe als Beispiel die Darstellung der Rhetorik i n der „Einführung i n die Semiotik" von Eco (1972, S. 179), der besonders auf das Schwanken zwischen Redundanz und Information hinweist. Dam i t ist ein interessanter Begriff genannt, über den sich anhand von Material weiter nachdenken läßt (vgl. z. B. Hund 1973, S. 80 f.). Könnte nicht der Begriff der Redundanz als ein analytisches Instrument die Rolle der Rhetorik i n der Juristentätigkeit klären helfen? Man denke an das Schreiben zivilrechtlicher Urteile, das sehr viel Zeit verbraucht und von dem jedermann weiß, daß sie selten gelesen werden! Erfahrung m i t Rhetorik erschließt manche Phänomene, die das Zusammenspiel von Inhalt und Textform betreffen. Zumindest eine Sensibilisierung für solche Beziehungen kann konstatiert werden Eine Beobachtung dieser A r t sei als Beleg genannt: A u f dem Gebiet der Argumentationstheorie reflektieren die Darstellungsformen die Inhalte eigentümlich. Diejenigen Autoren, die Argumentation auf Logik reduzieren, verengen damit nicht nur den Begriff der Argumentation, sondern auch schon ohne Zwang den der Logik. I h r Bemühen, möglichst wenig zur Debatte zu stellen, ist bereits i n ihrer Darstellung der Logik immanent kritisierbar und daher dem Verdacht ausgesetzt, soziale Interessen zu spiegeln. — Bei Habermas geht es inhaltlich u m die Schwierigkeit, Aufklärung i n gesellschaftlichen Prozessen voranzutreiben; diese Schwierigkeit ist i n seiner vielfach relativierten, i n sich gebrochenen, tastenden Darstellung wiederholt und man möchte fast sagen: antizipiert. Das Sprechen von verallgemeinerungsfähigen Interessen ist nicht nur ein geistiges, sondern auch ein soziales Problem. — Die Eristiken, die sich j a durchweg i n der heiteren Sphäre

4. Eristik als Erfahrungsquelle

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eines wissenschaftlichen Außenseitertums bewegen, provozieren durch die ungezwungene A r t ihrer Darstellung geradezu die Möglichkeit, individuelle Subjektivität als Kreativität wirksam werden zu lassen. Ihre Aussagen sind nicht nur diejenigen i n der Textform, sondern sie sind nur i m Mitvollzug erlernbar und faßbar. Nicht zufällig sind es gerade jene Außenseiterdarstellungen, die nach Beispielen, Form und Inhalt die disziplinäre Grenzziehung zur Ästhetik häufig überschreiten. 4. Eristik als Erfahrungsquelle Da Eristik eine ziemlich unbekannte Disziplin ist, empfiehlt es sich zuerst zur Information auf einige Klassiker hinzuweisen. Schopenhauer bestimmt „Eristische Dialektik" (1923) als die Kunst, so zu diskutieren, daß man Hecht behält, also per fas et nefas (S. 395). Er zählt 38 Kunstgriffe auf, die zum guten Teil heute als offenbar unfaire M i t t e l gelten. Eine Untergliederung w i r d nicht versucht. Ein Referat kann an dieser Stelle unterbleiben, da das modernere Beispiel unten den gleichen Sinn erfüllt. Der zweite Klassiker ist Erdmann m i t seinen vielfach aufgelegten Aufsätzen: „Die Kunst Recht zu behalten" (1924). Auch bei i h m sind die Kategorien so schwach, daß es bei einer bloßen Aufzählung hätte bleiben können: Unsachliche Kampf weise, Verdrehung des Streitpunkts, Mißbrauch der Sprache, falsche Verallgemeinerung, Ausnutzung von Analogien und Bildern, Ausspielen entgegengesetzter Werte, Berufung auf Autorität und Verabsolutierung (S. 34 ff.). Der Wert liegt i n den Einzelanweisungen und Beobachtungen. N u r ein Beispiel: Erdmann unterscheidet beantwortbares, aussichtsloses und falsches Fragen (S. 266). Das ist eine i n praktischen Gesprächen nützliche Einteilung, die man ohne weitere Ableitung plausibel verwenden kann. Verdienstvoll ist auch eine kurze Abhandlung, i n der an einem kleinen Gesprächsstück klargemacht wird, wie außerordentlich leicht man der Versuchung erliegt, Gewohnheiten durch Regeln zu rechtfertigen und zu erklären (S. 324 - 327). Die Suggestivität der Verführung w i r d dadurch entscheidend gesteigert, daß die Sache selbst i n Gestalt theatralischer Rollen durchgespielt wird. Ganz allgemein ist heute die Literatur zur Eristik ziemlich disparat (vgl. etwa Botha 1973, S. 332 f., Liebertz 1965). Erfahrungen m i t dem Reichtum an möglichen Argumenten sind auch i n den sog. „praktischen Ratgebern" zu sammeln, die i n denselben Taschenbuchreihen erscheinen wie ζ. B. Bücher m i t Titel „So werde ich eine perfekte Sekretärin". Auch hier sind die Kategorien gewöhnlich recht unbrauchbar, aber i n der als Beispielsfall angesprochenen Schrift

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V I I . Ansätze zu weiteren Forschungen

von Rother „Die Kunst des Streitens" (1971) ist ein instruktiver Übungsfall enthalten. Da Bücher dieser Klasse häufig nicht i n Bibliotheken zu bekommen sind, sei ein ausführliches Zitat erlaubt. Es geht u m die Verteidigung eines geplanten Baues eines Elektrizitätswerkes i n einem schönen Gebirgstal, gegen den Wanderer, Zoologen, Jäger u. a. protestieren. Rother empfiehlt als Möglichkeit erstens ein schlichtes Dementi, das j a schon dann möglich ist, wenn das Werk 1000 m oberhalb oder unterhalb der zuerst genannten Stelle entstehen soll, oder es sich vielleicht nicht u m ein Kraftwerk, sondern u m eine Umspannstation handelt. Zweitens sei darauf hinzuweisen, daß die Dinge mehr oder weniger zwangsläufig den vorgesehenen Verlauf nehmen müßten. Die Sachzwänge der Volkswirtschaft seien am Werke. Außerdem würden die Schäden der Natur, die gewiß bedauerlich seien, nicht vom Elektrizitätswerk verursacht, sondern dafür seien z. B. Besiedlungsdichte, Verseuchung des Wassers und der L u f t u. ä. verantwortlich; diese Schäden träten ein, und zwar unabhängig vom Kraftwerk. Drittens sei die Störquelle zergliedernd zu betrachten; der schöne Stausee bereichere das Landschaftsbild, Masten und Leitungsdrähte würden heute doch schon als zu einer Kulturlandschaft gehörig empfunden. Viertens sind andere Industrieanlagen zu vergleichen, namentlich Autobahn und Kasernen, an die die Naturschützer selbst sich längst gewöhnt haben; namentlich ist i n Retourkutsche gegen Aussichtstürme, Gasthäuser und Ferienheime zu protestieren. Fünftens ist auf Schlimmeres hinzuweisen, etwa auf einen Flugplatzbau oder eine industrieverschandelte Landschaft, dergegenüber der jetzige Fall unbedeutend w i r k t . Fehlt es daran, dann kann man aus dem Gegenteil schließen, daß nach der langen Kette von Ablehnungen von Industrieansiedlungen jetzt endlich wenigstens hier die völlige Einseitigkeit verhindert werden müsse. Sechstens kann man so tun, als hätten die Proteste Allgemeinverbindlichkeit beansprucht; die Industrie habe ebenfalls ein Lebensrecht, und wenn alle Interessen der anderen so mißachtet würden wie die der I n dustrie, wo käme man dann hin? Siebtens kann man diesen Fall i n einen opportunen größeren Zusammenhang stellen; schon so oft habe die Industrie unter gewichtigen Kosten auf Anlagen verzichten müssen. Achtens: A d absurdum; sollen die Menschen wieder i m Bärenfell herumlaufen? Neuntens kann man die Proteste entstellen: Die Forderung, keine Industrieanlagen mehr zu bauen und statt dessen die ganze Gregend zum Wandern oder Jagen bestimmen zu wollen, sei doch völlig unsinnig. Zehntens ist den Folgen der gegenseitigen Absichten nachzugehen; die durch Naturschutzpropaganda angezogenen Menschenmassen vernichteten früher oder später mehr von der Natur jenes Tales als das Elektrizitätswerk. Elftens bietet sich ein vorsichtig abwägendes Sprechen an, das die Proteste entwertet; Zivilisation sei allgegenwärtig und

4. E r i s t i k als Erfahrungsquelle

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wer könne also sagen, wo die Zivilisation anfangen und wo aufhören solle und wie ein angemessener Ausgleich zwischen beiden herbeizuführen sei; nur dieser stehe i m Grunde überhaupt zur Debatte. Zwölftens kann man einfach am Problem vorbeireden: Habe man denn wirklich nichts Besseres zu tun, als sich u m das winzige Tälchen zu kümmern, wo doch drängende andere Lebensprobleme anständen? Dreizehntens kann man gerade aus der Besonderheit des Falles Vorzüge ziehen; nur i n diesem Tal läßt sich das Elektrizitätswerk m i t einigen Baumgruppen idyllisch einfügen. Vierzehntens die Verurteilungen i n Sammelbegriffen: Es sei doch Romantik und purer Atavismus, Naturtümelei und feige Flucht vor den Aufgaben der Gegenwart, wenn man auf diese Weise versuche, den Gang der Entwicklung aufzuhalten und eine Kulturstufe m i t allen M i t t e l n zu bewahren, die nun einmal überholt sei! Wenn nicht genau für dieses Ε-Werk, dann lassen sich spätestens für Gemeinplätze Aussprüche von Gauss, Einstein oder Oskar von M i l l e r oder wem auch sonst zitieren. Fünfzehntens kann man dem Gegner unzureichende Wahrnehmung seiner eigenen Interessen vorwerfen: Die ganze A r t , wie hier von privater Seite aus versucht werde, industriellen Vorhaben vereinzelt entgegenzutreten, sei verfehlt; einzelne Oasen könnten inmitten der übrigen Umgebung ihren Charakter nicht behaupten und man müsse, wenn man schon Naturpflege betreiben wolle, große zusammenhängende Schutzgebiete errichten. Sechzehntens läßt sich die Taktik, hinter die gegnerischen Argumente zu gelangen, weit ausspinnen: So sei ζ. B. kulturgeschichtlich darauf hinzuweisen, daß eifervolle Naturpflege nie bei wirklich naturverbundenen Menschen anzutreffen sei, sondern i m mer einer späten Zivilisationsstufe entstamme, i n der sie letzten Endes nutzlos bleibe. Psychologisch sei es die Angst vor dem Leben, die sich hinter der illusionären Naturliebe verberge, das Zurückschrecken vor eigenen Leistungen und Libidoschwund; materiell interessiert seien doch nur einige Jagdpächter und Gastwirte, die als Initiatoren der ganzen künstlich geschürten Volkserregung eigennützig tätig seien; den an den Protesten beteiligten Vereinen gehe es nur um Zuarbeit für gewisse oppositionelle Parteien, von denen aus sie gesteuert und kontrolliert würden (Rother 1971, S. 145 ff.). — Dergleichen drängt zum Lernen i m eigenen theatralischen Spiel, aber wer doch auf Lernen durch Lektüre angewiesen ist, w i r d wohl besser zu dem jetzt ins Deutsche übersetzten „Kommunikation und Argumention" von Naess (1975) greifen. Nach der Absicht des Autors handelt es sich hier um ein Einführungsbuch i n Argumentation für Studenten aller Fachrichtungen. Der Sache nach ist es eine Eristik, die auch am Ende (S. 160 ff.) i n den typischen Stil der Regelaufzählung verfällt. Vorher fehlt das polemische Element und es überwiegt ein konstruktiv-logikanaloges. Mangels Theorie bleibt es hauptsächlich bei Ratschlägen, A p -

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V I I . Ansätze zu weiteren Forschungen

pellen und dem Verweis auf Training (S. 103, 128, 136). A u f der Basis eines umgangssprachlichen Verständnisses von Argumentation werden nützliche Unterscheidungen getroffen, z. B. zu Präzision, Interpretation, Spezifizierung, Haltbarkeit und Relevanz von Argumenten, Einigkeit. Die Anregungen der Eristik wären sicherlich nützlich aufzunehmen i n die Juristenausbildung durch Rollenspiel i m pädagogischen Sinne. Diese Rollenspiele könnten allgemein eine propädeutische Funktion haben. Das ist auch die Absicht von Naess. Für Juristen ist die Einübung der Erfahrung, daß immer noch mehr und andere Argumente denkbar sind, eine wichtige direkte Berufsvorbereitung. Einen Eindruck davon sollte das ausführliche Zitat geben, da jene Ausführlichkeit nicht durch die bloße Nennung des Faktums ersetzt werden kann. Die Idee des Rollenspiels kann aber auch i n einer zweiten Hinsicht speziell für Juristen wichtige Leistungen erbringen. I m Zusammenhang m i t der Diskussion m i t Curricula i m pädagogischen Sinne hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, daß nicht nur Wissen, sondern auch Attitüden als Erfolg von Ausbildung angestrebt werden müssen. Das ist nur möglich durch die Planung von komplexen Lehr- und Lernsituationen, i n denen antizipativ Verhalten eingeübt werden kann. Für die Schule hat Balhorn die Rollenspiele diskutiert, i n denen das „Lehrziel Argumentationsfähigkeit" anzusteuern wäre (1974, S. 662 f.). Es ist recht wahrscheinlich, daß sie m i t entsprechenden Abänderungen auch für den Hochschulunterricht praktikabel wären. Für Juristen haben sie einen besonders wichtigen Aspekt: Das spielerische Moment fördert Internalisierung von Distanziertheit i m Argumentieren. Distanz i n der Entscheidungssituation w i r d i n der juristischen Tradition eher in entgegengesetztem Sinne verstanden: Angestrebt wurde Freiheit von Emotion durch Bindung an ein als operationales Programm verstandenes Gesetz. Das führte häufig zu Verkrampfungen und zum Gegenteil dessen, was distanzierte Betrachtung einer Problematik positiv bedeuten kann: Reichhaltiges, kreisendes Nachdenken über alle Problemaspekte und Lösungsvariationen. Insofern ist die derzeitige Praxis sicher verbesserungswürdig. U m nur den einleuchtendsten Beispielsfall zu nennen, sei auf die „nichtjuristischen" Lösungsmöglichkeiten von Individualkonflikten hingewiesen, die von den Justizpraktikern oft übersehen werden.

8. Kapitel

Die Besonderheit juristischer Argumentation 1. Zwischenergebnis I n den vorangegangenen Kapiteln wurde davon ausgegangen, daß j u ristische Argumentation keine wesentliche Besonderheit gegenüber der allgemeinen aufweist. Bezogen auf die behandelten Themen ist diese Aussage sicher nicht zu bestreiten. Die Unterscheidung von Fragen der Modellbildung von Argumentationen und von Fragen der Handlungsrichtigkeit auf Grund von Letztbegründungen ist auch für juristisches Argumentieren grundlegend. I n jedem juristischen Fall steht eine praktische Frage zur Entscheidung an, und jedesmal ist also die Frage nach der „Wahrheitsfähigkeit praktischer Fragen" gestellt. Die Besonderheiten juristischen Argumentierens sind nicht so prinzipieller Natur. Dies ist namentlich deshalb zu betonen, weil der Einwand zu erwarten ist, die besondere Ausrichtung des juristischen Denkens auf Gerechtigkeit zeige sich i n besonderen Argumentationsformen. Dem ist entgegenzuhalten, daß Entscheidungstexte und sonstige juristische Literatur tatsächlich erstens Gerechtigkeit sehr selten nennen und zweitens m i t ihr nicht anders als m i t anderen Zielvorstellungen operieren. Ganz überwiegend scheint stillschweigend ausgemacht zu sein, daß die argumentat i v erarbeitete Auslegung des Gesetzestextes oder die zweckrationale Verfolgung allgemein akzeptierter sozialer Ziele zugleich auch der angestrebten Gerechtigkeit genügt. Man könnte nun den Einwand spezifizieren: Gerechtigkeit sei zwar nicht allgemein vernünftigem Argumentieren entgegenzusetzen, aber es gäbe doch besondere Bereiche, i n denen aequitas i m tradierten Sinne, gewissermaßen also salomonische Gerechtigkeit, unentbehrlich sei; man habe dabei an die richterliche Kunst zu denken, i n Vergleichen die Versöhnung zerstrittener Menschen herbeizuführen. Der so spezifizierte Einwand läßt sich nicht i n direkter Weise kritisieren. Er bleibt wegen seiner Unbestimmtheit k r i t i k i m m u n . Es ist bisher nicht überzeugend gelungen, einen besonderen Bereich zu definieren, i n dem die Billigkeit eine abhebbare eigene Rolle spielt. Die deutsche Rechtsprechung zu § 242 BGB kennzeichnet die Schwierigkeit zur Genüge: Die vielfachen Anwendungsfälle der Billigkeitsformel liefern alle Arten von Beispielen für unterschiedliche Grade der Verfestigung zu wohl formulierten Normen, bestehend aus scharf abgegrenzten

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V i l i . Die Besonderheit juristischer Argumentation

Tatbeständen und differenzierten Rechtsfolgen. I n jenem Spektrum hat sich gerade gezeigt, daß i m geschichtlichen Ablauf heute überprüfbare schlüssige Begründungen für Fallgruppen vorliegen, die anfänglich mit einigen wenigen kuriosen Einzelfällen begründet wurden, für die es scheinbar nur den Verweis auf Billigkeit als Begründungsformel gab. 2. Allgemeine und juristische Argumentation Juristische Argumentationen unterscheiden sich äußerlich stark von allgemeinen. Dafür lassen sich Ursachen angeben, wenngleich quantitative Aussagen zur Zeit nicht möglich sind. A m wichtigsten erscheint folgendes: Juristisches Argumentieren ist i n zwei, und zwar gegenläufigen, Hinsichten ainders als allgemeines und die entstehende Diskrepanz w i r d häufig m i t besonderen Manövern überbrückt. A u f der einen Seite spiegelt juristisches Sprechen den besonders weitgehenden Begründungszwang. A u f der anderen Seite sind die i n juristischen Fällen durchschnittlich anstehenden sozialen Fragen schon viel weiter ausdifferenziert und liegen i m Niveau der Relevanz viel niedrigenr als jene Fragen, die sich m i t den vom kritischen Rationalismus favorisierten empirischen Methoden oder i n rationalen Diskursen adäquat angehen lassen. Deshalb ist juristisches Argumentieren gekennzeichnet durch besondere Häufigkeit von verkürzten und zielverfehlenden Argumenten und von Formeln, die Fragen i n Wahrheit offen lassen oder sonst Begründungen vortäuschen (dazu unter 3.). Diese Gedanken bedürfen der näheren Darlegung. a) Die Forderung nach Begründung juristischer Entscheidungen w i r d gemeinhin aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitet und hat demnach Rechtsqualität. Das ist keine neue Einsicht, wie man aus der Wichtigkeit ersehen kann, die seit langem dem juristischen Syllogismus beigemessen wurde. I n früheren Zeiten, als man noch nicht allgemein den rechtsschöpferischen Aspekt jeder Gesetzesauslegung erkannt hatte, war also ungeachtet dessen die Bemühung sehr stark, die normale Juristenarbeit als logische Herleitung von Fallösungen aus dem Gesetz darzustellen. Das ist bemerkenswert, weil eigentlich die logischen Formen für Wortinterpretation nicht unabdingbar waren. Auch derzeitige j u ristische Texte sind i n sehr viel größerem Umfang als andere i n Formen von Begründungen geschrieben. Dabei stehen alle erdenklichen (und namentlich die i n den entsprechenden Kapiteln i n unserer Abhandlung oben genannten) gemischt durcheinander. So finden sich Sätze, die den Schemata Toulmins und Polyas entsprechen, Syllogismen wie Topoi. Es würde sich wohl durch eine inhaltsanalytische Untersuchung nachweisen lassen, daß so gut wie alle Formen vorkommen. Die Schwierigkeit einer solchen Untersuchung bestände aber darin, daß sehr viele ver-

2. Allgemeine u n d juristische Argumentation

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kürzte Formen i n Entscheidungstexten auftreten, wofür enthymematische Argumentation das bekannteste Beispiel abgib. Es würde aber auch schwerfallen, die einzelnen Argumente angesichts der Vielfalt möglicher Inhalte zu identifizieren. Völlig zu Recht hat Eike von Savigny auf die Heterogenität als Besonderheit juristischen Argumentierens (1976, S. 135) hingewiesen und Rottleuthner hat bei dem Versuch einer groben Einteilung bereits vier sehr verschiedene Argumentationstypen registriert, nämlich semantische, rechtspolitische, empirische und Maßnahmenargumentationen (1973, S. 190 ff.). Dië Rechtsprechung hat kein Gebiet völlig vom Begründungszwang freigestellt: Bei Ermessens- und Strafbegründung w i r d eine ganze Reihe von Gesichtspunkten obligatorisch geprüft und bei der allerersten Bemessung eines Schmerzensgeldes für seelische Beeinträchtigungen, die also auf keine Präjudiz zurückgreifen konnte, wurde eine ganze Reihe von Umständen offenbar als Argument für die Höhe der Summe genannt (BGH NJW 58,830). Es beherrschen aber nicht nur argumentative Satzformen juristische Texte, sondern auch die Verlaufsmodelle finden sich i n relativer Annäherimg wieder. Die normalen juristischen Prozesse sind ersichtlich als Verlaufsmodelle rationalen Entscheidens konzipiert. Man könnte sich sogar umgekehrt fragen, ob nicht die Modellbildung i n Entscheidungsfragen von juristischem Denken beeinflußt ist. Die Kommunikationssituation i n Prozessen w i r d i n einer Reihe von grundlegenden juristischen Normen thematisiert. Die Gewähr rechtlichen Gehörs hat Verfassungsrang und die Befangenheitsregeln für Richter stellen darauf ab, ob der Prozeßbetroffene Anlaß zu dem Gefühl hat, der Richter sei befangen; dann ist die Kommunikationsmöglichkeit bereits beeinträchtigt, mag der Richter auch objektiv unbefangen sein. Die Wichtigkeit von Begründungsformen für juristische Texte zeigt auch die Überlegung, u m wieviel reichhaltiger Texte nichtjuristischer A r t zu allgemeinen Fragen sind. Dazu braucht man gar nicht ästhetische Texte zu bemühen, sondern man kann sich an Zeitungsartikeln zu so politiknahen Fragen wie der Notwendigkeit verstärkten Autobahnbaus orientieren. Hier sieht man, daß Werte z.B. gar nicht als Argument eingesetzt werden, sondern offen u m ihre Akzeptierung beim Leser geworben w i r d ; daß der Sachverhalt pluralistischer Wertungsvielfalt eine viel größere Rolle spielt; daß Vertrauen i n sachgerechte Wahrnehmung von nun einmal übertragenen Kompetenzen ebenso wie politische Konsense bereitwillig als Prämissen akzeptiert werden; usw. b) Der Inhalt juristischer Texte betrifft immer praktische Fragen. Die Richtigkeit dieser Feststellung braucht hier nicht näher untersucht werden. Juristisches Arbeiten lebt nämlich immer aus der notwendig durch-

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gehaltenen Unterstellung, man habe es m i t wahrheitsfähigen praktischen Fragen zu tun. Daran ändert auch nichts das häufige Sprechen von „Werten", denn diese fungieren nur als Beschreibungselemente einer erstrebenswerten Zukunft. Das hat sich namentlich i n den großen Debatten um die Funktion des Strafrechts i n unserem Staat zunehmend gezeigt. Die i n juristischen Texten verhandelten praktischen Fragen sind überwiegend außerordentlich konkret. Was das bedeutet, kann man sich am besten anhand des bekannten Stichwortes „Folgendiskussion" klarmachen, wobei i m weiteren volkswirtschaftliche Kostenminimierung als Beispiel ausreicht. Als Darstellungstypus ist Folgendiskussion ein anerkanntes Verfahren. Juristische Entscheidungen werden heute für gut gehalten, wenn sie die allseitigen Folgen der Entscheidungsalternativen durchspielen und so die faktischen Auswirkungen der möglichen Entscheidungen gegenüberstellen können. I n einem zweiten Schritt soll danach unter Offenlegung der Wertungsgesichtspunkte die Entscheidung getroffen werden. Dieses Modell juristischen Entscheidens bedeutet sicherlich ein Fortschritt gegenüber Vollzug derselben geistigen Operationen i n Gestalt von Arbeit an Begriffen. So ist auch verständlich, daß die Forderung nach Offenlegung der Bewertungskriterien von möglichen zukünftigen Zuständen zum methodologischen Gemeinplatz geworden ist und häufig schlichtweg m i t „Rationalität" identifiziert wird. Inhaltlich muß aber mehr die Frage interessieren, wie weit sich denn Folgen kontrollieren lassen. I n Diskussionen u m allgemeine Themen macht nun zweifellos die Komplexität der Kausalverkettungen zwischen einzelnen Entscheidungsfolgen große Schwierigkeiten. Dieser Sachverhalt ist z. B. i n Zusammenhang m i t der Frage der Möglichkeit politisch verantwortbarer Zukunftsplanung öfters geschildert worden. Man denke nur an Scharpfs vielbesprochenen Aufsatz „Komplexität als Schranke der politischen Planung" (in: Scharpf, Planung als politischer Prozeß, Frankfurt 1973, S. 73 ff.). Bei juristischen Entscheidungen ist es aber häufig nicht die Komplexität, sondern die Irrelevanz, die es schwer macht, die Einzelfolgen auszumachen. Justizförmig entschieden werden Einzelfälle und Grenzfälle. I n typischen Prozessen stehen keine Grundfragen der Gesellschaft an, bei denen die Folgen i n groben Umrissen doch durch Vergleich mit anderen Industriegesellschaften überschaubar wären. — I m Gang der Überlegungen werden jetzt typische juristische Fälle analysiert. Sie können als durchschnittlich gelten, da sie den Kernbereich der i n der juristischen Ausbildung am intensivsten vermittelten Rechtsmaterie angehören und als neuere Entscheidungen des Bundesgerichtshofs Gegenstand fachlicher Diskussion waren. Sie geben Gele-

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genheit, die hier gewählten Bezeichnungen „Einzelfälle" und „Grenzfälle" und die Schwierigkeit rationaler Entscheidungsbegründung i n solchen zu erläutern. Z u diesem Zweck kann man sich die schon angedeutete Vereinfachung erlauben: Man kann unterstellen, volkswirtschaftliliche Kostenminimierung sei per Konsens für jene Fälle als alleiniges Entscheidungskriterium anerkannt. Damit w i r d übergangen, daß auch bei der hier als Beispiel dienenden Kreditsicherung verschiedene Grundprinzipien (Mittelstandsschutz, Maximierung oder Minimierung des Kreditvolumens, etc.) denkbar sind, die der Rechtfertigung bedürften; die Auswahl unter solchen Prinzipien müßte vorgängig als praktisches Problem gelöst werden, aber die Verfahrensschwierigkeiten wären keine anderen, als die hier untersuchten. Nun zum Anschauungsmaterial: Ein Jugendlicher hat durch einen kleinen Trick fertiggebracht, sich von der Lufthansa kostenlos nach New York fliegen zu lassen; diese verlangt nachträglich den Fahrpreis. Das war der Sachverhalt einer viel diskutierten Entscheidung des Bundesgerichtshofs (BGHZ 55, 128 ff.). Hier geht es um einen Einzelfall. Wie immer die Entscheidung gefällt worden ist, ihre Folgen jedenfalls betreffen nur die Parteien und sind volkswirtschaftlich irrelevant. Der Sachverhalt w i r d sich nicht wieder ereignen, denn durch Dienstanweisung an die Ticketkontrolleure w i r d jene Trickmöglichkeit von der Geschäftsleitung der Lufthansa für alle Zukunft ausgeräumt sein. Ein Grenzfall dahingegen betrifft die exemplarische Entscheidung des Bundesgerichtshofs BGHZ 61, 80 ff. Es geht i n ihr u m die Möglichkeit des Eigentumsvorbehaltes an einem nachträglich eingebauten gebrauchten Austauschmotor i n einem Auto. Der Rahmen der Entscheidung ist Dogmatik; so die Prämisse: „Da § 93 BGB die einheitliche Sache nur schützt, wenn die Zerlegung der Sache die Zerstörung oder Wesensveränderung eines der Bestandteile zur Folge hätte, und da durch den Ausbau des Motors weder dieser noch die sonstigen Bestandteile des K r a f t fahrzeugs zerstört oder beschädigt werden, kommt es darauf an, ob hierdurch die Bestandteile i n ihrem Wesen verändert werden." Innerhalb solcher „Wesens"-Fragen nähert man sich nun dem einzig relevanten Gesichtspunkt „ F ü r die Frage, wann durch die Trennung von Bestandteilen deren Wesen verändert wird, ist eine wirtschaftliche Betrachtungsweise geboten" (BGHZ 61, 81). Sodann w i r d der Versuch unternommen, das volkswirtschaftliche Interesse ganz utilitaristisch zu eruieren. Das entspricht auch dem Telos des Gesetzes. § 93 BGB soll verhindern, daß volkswirtschaftliche Werte sinnlos vernichtet werden und verlangt daher eine Diskussion der Fallfolgen unter diesem Gesichtspunkt. Das Besondere dessen, was ich hier m i t dem Wort „Grenz-

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fall" akzentuieren w i l l , zeigt sich nun darin, daß i n Wahrheit volkswirtschaftliche Interessen nur i n einem geringen, gar nicht ausmachbaren Umfange i n der Entscheidimg betroffen werden. Wenn nämlich die Kraftfahrzeugreparaturwerkstätten sich das Eigentum an gebrauchten Austäuschmotoren nicht gesondert vorbehalten können, dann werden sie — sofern sie überhaupt für nicht liquide Kunden arbeiten — auf andere Methoden der Kreditsicherung verwiesen sein. Davon gibt es nun diverse, und die sind volkswirtschaftlich differenziert zu bewerten* Eigentumsvorbehalt am Motor verursacht nicht sinnvolle Kosten beim Wiederausbau; andere Kreditsicherungen verursachen eventuell Werteverschleiße bei Versteigerungen etc. W i r haben also einen Fall vor uns, bei dem die Wertimgskriterien keine Komplexität verursachen und der deshalb der Kalkulation zugänglich sein könnte. Hier ließe sich klassisch utilitaristisch entscheiden, wenn sich die geforderten Daten zu akzeptablen Kosten beschaffen ließen. Tatsächlich kommt aber der Fall so selten und m i t solchen faktischen Variationen vor, daß hier unweigerlich grobe Schätzungen anstelle von korrekten Bezifferungen der Kosten treten. Nun aber zeigt sich die Crux der Grenzfälle. Bei einem neuen Motor ist ziemlich sicher, daß die Kosten von Ein- und Ausbau für die Hauptmasse der Fälle ein Sechstel bis ein Vièrtel des Preises des Motors ausmachen. Das ist eine relativ brauchbare Kalkulationsbasis. Dem Bundesgerichtshof liegt aber hier zur Entscheidung nicht diese, sondern bereits die nächstschwierigere Fallgruppe vor. Das ist typisch. I n den einfacheren Fallgruppen lassen sich die gerichtlichen Entscheidungen von den Parteien viel leichter voraussehen, so daß die Fälle gar nicht zur Justiz kommen, und generell sind i n den leichter kalkulierbaren Fallgruppen Gesetze viel häufiger operational formuliert. Dazu kommt, daß i n Grenzfällen der Regelungsbedarf viel geringer ist. I m Beispiel: Der Einbau eines gebrauchten Austauschmotors w i r d viel seltener kreditiert als der Einbau eines neuen. Das bringt nun wieder m i t sich, daß die Prozeßparteien und die Öffentlichkeit viel weniger an Information zur allgemeinen Problematik vortragen, als das bei Musterprozessen (z. B. i n Gestalt von Parteigutachten) geschieht. Diese Problematik der Grenzfälle sei noch an einem anderen Beispiel verdeutlicht. Bei unerwünschter Werbung per Fernschreiber hatte der Bundesgerichtshof recht plausibel argumentieren können, Fernschreiberzeit kostet Geld und es sei nicht einzusehen, m i t welchem Recht dem Besitzer eines Férnschreibers gegen seinen Willen diese teure Zeit solle weggenommen werden können. I n einer neueren Entscheidung des Bundesgerichtshof steht nun der nächste grenznähere Fall an: Unerwünschte Werbung durch äußerlich unauffällige Briefe (BGHZ 60, 296 ff.). Bei der Zurückverweisung gibt der Bundesgerichtshof dem Berufungsgericht eine klare utilitaristische Analyse auf: Es soll Beweis

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darüber erheben, m i t welchen Kosten die Herausnahme einzelner Adressen aus der der Adressiermaschine eingegebenen Liste verbunden ist; nur wenn diese Kosten unverhältnismäßig i m Vergleich m i t dem Eingriff i n das allgemeine Persönlichkeitsrecht durch die unerwünschte Werbung sind, dann soll diese A r t der Briefwerbung erlaubt sein. — Man sieht: Der Bundesgerichtshof w i l l mit seiner Entscheidung volkswirtschaftlich sinnlose Kosten vermeiden, aber die Parteien haben nicht einmal die nötigen Ausgangsdaten für eine Kalkulation vorgetragen. Die Entscheidung betrifft ein Randphänomen. Offene Werbung genügt vollkommen und bleibt unabhängig von der Entscheidung Hauptfall. Daher ist eine konsequente utilitaristische Analyse nicht durchzuführen; es müßte nämlich auch noch überprüft werden, was der Wirtschaft verloren geht, wenn i h r aus Rücksicht auf das allgemeine Persönlichkeitsrecht die verdeckte Werbung ganz untersagt wird. Einzel- und Grenzfälle sind das Gegenteil dessen, was man sich als Thema idealer Sprechsituation i. S. Habermasens vorstellen kann. W i r k lich öffentlich diskutiert w i r d nur über Kernbereiche relevanter, und deshalb verallgemeinerungsfähiger Interessen und nicht über Randphänomene. Die empirische Unterstellung der Gleichheit ist sinnvoll bei Erörterungen ζ. B. des Rechtes aus Bildung, des Interesses an Freizügigkeit und bei der Frage der Vermögensverteilung. A u f Fragen dieses Relevanzgrades lassen sich Wahrheiten als A n t w o r t finden. Sie werden aber i n unserer Gesellschaft nicht der Justiz zur Entscheidung vorgelegt, oder sind zumindest höchst selten Gegenstand von Juristenarbeit. — Angesichts der verstärkten Schwierigkeit, i n Einzel- und Grenzfällen zutreffende Letztbegründungen zu geben, scheint „soziale Topik" der für die hauptsächlichen Fallgruppen einzig erreichbare Rationalitätsgrad zu sein. Sie stellt einen Mittelweg dar zwischen schlichter Dezision und stringenter Letztbegründung. Verglichen mit bloßem Entscheiden hat sie nicht nur den Vorzug verstärkter Nachprüfbarkeit und Rationalität i n diesem Sinne, sondern sie w i r d auch dem persuasiven Zweck von juristischen Begründungen gerecht. Das bedeutet nicht nur, daß die Entscheidenden den jeweils Anderen zum Akzeptieren der eigenen Meinung motivieren, sondern die Entscheidenden behalten so auch verstärkt die Möglichkeit, Lernprozesse zu durchlaufen. Einmal werden durch soziale Topik die möglicherweise als Letztbegründungen einschlägigen Sachverhalte thematisiert und dadurch die entsprechenden analytischen Möglichkeiten ins Gedächtnis gerufen, zum anderen t r i f f t soziale Topik die durchschnittliche Diskussionsart und die Entscheidenden müssen sich auf diesem Niveau auf Kommunikation einlassen, durch die sie möglicherweise an Erfahrungen und Einsichten anderer partizipieren können. 10 Struck

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3. Einzelne Argumentationsmuster Es lassen sich eine ganze Reihe von typischen juristischen Argumentationsfiguren beschreiben, die die Diskrepanz zwischen verstärktem Zwang zu Begründungsformen und verstärkter Schwierigkeit inhaltlicher Letztbegründung überbrücken sollen. Eine systematische Ableitung solcher Figuren ist nicht möglich. Eine andere Aufzählung für allgemeine Begründungsfragen geben z. B. Scott/Lyman (1976, S. 96). Sie nennen Mystifikation (man kann Gründe haben, die Gründe nicht zu nennen), verweisen (z. B. an Experten) und als drittes Identitätswechsel (die Behauptung, man spiele die Rolle nicht, die zum Ansatzpunkt von Begründungspflichten gemacht wurde). Die Autoren nennen die Verfahren „Meta-Erklärungen" und zugleich „Strategien zur Vermeidung von praktischen Erklärungen". Der scheinbare Widerspruch der Bezeichnungen beschreibt die A m b i valenz präzis. Z u analytischen Zwecken scheint m i r für die Jurisprudenz die Unterscheidung folgender Fallgruppen opportun: Verkürzung von Argumentation; Formeln, die eine Begründung nur vortäuschen; Formeln, die die Entscheidung offenlassen. Es verlohnt nicht, solche Bezeichnungsvorschläge durch Definitionen näher auszuführen, denn die Einteilungen müssen sich sowieso bei der Sichtung des Materials bewähren. a) Prototyp dessen, was man verkürzte Argumentation nennen kann, ist der Ersatz von Faktenforschung durch Alltagstheorien. Es werden Aussagen gemacht, bei denen eine weitere Überprüfung derzeitig möglich wäre und für einen geschlossenen Gedankengang auch notwendig wäre. Alltagstheorien sind i n doppelter Hinsicht ambivalent: die durch sie ermöglichten Prognosen können i n den meisten relevanten Fallgruppen zutreffen, sie müssen also nicht „falsch" sein; sie ermöglichen uns Orientierung i n unserer Lebenswelt durch Entlastung von subjektiver Unsicherheit, aber sie verhindern häufig eine wissenschaftlichen Standards entsprechende Aufarbeitung der Faktenbasis einer Entscheidung. Alltagstheorien sind also gewissermaßen nicht völlig ungeeignet, sondern nur meistens unzureichend. Ihre Verwendung kann besser sein als schlichte Dezision. Über ihre Häufigkeit i n juristischen Texten ist oft geklagt worden, aber meistens an Stellen, an denen die K r i t i k e r entgegengesetzte Alltagstheorien vertraten und genauere Überprüfung in der Erwartung verlangten, die Ergebnisse würden ihnen Recht geben. U m K r i t i k von Alltagstheorien haben sich namentlich Vertreter k r i tisch-rationalistischer Methodologie verdient gemacht. Nur ein Beispiel: Opp berichtet i n „Soziologie i m Recht" (1973, S. 84 ff.) den Fall einer

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Frau, die i n einer Gaststätte zusammen m i t Bekannten trank, und dabei einem eingeschlafenen anderen Gast die Geldbörse aus der Tasche zog, sie aber gleich ihrem Bekannten ließ, der sie ihr sofort aus den Händen nahm. Sie hatte ein niedriges Einkommen, war vorbestraft und arbeitete als Prostituierte und sie schwieg über das Motiv der Wegnahme. A u f Grund dieser Umstände sah der Richter einen Diebstahl als bewiesen an, offenbar auf Grund von Alltagstheorien: „ M a n weiß doch, daß . . . " Opp wendet sich engagiert gegen solche buchstäblich fragwürdigen Schlüsse. Jeder, der die Justiz kennengelernt hat, w i r d sich an vergleichbare Beispiele erinnern. Man tut sich regelrecht schwer, sich vorzustellen, wie die Justiz ohne solche abkürzenden Schlüsse funktionieren sollte. A u f der Wertungsebene sind es hauptsächlich dogmatische Redefiguren, die nun verkürzt einmal früher durchdachte Argumentationen repräsentieren. Dogmatik ist ζ. B. das Sprechen vom „Wesen eines A u tos", das den Ausgangspunkt der oben skizzierten Entscheidung zum Eigentumsvorbehalt an einem gebrauchten Austauschmotor bildete. — Nennen w i r ein anderes typisches Beispiel für dogmatische Begriffsbildung: Gefälligkeitsgeschäfte und verbindliche Rechtsgeschäfte werden danach unterschieden, ob die Beteiligten einen „Rechtsfolgewillen" hatten. Dabei handelt es sich natürlich u m ein Konstrukt ohne psychologische Basis, das den Bürgern i n der juristischen Entscheidung zugeschrieben wird. Begründet w i r d solche Zurechnimg durch Nennung von allerdings relevanten Argumenten: Erhebliche Bedeutung des Geschäfts, Stabilität der Erwartung der Leistung, Regelmäßigkeit von Gegenleistung, usw. I m Vergleich zu diesen nun wirklich interessierenden U m ständen ist das Sprechen vom „Rechtsfolgewillen" verkürzend und bringt die Gefahr m i t sich, daß die wirklich einschlägigen Überlegungen unterbleiben. Dogmatik zeigt auch die spezifischen Folgen lehrmäßiger Darstellungen. M i t diesem Aspekt hängt die große Bedeutung der „Normalfiguren" zusammen, die Lautmann m i t Belegen als ein Verfahren der Entscheidungserleichterung durch Weglassen von Fakten und Normen geschildert hat (Lautmann 1972, S. 125 ff.). Lehrdarstellungen müssen dazu tendieren, einfache Formen als Hauptfälle an den Anfang zu stellen und so beim Leser den Eindruck faktischer Normalität für sie i n Anspruch zu nehmen. Es beginnt z.B. kein Lehrbuch des GmbH-Rechts m i t der „ G m b H u. Co.-KG"; hier mag auch faktisch der formal einfachere Fall der Hauptfall sein. Bei kreditierten Käufen mag aber inzwischen längst der i m Gesetz nur am Rande behandelte Eigentumsvorbehalt der faktische Hauptfall sein. Trotzdem würde kein Jurist zögern, i n einem Streitfall von einem Verkäufer darüber Darlegungen zu verlangen, daß er sich des Eigentums vorbehalten habe. Solche Normalitätsannahmen w i r k e n also faktisch wie normativ.

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Eine i m juristischen Schrifttum außerordentlich wichtige weitere Möglichkeit verkürzter Argumentation ist die Manier, mit „Belegen" und „herrschenden Meinungen" zu arbeiten. Prinzipiell sind bestehende Ubereinstimmungen oder Konsense i n beteiligten Bevölkerungs- oder Juristenkreisen ein gewichtiges Argument für eine entsprechende Entscheidung. Wenn schon viele andere i n derselben Sache nachgedacht haben, dann spricht gesunder Menschenverstand für das von Vielen anerkannte Ergebnis. Die häufig ungeklärte Frage ist aber, ob wirklich Belege ein „Mehr" an Reflexion bezeugen. Dazu verweise ich auf früheres Beispielsmaterial (Struck 1971, S. 89 ff.). Der Einsatz von Metaphern anstelle von Begriffen erspart die genaue begriffliche Arbeit und w i r k t i n diesem Sinne argumentationsverkürzend. Das Problem w i r d seltener wahrgenommen als es sich stellt, w e i l viele Juristen ihre gängigen Metaphern bereits für Begriffe halten. Z u letzterem nur ein Beispiel: Die absoluten Rechte sind ganz und gar nicht absolut, und von dem wichtigsten F a l l eines absoluten Rechtes sagt die Verfassung lakonisch „Eigentum verpflichtet." Trotzdem w i r d häufig i n juristischen Abhandlungen m i t dem „absoluten" Charakter von Rechten argumentativ operiert, so als sei man der genauen Analyse von Einschränkungen damit enthoben und als sei eine Einschränkungsmöglichkeit an besondere Voraussetzungen gebunden. — Andere juristische Begriffe werden wohl noch als Metaphern empfunden: Dafür ein Exempel: Die Unterscheidimg zwischen Innen- und Außenverhältnis ist eingängig, aber ohne jede analytische Kraft. — Den Mechanismus der Verkürzung kann man an dem Gesetzestext gewordenen Argument studieren, ein Unternehmen müsse nur bis an die Grenze des wirtschaftlich Zumutbaren Schutzvorkehrungen gegen die Beeinträchtigungen der Nachbarn einbauen (§ 906 BGB). Damit w i r d das Unternehmen w o h l wie ein Mensch eingeschätzt. Das wäre auch richtig, wenn i n Wahrheit das für die hinter dem Unternehmen stehenden realen Individuen Zumutbare gemeint wäre. Es ist aber wahrscheinlich das wirtschaftlich Erträgliche gemeint. Ein Unternehmen hat eine reale Existenz und „ertragen" kann durch „weiterhin existieren" beschrieben werden (Struck 1971, S. 85). Die Metapher verunklart und verhindert so den Durchgriff auf die wirklichen Interessen, von denen nun einmal feststeht, daß nur lebende Personen wirkliche Interessen haben können. Daß man sich m i t Metaphern verständigen kann, und daß sie als Aushilfe da nützlich sind, wo genauere Aussagen noch ausstehen, soll damit nicht i n Abrede gestellt werden. Ähnlich vernebelnd und insofern verkürzend w i r k t häufig der Rückgriff auf sog. Werte. Daß die Rechtssicherheit ein „ W e r t " ist, scheint viele Juristen von genaueren Überlegungen zu der m i t diesem Stichwort angestrebten Zukunftsgestaltung zurückzuhalten. Werte, so lautet ein Ge-

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meinplatz, lassen sich nicht näher analysieren. Dieser Satz w i r d häufig mißbräuchlich gegen die Notwendigkeit differenzierter Betrachtungsweisen gewendet. I m Fall der Hechtssicherheit lassen sich aber recht verschiedene Komponenten unterscheiden: Präzision der Einhaltung von prozessualen Vorschriften, Schnelligkeit der Justiz, weitreichende Kompetenzen justiziellen Einschreitens, durch Einfachheit bereits vorgerichtlich klärende Normformulierungen, usw. Manche Zielvorstellungen, die hinter dem Respekt heischenden Argument „Rechtssicherheit" stehen, würden andererseits bei genauerer Analyse keine Zustimmung finden; ζ. B. dürfte keine allgemeine Anerkennung mehr finden, daß Gerichte ohne Rechtsfortbildung immer gleiche Entscheidungen fällen sollen. b) Schlüssige Begründungen können dadurch täuschen, daß sie nicht den i n der Entscheidung fraglichen Punkt betreffen. Ich greife auch hier auf schon früher verwendete Beispiele zurück. I n der Debatte u m die Verjährung der KZ-Taten wurde immer wieder gesagt: Verjährung muß sein, denn einmal muß Schluß sein. Dem konnte man entgegenhalten: Einmal ist sowieso Schluß, nämlich nach 110 Jahren nach der Geburt des Täters. Z u beweisen war die nächstpräzisere Rechtsfolge, nämlich die Verjährung speziell nach 30 Jahren. Man konnte also als Befürworter der Aufhebung von Verjährung den Ausgangssatz akzeptieren, w e i l er nicht bewies, was zu beweisen gewesen wäre. Eine sehr verbreitete Technik der Abweichung vom Beweisthema ist die Verwendung von extremen Beispielen. So hatte der Bundesgerichtshof einen Ehescheidungsprozeß zu entscheiden, i n dem das Zerwürfnis sich an der religiösen Kindererziehung entzündet hatte. U m zu belegen, daß auch die Religionsfreiheit der Ehefrau nicht absolut gilt, brachte der Bundesgerichtshof als Möglichkeiten religiöser Betätigung Menschenopfer i n Erinnerung. — Die Notwendigkeit der Aufbewahrung von erkennungsdienstlichen Materialien über einen Mann, der sich des Exhibitionismus verdächtig gemacht hatte (nur verdächtig!) wurde damit begründet, daß dieser Mann sich zum Sexualmörder entwickeln könne (Struck 1971, S. 101). — Die Argumentation verfehlt die Realität: Wenn es i n unserem Lande eine Religionsgruppe gäbe, die Menschenopfer veranstaltete, dann müßten w i r i n der Tat die Formulierungen des entsprechenden Grundrechtsartikels überdenken; wenn ein des Exhibitionismus Verdächtiger i n höherem Maße als andere Bürger i n der Gefahr schwebte, sich zum Sexualmörder zu entwickeln, dann wäre die Aufbewahrung erkennungsdienstlichen Materials diskutabel. Wegen der Häufigkeit der Argumentation m i t Grenzfällen lohnt es, den Mechanismus etwas genauer zu studieren. Ein Beispiel: Woesner hat als K r i t i k des geltenden Staatsschutzrechtes vermerkt, es fehle i m zentralen Agententatbestand eine an der Bedeutung der Tätigkeit des Agen-

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ten orientierte Untergrenze. „Wer m i t einem Bindfaden die Breite der Autobahn mißt, ein Adreßbuch besorgt oder die Fenster einer Kaserne zählt, fällt nach wie vor unter den Tatbestand. Unerheblich ist, . . . ob der A g e n t . . . jemals echte Staatsgeheimnisse ernsthaft gefährden kann" (Woesner, NJW 68, 2134). Für die nicht belanglosen Kernbereiche des Tatbestandes ist eine nicht belanglose Strafe als Rechtsfolge gegeben. M i t der Nennung von Minimalfällen w i r d der Eindruck erweckt, als müsse diese den Hauptfällen angemessene Rechtsfolge auch für die Bagatellen eintreten. Läßt man sich auf das Argument ein, so w i r d man darstellen müssen, daß auch die Rechtsfolgen ein Relevanzspektrum b i l den, das auf der einen Seite m i t hohen Freiheitsstrafen beginnt, aber auf der anderen Seite m i t Geldstrafen, Strafbefehlen und zuletzt der Einstellung wegen geringer Schuld durch den Staatsanwalt endet. Solche Möglichkeiten differenzierter Reaktion sind aber normal, so daß i n den meisten Fällen der Hinweis auf Extrembeispiele sich als eine Abweichung vom Beweisthema charakterisieren läßt. Der Disput betrifft dann nicht mehr die Hauptsache, sondern die Möglichkeit angemessener Reaktion i n Randbereichen. Wenn also m i t der Möglichkeit von Menschenopfern und Sexualmorden argumentiert wird, so w i r d man beruhigt antworten können, daß es i m Fall nicht darum ging. Wer m i t Extrembeispielen arbeitet, müßte korrekterweise zuerst dartun, daß über sie schon jetzt i n den Überlegungen mitentschieden werden muß. Tut er das, dann ist immer noch die Frage, wer die Beweislast dafür hat, daß die für die Hauptfälle gedachte Entscheidung nicht adäquat abgewandelt werden kann. c) Von den Techniken der Nicht-Begründung ist die praktisch bedeutendste die Wiederholung des zu Beweisenden m i t anderen Worten. Paraphrasen spielen bei der juristischen Auslegung eine große Rolle. Man sehe die von Bokelmann (Grobe Fahrlässigkeit, Karlsruhe 1973, S. 6 ff.) aufgezählten 16 Definitionen der groben Fahrlässigkeit, die alle tautologisch und nicht hilfreich sind. Auch nicht besser war die Begründung von Täterschaft i m Strafrecht durch das Reichsgericht m i t Hilfe eines zugeschriebenen animus auctoris. Man kann aber vermuten, daß die Wiederholung m i t anderen Worten am häufigsten i m juristischen Alltag, also i n unteren Instanzen und bei der Ermittlung von Fakten, als Begründung verwendet wird. So ist z. B. zur ironischen Redensart geworden: „Der Zeuge ist glaubwürdig, denn er machte einen glaubwürdigen Eindruck." Hier ist das Verfahren zur letzten Konsequenz gebracht. Die Dezision steht anstelle der Begründung. Damit ist hier beiläufig ein Problem bezeichnet, das i n sehr vielen juristischen Texten eine Rolle spielt. Häufig werden Sachverhaltselemente, reale Folgerungen, bisherige Rechtsprechung, usw. i n Erzählstil

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i m Urteil vorgetragen und es bleibt dem Leser überlassen zu entscheiden, was davon als Begründung für was zu deuten ist. d) Nicht-Begründungen besonderer A r t sind die Formeln, die die A r t der Begründung offen lassen. Die wichtigste lautet derzeit, die Entscheidung müsse auf der Gesamtheit der Umstände beruhen. Die Formel taucht i n vielerlei Variationen auf und findet sich i n immer mehr veröffentlichten Entscheidungen. Für die Sittenwidrigkeit eines Hechtsgeschäftes ζ. B. kommt es auf das Gesamtbild an und es gibt keine allgemeingültigen Regeln — so ausdrücklich der Bundesgerichtshof (vgl. ζ. B. B G H NJW 68, 934). Wörtlich genommen sind solche Formeln sinnlos oder leer. „Die Gesamtheit der Umstände" kann nie einbezogen werden. Die Entscheidung verlangt immer Selektion. Es kommt nur darauf an, welche Sachverhaltselemente man für wichtig hält und nach Beweiserhebungen i m Urteilstext an Begründungsstelle erwähnt. Zum anderen i m Zitat verwendeten Wort: „Gesamtbild" ist Musterbild einer Leerformel, da jeder A r t von inhaltlicher Ausfüllung willfährig. Der Funktion nach liegt nichts anderes vor, wenn von einer Entscheidung gesagt wird, sie „entspreche den allgemeinen Regeln" oder sie sei „lebensnah". Der wichtigste Fall dieser A r t i n der juristischen Literatur ist die „Interessenabwägung". Bei Licht besehen kann sie niemals eine inhaltliche Letztbegründung geben, sondern bestenfalls nur Einleitungsformel für eine Aufzählung von Sachverhaltsgegebenheiten sein. Das ist näher dargestellt i n meinem Aufsatz „Interessenabwägung als Methode" (in: Dogmatik und Methode, von Dubischar u. a., Kronberg 1975). e) Die hier vorgeschlagenen vier Kategorien überschneiden sich nicht nur, sondern es gibt auch noch Argumentationstypen, die sich nicht einordnen lassen. Eike v. Savigny hat bei seiner Darstellung der Heterogenität von juristischer Argumentation u. a. die von i h m sogenannte Einfachheitsargumentation i n einem Text identifiziert (1976, S. 146). Offensichtlich gelte für den B G H eine juristische Theorie unter sonst gleichen Umständen als akzeptabler als eine andere juristische Theorie, wenn die erstere einfacher als die zweite ist. Dazu ist zu bemerken: Das ist ein durchaus verbreitetes Argument, aber ein bedenkliches. Einfachheit wäre nur dann eine brauchbare Begründung, wenn es um eine Darstellung von Lehrsätzen für die Juristenausbildung ginge. I n der betreffenden Entscheidung w i r d aber die Vorsatztheorie, u m die es geht, als mögliche Norm diskutiert. Sie ist also weder i n dem Zustand, i n dem man sich den Darstellungsproblemen zuwenden könnte, noch ist sie überhaupt Lehrsatz. Inhaltlich könnte man Einfachheit deuten i m Zusammenhang m i t der bekannten Forderung, die Gesetze müßten einfach genug sein, u m von der Bevölkerung verstanden zu werden. Darum

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konnte es aber bei den hier anstehenden Subtilitäten nicht gehen. Solche Überlegungen lassen allerdings auch die letzte aller Möglichkeiten als zutreffendste Formulierung erscheinen: Es liegt überhaupt kein Argument vor. 4. Abschließende Einschätzung des Ergebnisses Es ist angebracht, einige Überlegungen zur Einschätzung der hier vorgetragenen Gedanken i m Hinblick auf die Stellung der Jurisprudenz in unserer Gesellschaft anzustellen. Es ist das ein Thema für eine andere Arbeit, aber es soll kurz auf die Möglichkeit solcher Betrachtungsweise hingewiesen werden. I n den vorangegangenen Kapiteln wurde viel Sorgfalt auf die Darstellung von Grenzen der Rationalität juristischen Entscheidens verwendet. Das ist ambivalent. I m folgenden seien einige Anmerkungen zu den gegenläufigen Aspekten gemacht, und zwar der Kürze wegen i n der derzeitigen Umgangssprache: Die „progressive K r i t i k " an der „konservativen Juristenschaft" hat häufig mit dem V o r w u r f gearbeitet, die Justiz entspreche nicht den zu stellenden Anforderungen an Rationalität und Wissenschaftlichkeit. Dafür sei nur das Stichwort Alltagstheorie ins Gedächtnis gerufen. Soweit die vorliegende Schrift die Hoffnung auf Letztbegründungen dämpft, w i r d sie sicherlich von einigen als „antiprogressiv" empfunden werden. Es muß aber die Frage gesondert überlegt werden, welche Konsequenzen aus der Enge der Grenzen juristischer Rationalität zu ziehen sind. Bekanntlich tendieren viele dazu, das Dilemma der Folgendiskussion (die auch hier für alle Rationalität i n Anspruch nehmenden Verfahren als Beispiel stehen kann) durch Dogmatik zu verbergen. Demgegenüber dürfte aus den obigen Darstellungen die nicht näher begründete Option für personale Verantwortung von nicht oder nur unsicher begründbaren Entscheidungen deutlich geworden sein. Allerdings darf man auch noch i n der kürzesten Überlegung eine Bestimmungsgröße nicht außer acht lassen: Es w i r d genauer als bisher zu analysieren sein, für welche A r t von sozialen Konflikten justizielle Entscheidungen als Lösungen brauchbar sind. Eine entgegengesetzte Kritikrichtung an der derzeitigen Justiz beschäftigt sich m i t der politischen Funktion der Justiz, die von demokratischen Korrekturen freigestellt als „konservativer" Faktor w i r k t . Als Legitimation dafür w i r d von der Justiz selbst eine höhere Rationalität ihrer Entscheidungen i m Vergleich m i t politischen i n Anspruch genommen. Die vorliegende Schrift liefert Argumente dafür, daß juristisches Entscheiden nicht besser und nicht schlechter, ja wesentlich nicht anders

4. Abschließende Einschätzung des Ergebnisses

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sein kann als politisches Entscheiden. Dadurch wendet sie sich i m Effekt derzeit gegen „konservative" Positionen. Die Ambivalenz scheint nach den vorangegangenen Untersuchungen nicht aufhebbar — mag sie nun dem Leser und dem Autor gefallen oder nicht.

Literaturverzeichnis JbRsozRth I

= Die F u n k t i o n des Rechts i n der modernen Gesellschaft — Jahrbuch f ü r Rechtssoziologie u n d Rechtstheorie Band 1, hrsg. von Lautmann, Maihof er u n d Schelsky, Bielefeld 1970

JbRsozRth I I

= Rechtstheorie als Grundlagenwissenschaft der Rechtswissenschaft — Jahrbuch f ü r Rechtssoziologie u n d Rechtstheorie Band 2, hrsg. v o n Albert, Luhmann, Maihofer u n d Weinberger, Düsseldorf 1972

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