Strukturen juristischer Argumentation [1 ed.] 9783428438945, 9783428038947


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Strukturen juristischer Argumentation [1 ed.]
 9783428438945, 9783428038947

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CHRISTIAN

CLEMENS

Strukturen juristischer Argumentation

Schriften zur

Rechtetheorie

Heft 60

Strukturen juristischer Argumentation

Von

Dr. Christian Clemens

DUNCKER

& H U M B L O T

/

BERLIN

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Clemens, Christian Strukturen juristischer Argumentation. — 1. A u f l . — Berlin: Duncker u n d Humblot, 1977. (Schriften zur Rechtstheorie; H. 60) I S B N 3-428-03894-0

Alle Rechte vorbehalten © 1977 Duncker & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1977 bei Buchdruckerei Bruno Luck, Berlin 65 Printed in Germany I S B N 3 428 03894 0

Inhaltsübersicht 1 Einleitung 1.1 Ziele der A r b e i t 1.2 Methode der A r b e i t 2 Allgemeine Grundlagen juristischer Argumentation

7 7 10 12

2.1 Begriff der Argumentation 12 2.2 Dissens u n d Konsens 13 2.2.1 Formen von Dissens u n d Konsens 14 2.2.1.1 Reine Begründungsstreitigkeiten 14 2.2.1.2 Das Ausmaß von Dissens u n d Konsens 14 2.2.1.3 Intensitätsgrade v o n Dissens u n d Konsens 17 2.2.1.4 Die Größe des Publikums, dessen Konsens erreicht werden soll 17 2.2.1.5 Scheinbarer Konsens u n d scheinbarer Dissens 19 2.2.2 Unterschiedliche Konsenswahrscheinlichkeiten von Behauptungen 20 2.2.3 Regressus ad i n f i n i t u m 21 2.3 Formen der Argumentation 25 2.3.1 Inhalte der zu begründenden Behauptungen 25 2.3.2 Ziele der Argumentation 26 2.3.2.1 A u s w a h l der Themen der Argumentation 26 2.3.2.2 Darstellung der Themen der Argumentation 29 2.3.2.3 Inhaltliche Argumentation 31 2.3.3 Formen der Rechtfertigung u n d Widerlegung 32 2.3.4 Formen der Relevanz von Begründungsbehauptungen 34 2.3.4.1 Beispiele 35 2.3.4.2 Vergleiche u n d B i l d e r 37 2.3.4.3 Herleitungen u n d Erklärungen 41 2.4 Argumentation u n d weitere Formen der Legitimation 44 3 Berufung auf Rechtsquellen 3.1 Berufung auf textlich fixierte Rechtsquellen 3.1.1 Argumentation über die Auslegung 3.1.1.1 Vagheit der Sprache u n d Wertungsabhängigkeit ihrer I n t e r pretation 3.1.1.2 Vagheit u n d Unverbindlichkeit v o n Interpretationsregeln 3.1.1.3 Offenlegung u n d Verschleierung der Wertungs- u n d K o n textabhängigkeit sprachlicher Interpretation 3.1.1.4 Grad der Konkretisierung der Sprache 3.1.1.4.1 Kasuistik

46 46 46 47 51 54 59 62

6

Inhaltsübersicht 3.1.1.4.2 Unbestimmte Rechtsbegriffe 3.1.1.4.3 Subjektive Merkmale 3.1.1.4.3.1 Vagheit u n d Wertungsabhängigkeit subjektiver M e r k male 3.1.1.4.3.2 A b w ä g u n g zwischen der Relevanz subjektiver u n d obj e k t i v e r Merkmale 3.1.2 Argumentation über die Verbindlichkeit 3.2 Berufung auf sonstige Rechtsquellen 3.2.1 Das allgemeine Rechtsbewußtsein 3.2.2 Beurteilung durch die Betroffenen

4 Argumentation über Tatsacfaenbehauptungen 4.1 Tatsachenfeststellungen 4.2 Der naturalistische Fehlschluß 5 Argumentation über inhaltliche Wertgesichtspunkte 5.1 Bewertungskompetenz des Rechtsanwenders 5.2 Interessenschutz als Z i e l rechtlicher Regelungen 5.2.1 Schädigung eigener Interessen 5.2.2 Interessenschutz u n d moralische Werte 5.3 Gesichtspunkte der Interessenabwägung 5.3.1 Interessen 5.3.2 Grad der Interessenberührung 5.3.3 Verantwortlichkeit f ü r Interessenberührungen 5.3.3.1 Zurechenbarkeit u n d Verantwortlichkeit 5.3.3.2 Wesentlichkeit des Beitrags 5.3.3.2.1 Unmittelbare Verursachung 5.3.3.2.2 Selbständigkeit 5.3.3.3 Steuerbarkeit des Verhaltens 5.3.3.4 Wissen u n d Wollen 5.3.3.5 Einstandspflicht f ü r den eigenen Herrschaftsbereich 5.3.4 Ausgleich v o n Vorteilen bzw. Chancen u n d Opfern bzw. Risiken 5.3.5 Notlagen 5.3.6 Macht u n d Vermögen 5.3.7 Gemeinschaftsbeziehungen 5.3.8 Gemeinsame Probleme der Gesichtspunkte der Interessenabwägung 6 Rechtliche Entscheidungsfindung 6.1 Verrechnung v o n Wertgesichtspunkten 6.2 Rechtfertigung von Gleich- u n d Ungleichbehandlung 6.2.1 Qualitative u n d quantitative Unterschiede 6.2.2 A n k n ü p f u n g an vorgegebene begriffliche Unterscheidungen 6.3 Regulierung von Interessenkonflikten

67 70 74 78 79 81 81 84 89 89 92 94 94 97 99 100 102 104 105 112 112 114 115 117 118 124 126 126 128 131 132 134 138 138 146 148 151 152

7 Zusammenfassung und Perspektiven

156

Literaturverzeichnis

162

1 Einleitung 1.1 Ziele der Arbeit Diese Arbeit bedeutet für den Verfasser den Versuch einer geistigen Aufarbeitung eines als unbefriedigend und verwirrend erlebten Jurastudiums. Das Jurastudium hat zwar nicht, wie gelegentlich behauptet, sinnleeres, blindes Auswendiglernen zum Gegenstand, sondern erscheint vielmehr als Akkumulation einer Unzahl sinnhafter Bruchstücke („topoi"), die untereinander vielfache Ähnlichkeiten aufweisen. Der Student kann die diesen Ähnlichkeiten zugrunde liegenden inneren Beziehungen aber nur unvollkommen durchschauen. Entscheidend dafür scheint die Isolierung der verschiedenen juristischen Gebiete voneinander, zum Teil sogar innerhalb ihrer selbst zu sein. Diese Isolierung bestimmt den Lehrbetrieb an den Universitäten; sie strahlt sogar auf Methodenlehre und Rechtstheorie aus, die sich vielfach einseitig an bestimmten Teilgebieten ausrichten. So ist z. B. Larenz' „Methodenlehre der Rechtswissenschaft" vorwiegend am Zivilrecht 1 und Krieles „Theorie der Rechtsgewinnung" vorwiegend am Verfassungsrecht 2 orientiert. Die Lehren über Rechtswidrigkeit, Zurechnung und Handlungsbegriff sind i m Straf recht entwickelt worden; die Theorien über Ermessen und unbestimmten Rechtsbegriff sind vorwiegend Gegenstand des Verwaltungsrechts. Rechtstheorie und Rechtsphilosophie, die eigentlich die Integration innerhalb der Jurisprudenz leisten müßten, haben zudem i m allgemeinen wenig Bezug zur konkreten j u ristischen Argumentation: sie schweben darüber, ohne daß die praktische Bedeutung der von ihnen behandelten Probleme i m einzelnen genügend konkretisiert w i r d 3 . Eine Brücke zwischen Theorie und Praxis versucht neuerdings die sogenannte Topik zu schlagen. Soweit nicht auch sie sich i n allgemeinen, weitgehend unverbindlichen Analysen ergeht, kann sie zwar Listen von gebietsunabhängigen Argumenten aufstellen und viele treffende Einzelanalysen bringen 4 , ohne aber — durch ihre Ausgangsthesen festgelegt 5 — die inneren Zusammenhänge deutlich machen zu können. 1

Vgl. V o r w o r t zur 1. Auflage. Vgl. dazu die K r i t i k von Larenz, Methodenlehre, S. 324, an Kriele. 3 Kriele, Rechtsgewinnung, S. 159: „Entfremdung zwischen Rechtstheorie u n d -praxis." 2

8

1 Einleitung

Z u der Isolierung der Teilgebiete der Jurisprudenz kommt noch ihre weitgehende Isolierung von den übrigen Wissenschaften 6 , insbesondere der Rechtstheorie von der allgemeinen Wissenschaftstheorie 7 . Auch dadurch w i r d eine geistige Durchdringung juristischen Argumentierens wesentlich erschwert. Es gibt darum bisher keine — jedenfalls keine deutschsprachige — befriedigende juristische Argumentationstheorie, wenn auch einige A n sätze dazu 8 . Außerjuristische Argumentationstheorien bleiben vielfach sehr allgemein 9 . Eine Ausnahme bildet nur das von Rechtstheoretikern vielgerühme 1 0 , aber bisher noch nicht ausgewertete Werk „Traité de l'argumentation" von Perelman und Olbrechts-Tyteca (an dem sich diese Arbeit teilweise orientiert), das sehr viel konkretes Material und zugleich theoretische Durchdringung bietet. Aber auch dieses Werk enthält keine umfassende Theorie, die ohne weiteres auf juristisches A r gumentieren anwendbar ist. I n dieser Arbeit w i r d versucht, einige Gemeinsamkeiten juristischer Argumentation i n verschiedenen Rechtsgebieten sowie auch i n der Methodenlehre aufzuzeigen. Pointiert ließe sich dieses Ziel kennzeichnen als „Rechtsvergleichung zwischen verschiedenen Rechtsgebieten". Die Gemeinsamkeiten juristischer Argumentation, die i n dieser Arbeit analysiert werden sollen, sind i m Titel der Arbeit als „Strukturen" bezeichnet. M i t diesem Begriff soll ausgedrückt werden, daß möglichst grundlegende, allgemeine und „innere" Gemeinsamkeiten (im Gegensatz zu nur oberflächlichen, bereichsspezifischen oder „äußerlichen") abgehandelt werden sollen. Damit soll zugleich ein Beitrag zu einer Systematisierung rechtlicher Argumentationen geleistet werden. Gewisse Unausgewogenheiten und teilweise nur skizzenhafte Darstellungen werden dabei bewußt i n Kauf genommen; sie sollen zur Weiterarbeit an einer systematischen juristischen Argumentationstheorie herausfordern. Allgemeine Klassifikationsgesichtspunkte für die Erfassung rechtlicher Meinungsstreitigkeiten und Argumentationen werden i m zweiten 4

So insbesondere Struck i n seinem Buch „Topische Jurisprudenz". Z u deren K r i t i k Otte, Topik-Diskussion, bes. S. 196. 8 Vgl. Struck, Topische Jurisprudenz, S. 34 ff.; Rottleuthner, Richterliches Handeln, S. 3 f.; G r i m m , V o r w o r t , S. 7 ff. 7 Vgl. Kunz, Rechtstheorie, S. 19. 8 z.B. bei Otte, Topik-Diskussion; Esser, Vorverständnis; Kriele, Rechtsgewinnung; Luhmann, Rechtssoziologie, u. a. 9 So z.B. Crawshay-Williams, Reasoning; Toulmin, A r g u m e n t ; Hülsmann, Argumentation. 10 Coing, Rechtsphilosophie, S. 89 f.; Wieacker, Rechtsdogmatik, S. 327 A n m . 43; Esser, Vorverständnis, S. 9 A n m . 3. 5

1.1 Ziele der A r b e i t

9

Kapitel (2.2, 2.3) skizziert. Als Gerüst für die Einteilung der weiteren Kapitel dienen die von der Entscheidungstheorie dargestellten Elemente von Entscheidungen: Programmierungen (3. Kapitel), Tatsachen (4. Kapitel), Werte (5. Kapitel), Wertungen (Verrechnung von Werten) (6.1), Konsistenz zwischen verschiedenen Entscheidungen (6.2) und die Vorgabe von Handlungsalternativen (6.3) 11 . Durch diese A r t der Gliederung soll deutlich werden, daß die juristische Argumentation das allgemeine Problem der Rechtfertigung von Entscheidungen zum Gegenstand hat. Dieses Problem ist allen Handlungswissenschaften, zu denen ζ. B. auch die Politologie und die Ethik gehören 12 , gemeinsam. Eine „Autonomie juristischer Dogmatik" scheint vor allem eine Standesideologie der Juristen zu sein: es lassen sich keine grundsätzlichen Abgrenzungskriterien für spezifisch „juristische" Argumente angeben 13 . Eine gründliche Analyse der Gemeinsamkeiten der Argumentationen aller Handlungswissenschaften 14 würde allerdings den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Darum werden nur gelegentlich Beispiele politischer, insbesondere rechtspolitischer Argumentation gebracht. Jedoch sind die Analysen juristischen Argumentierens meist so grundsätzlich gehalten, daß eine Übertragung auf andere Handlungswissenschaften leicht möglich erscheint. Ein weiteres wesentliches Thema dieser Arbeit ist zu zeigen, daß es an intersubjektiv völlig verbindlichen Kriterien für die „Richtigkeit" rechtlicher Entscheidungen fehlt. Darum werden durchweg den einzelnen Argumentationen die charakteristischen Gegen- und Alternativargumente gegenübergestellt. Zugleich w i r d gezeigt, daß es i n der Regel an völlig verbindlichen Kriterien für die relative Relevanz dieser A r gumente fehlt. Da es aber das Ziel rechtlichen Argumentierens ist, eine möglichst umfassende Legitimation, d. h. Anerkennung der Verbindlichkeit, rechtlicher Entscheidungen zu sichern, w i r d i n der rechtlichen Argumentation die Subjektivität i n der Rechtfertigung von Entscheidungen weitgehend verschleiert oder geleugnet. Demnach ist ebenso wie bei Struck 1 5 ein Schwerpunkt dieser Arbeit die Frage, „ob gegebene Gründe geeignet sind, ein behauptetes Ergebnis zu stützen". Dabei läßt es sich nur schwer vermeiden, daß die Aussagen der Arbeit oftmals neben einem deskriptiven auch einen normativen Gehalt haben: w i r d von einer gegebenen Begründung gezeigt, daß

11

Vgl. Gaefgen, Entscheidung, S. 96 ff. Dazu näher Horn, Topiklehre, S. 603 f. 13 G r i m m , V o r w o r t , S. 7 ff.; Rottleuthner, Richterliches Handeln, S. 3 f.; ausführlich Tavello, Sur la spécifité, S. I l l ff. 14 Vgl. Struck, Topische Jurisprudenz, S. 35 ff. 15 Topische Jurisprudenz, S. 12. 12

10

1 Einleitung

sie nicht geeignet ist, eine Behauptung zu rechtfertigen, so w i r d damit mehr oder weniger deutlich auch ausgesagt, daß man Begründungen solcher A r t nicht verwenden sollte. Diese Verschränkung von deskriptiven und normativen Aussagen scheint ein allgemeines Problem der juristischen Methodendiskussion zu sein 16 . I n dieser Arbeit werden i n erster Linie verschiedene Formen und Inhalte juristischer Argumentation besprochen. Die gesellschaftlichen und psychologischen Bedingungen für Entstehung und Wirksamkeit dieser Argumentationen werden dabei weitgehend außer acht gelassen. Insofern verkürzt diese Arbeit den Gegenstandsbereich einer juristischen Argumentationstheorie. 1.2 Methode der Arbeit Die Beispiele von Argumentationen werden i m allgemeinen der j u ristischen Literatur und der Rechtsprechung entnommen. Dabei muß i n Kauf genommen werden, daß sich möglicherweise die i m Rahmen von Prozessen vorgebrachten Argumente von den i n der juristischen Literatur oder i n den veröffentlichten Gerichtsentscheidungen zur Darstellung kommenden unterscheiden. Jedoch ist anzunehmen, daß ein derartiger Unterschied weniger die A r t als die Häufigkeit und Tragfähigkeit von Argumenten betrifft. Die hiermit verbundenen Probleme der Repräsentativität der Beispiele 17 werden aber erst bedeutsam, wenn quantitative Behauptungen über rechtliche Argumentation aufgestellt werden. Derartige Quantifizierungen scheinen aber erst nach einer gründlichen qualitativen Analyse von Argumentationen sinnvoll zu sein. Dennoch engt die Beschränkung auf schriftlich dargestellte Argumentation den Gegenstand der Arbeit i n mancherlei Hinsicht ein: einerseits treten wichtige Elemente der mündlichen Verhandlung wie insbesondere Fragen 18 , direkte Anrede 1 9 , Demonstrationen 20 , richtiges „ t i m i n g " 2 1 und Verzögerungstaktiken 22 , Schaffen einer positiven Atmo16

Vgl. Rottleuthner, Richterliches Handeln, S. 2. Vgl. dazu Struck, Topische Jurisprudenz, S. 11. 18 Z u der großen Bedeutung von Fragen i n der modernen Verhandlungstechnik vgl. Stangl, Verhandlungsstrategie, S. 56 ff., 130 ff., 145 ff.; Weidenmann, Diskussionstraining, S. 60 ff.; Feldmann, Verkaufstraining, S. 146 ff., 159 ff. 19 Vgl. ζ. B. zum „Sie-Standpunkt des Argumentierens" Feldmann, V e r kaufstraining, S. 143 ff.; Stangl, Verhandlungsstrategie, S. 34 ff. 20 Dazu vgl. Stangl, Verhandlungsstrategie, S. 59 ff.; Feldmann, Verkaufstraining, S. 172 ff.; Weidenmann, Diskussionstraining, S. 100 ff. 21 Dazu vgl. Stangl, Verhandlungsstrategie, S. 81 f.; Nierenberg, Verhandlungstraining, S. 89 ff. 22 Vgl. dazu Stangl, Verhandlungsstrategie, S. 131 ff. 17

2.1 Begriff der Argumentation

11

sphäre 28 , Koalitionsbildungen 2 4 , Betonung von Gemeinsamkeiten 25 und non-verbales Verhalten i n den Hintergrund oder fehlen völlig; andrerseits ist die schriftliche Argumentation gegenüber der mündlichen hinsichtlich Formulierung, Verwendung rhetorischer Figuren und Schlüssigkeit der Argumente i n der Regel anspruchsvoller und dementsprechend verfeinert. Auch ist es spezifisch für die schriftliche j u r i stische Argumentation gegenüber der i m Gerichtssaal, i n der Vergleichsverhandlung o. ä., daß es hier i n der Regel nicht darum geht, einen Einzelnen oder auch wenige Einzelne zu überzeugen, sondern eine unbestimmte Zahl von Adressaten oder gar ein „auditoire universel" (Perelman). Es entfallen demnach weitgehend die Argumentationsformen und Verhandlungstechniken, die auf die Besonderheit des jeweiligen Diskussionspartners ausgerichtet sind und auf ein individuell-zwischenmenschliches Arrangement abzielen. Die Beispiele i m Text werden der Anschaulichkeit wegen meist wörtlich zitiert. I n der Regel werden nicht mehr als drei Beispiele für eine Argumentationsweise angeführt; bei wichtigen Argumentationsformen w i r d versucht, je ein Beispiel aus dem Zivilrecht, dem Strafrecht und dem Staats- und Verwaltungsrecht (in dieser Reihenfolge grundsätzlich auch i m Text) zu nennen.

23

Dazu vgl. Stangl, Verhandlungsstrategie, S. 31 ff. Dazu vgl. Stangl, Verhandlungsstrategie, S. 85, 148, 223 f. 25 Dazu vgl. Stangl, Verhandlungsstrategie, S. 88 f.; grundsätzlich zur Bedeutung der „Sprache des sozialen Zusammenhalts" Hayakawa, Sprache, S. 72 ff. 24

2 Allgemeine Grundlagen juristischer Argumentation 2.1 Begriff der Argumentation Ziel der Argumentation ist es, m i t Hilfe von Begründungen (Argumenten) die Zustimmung des Diskussionsgegners oder des Publikums 1 zu einer Behauptung zu erreichen. Argumentation w i r d erst erforderlich, wenn Streit (Dissens) entstanden oder zu erwarten ist. Man muß sich mit geltend gemachten oder möglichen 2 Gegenargumenten oder -behauptungen auseinandersetzen. Argumentation besteht zunächst darin, sich auf ein bestimmtes Diskussionsthema (Fragestellung) festzulegen 3 . Meistens werden sich verschiedene Behauptungen gegenüberstehen, gelegentlich w i r d aber auch nur über die Begründung einer unstreitigen Behauptung gestritten 4 . Um eine Behauptung m i t Argumenten zu rechtfertigen, muß sie mit einer „relevanten" 5 Behauptung als Begründung so verknüpft 6 werden, daß sich die Behauptung als Schlußfolgerung aus der Begründung ergibt. Sowohl die zur Begründung vorgebrachte Behauptung als auch deren Relevanz („Schlüssigkeit" des Arguments) können bestritten werden. So kann es notwendig sein, diese bestrittenen Elemente der Begründung wiederum m i t einer „relevanten" Behauptung zu rechtfertigen usw. Es können also mehrere Stufen der Argumentation („Argumentationsketten") erforderlich werden 7 . — Andrerseits sind gerade i n der juristischen Argumentation unvollständige Argumente, sog. Enthymeme 8 , sehr verbreitet; ζ. B. bleibt vielfach die A r t der Relevanz von zur Begründung vorgebrachten Gesichtspunkten unerwähnt 9 . — 1 Daneben k a n n man auch m i t sich selbst argumentieren, wenn m a n z w i schen mehreren Standpunkten schwankt: vgl. Perelman, Traité, S. 53 ff. 2 Die Vorwegnahme möglicher Gegenargumente w i r d auch als zweiseitige Argumentation bezeichnet. Z u den Bedingungen der Wirksamkeit einseitiger oder zweiseitiger Argumentation vgl. M c D a v i d / Harari, Social psychology, S. 373 f. 3 Vgl. unten 2.3.2.1. 4 Z u den „reinen Begründungsstreitigkeiten" vgl. unten 2.2.1.1. 5 Z u Relevanzregeln vgl. Rottleuthner, Richterliches Handeln, S. 10 u n d 81, u n d Toulmin, Argument, S. 98 ff. 6 Z u dem Grundprinzip der Verknüpfung („liaison") i n der Argumentation vgl. Perelman, Traité, S. 87, 225 ff. 7 Z u m A u f b a u von Argumenten ausführlich Toulmin, Argument, S. 94 ff. 8 Vgl. Kopperschmidt, Rhetorik, S. 128 f. 9 Vgl. Struck, Topische Jurisprudenz, S. 14 ff.

2.2 Dissens u n d Konsens

13

Der erforderliche Ausführlichkeitsgrad und umgekehrt der Vorwurf der Unvollständigkeit der Argumentation ist i n erster Linie abhängig von der Position des Gegners bzw. des Publikums 1 0 . Ergänzend soll noch kurz auf den Stellenwert einer juristischen A r gumentationstheorie i m Rahmen der Rechtstheorie eingegangen werden: Juristische Argumentation dient der sprachlichen Rechtfertigung rechtlicher Entscheidungen. Argumentation enthält nicht notwendig „die" Gründe einer Entscheidung, sondern nur die sprachlich dargestellten und darstellbaren; Argumentation gehört somit i n den Bereich der Selbstdarstellung 10a . Den i n einer Argumentation angegebenen Gründen einer Entscheidung können die „wahreh" Gründe dieser Entscheidung gegenübergestellt werden oder auch als „tiefere" oder „verdeckte" 1 1 Gründe der expliziten Argumentation behauptet werden 1 2 : als solche Ursachen bzw. Erklärungen einer Entscheidung können ζ. B. Persönlichkeitsmerkmale, beruflicher Status, Schichtzugehörigkeit, unbewußte Motive oder auch bewußt nicht eingestandene Motive des Entscheidenden oder gesellschaftliche Bedingungen behauptet werden. M i t dem Thema, welche Gründe, Erklärungen oder Motive Entscheidungen „objektiv" haben, befassen sich verschiedene Wissenschaftsbereiche wie ζ. B. die Entscheidungstheorie, die Psychologie oder die Soziologie (für den Bereich juristischer Entscheidungen die Rechtssoziologie). Soweit solche Gründe allerdings m i t dem Ziel vorgebracht werden, eine A r gumentation zu bekämpfen oder auch zu unterstützen, gehören sie zur Argumentation selbst; derartige Argumente werden als „argumentum ad personam" oder als sonstige Taktik, „hinter das gegnerische Argument zu kommen", beschrieben 13 . 2.2 Dissens und Konsens

Ausgangspunkt der Argumentation ist Dissens über das Thema, und ihr Hauptziel ist es, Konsens über das Thema zu erreichen. I m Verlauf der Argumentation zeigt sich Dissens — verschiedenen Ausmaßes und verschiedener Intensität — über einzelne Begründungsbehauptungen bzw. deren Relevanz: Zwischenziel der Argumentation ist dann der Konsens über diese Themen mit Hilfe von Begründung der Begründungen. Die folgenden Ausführungen gelten für alle diese Formen von Konsens und Dissens. 10

Vgl. unten 2.3.3. Vgl. Rottleuthner, Richterliches Handeln, S. 61 f. 11 Dazu vgl. Kriele, Urteilsgründe. 12 Z u m Unterschied v o n E r k l ä r u n g u n d Rechtfertigung vgl. Rottleuthner, Richterliches Handeln, S. 98 ff. 13 Vgl. Rother, K u n s t des Streitens, S. 108 ff., u n d unten 2.3.4. 10a

14

2 Allgemeine Grundlagen juristischer Argumentation 2.2.1 Formen von Dissens und Konsens

2.2.1.1 Reine Begründungsstreitigkeiten Bei reinen Begründungsstreitigkeiten unterscheiden sich die Standpunkte nur i n der Begründung, nicht i m Ergebnis. I n der Jurisprudenz gehören zu derartigen Streitigkeiten die „reinen Konstruktionskontroversen" 14 . So können inhaltlich gleiche Interpretationsbehauptungen entweder durch Auslegung einzelner Tatbestände begründet werden (z.B. „immanente Schranken" von Grundrechten, „Rechtsmißbrauch", „Sozialadäquanz" usw.) oder durch Heranziehung von Gegenrechten (z.B. Rechtfertigungsgründe i m Straf recht oder öffentliche Interessen, die m i t den Grundrechten kollidieren) und/oder durch Berufung auf allgemeine Rechtsgedanken (z. B. § 242 BGB, Sozialstaatsprinzip usw.) und/oder durch Analogiebildung 1 5 . Ferner können i m Einzelfall ganz unterschiedliche Wertungen bzw. Tatsachenbehauptungen zu derselben Entscheidung führen. Diesen Um*· stand benutzte die klassische Rhetorik bewußt: Z u ihren wichtigsten Prinzipien gehörte es, nur solche Begründungen zu verwenden, die bei dem jeweiligen Publikum „ankommen" 1 6 . Eine rein pragmatisch orientierte Argumentation w i r d die Entscheidung reiner Begründungsstreitigkeiten „dahingestellt sein lassen". Jedoch kann das Interesse an Vollständigkeit, Widerspruchsfreiheit und Einfachheit 17 juristischer Systematik dazu führen, derartige Streitigkeiten auszutragen. Häufig entsteht das Interesse an der Austragung dadurch, daß die i m Streit liegenden Begründungen von so großer Tragweite sind, daß sie zwar i n einigen Fällen zu denselben, i n anderen aber zu unterschiedlichen Ergebnissen führen 1 8 ; i n diesen Fällen kann man eigentlich nicht mehr von einem „reinen" Begründungsstreit sprechen. 2.2.1.2 Das Ausmaß von Dissens und Konsens Das Ausmaß (der Umfang) des Dissenses bestimmt das Ausmaß der erforderlichen Argumente sowie die Überschneidungen zwischen den Argumenten für die verschiedenen Standpunkte: Man kann eine Be14

Vgl. Dubischar, Grundbegriffe, S. 75. Vgl. Kriele, Rechtsgewinnung, S. 218 f. 18 Vgl. Perelman, Traité, S. 31 ff. 17 Bei empirischen Theorienstreitigkeiten spielen Einfachheitskriterien eine erhebliche Rolle: vgl. Popper, Logik, S. 97 ff. Auch bei juristischen M e i nungsstreitigkeiten w i r d gelegentlich der „Erklärungswert" einer Begründung ins Feld geführt. 18 Das t r i f f t f ü r die meisten Theorienstreitigkeiten zu: vgl. Wagner, Theorie, S. 460. 15

2.2 Dissens u n d Konsens

15

hauptung teilweise oder vollständig bestreiten, oder man kann das genaue Gegenteil behaupten. Zur Begründung des teilweisen oder vollständigen Bestreitens genügt i n der Regel das teilweise oder vollständige Bestreiten der gegnerischen Argumente; für die Behauptung des Gegenteils dagegen müssen neue selbständige Argumente angeführt werden. Bei einfachem Bestreiten einer Rechtsnorm w i r d gegenüber dem Ver- oder Gebotensein das Erlaubtsein eines Verhaltens behauptet. Die Behauptung des Gegenteils dagegen bedeutet die Behauptung des Gebotenseins anstatt des Verbotenseins eines Verhaltens oder umgekehrt. So fragt z.B. Ramm 1 9 gegenüber der Meinung, daß der Streik von Pflegepersonal grundsätzlich verboten ist, „ . . . ob nicht ein solcher Streik sogar geboten sein kann, wenn er sich gegen extrem unwürdige Arbeitsbedingungen richtet, unter denen auch die Patienten zu leiden haben". Bei Kausalbehauptungen bedeutet die bloße Verneinung das Bestreiten der Kausalität, die Behauptung des Gegenteils dagegen die Ersetzung des „ w e i l " durch ein „obwohl" 2 0 . Bewertungen können einfach bestritten werden. Dabei w i r d die Wertneutralität von Sachverhalten oder Merkmalen behauptet, die vom Diskussionsgegner i n dem gegebenen Zusammenhang als positiv oder als negativ bewertet wurden: Der Sachverhalt oder das Merkmal habe für die Beurteilung nichts zu bedeuten, habe „nichts damit zu t u n " 2 1 bzw. sei nicht rechtserheblich. Aber auch gegensätzliche Bewertungen finden sich i m Recht relativ häufig 2 2 : „Überzeugungstäter werden einmal härter, einmal milder bestraft . . . Charakter belastet einmal, entlastet das andere M a l 2 3 . " „ E i n M a n n fährt i n verkehrter Richtung aus einer Autobahntankstelle, also spitzwinklig zum Verkehrsfluß, da die andere Ausfahrt kurzzeitig gesperrt ist. Das Manöver ist gefährlich. Es k o m m t zu einem Unfall. N u n argumentiert er: Angesichts der schwierigen Umstände muß meine Schuld nachsichtig gemessen werden. Der B G H 2 4 argumentiert: Angesichts der schwierigen Umstände hätte er doppelt sorgfältig sein müssen 2 5 ."

Solche gegensätzlichen Bewertungen i m Recht entstehen z. B. dadurch, daß dieselben Tatsachen eine erhöhte Gefährdung und dadurch 19 20 21 22 23 24 25

Koalitionsbegriff, S. 226. VgL Rother, K u n s t des Streitens, S. 40. Vgl. v. Savigny, Philosophie, S. 193 ff. Etliche Beispiele bei Struck, Topische Jurisprudenz, S. 15 ff. Baumann, Gerechtigkeit, S. 141 (m. w. Nachw.). I n N J W 1969, 794, Leitsatz a. Struck, Topische Jurisprudenz, S. 15.

16

2 Allgemeine Grundlagen juristischer Argumentation

einerseits erhöhte Verhaltensanforderungen 26 , andrerseits aber wegen der besonders schwierigen Situation eine verminderte Zurechenbarkeit 2 7 der eintretenden Schädigung bedingen und diese beiden Gesichtspunkte unterschiedlich gewichtet werden 2 8 . Gegensätzliche Bewertungen können auch dadurch entstehen, daß dieselbe Handlung oder Maßnahme (z.B. die kurzzeitige Freiheitsstrafe) zugleich erwünschte wie unerwünschte Wirkungen hat und man sich nicht einig ist über die relative Gewichtung dieser Wirkungen. Die gegensätzlichen Bewertungen beruhen also meistens nicht auf gegensätzlichen Werten, sondern auf der unterschiedlichen Gewichtung derselben Wertgesichtspunkte. — Struck 2 9 betont i n diesem Zusammenhang, daß für eine vollständige (schlüssige) Argumentation nicht nur die relevanten Gesichtspunkte, sondern auch A r t und Richtung ihrer Relevanz genannt werden müssen. Die Behauptung, daß ein Merkmal, das nach Intensitätsgraden abstufbar ist, i n einer bestimmten Ausprägung vorliege, kann nicht nur durch die Behauptung des NichtVorliegens des Merkmals, sondern auch durch die Behauptung eines anderen Intensitätsgrades bestritten werden. Für diese neue Behauptung können dieselben Argumente wie für die Ausgangsbehauptung verwandt werden, nur i h r Gewicht w i r d anders beurteilt. — Bei Rechtsnormen kann man ζ. B. über die Höhe der Sanktion oder der Prämiierung streiten. — Bei Kausalbehauptungen läßt sich über das Gewicht des Kausalbeitrags 30 streiten. — Bei Bewertungen läßt sich über den Grad des Werts oder des Unwerts streiten. Partielles Bestreiten der Ausgangsbehauptung führt zu einer differenzierenden Meinung. Differenzierende Meinungen werden auch Mittelmeinungen genannt, wenn weitere Meinungen die Ausgangsmeinung zu einem noch größeren Teil oder gänzlich bestreiten. Eine differenzierende Meinung braucht die Argumente zugunsten der Ausgangsmeinung nur teilweise zu bestreiten. Ferner kann ein Dissens darin bestehen, daß zwei Behauptungen sich teilweise decken, daneben aber jede Behauptung einen Teil hat, der i n der gegnerischen Behauptung nicht enthalten ist (Modell: sich schneidende Kreise). Rechtliche Beispiele hierfür sind der juristische gegenüber dem wirtschaftlichen Vermögensbegriff zu § 263 StGB sowie alle Arten von subjektiven gegenüber objektiven „Theorien". 26

Vgl. unten 5.3.3.5. Vgl. unten 5.3.3.3. 28 Vgl. auch das Beispiel d) bei Struck, Topische Jurisprudenz, S. 15, u n d Lüderitz, Ehescheidung, Β 30 zum Problem des Verschuldens gegenüber einem geistig bzw. seelisch gestörten Ehepartner. 29 Topische Jurisprudenz, S. 14 ff. 30 Vgl. unten 5.3.3.2. 27

2.2 Dissens u n d Konsens

17

Liegen zwei derartige sich teilweise deckende Behauptungen vor, so kann sich eine (differenzierende) „Vereinigungstheorie" bilden. Sie braucht nur die für beide Meinungen gebrachten Argumente zusammenzufassen und die gegen die jeweils andere Meinung vorgebrachten Argumente zu entkräften. Eine „Vereinigungstheorie" gibt es ζ. B. gegenüber dem Streit zwischen subjektiver und objektiver Gesetzesauslegung 3 1 . Es kann sich aber auch eine differenzierende Meinung bilden, die nur das Gemeinsame (mengentheoretisch formuliert: die Durchschnittsmenge) der beiden Ausgangsbehauptungen übernimmt. Sie braucht sich nur den jeweils gegen die andere Meinung vorgebrachten A r g u menten anzuschließen. Ein Beispiel für eine Meinung, die die Durchschnittsmenge zweier anderer Meinungen bildet, ist die „juristischökonomische Vermittlungslehre" gegenüber dem rein juristischen und dem rein wirtschaftlichen Vermögensbegriff zu § 263 StGB 3 2 . 2.2Λ.3 Intensitätsgrade

von Dissens und Konsens

Nicht nur der Umfang, sondern auch die Intensität von Dissens und Konsens kann unterschiedlich sein. Verschiedene Intensitätsgrade werden wiedergegeben (1) durch Bezeichnungen wie „unhaltbar", „abwegig", „ w o h l abzulehnende Meinung" usw. als Abstufungen von Dissens, (2) durch Kennzeichnung eines Bereiches der Unentschiedenheit durch „unklar", „muß näher untersucht werden", „offene Frage" usw., (3) durch Bezeichnungen wie „diskussionswürdig", „vertretbar", „vernünftig", „plausibel", „einleuchtend", „unbestreitbar", „evident" usw. als Abstufungen von Konsens. 2.2.1 A Die Größe des Publikums,

dessen Konsens erreicht werden soll

Bestimmte A r t e n von Behauptungen können auf den Konsens vieler, andere nur auf den Konsens weniger Menschen rechnen. Hinsichtlich des Umfangs des angestrebten Konsenses gibt es zwei Grenzfälle der Argumentation. I m einen Fall ist die Argumentation als gültig für die gesamte Menschheit („ad humanitatem") gedacht; hier w i r d an eine A r t universaler Vernunft appelliert. I m anderen Grenzfall wendet sich die Argumentation nur an einen einzelnen Diskussionspartner. 81 32

Vgl. Mennicken, Gesetzesauslegung, S. 58 ff. Vgl. Schönke / Schröder, Rn. 63 zu § 263 StGB.

2 Clemens

18

2 Allgemeine Grundlagen juristischer Argumentation

Der Bestand an Bewertungen bzw. Entscheidungen, die des Konsenses aller sicher sein können, ist — jedenfalls i n der heutigen pluralistischen Gesellschaft — sehr begrenzt: I m Recht findet vorwiegend i m Sinne eines „negativen Naturrechts" die Ablehnung unvernünftiger, „willkürlicher" Regelungen und Bewertungen allgemeinen Konsens. Die Vernunft läßt jedoch meistens einen weiten Spielraum „vertretbarer" Lösungen 33 . Daran zeigt sich, daß eine Rechtsordnung nur auf der Grundlage positiven Rechts sowie der Fixierung von Entscheidungskompetenzen für die Rechtsanwendung funktionieren kann. M i t einem einzelnen (oder wenigen) Diskussionspartner(n) kann so argumentiert werden, daß man Prämissen verwendet, denen jener zugestimmt hat 3 4 , denen aber der Argumentierende nicht unbedingt zustimmt 3 5 . Die letztgenannte Argumentation ist oft eine A r t von „Schlagfertigkeit": Eine Behauptung, die jemand für seine Thesen i n Anspruch nimmt, w i r d mittels anderer Verknüpfungen gegen ihn selbst verwandt. Behauptet der Verlierer eines Geldbeutels, es seien 100 Taler mehr darin gewesen als der Finder ihm wiedergebracht hat, um damit die Folgerung nahezulegen, der Finder habe das Geld als Finderlohn schon herausgenommen, so kann aus dieser Behauptung auch geschlossen werden, er habe dann wohl einen anderen Beutel verloren 3 6 . Viele Anekdoten über Entscheidungen von „schlagender Gerechtigkeit" beruhen darauf, daß einer die i n seiner Rechtsbehauptung implizite Rechtsregel auch gegen sich selbst gelten lassen muß. Hier w i r d an das elementare Gerechtigkeitspostulat der Reziprozität appelliert 3 7 : Besteht der Barbier darauf, daß er „alles Holz" auf dem Esel, also neben der Holzladung auch den Holzpacksattel, gekauft habe, so muß er dann auch, wie zugesagt, den „Begleiter" seines Kunden barbieren, wenn sich auch heraustellt, daß dieser Begleiter der Esel des Bauern ist. Er muß also die buchstäbliche Vertragsauslegung, die er verlangt, auch gegen sich selbst gelten lassen 38 . Eine derartige Argumentation macht auch Ganten 3 9 gegenüber dem B G H geltend: 33

Vgl. Engisch, Gerechtigkeit, S. 202 ff. Z u diesem klassischen „dialektischen" Verfahren vgl. näher Perelman, Traité, S. 46 ff.; Otte, Topik-Diskussion, S. 188 ff. 35 Perelman, Traité, S. 149, unter Verweis auf eine von Schopenhauer als „ K u n s t g r i f f " bezeichnete Argumentationsweise. 36 Fehse, Lächelnde Justitia, S. 21 ff. (nach J. P. Hebel). 37 Vgl. Perelman, Traité, S. 297 ff., sowie unten 2.3.4.2. 38 Fehse, Lächelnde Justitia, S. 17 ff. 30 Verjährung, S. 1166. 84

2.2 Dissens u n d Konsens

19

„Diese Entscheidungen sind von dem i m Prinzip billigenswerten Gedanken getragen, daß ,das Wort' gelten muß, soweit beruflich Vertrauen m i t i h m i n Anspruch genommen w i r d , — aber ,gilt' nicht auch ,das Wort 4 ausführlich erwogener u n d begründeter Grundsatzentscheidungen? W i r d Schutz des Vertrauens hier einseitig gefordert u n d nicht auch i n der Rechtsprechung selbst gewährleistet?"

2.2.1.5 Scheinbarer Konsens und scheinbarer Dissens Alle Argumentation ist an Sprache gebunden, die zu einem großen Teil vage und interpretationsbedürftig ist 4 0 . Dadurch sind ständig Mißverständnisse möglich, u m so eher, je weniger präzise Ausdrücke verwendet werden 4 1 . So können Diskussionspartner i n bezug auf einzelne Argumente oder auch ein ganzes Thema zwar verbal übereinstimmen, i n Wirklichkeit aber die verwendeten Begriffe i n einer für den Diskussionszusammenhang wesentlichen Weise unterschiedlich interpretieren 4 2 . Naess 43 empfiehlt daher, man solle, wenn man meint, eine tatsächliche Einigung erreicht zu haben, vorsichtshalber hinzufügen „ i m Lichte des zugänglichen Materials". — Eine rein verbale Übereinstimmung kann sogar bewußt angestrebt werden, um eine Diskussion schnell und friedlich zu beenden, oder u m möglichst viele Anhänger zu gewinnen; Zimmermann 4 4 bezeichnet eine derartige Technik, i n politischen Reden m i t Hilfe vager Aussagen eine möglichst breite Zustimmung zu erreichen, als „Beschwichtigung". I n entsprechender Weise kann auch ein scheinbarer, nur verbaler Dissens entstehen, d. h. es handelt sich dann u m einen rein terminologischen Streit oder u m eine falsche Interpretation der gegnerischen Aussagen, ohne.daß sich die Diskussionsteilnehmer dessen bewußt sind 4 5 . — Auch dieser scheinbare Dissens kann bewußt angestrebt werden: So ist es eine beliebte mißbräuchliche Technik, die Behauptungen des Gegners durch einseitige Interpretation so zu verzerren, daß sie leicht widerlegt werden können 4 6 . Von diesen Situationen muß die Vorläufigkeit jeden Konsenses oder Dissenses unterschieden werden: Unter Berufung auf neue Argumente, 40

Vgl. Perelman, Traité, S. 161 ff. Z u r Vagheit von Sprache eingehend u n ten 3.1.1. 41 Naess, Kommunikation, S. 74. 42 Z u diesem „falschen" Konsens vgl. Rottleuthner, Richterliches Handeln, S. 53 ff. 43 Kommunikation, S. 71. 44 Die politische Rede, S. 19, 161. 45 Beispiele zur Verwechslung v o n Definitionsstreitigkeiten m i t Tatsachenstreitigkeiten bei v. Savigny, Definieren, S. 12 ff. 46 Z u einem solchen „Aufbauen von Buhmännern" Naess, K o m m u n i k a t i o n , S. 182 ff. 2*

20

2 Allgemeine Grundlagen juristischer Argumentation

veränderte Umstände oder eine veränderte Einstellung kann jeder Diskussionsteilnehmer sich jederzeit von einem Konsens oder Dissens wieder distanzieren. 2.2.2 Unterschiedliche Konsenswahrscheinlichkeiten von Behauptungen

Die Konsenswahrscheinlichkeit und damit die Wirksamkeit von A r gumenten hängt i n erster Linie von dem Diskussionspartner bzw. dem P u b l i k u m 4 7 sowie von allgemeinen psychologischen Faktoren (wie ζ. B. Aufmerksamkeits- oder Wahrnehmungszentrierung, Tendenzen zur Vereinfachung oder zu kognitiver Konsistenz oder „guter Gestalt") 4 8 ab. Man kann jedoch unabhängig hiervon eine A r t Hierarchie verschiedener Behauptungsformen nach ihrer durchschnittlichen Konsenswahrscheinlichkeit aufstellen. Die höchste Konsenswahrscheinlichkeit haben i n der Regel einerseits Tatsachen, andrerseits Werte (infolge ihrer sprachlichen Vagheit und des Fehlens eines Kollisionsmaßstabes zu anderen Werten) 4 9 . Eine geringere Konsenswahrscheinlichkeit als Werte haben Wertungen, d.h. Werthierarchisierungen 50 . Eine sehr geringe Konsenswahrscheinlichkeit haben rein subjektiv (ζ. B. durch eigennützige Interessen) motivierte Behauptungen. Infolge dieser Unterschiede besteht die Tendenz, anstelle von Behauptungen m i t niedriger solche m i t möglichst hoher Konsenswahrscheinlichkeit zu unterschieben 51 . Perelman nennt dieses Vorgehen „Transposition" 5 2 . Eine solche Transposition ist die Formulierung von Wertungen m i t Hilfe scheinbar objektiver Tatsachenfeststellungen oder unter Berufung auf anerkannte Autoritäten. Das kann ζ. B. durch Unterstellen einer bestimmten, scheinbar selbstverständlichen Interpretation eines mehrdeutigen Sprachzeichen des programmierten Rechts erreicht werden 5 3 oder auch durch selektive Tatsachendarstellungen 54 . Darüber hinaus können Wertungen stets i n Tatsachenbehauptungen und i n Wertungen m i t höherer Konsenswahrscheinlichkeit i m Wege der Instrumentalisierung umgewandelt werden: Es w i r d dann ζ. B. behauptet, daß ein bestimmtes Interesse nicht selbst Ziel ist (d. h. „Eigenwert"

47 48 49 50 51 52 63 54

Vgl. Perelman, Traité, S. 611 ff. Vgl. M c D a v i d / Harary, Social Psychology, S. 129 ff. u n d 367 ff. Dazu unten 6.1. Perelman, Traité, S. 109; Luhmann, Rechtssoziologie, S. 88. Perelman, Traité, S. 42: „attribuer le statut le plus élevé". Perelman, Traité, S. 248. Vgl. unten 3.1.1.3, 4.2. Vgl. unten 2.3.2.2 u n d Perelman, Traité, S. 244.

2.2 Dissens u n d Konsens

21

hat), sondern M i t t e l zu einem „höheren" Ziel, über das (vermutlich) Konsens besteht 55 . Zimmermann 5 6 bringt Beispiele zu diesem Vorgehen aus politischer Argumentation anhand einer Hede Barzels: „ D i e unternehmerische Freiheit w i r d ausdrücklich als T e i l der westlichen Freiheit eingegliedert, damit w i r d sie rhetorisch unangreifbar gemacht. Denn jeder A n g r i f f gegen diese Freiheit denunziert sich damit als A n g r i f f gegen die westliche Freiheit überhaupt."

Entsprechend kann „die religiöse Rechtfertigung" der CDU die Funktion haben, „sich unangreifbar i m irdischen Meinungsstreit" zu machen 57 . Ebenso können persönliche Vorlieben und Abneigungen, ζ. B. „Vorurteile", unter dem Mantel allgemeingültiger Wertungen oder Tatsachenbehauptungen versteckt werden, u m sie für andere akzeptabel zu machen. Zur Aufdeckung und Bekämpfung derartiger Transpositionen ist es vielfach erforderlich, über die explizite Argumentation hinauszugehen. 2.2.3 Regressus ad infinitum

Argumentation muß sich m i t demselben Grundproblem wie jede Erkenntnis auseinandersetzen: ein rigoroser Skeptiker kann jede Begründung bestreiten und für sie wiederum eine Begründung verlangen, so daß ein infiniter Regreß entsteht, für dessen Abbruch es keine zwingenden Kriterien gibt 5 8 . Dieses Problem entsteht bei allen für die Begründung rechtlicher Entscheidungen wesentlichen Behauptungen: Die Relevanz bzw. Gültigkeit von Programmierungen (s. unten 3.1.2) kann nur aufgrund „höherrangiger" Normen beurteilt werden. Für diese Normen stellt sich wiederum das Problem ihrer Gültigkeit, das wiederum beantwortet w i r d aufgrund höherrangiger Normen, schließlich aufgrund „überpositiver Normen", die dann letzten Endes nicht weiter begründet werden können 5 9 . Ferner stellt sich für jede Programmierung bzw. Norm das Problem ihrer Auslegung (s. unten 3.1.1). Eine von dem Diskussionspartner nicht akzeptierte Auslegung muß durch Auslegungskriterien bzw. -regeln begründet werden. Werden diese nicht anerkannt, so müssen für deren 55

Perelmann, Traité, S. 368 f. Die politische Rede, S. 46. 57 Zimmermann, Die politische Rede, S. 39 f. 58 Eingehend zu dem Problem Albert, K r i t i k , S. 13 ff. 59 Z u Problemen der Rechtsgeltung allgemein Engisch, S. 56 f. u n d 106 ff. 56

Gerechtigkeit,

22

2 Allgemeine Grundlagen juristischer Argumentation

Anwendung wiederum Kriterien bzw. Regeln angeführt werden usw. usw. 6 0 . Entsprechende Probleme ergeben sich für Tatsachenfeststellungen und Wertungen. Das Problem des Übergangs vom subjektiven Erlebnis zur objektiven Feststellung besteht für beide Arten von Behauptungen gleichermaßen. Weingartner 6 1 verdeutlicht das: „ W i e es i n den wertfreien Wissenschaften keine absolute Gewißheit für den Übergang von psychologischen zu nichtpsychologischen Ereignissen, d. h. von ,a sieht (zur Zeit t, am Ort O) den Zeiger auf 3 stehen' zu ,der Zeiger s t e h t ( i s t ) f ü r a (t, O) auf 3' . . . ,der Zeiger steht f ü r viele Beobachtende (t, O) auf 3' . . . ,der Zeiger steht auf 3 (t, O)' gibt, so gibt es auch i n den Wertwissenschaften keine absolute Gewißheit für den Übergang von ,a erlebt (t, Ο) χ als wertvoll· zu ,viele Erfahrene anerkennen, daß χ w e r t v o l l für a (t, O) ist' . . . u n d zu ,x ist w e r t v o l l für a (t, O ) ' . . . oder von ,x ist w e r t v o l l f ü r viele Beobachtende (Erfahrende) (t, i m Bereich O)' zu ,x ist w e r t v o l l (t, O)' . . . "

Dementsprechend geht i n der Erkenntnistheorie ein verbreiteter empiristischer Standpunkt davon aus, daß „Diskussionen über Tatsachen nie endgültig abgeschlossen sind" 6 2 . I n dem Sinne, daß es keine logisch zwingenden Begründungen für empirische Behauptungen gibt, ist das sicher zutreffend 63 , ansonsten läßt sich darüber streiten, welche anderen Begründungsarten „zwingend" sind 6 4 . I n der philosophischen Diskussion über die Subjektivität oder Objektivität von Werten und Wertungen stehen sich die Vertreter des Wertrelativismus 6 5 und der deutschen Wertphilosophie nach Scheler und N. Hartmann 6 6 gegenüber. Die einen behaupten die Unbeweisbarkeit von Bewertungen, die anderen die Objektivität und feste Rangfolge von Werten 6 7 . Für die rechtliche Argumentation jedoch ist nur die faktische Gleichheit oder Verschiedenheit von Wertungen wesentlich sowie die Möglichkeit, durch Argumentation Konsens zu einer bestimmten Wertung zu erreichen 68 . Die Möglichkeit faktischer Gleichheit von Wertungen spricht aber nicht gegen den Wertrelativismus und die fak60 Vgl. dazu Rottleuthner, Richterliches Handeln, S. 20 u. 30 ff., u n d unten 3.1.1.2. 61 Wissenschaftstheorie, S. 163; ähnlich auch v. Savigny, Philosophie, S. 216 f. 62 v. Savigny, Philosophie, S. 291; vgl. unten 4.1. 63 v. Savigny, Philosophie, S. 298. 64 v. Savigny, Philosophie, S. 295 ff., u n d unten 2.3.3. 65 Z u dessen Verteidigung eingehend Engisch, Gerechtigkeit, S. 246 ff. 66 Z u deren K r i t i k eingehend Podlech, Werte, S. 201 ff. 67 I n der Rechtsphilosophie w u r d e das Problem der Objektivierung von Wertungen durch Rückführung von Werten auf Tatsachen i m Rahmen der Naturrechtsdiskussion behandelt. Dazu eingehend Engisch, Gerechtigkeit, S. 200 ff. u n d 232 ff., u n d unten 4.2. 68 So Engisch, Werte, S. 206 ff.

2.2 Dissens und Konsens

23

tische Ungleichheit von Wertungen nicht gegen die deutsche Wertphilosophie (die diese dann m i t Wertblindheit erklärt, ohne jedoch Kriterien für „richtige" Werterfahrungen angeben zu können 69 ). Darum bleibt der philosophische Streit praktisch bedeutungslos. Ohne Konsequenzen bleibt es darum auch, daß herkömmlicherweise die theoretische und die praktische Jurisprudenz dazu neigen, die Möglichkeit objektiv „richtiger" Wertungen bzw. Entscheidungen zu unterstellen. Die unter Juristen verbreitete Vorstellung von einer Objektivität der Werte bringt Baumann 7 0 i n folgendem Zitat zum Ausdruck: „Daß m a n über die gerechte Strafe niemals Gewißheit erlangen kann, ändert nichts daran, daß es eine solche gerechte Strafe gibt. ,Unschärfe der Erkenntnis darf nicht verwechselt werden m i t dem Umfang des zu Erkennenden' 7 1 ."

Podlech 72 dagegen kritisiert diese Vorstellung, daß es eine „gerechte" Entscheidung geben müsse: „ D i e systematische Schwierigkeit . . . r ü h r t daher, daß überhaupt die Existenz eines solchen K r i t e r i u m s postuliert w i r d , welches Postulat auch so formuliert werden kann, daß f ü r jeden rechtlichen Streitfall es genau e i n e richtige Entscheidimg geben müsse. Dieses Postulat fingiert Unmögliches . . . "

Der Versuch, Wertungen zu begründen, kann gegenüber einem „uneinsichtigen" Diskussionsgegner grundsätzlich immer zu einem regressus ad infinitum führen: „ W i e kleine K i n d e r sich ein Spiel daraus machen, immer wieder w a r u m ? zu fragen, k a n n man auch bei der Rechtfertigung ethischer Entscheidungen, Überzeugungen u n d Äußerungen nach einer Rechtfertigung der Rechtfertigung fragen; anders als das kleine K i n d muß m a n sich fragen, w i e lange das Verlangen nach Rechtfertigung sinnvoll bleibt, an welchem P u n k t man damit aufhören muß u n d was dann kommt, wenn die Rechtfertigung aufhört73."

Argumentationen, die am wenigsten der Gefahr des regressus ad infinitum bei dem Versuch ihrer Rechtfertigung ausgesetzt sind, sind logische Ableitungen — soweit man darunter solche Begründungen versteht, die „Behauptungen begründen, die i n der Begründung schon enthalten sind" 7 4 — sowie mathematische Beweise, die sich einer streng formalisierten Sprache bedienen und auf vereinbarten Grundannahmen beruhen 75 . Auch solche Begründungen sind allerdings gegenüber 69

Dazu Podlech, Werte, S. 206 ff. Gerechtigkeit, S. 132 (m. w. Nachw.) A n m . 56. 71 Zit. nach Sarstedt, 41. DJT. 72 Werte, S. 190 A n m . 20 (m. w. Nachw.). 73 v. Savigny, Philosophie, S. 200; vgl. auch Kriele, S. 179, u n d Albert, K r i t i k , bes. S. 222 ff. 74 So v. Savigny, Philosophie, S. 298. 75 Vgl. Perelman, Traité, S. 1 ff. u n d 17 ff. 70

Rechtsgewinnung,

24

2 Allgemeine Grundlagen juristischer Argumentation

einem rigorosen Skeptizismus dem regressus ad infinitum ausgesetzt 76 . Struck 7 7 demonstriert anhand eines Extrembeispiels — der hartnäckigen Weigerung, 2 + 2 = 4 als richtig anzuerkennen —, daß auch mathematische Beweise auf ein M i n i m u m an Verständigungsbereitschaft angewiesen sind. I n der Jurisprudenz kommen mathemathische Beweise vor allem i m Zusammenhang m i t Zahlen vor (z.B. bei Altersgrenzen oder Geldbeträgen). Die rein logischen Beweisführungen spielen i n der juristischen Argumentation eine wenig bedeutsame Rolle: Sie sind durchweg trivial; das entscheidende Problem ist die Rechtfertigung ihrer Prämissen 78 . Allerdings werden vielfach die Interpretationen und Wertungen, die logische Schlüsse i m Recht erst möglich machen, verschleiert: Diederichsen bezeichnet Argumentationen i m Recht, die ausschließlich auf logische Verknüpfungen abstellen, deshalb i m Anschluß an Scheuerle als „Kryptoargumente" 7 9 . Ein Übergang von mittelbarem Erkennen m i t Hilfe von Schlüssen oder Verknüpfungen zu unmittelbarem Erkennen 8 0 ist die praktisch wichtigste Möglichkeit, den regressus ad infinitum i n der Argumentation zu durchbrechen 81 . Bestimmte Behauptungen w i r d der Diskussionspartner ohne weitere Begründung als „evident" 8 2 , „selbstverständlich" 8 2 , „vernünftig" 8 3 oder wenigstens „vertretbar" akzeptieren. Wie groß diese gemeinsame „Konsensbasis" ist, ist von individuellen und sozialen Bedingungen abhängig: die Konsensbasis m i t Menschen, die einer ganz anderen Weltanschauung angehören und eine ganz andere Sozialisation erfahren haben, kann sehr gering sein; die Konsensbasis m i t einem absoluten Skeptiker ist gleich Null. — Argumentation ist som i t ein recht unzuverlässiges Mittel, u m Konsens und damit Legitimität

76

Vgl. Crawshay-Williams, Reasoning, S. 223 ff. Topische Jurisprudenz, S. 105. 78 Vgl. Otte, Topik-Diskussion, S. 185; eingehend Scheuerle, Logik. 79 Diederichsen, reductio ad absurdum, S. 162; ausführlich zu „ L o g i k u n d Jurisprudenz" S. 160 ff.; vgl. auch Perelman, Traité, S. 254ff., über die „arguments quasi logiques". 80 Z u der Unterscheidung der beiden Formen des Erkennens vgl. Bochenski, Denkmethoden, S. 73; vgl. auch Scheuerle, Evidenzen, S. 244 ff. u n d 263. 81 Vgl. Albert, K r i t i k , S. 15. 82 Z u der Problematik vgl. näher Esser, Vorverständnis, S. 168 ff.; eingehend Scheuerle, Evidenzen; zu Einkleidungen („zwanglos", „selbstverständlich", „natürliche" oder „unbefangene" Auffassung usw.) u n d A r t e n (Argumente der Evidenz, der Nicht-Evidenz, des Evidenzmangels, Evidenzpräferenzen) juristischer Evidenzargumente bes. S. 266 ff. u n d 278 ff. 83 Vgl. v. Savigny, Philosophie, S. 201; Kriele, Rechtsgewinnung, S. 157 ff.; Perelman, Traité, S. 1 ff. u n d 34 ff. 77

2.

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der Argumentation

25

für rechtliche Entscheidungen zu erreichen. Darum werden auch andere Mittel zum Erreichen von Legitimität notwendig (2.4). Erwartet der Argumentierende, daß für eine bestimmte Behauptung von den Diskussionspartnern keine weitere Begründung gefordert wird, so müßte er eigentlich die „Evidenz" dieser Behauptung postulieren. Dieser Appell an die Evidenz bleibt jedoch meist unausgesprochen: Diskussionspartner, für die die Behauptung nicht evident erscheint, werden dann jedoch den Vorwurf einer unvollständigen Argumentation (eines Enthymems) machen und eine Begründung fordern. Neben dem Übergang zum unmittelbaren Erkennen kann man auch zu einem Konsens i m Ergebnis dadurch gelangen, daß verschiedene Begründungen zu derselben Behauptung führen 8 4 . 2.3 Formen der Argumentation Je nach den Interessen des Klassifizierenden können Argumentationsformen unterschiedlich eingeteilt werden. Detaillierte und befriedigende Klassifikationssysteme scheinen bisher noch nicht zu existieren; auch die Gliederung des Traité de Γ argumentation von Perelman und Olbrechts-Tyteca enthält keine konsistenten Klassifikationsgesichtspunkte. I n diesem Abschnitt kann nur ein grobes Bezugssystem für die späteren Ausführungen i m 3. bis 6. Kapitel der vorliegenden Arbeit geboten werden. 2.3.1 Inhalte der zu begründenden Behauptungen

Die Klassifikation nach den Inhalten der zu begründenden Behauptungen w i r d der Gliederung dieser Arbeit zugrundegelegt, indem folgende Arten von Behauptungen unterschieden werden: Geltung von Vorprogrammierungen bzw. Hechtsquellen (3.1.2 und 3.2), Bedeutung bzw. Interpretation von Sprachzeichen i n Rechtsquellen (3.1.1 und 3.2), Tatsachenfeststellungen (4), Werte (5), Wertungen (6.1), Differenzierungen zwischen unterschiedlich behandelten haltsklassen (6.2), Handlungsalternativen (6.3).

Sachver-

84 Kriele, Rechtsgewinnung, S. 26, dazu, daß die Ausnutzung dieser T a t sache geradezu das Kernstück der klassischen Rhetorik war.

26

2 Allgemeine Grundlagen juristischer Argumentation

Diese Einteilung knüpft an geläufige Fragestellungen an, ist aber nur bedingt geeignet, tiefere Gemeinsamkeiten der Argumentation zu erhellen. Vielmehr zeigt sich, daß strukturgleiche Argumentationsformen bei inhaltlich ganz verschiedenen Behauptungen verwandt werden. Dennoch wurde aus Gründen der Verständlichkeit diese Einteilung für die Grobgliederung dieser Arbeit gewählt. 2.3.2 Ziele der Argumentation

Je nach der „Phase" der Argumentation ändern sich deren Ziele: Zunächst muß Konsens über das Thema der Diskussion erreicht werden (2.3.2.1), danach kann gelegentlich die „tendenziöse" Darstellung des Themas oder auch eines vertretenen Standpunktes zum Streitpunkt werden (2.3.2.2), und schließlich w i r d das Thema selbst, d. h. die Richtigkeit bzw. Gültigkeit der zur Diskussion stehenden Behauptungen, Gegenstand der Diskussion (2.3.2.3). Diese Phasen können i m Verlauf der Diskussion für jedes einzelne Argument durchlaufen werden; oft allerdings werden Thema und Darstellung der einzelnen Argumente nicht zum Streitpunkt. 2.3.2.1 Auswahl der Themen der Argumentation Bereits die Auswahl des Themas bestimmt Verlauf und Ausgang der Argumentation und kann ihrerseits Gegenstand der Argumentation sein. Eine elementare Voraussetzung für eine sinnvolle Diskussion ist eine hinreichend klare Fassung des Themas; solange ein Thema nicht genügend präzise gefaßt ist, sollte man vernünftigerweise ablehnen, darüber zu diskutieren. Sonst „redet man an einander vorbei" 8 5 . Grundsätzlich kann man jedoch niemals völlig der Gefahr entgehen, daß sich i m Verlaufe einer Diskussion herausstellt, daß die Diskussionspartner das Thema unterschiedlich interpretieren: das gilt genauso wie für jeden anderen Konsens 86 auch für den Konsens über das Thema. Eine Begriff sklärung kann niemals bis zur Eindeutigkeit i n jeder Hinsicht vorangetrieben werden 8 6 a ; vielmehr kann eine Begriffsklärung sinnvoll nur insoweit verlangt werden, wie sie für den jeweiligen Zusammenhang erforderlich ist 8 7 . Insofern ist die Forderung nach Präzisierung des Themas zwar i n gewissem Rahmen berechtigt, kann aber i m Extremfall auch zur Verschleppung oder gar Vereitelung einer Diskus85 Haag /Wagner, Moderne Logik, S. 23, f ü r das Beispiel des Begriffs „Freiheit" : „Säkulare Scheingefechte". Vgl. oben 2.2.1.5. 88 Vgl. oben 2.2.1.5. 86a Eingehend zur Vagheit der Sprache unten 3.1.1. 87 Eingehend dazu Naess, K o m m u n i k a t i o n , S. 36 ff.

2.

r

der Argumentation

27

sion benutzt werden oder jedenfalls zu umständlichen und fruchtlosen Begriffsklärungen führen. Bei der Präzisierung des Themas kann sich auch herausstellen, daß die Diskussionsteilnehmer unterschiedliche Themen erörtern wollen; dann entfällt die Notwendigkeit der Diskussion. I n der Rechtsprechung w i r d vielfach einige Mühe darauf verwendet zu zeigen, daß Fälle i n früheren Gerichtsentscheidungen wesentlich anders gelegen haben (hier w i r d m i t Hilfe von Vergleichen argumentiert, vgl. dazu unten 2.3.4.2): dann entfällt die Notwendigkeit, die eigene Entscheidung gegenüber der früheren abweichenden Entscheidung zu rechtfertigen. Diese „Konfliktvermeidung" 8 8 scheint i n der Rechtsprechung verbreitet zu sein 89 . Eine weitere Voraussetzung für eine sinnvolle Diskussion ist, daß die zur Diskussion stehenden Behauptungen einen Informationsgehalt haben. So kann mit dem Vorwurf der Leerformel oder der Tautologie 90 einer Behauptung jeder Informationsgehalt abgesprochen werden 9 1 . — Eher problematisch w i r d der Vorwurf der petitio principii (oder auch: Vorwurf des Zirkelschlusses bzw. der tautologischen Begründung), m i t dem geltend gemacht wird, die Begründung wiederhole nur die Behauptung, darüber hinaus enthalte sie keinen Informationsgehalt, darum sei sie kein diskussionswürdiges Argument. Über die Berechtigung eines solchen Vorwurfs kann man vor allem deshalb streiten, weil es von der Interpretation bzw. vom „Vorverständnis" abhängig ist, wie Behauptung und Begründung zu verstehen sind 9 2 . Scheuerle 93 bringt dazu folgendes Beispiel: „ D i e verteilende Gerechtigkeit bedient sich auch des Arguments des ,unberechtigten Vorteils'. Ist es kognitiv (als A b l e i t u n g aus der lex lata) gemeint, so liegt ein Zirkelschluß vor, w e i l j a erst dargetan werden müßte, w a r u m jener V o r t e i l dem geltenden Recht widerspricht. N u r wenn eine ,außerpositive' emotionale Nichtberechtigung gemeint ist, sind seine Urheber des Verstoßes gegen die Logik enthoben."

Ferner muß das Thema relevant sein: Auch die Forderung der Relevanz kann nur „relational" hinsichtlich der beteiligten Diskussionspartner, hinsichtlich des Zeitpunktes oder auch hinsichtlich eines bestimmten Zusammenhangs verstanden werden. — Von grundlegender Bedeutung für die Argumentation ist die Relevanz von Begründungs88

v. Savigny, Juristische Dogmatik, S. 84. v. Savigny, Juristische Dogmatik, S. 85 f.; Kriele, Rechtsgewinnung, S. 279 ff. 90 Dazu Topitsch, Sprachlogische Probleme. 91 Dazu Perelman, Traité, S. 290 ff., und Opp, Methodologie, S. 174 ff. u n d 209 ff. 92 Vgl. dazu Perelman, Traité, S. 151 ff.; Scheuerle, Logik, S. 43 ff. 93 Subsumtionen, S. 321 f. 89

28

2 Allgemeine Grundlagen juristischer Argumentation

behauptungen für die zu begründende Behauptung 93 * 1 . — Ein für die juristische Diskussion typisches Teilproblem der Relevanz ist das Problem der institutionellen Zuständigkeit einer angerufenen Instanz für eine Entscheidung; hier w i r d vielfach als Mißstand angeprangert, wenn die Erörterung der Zuständigkeit bzw. die Ablehnung einer Entscheidung aus Gründen der Unzuständigkeit zur Verschleppung von Verfahren führt. Andrerseits können für eine genaue Regelung und Einhaltung der Zuständigkeit zahlreiche Gründe wie Gleichbehandlung, Kompetenz der Verfahrensbeteiligten, Ausschaltung von W i l l k ü r u. a. angeführt werden. Weiterhin ist es nicht sinnvoll, über Themen zu diskutieren, die — unter Berücksichtigung der bekannten Konsensbasis der Diskussionspartner — keinerlei Aussicht auf Konsens haben, d. h. nach gemeinsam akzeptierten Kriterien „nicht entscheidbar" sind. So geht ζ. B. Schmidhäuser davon aus, daß die Frage der Willensfreiheit nicht entscheidbar sei 94 . Man kann mit Hilfe dieser Argumentation Diskussionen von vornherein verhindern, indem man auf unterschiedliche vorgefaßte Meinungen verweist oder auch global auf „unüberbrückbare weltanschauliche Grundvoraussetzungen" o. ä. Von wesentlicher Bedeutung für die Argumentation kann schließlich der Umfang des Themas sein. Zumal bei der Argumentation über Entscheidungen kommt es oft vor, daß man sich weigert, „isoliert" eine bestimmte Entscheidung zu treffen, ohne andere Probleme mitzuentscheiden: So w i r d ζ. B. i n der rechtspolitischen Diskussion geltend gemacht, man dürfe nicht einzelne Bestimmungen ändern, ohne gleich ein ganzes Gesetz oder gar eine ganze Materie zu reformieren, vielmehr müsse eine „einheitliche Gesamtregelung" getroffen werden. Noch weitergehend w i r d von linker Seite vielfach argumentiert, einzelne Reformen hätten keinen Sinn, man müsse das ganze gesellschaftliche „System" ändern. Tatsächlich hängen alle Entscheidungen i m gesellschaftlichen Bereich i n vielfältiger Weise mit einander zusammen; rechtliche Entscheidungen sind darüber hinaus unter dem Wertgesichtspunkt der Gleichbehandlung miteinander verknüpft (dazu näher unten 6.2). Gaefgen 95 betont jedoch gegenüber der „dialektischen" Forderung nach Einbeziehung der gesellschaftlichen „Totalität" i n einzelne Entscheidungen, daß eine Isolierung bzw. „Kompartmentalisierung" eine rationale Entscheidung überhaupt erst möglich mache. Dementsprechend w i r d vielfach umgekehrt gefordert, anstatt eines Gesamtthemas einzelne Themen getrennt 93a 94 95

Dazu 2.1, 2.3.3, 2.3.4. Lehrbuch, 10/4. Entscheidung, S. 202.

2.

r

der Argumentation

29

zu verhandeln 9 6 . Jedoch ist nicht verbindlich festlegbar, bis zu welchem Grade eine solche Kompartmentalisierung notwendig ist. — Diese A n tinomie zwischen mehr isolierender und mehr ganzheitlicher Betrachtungsweise ist auch sehr wesentlich für die Bewertung von Sachverhalten 9 7 . Bei allen Themen stellt sich darüber hinaus das Problem, daß es i n jeder Situation unendlich viele Behauptungen bzw. „Lösungen" gibt: einerseits w i r d nun geltend gemacht, man solle, damit die Diskussion nicht „ausufert", die i n Frage kommenden Behauptungen von vornherein oder jedenfalls i m Verlauf der Diskussion festlegen; andererseits werden durch eine solche Festlegung bestimmte Entscheidungsmöglichkeiten begünstigt und andere ganz ausgeschlossen. Insbesondere besteht die Gefahr eines „Entweder-Oder-Denkens" unter Außerachtlassung differenzierender Behauptungen: So berichtet Lautmann 9 8 von der Tendenz von Richtern zur „Polarisierung von Alternativen"; Naucke fordert i n seiner Schrift „Über die juristische Relevanz der Sozialwissenschaften", „keine Erörterung mehr ernst zu nehmen, die sich m i t so allgemeinen Begriffen wie ,die' Sozialwissenschaften, ,die' Jurisprudenz, ,die* Juristen, ,die' Rechtssoziologie, ,die' Soziologie, ,das' Recht, ,die' Dogmatik begnügt" 9 9 . Bei der Auswahl des Themas wurde das Problem der „Diskussionswürdigkeit" von Themen und Behauptungen besprochen. Dabei wurde deutlich, daß die Beurteilung der Diskussionswürdigkeit weitgehend von den Wertungen und den wissenschaftstheoretischen Vorstellungen der Diskutanten abhängt 1 0 0 . Lehnt man die Diskussionswürdigkeit ab, so „beanstandet man die Fragestellung" 1 0 1 oder erklärt Behauptungen für unklar, nichtssagend oder „sinnlos" 1 0 2 . 2.3.22 Darstellung

der Themen der

Argumentation

Ebenso wie die Auswahl des Themas kann seine Darstellung den Verlauf der Argumentation bestimmen. Vielfach streiten sich die Disku-

98 Z u der gezielten „ S a l a m i t a k t i k " vgl. Stangl, Verhandlungsstrategie, S. 107 ff. 97 Vgl. unten 6.1. 98 Justiz, S. 69 f. 99 Relevanz der Sozialwissenschaften, S. 13, A n m . 13. Vgl. auch unten 6.2. 100 z u r Wertungsabhängigkeit der Behauptung der Sinnlosigkeit vgl. Popper, L o g i k der Forschung, S. 10 ff. u. 23 ff. 101

Dazu vgl. auch Rother, K u n s t des Streitens, S. 105 ff. m i t Beispielen. Z u m Problem des juristischen Arguments des (Un-)Sinns Scheuerle, Logik, S. 60 ff. — Z u syntaktisch u n d semantisch sinnlosen Aussagen B o chenski, Denkmethoden, S. 51 ff. u n d 55 ff. 102

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2 Allgemeine Grundlagen juristischer Argumentation

tanten darum, ob die eine Seite Sachverhalte oder auch die Behauptungen der anderen Seite „tendenziös" dargestellt habe. Schon jede Darstellung eines Sachverhalts setzt Wertungen voraus und legt darum bestimmte Handlungsmöglichkeiten nahe: So erfordert die Darstellung eines Sachverhalts die Auswahl einiger Aspekte bzw. Tatsachen aus unendlich vielen 1 0 3 . Diese Auswahl erfolgt unter unterschiedlichen Gesichtspunkten. Bei Entscheidungen erfolgt die Auswahl der als „Informationsbasis" relevanten Tatsachen aufgrund von handlungsbezogenen Wertsystemen: Werte werden i n der Entscheidungstheorie auch als „Beschreibungskriterien" 1 0 4 bezeichnet. So w i r d die Darstellung von Tatsachen i m Rahmen rechtlicher Argumentation durch die Wertsysteme des Rechts bestimmt 1 0 5 . Es „liegt i m Tatsachenvortrag immer schon ein Normenvorschlag, insofern nämlich die vorgetragenen Tatsachen als relevant oder mindestens möglicherweise relevant behandelt werden" 1 0 6 . Demzufolge besteht die Möglichkeit, durch einseitige Auswahl oder Akzentuierung von Tatsachen bzw. Aspekten eine bestimmte Bewertung eines Sachverhalts nahezulegen. So weist Perelman 1 0 7 darauf hin, daß man Orest als „Muttermörder" oder als „Rächer seines Vaters" bezeichnen kann. Man kann sagen, daß die Sterilisation der „ungehemmten Genußsucht" Vorschub leiste 1 0 8 , oder aber, daß sie „ungefährdete" Geschlechtsliebe ermögliche 109 . I n der rechtspolitischen Diskussion w i r d derselbe Sachverhalt als „Schwangerschaftsunterbrechung", als „Abtreibung", als „Abtötung" oder als „ M o r d " 1 1 0 bezeichnet. I n bewußter Einseitigkeit bestimmte Aspekte i n den Vordergrund zu rücken 1 1 1 , spielt i n der täglichen juristischen Praxis (insbesondere der Rechtsanwälte) eine erhebliche Rolle 1 1 2 ; weniger bedeutsam ist sie für das juristische Schrifttum. Das Verfahren besteht darin, Wertantinomien zu „unterschlagen", d. h. Gesichtspunkte, die für eine gegenteilige 103 Z u r Verkürzung der Realität durch Sprache Bühring, Semantik, S. 68 ff. ; Perelman, Traité, S. 169 ff.; vgl. auch Lautmann, Justiz, S. 17 f. 104 Gaefgen, Entscheidung, S. 110 ff. 105 Vgl. näher Lautmann, Justiz, S. 19 f., 60 ff. 106 Kriele, Rechtsgewinnung, S. 200. 107 Traité, S. 169. 108 O L G Celle i n N J W 1963, 406. 109 So Hanack, zit. nach Roxin, Verwerflichkeit, S. 380. 110 Die Bezeichnung als „ M o r d " w i r d zitiert von Böckenförde, Abschaffung des § 218 StGB?, S. 147 A n m . 2, aus dem Passauer Bistumsblatt 1970. 111 Perelman, Traité, S. 154 ff., betont die Bedeutung der „présence" von Tatsachen bei der menschlichen Urteilsbildung. 112 Zahlreiche Beispiele aus dem A l l t a g bei Rother, K u n s t des Streitens, S. 73 ff.

2.

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der Argumentation

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Wertung sprechen und daher gegenüber den genannten abzuwägen wären, auszulassen. I m Beispiel des Orest w i r d i n der Bezeichnung „Rächer seines Vaters" eine i n der damaligen Gesellschaft allgemein gebilligte Motivation hervorgehoben, i n der Bezeichnung „Muttermörder" ein mißbilligter Erfolg. Die rhetorischen Möglichkeiten, bestimmte Aspekte zu akzentuieren und andere i n den Hintergrund treten zu lassen, sind zahllos 113 . Perelm a n 1 1 4 betont die Wechselwirkung solcher rhetorischen „Formen" m i t der „inhaltlichen" Argumentation. Jedoch lassen sich die „Formen" vielfach auch deutlich von den „Inhalten" trennen und als „bloße Form" i n ihrer argumentativen Wirksamkeit entwerten: Gegenüber einem Film, mit dem die Gegner einer Freigabe der Abtreibung eindringlich deren Grausamkeit vor Augen führen wollten, meinte der Bundestagsabgeordnete v. Schöler 115 , genausogut könne man einen F i l m machen, der eine erfolgreiche Abtreibung als harmlosen Eingriff zeigt und danach die Eltern, die glücklich darüber sind, daß das K i n d „weg" ist. Z u der Notwendigkeit der Auswahl von Aspekten i n der Darstellung kommt hinzu, daß alle Wörter „einen gewissen affektiven Charakter" an sich haben, — allerdings u. U. nach Publikum und Zusammenhang eine unterschiedliche oder gar gegensätzliche affektive Tönung 1 1 6 . Dies alles führt dazu, daß eine „wertfreie Deskription" nicht möglich ist; wann aber die Wertfärbung einer Darstellung derart einseitig ist, daß sie als „tendenziös" abzulehnen ist, läßt sich nicht verbindlich festlegen. Naess 117 postuliert folgende Norm für die Sachlichkeit einer Diskussion: „Eine Formulierung, deren Zweck es ist, i n einer ernsthaften Diskussion einen Standpunkt wiederzugeben, muß neutral sein in Bezug auf jeden Streitpunkt." 2.3.2.3 Inhaltliche

Argumentation

W i r d über Auswahl und Darstellung des Themas argumentiert, so ist das eine metasprachliche Argumentation, d. h. es w i r d über das Argumentieren argumentiert 1 1 8 . Die inhaltliche Argumentation dagegen berührt nur ausnahmsweise metasprachliche Probleme. Während es bei 113 Vgl. eingehend Perelman, Traité, S. 191 ff. Z u r Andeutung von K o n texten u n d der Verwendung von Redundanz vgl. Hund, K o m m u n i k a t i o n , S. 34 ff. u n d 39 ff. 114 Traité, S. 191 f. Vgl. auch unten 2.3.3 die Hinweise zum Formalismusargument. 115

Nach SPIEGEL v o m 26. 3.1973. Hayakawa, Sprache, S. 88 u n d 125 ff. 117 Kommunikation, S. 169. na v g l , p r i m / Tilmann, Grundlagen, S. 80 f. 116

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2 Allgemeine Grundlagen juristischer Argumentation

der Diskussion über die Auswahl des Themas um dessen Diskussionswürdigkeit und bei der Diskussion über die Darstellung des Themas u m deren „Sachlichkeit" geht, ist das Problem der inhaltlichen Diskussion das Zutreffen bzw. die Gültigkeit der zu dem Thema aufgestellten Behauptungen. Bei Tatsachenbehauptungen spricht man meist von Wahrheit oder Richtigkeit; häufig steht aber auch nur ein bestimmter Wahrscheinlichkeitsgrad von Tatsachen zur Diskussion 119 . Bei Interpretation spricht man eher von Angemessenheit, bei Wertungen von Gültigkeit oder Evidenz, bei Entscheidungen von einer gerechten oder gar optimalen Entscheidung. Häufig aber geht es nicht um das „absolute" Zutreffen einer Behauptung, sondern nur u m die Präferenz einer Behauptung vor einer oder mehreren anderen Behauptungen: ζ. B. ob ein Geschehensverlauf wahrscheinlicher sei als ein anderer, ob ein Interesse i n einem bestimmten Zusammenhang höher zu gewichten sei als ein anderes, ob eine Entscheidung gerechter sei als eine andere usw. 2.3.3 Formen der Rechtfertigung und Widerlegung

Unabhängig von den Inhalten und Zielen der Argumentation sind verschiedene Formen der Rechtfertigung möglich. (1)

U m eine Behauptung zu rechtfertigen, w i r d eine Begründungsbehauptung aufgestellt, über die Konsens besteht oder m i t Hilfe weiterer Begründungen erreichbar ist, so daß die Behauptung aus der Begründung „folgert". U m dieses „Folgern" zu belegen, kann i m einzelnen die Relevanz der Begründungsbehauptung dargelegt und begründet werden 1 2 0 . Formen der Relevanz werden unter 2.3.4 besprochen.

Kommt nur eine alternative Behauptung i n Betracht, die das direkte Gegenteil der eigenen Behauptung zum Inhalt hat, so genügt die angeführte Form der Rechtfertigung. Kommen aber noch sonstige Behauptungen i n Betracht — wie es ζ. B. regelmäßig der Fall bei verschiedenen Handlungsalternativen i n Entscheidungssituationen ist —, so müssen diese Behauptungen widerlegt werden, oder es muß wenigstens gezeigt werden, daß die eigene Behauptung wahrscheinlicher, plausibler, „das geringere M i t t e l " usw. ist. Weichen die alternativen Behauptungen nur teilweise von der eigenen Behauptung ab, so brauchen sie natürlich nur teilweise widerlegt oder abgewertet zu werden (vgl. oben 2.2.1.2). Hat die gegnerische Behauptung das genaue Gegenteil der eigenen Behauptung zum Inhalt, so genügt die Widerlegung der gegnerischen Behaup119

Dazu Perelman, Traité, S. 93 u n d 344 ff. Z u den Relevanzregeln („warrants") ausführlich Toulmin, Argument, S. 98 ff. Die Relevanzregeln bleiben meist unausgesprochen: Toulmin, A r gument, S. 100. 120

2.

tung zur Rechtfertigung Beweis 121 ).

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der Argumentation

33

der eigenen Behauptung (sog. indirekter

(2)

U m eine Behauptung zu widerlegen, kann die Begründungsbehauptung bestritten werden.

(3)

U m eine Behauptung zu widerlegen, kann die Relevanz der Begründungsbehauptung, die „Schlüssigkeit", bestritten werden 1 2 2 .

(3a) U m die Relevanz der Begründungsbehauptung zu „relativieren", kann gezeigt werden, daß aus der Begründungsbehauptung auch andere Behauptungen gefolgert werden können. Äußerstenfalls kann gezeigt werden, daß aus der Begründungsbehauptung jede andere Behauptung gefolgert werden kann (Vorwurf der Leerformel). (4)

U m eine Behauptung zu widerlegen, w i r d ihre Unvereinbarkeit 1 2 3 mit einer anerkannten Behauptung dargelegt, oder es w i r d eine Behauptung widerlegt, die aus jener Behauptung gefolgert werden kann, oder es w i r d gezeigt, daß die beiden Behauptungen i n Widerspruch 1 2 3 zu einander stehen (argumentum ad absurdum) 124 .

(5)

U m den Vorzug einer Behauptung vor anderen zu rechtfertigen, kann gezeigt werden, daß sie relevantere Gründe als die andere Behauptung für sich hat.

Für die Widerlegung oder Abwertung von Argumenten werden verschiedenste sprachliche Einkleidungen verwandt wie z.B. „Scheinbegründung", „Kryptoargument" oder der V o r w u r f der „formalistischen" Argumentation. Derartige Formen der K r i t i k bedürfen aber selbst der kritischen Betrachtung: Meistens stellt sich heraus, daß diese Begriffe eine recht unscharfe Bedeutung haben, und ihre Verwendung setzt vielfach bestimmte Wertungen voraus, die der Offenlegung bedürfen. Brecher stellt zum Schluß seines Aufsatzes über Scheinbegründungen i m Zivilrecht die Frage, ob die Scheinbegründung nicht als „Schattenseite" zum positiven Recht gehöre; was „erlaubte" Scheinbegründung sei, sei kaum zu fixieren 1 2 5 . Noch weitergehend kann man die These 121

Vgl. Diederichsen, Reductio ad absurdum, S. 171 ff. Z u derartigen Streitformen Toulmin, Argument, S. 103 ff. 123 Z u den Techniken, Behauptungen als i n sich widersprüchlich bzw. i n sich stimmig darzustellen, vgl. Perelman, Traité, S. 262 ff. Z u m juristischen Argument des Widerspruchs vgl. Scheuerle, Logik, S. 38 ff. 124 Die Terminologie ist unterschiedlich: So bezeichnet Diederichsen, Reductio ad absurdum, S. 163, 175 ff., die erstgenannten A l t e r n a t i v e n als „ U n tragbarkeitsargument" u n d n u r die letzte Alternative als „reductio ad absurdum". S. 175 betont er aber selbst die Verwandtschaft: I n der Sprache der Logik ließe sich das Falsche n u r durch einen Widerspruch ausdrücken, bei dem Untragbarkeitsargument übernähmen „rechtssozial widerwärtige K o n sequenzen" innerhalb der A b l e i t u n g die F u n k t i o n von Widersprüchen. 125 Scheinbegründungen, S. 146 f. 122

3 Clemens

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2 Allgemeine Grundlagen juristischer Argumentation

vertreten, daß „Scheinbegründung" gar nicht die Bezeichnung für bestimmte Arten von Begründungen ist, daß vielmehr die Konsensbereitschaft des jeweiligen Publikums dafür entscheidend ist, wann eine Rechtfertigung als schlüssig bzw. „evident" akzeptiert wird, und wann der Vorwurf der Scheinbegründung eine weitere Rechtfertigung der Rechtfertigung erzwingt: Für den absoluten Skeptiker ist jede Begründung eine Scheinbegründung. Ähnliche Gesichtspunkte gelten für den Vorwurf des Kryptoarguments 1 2 6 : Er kann bedeuten, daß dem Beurteiler eine Argumentation nicht tragfähig erscheint — das entspricht dem V o r w u r f des Scheinarguments; zudem oder stattdessen kann der Beurteiler unterstellen, daß die „wahren" Entscheidungsgründe nicht offengelegt wurden 1 2 7 : Dann handelt es sich u m ein argumentum ad personam bzw. um eine Interpretation des gegnerischen Arguments, die bestimmte „Absichten" unterstellt. M i t dem V o r w u r f des Formalismus bzw. der „bloß formalen" Begründung hat sich Scheuerle eingehend befaßt. Er kritisiert diese Argumentationsform als „Kryptoargument"; seine Bedeutung sei zumeist recht vage 1 2 8 . Er analysiert i m einzelnen die verschiedenen (zumeist nicht offengelegten) möglichen Bedeutungen 129 , insbesondere die Wertungen, die dem V o r w u r f des Formalismus zugrundeliegen. Charakteristisch ist ζ. B. die Verwendung des Formalismusarguments als sprachliche Einkleidung teleologischer Argumentation, die gegen „Buchstabenauslegung" ausgespielt w i r d 1 3 0 ; i n diesem F a l l w i r d die Relevanz einer bestimmten A r t der Interpretation, nämlich nach dem gewöhnlichen Wortsinn, bestritten. 2.3.4 Formen der Relevanz von Begründungsbehauptungen

Hier sollen drei für die juristische Argumentation besonders wichtige Formen der Relevanz von Begründungsbehauptungen für die zu begründende Behauptung näher besprochen werden: Argumente, bei denen die Begründungsbehauptung als Beispiel (2.3.4.1), als Vergleich (2.3.4.2) oder als erklärender bzw. rechtfertigender Obersatz (2.3.4.3) dient. Dabei w i r d vorwiegend das Problem der Relevanz derartiger Begründungsbehauptungen und nicht das Problem ihrer Richtigkeit besprochen. 126 Dazu Scheuerle, Wesen, argumente, S. 418. 127 Formalismusargumente, 128 Formalismusargumente, 129 Formalismusargumente, 130 Formalismusargumente,

S. 430 f., 436 ff., 469 f.; Scheuerle, FormalismusS. 418 f. S. 447 f. S. 409 ff. S. 426 ff.

2.3 Formen der Argumentation

35

Eine weitere für die juristische Argumentation wesentliche Form der Relevanz ist die Berufung auf eine verbindliche Rechtsquelle (verallgemeinert: Berufung auf eine Autorität 1 3 1 ): Hier entsteht zunächst das Problem, ob der Rechtsquelle eine Aussage zu entnehmen ist, die der zu rechtfertigenden Behauptung entspricht; dieses Interpretationsproblem (dazu 3.1.1) betrifft das Zutreffen der Begründungsbehauptung — bei einem Streit zwischen verschiedenen Interpretationen entsteht aber das Problem der Relevanz von Interpretationsregeln (3.1.2). Das Problem der Verbindlichkeit der Rechtsquelle (3.1.2) ist dagegen das der Relevanz der Begründungsbehauptung. — Bei rechtlichen Bewertungen entsteht das Problem relevanter Bewertungsmaßstäbe (6.1). — Eine sehr problematische Relevanz hat das argumentum ad personam 1 3 2 : Um eine Behauptung aufzuwerten oder abzuwerten, w i r d hier die Person des Behauptenden aufgewertet oder abgewertet. 2.3.4.1 Beispiele Das Problem, inwieweit ein oder mehrere singuläre Sätze oder sonstige Sätze geringeren Allgemeinheitsgrades einen allgemeinen Satz (Allsatz) rechtfertigen können, ist i n der empirischen Wissenschaftstheorie als Induktionsproblem bekannt 1 3 3 . Für Normen und Wertungen besteht eine entsprechende Problematik 1 3 4 : w i r d eine rechtliche Bewertung und/oder Behandlung für eine Sachverhaltsklasse gefordert, so kann m i t bestimmten Fallgruppen als Beispiel eine solche Behauptung eindringlich untermauert werden. Damit Einzelfälle oder auch Fallgruppen als Beispiele einen allgemeinen Satz rechtfertigen können, müssen sie typisch 1 3 5 oder repräsentativ für die i n dem allgemeinen Satz enthaltenen Fälle sein. Sonst t r i f f t sie der Vorwurf, sie seien „untypisch" 1 3 6 , unrepräsentativ, Extremfälle usw. Dazu einige juristische Beispiele 1 3 7 : L e m h ö f e r 1 3 8 z u m Problem der überholenden Kausalität: „Schließlich w ä h l t m a n als Beispiele nicht selten besonders verwerfliche Rechtsverletzungen u n d findet es dann unbefriedigend, daß der Täter frei ausgehe. Es ist aber zu einseitig, aus der gefühlsmäßigen Beurteilung solcher relativ seltenen Taten auf die Behandlung aller Schadensersatz131

Vgl. Perelman, Traité, § 70, S. 410 ff. zum argument d'autorité. Vgl. dazu Rother, K u n s t des Streitens, S. 108 ff. 133 Vgl. Bochenski, Denkmethoden, S. 118; Popper, Logik, S. 3 ff. 134 Vgl. Weingartner, Wissenschaftstheorie, S. 109 ff.; der Sache nach auch Hardwig, Bedeutung von Rechtsfällen, bes. S. 49, 53 f. 135 Vgl. Rother, K u n s t des Streitens, S. 88 f. 136 Vgl. Rother, K u n s t des Streitens, S. 88 f. 137 Weitere Beispiele bei Diederichsen, reductio ad absurdum, S. 159 f. 138 überholende Kausalität, S. 339. 132

3*

2 Allgemeine Grundlagen juristischer Argumentation

36

pflichten zu schließen, obwohl deren Masse auf Fahrlässigkeit oder Gefährdung beruht."

Hanack 1 3 9 prangert an, daß der Jurist „ . . . sein Wissen aus gewissen Exzessen Homosexueller i n der Öffentlichkeit gewinnt", — daß diese aber „ f ü r Homosexuelle ebensowenig repräsent a t i v (sind), w i e es repräsentativ wäre, die übrige Bevölkerung anhand von Kinderschändern, Dirnen, Zuhältern oder Pornographiehändlern zu messen", — oder aber aus beruflichem K o n t a k t m i t der „engen u n d negativen Auslese" der „irgendwie auffällig oder k r i m i n e l l gewordenen H o mosexuellen".

I n ähnlicher Weise wendet sich Hanack dagegen 140 , daß der jähe Überfall des Täters auf eine i h m völlig unbekannte Frau zu sehr als der „Normalfall" des Notzuchtdelikts angesehen wird. Jedoch könne Provokation, Entgegenkommen und Koketterie der Frau gleichermaßen als „typische Gegebenheit" angesehen werden. Sobald Beispiele nicht schon infolge ihrer vordergründigen Evidenz zum Erfolg i n der Diskussion führen, sondern das Problem ihrer Repräsentativität aufgeworfen wird, w i r d diese Argumentation problematisiert. Dann zeigt sich, daß die Repräsentativität der Beispielfälle von der Wesentlichkeit der Gleichheiten und der Unwesentlichkeit der Ungleichheiten m i t den übrigen Fällen abhängt: Diese Beurteilung ist immer von Werturteilen mitbestimmt. Dementsprechend besteht Einigkeit darüber, daß eine Rechtfertigung m i t Hilfe von Induktionsschlüssen niemals i m Sinne der Logik ganz zwingend sein kann 1 4 1 . Vielfach w i r d daher anstelle von Verifizierung von All-Sätzen nur von ihrer Bewährung 1 4 2 gesprochen. Ein weiteres Problem dieser Argumentationsform ergibt sich daraus, daß aufgrund derselben Beispiele verschiedene, grundsätzlich sogar beliebig viele Verallgemeinerungen möglich sind 1 4 3 . Ohne das Zutreffen einer bestimmten Verallgemeinerung zu bestreiten, kann behauptet werden, eine andere Verallgemeinerung sei noch „besser". Auch zur Widerlegung eines allgemeinen Satzes hat ein „Gegenbeispiel" nur eine begrenzte Tragweite. Durch Hinzunahme von Einschränkungen („Hilfsannahmen") können allgemeine Sätze gegenüber solchen Gegenbeispielen „grundsätzlich" aufrechterhalten werden; auch manche der i n der Jurisprudenz geläufigen Theorienstreitigkeiten entstehen auf diese Weise 144 . 139

Grenzen des Sexualstrafrechts, A 47 f. Grenzen des Sexualstrafrechts, A 216. 141 Bochenski, Denkmethoden, S. 101, 118; Popper, Logik, S. 3 ff.; Weingartner, Wissenschaftstheorie, S. 109. 142 Popper, Logik, S. 198 ff.; Weingartner, Wissenschaftstheorie, S. 109. 143 Vgl. Bochenski, Denkmethoden, S. 123. 144 Vgl. Wagner, Theorie, S. 462. 140

2.

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der Argumentation

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Vielfach w i r d eine Verallgemeinerung angeführter Einzelfälle nicht ausdrücklich formuliert. Vielmehr w i r d oft lediglich m i t Hilfe von Einzelfällen ein bestimmter allgemeiner Satz nahegelegt oder eine gegnerische Behauptung „madig gemacht". Durch ein solches Vorgehen kann man sich möglicher K r i t i k entziehen 145 . So beschreibt Zimmermann 1 4 6 eine wirkungsvolle Figur der A b wertung: „ M a n isoliert eine Einzelheit aus dem Text, widerlegt sie m i t mehreren Argumenten u n d drängt so dem Zuhörer den Schluß auf, alle anderen Punkte des Textes seien ebenso fragwürdig."

2.3.4.2 Vergleiche und Bilder Bei der Argumentation m i t einem Vergleich w i r d von einem Vergleichssatz (z.B. einer Rechtsnorm oder einem „Einzelfall") auf die Richtigkeit einer Behauptung, die eine Aussage über einen anderen Gegenstandsbereich macht, geschlossen. Die Richtigkeit des Vergleichssatzes w i r d zumeist unterstellt oder aber gesondert gerechtfertigt. M i t dem Vergleich kann entweder behauptet werden, daß eine empirische Verknüpfung (Konsequenz, Ursache, Begleiterscheinung) oder eine Bewertung oder Behandlung dieselbe sei wie i m Vergleichssatz (Analogieschluß). Oder aber es w i r d behauptet, die i n der Behauptung enthaltenen Fälle seien größer, wertvoller, höher zu bestrafen usw. (bzw. mindestens so groß, mindestens so wertvoll . . . ) wie die Fälle des Vergleichssatzes (argumentum a minore ad maius) — oder kleiner, weniger wertvoll, geringer zu bestrafen usw. (bzw. höchstens so groß, höchstens so w e r t v o l l . . . ) wie i m Vergleichssatz (argumentum a maiore ad minus). Die Argumentation m i t einem Vergleich enthält einen Induktionsschluß aufgrund des Vergleichssatzes, der insofern die Funktion eines Beispiels hat 1 4 7 . Jedoch w i r d der allgemeine Satz, der das den beiden Sätzen Gemeinsame (das tertium comparationis) enthält, meistens nicht ausdrücklich genannt. Der gewonnene allgemeine Satz w i r d vielmehr unausgesprochen auf die Behauptung, die begründet werden soll, angewandt. A. Kaufmann 1 4 8 bezeichnet deshalb den Analogieschluß als einen induktiv-deduktiven Schluß. Heller 1 4 9 zeigt dementsprechend, daß es i m Recht keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen der Begründung allgemeiner Rechtsgedanken aus einzelnen Normen als Beispielen (expliziter Obersatz) und Analogieschlüssen (impliziter Obersatz) gibt. 145 146 147 148 149

Vgl. Rother, K u n s t des Streitens, S. 92 ff.; Perelman, Traité, S. 472 ff. Die politische Rede, S. 126. Vgl. Heller, Axiologie, S. 17 u n d 77 ff.; Perelman, Traité, S. 474 f. Analogie, S. 25 ff. Axiologie, S. 1, 78.

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2 Allgemeine Grundlagen juristischer Argumentation

Die Argumentation mit Vergleichen hat i m Recht eine besondere Bedeutung, weil Gleichbehandlung i n verschiedenen Rechtsbereichen geboten ist 1 5 0 . Auch die Interpretation programmierten Rechts ist auf Vergleiche angewiesen 151 ; vielfach werden Vergleichsfälle bei Interpretationsproblemen auch ausdrücklich diskutiert 1 5 2 . Oft hat der Vergleich die Funktion einer „Widerlegung ad absurd u m " 1 5 3 . Eine gegnerische Behauptung über den zu beurteilenden Fall w i r d zunächst als wahr oder richtig unterstellt, dann aber ihre Unhaltbarkeit anhand von Vergleichsfällen aufgezeigt („dann müßte ja auch . . . " ) . I n diesen Fällen w i r d der i n der Behauptung über den zu beurteilenden Fall implizite enthaltene allgemeine Satz (die implizite Regel) deutlich gemacht und als unhaltbar hingestellt. So polemisiert z.B. Wiethölter 1 5 4 gegen das Argument, die Wahrscheinlichkeit späterer Reue 1 5 5 rechtfertige die Bestrafung freiwilliger Sterilisationen: „Müßte nicht i m Hinblick auf spätere ,Reue'15®, auf Neu- u n d Andersentscheidimg, ζ. B. auch die Ehescheidung freigegeben werden? Ist nicht der Grundsatz der Unscheidbarkeit der Ehe, dem der B G H folgt, gleichsam eine »Sterilisation' des freien Partnerwunsches, der nicht minder Respekt fordert w i e der freie Kindeswunsch?"

Ähnlich äußert sich R o x i n 1 5 7 über das Argument gesundheitlicher Schäden durch Sterilisation: „Oder soll auch der Zigarettenverkauf wegen der Gesundheitsgefährlichkeit des Rauchens unter Strafe gestellt werden? U n d w i e steht es m i t Boxkämpfen, die bekanntlich schon oft körperliche Schäden herbeigeführt haben? Es ist eben nicht die Aufgabe des Strafrechts, erwachsene Menschen vor den Folgen ihrer Entschlüsse zu schützen 1 5 8 ."

Geck 1 5 9 macht gegenüber der These, daß A r t . 102 GG die Auslieferung i n Länder verbiete, i n denen dem Ausgelieferten die Todesstrafe droht, geltend, daß — für den Fall des Zutreffens der These — Entsprechendes auch für die A r t . 101 und 103 GG gelten müsse sowie für andere 150 Vgl. A r t . 3 GG u n d Hueck, Grundsatz der gleichmäßigen Behandlung, u n d unten 6.2. 151 Vgl. unten 3.1.1.1. 152 Vgl. Hardwig, Bedeutung v o n Rechtsfällen, S. 49, zur Methode der B i l dung von Vergleichsfällen u n d Fallvarianten. 158 Vgl. Rother, Kunst des Streitens, S. 67, u n d oben 2.3.3 (4). 154 Rechtswissenschaft, S. 188. 155/156 v g L d a z u unten 5.2.1. ist Verwerflichkeit, S. 380 A n m . 27. 158 Ganz ähnlich Hanack, Grenzen des Sexualstrafrechts, A 219, gegenüber dem Argument, daß sexuelle Handlungen m i t Tieren die Menschenwürde verletzen. E r weist anhand von Vergleichsfällen darauf hin, daß auch sonst „Verletzung der Eigenwürde" nicht bestraft w i r d . 159 Todesstrafe, S. 224 ff.

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Arten der Rechtshilfe als die der Auslieferung. Derartige umfassende Beschränkungen der internationalen Zusammenarbeit aber seien offenbar durch das GG nicht beabsichtigt und seien, zumal wegen der nachteiligen Konsequenzen für die Bundesrepublik, untragbar. M i t einem Vergleich i n der Form des argumentum a maiore ad minus argumentiert R o x i n 1 6 0 gegen die Bestrafung der freiwilligen Sterilisation: „§ 225, der auf diesen F a l l zutreffen würde, bestraft die beabsichtigte schwere Körperverletzung m i t Zuchthaus v o n zwei bis zu zehn Jahren; mildernde Umstände sind nicht vorgesehen. Da der Gesetzgeber n u n selbst die Tötung auf Verlangen (§ 216) n u r als Vergehen betrachtet u n d m i t Gefängnis bedroht . . . , w ü r d e sich ein unerträglicher WertungsWiderspruch ergeben, w e n n eine verlangte Unfruchtbarmachung so unvergleichlich v i e l härter als die doch sicher schwerer wiegende Tötung bestraft würde."

Jeder Vergleich enthält genau wie ein Induktionsschluß eine (meist implizite) Entscheidung, daß die Ungleichheiten zwischen dem Vergleichsfall und dem zu beurteilenden Fall unwesentlich und nur die Gemeinsamkeiten (im Fall des Analogieschlusses) bzw. nur die Ungleichheit i n einer Dimension (im Fall des argumentum a maiore ad minus bzw. a minore ad maius) wesentlich sind 1 6 1 . Der Gegner, der demgegenüber (bei der Analogie) die Ungleichheiten für wesentlich hält, wendet ein, der Vergleich „ h i n k e " 1 6 2 . Gelegentlich werden sogar die gegensätzlichen Argumente a minore ad maius oder a maiore ad minus von verschiedenen Seiten für denselben Fall i n Anspruch genommen 163 . Einen derartigen Meinungsstreit referiert Lerche 1 6 4 : „Wenn schon schuldlose rechtswidrige Eingriffe mindestens entsprechend A r t . 14 Abs. 3 GG zu entschädigen sind, so müsse dies — bemerkt der B G H — doch ,erst recht' f ü r schuldhafte Eingriffe gleicher A r t gelten. . . . M i t w e i t mehr Recht könne (nach Stödter) m a n die Erst-recht-Ableitung von A r t . 34 aus i n entgegengesetzter Richtung i n Gang bringen: Wenn schon schuldhafte Schädigungen n u r unter den besonderen, engen Voraussetzungen von A r t . 34 GG, § 839 B G B ersetzt werden, so könne es ,erst recht 4 keinen Obersatz einer primären Haftung des Staates bei schuldlos rechtswidrigen Eingriffen geben (m. w. N a c h w . ) . . . . "

Bei dieser gegensätzlichen Argumentation w i r d einmal unter dem Gesichtspunkt der Schutzwürdigkeit des Geschädigten, das andere Mal unter dem der Haftungsbeschränkung des Schädigers verglichen. ιβο Verwerflichkeit, S. 381. 161 Vgl. Kriele, Rechtsgewinnung, S. 206 ff.: „Die dem (nämlich der I n t e r essenjurisprudenz) zugrunde liegende Vorstellung, daß man i n der Analogie ein klares logisches Verfahren besitze, verkennt, daß die Analogie ohne jede Argumentationskraft ist, w e n n nicht ein t e r t i u m comparationis vorausgesetzt werden kann." 162 Vgl. Rother, K u n s t des Streitens, S. 49 ff.; Perelman, Traité, S. 475. îes Y g i oben 2.2.1.2 zu derartigen Extremformen des Dissenses. 164

Amtshaftung, S. 237 f.

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2 Allgemeine Grundlagen juristischer Argumentation

Falls ein Vergleich nicht als evident akzeptiert wird, muß der Argumentierende den Vergleich rechtfertigen: Bei juristischen Vergleichen muß er dazu i n der Regel darlegen, warum er die Gleichheiten zwischen dem Vergleichssatz (bzw. Vergleichsfall) und seiner Rechtsbehauptung als wesentlich und die Ungleichheiten als unwesentlich wertet. — Insofern enthält auch das Gleichbehandlungsgebot lediglich das „formale" Gebot, als gleich bewertete Fälle gleich zu behandeln und als wesentlich ungleich bewertete Fälle ungleich zu behandeln: Über die Wertmaßstäbe ist damit noch nichts ausgesagt. Darum bezeichnet Brecher 1 6 5 das Gleichheitsgebot als „Tautologie". Auch Perelman zeigt, daß die i m Gleichheitsgebot enthaltene „formale Gerechtigkeit" lediglich vorschreibt, daß „Wesen derselben Wesenskategorie auf dieselbe Weise behandelt werden müssen" 1 6 6 , und analysiert verschiedene innere A n t i nomien dieses Prinzips 1 6 7 . Er wendet sich aber dagegen, das Gleichbehandlungsgebot als Leerformel anzusehen; vielmehr zwinge es dazu, Ungleichbehandlungen aufgrund eines Wertsystems zu rechtfertigen, und schließe damit Willkürentscheidungen aus 1 6 8 . Pointiert ließe sich sagen: Das Gleichheitsgebot enthält nur das Gebot zu vergleichen 169 . Eine besonders wirkungsvolle Form des Vergleichs ist das Reziprozitätsargument 1 7 0 . M i t diesem Argument w i r d die gleiche empirische Verknüpfung, Bewertung oder Behandlung von Fällen, die nicht nur ähnlich sind, sondern sogar i n einer symmetrischen Beziehung zueinander stehen, behauptet bzw. gefordert. So w i r d ζ. B. die Berücksichtigung hypothetischer schadenmindernder Ereignisse bei Berechnung des m i t telbaren Schadens damit begründet, daß ja auch nach § 252 BGB der h y pothetische (schadenerhöhende) entgangene Gewinn berücksichtigt w i r d 1 7 1 . Die Spiegelstrafen des Mittelalters beruhten auf dem Gedanken der Symmetrie von Straftat und Strafe („Auge um Auge, Zahn u m Zahn") 1 7 2 . Oder: Wüstendörfer 1 7 3 argumentiert, daß, wenn die Analogie zulässig sei, auch die teleologische Reduktion zulässig sein müsse 174 . — Jedoch ist diese Form des Vergleichs i n derselben Weise problematisch wie andere Vergleiche auch, da Symmetrie bzw. Reziprozität zwischen zwei Ereignissen oder Personen stets nur hinsichtlich bestimmter Gesichtspunkte besteht: Das Reziprozitätsargument setzt 165

Scheinbegründungen, S. 236. Gerechtigkeit, S. 53. 167 Gerechtigkeit, S. 16 ff. u n d 22 ff. 188 Gerechtigkeit, S. 64 ff. 169 I n diesem Sinne auch v. Savigny, Juristische Dogmatik, S. 8. 170 Dazu Perelman, Traité, S. 297 ff. 171 Larenz, Lehrbuch I, § 30 I, S. 360 f. 172 Vgl. Schmidhäuser, Sinn der Strafe, S. 17 ff. 173/174 Rechtsfindungstheorie, S. 158. 1ββ

2.

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der Argumentation

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meistens die Relevanz allein gerade dieser Gesichtspunkte für das anstehende Problem voraus 1 7 5 . So zeigt z.B. Ramm 1 7 6 , daß zwischen Kampfmaßnahmen der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer nur eine vordergründige Symmetrie besteht. Eine sehr einleuchtende Form des Vergleichs ist die bildhafte Veranschaulichung abstrakter Sachverhalte 177 . Hierbei w i r d jedoch der Vergleich nicht ausdrücklich offengelegt und kann deswegen zu unbemerkten Fehlschlüssen führen. Wagner 1 7 8 weist darauf hin, daß „alle unsere Vorstellungen über Entstehung, Übertragung und Untergang von Rechten" dem Bereich der kausaldeterminierten Welt entstammen und somit „Abbildfunktion" haben. Zugleich warnt er davor, die Grenzen solcher scheinbar evidenter Abbildrealismen zu übersehen. Er zeigt 1 7 9 ζ. B., daß der Rechtssatz „ex nihilo n i h i l advenit" nur begrenzte Gültigkeit hat. Derartige Probleme werden unten 1 8 0 anhand der Verdinglichung von Begriffen besprochen. Ähnlich äußert sich Dubischar 1 8 1 k r i tisch zum Sphärengedanken bei der Beweislastverteilung: Dabei werde die Zurechnungsfrage als „Raumfrage" („Wer ist näher dran?") behandelt; durch die „Evidenz der Bereichsvorstellungen" würden die eigentlichen Entscheidungsmotive verdeckt. I m vorstehenden Abschnitt wurde die Argumentation m i t Vergleichsfällen und Bildern diskutiert. Ein völlig anderer Fall ist es, wenn i n der Behauptung selbst ein Vergleich enthalten ist wie ζ. B. i n der juristischen Argumentation bei der Aufrechnung von Forderungen, bei der Anrechnung von Vorteilen bei Schadensersatzforderungen, bei der Strafzumessung sowie bei allen Wertabwägungen. Spezifische Probleme für die Argumentation ergeben sich hier nur dann, wenn (wie bei den beiden letztgenannten Beispielen) der Vergleichs- bzw. Verrechnungsmaßstab problematisch ist und darum der Rechtfertigung bedarf 1 8 2 . 2.3.4.3 Herleitungen

und Erklärungen

Aus Sätzen m i t größerem Geltungsbereich können Sätze mit geringerem Geltungsbereich begründet werden (Deduktion). Besteht Einigkeit über den Satz mit geringerem Geltungsbereich, so handelt es sich 175 176 177 178 179 180 181 182

§57.

Vgl. Perelman, Traité, S. 298. Koalitionsbegriff, S. 227 ff. Dazu Perelman, Traité, S. 499 ff., bes. 512 ff. Theorie, S. 459. Theorie, S. 459 f. 3.1.1.2. Beweislastverteilung, S. 393. Z u derartigen Argumentationen vgl. unten 6.1 u n d Perelman, Traité,

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2 Allgemeine Grundlagen juristischer Argumentation

um eine Erklärung (ζ. B. die Erklärung einer unstreitigen Rechtsnorm durch eine ratio legis); sonst w i r d man eher von Herleitung bzw. systematischer Begründung sprechen 183 . Die Deduktion kann aus verschiedenen Gründen problematisch sein: Zunächst muß für eine schlüssige Begründung der allgemeine Satz ausnahmslos gelten. Diese Bedingung ist allerdings, streng genommen, bei induktiv gewonnenen Sätzen niemals ganz sicher erfüllt, sondern nur bei ausdrücklich festgesetzten Axiomen. Aus nur statistischen (wahrscheinlichen) empirischen Gesetzmäßigkeiten ist ein Faktum (darum) nicht schlüssig ableitbar 1 8 4 . — Scheinbar absolut geltende Werte finden sich ζ. B. i m Grundgesetz (Art. 1 I, II, 4 I, 12 I 1). Jedoch ist allgemein anerkannt, daß auch diese absolut formulierten Grundrechte durch andere Wertgesichtspunkte eingeschränkt werden können 1 8 5 . Die A r t , i n der rechtliche „Prinzipien" bzw. Werte, wie ζ. B. Minderjährigenschutz, Verschuldensprinzip (die ihrerseits durch Induktionsschluß aus dem positiven Recht gerechtfertigt werden) i n der rechtlichen Argumentation verwendet werden, erweckt oft den Eindruck, daß sie absolut gelten 1 8 6 . I n Wirklichkeit sind rechtliche Regelungen aber nur durch Abwägung verschiedener Wertgesichtspunkte zu rechtfertigen; ein Wert kann durchweg nur auf Kosten anderer Werte realisiert werden; kein Wert gilt absolut 1 8 7 . Vielmehr ist jede Wertabwägung durch den Berührungsgrad der Werte sowie ihr Gewicht i m konkreten Kontext bestimmt 1 8 8 . Die Rechtfertigung einer Entscheidung mit lediglich einem Wert bzw. Prinzip ist eine Scheinbegründung 189 . U m den Widerstreit verschiedener Prinzipien angemessener darstellen zu können, schlägt Otte 1 9 0 vor, rechtliche Begründungen m i t Hilfe komparativer oder sogar quantifizierender anstatt klassifikatorischer Sätze darzustellen 191 . Ferner muß sich der erklärte bzw. hergeleitete Satz zwingend aus dem allgemeinen Satz ergeben: Können genauso gut auch alternative Sätze hergeleitet werden, so handelt es sich nur u m eine „partielle 183 Z u den zwei Funktionen von Theorien, der „ E r k l ä r u n g des Gegebenen" u n d „ A b l e i t u n g des Nichtgegebenen" vgl. Wagner, Theorie, S. 458 ff. 184 Opp, Methodologie, S. 43. 185 Z u A r t . 1 vgl. Struck, Topische Jurisprudenz, S. 53 m. w. Nachw.; zu A r t . 12 1 1 Kriele, Rechtsgewinnung, S. 216. 186 Vgl. Otte, Topik-Diskussion, S. 192 ff. 187 Struck, Topische Jurisprudenz, S. 47. 188 Vgl. unten 6.1. 189 Vgl. Otte, Topik-Diskussion, S. 192 ff., insbes. S. 195 A n m . 37. 190 Topik-Diskussion, S. 193 ff. 191 Z u den Vorzügen komparativer anstatt klassifikatorischer bzw. qualitativer Begriffsbildung vgl. auch v. Savigny, Definieren, S. 92 ff.

2.

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der Argumentation

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Erklärung" 1 9 2 . So genügt es nicht, zur Rechtfertigung einer rechtlichen Regelung allein ihre Vorteile oder auch das Überwiegen ihrer Vorteile über die Nachteile darzulegen. Vielmehr ist es erforderlich, daß gegenüber anderen möglichen Regelungen der größtmögliche Vorteil erreicht w i r d (Prinzip des geringsten Mittels bzw. des geringsten Übels) 198 . Ohne diese weitere Rechtfertigung bleibt die Argumentation unschlüssig. Struck 1 9 4 illustriert das folgendermaßen: „ M a n könnte natürlich herleiten wollen: Losen ist praktisch, u n d P r a k t i kabilität dient letzten Endes den Menschen. Solche Herleitungen sind nutzlos, denn letzten Endes dient alles den Menschen, was vernünftig, gerecht u n d überzeugend ist. Dergleichen entartet leicht zu trickhaften A r g u mentationen. Losen als Verteilungsprinzip schafft Rechtsfrieden. Also ist die Regel deduzierbar aus der F u n k t i o n des Rechts, Frieden zu schaffen. D a m i t w i r d übergangen, daß alle anderen Lösungen auch Frieden schaffen."

Aus dem Gesagten ergibt sich, daß es durchweg eine Menge zwar nicht unrichtiger, aber nichtssagender oder jedenfalls nicht schlüssiger — weil zu allgemeiner — Erklärungen bzw. Herleitungen für eine Behauptung gibt. Wagner 1 9 5 nennt als Extremfall eine sinnlose Theorie, unter die sich alles subsumieren und aus der sich folglich nichts ableiten läßt (Leerformel). K r i e l e 1 9 6 betont, daß sich sehr allgemeine Sätze, wie ζ. B. der Gesichtspunkt wechselseitiger Rücksichtnahme, stets aus dem positiven Recht und darum jede Rechtsbehauptung aus einem Analogieschluß „ableiten" lassen. Bei der Bildung allgemeiner Sätze sind, wie ζ. B. i m programmierten Recht (3.1.1.4), alle sprachlichen, Konkretisierungsgrade möglich; Sätze verschiedenen Abstraktionsniveaus können denselben Tatbestand erklären. So gibt es ζ. B. verschiedene Herleitungen der Rechtfertigungsgründe i m Strafrecht, von denen die allgemeinsten ziemlich unspezifisch sind: „ E i n sachlicher Gegensatz zwischen diesen Auffassungen besteht jedoch nicht, da eine Konkretisierung der Zwecktheorie ebenfalls zu den Rechtfertigungsprinzipien des überwiegenden bzw. mangelnden Interesses führt. . . . Auch Noll, der alle Rechtfertigungsgründe als Fälle von ,Wertkollisionen' bezeichnet, hat damit n u r ein allgemeinstes Prinzip gewonnen, das einer weiteren Differenzierung bedarf 1 9 7 ."

Bei der Herleitung der Rechtsfindung aus dem programmierten Recht ist durchweg eine Konkretisierung und damit eine Interpretation er192 193 194 195 198 197

Vgl. Opp, Methodologie, S. 61 f. Vgl. unten 6.3. Topische Jurisprudenz, S. 108. Theorie, S. 462. Rechtsgewinnung, S. 208. Schönke / Schröder, Rn. 10 a v o r § 51.

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2 Allgemeine Grundlagen juristischer Argumentation

forderlich, die gegenüber anderen möglichen Interpretationen offengelegt und gerechtfertigt werden sollte 1 9 8 . Eine selbstverständliche Forderung ist schließlich, daß der allgemeine Satz den zu begründenden Satz vollständig erklären bzw. rechtfertigen kann. Gelegentlich w i r d versucht, das Gewicht allgemeiner Sätze dadurch zu erhöhen, daß sie zu „Grundsätzen" bzw. zur „Regel" und entgegenstehende Sätze zu „Ausnahmen" erklärt werden. Ein solches Argument dient meist dazu, die „Durchbrechung" des Grundsatzes durch Ausnahmen möglichst weitgehend einzuschränken; die Herleitung aus dem Grundsatz w i r d also bevorzugt. So sollen Ausnahmen i m Gesetz eng ausgelegt werden; wer eine Ausnahme behauptet, soll die Beweislast tragen 1 9 9 ; dem B G H 2 0 0 dient die Postulierung eines „Grundsatzes der Unlöslichkeit der Ehe" zur Begründung einer Scheidungsverweigerung. Dabei entsteht aber die Gefahr einer „begriffsjuristischen" Postulierung von Grundsätzen bzw. Ausnahmen, ohne daß die Wertungen offengelegt werden, die zu dieser Unterscheidung führen 2 0 1 . — Die Behauptung von Grundsätzen kann auch die Funktion haben, das Gewicht einer behaupteten „Ausnahme" geringer erscheinen zu lassen; das hat in politischen Selbstdarstellungen eine große Bedeutung: das „grundsätzlich ja . . . " hat i n Diskussionen oft den Sinn, das höhere Gewicht des Konsenses m i t dem Diskussionsgegner gegenüber dem Dissens, der nur die „Ausnahme" betrifft, zu betonen. — Eine notwendige, aber nicht schon hinreichende Bedingung für die Annahme eines Grundsatzes bzw. einer „Regel" sollte wohl sein, daß nicht die Ausnahmen überwiegen 2 0 2 ; dementsprechend w i r d gelegentlich gegen zu weitgehende Ausnahmen argumentiert, daß sie einen Grundsatz, ζ. B. eine Rechtsnorm, „aushöhlen". 2.4 A r g u m e n t a t i o n und weitere F o r m e n der Legitimation

I n diesem Kapitel wurde bereits deutlich, daß Argumentation nur recht begrenzte Möglichkeiten zum Erreichen von Konsens bietet 2 0 3 . 198

Vgl. unten 3.1.1.3. Vgl. Dubischar, Β e weislast Verteilung, S. 389 ff. 200 Β GHZ 40, 239. 201 Vgl. Dubischar, Beweislastverteilung, S. 391 ff.; Wiethölter, Rechtswissenschaft, S. 214, 221 zu der genannten BGH-Entscheidung. 202 v g l . die K r i t i k bei Lautmann, Soziologie u n d Rechtswissenschaft, S. 44 f., an der „latenten Defensive" vieler Juristen gegenüber der Soziologie: „ I n der Relevanzfrage eine Zustimmung i m Globalen, eine Ablehnung i m K o n k r e ten." 199

203 A u f sehr abstraktem Sprachniveau w i r d das bei Zedier, Logik von Legitimationsproblemen, S. 77 ff., bes. S. 176 ff., dargelegt; allerdings scheinen

2.4 Argumentation u n d weitere Formen der Legitimation

45

Für rechtliche Entscheidungen stellt sich daher das Problem, mit welchen weiteren M i t t e l n ihre Legitimation gesichert, d. h. ihre „Verbindlichkeit organisiert" 2 0 4 werden kann. Inwieweit das notwendig ist, hängt von dem jeweiligen gesellschaftlichen Legitimationsbedarf ab 2 0 5 . Als hervorragendste sozialtechnologische Möglichkeit zur Legitimation von rechtlichen Entscheidungen ist das Verfahren anzusehen: besonders offenkundig i n Gestalt des Gerichtsverfahrens, aber auch i n der des Gesetzgebungs- oder des Wahlverfahrens. Verschiedene Faktoren fördern die Wahrscheinlichkeit der Anerkennung von Entscheidungen, die i m Verfahren getroffen worden sind; hier seien nur stichwortartig die wichtigsten Faktoren genannt, die die Legitimation gerichtlicher Entscheidungen fördern: Abstützung des Entscheidungsprozesses durch fixierte Rollen und Verfahrensrecht („Autonomie des Verfahrens"); Eindruck der Verantwortungszurechnung bzw. „SelbstVerschuldung" des Ergebnisses; Ungewißheit des Ausgangs 206 . Auch um diese legitimationsfördernden Faktoren wirksam werden zu lassen, müssen i m Rahmen des Verfahrens die M i t t e l der Argumentation bzw. Persuasion optimiert werden 2 0 7 . Demnach sind die verschiedenen M i t t e l der Legitimationserzeugung miteinander verschränkt.

Zedier u n d einige der von i h m zitierten Autoren die Chancen der Konsensbildung durch Argumentation noch u m einiges höher einzuschätzen, als sich aus der vorliegenden A r b e i t ergibt. 204 Zedier, Logik v o n Legitimationsproblemen, S. 8. 205 Z u den Bedingungen von „Legitimationskrisen" u n d Legitimationsbedarf eingehend Zedier, L o g i k von Legitimationsproblemen, S. 25 ff. 206 Eingehend Zedier, Logik von Legitimationsproblemen, S. 198 ff. i m Anschluß an Luhmann. 207 Zedier, Logik von Legitimationsproblemen, S. 203 ff.

3 Berufung auf Rechtsquellen Das Selbstverständnis vieler Juristen sowie die herkömmliche Kennzeichnung der Jurisprudenz als Wissenschaft der Hechtsanwendung lassen vermuten, daß sie sich ausschließlich mit der Anwendung programmierten 1 („gesetzten") Rechts auf konkrete Sachverhalte befaßt. Programmiertes Recht sind i n erster L i n i e die Gesetze, ferner aber auch Verträge bzw. Willenserklärungen, Verwaltungsakte, gerichtliche Urteile usw. A l l e diese Formen der Normierung können sinnvollerweise als Rechtssetzung bezeichnet werden 2 . Neben derartigen textlich fixierten Formen der Rechtssetzung k a n n sich der Rechtsanwender auch auf i n anderer Weise vorgegebene Entscheidungen, w i e ζ. B. das „allgemeine Rechtsbewußtsein" 3 , den „ W i l l e n der Betroffenen" 4 oder die „herrschende M e i nung" berufen. Auch diese Vorgaben sind dem programmierten Recht (im weiteren Sinne) zuzurechnen: Die Auslegungsprobleme, die sich f ü r den Rechtsanwender bei der Berufung auf i h m sprachlich vorgegebene E n t scheidungen ergeben, sind für alle Formen des programmierten Rechts grundsätzlich dieselben.

3.1 Berufung auf textlich fixierte Rechtsquellen I m folgenden w i r d meist von dem Gesetz als dem Prototyp programmierten Rechts ausgegangen; die diskutierten Probleme der Rechtfertigung rechtlicher Entscheidungen durch das Gesetz sind aber grundsätzlich auf jede A r t programmierten Rechts übertragbar. 3.1.1 Argumentation über die Auslegung

Wäre die Rechtswissenschaft eine reine Anwendungswissenschaft, so gäbe es für jedes Rechtsproblem nur eine „richtige" Lösung, die es nur dem Gesetzestext zu entnehmen gilt. Der Richter wäre dann tatsächlich, wie Montesquieu meinte, „ M u n d des Gesetzes"5. Eine solche Rechtswissenschaft würde sich vornehmlich damit befassen, die richtige Bedeutung des Gesetzestextes zu ermitteln. Sie würde dazu objektiv vorgegebene Gesichtspunkte, wie „gewöhnlicher Wortsinn", „Wille des Gesetzgebers" oder „Wille des Gesetzes" heranziehen. 1 Z u m Begriff der programmierten Entscheidung vgl. Gaefgen, Entscheidung, S. 87 ff., u n d Luhmann, Rechtssoziologie, S. 88 ff., 178, 227 ff. 2 Eingehend dazu Dubischar, Grundbegriffe, S. 77 ff. 3 Vgl. 3.2.1. 4 Vgl. 3.2.2. 5 Zit. nach Zippelius, Wesen, S. 12.

3.1 Berufung auf textlich fixierte Rechtsquellen

47

Die Unhaltbarkeit eines solchen Wissenschaftskonzeptes, die schon aufgrund der Unzahl juristischer Meinungsstreitigkeiten plausibel ist, ist schon verschiedentlich gründlich dargelegt worden 6 . Hier soll nur insoweit darauf eingegangen werden, als es zugleich zum Verständnis juristischer Argumentation erforderlich ist. I m folgenden soll zunächst die Vagheit der Sprache und die Wertungsabhängigkeit ihrer Interpretation behandelt werden. Danach soll gezeigt werden, daß auch der Versuch, diese Vagheit m i t Hilfe von Interpretationsregeln zu beseitigen, mißlingen muß. Insgesamt ergibt sich daraus, daß das geschilderte Wissenschaftskonzept die Kommunikationsmöglichkeiten der Sprache weit überschätzt. 3.1.1.1 Vagheit der Sprache und Wertungsabhängigkeit ihrer Interpretation I n der neueren Sprach- und Rechtstheorie w i r d die Verwendung von Worten (Sprachzeichen) als (meist unbewußt vollzogenes) Ähnlichkeitsurteil beschrieben. So stellt v. Savigny 7 fest, daß echte Klassifikationen, auf denen i n der Regel die Bedeutung von Sprachzeichen beruht, Ähnlichkeitsurteile sind. I n entsprechender Weise führt Hassemer 8 aus, daß jede Subsumtion die Struktur der Analogie aufweist 9 . Solche Ähnlichkeitsurteile entstehen dadurch, daß von Standardbeispielen bzw. Standardfällen (deren Subsumtion unter den Begriff eindeutig erscheint) als Vergleichsbasis ausgegangen und geprüft wird, ob der zu beurteilende Fall mit ihnen so weitreichende Ähnlichkeit aufweist, daß das gleiche Sprachzeichen verwendet werden kann. Für den Bereich juristischer Auslegung formuliert Zippelius 1 0 : „ I n der Auslegung handelt es sich, w i e i n den Hauptfällen der Lückenergänzung, u m eine vergleichende Erprobung, ob bestimmte graduelle oder qualitative Abweichungen v o m Ausgangstypus erheblich oder unerheblich f ü r die Anwendbarkeit der Regel sind." . . . " F ü r die Auslegung sind V e r β

Aus der Polemik gegen die Auffassung der Jurisprudenz als reine A n wendungswissenschaft entstand die sog. Freirechtsschule zu Beginn des Jahrhunderts: vgl. Kaufmann, Freirechtsbewegung. Neuerdings haben sich Kriele (Rechtsgewinnung), Scheuerle (Subsumtion) und Esser (Vorverständnis) noch einmal eingehend m i t der Problematik auseinandergesetzt. 7 Philosophie, S. 255 f. 8 Tatbestand, S. 54 ff., 118 f., 160 ff. 9 Z u r Unmöglichkeit der scharfen Trennung von Auslegung u n d Analogie Heller, Axiologie, S. 136 ff. 10 Methodenlehre, S. 78.

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3 Berufung auf Rechtsquellen

gleichsbasis jene Falltypen, f ü r die schon geklärt ist, daß sie i n den Begriffsumfang der N o r m einzubeziehen sind. M i t ihnen w i r d der problematische Falltypus verglichen." Das Ä h n l i c h k e i t s u r t e i l s t e l l t eine G l e i c h h e i t w e s e n t l i c h e r M e r k m a l e des S t a n d a r d f a l l s u n d des V e r g l e i c h s f a l l s fest. Je m e h r w e s e n t l i c h e M e r k m a l e g l e i c h sind, desto größer ist d i e Ä h n l i c h k e i t . Welche M e r k m a l e aber als w e s e n t l i c h u n d w e l c h e als u n w e s e n t l i c h u n d w e l c h e r Ä h n l i c h k e i t s g r a d als h i n r e i c h e n d b e t r a c h t e t w e r d e n , i s t w e r t u n g s a b h ä n g i g . Jedes Ä h n l i c h k e i t s u r t e i l ist n o t w e n d i g e r w e i s e e i n W e r t u r t e i l : „Was jemand als ähnlich auffaßt, hängt davon ab, was er vorhat. . . . Die Klassifikation nach Ähnlichkeit bedeutet nicht etwa die Unabhängigkeit von den Interessen der klassifizierenden Leute 1 1 ." E i n B e g r i f f unterscheidet sich i n d e r Regel v o n e i n e m N a c h b a r b e g r i f f n i c h t d u r c h ein M e r k m a l , das v o r h a n d e n o d e r n i c h t v o r h a n d e n ist. V i e l m e h r s i n d d u r c h w e g verschiedene M e r k m a l e , die sich ganz o d e r t e i l weise h i n s i c h t l i c h d e r e r f o r d e r l i c h e n A u s p r ä g u n g s g r a d e gegenseitig ersetzen k ö n n e n 1 2 , f ü r d i e A n w e n d b a r k e i t eines B e g r i f f e s ä q u i v a l e n t . v . S a v i g n y 1 3 zeigt das a m B e g r i f f des Spiels: „Daß w i r auf alle Tätigkeiten, die w i r Spiele nennen, das W o r t ,Spiel' anwenden, k a n n nach Wittgenstein nicht davon abhängen, daß alle Spiele etwas gemeinsam haben, w e i l er i n seinen Einzeluntersuchungen festzustellen glaubt, daß es n u n einmal w i r k l i c h keine Eigenschaft gibt, die sie gemeinsam haben. Wittgenstein meint stattdessen, die Spiele ähnelten einander i n der Weise, w i e verschiedene Mitglieder einer Familie einander ähneln; es gibt viele Punkte, i n denen sie sich ähneln, aber nicht alle Mitglieder der Familie ähneln einander i n allen Punkten, sondern jeweils mehrere Mitglieder der Familie ähneln einander i n einigen v o n diesen Punkten." E i n weiteres Beispiel gibt S i x t l 1 4 : „ M a n beurteilt ζ. B. zwei Menschen gleichermaßen als aggressiv. Der eine ist i n der Regel umgänglich, gebärdet sich aber von Zeit zu Zeit gemeingefährlich. Der andere ist dagegen fortwährend erregt, er flucht u n d poltert. Hier führen verschiedene Aspekte, nämlich Häufigkeit u n d Intensität bestimmter Verhaltensweisen, zu dem gleichen U r t e i l aggressiv." Ä h n l i c h e „ g a n z h e i t l i c h e " D e f i n i t i o n e n schlägt S c h m i d h ä u s e r f ü r e i n i g e z e n t r a l e B e g r i f f e des S t r a f r e c h t s v o r . E r h ä l t diese A r t der D e f i n i t i o n j e d o c h f ü r eine A u s n a h m e , w i e sich aus seinen B e m e r k u n g e n z u r A b grenzung v o n Vorbereitungshandlung u n d Versuch ergibt: 11 v. Savigny, Philosophie, S. 256; vgl. auch Kriele, Rechtsgewinnung, S. 206 f. Z u den Einsichten der Hermeneutik über die Subjektabhängigkeit des Verstehens v o n Texten Leicht, Hermeneutik — Rezeption, S. 72 f. 12 Vgl. Larenz, Methodenlehre, S. 439 ff. 13 Philosophie, S. 252. 14 Meßmethoden, S. 273.

3.1 Berufung auf textlich fixierte Rechtsquellen

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„Diese Trennung einer kontinuierlichen Entwicklung k a n n nicht durch eine f ü r die übliche Subsumtion geeignete Definition geschehen, sondern n u r anschaulich beschreibend von F a l l zu F a l l unter dem Aspekt vergleichbarer Strafwürdigkeit. . . . D a m i t ist das Versuchsdelikt gegenüber der bloßen Vorbereitung als eine Ganzheit zu erfassen, — als die Summe der Geschehensmomente, unter denen einmal dieser, ein ander M a l jener Geschehenszug den Ausschlag gibt, daß schon Versuch oder noch Vorbereit u n g anzunehmen i s t 1 5 . "

Begriffe umfassen also durchweg Sachverhalte bzw. Gegenstände, die i n mehreren Merkmalen (einem „Merkmalsprofil") einem Standardfall hinreichend ähnlich sind 1 6 . Die verschiedenen Beurteiler sind sich vielfach nicht einig über die relative Gewichtung bzw. die „Umrechnungsmaßstäbe" der verschiedenen Merkmale 1 7 ; dadurch entsteht die Uneinigkeit über Grenzfälle. Solche umstrittenen Grenzfälle gibt es bei den meisten Begriffen: Die Ausprägungsgrade der Begriffsmerkmale sind dann i m Vergleich zu einem Normaltypus höher oder niedriger, Merkmale können ganz oder teilweise fehlen, oder es treten neue Merkmale hinzu. v. Savigny 1 8 illustriert dies durch folgendes Beispiel: „ D i e Bedeutung v o n M e n s c h ist nicht so genau begrenzt, daß f ü r die vorgeschichtliche Forschung v o n vornherein feststünde, bei welchen M e r k malen die A f f e n aufhören u n d die Menschen anfangen. Der Bedeutung v o n W a l d geht es ähnlich: Die Wiese m i t vereinzeinten Bäumen geht i n den lichten W a l d über; die Baumgruppe, das Gehölz werden größer, u n d schließlich spricht m a n v o n einem Wald. Bei welcher Größe w i r d die W a l d lichtung zur freien Graslandschaft? . . . 1 9 ."

Für die juristischen Begriffe hat Heck 2 0 die Unterscheidung zwischen dem Bereich unbestrittener Zuordnung, dem „Bedeutungskern", und den umstrittenen Grenzfällen, dem „Bedeutungshof", eingeführt. Entscheidend für die unterschiedlichen Begriffsbestimmungen durch die verschiedenen Beurteiler ist die unterschiedliche Funktion, die sie einem Begriff zuschreiben, und dementsprechend ein unterschiedlicher Zusammenhang (Kontext), der für die Begriffsbestimmung für wesentlich gehalten wird. Andrerseits legt der vorgegebene Zusammenhang bis zu einem gewissen Grade die Funktion von Begriffen fest 21 . Ohne 15 Schmidhäuser, Lehrbuch, S. 489, ähnlich auch S. 398 u n d 460 ff. zur A b grenzung v o n Täterschaft u n d Teilnahme. 16 Vgl. Larenz, Methodenlehre, S. 423 ff., zum Typusbegriff. 17 Vgl. unten 6.1. 18 Philosophie, S. 32, bei der Besprechung von Wittgenstein. 19 Z u den fließenden Übergängen des Begriffs „ W a l d " auch Larenz, Methodenlehre, S. 216 f. 20 Nachweise dazu bei Podlech, Werte, S. 188 A n m . 9. 21 Dazu, daß der Zusammenhang („context") ein I n d i k a t o r der F u n k t i o n („purpose") ist, vgl. Crawshay-Williams, Reasonning, S. 44 f., 49 f.

4 Clemens

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3 Berufung auf Rechtsquellen

einen bestimmten Kontext sind die Begriffe der Umgangssprache mehrdeutig, sie sind „kontextoffen" 2 2 : „Verstanden w i r d die Rede i m m e r n u r als »zusammenhängende' Rede, als K o n t e x t . ,Aus dem Zusammenhang gerissene Wörter' sind gar nicht oder n u r ungefähr verständlich. I m alltäglichen Gespräch w i r d das V e r stehen ferner getragen u n d ermöglicht durch den K o n t e x t der Redesituation. . . . Freilich ist auch ein ,aus dem Zusammenhang gerissener' Satz i m Regelfall n u r ungefähr verständlich (indem m a n den Zusammenhang 2S ,erraten' muß) ." Z . B . bedeutet „Eigentum" etwas anderes i n der Umgangssprache als i m B G B u n d hier wiederum etwas anderes als i m Rahmen des A r t . 14 GG 2 4 . „Mäuse sind schon ,sehr groß', w e n n sie eine Größe erreicht haben, m i t der Ratten noch ,sehr klein' sind 2 5 ."

Entsprechend dem zuerst angeführten Zitat von Kamiah / Lorenzen sollte man einerseits den sprachlichen Zusammenhang des Wortes bzw. Satzes (innerer Kontext) und die räumlich-zeitliche Situation während der Äußerung bzw. der Interpretation (äußerer Kontext) unterscheiden 2 6 . Der sprachliche Zusammenhang ist keineswegs fest vorgegeben, vielmehr hat der Interpret viele Möglichkeiten, den relevanten sprachlichen Zusammenhang zu bestimmen: Der einzelne Satz, benachbarte Regelungen, die Verwendung des Begriffs i n anderen Bestimmungen, die Gesamtregelung, das Grundgesetz, die gesamte Rechtsordnung, der Sprachgebrauch bei der Entstehung des Gesetzes oder die umgangssprachliche Verwendung der Begriffe können i n den Vordergrund gerückt werden. Ähnliches gilt für den „äußeren Kontext": Gesellschaftliche Bedingungen zur Zeit der Entstehung der Regelung, neuere gesellschaftliche Entwicklungen, rechtspolitische Ziele und sonstige materielle Wertgesichtspunkte (dazu Kapitel 5) oder das Ziel der Rechtssicherheit und damit der möglichst großen Eindeutigkeit von Begriffen können hier betont werden. Durch die gegenüber der gewöhnlichen Sprache erheblich erweiterten Möglichkeiten der Kontextbestimmung 2 7 i n der Rechtssprache erwei22 Z u r allgemeinen Bedeutung des Kontextes oben 2.3.2.1 u n d CrawshayWilliams, Reasoning, S. 21 ff. 23 K a m i a h / Lorenzen, Logische Propädeutik, S. 64 f. I m gleichen Sinne Larenz, Allgemeiner Teil, § 25 I I , S. 340, zur Auslegung von Willenserklärungen. 24 Näher zu dieser „Relativität der Rechtsbegriffe" Engisch, Einführung, S. 157 f. Eine spezifisch rechtliche Begriffsbestimmung w i r d oft gekennzeichnet durch die Formulierung, der Begriff sei „ i m Sinne des Gesetzes" oder „ i m Sinne des § X " zu verstehen. 25 v. Savigny, Philosophie, S. 215 f. 26 Z u der Unterscheidung vgl. Zimmermann, Die politische Rede, S. 16, u n d eingehend Crashay-Williams, Reasoning, S. 42 ff. 27 Die Vielfalt möglicher Kontextbestimmungen f ü r Begriffe ist v o n den jeweiligen sozialen Verhältnissen abhängig: vgl. Rottleuthner, Richterliches Handeln, S. 93 f.

3.1 Berufung auf textlich fixierte Rechtsquellen

51

tern sich i n ihrem Bereich auch die Interpretationsmöglichkeiten vorgegebener Sprachzeichen. Dadurch schrumpft der verbindliche „Bedeutungskern" eines Begriffs, und es entsteht eine verstärkte Wertungsabhängigkeit bzw. Vagheit: „Die Sprache als solche ist nicht deutlicher oder undeutlicher als i n anderen Disziplinen u n d bietet die gleichen Interpretationsfragen w i e i n jeder Geistes- u n d Kulturwissenschaft. Es ist n u r die »kritische Grenze* sprachlicher Eindeutigkeit weit schneller erreicht, w e i l die ,zweifelsfreie 4 Bedeut u n g textlicher Eindeutigkeit hier abhängt v o n den Wertungsbeziehungen u n d Wertungszusammenhängen, die das Vorverständnis an jene Begriffe heranträgt. Das g i l t selbst von den scheinbar f i x e n technischen Begriffen w i e Willenserklärung oder Stellvertretung, die keine andere Bedeutung haben als die, welche aus einem bestimmten Ordnungsproblem u n d »Zusammenhang hic et nunc folgt, ihre Verwendung verlangt u n d ,sinnvoll' macht. V o n jeder Vokabel der Umgangssprache gilt das noch erhöht: daß sie dem Juristen erst aus dem Rechtskontext bedeutsam w i r d . Die allgemeine linguistische Hermeneutik k a n n hier nichts leisten. Es wäre hoffnungslos, auch n u r einen ganz elementaren Ausdruck rein sprachlich i n t e r pretieren zu wollen. K r i e l e exemplifiziert das an A r t . 1 I GG hinsichtlich der Worte ,Würde' u n d ,unantastbar' (m. Nachw.) 2 8 ."

I n der Jurisprudenz beeinflußt die Definition von Begriffen unmittelbar die rechtliche Entscheidung: Die Begriffsmerkmale und deren relatives Gewicht geben daher die rechtlichen Wertungen wieder. Juristische Definitionen weisen auf die Gerechtigkeitsfrage zurück 2 9 . — So hängt ζ. B. die Definition des Begriffs der Unmöglichkeit der Leistung i m Sinne der §§ 275, 306, 323 - 325 BGB, zumal die Einbeziehung der wirtschaftlichen Unmöglichkeit, von der Abwägung des Schuldnerschutzes gegenüber dem Gläubigerschutz ab 3 0 . Roxin 3 1 weist daraufhin, die Interpretation des Begriffs der Verwerflichkeit i n § 240 StGB „sei das Resultat einer Abgrenzung gegenläufiger Interessensphären". Ob ein „Eingriff" i n das Eigentum i m Sinne des A r t . 14 GG nur bejaht wird, wenn die hoheitliche Maßnahme es „ f i n a l " 3 2 oder „unmittelb a r " 3 2 a beeinträchtigt, ergibt sich aus der Abwägung der Vermögensinteressen des betroffenen Bürgers gegenüber dem Interesse des Staates an einer Begrenzung seiner Haftung. 3.1.1.2 Vagheit und Unverbindlichkeit

von Interpretationsregeln

M i t Interpretations- oder Wortgebrauchsregeln w i r d versucht, die Bedeutung von Sprachzeichen und/oder den dafür relevanten Kontext 28

Esser, Vorverständnis, S. 134 f. Struck, Topische Jurisprudenz, S. 51. 30 Vgl. das unten 5.3.3.3 angeführte Zitat v o n Larenz. 31 Verwerflichkeit, S. 374. 32 So die frühere Rechtsprechung, ζ. Β . Β G H Z 23, 235, 240; 31, 2. 32a So die heutige Rechtsprechung, ζ. B. B G H Z 37, 44, 47; 55, 229, 231 f. 29

4*

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3 Berufung auf Rechtsquellen

verbindlich festzulegen. Von dem Konsens über derartige Regeln ist es abhängig, ob und wieviele Zweifelsfälle über sprachliche Bedeutung entstehen, so daß „die Ausdrücke ,Bedeutungskern' und ,Bedeutungshof 4 relativ sind auf Wortgebrauchsregeln" 33 . Es ist jedoch nicht möglich, eine bestimmte Interpretation auf diese Weise eindeutig festzulegen: Selbst wenn man sich auf eine Interpretationsregel geeinigt hat, oder die Regel (durch das Gesetz o. ä.) festgelegt ist, ist diese Regel ihrerseits m i t Sprachzeichen formuliert, die, wie dargelegt, immer vage bzw. mehrdeutig und daher interpretationsbedürftig sind. Kriele 3 4 formuliert zutreffend, die Jurisprudenz könne sich eben nicht w i e Münchhausen am eigenen Schöpf aus dem Sumpfe ziehen 35 . Auch ein scheinbar exaktes Interpretationskriterium wie „gewöhnlicher Wortsinn" oder „allgemeiner Sprachgebrauch" (die Hoffnung jeder „Buchstabenjurisprudenz" auf Rechtssicherheit) erweist sich als vage: „Gewöhnlich" oder „allgemein" sind nur quasi-quantitative Ausdrücke: Durch sie w i r d nicht klar, wieviel Prozent der Bevölkerung einer bestimmten Verwendung des Ausdrucks zustimmen müssen. 50 °/o oder 80 %? Ist die gesamte Bevölkerung oder nur der von einer Regelung betroffene Teil oder ein sprachlich besonders kompetenter Teil maßgebend? Außerdem ist nicht klar, welcher Kontext für den „Wortsinn" oder „Sprachgebrauch" ausschlaggebend sein soll. I n welchem Zusammenhang soll die Bedeutung eines Wortes bestimmt werden? Soll etwa die Bedeutung i m Rahmen einer rechtlichen Bestimmung oder einer rechtlichen Gesamtregelung oder die Bedeutung unabhängig von dem rechtlichen Zusammenhang maßgebend sein? Ähnliche und weitere Unklarheiten werden von Kriele 3 6 bei dem teilweise vergleichbaren Problem der Ermittlung des „allgemeinen Rechtebe wußtseins" 3 7 aufgezeigt: „Der Interpret hat unzählige Gelegenheiten, die Weichen so zu stellen, daß am Ende — auf scheinbar ganz objektive Weise — das von i h m gewünschte Ergebnis herauskommt 8 8 ." 33 Podlech, Werte, S. 189 A n m . 9. Kritisch zur „Verdinglichung" von Begriffen durch A t t r i b u t e w i e „ K e r n " , „ H o f " , „Spielraum" auch Rottleuthner, Richterliches Handeln, S. 137. 34 Rechtsgewinnimg, S. 35, zur Festlegung von Interpretationsregeln durch das Grundgesetz. 35 Z u dem unendlichen Regreß von Regeln zur A n w e n d u n g v o n Regeln vgl. Rottleuthner, Richterliches Handeln, S. 20 (anknüpfend an Wittgenstein), sowie oben 2.2.3. 36 Rechtsgewinnung, S. 107 ff. 37 Kriele: „shared expectations" oder „ c o m m u n i t y standards". 38 Kriele, Rechtsgewinnung, S. 108.

3.1 Berufung auf textlich fixierte Rechtsquellen

53

Auch die i n der Jurisprudenz allgemein anerkannte „systematische Auslegung" enthält nichts weiter als eine Verweisung auf den Kontext, der durch weitere gesetzliche Bestimmungen gegeben ist. Das relative Gewicht der unendlich vielen auf dieser Grundlage möglichen Kontextbestimmungen bleibt offen. Kriele 3 9 meint, daß jedenfalls beim Grundgesetz die systematische Interpretation mehr Streitfragen produziert als beantwortet 4 0 . Die Verweisung auf den „Willen des Gesetzes" oder den „Willen des Gesetzgebers" ist schon deshalb vage, w e i l sie sich auf subjektive oder quasi-subjektive Merkmale 4 1 bezieht. I m gleichen Sinne äußert Kriele 4 2 : „Eine vernünftige Normhypothese läßt sich i m m e r per analogiam aus dem Gesetz herleiten."

Esser 43 meint: „Die Behauptung, historische Gesetzestreue sei durch »denkenden Gehorsam' zu realisieren, ist mangels Substantiierung dieser M a x i m e eine bloße Leerformel, w e n n nicht eine bloße Selbsttäuschung."

Sind hiernach schon die einzelnen Interpretationsregeln vage, so ist es erst recht die relative Gewichtung verschiedener i n Betracht kommender Interpretationsregeln 44 . Kriele 4 5 — der immerhin anscheinend die eindeutige Fassung einzelner Interpretationsregeln für möglich hält — zeigt eingehend, wie bei dem Versuch der Realisierung eines solchen „algorithmischen Ideals", eines „Katalogs der Interpretationsstufen", ständig Wertentscheidungen erforderlich sind und damit angesichts der intersubjektiv unterschiedlichen Werthaltungen eine Einigung nicht möglich ist. Er zeigt 46 , daß man verschiedene „Schulen" der Verfassungsinterpretation nach ihrer Verwaltungsfreundlichkeit, Parlamentsfreundlichkeit oder Justizfreundlichkeit unterscheiden kann, je nachdem, ob sie Verwaltung oder Justiz auf unselbständige „Rechtsanwendung" reduzieren, oder ob sie ihnen selbständige Wertentscheidungen (Ermessen, 39

Rechtsgewinnung, S. 84. Vgl. auch Kriele, Rechtsgewinnung, S. 97 ff., zur „Deduktion aus Systemen". 41 Vgl. hierzu 3.1.1.4.3. 42 Rechtsgewinnung, S. 207, eingehend zum Problem, S. 205 ff. 43 Vorverständnis, S. 130. 40

44 Eingehend zu diesem „Rangfolgeproblem" v. Savigny, Juristische Dogmatik, S. 14 ff. u. 60 ff. Z u r Abwägung v o n Wertgesichtspunkten allgemein unten 6.1. 45 Rechtsgewinnung, S. 85 ff. 46 Rechtsgewinnung, S. 27 ff.

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3 Berufung auf Rechtsquellen

teleologische Auslegung usw.) einräumen. Hier geht also eine Gewichtung von Entscheidungskompetenzen i n die Wahl der Interpretationsregel ein. Ausdruck dieser allgemeinen Unsicherheit ist der verbreitete Brauch, Aufsätzen und Büchern ein methodisches „credo" voranzustellen, das die persönliche Gewichtung der verschiedenen i n Frage kommenden Kriterien zum Ausdruck bringt. — Die Aufstellung einer neuen Interpretationsregel (ebenso wie einer neuen einzelnen Interpretation) erhöht allerdings i n der Regel nur die schon bestehende Vagheit und Wertungsabhängigkeit. Kriele 4 7 erläutert diese „Paradoxie": „ W i r d i n der Staatsrechtswissenschaft eine bestimmte methodische Richtung ins Spiel gebracht u n d verfochten, so verfehlt diese nicht n u r das Z i e l der Richterbindung. Sofern der methodische Vorschlag neu ist oder eine neue Variante einführt, vergrößert er i m Gegenteil n u r das der V e r fassungsrechtsprechung zur beliebigen A u s w a h l angebotene Sortiment respektabler Methoden. So entsteht der Eindruck, dem theoretischen Bemühen u m verfassungsrechtliche Methoden hafte etwas Quichoteskes an."

Soweit von einzelnen Interpreten verschiedene Interpretationsregeln willkürlich „je nach Bedarf" angewendet werden, haben sie — genau wie i n sich antinomische Begriffe — keinen Begründungswert 48 . 3.1.1.3 Offenlegung und Verschleierung und Kontextabhängigkeit sprachlicher

der WeriungsInterpretation

I n den vorstehenden Abschnitten wurde gezeigt, daß der Rechtsanwender sowohl bei der Interpretation einzelner Begriffe als auch bei der Wahl und der Anwendung von Interpretationsregeln auf die Notwendigkeit eigener Bewertung verwiesen ist. Esser 49 spricht i n diesem Sinne von der „allgemeinen teleologischen Einbindung jeden Wortes i m Recht". Schmidhäuser 50 und Dubischar 51 betonen die „Normativität" aller rechtlichen Tatbestandsmerkmale. Perelman 5 2 weist darauf hin, daß der Versuch der Juristen, Argumente i n syllogistische Form zu kleiden, eine „quasi-logische" Argumentation ist, d.h. der Versuch, Beweiskraft der Begründung vorzuspiegeln 53 . 47

Rechtsgewinnung, S. 26. Eingehend Esser, Vorverständnis, S. 121 ff.; Kriele, Rechtsgewinnung, S. 25; zur Bedeutung des Grundsatzes „ex falso quodlibet" f ü r die juristische Methodik näher Tammelo, Non solum sub lege, S. 49 f. 49 Vorverständnis, S. 51 A n m . 13. 48

50 51 52

Lehrbuch, S. 158 f. Grundbegriffe, S. 23 ff. Traité, S. 310.

3.1 Berufung auf textlich fixierte Rechtsquellen

55

Ähnlich argumentiert A. Kaufmann 5 4 : „Es ist nichts als eine simple Täuschung, meist freilich auch Selbsttäuschung, w e n n m a n vorgibt, die Entscheidung ausschließlich aus dem Gesetz auf logischem Wege deduziert zu haben. Bevor es zu dem logischen Verfahren des Syllogismus kommt, hat man i m m e r schon aus anderen Quellen geschöpft. Gibt man hierüber sich u n d den anderen keine Rechenschaft, so bleibt ein wesentlicher T e i l der ,Entscheidungsgründe' i m Dunkeln. Ernst Fuchs nannte das ,Kryptosoziologie' oder ,Geheimfreirechtlerei', eine m i t tels begrifflicher K o n s t r u k t i o n verhüllte Rechtsprechung unter falschen Vorwänden "

I n vielen unproblematischen „unstreitigen" Fällen allerdings werden alle i n Betracht kommenden Interpretationsgesichtspunkte bzw. »regeln zu demselben Ergebnis führen: Dann entfällt die Notwendigkeit einer Wertung sowie auch der Rechtfertigung einer bestimmten Interpretation der Regelung durch den Rechtsanwender. Streng genommen enthält das programmierte Recht also immer dann, wenn seine Interpretation nicht völlig unumstritten ist, Lücken 5 5 . Lücken sind nicht Merkmale des programmierten Rechts selbst, sondern Folgen der Verwendungsweise seiner Sprachzeichen 56 . Die Schließung einer Lücke i m programmierten Recht erfordert Offenlegung von Wertungen des Rechtsanwenders. Oder Wertentscheidungen „des Gesetzes" oder Analogieschlüsse können zur Lückenfüllung herangezogen werden; auch derartige Begründungen beruhen jedoch durchweg auf eigenen Wertungen des Rechtsanwenders 57 . — Demgegenüber ermöglicht die Berufung auf bloße „Auslegung" einer programmierten Fremdentscheidung das Verstecken eigener Wertungen. Eine befriedigende und intersubjektiv verbindliche Grenzziehung zwischen Auslegung und rechtsfortbildender Lückenfüllung erscheint allerdings kaum möglich 58 . A u f der anderen Seite kann aber manchmal gerade die Behauptung einer Lücke Wertungen des Rechtsanwenders verschleiern; denn durch die Behauptung einer Lücke entzieht er sich der Notwendigkeit, seine eigene Bewertungskompetenz sowie deren Ausmaß gegenüber einer offensichtlich abweichenden Entscheidung des programmierten Rechts zu rechtfertigen. Die Technik, programmiertes Recht so auszulegen, daß der anstehende Fall eine Lücke darstellt, ist besonders i m angelsächsischen Recht als Ausweg aus der Präjudizienbindung verbreitet 5 9 . I n 53 Vgl. Viehweg, Topik, S. 58, der von einer geheimen Topik i n der genuinen Sprechweise spricht. 54 Freirechtsbewegung, S. 5. 55 Vgl. A . Kaufmann, Freirechtsbewegung, S. 4 f. se Rottleuthner, Richterliches Handeln, S. 93 f. 57 Vgl. 3.1.1, 2.3.4.2, 2.3.4.3. 58 Näher Kriele, Rechtsgewinnung, S. 221 f. 59 Vgl. Kriele, Rechtsgewinnung, S. 246 f.

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3 Berufung auf Rechtsquellen

der Regel läßt es sich tatsächlich vermeiden, die eigene Entscheidung offen als contra-legem-Entscheidung zu deklarieren, wie Kriele 6 0 betont: „ A b e r fast i m m e r läßt sich die Lösung v o m Subsumtionsprinzip als Rechtsfortbildung praeter legem oder bei einigem Konstruktionsgeschick sogar als Rechtsbildung secundum legem ausgeben."

Kommen mehrere Interpretationen eines Begriffs i n Betracht, so muß die zugrunde gelegte Interpretation offengelegt und gegenüber den anderen möglichen Interpretationen gerechtfertigt werden. Das gilt gleichermaßen für Begriffe, die aus Programmierungen entnommen worden sind 6 1 , wie für solche, auf die man sich i m Rahmen der Argumentation zur Begründung von Entscheidungen beruft. W i r d eine stillschweigend zugrunde gelegte Interpretation nicht offengelegt, besteht die Gefahr von Mißverständnissen. So betonen ζ. B. Wagner / Haag 62 , daß es zu „säkularen Scheingefechten" führt, wenn bei Beziehungsbegriffen wie „frei", „unabhängig", „eigenständig" usw. die jeweils gemeinten Relationen nicht genau bestimmt werden. W i r d die gewählte Interpretation nicht gerechtfertigt, so setzt man sich dem Vorwurf der Unschlüssigkeit der Begründung oder dem der „begriffsjuristischen Argumentation" oder auch dem der Verschleierung oder der ungenügenden Reflektion der eigenen Bewertung aus. So äußert sich Struck 6 3 über „begriffsjurisprudenzlerische lierungen" :

Formu-

„Der K u n s t g r i f f besteht darin, ein Tatbestandsmerkmal v o n solcher A r t zu proklamieren, daß sich der erwünschte Rechtsgedanke bereits i n i h m v o r findet."

Ähnlich kritisiert Ramm 6 4 i n der Besprechung einer Entscheidung des B A G dessen „pauschale Wertung". Er wendet sich dagegen, daß dieses Gericht i n „begriffsjuristischer" Weise i n den Oberbegriff „Pflegepersonal" eines Krankenhauses, dessen Angehörige teils aus standesrechtlichen Gründen (Ärzte), teils aus religiös-karitativer Bindung (Schwestern) dem Verbot des Arbeitskampfes unterliegen, die Hausgehilfinnen einbezieht und dadurch ebenfalls diesem Verbot unterwirft. Daß eine derart unreflektierte Verwendung von Begriffen ständig vorkommt und oft lange Zeit nicht bemerkt wird, liegt daran, daß die 60

Rechtsgewinnung, S. 254 f. I n der Jurisprudenz werden diese verschiedenen Interpretationen oft fälschlich als „Theorien" bezeichnet; vgl. Wagner, Theorie, S. 457 f. 62 Moderne Logik, S. 22 f. 63 Topische Jurisprudenz, S. 41, anhand von Beispielen. 64 Koalitionsbegriff, S. 226. 61

3.1 Berufung auf textlich fixierte Rechtsquellen

57

Abhängigkeit der Begriffsbildung und -interpretation von einem Ä h n lichkeitsurteil verborgen bleibt. Metzger 6 5 zeigt allgemein die „ U n scheinbarkeit der Bezugssysteme" auf. Er formuliert als „Grundregel allen Erlebens" 6 6 : „Daß alles Einzelne tatsächlich v o n umfassenden Verhältnissen bedingt ist u n d n u r ihnen seine Bestimmtheit u n d Eindeutigkeit verdankt, ist i m anschaulichen Erleben nicht mitgegeben; vielmehr hat erlebnismäßig alles Ausgesonderte seine Eigenschaften als aus seinem eigenen Wesen stammend u n d unabhängig von dem, was u m es ist; die Verhältnisse zu Anderem erscheinen n u r als Folgen dieser wesenseigenen Eigenschaften der einzelnen Dinge."

Angewandt auf die Sprache bedeutet das, daß Begriffe leicht als eigenständige, feste Gebilde wahrgenommen werden und dabei die Kontext- und Wertungsabhängigkeit von Begriffsbildung und -interpretation übersehen w i r d 6 7 . Das w i r d erleichtert durch die Eigenarten der üblichen qualitativen bzw. klassifikatorischen Begriffsbildung 6 8 , die das ihr zugrunde liegende Ähnlichkeitsurteil nicht mehr erkennen läßt und zu einem „Entweder-Oder-Denken" verführt. Typisch für diese Begriffsform sind die sog. „absoluten Urteile" 6 9 , die man i m Unterschied zu Vergleichsurteilen als Klassifikation ohne wahrgenommenes Vergleichsobjekt bezeichnen kann 7 0 . „Die Welt, die von der Physik konstruiert wurde, ist weder k a l t noch heiß, weder k l e i n noch groß usw. A l l e diese Kennzeichnungen sind relativ u n d setzen bestimmte »willkürliche* Bezugswerte voraus. E i n U r t e i l w i e ,Herr X ist klein* ist ohne Bezugswert sinnlos. Natürlich w i r d ein absolutes U r t e i l nicht aus der L u f t genommen. Es resultiert vielmehr aus dem Vergleich eines wahrgenommenen Objekts m i t einer immanenten N o r m 7 1 . "

Die krasseste Folge der Tendenz, Sprachzeichen als eindeutig anstatt als interpretationsbedürftig und wertungsabhängig zu behandeln, war die sog. Begriffslogik, die Rechtsbegriffe „als eine A r t zu respektierender Naturwirklichkeit" 7 2 behandelte 73 . Typisch für die Argumentation eines derartigen Begriffsrealismus' war die Berufung auf „Denkschwierigkeiten" 7 4 , „begriffliche Unmöglichkeit" oder „begriffliche Widersprüche" 75 . 65

Psychologie, S. 143. Psychologie, S. 138. 67 Vgl. Crawshay-Williams, Reasoning, S. 63 f. 68 Z u deren K r i t i k vgl. v. Savigny, Definieren, S. 92 ff. 69 Dazu eingehend Witte, Bezugssysteme, S. 100ff.; Metzger, Psychologie, S. 141 f. 70 Sixtl, Meßmethoden, S. 62. 71 Sixtl, Meßmethoden, zur „Verankerung der Urteile", S. 61. 72 Esser, Rechtsfiktionen, S. 124. 73 Esser, Rechtsfiktionen, S. 121 ff. 74 Vgl. ζ. B. das bei Esser, Rechtsfiktionen, S. 158, wiedergegebene Zitat von Staudinger. ββ

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3 Berufung auf Rechtsquellen

D i e B e g r i f f s l o g i k w i r d h e u t e k a u m noch v e r t r e t e n , jedoch b e s t i m m e n d i e i h r z u g r u n d e l i e g e n d e n V o r s t e l l u n g e n — g e w i ß auch i n f o l g e i h r e r aufgezeigten psychischen D e t e r m i n i e r t h e i t 7 6 — noch s t a r k das j u r i s t i sche D e n k e n 7 7 . I n der A r g u m e n t a t i o n gegenüber begriffslogischen V o r s t e l l u n g e n w i r d i n erster L i n i e d e r K a t e g o r i e n f e h l e r 7 8 der V e r w e c h s l u n g v o n D i n g u n d B e g r i f f 7 9 beanstandet u n d die B e d e u t u n g v o n G r e n z f ä l l e n u n d f l i e ß e n d e n Ü b e r g ä n g e n zwischen B e g r i f f e n u n d d e r d a d u r c h e r f o r d e r lichen subjektiven W e r t u n g betont80. So k r i t i s i e r t S t r u c k 8 1 eine A r g u m e n t a t i o n v o n M a k a r o v 8 2 : „ M a k a r o v argumentiert m i t dem W o r t ,Deutscher' so, als gehe es darum, ob jemand eine Nase i m Gesicht hat oder nicht. . . . Ob man Deutscher ist, ist keine Frage jener A r t . Sie zerfällt i n viele Einzelfragen." Ä h n l i c h das folgende Z i t a t v o n R u p p 8 3 : „ W i e schon Kelsen (m. Nachw.), freilich i n gewissem Widerspruch zu seiner ,normlogischen' Lehre, festgestellt hat, ist die Beurteilung der Rechtmäßigk e i t nicht vergleichbar m i t der chemischen Analyse, ob etwas eine Säure oder eine Base sei . . . I n gewisser Weise . . . gehen insofern die so scharfen K o n t u r e n von bloß »deklaratorischer' Nichtigkeitsfeststellung einerseits u n d ,konstitutiver' Vernichtung andererseits notwendig ineinander über " I n diesen Z i t a t e n w i r d d e u t l i c h , daß begriffslogische V o r s t e l l u n g e n leicht zu einem E n t w e d e r - O d e r - D e n k e n f ü h r e n u n d dadurch Zwischenf o r m e n b z w . D i f f e r e n z i e r u n g e n v o n B e g r i f f e n v e r n a c h l ä s s i g e n 8 4 . Diese G e f a h r a n a l y s i e r t H a f f k e 8 5 a n h a n d des B e g r i f f s des „ d e l i c t u m s u i generis", d e n er als „ b e g r i f f s j u r i s t i s c h " k r i t i s i e r t : „ I n Wahrheit geht es . . . u m eine Reihe zum T e i l recht verschiedenartiger Wertungsprobleme. Die m i t u n t e r disparaten Ergebnisse der jeweiligen Auslegungsarbeit lassen sich nicht zu einem einheitlichen Begriff des delic75

z.B. die bei Esser, Rechtsfiktionen, wiedergebenen Zitate auf S. 161 u n d 175. 76 Z u begriffsrealistischem Denken i n anderen Wissenschaften vgl. Esser, Rechtsfiktionen, S. 130 A n m . 123. Z u der Ontologisierung sprachlicher K a t e gorien i n der Philosophiegeschichte K a m i a h / Lorenzen, Logische Propädeutik, S. 15 ff. 77 Dazu Struck, Topische Jurisprudenz, S. 67 f.; Podlech, Werte, S. 188 A n m . 9. 78 Z u diesem sprachkritischen Begriff von G. Ryle eingehend v. Savigny, Sprache, S. 93 ff. 79 Esser, Rechtsfiktionen, S. 109. 80 Siehe dazu auch 3.1.1.1. 81 Topische Jurisprudenz, S. 67. 82 I n J Z 1968, 559 ff., u n d 1969, 97 f. 83 Nichtigkeit, S. 471. 84 Vgl. dazu unten 6.2.2. 85 Delictum sui generis, S. 407.

3.1 Berufung auf textlich fixierte Rechtsquellen

59

t u m sui generis m i t festem Begriffskern verschmelzen. Daher ist bereits die meistenteils unausgesprochene Grundannahme verfehlt, daß ein Del i k t , w e n n überhaupt, dann aber i n j e d e r Beziehung selbständig sein müsse."

3.1.1.4 Grad der Konkretisierung

der Sprache

I n diesem Abschnitt ist zu besprechen, inwiefern die Begriffswahl des programmierten Rechts sowie seiner Interpretation das Ausmaß der Vagheit und damit der Wertung des Rechtsanwenders bestimmt. Unter diesem Gesichtspunkt müssen gleichermaßen Rechtssetzer wie Rechtsanwender ihre Sprache rechtfertigen. Der wesentlichste Faktor, der die Vagheit und Wertungsabhängigkeit von Begriffen bestimmt, ist der Grad ihrer Konkretisierung bzw. Beobachtungsnähe. A u f dem Kontinuum der verschiedenen Grade der Konkretisierung der Sprache 86 lassen sich als (nicht klar abgrenzbare) Bereiche einerseits die Kasuistik (3.1.1.4.1.) und andererseits die unbestimmten Rechtsbegriffe (3.1.1.4.2) unterscheiden. Äußerst unbestimmte Begriffe werden als Generalklauseln bezeichnet; zu den unbestimmten Rechtsbegriffen gehören auch die subjektiven Merkmale (3.1.1.4.3). U m das Kontinuum der Konkretisierungsgrade deutlich zu machen, sollte man eigentlich — i n komparativer Begriffsbildung — nur von mehr oder weniger kasuistischen bzw. mehr oder weniger unbestimmten (oder „wertausfüllungsbedürftigen") Begriffen und Interpretationen sprechen. Der Grad der Konkretisierung eines Textes, also insbesondere des programmierten Rechts, ist nicht eindeutig vorgegeben, sondern kann weitgehend durch Interpretation mitbestimmt werden: Ihrem gewöhnlichen Wortsinn nach eher kasuistische Begriffe können entweder mehr „nach dem Buchstaben" oder eher teleologisch ausgelegt werden (3.1.1.4.1). Unbestimmte Rechtsbegriffe können (umständlich) auf jeden Einzelfall h i n interpretiert werden, oder aber sie können von vornherein (meist unter Berufung auf Rechtsprechung und/oder Lehrmeinungen) auf bestimmte kasuistische „Operationalisierungen" (Fallgruppen) festgelegt werden. Der Rechtsanwender hat die Wahl zwischen den verschiedenen Konkretisierungsgraden nicht nur bei der Interpretation einzelner Begriffe des positiven Rechts, sondern auch bei der Wahl allgemeiner Interpretationsregeln: Hier kann er — am Beispiel der Bindung an das Gesetz — dem „Willen des Gesetzgebers" (subjektives Merkmal), dem „Willen des Gesetzes" (formal ein subjektives Merkmal, praktisch ein 86 Z u dem K o n t i n u u m dieser verschiedenen „Höhenlagen" v. Hippel, Richtlinie u n d Kasuistik, S. 149 ff.

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3 Berufung auf

echtsquellen

„objektiver" unbestimmter Rechtsbegriff, da ein „vernünftiger" Gesetzgeber unterstellt wird) oder der Auslegung nach dem „gewöhnlichen Wortsinn" (ein relativ beobachtungsnaher Begriff) den Vorrang geben. Der Spielraum, der der eigenen Wertung des Rechtsanwenders gegenüber dem positiven Recht überlassen bleibt, w i r d vielfach als Ermessensspielraum bezeichnet 87 . Den Begriff des Ermessens gibt es i n allen Bereichen der Rechtsanwendung: So gibt es Ermessen des Richters 88 , der Verwaltung 8 9 , des Gesetzgebers 90, von Vertragsparteien 91 usw. I m Ergebnis macht es anscheinend keinen Unterschied, ob das Ermessen ausdrücklich eingeräumt w i r d (z. B. durch eine Kann-Bestimmung), oder ob der Bewertungsspielraum des Rechtsanwenders durch Vagheit der Begriffe („unbestimmte Rechtsbegriffe") entsteht 92 . Folgende Wertkonflikte bestimmen die Argumentation über das Ausmaß des Ermessens: Einer der Gesichtspunkte, der für eine Einschränkung des Ermessensspielraums spricht, ist das i n verschiedenen Bereichen unterschiedlich starke Interesse an Vorhersehbarkeit der Entscheidungen des Rechtsanwenders (Rechtssicherheit) oder des Verhaltens von Mitmenschen (Vertrauens- und Verkehrsschutz) 93 . Ein weiterer Gesichtspunkt zugunsten einer Einschränkung des Ermessensspielraums ist das Interesse an Gleichbehandlung gleichgelagerter Tatbestände, die bei Einräumung eines weiten Ermessensspielraums wegen der Anwendung unterschiedlicher Wertmaßstäbe gefährdet sein könnte 9 4 . Auch hat nach der klassischen Gewaltenteilungslehre nur das demokratisch gewählte Parlament rechtspolitische Entscheidungsfunktion, während Justiz und Verwaltung nur die vom Parlament getroffenen Entscheidungen durchzuführen haben 95 . 87

Vgl. Lautmann, Justiz, S. 21. Vgl. Baumbach / Lauterbach, Zivilprozeßordnung, Einl. I I I 4 B. 89 Vgl. Wolff, Verwaltungsrecht, § 31, S. 176 ff. 90 Vgl. Hesse, Grundzüge, S. 210 f. 91 Vgl. Larenz, Lehrbuch I, § 8 I, S. 84 ff. 92 Vgl. Otte, K o m p a r a t i v e Sätze, S. 308 ff. 93 Vgl. Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 168 ff.; Esser, Rechtssicherheit. 94 Z u dieser „Gleichheit v o r dem Gesetz" Perelman, Gerechtigkeit, S. 38 ff. Allgemein zum Interesse an Gleichbehandlung gegenüber Machtträgern unten 5.3.6. 95 Wolff, Verwaltungsrecht, §§ 16 f., S. 64 ff. Z u m „Problem der Justizabilit ä t " Esser, Vorverständnis, S. 196 ff. 88

3.1 Berufung auf textlich fixierte

echtsquellen

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Schließlich w i r d die Beschränkung des Ermessensspielraums aus dem Gesichtspunkt der Entlastung des Rechtsanwenders von Verantwortung befürwortet. Hervorgehoben w i r d die Entlastung „von Aufmerksamkeit und Verantwortlichkeit für Folgen der Entscheidung" . . . „Der Selbstmord des Strafgefangenen geht nicht auf K o n t o des Richters, der i h n nach dem Gesetz verurteilen mußte. . . . Tragender G r u n d der E n t scheidung ist nicht ein Wertverhältnis unter den Folgen, sondern die Geltung der Norm, u n d diese k a n n allenfalls i n dem Deutungsspielraum, den sie bietet, so ausgelegt sein, daß die generell bei ihrer Anwendung zu erwartenden Folgen v e r n ü n f t i g u n d tragbar erscheinen 98 ."

A u f der anderen Seite gibt es Gesichtspunkte, die — ebenfalls nach Rechtsgebieten unterschiedlich stark — die Einräumung eines weiten Ermessensspielraums gegenüber dem programmierten Recht w ü n schenswert erscheinen lassen. Ein solcher Gesichtspunkt ist das Interesse, dem Rechtsanwender die Anpassung der Regeln an neue und unvorhergesehene Umstände zu ermöglichen. Streng festlegende Kasuistik ist „ b l i n d " 9 7 . Jede Programmierung steht daher bis zu einem gewissen Grad unter dem Vorbehalt einer „clausula rebus sie stantibus" 9 8 , sonst entsteht i m Extremfall eine „Herrschaft der Toten über die Lebenden" 9 9 . Ein weiter Ermessensspielraum muß auch für komplexe Entscheidungen bestehen, für solche Entscheidungen nämlich, bei denen so viele Gesichtspunkte zusammentreffen, daß es nicht möglich ist, sie i n einer konkretisierten Regelung zu programmieren. I n solchen Fällen muß der „Einzelfallgerechtigkeit" und der „Nähe zur Sache" Spielraum gelassen werden 1 0 0 . Schließlich ist Konkretisierung einer rechtlichen Regelung oft nur mit Hilfe sehr umfangreicher und umständlicher Kasuistik möglich. Wie diese angeführten widerstreitenden Wertgesichtspunkte i n der juristischen Argumentation geltend gemacht werden, w i r d i n den folgenden Abschnitten i m einzelnen dargelegt.

98

Luhmann, Rechtssoziologie, S. 230 ff. v. Hippel, Richtlinie u n d Kasuistik, S. 152. 98 Vgl. Struck, Topische Jurisprudenz, S. 40. Z u der Rechtslehre, die geltend machte, daß jede Rechtsnorm stets „eine normale Gestaltung der L e bensverhältnisse" (C. Schmitt) voraussetze, vgl. Henkel, Individualität, S. 12 ff. 99 Z i t a t von Spencer nach Wüstendörfer, Rechtsfindungstheorie, S. 166. 100 Vgl. ζ. B. zur Einschätzungsprärogative der V e r w a l t u n g Wolff, V e r w a l tungsrecht, § 31 I, S. 167 ff. 97

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3 Berufung auf Rechtsquellen

3.1.1.4.1 Kasuistik Die kasuistische oder enumerative Fassung von Normen hat den Vorteil, größtmögliche Vorhersehbarkeit der Entscheidungen des Rechtsanwenders zu gewährleisten. Damit werden Rechtssicherheit und Vertrauensschutz sowie formale Gleichbehandlung gewährleistet. Je höher diese Gesichtspunkte gewichtet werden, desto eher besteht Bereitschaft, die Nachteile der Kasuistik i n Kauf zu nehmen. Dementsprechend gibt es i n Rechtsgebieten, i n denen das Verkehrsinteresse besonders groß ist (Sachenrecht, Handelsrecht, insbesondere Wertpapierrecht, Prozeßrecht), ζ. B. strikte Voraussetzungen der W i r k samkeit von Rechtshandlungen (Formvorschriften, Registereintragungen usw.). — So differenziert z. B. Schönke / Schröder 101 bei der Streitfrage, ob eine strafrechtlich relevante Einwilligung Geschäftsfähigkeit erfordere, nach der Stärke des Verkehrsinteresses; u m deswillen nämlich erfolge die „Standardisierung" rechtlicher Handlungsfähigkeit durch eine starre Altersgrenze für den Eintritt der Geschäftsfähigkeit. Weil das Verkehrsinteresse stärker bei Vermögensrechten ist, sei hier Geschäftsfähigkeit für eine rechtswirksame Einwilligung erforderlich — bei höchstpersönlichen Rechten dagegen müsse die tatsächliche Einsichtsfähigkeit ausschlaggebend sein. Da aber andererseits kasuistische Regelungen niemals subjektive Bedeutungen oder Wertungen erschöpfend erfassen können, besteht bei der Interpretation von kasuistischen Regelungen stets die Tendenz zu Analogiebildung, u m die erschlossene „ratio legis" lückenlos zu verwirklichen. Eine typische sprachliche Einkleidung des Rückgriffs auf die ratio legis ist die Berufung auf den „Schutzzweck" bzw. die „Schutzfunktion" einer Rechtsnorm als Leitgesichtspunkt der Interpretation. Durch eine derartige teleologische Aufweichung gehen aber die Vorteile der Enumeration, die Gewährleistung von Vorhersehbarkeit und formaler Gleichbehandlung, i n der Regel verloren, da i n den Schluß auf die ratio(nes) legis sowie i n die Schlüsse aus der ratio subjektive Wertungen des Rechtsanwenders eingehen 102 . Es fragt sich darum stets, ob es zulässig ist, eine positivrechtliche, dem gewöhnlichen Wortsinn nach kasuistische Regelung durch die Interpretation mittels unbestimmter Rechtsbegriffe 103 wie „ratio legis", „Schutzzweck", „Rechtsmißbrauch" usw. zu unterlaufen. Gelegentlich w i r d ein solches Vorgehen ausdrücklich für unzulässig erklärt: 101 102 103

Vorbem. vor § 53 Rn. 53. Z u den Problemen derartiger Schlüsse allgemein oben 2.3.4.1 u n d 2.3.4.3. Siehe unten 3.1.1.4.2.

3.1 Berufung auf textlich fixierte

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„(es) k a n n daraus, daß die Entschuldigungsgründe der §§ 52, 54 (StGB) auf dem Gedanken der Unzumutbarkeit beruhen, nicht der Schluß gezogen werden, daß allgemein die Unzumutbarkeit ein Schuldausschließungsgrund sei (m. Nachw.). I m Gegenteil: die Situationen, die eine Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens begründen können, müssen v o m Gesetz selbst bestimmt werden . . . " 1 0 4 . I m f o l g e n d e n w e r d e n A r g u m e n t a t i o n e n besprochen, d i e f ü r d e n S t r e i t z w i s c h e n kasuistischer u n d m e h r w e r t b e z o g e n e r I n t e r p r e t a t i o n t y p i s c h sind. V o r allem i m Strafrecht ist oft streitig, i n w i e w e i t Tätigkeitsbegriffe (bei D e h n u n g i h r e s g e w ö h n l i c h e n W o r t s i n n s , aber u n t e r B e r u f u n g a u f d e n Gesetzeszweck) i n E r f o l g s b e g r i f f e 1 0 5 u m g e d e u t e t w e r d e n k ö n n e n , da sich herausgestellt h a t , daß auch andere T ä t i g k e i t e n z u d e m gleichen E r f o l g f ü h r e n k ö n n e n , d. h. f ü r d i e B e t r o f f e n e n dieselbe B e d e u t u n g haben. Das w i r d z . B . d e u t l i c h b e i d e m S t r e i t u m d e n B e g r i f f d e r G e w a l t , w i e Schönke / S c h r ö d e r 1 0 6 a u f z e i g t : „Der Begriff der Gewalt i m Sinne der Freiheitsdelikte bezeichnet w i e der der Drohung u n d der L i s t zunächst n u r ein bestimmtes M i t t e l zur E i n w i r k u n g auf das Verhalten anderer. Daher lautet die übliche Definition: Gew a l t ist die zur Überwindung eines Widerstandes entfaltete physische K r a f t (m. Nachw.) . . . V o n dieser Definition ist i n der Rechtsprechung u n d Rechslehre — obwohl sie als solche beibehalten w u r d e (m. Nachw.) — praktisch nichts ü b r i g geblieben. Zunächst ist das M e r k m a l der K r a f t e n t faltung aufgegeben, indem nach langem Widerstand der Rechtsprechung (m. Nachw.) nunmehr allgemein anerkannt w i r d , daß wegen der gleichartigen W i r k u n g auch das gewaltlose Beibringen narkotischer M i t t e l als Gew a l t anzusehen ist. . . . Entsprechendes gilt f ü r die Anwendung der Hypnose, f ü r Einsperren oder Abschließen der T ü r (m. Nachw.), die Abgabe von Schreckschüssen (m. Nachw.) u n d f ü r die Gewalt durch Unterlassen (m. Nachw.) " Schönke / S c h r ö d e r 1 0 7 b e z w e i f e l t , ob eine d e r a r t i g e teleologische A u s d e h n u n g eines kasuistischen B e g r i f f s d u r c h d i e Rechtsprechung zulässig ist: „ Z w a r ist die Tendenz der Rechtsprechung, v o n dem Begriff der Gewalt als Kennzeichnung des M i t t e l s der E i n w i r k u n g zur Berücksichtigung der Gewalt w i r k u η g zu kommen, unverkennbar u n d auch zu billigen. Jedoch ist fraglich, ob der Gewaltbegriff dafür eine tragfähige Grundlage b i l det oder nicht das Gesetz überhaupt auf die Zwangswirkung abstellen sollte 1 0 8 ." 104

Schönke / Schröder, § 51 Rn. 91. Z u der Unterscheidung vgl. Ryle, Begriff des Geistes, S. 199 ff. 106 Rn. 6 ff. zu § 234. 107 Rn. 67 f. v o r § 234. 108 Ä h n l i c h zu dem Problem, ob „Unzucht m i t . . . " eine körperliche Berührung erfordert, Schönke / Schröder, Rn. 7 ff. zu § 175. 105

64

3 Berufung auf Rechtsquellen

Ähnlich wurde argumentiert bei dem Streit, ob der Begriff der „Flucht" i m Sinne des § 142 StGB a. F. eine Rückkehrpflicht einschließe. Die Rechtsprechung 109 bejahte eine Rückkehrpflicht unter Hinweis auf den Zweck der Vorschrift und „die gleiche Interessenlage" 110 . Schönke / Schröder 111 dagegen betonte, daß der § 142 StGB nur das Sichentziehen durch Flucht verbiete, aber kein „allgemeines Gebot, die Aufklärung des Unfalls zu fördern", enthalte. Rupp 1 1 2 geht sogar davon aus, daß die Annahme einer Rückkehrpflicht die Bewertungskompetenz des Rechtsanwenders überschreite und demgemäß gegen die A r t . 20 I I I und 103 I I GG verstoße. Der i n § 211 StGB verwendete Begriff „grausam" w i r d zumeist nicht kasuistisch, sondern teleologisch interpretiert: „ D i e Grausamkeit k a n n nicht n u r i n der Ausführungshandlung i m engeren Sinne u n d den durch sie verursachten körperlichen Leiden liegen, sondern auch i n den Umständen, unter denen sie vollzogen w i r d 1 1 3 . "

Ähnliche Argumentationen gibt es z.B. i m Steuerrecht: Wegen des belastenden Charakters der Steuern ist ihre Vorhersehbarkeit ebenso wie die der Strafe sehr wichtig, kann jedoch ebenfalls durch Analogieschlüsse zunichte gemacht werden. Das zeigt der folgende fiktive Fall, anhand dessen T i p k e 1 1 4 die Handhabung der i n der RAO vorgeschriebenen „wirtschaftlichen Betrachtungsweise" karikiert: „Die Behörde schickt einem Katzenhalter einen Hundesteuerbescheid. Der Beamte fragt nicht, was das Gesetz unter ,Hund' versteht, sondern n i m m t folgende SachVerhaltsbeurteilung vor: Die Hundesteuer sei eine Verbrauchersteuer, die an den wirtschaftlichen A u f w a n d anknüpft. Das rechtfertige eine wirtschaftliche SachVerhaltsbeurteilung: Wirtschaftlich stehe die Katzenhaltung der Hundehaltung gleich. I m Interesse einer gleichmäßigen Besteuerung sei daher nicht einzusehen, w a r u m die Katzenhaltung steuerfrei sein solle."

Tipke meint jedoch, daß derartige Überdehnungen des Wortsinns die Bewertungskompetenz des Rechtsanwenders überschreiten: „ D a sich ein wirtschaftlicher Gehalt als solcher nicht ermitteln läßt, w i r d i n der Praxis der Sachverhalt j e nach der subjektiven Auffassung des Rechtsanwenders über die Besteuerungswürdigkeit vorgeformt. Eine M e thode jedoch, die sich nicht am Gesetz orientiert, sondern das Gesetz unterläuft, verstößt gegen A r t . 2 I GG."

Die angeführten Beispiele zeigen, daß kasuistische Regelungen nur selten die ihnen zugrunde liegende Zwecksetzung erschöpfend v e r w i r k 109 Vgl. B G H S t 18, 114 u n d die weitere bei Schönke / Schröder, Rn. 22 zu § 142, aufgeführte Rechtsprechung. 110 B G H i n N J W 1963, 308. 111 Rn. 20 zu § 142. 112 Pflicht zum Warten, S. 163 f. 113 So B G H i n N J W 1951, 666. 114 Steuerrecht, S. 153 A n m . 36.

3.1 Berufung auf textlich fixierte Rechtsquellen

65

liehen. Also ist Enumeration bei teleologischer Betrachtungsweise zu eng: Eine enumerative Aufzählung kann selten oder nie alle gleichbewerteten Tatbestände erfassen. I n der Rechtsgeschichte haben sich dementsprechend streng enumerative Regelungen immer wieder als zu eng erwiesen 115 . A u f der anderen Seite ist Enumeration meistens aber zugleich zu weit: Kasuistische Regelungen verwirklichen die ihnen zugrunde liegenden Zwecksetzungen zumeist nur unter bestimmten Umständen. „Dasselbe Verhalten" kann unter verschiedenen Umständen sehr verschiedenes bedeuten, wie z. B. § 192 StGB zeigt. Aus diesem Gesichtspunkt ergibt sich die Tendenz, demselben Merkmal nicht ohne weiteres stets dieselbe Bewertung zukommen zu lassen, sondern vielmehr den gesamten Kontext zu berücksichtigen. Vielfach w i r d dementsprechend geltend gemacht, man dürfe nicht einzelne (enumerativ festgelegte) Merkmale für die Bewertung eines Verhaltens entscheidend sein lassen, sondern müsse vielmehr die Gesamtheit der Umstände berücksichtigen. Es w i r d also eine ganzheitliche anstatt einer isolierenden Betrachtungsweise gefordert 1 1 6 . Durch ein solches Vorgehen gehen allerdings die Vorteile der reinen Enumeration weitgehend wieder verloren. Palandt / Lauterbach 1 1 7 sagt zur Feststellung „ehewidrigen Verhaltens" i m Sinne des § 43 EheG: „Es ist also das Verhalten des verletzenden Ehegatten u n d seine W i r k u n g auf den anderen i n seiner Gesamtheit zu betrachten, . . . nicht aber, w i e es leider trotz gegenteiliger ständiger Rechtsprechung des R G (m. Nachw.) oft geschieht, die einzelnen Verfehlungen w i e i n einer Schularbeit festzustellen, zusammenzuzählen u n d danach auf Scheidung oder Klagabweisung zu erkennen. Die Einzelheiten . . . sind n u r Anzeichen der inneren Einstell u n g zur Ehe."

U m i m Strafrecht den Unterschied zwischen der Berücksichtigung des Gesamtgeschehens und der isolierenden Betrachtung zu erfassen, unterscheidet Schmidhäuser 118 zwischen Rechtsgutsverletzung und Rechtsgutobjektsverletzung. Eine Rechtsgutobjekts Verletzung ist manchmal nur eine „scheinbare Rechtsguts Verletzung": „Das Tatgeschehen sieht hier i n einem Teilbereich zunächst genau so aus, w i e es der Unrechtstatbestand schildert . . . ; der nähere Blick auf das T a t geschehen i m ganzen ergibt aber, daß das Rechtsgut selbst (und zwar hier der auf ein konkretes Objekt bezogene Achtungsanspruch) durch das H a n deln des Täters gar nicht verletzt w i r d . " 115 Allgemein dazu v. Hippel, Richtlinie u n d Kasuistik, S. 157 ff., m i t v i e len zivilrechtlichen Beispielen. 116 Vgl. oben 2.3.2.1. Z u r Ganzheitlichkeit des Erlebens allgemein Metzger, Psychologie, S. 48 ff. 117 A n m . 7 zu § 43 EheG. 118 Lehrbuch, 8/120 ff.

5 Clemens

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3 Berufung auf Rechtsquellen

So kann z.B. „derselbe" Messerstich einmal „Heilbehandlung", das andere Mal „Körperverletzung" bedeuten. Entsprechend genügt für das Merkmal „Heimtücke" i n § 211 StGB nicht jeder Vertrauensbruch, wie Schönke / Schröder 119 aufzeigt: „Heimtücke ist n u r der besonders verwerfliche Vertrauensbruch. Auch h i e r 1 2 0 darf also der Richter nicht dabei verharren, eine Tötung durch eine Person festzustellen, die das Vertrauen des Getöteten genoß. Vielmehr ist auch hier eine Wertung der gesamten Täterpersönlichkeit u n d aller weiteren Tatumstände erforderlich." Z u r latenten Gefahr i m Polizeirecht m e i n t F r i a u f 1 2 1 : „ M a n k a n n auch nicht sagen, das Mästen v o n Schweinen sei von vornherein eine ,an sich' gefährliche Tätigkeit. — J e d e r Zustand einer Sache u n d j e d e menschliche Betätigung kann, w e n n bestimmte andere U m stände hinzukommen, zu Gefahren führen."

Aus dem bisher Gesagten läßt sich erkennen, daß kasuistische Regelungen oder Interpretationen bis zu einem gewissen Grade die konkreten Umstände des Einzelfalls und deren Bewertung sowie Analogieschlüsse außer acht lassen müssen. Ein Zitat soll die Zwiespältigkeit der Gesichtspunkte, die für oder gegen kasuistische Regelungen bzw. Interpretationen angeführt werden können, beleuchten. Engisch 122 schreibt: „Es mag »ungerecht' erscheinen, daß derjenige, der an einer frühreifen Dreizehnjährigen unzüchtige Handlungen v o r n i m m t , schwer bestraft w i r d , während derjenige, der das gleiche an einer noch unentwickelten Vierzehnjährigen tut, straflos ausgeht 1 2 3 . . . . A b e r die Rechtssicherheit läßt den Gesetzgeber hier eine feste Altersgrenze ziehen. ,Wer Normen sät, k a n n keine Gerechtigkeit ernten' (M. E. Mayer)."

Die gegenüber wertender inhaltlicher Betrachtung einerseits zu enge und andererseits zu weite Fassung enumerativer Regelungen kann bewußt ausgenutzt werden. I n solchen Fällen — gelegentlich auch i n einem weiteren Sinne — spricht man von „Umgehung", „Erschleichung" oder „Rechtsmißbrauch". Diese Begriffe gehören eng zusammen und sind teilweise austauschbar 124 . Da sie gegenüber einer Wortlautauslegung Wertgesichtspunkte zur Geltung bringen sollen, können sie 119

Rn. 16 zu § 211. I n Rn. 6 zu § 211 plädiert Schönke / Schröder dafür, daß aufgrund der i n § 2 1 1 enumerativ aufgeführten Merkmale stets n u r dann wegen Mordes zu bestrafen sei, w e n n „ u n t e r Berücksichtigung der Gesamtpersönlichkeit u n d aller Umstände der Tat die Tötung als eine besonders verwerfliche anzusehen ist". 121 Polizei- u n d Ordnungsrecht, S. 161 f. 122 Einführung, S. 163. 123 Z u derartigen Argumentationen vgl. unten 6.2. 124 Vgl. Kegel, Internationales Privatrecht, § 14 I, I I ; Kruse, Steuerrecht, § 10 I I , zeigt, daß Steuerumgehung vielfach als Rechtsmißbrauch bestimmt werden muß. 120

3.1 Berufung auf textlich fixierte Rechtsquellen

67

nur m i t Hilfe stark wertausfüllungsbedürftiger Begriffe definiert werden. So w i r d ζ. B. der Begriff der Umgehung i m Steuerrecht m i t Hilfe der „Unangemessenheit der rechtlichen Gestaltung wirtschaftlicher Vorgänge" definiert 1 2 5 , der Rechtsmißbrauch w i r d als Verstoß gegen „Treu und Glauben" umschrieben 126 . Das Problem der Abgrenzung dieser Begriffe stellt sich auf allen Rechtsgebieten: Das Verbot des Rechtsmißbrauchs i m Zivilrecht gilt als Ausfluß der Generalklausel des § 242. Begriff u n d Folgen der Urteilserschleichung sind i m Zivilprozeßrecht u m s t r i t t e n 1 2 7 . I m Strafprozeßrecht w i r d das Problem des Mißbrauchs des Strafantrags d i s k u t i e r t 1 2 8 , i m Strafrecht ist der Mißbrauch des Notwehrrechts nicht erlaubt129. Der Staat darf die Bindungen des öffentlichen Rechts nicht umgehen 1 2 9 ».

3.1.1.4.2 Unbestimmte Rechtsbegriffe Das Gegenstück zur Kasuistik bilden die unbestimmten Rechtsbegriffe, die dem Ermessen des Rechtsanwenders einen besonders großen Spielraum offenlassen 180 . Vielfach ist bei diesen Begriffen — wie ζ. B. „ehrlos", „sittenwidrig", „grob" — die Notwendigkeit der Wertung bei ihrer Anwendung unmittelbar offensichtlich; sie werden auch als „wertausfüllungsbedürftige" Begriffe bezeichnet 131 . Besonders vage und wertungsabhängig sind die sog. Generalklauseln 132 . Durch extensive Benutzung von Generalklauseln sowie durch Rekurs auf allgemeine Rechtsgedanken oder die „ratio legis" m i t Hilfe teleologischer Auslegung hat es der Rechtsanwender weitgehend i n der Hand, i n welchem Umfang er auf unbestimmte Rechtsbegriffe Bezug nimmt. Unbestimmte Rechtsbegriffe haben die entgegengesetzten Vorzüge und Nachteile wie die Kasuistik. Äußerstenfalls haben sie keinerlei oder nur einen verschwommenen deskriptiven Kern. Solchen Begriffen w i r d vielfach jeder Begründungswert und jede Bindungswirkung für den Rechtsanwender abgesprochen. Es w i r d ihnen vielmehr der Vorw u r f der „Leerformel", der „petitio principii" usw. gemacht, wie folgende Beispiele illustrieren: 125

Kruse, Steuerrecht, § 10 I I . ΐ2β v g l . Palandt / Heinrichs, A n m . 1 b u n d 4 c zu § 242.

127 Vgl. Lent / Jauernig, Zivilprozeßrecht, § 64 I I . 128 v g l . Naucke, Mißbrauch des Strafantrags. 129

Vgl. Schönke / Schröder, Rn. 21 zu § 53. i29a v g l . Wertenbruch, Verwaltungsprivatrecht, S. 108. 130 v g l . Engisch, Einführung, S. 108 f.

131 182

*

Vgl. Engisch, Einführung, S. 111. Vgl. dazu Engisch, Einführung, S. 118 ff.

68

3 Berufung auf Rechtsquellen Fabricius133: „ M i t dem Hinweis auf T r e u u n d Glauben u n d die Verkehrssitte ist allerdings n u r angedeutet, daß ein U r t e i l über einen Sachverhalt zu fällen ist, dessen rechtliche Strukturierung nicht k l a r erkannt ist."

P o d l e c h 1 3 4 b e h a u p t e t d i e v ö l l i g e V a g h e i t des B e g r i f f s widrigkeit".

der

„Sitten-

Dieckmann135 meint: „Über ordre public-Entscheidungen k a n n m a n endlos streiten." S c h m i d h ä u s e r 1 3 6 schließlich f ü h r t aus: „ W i e schwer die Schuld i m Begriff zu fassen ist, w i r d daran deutlich, daß so oft die Schuld lediglich als Vorwerfbarkeit bezeichnet w i r d . . . . D a m i t ist nämlich n u r gesagt, daß die Rechtsgemeinschaft nunmehr die rechtswidrige Tat dem Täter m i t der Rechtsfolge der Strafe vorwerfen k a n n u n d v o r w i r f t . . . . I n allen diesen Formulierungen w i r d der wesentliche U n w e r t i m m e r schon vorausgesetzt. Es w i r d aber nicht gesagt, welcher U n w e r t sachverhalt i m Tatgeschehen noch gegeben sein muß, damit das Unrecht vorgeworfen werden kann." E n t s c h e i d u n g e n d a m i t z u b e g r ü n d e n , daß sie „ g e r e c h t " s e i e n 1 3 7 , i s t n a h e z u nichtssagend, da d e r B e g r i f f d e r G e r e c h t i g k e i t sehr v i e l e A n t i n o m i e n e n t h ä l t 1 3 8 . Jede E n t s c h e i d u n g , d i e sich a u f G e r e c h t i g k e i t b e r u f t , h a t sich also f ü r eine v o n z a h l r e i c h e n M ö g l i c h k e i t e n d e r I n t e r p r e t a t i o n des B e g r i f f s G e r e c h t i g k e i t entschieden, ohne das o f f e n d a r z u l e g e n 1 3 9 . I n Rechtsgebieten, i n d e n e n d e r Rechtssicherheit e i n besonderes G e w i c h t zugeschrieben w i r d 1 4 0 , w e r d e n u n b e s t i m m t e Rechtsbegriffe g e l e g e n t l i c h sogar als v e r f a s s u n g s w i d r i g angesehen, w e i l sie m i t d e m Rechtsstaatsprinzip n i c h t v e r e i n b a r seien, da sie gegen d e n „ B e s t i m m t heitsgrundsatz" 141 verstießen142. 133

Stillschweigen, S. 50. Werte, S. 194 f. 135 Eheschließung, S. 104. 136 Lehrbuch, S. 117, 6/14. 137 v. Savigny, Überprüfbarkeit, S. 91 ff., 113 ff., zeigt, daß die Berufung auf Gerechtigkeit bei Entscheidungen des B G H S t die häufigste Begründung ist. iss perelman, Traité, S. 177, spricht v o n einer „notion confuse". Z u den A n t i n o m i e n des Begriffs der Gerechtigkeit ausführlich Perelman, Gerechtigkeit, S. 9 ff. u n d passim. Podlech, Werte, S. 190, wendet sich zwar gegen die Ansicht, daß der Ausdruck „gerecht" gehaltsleer u n d damit überflüssig sei, meint aber, daß das K r i t e r i u m der Gerechtigkeit grob sei u n d n u r grundsätzliche Entscheidungen zulasse. 134

139

Vgl. oben 3.1.1.3. Vgl. oben 3.1.1.4.1. 141 Hesse, Grundzüge, S. 81 (m. w. Nachw.). 142 v g l oben 3.1.1.4.1 zur entsprechenden Argumentation gegenüber teleologischer Auslegung. 140

3.1 Berufung auf textlich fixierte Rechtsquellen

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So meint z.B. Schmidhäuser 143 , daß die frühere Strafvorschrift des § 360 I Ziff. 11 StGB („grober Unfug") gegen A r t . 103 I I GG verstößt. K r i t e r i u m ist für i h n besonders „das Fehlen eigener Wertung durch den Gesetzgeber, das sich i n Blankettbegriffen oder i n Verweisung auf vorgebliche außerstrafrechtliche Wertungen ausdrückt". Entsprechend W o l f f 1 4 4 : „Rechtsstaatswidrig ist es freilich, w e n n das Gesetz keine oder v ö l l i g unbestimmte Voraussetzungen u n d Maßstäbe f ü r die Ausübung des Ermessens zum Erlaß b e l a s t e n d e r , i n die Grundrechtssphäre eingreifender abstrakter oder konkreter Anordnungen enthält."

Infolge ihrer Vagheit sind unbestimmte Rechtsbegriffe häufig untereinander austauschbar. Struck 1 4 5 : „Viele Juristen verwenden ersichtlich keine Überlegung darauf, ob sie n u n unzumutbar oder unerträglich, grob unangemessen oder unverhältnismäßig, P r a k t i k a b i l i t ä t oder Rentabilität sagen wollen."

Infolge der Vagheit unbestimmter Rechtsbegriffe können verschiedene Personen bei der Berufung auf denselben unbestimmten Begriff durchaus entgegengesetzte Bewertungen vertreten. So ist ζ. B. Landesverrat ein Begriff, dem sehr verschiedene Bedeutungen beigelegt werden können, je nachdem, was man als „gut" für den Staat ansieht. W i e t h ö l t e r 1 4 6 / 1 4 7 : „Fehlt uns aber die Fixierbarkeit der Treueposition, so w i r d zur A l t e r n a t i v e schnell die Umkehrbarkeit v o n Verrätern u n d Verratenen."

Gegenüber den geschilderten Nachteilen haben unbestimmte Rechtsbegriffe und Generalklauseln jedoch auch unersetzliche Vorzüge: Soweit man derartigen Begriffen dieselbe Bedeutung beilegt, können sie viel Information geben, die durch Kasuistik nur umständlich geliefert werden könnte. Sie haben also Abkürzungsfunktion 1 4 8 . Außerdem gewährleisten sie Kontextoffenheit und können dem Wandel von Wertvorstellungen Rechnung tragen 1 4 9 ; denn alles, was zu ihrer Realisierung geeignet ist, kann sich je nach Situation, Stand des Wissens usw. ändern 1 5 0 ; eine solche Flexibilität wäre nicht erreichbar durch Kasuistik. Schließlich haben unbestimmte Begriffe vielfach stark emotionalen Gehalt 1 5 1 , der die Legitimation rechtlicher Entscheidungen unterstützen 143

Lehrbuch, 5/23. Verwaltungsrecht, § 31 I I , S. 185. 145 Topische Jurisprudenz, S. 55. 146/147 Rechtswissenschaft, S. 98; Grenzen des Sexualstraf rechts, A 30, Rz. 27. 144

148

Vgl. v. Savigny, Philosophie, S. 180. Vgl. Engisch, Einführung, S. 126. 150 Vgl. oben 3.1.1.4. 151 Ausführlich v. Savigny, Philosophie, S. 188 ff.; Bochenski, Denkmethoden, S. 55 f. 149

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3 Berufung auf Rechtsquellen

kann. So betonen Wagner / Haag 1 5 2 die emotionale Appellfunktion von Aussagen wie „Der Mensch ist frei". Allerdings wertet Wiethölter, der die „Entzauberung" 1 5 3 des Rechts fordert, derartige emotionale Gehalte für die rationale Rechtsfindung ab: Er meint, daß Begriffe wie „Ordnung und Sicherheit, Gemeinwohl, Freiheit und Gleichheit, Gerechtigkeit, gute Sitten, Treu und Glauben" vielfach als „Zaubermittel" verwandt werden 1 6 4 . Das Recht sei geeignet, „ i n oft gigantischen, strahlkräftigen Leerformeln, bloßen Tautologien, kurzum: reinem Gerede, verführerische Scheinbegründungen anzubieten" 1 5 5 . Wiethölter zitiert dazu Rivarol: „ M i t den Worten Ordnung u n d Freiheit w i r d man das Menschengeschlecht i m m e r wieder v o n der Despotie zur Anarchie u n d v o n der Anarchie zur Despotie führen."

M i t Hilfe exemplifizierender Enumeration lassen sich unbestimmte Rechtsbegriffe und Kasuistik verbinden; so werden bis zu einem gewissen Grad die Nachteile beider Programmierungsformen ausgeglichen 156 . 3.1.1.4.3 Subjektive Merkmale Eine wichtige A r t imbestimmter Begriffe sind subjektive Merkmale. Sie sind i m heutigen Recht von großer Bedeutung: Jede Legitimation einer Entscheidung des Rechtsanwenders durch eine fremde Bewertung knüpft an subjektive Merkmale an („Wille des Gesetzgebers", „Wille des Gesetzes", „Parteiwille", „allgemeines Rechtsbewußtsein" usw.) 1 5 7 . Ferner beruhen rechtlich relevante Gesichtspunkte wie Zurechenbarkeit von Verhalten an Rechtssubjekte 158 und Bestimmung von Interessen 1 5 9 weitgehend auf subjektiven Merkmalen. Subjektive Merkmale beziehen sich scheinbar unmittelbar auf geistig-seelische Zustände oder Vorgänge. Z u Recht aber stellt Brecher 1 6 0 die Frage: „Gibt es überhaupt psychische Tatsachen?" R y l e 1 6 1 erklärt aufgrund eingehender sprachtheoretischer Analysen subjektive Merkmale als Dispositionsbegriffe: Dispositionsbegriffe können nur i n beobachtbaren Ereignissen beschrieben, jedoch durch eine derartige Be152 153 154 155 156 157 158 169 1