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German Pages 480 Year 2005
STEFAN KOSLOWSKI
Zur Philosophie ,von Wirtschaft und Recht
Philosophische Schriften Band 60
Zur Philosophie von Wirtschaft und Recht Lorenz von Stein im Spannungsfeld zwischen Idealismus, Historismus und Positivismus
Von
Stefan Koslowski
Duncker & Humblot . Berlin
Die Fakultät für Philosophie und Geschichte der Eberhard-Karls-Universität Tübingen hat diese Arbeit im Jahre 2003 als Habilitationsschrift angenommen.
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
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© 2005 Duncker & Humblot GmbH, Berlin
Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-6053 ISBN 3-428-11657-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706@
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Vorwort Die vorliegende Arbeit fußt auf meiner von der Deutschen Forschungsgemeinschaft mit einem Forschungsstipendium (1997-2000) geförderten Habilitationsschrift an der Fakultät rur Philosophie und Geschichte der EberhardKarls-Universität Tübingen (2003). Ausgehend von den politischen Verwicklungen des jungen Lorenz von Stein schlägt der Text einen Bogen von der Rechts- und Sozialphilosophie Hegels über den Junghegelianismus, Karl Marx, Wilhelm Dilthey und Max Weber zu dem ,,Methodenstreit" zwischen der ,,Historisch-Ethischen" und der "Österreichischen Schule der Nationalökonomie". Das "lange" 19. Jahrhundert spiegelt sich nicht zuletzt in dem "langen Weg" von der idealistischen Philosophie zur modemen Nationalökonomie. Beides: der weite Weg wie die Widersprüche zwischen Philosophie und Nationalökonomie, spiegelt sich in der Person Lorenz von Steins. Ich möchte meiner Familie, Herrn Prof. Dr. Georg Wieland und der DFG, namentlich Herrn Dr. Thomas Wiemer, fiir vielfältige und hilfreiche Anregungen und Kritik danken. Dank ihrer jahrelangen Unterstützung wandelten sich Form und Inhalt des Projekts erheblich, und die "Grenzüberschreitungen" zwischen Philosophie, Geschichte, Soziologie sowie den Rechts- und Wirtschaftswissenschaften wurden verständlicher. Ich danke dem Verlag Duncker & Humblot fiir die geduldige und sorgfältige Betreuung dieses Buches. Last, but not least möchte ich mich sehr herzlich bei Frau Anna Maria Hauk M.A. rur die überaus sorgfältige und hilfreiche Schlussredaktion bedanken. Dank ihrer sprachlichen Präzision wurde mancher Buchstabe zurechtgerückt, "stellte das rechte Wort sich ein". Hannover, im November 2004
Stefan Koslowski
Inhaltsverzeichnis Einleitung ........................................................................................................ .......... 11 A. System und Geschichte im Jugendwerk Steins ................................................ 22 I.
11.
Zwischen Wissenschaft und Politik .............................................................. 1. Lorenz von Stein als preußischer Geheimagent ....................................... 2. Agitation und Wissenschaft ..................................................................... 3. Karl Marx und Lorenz von Stein: Ideologiekritik versus Wissenssoziologie und der Revisionismusstreit in der SPD .................... 4. Die Vision Lorenz von Steins ............................. ...................................... 5. Nach dem Ende politischer Träume .........................................................
28 29 32 43 51 55
Hegel und die Voraussetzungen des eigenen Systems ................................... 63 I. Utopie und Ideologie ................................................................................ 67 2. Hegel und der Geist der Utopie ................................................................. 74
111. Zusammenfassung ......................................................................................... 89 B. Geistmetaphysik, Philosophiegeschichte und Historische Soziologie bei Hegel, Karl Marx, Lorenz von Stein, Wilhelm Dilthey und Max Weber ....... 92 I.
Metaphysik (Logik) und praktische Philosophie bei Hegel ........................... 94 I. Spekulatives Denken und Wissenschaft ................................................. 102 2. Das "wahre" Subjekt und die Faktoren der Geschichte .......................... \09 3. Das System der schlechten Unendlichkeit .............................................. 111 4. Revolution und Reform .......................................................................... 114 5. Der Staat als konkrete Allgemeinheit und Wahrer des Gerechten .......... 119 6. Metaphysik und Politik in HegeIs Rechtsphilosophie ............................ 126 7. V om Weltgeist zum revolutionären Subjekt ........................... ............... 129
11.
Metaphorik der Persönlichkeit und gesellschaftswissenschaftliche Analyse des Bewusstseins: Grundlagen der Steinschen Wirklichkeitswissenschaft ... 1. Kategorientafel und Zeitverhältnisse ...................................................... 2. Leben, Recht und Persönlichkeit ............................................................ 3. Rechtsbegriffund Lebensverhältnis ....................................................... 4. Der doppelte Inhalt des Rechts: Recht als Gegenstand und Gegenstände des Rechts ................ ................................................. ........ 5. Rechtsbegriffund Lebensbegriff ............................................................ 6. Individuum, Gesellschaft und "Staatspersönlichkeit" ............................
138 147 154 166 169 172 176
Inhaltsverzeichnis
8
7. Staatspersönlichkeit und Judikative ...................... ............ ..................... 184 8. Zu den Voraussetzungen der "personalistischen Gesellschaftslehre" .... 186 9. Die wahre Philosophie der Tat und die Identitätsphilosophie der Arbeit 19 I III. Erleben und Verstehen, Begreifen und Gestalten: Dihhey und Stein ..... ..... 207 I. Kategorialer Grundansatz und phänomenologisches Vorverständnis ..... 211 2. Wahrnehmen, Erleben und Verstehen bei Wilhelm Dihhey .................. 219 IV. Idee und Idealtypus: Von der Phänomenologie des Geistes zur verstehenden Soziologie ....... ...... ............. ............ ............................... ... I. "Begriff' und "Idealtypus" als "Methodologien" ................................... 2. Vom Kampfletzter Werte und dem Sinn der Geschichte ....................... 3. Der Methodenpluralismus und das Verstehen bei Lorenz v. Stein, Wilhelm Dilthey und Max Weber .......................................................... V.
Exkurs: Vom Idealismus zum Messianismus: Graf August von Cieszkowski und die "Philosophie der Tat" ........ ....................... ...... .... I. Aufnahme und Transformation des HegeIschen Monismus zu einem organischen, bipolaren Denken ................. ......... .................................... 2. Die Teleologie der Weltgeschichte ........................................................ 3. Messianismus und Wirklichkeitswissenschaft .......................................
227 228 246 254 260 269 281 289
VI. Zusammenfassung und Übergang zu C: Der Persönlichkeitsbegriff und die Wissenschaft(en) des wirklichen Lebens ........................................ 297
C. Wirtschaftsanthropologie und Wirtschaftsphilosophie .................. ...... ...... ... 305 I.
11.
Das Königtum der gesellschaftlichen Reform bei Lorenz von Stein ........... I. Der Frühsozialismus als Herausforderung an die "Klassische Wirtschaftstheorie" ............................... ............ ..................................... 2. Das soziale Königtum bei Saint-Simon und Lorenz von Stein ............... 3. Das soziale Königtum und die "Gesellschaft des gegenseitigen Interesses" bei Lorenz von Stein ...... ..... .............. ...... ............................. 4. Der "gute König" und das "soziale Königtum" ..... ................. ................ 5. Der arbeitende Staat und die wirtschaftliche Verwaltung ......................
311 311 318 322 328 334
Geschichtsphilosophie und "Historische Soziologie" ................................. 337
III. Wirtschaftspolitik und Wirtschaftstheorie ................................................... 349 I. Adam Smith und die "persönliche Preistheorie" .................................... 358 2. Die Nationalökonomie und die Philosophie der Individualität .............. 364 IV. Steins Darstellungsweise und die nicht vorhandene Steinschule ................. 376 V.
Lorenz von Stein im Spiegel des Methodenstreits ...................................... 389 I. Gustav von Schmoller und Lorenz von Stein ......................................... 398 2. Der "Menger-Nekrolog" und die "Österreichische Schule" ................... 407
VI. Zusammenfassung und Schluss: Die Philosophie der Freiheit und die soziale Weh ........ ..... ..... .................................................................. 4 I 7
Inhaltsverzeichnis
9
Anhang I: Stein und der Idealismus .................................................................... 423 Anhang 11: Lorenz von Stein und die Ziele der Bildungspolitik .......................... 426 Literaturverzeichnis ............................................................................................... 435 l.
Quellen ........................................................................................................ 435
H.
Sekundärliteratur ......................................................................................... 444
Personenregister ..................................................................................................... 457 Sachregister ............................................................................................................. 464
Einleitung 1989 brach nach Jahren der im Ausland weitgehend ignorierten Stagnation der ,,Reale Sozialismus" in Deutschland zusammen. In der "Deutschen Demokratischen Republik" hatten der Primat der Politik und die diktatorische Herrschaft der sich als Avantgarde der Arbeiterklasse begreifenden sozialistischen Einheitspartei weder die Freiheit einzelner noch die Versorgung aller hergestellt, geschweige denn bewahrt. Der Implosion der DDR folgte der Zusammenschluss der beiden Staaten in Deutschland. Damit waren die Nachkriegszeit beendet und die europäische Geschichte aus einer über vierzig jährigen Paralyse erwacht. Das Jahr 1989 markiert das defmitive Scheitern der innerweltlichen Heilserwartung des Marxismus, einer Metaphysik ohne Transzendenz. Der Zusammenbruch der sozialistischen Staatsmaschine in Deutschland war weniger die Folge innerdeutschen Wandels als vielmehr ein Reflex auf den Umbruch innerhalb der Sowjetunion. Dort führte der Versuch, einen sozialistischen Rechtsstaat zu schaffen, zum Ende des Sozialismus und in eine Gesellschaft, die den Markt sucht, ohne das Recht und die Freiheit des einzelnen zu sichern. Kurz: Der Widerlegung der Marxschen Prophetie folgt nicht das Aufblühen alternativer Zukunftsentwürfe, sondern - so scheint es - das Ende aller großen Theorie. Statt die weltanschaulichen Herausforderungen des Umbruchs anzunehmen, begnügte sich die Politik mit der Versicherung, dem Osten den Wohlstand des Westens zu bringen. Die wiedererlangte Einheit erschien so lediglich als ein Finanzierungsproblem; die ideologische Herausforderung wurde ebenso unterschätzt, wie die Chance vertan, Politik und Gesellschaft zu erneuern. So kam es, dass nur neun Jahre nach dem Zusammenbruch der totalitären Herrschaft im Osten die zum Sozialdemokratismus gewendete alte Staatsrnacht wieder politische Verantwortung übernahm: Statt Aufbruch scheint ihr Motto Rückkehr zu einem Sozialismus mit menschlichem Antlitz. Waren nach dem 11. Weltkrieg in den westlichen Besatzungszonen - dank besonnener Besatzungspolitiker, weitblickender Staatsmänner und entschlossener Wirtschaftsreformer wie George F. Kennan, Konrad Adenauer und Ludwig Erhard - Politik und Wissenschaft auf Gesellschafts- und Wirtschaftskonzepte zurückgekommen, die bereits zwischen den beiden Weltkriegen angelegt, aber nicht akzeptiert worden waren, folgte der deutschen Wiedervereinigung weder in der Philosophie noch in den Sozial- und Verhaltens wissenschaften ein neuer
12
Einleitung
Aufbruch. Über dem wieder offenen Meer Nietzsches zieht - so scheint es -
eine Eule ihre Kreise, deren Blick nur nach innen und in die Vergangenheit zielt. So hatten weder Hegel und Marx, noch konservative, sozialdemokratische und liberale Denker des 19. Jahrhunderts das Ende der Geschichte erwartet. Wenn in einer Zeit, wo der theoretischen Physik die Übergänge zwischen Stoff und Form, Materie und Geist fließend werden, die Mathematik in der Computertechnologie alle Lebensbereiche durchdringt und die planerische Gestaltung der Zukunft zum integralen Bestandteil der Gegenwart jedes Einzelnen werden, dem Zusammenbruch einer, zugegeben weltbewegenden Ideologie keine Neubesinnung folgt, belegt dies den Mangel synthetischer Vorstellungskraft; es zeigt das Verkümmern geisteswissenschaftlicher Möglichkeiten, nicht das Scheitern aller Theorie. Vor diesem Hintergrund lohnt es daran zu erinnern, dass der Wechsel zwischen Hybris und Niedergeschlagenheit ein Phänomen ist, das die gesamte Entwicklung der Sozial- und Staatsphilosophie seit Platon und Aristoteles begleitet hat. Platon entwirft seinen Idealstaat als Abbild der geläuterten Seele, erteilt Dionysios von Syrakus kluge Ratschläge und zieht sich nach dem Geplänkel mit dem Tyrannen von der Welt enttäuscht zUIÜCk. Dabei beklagt schon er die Intransigenz der Macht: Wäre ... die Vereinigung von Philosophie und politischer Macht in einer Person zu Stande gekommen: so wäre in der ganzen Menschheit ... das Licht eines neuen moralisch-politischen Systems durchgedrungen, und die Welt wäre von der Wahrheit des Satzes überzeugt worden, daß kein Staat und kein einzelner Mensch je glücklich werden kann, wenn er nicht mit denkendem Geiste in Gerechtigkeit sein Leben hinbringt, mag er nun in seinem Inneren den rechten Geist sich angeeignet haben oder mag er unter der Führung der vom heiligen Geiste erfüllten Männer durch praktische Gewöhnung nach der rechten Methode zu jenem Leben erzogen und herangebildet worden sein. I
Das Leiden an einer uneinsichtigen Welt schwingt bei allen Utopien und Gesellschaftsentwürfen mit; es bestimmt mal stärker, mal schwächer die Argumentation wie das Selbstverständnis ihrer Protagonisten und lohnte seinerseits wissenssoziologisch untersucht zu werden. Utopien antworten nicht nur auf Ängste und Hoffnungen, sie nehmen auch die Zukunft vorweg. Wenn hinter dem utopischen Nebel ein zukunftweisendes Konzept hervortritt, wird oft vergessen, dass es anfangs nur ein Traum, eine I Platon, Sämtliche Werke in zehn Bänden Griechisch und Deutsch. Nach der Übersetzung Friedrich Schleiermachers, ergänzt durch Übersetzungen von Franz Susenmihl und anderen, herausgegeben von Karlheinz Hülser, 10. Bd., Frankfurt a. M. 1991,7. Brief, 335d-335e, S. 341.
Einleitung
13
philosophische Idee waren, an deren Ende harte Fakten eine neue Wirklichkeit schaffen. Aufstieg und Niedergang des Deutschen Idealismus zeigen dies deutlich: seinen theologischen und religionsphilosophischen Ausgangspunkt, die Verquickung mit den Idealen der Französischen Revolution und den Umschlag in sozialrevolutionäre Bewegungen. War von seinen Protagonisten 1. G. Fichte noch ganz dem revolutionären und nationalen Pathos verpflichtet, so suchte Hegel mit seiner Dialektik alle Gegensätze miteinander zu "versöhnen", während Schelling in seinem Spätwerk zum konservativen Mahner wurde. Alle drei lieferten gemeinsam die Vorgaben fUr die unterschiedlichen S ynkretismen in Spätidealismus, Junghegelianismus und Restaurationsphilosophie. Ihre Mängel fUhrten nach dem Zusammenbruch des Deutschen Idealismus zugleich zu einem distanzierteren Verhältnis gegenüber der Philosophie. Einer der wenigen, die bei allem Realismus in der Sache nie ihren Ausgangspunkt in der idealistischen Philosophie verleugneten, war Lorenz von Stein. Während des Studiums trat er über Arnold Ruge mit der HegeIschen Linken in Verbindung, stand jedoch von Anfang an dem Junghegelianismus distanziert gegenüber und besann sich, angeregt durch rechthistorische Studien, auf die vorkantische Staats- und Sozialphilosophie in Frankreich und Deutschland; er gewann auf diese Weise frühzeitig eine Blickweite, die den Junghegelianern verschlossen blieb; er wusste, dass Weisheit und Wirklichkeit nicht zusammenfallen, dass Denken, Erkennen und Handeln dazu dienen, eine Wirklichkeit zu gestalten, die das theoretische Konzept mindestens so beeinflusst, wie dieses die Realität erfassen will; deshalb interessierten ihn die wirklichkeitsprägenden Elemente und Faktoren in Gesellschaft und Staat wie die Ideen, denen beide dienen sollten; dadurch fand er zu einem pluralen Wissenschaftsverständnis und lehnte monokausale Erklärungen des gesellschaftlichen Wandels und den Höhenflug einer sich selbst überschätzenden Philosophie ab; er blieb gleichwohl dem holistischen Anspruch treu, dass " ... alles nur durch das Zurückgreifen auf die tiefsten Elemente alles Daseins, welche die Philosophie bietet, zu einem letzten Abschluß fUhren kann"2. Die Gesellschaft und der Wandel ihrer Ordnungen und Mächte wurde ihm gleichermaßen zur wissenschaftlichen Herausforderung wie zu dem Boden, auf dem die Staatswissenschaft und Philosophie als Grundlage der Rechts- und Staatstheorie aufzubauen haben. Das plurale Wissenschaftsverständnis einerseits und der holistische Anspruch seiner philosophisch fondierten Staats- und Gesellschaftslehre, Finanzwissenschaft und Wirtschaftstheorie andererseits bilden die beiden Pole, zwischen denen ein wahrhaft geniales Werk sich entfaltet. Die komplexe Spannung zwischen beidem, der philosophische Anspruch einerseits und die empirische Gesellschaftsanalyse andererseits, erklärt, weshalb " ... 2
Stein, L.
V.,
Lehrbuch der Nationalökonomie, 3. Aufl. 1887, Wien, S. VII.
14
Einleitung
dieses Werk so rasch vergessen wurde und über längere Zeitspannen hinweg fast jeglichen Einfluß auf die weitere Forschung verlor"3. Dabei stellt die Vielschichtigkeit einer zum einen auf philosophische Vorgaben aufbauenden, zum anderen in den "Tatsachen" die Wahrheit des Prinzips suchenden Argumentation die Interpreten vor Herausforderungen: Nicht das Übermaß an Philosophie, sondern das gerade Gegenteil, die nicht genügend aufgedeckten Prämissen des Werkes erklären, dass eine immer kurzlebigere Zeit in dem angeblich letzten Vertreter des Deutschen Idealismus " ... in der Nationalökonomie ... " nicht mehr sah als " ... ein Kind jener Zeit, die von Hegel gelernt hatte, in Widersprüchen und inhaltslosen Begriffen zu denken"4. Diese Arbeit fußt im Gegensatz dazu auf der These, dass Werk und Person Lorenz von Steins, gerade weil sie auf der Höhe ihrer Zeit standen und blieben, nicht nur die Argumentationsfiguren idealistischer Systeme beherrschten; Stein wandte deren Theorie zudem auf sich selbst an, sah ihre Umwandlung zur Utopie des Proletariats und wandte sich als einer der ersten der empirischen Sozialforschung zu. Am Anfang des Werks stehen Studien zum Sozialismus und Kommunismus in Frankreich wie zur französischen Rechtsgeschichte. In diesen war er einerseits von der Hegeischen Begriffswelt und dem Primat der individuellen Freiheit und Arbeit der Persönlichkeit abhängig, andererseits dem Werden neuer Gesellschaftsformen aus "altüberlieferten Zuständen", kurz der Historischen Schule des Rechts verpflichtet. Hier erarbeitet er sich die Grundlagen, auf denen sein immer ausgreifenderes Schaffen ruht. Forschungsaufenthalte in Frankreich wurden von politischen Verwicklungen und der Auseinandersetzung mit den Junghegelianern begleitet; diese klingen bereits bei den ersten Veröffentlichungen in den Hallischen Jahrbüchern - dem maßgeblichen Sprachrohr des Junghegelianismus - an, führen im Spätherbst des Jahres 1842 nach der Publikation seiner Arbeit über den Socialismus und
3 Heilmann, M., Lorenz von Stein und die Grundprobleme der Steuerlehre. Ein Beitrag zur Geschichte der Finanzwissenschaft, Heidelberg 1984, S. I. Diese exzellente Arbeit verkennt, dass Stein bei allen Fehlern im Einzelnen weder in der Finanzwissenschaft noch in der Staatstheorie und Verwaltungslehre Epochemachendes geschaffen hätte, wenn er sich nicht unbefangen einem bestimmten mehr oder weniger eng begrenzten Ausschnitt der Realität als FachwissenschaftIer ... [gewidmet hätte] und in der Konzentration der Gedankenarbeit auf dieses Spezialgebiet seine wissenschaftliche Aufgabe ... " (ebd.) erblickt hätte. Weil er bei des war: Philosoph und FachwissenschaftIer, stieß sein Werk bei Philosophen und Gesellschaftswissenschaftlern wie Juristen und Ökonomen aufVerständnisschwierigkeiten, wurde er von den sich als Fachphilosophen verstehenden Philosophieprofessoren wie den von ihm berührten Fachdisziplinen geschnitten. W"
4
Grünfeld, E., Lorenz VOn Stein und die Gesellschaftslehre, Jena 1910, S. 16.
Einleitung
15
Communismus des heutigen Frankreich zu einem Zerwürfnis mit dem ehemaligen Mentor Arnold Ruge, und 1844 endgültig zum Bruch mit der junghegelianischen Bewegung.
Der Wechselbezug zwischen Ideen und Interessen lässt ihn nicht los. Die wissenssoziologische Analyse von Kommunismus und Sozialismus verdeutlicht ihm nicht nur den Ursprung des revolutionären Interesses im von den Verheißungen der bürgerlichen Revolution ausgeschlossenen Proletariat, sondern auch die Ansprüche des Besitzes als des eigentlichen Herrn über Gesellschaft und Staat. Diese Einsicht hatte er zwar schon der Aristotelischen Politik, " ... dieses entschieden bedeutendste[n] und großartigste [n] aller Aristotelischen Werke .. ."5, entnehmen können, seine rechts- und philosophiehistorischen Studien führten ihm aber vor Augen, dass die Zeit über das Altertum und dessen Gesellschaftskämpfe sprichwörtlich hinweg zu komplexeren Lebensverhältnissen gefunden hatte; und die werden ihm zufolge weder von der Philosophie noch von der Rechtswissenschaft angemessen erfasst. In der dritten Auflage seines Buches über den Sozialismus und Kommunismus in Frankreich, die völlig neu bearbeitet als dreibändiges Werk unter dem Titel Die Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich von 1789 bis auf unsere Tage erschien, entfaltet er im ersten Band den ,,Begriff der Gesellschaft und die Gesetze ihrer Bewegung". Anders als der reaktionäre Konservativismus oder die Sozialrevolutionäre Marx und Engels lässt er in dieser ersten "Gesellschaftslehre" weder die Gesellschaft im Staat noch den Staat in der Gesellschaft aufgehen; stattdessen kehrt der Gegensatz von Ideen und Interessen in beiden gedoppelt wieder. Was zunächst als bloße Variation der sehen Sozialphilosophie am Beispiel Frankreichs erschien, legte in Wahrheit den Grundstein zu einem sehr produktiven Gelehrtenleben6; Carl Menger, der Begründer der Ös-
5 Stein, L. V., Die Verwaltungslehre, Teil 5: Das System und die Geschichte des Bildungswesens der alten Welt, 2. Aufl. 1883, Stuttgart (Aalen 1975), S. 280. 6 Nach Brauneder, W., Lorenz von Steins Wirken in Wien, in: Brauneder, W. I Nishiyama, K. (Hrsg.), Lorenz von Steins "Bemerkungen über Verfassung und Verwaltung" von I 889 zu den Verfassungsarbeiten in Japan, Frankfurt a. M. u. a. 1992, S. 1738 (21), war Stein in Wien durchaus ein "Star", der sich keineswegs über mangelnden Erfolg beklagen musste. Sieht man die vielen Auflagen seiner verschiedenen lehrbücher, erscheint Brauneders Bericht weitaus glaubwürdiger als die Behauptung von KnolI, R. / Kohlenberger, H., Gesellschaftstheorien. Ihre Entwicklungsgeschichte als Krisenmanagement in Österreich 1850-1938, Wien 1994, S. 59, wonach Stein in Wien die Auseinandersetzung mit sozialen Themen abgebrochen und sich resignativ mehr und mehr zurückgezogen habe.
16
Einleitung
terreichischen Schule der Nationalökonomie7, bemerkte dazu, dass allein die Schriften Lorenz von Steins eine kleine Bibliothek ergäben. Quantität ersetzt nicht Qualität; deshalb sollen vorab die verschiedenen Abteilungen der auf die Geschichte der sozialen Bewegung aufbauenden ,,Bibliothek" Steins charakterisiert werden: 1852 und 1856 erscheinen die beiden Teile seines in der Forschung nur als Torso wahrgenommenen System der Staatswissenschaft, das System der Statistik, der Populationistik und der Volkswirtschaftslehre sowie die erste Abteilung der ursprünglich auf zwei Teile angelegten Gesellschaftslehre. Diese entfaltet den in der Geschichte der sozialen Bewegung eingeführten Begriff der Gesellschaft, mündet in die Lehre von den Gesellschaftsklassen und deren Bewegungsgesetzen und sollte mit der Einsicht schließen, dass Der tiefere Blick in die gesellschaftlichen Verhältnisse ... sich uns in der That erst dann [eröffnet], wenn wir das Gegenwärtige als ein Besonderes kennen lernen, in dem weder die Gesammtheit der Verhältnisse noch auch die ganze Summe unserer Aufgaben erfüllt ist. 8 Die zweite Abtheilung soll die Darstellung des Wesens und der Geschichte der ersten Gesellschaftsform, der Geschlechterordnung, enthalten. Ich hoffe, sie bald vollenden zu können. 9
Das System der Staatswissenschaft vollendet Steins Jugendarbeiten. Es fasst zusammen, was er sich bis dahin erarbeitet hatte; gleichzeitig weist es mit dem Übergang zur Lehre von den Gesellschaftsformen in eine Zukunft, in der nicht mehr die Kohärenz des Systems, sondern das Leben selbst zum Prüfstein gedanklicher Arbeit wird. Wer im System der Staatswissenschaft nur einen Torso sieht, weil die Lehre von den Gesellschaftsformen ebenso fehlt, wie die in der sozialen Bewegung plakativ hingeworfene Staatslehre unausgearbeitet liegen bleibt, verkennt den Charakter eines Werkes, das - wenn man so will - Steins Lernphase beendet und in seine eigentliche Lehrzeit überleitet; denn statt der im System angekündigten "zweiten Abteilung" über die Geschichte der Gesellschaftsformen entstanden nun die Lehrbücher der Volkswirtschaftslehre und der Finanzwissenschaft, sowie die auf acht Teile angelegte Verwaltungslehre. Dort werden die verschiedenen Gesellschaftsformationen und deren wechselseitige Übergänge nicht mehr abstrakt dargestellt, sondern historisch und systematisch mit sachlichen Problemen und Aufgaben in Gesellschaft und Staat verknüpft. Das System der Staatswissenschaft endet mit der Einsicht,
7
Vgl. dazu C.V. dieser Arbeit.
Stein, L. v., System der Staatswissenschaft 11: Die Gesellschaftslehre. Erste Abtheilung. Der Begriff der Gesellschaft und die Lehre von den Gesellschaftsklassen, Stuttgart, Augsburg 1856, S. 427. 8
9
Ebd., S. 6.
Einleitung
17
... daß die Geschlechter und die ständische Ordnung mit der gewerblichen Ordnung mit ihren Klassen zugleich vorhanden sind, und daß mithin in der Wirklichkeit das volle Leben der menschlichen Gesellschaft erst in der beständigen Berührung und Kreuzung aller Klassen aus allen drei Gesellschaftsformen besteht. 10
Das Lehrbuch der Volkswirtschaft löst sich von der "tieferen philosophischen Begründung" des Systems und begreift sich implizit als Teil des den Begriff und sein System sprengenden persönlichen Lebens; in der Volkswirtschaft steht das bereits in der "sozialen Bewegung" als selbständiger Organismus gekennzeichnete Güterleben neben Gesellschaft und Staat als " ... eine selbständige Wissenschaft, während andrerseits in demselben Sinne die bisherige beständige Verschmelzung der Volkswirthschaft mit den Erscheinungen und Einflüssen der Gesellschaft und des Staats sehr leicht erklärlich sind" 1I. Begreift das System der Staatswissenschaft sich noch als positive Philosophie, indem es die realphilosophischen Vorgaben in der Wirklichkeit wieder findet, d. h. positiv belegt, hat das Lehrbuch der Volkswirtschaft den Ausgangspunkt gewechselt. Stieg das System von der Höhe des Begriffs zur Realität herab, verschmelzen im Lehrbuch der Volkswirtschaft philosophische Deduktion und empirische Induktion zu gleichberechtigten Methoden der neuen Wirklichkeitswissenschaft. Die Volkswirtschaftslehre greift auf die Darstellung des Systems der Staatswissenschaft und der darin enthaltenen Gesellschaftsformenlehre zurück; die zwei Jahre später folgende Finanzwissenschaft verbindet dagegen den Staatsbegriff und die Staatsformenlehre aus der "Geschichte der sozialen Bewegung" mit den Grundlagen der egalitären Erwerbsgesellschaft, verfolgt die historische Heraufkunft der rationalen Staatsverwaltung wie die Emanzipation des Staats aus feudal-hierarchischen Bindungen und erkennt das Fundament des rationalen Steuersystems, die allgemeine Steuerpflicht als Voraussetzung einer soliden Staatsfinanzierung und systematischen Finanzwissenschaft wie der individuellen Freiheit. Zeigt die Volkswirtschaftslehre die Verbindung der Wirtschaftsordnung mit den Gesetzen des Güterlebens und den gesellschaftlichen Mächten, legt die Finanzwissenschaft den Schwerpunkt auf Entstehung und Eigendynamik der ,,rationalen Staatsanstalt" und ihres Haushaltes; das Lehrbuch der Volkswirtschaftslehre und das der aus ihr hervorgehenden Nationalökonomie bilden den Schlussstein der Gesellschaftslehre, während die Finanzwissenschaft und wirtschaftliche Verwaltung (Volkswirtschaftspflege) die Grenze und das Maß staatlicher Organisationsmacht ermitteln. Das Lehrbuch der Finanzwissenschaft steht somit am Anfang der Verwaltungslehre, dem Abschluss der ideell auf die
10
Ebd., S. 427.
II
Stein, L. v., Lehrbuch der Volkswirthschaft, Wien 1858, S. 2.
18
Einleitung
Philosophie, tatsächlich aber auf die Gesellschaftswissenschaften aufbauenden Staatswissenschaft. Deren unterschiedliche Zweige verfolgen " ... dieselbe Idee einer fiir das Ganze streng organischen, fiir die einzelnen Begriffe streng dialektischen Darstellung mit beständiger Rückfiihrung auf die Grundbegriffe der Gesellschaftslehre .. ."12; denn das in der Welt abstrakter Begriffe herrschende und vom Staat verkörperte Allgemeine ist in der Wirklichkeit Diener der in der Gesellschaft miteinander ringenden unterschiedlichen Interessen. Überblickt man das Gesamtwerk hinsichtlich der Verbindung von System und Geschichte, Real- und Formalwissenschaft, fällt auf, dass es von Anfang bis Ende in der Spannung zwischen Ideen und Interessen, Idealität und Realität entwickelt wird. Schon die Studien über den Kommunismus und Sozialismus in Frankreich verfolgen neben der Entfaltung des Interessengegensatzes - d. h. zunächst den zwischen Feudalbesitz und Erwerbsgesellschaft, später innerhalb der egalitären Industriegesellschaft13 - die zunehmende Bedeutung der Bildung. Nicht die wirtschaftliche Macht als solche, sondern die Bedeutung der Bildung als wirtschaftliche Macht kennzeichnet rur Stein den Aufstieg arbeitender Stände auf dem Weg zur Gegenwart. Arbeit und Bildung werden ihm zu Synonymen der gesellschaftlichen Freiheit wie des sich aus feudalhierarchischen Bindungen emanzipierendenjreien Staates. Die von Arbeit und Kapital geschaffene "Warenwelt" verliert sich keineswegs in Hegels schlechter Unendlichkeit, ihre Objekte ermöglichten vielmehr die Selbstverwirklichung des Einzelnen inmitten der gesellschaftlichen Mächte. Individuum und Gesellschaftsrnacht bedürften des Staats als Korrektiv und Garanten ihrer Freiheit. Bevor es dazu kommen könne, müsse die Klammer zwischen Eigentum, Wert und Besitz wie die zwischen persönlicher und politischer Macht und damit die Grundlagen von Geschlechterordnung und ständischer Gesellschaft verschwinden. Erst in der egalitären Erwerbsgesellschaft und der rational-allgemeinen Verwaltung, d. h. im arbeitenden Staat, seien die Voraussetzungen individueller und gesellschaftlicher Freiheit wie die des Rechtsstaates gegeben. Die Entfaltung dieser Überzeugung in den eigenständigen Disziplinen Rechtsgeschichte, Nationalökonomie, Finanzwissenschaft und Verwaltungslehre setzt den Rahmen; darin erscheinen Philosophie- und Bildungsgeschichte als Elemente des Bildungswesens, das Bildungswesen als ein Teil der Verwaltungs lehre und diese als ideelle Wirklichkeitswissenschaft neben ihren von der Gesellschafts- und Volkswirtschaftslehre bearbeiteten Realfaktoren. Die Rechtswissenschaft bildet hierzu das allen gemeinsame formale Band und die wissenschaftliche Einheit gegensätzlicher Lebensverhältnisse,
12
Stein, L.
13
Dazu: Koslowski,S. (1989), S. 103-154.
V.,
Lehrbuch der Finanzwissenschaft, Leipzig 1860, S. VI.
Einleitung
19
d. h. die wirkliche Identität einander widersprechender Glieder; sie vollendet formal die Staatswissenschaften, kann jedoch deren Inhalte nicht selbst gestalten l 4; daraus ergibt sich die Ablehnung der reinen Rechtslehre und einer selbstgenügsamen reinen Philosophie, und der Soziologie als eigenständiger Wissenschaft. Wie die Philosophie ihre gesellschaftlichen Voraussetzungen zu wenig reflektiere, setze die Soziologie falsch an, wenn sie das Vexierspiel der Gesellschaft zum absoluten Grund der gesellschaftlichen Macht und staatlichen Organisation erhebt, ohne deren unterschiedlichen Zweck zu berücksichtigen. Der philosophische Begriff erkenne nur das Gleiche im unablässigen Wandel des Besonderen, weshalb "... unsere Philosophie, welche sich ein wenig in dem Mikrobenthum dialektischer Prozesse zu verlieren droht, nachdem sie den Begriff des Eigenthums ziemlich aus ihrem Gesichtskreis verloren hat ... "15, so wenig den Herausforderungen der Zeit gewachsen sei, wie die Existenz eines Faches, wonach " ... es gar nichts mehr gibt, was nicht in irgend einer Weise Soziologie wäre, inklusive Elektrizität und Bakterien" 16, wissenschaftlich begründet sei. Diese Studie möchte zeigen, dass Philosophie, Gesellschaftslehre, Wirtschaftswissenschaft, Verwaltungslehre, Jurisprudenz und die Staatswissenschaften (Rechts- und Finanzwissenschaft, Verwaltungslehre und Volkswirtschaftspolitik) zwar keinen monolithischen Block darstellen; ihr Wechselbezug bildet gleichwohl eine organische Einheit, die als Wirklichkeitswissenschaft das komplexe Verhältnis zwischen Individuum, Gesellschaft und Staat angemessen erfasst. In diesem Ganzen stehen Individuum, Gesellschaft und Staat nur relativ autonom neben einander; Thema und Kontrapunkt wechseln beständig zwischen ihnen und gewinnen ihre Kontur allein aus dem Gegensatz zwischen den jeweiligen Pro- und Antagonisten der menschlichen Gemeinschaft. In diesem Modell erklären welthistorische Individuen, gesellschaftliche Mächte und staatliche Ordnungen gleichgewichtet den historisch-systematischen Wandel ihrer qualitativen Beziehung zu einander. So verstanden treten im nachmetaphysischen Zeitalter Geschichtswissenschaft, Nationalökonomie, Gesellschaftslehre und Staatstheorie an die Stelle der praktischen Philosophie.
14
Vgl. dazu B. 11. 2. -11. 7.
15 Stein, L. V., Handbuch der Verwaltungslehre. Erster Theil. Der Begriff der Verwaltung und das System der positiven Staatswissenschaften, 3. Aufl. 1888, Stuttgart, S. 111 f. 16 Stein, L. V., Brief an Ludwig Gumplowicz (1885), zitiert aus: Gumplowicz, L., Ausgewählte Werke, Bd. IV: Soziologische Essays / Soziologie und Politik, Hrsg.: Salomon, G., Innsbruck 1926 (Aalen 1978), S. 132, Fn. 5.
20
Einleitung
Die Arbeit zeigt zunächst Steins Weg von der Philosophie zur Wirklichkeit, die Herausbildung des neuen Ansatzes in der Auseinandersetzung mit Junghegelianismus und Historismus und wendet sich im zweiten Teil den philosophischen, sozialphilosophischen und "soziologischen Grundbegriffen" Steins zu. Diese werden mit Hegel, Karl Marx, Wilhelm Dilthey und Max Weber verglichen. Daran schließt ein Exkurs über den "konservativen Junghegelianer" Graf August von Cieszkowski: Sein Werk zeigt exemplarisch, wie weit die konsequente Weiterentwicklung der Hegeischen Geschichtsphilosophie der Wirklichkeit entgegenkam, und wo ihr "Umschlag" ins utopische Denken nicht die Realität, sondern den religiösen und politischen Messianismus der polnischen Freiheitsbewegung beeinflusste. Steins Kritik des französischen Frühsozialismus und der englischen ,,Freihandelsschule" führt schließlich in C. zu den Grundlagen seiner Wirtschaftsphilosophie. Darauf aufbauend werden die Transformation seines ursprünglich holistisch-deduktiven Wissenschaftsmodells zur empirischen Sozialforschung und systematischen Wirtschaftswissenschaft dargestellt, um mit den Lehrbüchern der Volkswirtschaft, der Finanzwissenschaft und der Verwaltungslehre das komplexe Gebäude einer Wissenschaft vorzustellen, die Gesellschaftslehre wie Rechts- und Staatstheorie mit der Sozial- und Staatsphilosophie verbindet. Jede tUr sich vielleicht vollendet, aber keine tUr sich fahig, die Wirklichkeit der Lebensgestaltungen zum vollen Verständnis zu bringen. Die letzteren kann ich ... offenbar überhaupt erst dann verstehen, wenn ich sie als organische Thatsachen in ihrer Causalität untersuche und ihre bestimmte Gestalt als das Ergebniss einer Mehrheit von Factoren betrachte, deren Zusammenwirken jene erzeugt haben. Oder wie wir nunmehr glauben sagen zu dürfen, das wahre Verständnis des staatlichen und rechtlichen Lebens der menschlichen Gemeinschaft kann uns niemals weder die Rechtsund Staatslehre tUr sich, noch auch die Rechts- und Staatsphilosophie geben, sondern nur die Staatswissenschaft. 17
Deren Einsicht sei " ... weder reine Beobachtung, welche ja nur die Erscheinung und ihren Wechsel kennt, noch reine Philosophie, welche nur den an sich ... gleichen Begriff begreift" 18. Die Staatswissenschaft gibt diesem Ansatz zufolge der empirischen Untersuchung die qualitativen Fragen vor, wie sie den Realitätsbezug philosophischer Konzeptionen einfordert. So verstanden beschließt sie die Wirklichkeitswissenschaften. vermittelt zwischen ihnen und der Philosophie und beerbt den holistischen Anspruch der idealistischen Philosophie, ohne ihren totalitären Implikationen zu erliegen. Dass das darauf aufbau-
17 Stein, L. v., Die Entwicklung der Staatswissenschaft bei den Griechen, Sitzungsberichte der Philosophisch-historischen Classe der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, 93. Bd., Wien 1879, S. 213-298 (223 f.). 18 Ebd.
Einleitung
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ende Konzept nicht "mit der Sicherheit trunkener Spekulation" (Gustav Schmoller) daher kommt, sondern im Gegenteil dem "Induktionsschluss" der historisch-ethischen Schule der Nationalökonomie überlegen ist und Perspektiven eröffnet, die bis in die Gegenwart reichen, ist Gegenstand dieses dritten Teils der Arbeit. Hier erscheinen die Wirtschafisanthropologie und Wirtschafistheorie des angeblichen Hegelianers Lorenz von Stein im Spiegel der Auseinandersetzung zwischen der ,,Historisch-Ethischen" und der "Österreichischen" Schule der Nationalökonomie, werden Größe und Grenzen seiner Philosophie der Freiheit offenbar.
A. System und Geschichte im Jugendwerk Steins Die Eigenständigkeit des Steinschen Ansatzes wird bereits an der Diskussion zwischen dem "linken Zentrum" und der extremen Linken innerhalb der HegeIschen Schule deutlich. Dass die Theorie nicht nur auf sich selbst zurück gebogen, sondern auch von außen kritisch reflektiert werden müsse, bevor sie sich der Praxis zuwendet, diese Einsicht war schon früh bei den Junghegelianern entstanden. Steins Studienzeit in Kiel fiel mit jener Periode zusammen, in der die Hegeische Schule bereits in links und rechts gespalten war, die Junghegelianer sich um Amold Ruge scharten und in dessen Organ, den Hallischen Jahrbüchern, ihr eigenes Publikationsmittel gefunden hatten. Geldnöte l und das Bewusstsein, zwischen den Schulen (historische und philosophische Rechtsschule) zu stehen, zwingen den Doktoranden dazu, "vor der Zeit" zu publizieren. Er wendet sich an Amold Ruge und findet in dem dreizehn Jahre Älteren zunächst einen wohlwollenden Herausgeber, Freund und philosophischen Lehrer. Unter dessen Einfluss ... wird ... dem jungen Schriftsteller klar, daß es neben dem inhaltlichen Problem von Wissenschaft und Wirklichkeit auch ein solches um die Form gibt, dass über dem Gedanken die Darstellung nicht vergessen sein darf. Er muß erkennen, wie schwer es ist, Wort und Satz an die Idee anzuschließen. 2
1 In seinem ersten Brief an Echtermeyer vom 4.6.1839 schreibt er offen: "Ich habe gehört, daß man für einen angenommenen Aufsatz ein bestimmtes Honorar erhält. Nun hat Sr. Majestät, der König von Dänemark, mich aus einem Waisenhaus hervorgezogen und auch studieren lassen. Jetzt, da ich damit fertig bin, hört die Unterstützung auf - und ich, der ich weder Vater noch Mutter noch Familie oder Vermögen habe, und bei der wirklichen Überfüllung aller Stellen vorläufig auch keine Aussichten, sehe mich in die dringendste Verlegenheit gesetzt, durch die Gnade Sr. Majestät, die vorläufig nur eine halbe ist. Ich muß nun irgend wie versuchen, das Meinige zu tun, und da habe ich versucht, es vor mir selber zu rechtfertigen, wenn ich, obgleich noch nicht reif, öffentlich auftrete" (zitiert nach Nitzschke, H., Die Geschichtsphilosophie Lorenz von Steins. Ein Beitrag zur Geistesgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts, München, Berlin 1932, S. 120, Fn.
2 Schmidt, W., Lorenz von Stein. Ein Beitrag zur Biographie, zur Geschichte Schleswig-Holsteins und zur Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts, Eckemfcirde 1956, S.29.
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Als Ruge ihn auffordert, in den Hallischen Jahrbüchern über den Streit zwischen der historischen und der philosophischen Rechtsschule an der Berliner juristischen Fakultät zu berichten, fühlt er sich dem noch nicht gewachsen. Seine "zunächstliegende" und ihn "drängende" Aufgabe sei die, sich von den Schulen frei zu machen ( ... ) und sich ein eigenes System zu bilden(!). Er weiß, daß seine Zeit und seine Generation ... über den Anfang des Jahrhunderts hinaus sind, nicht bloß der Jahreszahl nach. Ganz überraschend ist seine bereits in einem Briefe vom September 1841 ausgesprochene klare und eindeutige Abgrenzung gegenüber Hegel: ., ... es ist ganz unmöglich, die Wissenschaft des Rechts und des Staats von Hegels Standpunkt aus zur Vollendung zu bringen; und doch bin ich noch nicht imstande, den wahren zu finden. Das erste, was geschehen muß, ist eine Kritik der bisherigen Theorie - der Doktrin der Jurisprudenz überhaupt"3.
Mit den Kontakten zu Echtermeyer und Ruge gerät er nicht nur in den Sog der junghegelianischen Bewegung, es beginnt eine lebenslange Liebe zu Journalistik und Pressewesen. Dass der jugendliche Stein sich am vermeintlichen Quietismus Hegels, aber auch an der irrationalen Kontemplation der Historischen Schule stößt, ... er hier unter dem Eindruck der Jahrbücher steht und sich selbst zu ihnen rechnet, zeigt uns wiederum der Briefwechsel recht deutlich. Es ist mehr als eine bloß konventionelle Phrase, wenn er an Ruge schreibt: .,Die Hälfte aller Fortschritte, die ich mache, verdanke ich dem Bewußtsein, daß ich vorwärts komme; und könnte ich Ihnen mein Inneres darlegen, so würden Sie sehen, welchen Anteil Sie an dieser Überzeugung haben. ,,4
Das Wohlwollen und der Einfluss Ruges verhindern gleichwohl nicht, dass Stein die Deutschen Jahrbücher frühzeitig dazu nutzt, der in den politischen Extremismus abwandernden Hegelschen Linken entgegenzutreten. Schienen ihm 1839 Hegels Philosophie die Zukunft vorwegzunehmen und Ruge eine nahezu unbestrittene Autorität der politischen Publizistik, distanziert er sich drei Jahre später verhalten vom Kurs der Deutschen Jahrbücher. Davor war er der "Zauberkraft der Negation" (Hegel) erlegen, glaubte wie die Junghegelianer, dass mit Hegel die neuen Pfingsten5 angebrochen und die Menschheit tatsächNitzschke, H. (1932), S. 120. 4
Ebd., S. 121.
5 Die Selbstgewissheit der Hegelianer scheint auf bei einem Toast, den die "Philosophische Gesellschaft zu Berlin", eine Gründung der gemäßigten Linkshegelianer K. L. Michelet und Graf August von Cieszkowski, zu Ehren Hegels am 30.3.1843 gab: "Die neuen Pfingsten: ... Und was sich begeben in alter Zeit, / Ihr Freunde, wir erleben es auch noch heut: I Als unser Meister hingegangen, I die Pharisäer mit Spießen und mit Stangen I Den Geist zu fangen zogen aus, I Doch fanden sie ihn nicht im engen Haus. I In alle Länder ist er gedrungen. I Wir predigen ihn schon in fremden Zungen, I Die
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lich ans Ende der Geschichte gelangt sei. Hegels privative Fehler sollten mit dem "subjektiven Idealismus" Fichtes bereinigt werden. "Es liegt die Vermutung nahe, daß Fichte, der ... im Denken Steins während seines ganzen Lebens eine eminent wichtige Rolle spielte, bereits während seiner Studienzeit sein wissenschaftliches Denken mitgeformt hat"6. Ruge sah die schriftstellerische Begabung des Philosophie- und Jurastudenten; dies geht aus einem Brief Ruges an Stein aus dem Jahr 1839 deutlich hervor; zwar bemängelt er bei dem vierundzwanzigjährigen philosophische Lücken, fährt aber fort: Wie sehr wäre es ihnen zu wünschen, wenn sie aus ihrer Kieler und Holsteiner Erde etwas in die Welt könnten, um sich namentlich durch die "sociale" Richtung der neuesten Philosophie gänzlich zu emancipiren und zum Herrn der jetzigen Bewegung zu machen.?
Stein ist weder zum Spiritus rector der junghegelianischen Bewegung noch überhaupt Fachphilosoph geworden; dazu kam es nicht, weil er sich von Anfang an der Komplexität einer Welt stellte, die von keinem System mehr erfasst, geschweige denn angemessen dargestellt werden kann. Zunächst verbündet er sich aber mit den Junghegelianern gegen die historische Rechtsschule und schlägt sich auf die Seite der neuen Strömung. 8 Schweden, die Dänen, verwandt den Germanen, / Sie folgen des größten Denkers Mahnen, / In Frankreich, dem Land freier Bewegung, / Sind sie ergriffen von geistiger Regung, In Polen, wo edle Herzen schlagen, / Ihr Heil ist Hegel, auf den sie's wagen. / Und jenseits des Meeres in der neuen Welt / Man über die Logik Vorlesungen hält. / Mag nun der Schriftgelehrten Schwarm / Sich rüsten mit gewalt' gern Arm, / Sich brüsten mit impotenten Potenzen, / Sich kreuz' gen und segnen mit frommen Essenzen, / Die Schriften Hegels übergeben den Flammen, / Seinen Schreibtisch zum Küchendienst verdammen, / Er lebt und webt und wirket fort / Durch uns sein Geist, sein lebendiges Wort. / Die Welt schreit: ,sie sind voll süßen Weins!' / Wir aber freuen uns unsers Vereins. / Wohlan! So lasset heut zu Ehren / Des Meisters uns die Gläser leeren" (zitiert nach: Kühne, W., Graf August Cieszkowski ein Schüler Hegels und des deutschen Geistes. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Geisteseinflusses auf die Polen, Leipzig 1938 (Liechtenstein 1968), S. 145. 6
Nitzschke, H. (1932), S. 122.
Brief Ruges an Stein vom 19.7.1839. Der Brief befindet sich in Steins Nachlass, dieser im Besitz der Schleswig-Holsteinischen Landesbibliothek. Dort trägt er die Signatur Cb 102. 4. 2:5. 7
8 Stein, L. v., Das Corpus Juris und die historische Schule in ihrem Verhältnis zur deutschen Rechtsentwicklung, in: Deutsche Vierteljahrsschrift, Stuttgart 1845 (Corpus juris I), S. 187: " ... weil sie den seinem Begriffe nach freien Geist nicht von den ihm gegenüber rechtlosen Fesseln altgeschichtlicher Zustände will beherrschen lassen; die Philosophie und die ihr zuströmende Jugend will zunächst eben nur das Prinzip, daß
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Zwar folgt Stein von Anbeginn der auf Anselm v. Feuerbach und Thibaut zurückgehenden philosophischen Rechtsschule, jedoch verliert er über dem System des Rechts das historische Werden der Rechtsordnung nicht aus den Augen. Da er zudem nicht aus der reinen Theorie kam, sondern neben dem Philosophiestudium eine juristische und rechtshistorische Ausbildung durchlief, blieb er dem Alltag verpflichtet. Obgleich er die Philosophie keineswegs gering achtete, war er skeptisch gegenüber allem bloß Prinzipiellen. Philosophie und positives Recht, so seine Meinung, sollten sich ergänzen, und - wo nötig - gegenseitig korrigieren. Angeregt von der über Heinrich Luden vermittelten Tatphilosophie 1. G. Fichtes, war er in Jena " ... aus der falschen Beschaulichkeit des Hegelianismus ... "9 aufgewacht, verlor sich aber nicht im Hyperrealismus der Junghegelianer. Wie Ruge, Heinrich Heine, die Brüder Bruno und Edgar Bauer und Moses Heß las auch Stein seinen Hegel durch die Brille der Fichtesehen Ichphilosophie, brach sie jedoch an der Klippe der rechtshistorischen Ausbildung in Kiel. Der in Kiel aufgenommene Kontakt zu Amold Ruge und den Junghegelianern führt dazu, dass die von Luden in Jena vorgetragene Philosophie Fichtes gleichgewichtig neben dem sozialrevolutionär aufgeladenen Hegeischen System wie der in Kiel von dem Juristen Falck vertretenen Historischen Rechtsschule steht. Deutscher Idealismus, Junghegelianismus und Historismus werden ihrerseits von den persönlichen Zwängen des mittellosen Stipendiaten kontrastiert. " ... Philosophie und mehr noch Rechtsgeschichte sind die Gebiete, die er planmäßig gepflegt hat und die die geistesgeschichtliche Situation des frühen 19. Jahrhunderts ebenso wie sein persönliches Lebenswerk bestimmen"IO. Neben der Offenheit für Ruges Anregungen und die Junghegelianer steht die innere Distanz gegenüber deren theoretischer Schwärmerei. Wenn auch der Einfluss der Junghegelianer auf Stein erheblich gewesen sein maglI, wird er doch von einem Pragmatismus aufgefangen, der mit dem junghegelianischen Hyperrealismus nicht zu vereinbaren war. 1841 rezensiert er für die Deutschen
einmal der Mensch diese Gewalt habe; sie will die Freiheit des Geistes auch auf diesem Gebiete. Was aber heißt es, wenn ich sage, daß das Recht nur unmittelbar, unbewußt, unbestimmbar entstehen kann und entsteht, anders, als daß hier in der unmittelbaren Nähe der freien Persönlichkeit, etwas entsteht und herrscht, über welches dieser freie persönliche Geist seinem Wesen nach keine Herrschaft haben könne?" 9 Ruge, A., in: Hall ische Jahrbücher, 1840, S. 1211; zitiert nach Stuke, H., Philosophie der Tat. Studien zur Verwirklichung der Philosophie bei den Junghegelianern und den Wahren Sozialisten, Stuttgart 1963, S. 82.
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Schmidt, W. (1956), S. 23.
II SO Nitzschke, H. (1932), S. 119 ff., 127 f.
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Jahrbücher - noch ganz im Bann der Schriften Feuerbachs und Ruges - Savignys System des heutigen römischen Rechts. Im Vorwort der Jahrbücher hatte Ruge den neuen Idealismus der Zeit als Vollendung des mit Kant eingeschlagenen Weges begrüßt: Diese Consequenz giebt nun erst den wahren Monismus des Geistes, indem er auf der Einsicht beruht, daß der Proceß der Geschichte von dem Proceß des Selbstbewußtseins überhaupt nicht verschieden sein könne. Das fichtesche Ich, und das Sollen der kantischen Autonomie, dieser kategorische Imperativ ist also in höherer Fonn wieder hergestellt, indem alle geistigen Krisen in der Sammlung des Selbstbewußtseins in sich beruhen, jede Selbstkritik aber eine neue Schöpfung, oder die freie That ist. Dies ist die Freiheit. Nie ist ihr Begriff sicherer gewesen, als jetzt, nie darum ihre Realität näher, als unter diesen anscheinend so trübseligen Umständen. 12
In der Gewissheit, mit Ruge und den Junghegelianern die Zukunft bereits für sich entschieden zu haben, lehnt Stein das bloß Historische an Savignys Rechtsanschauung ab. 13 Scheinbar vorbehaltlos vertritt er den radikalen Kurs der Jahrbücher und will die aufgehobenen Rechtszustände des Corpus Juris nicht länger als Rechtsquellen gelten lassen. Nicht ein historischer Zustand, sondern ein bestimmter Begriff habe zu definieren, was Recht sei. "... diese Forderung der Praxis ist billig und unabweisbar, um sich aus dem Inhalt des Corpus Juris, mag es nun gelten, in welcher Form es sei, das Anzuwendende herauszufinden" 14. Stein kritisiert an Savignys System des heutigen römischen Rechts, daß es weder der Theorie noch der Praxis genüge und begründet dies gleichermaßen historisch wie systematisch. Was Savigny als ,,heutiges römisches Recht" bezeichne, sei weder heutiges noch römisches, sondern ein Gemenge alter Rechte des untergegangenen Reiches und zivilrechtlicher Vorschriften. Abgesehen davon, dass das Reich seit 1806 15 nicht mehr existiere, das alte Reichsrecht folglich allein in der Theorie der historischen Rechtsschule erscheint, aber in
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S.4.
Ruge, A., Deutsche Jahrbücher für Wissenschaft und Kunst, Bd. I, 1841, Vorwort,
13 V gl. Stein, L. v., Zur Charakteristik der heutigen Rechtswissenschaft (System des heutigen römischen Rechts, von Carl von Savigny), in: Deutsche Jahrbücher für Wissenschaft und Kunst, Bd. I, 1841, S. 365-399 (374): "Der deutsche Geist will jetzt ein wissenschaftliches System; und mehr wie anderswo bedarf es eines solchen, sobald er sich der alten Gestalt des römischen Rechts nähert; hier ist weder Wissenschaft noch System, stattdessen allerdings viel Tact und einige Anordnung: aber damit ist denn doch dem Bedürfniß des Geistes, d. h. in unserem Falle - der Praxis kein Genüge geschehn". 14
Ebd., S. 373.
6.8.1806 Verzicht Franz' Ir. auf die Reichskrone, Ende des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. 15
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der Praxis nicht mehr gefragt sei, habe schon für das alte Reich gegolten, dass die Territorialstaaten alles besaßen, bis auf den Namen, um vollständige Reiche zu sein, der Kaiser dagegen nur den Namen. Weil das Reich als Idee über der Wirklichkeit erhaben war, " ... war es denn auch dem Reichsrecht - dem römischen Recht genug, nur geltendes Recht zu heißen. Daher ist die Geltung des römischen Rechts wesentlich nur eine nominelle"16. Statt das komplexe Ineinander des als Reichsrecht aufgenommenen römischen Rechts mit den landständischen Privilegienrechten zu verfolgen, höre " ... die Rechtsgeschichte unserer Zeit ... gerade da auf, wo die Geschichte unsres Rechts beginnt - bei dem Anfang des deutschen Rechts"17. Schon hier beginnt Steins lebenslange Auseinandersetzung mit den Historischen Schulen des Rechts und der Nationalökonomie wie der idealistischen Philosophie, fmden sich Argumentationsmuster, die noch in der zweiten Auflage seines Bildungswesens und dem Handbuch der Verwaltungslehre wiederkehren. Er kritisiert an der Historischen Rechtsschule nicht den Überhang des Historischen als solchen, sondern dass Savigny zu wenig rechtsvergleichend gearbeitet habe. 18 Der Kritik an einer falschen Ehrfurcht vor der Geschichte folgt das Bekenntnis zur "philosophischen Rechtsschule": ,,Die philosophische Schule ist in ihren Anfangen nichts anderes, als das laut ausgesprochene Bedürfnis über das wirkliche Recht des deutschen Volkes"19. Dem knappen Statement am Ende der Savignyrezension ging eine längere Anmerkung in einem Brief an Ruge voraus; aus dieser geht klar hervor, weshalb Stein sich zur philosophischen Schule rechnet; hier skizziert er ein Arbeitsprogramm, das ihn nicht nur lebenslang beschäftigen, sondern auch alsbald den Junghegelianern entfremden und ihm bei vordergründiger Nähe deren erbitterte Feindschaft eintragen sollte: Ich bin zu der Ueberzeugung gelangt, daß das nationale deutsche Recht das Recht der Philosophie, der Wissenschaft ist. Eine solche Ueberzeugung muß sich aber bewahrheiten, und damit hat sie eine zweifache Aufgabe; ich muss nicht bloss das ganze Gebiet der Philosophie, sondern auch das der positiven Jurisprudenz durcharbeiten.
16 Stein, L. v. (1841), S. 378. 17 Ebd., S. 380.
18 Vgl. ebd., S. 383: "Die Furcht vor dem Denken und vor der Besinnung über die Forderungen der Gegenwart hat die ,Theorie' entseelt, sie schwebt wie ein irrender Schatten um die Grube des Odyseus; sie muß erst Blut und Leben aus dem Denken und aus der Gegenwart trinken, um hören zu können, was sie soll, und um zu reden, was man von ihr hören will. Allerdings hat dieser Zustand seinen historischen Grund, ... aber es ist ja eben das Wesen des Fortschritts, überlieferte Uebelstände durch die kräftige That der Wissenschaft aufzuheben." 19 Ebd., S. 397.
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A. System und Geschichte im Jugendwerk Steins Die Arbeit ist ungeheuer; bin ich daher noch unbestimmt und unausgebildet in den meisten Punkten, so schieben Sie es darauf, daß es mir große Anstrengung gekostet hat, nur zu jener Ueberzeugung als einem Theile meines bewußten inneren Lebens zu gelangen; sie ist das Resultat meiner letzten Jahre, und gerade sie zwang mich, jede Arbeit zurück zu weisen, die nicht darauf hinauslief, mir dieselbe als Mittelpunkt meiner Existenz klar zu machen. 20
Stein bleibt ungeachtet seiner bald einsetzenden Verwicklungen in die Tagespolitik und der journalistischen Tätigkeit für die rheinische Zeitung, die Jahrbücher der Gegenwart und andere linksliberale und liberale Blätter dem angekündigten Programm treu. Nicht die idealistische Philosophie, sondern die vergleichende Rechtsgeschichte dient ihm dazu, den mit dem rational-allgemeinen Staat vollzogenen Bruch mit der Vergangenheit, aber auch deren fortwirkende Gegenwart innerhalb der neugeschaffenen Institutionen hervorzuheben. Der Gegensatz zwischen dem rational-allgemeinen, d. h. systematischen Recht und den überkommenen ständischen (Privilegien-)Rechten wird ihm der Schlüssel zum Verständnis der Herausforderungen seiner Zeit. Nicht der "deutsehe Untertanengeist", sondern der Versuch, die Geschichte - allen gesellschaftlichen Verwerfungen zum trotz - als ein Kontinuum zu begreifen und zu gestalten, leitet seine Publikationen, führt zum Bruch mit den Junghegelianern und seinem Eintritt in die Politik.
I. Zwischen Wissenschaft und Politik Als Lorenz von Stein im Herbst 1841 ein Reisestipendium nach Paris erhält, scheinen zwischen ihm und Ruge keinerlei Dissonanzen zu bestehen. Im Oktober 1841 bricht er von Berlin nach Paris auf; er nimmt " ... die Reise über Lausanne, wo er - offenbar auf Empfehlung Ruges - die kommunistische Gemeinschaftsanstalt Weitlings besucht und dadurch den ersten Bericht eines Agenten der geheimen Staatspolizei über sich veranlaßt".21 In Frankreich eingetroffen wendet er sich Anfang 1842 vertrauensvoll an Ruge, offenbart diesem sein Vorhaben, über den französischen Kommunismus und Sozialismus zu schreiben, und bittet um die Vennittlung eines Verlegers: Dann aber möchte ich ... ihren gütigen Händen einen Plan übergeben, der fast die ganze Zeit und die ganze Kraft meines hiesigen Aufenthalts in Anspruch nimmt. Ich habe mich schon von meiner Ankunft an auf die Grundverhältnisse des hiesigen soci20 Stein, L. v., Brief an A. Ruge vom 23.9.1841, zitiert nach: Schmidt, W., Lorenz von Stein. Ein Beitrag zur Biographie, zur Geschichte Schleswig-Holsteins und zur Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts, EckemfOrde 1956, S. 147.
21 Schmidt, W. (1956), S. 29.
I. Zwischen Wissenschaft und Politik
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alen Zustandes und ihre Entwicklung eingelassen, und die Theorien von St. Simon, Fourier, und dem hier sehr mächtigen Communismus eifiigst studirt. Dadurch bin ich zu der Ueberzeugung gelangt, daß alle jene grundsätzlich und zeitlich verschiedenen Erscheinungen aus einem gemeinsamen Momente hervorgegangen sind, und daß in ihnen sich die eine Hauptseite des ganzen französischen Volksgeistes widerspiegelt. Ich habe mich daher entschlossen, die Ergebnisse in einer geschlossenen Darstellung zusammen zu fassen. Das ist mir um so mehr als nothwendig erschienen, da man im deutschen Publicum jenen inneren Zusammenhang, die tiefere Bedeutung jener Erscheinungen oft missversteht, öfter gar nicht kennt; ich möchte dazu beitragen, das französische Leben in seinem wahren Lichte erscheinen zu lassen. 22
1. Lorenz von Stein als preußischer Geheimagent
Was Stein weder Ruge noch den anderen Junghegelianern mitteilt, ist die Tatsache, dass sein Forschungsaufenthalt in Paris neben der Wissenschaft auch dem preußischen Innenministerium zugute kommen soll. Man kann nur spekulieren, weshalb er ausgerechnet für Preußen Geheimagent wurde; schließlich wird ihm fast dreißig Jahre später von Gneist und Schmoller attestiert, in Preußen immer noch persona ingrata zu sein, nachdem bereits in den vierziger und fünfziger Jahren Berufungen nach Tübingen, Erlangen, Königsberg und Würzburg an Interventionen der preußischen Regierung gescheitert waren. Drei Tage nach dem Brief, in dem er Ruge mitteilt, über den französischen Kommunismus und Sozialismus schreiben zu wollen, nennt er dem preußischen Innenministerium den Zweck seines Projekts. Er sei ... nun überzeugt, daß es sich ... historisch nachweisen läßt, daß eben jene Revolution [gemeint ist die von 1830, S. K.] selbst die Basis alles menschlichen Zustandes zerstört hat, daß an die Stelle eines nationalen Wohlstandes eine Zerrüttung aller Verhältnisse getreten ist, und daß die Revolution gerade das Gegentheil von dem bewirken muß, und hier bewirkt hat, was die Revolutionierenden erwarteten. Ich habe es mir daher zur Aufgabe gestellt, demjenigen, dem das nationale Gefühl und das innere Rechtsbewußtsein nicht hinreicht, um sich von Frankreich abzuwenden, und dem Wege zu folgen, den eine höhere Fügung uns führt, die innere Verkehrtheit einer jeden revolutionären Idee an dem Unsegen, mit dem der hiesige Zustand in jeder Beziehung behaftet ist, nachzuweisen, in einer Darstellung des französischen sozialen Lebens und seines Verhältnisses zur Revolution. 23
22 Stein, L. v., Brief an A. Ruge vom 4.1.1842, zitiert nach Schmidt, W. (1956), S.149. 23 Stein, L. v., Bericht vom 7. I .1842, fol. 68 f., zitiert nach: Blasius, D. I Pankoke, E., Lorenz von Stein. Geschichts- und gesellschaftswissenschaftliche Perspektiven, Darmstadt 1977, S. 30.
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Steins Polizeiberichte aus Paris dienen in der Literatur als Beleg seiner antiemanzipatorischen Gesinnung. 24 Dieser Ursprung einer " ... Ideologieproduktion, die ihn die Wirklichkeit des französischen gesellschaftlichen und politischen Lebens unter dem Gesichtspunkt der Gefahrenabwehr analysieren ließ, ist nur die andere Seite eines ihn in dieser Zeit als Person diskreditierenden Engagements"25. Die Tätigkeit als Geheimpolizist soll die Person Lorenz von Stein moralisch richten, um über diese das Werk zu treffen. Zu Recht hebt Blasius hervor, dass Steins Berichte aus Paris " ... kaum einer Erwartung nicht entsprachen, die die preußische Regierung an die Auslandstätigkeit eines Agenten stellen konnte"26; er übersieht aber geflissentlich, dass der Rat, das Werk Louis Blancs aus polizeitaktischen Gründen nicht zu verbieten, auch seiner Verbreitung zugute kam und verschweigt, dass Stein selbst observiert wurde. Gerade, weil der Vorwurf persönlicher Verfehlungen schwerwiegend ist, hätten Blasius, Uhl27 und Quese! nicht nur die Spitzelarbeit, sondern neben dem belastenden
24 Nach Quesel, C., Soziologie und soziale Frage. Lorenz von Stein und die Entstehung der Gesellschaftswissenschaft in Deutschland, Wiesbaden 1989, S. 32 f., offenbaren die Polizeiberichte mehr als die reaktionäre Gesinnung Steins: "Nicht nur, daß er als Denunziant arbeitet, er versucht auch noch, Exploration und Denunziation elegant zur Harmonie zu bringen: Wer wissenschaftliche Informationen sucht, der kann auch als Informant tätig werden. Damit aber nicht genug; der Spitzel reckt auch noch den Zeigefinger des Oberlehrers in die Höhe ... das revolutionäre Horrorszenario Frankreichs müsse ausgemalt werden, um jene, denen es an gesundem Rechtsbewußtsein mangelt, auf den Pfad der politischen Schicksalsergebenheit zu bringen. Die Arbeit über den ,Sozialismus und Kommunismus des heutigen Frankreich' hätte demnach zwei Aufgaben zu erfüllen: Sie hätte, auf die Gegenwart bezogen, dem deutschen Bürgertum klarzurnachen, daß es sich nicht am Obrigkeitsstaat vergehen darf; sie hätte auf die Zukunft bezogen, den Blick auf die Entwicklung der sozialen Bewegung zu öffnen. Stein erhebt in seinen Spitzelberichten implizit die Staatsräson zum heuristischen Prinzip, er funktionalisiert die Gesellschaftswissenschaft zur Detektei des Staats, wobei dessen Legitimität die Moralität der Wissenschaft garantieren soll .... Steins Verhalten lässt sich lebensgeschichtIich vielleicht dadurch erklären, daß er unter Bedingungen aufwächst, die nicht nur untertänigste Verblendung erzeugen, sondern Überanpassung geradezu erzwingen; entschuldigen läßt sich dieses Verhalten dadurch nicht ... Er gehört damit zu den Protagonisten einer Soziologie, die sich dezidiert die Produktion von Herrschaftswissen zur Aufgabe macht. Das Ideologem von der Neutralität und Objektivität seiner Theorie ist zumindest solange ad acta gelegt, bis irgendein Komiker mit der These auftritt, daß Stein zwar als Denunziant nicht unbedingt neutral und objektiv gewesen sein mag, wohl aber als Gelehrter". 25 Blasius, D. (1977), S. 23 f.
26 Ebd., S. 24. 27 Vg\. Uhl, H., Lorenz von Stein und Karl Marx. Zur Grundlegung von Gesellschaftsanalyse und politischer Theorie 1842-1850, Diss. phi\., Tübingen 1977, S. 44:
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Material auch deren Vorgeschichte, Auswirkung auf andere und vor allem Steins weitere politische Tätigkeit wie seine wissenschaftliche Arbeit zur Würdigung des "Falles" heranziehen müssen. Dies unterblieb; es wirft ein Schlaglicht auf ihre Ermittlungen. Denn fur einen Polizeispitzel erlitt Lorenz von Stein ein wunderliches Schicksal. Dass er sich mit den Junghegelianern hoffnungslos überwarf, ist der einzige Punkt, den man den Spitzeldiensten unmittelbar zuschreiben könnte, ergibt sich aber schon aus dem Inhalt seiner Rezensionen fur die Deutschen Jahrbücher. Ebenso wunderlich ist, dass dem Staatsvergötzer die beantragte Professur in Kiel drei Jahre unter Hinweis auf seine unsicheren, d.h. liberalen Ansichten verwehrt wurde 28 , er zwischen 1848 und 1850 tatkräftig an der Schleswig-Holsteinischen Erhebung mitwirkte, deswegen mit sieben anderen Professoren29 die Universität Kiel verlassen musste und fortan in Deutschland keine Stellung mehr fand. Kurz: seine angeblich untertänige politische Gesinnung und das vorgebliche Denunziantenturn waren so geartet, dass er zwar die extreme Linke kritisierte, "Stein reiste um die Mitte des Oktobers 1841 von Berlin ab. Dem Umstand, daß der spätere preußische Konfident bereits auf der Reise von Metternichs Berichterstattern beobachtet wurde, verdanken wir die genauere Kenntnis des Reiseweges. Stein fuhr nicht direkt nach Paris, sondern machte einen Umweg über Lausanne. Der einschlägige österreichische Bericht ist auf den 7. April 1843 datiert und beschreibt die, Weitlingianische Pension' und ihre Arbeit. Durch ,die Neuheit der Erscheinung' wurden viele Fremde angezogen. ,Der Dr. Stein ( ... ) hat diese Anstalt ebenfalls besucht. Dr. Stein befindet sich dermalen in Paris, wo er sich viel mit Viktor Considerant und den übrigen Phalanteristen herumtreibt'" (abgedruckt bei Brügel, Ludwig, Geschichte der österreichischen Sozialdemokratie, Bd. I, Wien 1922, S. 31). Uhl referiert ebd., S. 45-89, Steins Polizeiberichte mit der These, dass in ihnen die Grundstrukturen des Gesamtwerkes vorweggenommen sind. 28 Vgl. dazu die Quellen bei Schmidt, W. (1956), S. 150-157 (156): "Während seiner Studienzeit gehörte er der Bewegungsparthei unter den Studirenden sehr entschieden an und er arbeitete nach seiner Promotion mit an den von Ruge herausgegebenen hallischen, dann deutschen Jahrbüchern. Daß er sich späterhin gemäßigteren Ansichten zugewandt, ist mir zwar nicht unwahrscheinlich, ... allein Gewißheit hierüber wird, solange er noch in unentschiedenen Verhältnissen lebt, schwerlich zu erlangen seyn. Mit Beziehung hierauf erlaube ich mir die Entscheidung über die vorliegende Bitte, lediglich dem besseren Ermessen des hohen Collegii unterthänig anheimzustellen". Zu den Einlassungen des damaligen Kurators der Kieler Universität, Jensen, bemerkt Schmidt zutreffend: "Das bedeutete die Empfehlung einer Ablehnung, die dann auch am 20. Dezember 1845 durch königliche Resolution erfolgte" (ebd. S. 35). 29 Neben Stein wurden der Theologe Pelt, der Kameralist Ravit, der Mathematiker Scherk, der Philosoph Chalybäus, der Pathologe Meyn, der Philologe G. W. Nitzsch und der Orientalist Justus Olshausen ihrer Ämter entsetzt. (Zu Steins Situation im damaligen Kiel vgl. Schmidt, W. [1956], S. 63 tT.)
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die Zustände in Frankreich keineswegs erstrebenswert fand und einem deutschen Gesamtstaat vorarbeiten wollte. Er verleugnete jedoch nie den Parlamentarismus als Voraussetzung politischen Handeins. 2. Agitation und Wissenschaft
Hatte Stein während der 1848er Revolution die Unentschlossenheit ihrer Protagonisten kritisiert, sieht er nach deren Zusammenbruch Staat und Gesellschaft in Deutschland aus der Perspektive eines europäischen Liberalen: Es ist das Gefühl des Unmuths, das uns überwältigt, wenn wir sehen, wie ein so großes, so herrliches Volk wie das deutsche in einer seiner wichtigsten Angelegenheiten auf so wahrhaft klägliche Weise weder zu wollen noch zu handeln versteht, während das Schicksal selbst das größte äußere Geschenk, das diesem Volke werden kann, ihm gleichsam in die offene Hand gedrückt hat! Wann wird doch die Zeit kommen, wo der Deutsche sich den klaren offenen Blick, das stets bereite staatsmännische Bewußtsein, den immer gegenwärtigen festen Willen des Franzosen und Engländers in allem, was sein Recht angeht erworben haben und sich von demselben leiten lassen wird? Oder hat der Himmel uns das als Volk versagt, was uns, wenn wir es hätten, sofort zu dem Herren Europas machen würde, damit eben ein solcher Herr unter den freien Völkern der germanischen Stämme nicht entstehen solle? Oder soll uns der Gedanke trösten, daß wir noch in der ersten Kindheit unserer politischen Entwicklung stehen, wie man uns so oft sagt, nachdem wir doch seit tausend Jahren der Schwerpunkt Europas gewesen sind?30
30 Stein, L. v., Schleswig-Holstein seit seiner Erhebung im Jahre 1848, in: Die Gegenwart, Bd. 5, 1850, S. 294-371 (294), zitiert nach Schmidt, W. (1956), S. 52. Die Tatsache, dass Stein auch nach dem Scheitern der Revolution zunächst in den Jahrbüchern der Gegenwart, " ... diesem Erben des deutschen Jahrbuchs und der rheinischen Zeitung ... " (Brief an Albert Schwegler vom 10.3.1844, Universitätsbibliothek Tübingen, Handschriftensammlung, Sign.: Md 753-242) publizierte, später bei der von Cotta herausgegebenen zeitgeschichtlichen Anthologie Die Gegenwart mitwirkte und dort deren Führern nicht etwa die "Insurrektion", sondern den mangelnden politischen Durchsetzungswillen vorhielt, zeigt, wie seine Agententätigkeit und politische Einstellung zu beurteilen sind. Stein wusste genau, dass seine Schreibweise Konsequenzen haben würde. 1852 teilt er Robert von Mohl das längst Erwartete mit: "Wenn ich auf Ihr ... Schreiben bis jetzt nicht geantwortet habe, so ist das unterblieben, weil ich täglich erwartete, was nun endlich heute hier eingetroffen ist, nämlich die Nachricht von meiner Absetzung, die einen Theil der ,Purification' der Kieler Universität bildet. ... ich werde abgesetzt wegen meiner publicistischen Thätigkeit für die Sache Deutschlands in den Herzogthümern, die man recht gut kennt. So hat sich denn nun auch für mich die lang erwartete Lösung dieses Knotens ergeben" (Brief an Robert v. Mohl vom 11.1.1852 [Handschriftensammlung der Tübinger Universitätsbibliothek, Sign. Md 613-852]).
I. Zwischen Wissenschaft und Politik
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Als Gesandter der provisorischen (Revolutions-)Regierung in Kiel hatte er Gustav Droysen aus Paris über den Verlauf der sozialen Revolution und den Sieg des Bürgertums berichtet. Er befürchtete das Aufkommen eines Cäsarismus. Das geschwächte Deutschland könne dessen erstes Opfer werden. Dies nicht wegen der Revolution, sondern weil die Frankfurter Versammlung die historische Chance der Reichsgründung nutzlos verstreichen lasse: "Wenn die guten Leute in Frankfurt, die mit des Kaisers Bart spielen, doch einmal nur über ihren Suppentopf hinaussehen, und Ernst machen in ernsten Dingen!"31. Der liberale Gustav Droysen wiederum beschrieb ihm aus Frankfurt den schleppenden Gang der parlamentarischen Verhandlungen und den gänzlichen Mangel an vorausschauenden Staatsmännern. Ähnlich wie Stein beschwört Droysen den Handlungswillen des Parlaments, sieht aber zwischen den Zeilen dessen Auseinanderbrechen und Untergang voraus: - [n unsenn parlamentarischen Leben sonst wenig von Bedeutung, langweilige Berathung der Grundrechte; im Verfassungsausschuß der Entwurf über den Umfang der Reichsgewalt, die so weit geht wie nothwendig - aber ob wir es so durchbringen werden gegen Preußen ist eine andere Frage. Überall unsre Dinge sind noch weit davon entfernt reif zu sein; es wäre auch eine unerhörte Geschichte, wenn man auf legislativem Wege dies ungeheure vollbrächte was wir vorhaben. Es hängt alles daran daß wir kühne, klare, feste Männer ans Ruder bringen, sonst wird uns Preußen unverdaulich. 32
Während der Revolution in Schleswig-Holstein war Stein zu Unrecht der extremen Linken zugerechnet33 und als Jakobiner verteufelt worden; nach ihrem
31
Brief aus Paris vom 10.7.1848, zitiert nach Schmidt (1956), S. 165.
32 Brief vom 19.7.1848; der Brief Droysens befindet sich im Nachlass Lorenz von Steins, und dieser in der Handschriftensammlung der Landesbibliothek Schieswig-Holstein. Dort ist er unter der Sign. eb 102.4.2: 05 erfasst. 33 Vgl. Schmidt, W. (1956), S. 57 f., der schreibt, Stein habe im März 1848 sich zwar zu einem republikanischen Liberalismus bekannt, diesen aber mit seiner Gesellschaftslehre und der darin entworfenen Theorie des sozialen Königtums institutionell abgefedert . .,Der leidenschaftliche Einsatz Steins in den Märztagen des Jahres für einen Anteil der Persönlichkeiten und Ideen der jüngeren fortschrittlichen Liberalen an der politischen Gestaltung der schleswig-holsteinischen Dinge scheint der Mehrheit und der Regierung in recht unangenehmer Erinnerung geblieben zu sein. Justus Olshausen (Kurator der Kieler Universität von 1848-1850, Freund und politischer Lehrer Steins) dürfte recht haben, daß man Stein mit der Charakterisierung als Aufrührer und Republikaner bitteres Unrecht getan hat. Die Ziele des ,Deutschen Vereins', den er im Frühjahr in Kiel mitbegründet hatte, sahen gerade eine zwar konstitutionelle Monarchie für Deutschland vor, und seine Gesellschaftslehre '" setzte sich für das Ideal eines sozialen Königtums ein. Es scheint vielmehr so, als ob die Flüsterpropaganda den politischen Gegner mit Schlagworten abgestempelt habe, die bei dem ruhigen und in Anhänglich-
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A. System und Geschichte im Jugendwerk Steins
Scheitern landete er im Niemandsland des bündnisfreien Intellektuellen. Hatten weniger die Berichte an das preußische Innenministerium als der liberalkonservative Tenor seines Buches über den Sozialismus und Kommunismus in Frankreich Arnold Ruge, Moses Heß und Karl Grün gegen ihn aufgebracht, verprellte sein Insistieren auf die demokratische Legitimation und Partizipation politischer Herrschaft die Konservativen. Beiden erschien er als Abweichler; angesichts der schon vor der Revolution von 1848 verhärteten Fronten sanktionierten beide Richtungen die Apostasie Steins mit dem Glaubensbann. Mit der Gewissheit derer, die in der Wahrheit stehen, hatten Ruge, Heß und Grün Steins Arbeit weggewischt.J4 Ruge stieß sich an Steins Gegenüberstellung von Deutschland und Frankreich als den beiden Antipoden der neueren Geschichte des germanischen Europa. Er sah darin nicht mehr als ein Bekenntnis zum Obrigkeitsstaat und deutsche Arroganz. 35 Während Ruge und sein Kreis sich über die angebliche Deutschtümelei Steins erregten, schrieb dieser im Vorwort seiner Geschichte der ,,Municipalverfassung Frankreichs"36, dass die vergleichende Rechtsgeschichte den beengten Blick der historischen Rechtsschule zu vermeiden habe.37 Statt "am deutschen Wesen zu genesen", sieht Stein die Kehrseite des seit 1. G. Fichtes "Reden an die deutsche Nation" neu erwachten und von der historischen Rechtsschule zwar konservativ gewendeten, gleichwohl beibehaltenen Nationalbewusstseins: Weder Deutschlands Zukunft noch Deutschland als Zukunft Europas folgen dieser Exposition; stattdessen läßt er die Freude an der eigenen Na-
keit zur Monarchie lebenden schleswig-holsteinischen Volke einige Wirkung erzielen mußten. Es kam hinzu, daß die Titel der bisherigen Veröffentlichungen genügten - oder genügen mußten -, Stein in eine verdächtige Nachbarschaft zu unerwünschten radikalen Ideen zu bringen". 34 Vgl. Heß, M., Sozialismus und Kommunismus, in: Ausgewählte Schriften, Wiesbaden o. J., S. 153-163 (156 u. 155), zitiert nach Quese!, c. (1989), S. 30: "Stein sieht den hereinbrechenden Sturm, der die Grundfesten der Gesellschaft erschüttern wird, voraus, aber nicht, weil er die geistigen Elemente kennt, sondern weil er mit ihnen wie das Tier mit den natürlichen Elementen in unmittelbarer Berührung steht; die Zukunft erleuchtet ihn nicht, sie erschreckt ihn nur".
35 Vgl. Ruge, A., Zur Verständigung der Deutschen und Franzosen, in: Pepper!e, H. u. I. (Hrsg.), Die Hegeische Linke, Frankfurt a.M. 1986, S. 712-751 (718), zitiert nach Quese! (1989), S. 30: "Er erkennt das Problem, auch die unteren Klassen der Gesellschaft zu freien Menschen zu machen, gar nicht an, auf keiner Seite des Buches stellt er die Aufgabe, aber er löst alle Schwierigkeiten des Kommunismus und Sozialismus durch die Rückkehr zur deutschen Ruhe und zur deutschen Weisheit". 36 Stein, L. v., Die Municipalverfassung Frankreichs, Leipzig 1843. 37
Ebd. S. 11.
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tionwerdung umschlagen in den Verlust wahrer Größe. 38 Deutschland habe die innige Verbindung von eigener Identität und Kenntnis des Fremden vergessen; seitdem werde weder die Größe anderer anerkannt, noch finde man zur eigenen: Für uns und unsere Arbeit die Volksthümlichkeit als höchsten Gradmesser zu Grunde legend, haben wir bei der Ausbreitung unseres Lebens über die Nachbarländer dieselbe Volksthümlichkeit aus den Augen verloren und uns der zwar grossen, aber doch unerlässlichen Aufgabe entzogen, die ausländischen Gestaltungen auf dem Hintergrund ihrer besonderen Nationalität hinzuzeichnen und sie aus der besonderen Geschichte derselben zu begreifen. Die Geschichte der Philosophie hat den ersten und bedeutendsten Schritt dazu gethan; sie hat nach der deutschen und nur nach der deutschen Philosophie gesucht in allen Nachbarländern, gewappnet mit dem unwiderleglichen Beweise, dass die deutsche Philosophie entschieden die wahre und erste ist. Sie hat darüber eine geschichtliche Hauptwahrheit vergessen: dass die Philosophie in Deutschland stets ein selbständiges Leben gehabt, dass sie aber in den übrigen Völkern, England, Frankreich und Italien, nur innerhalb einer anderen Bewegung steht und dadurch in ihrer ganzen Gestaltung durch diese bedingt und geleitet wird. Sie gewinnt daher die Geschichte der Logik und Dialektik, aber sie verliert dafür das ganze volle Bild der geistigen Bewegung des Volkes und des Landes, den Reichthum des ganzen sich entfaltenden Lebens - kurz die Idee des nationalen Geistes und seiner Geschichte. 39
Mit anderen Worten: Da in Deutschland der Gott der Philosophen nur der Gott der Abstraktion sei, beschränke sich seine Wahrheit bloß auf die Abstraktion und verfehle gleichermaßen die Realität, wie er die Vielfalt des Lebens leugne. Durch die Fixierung auf den "deutschen Geist" habe die Philosophie zu nationaler Borniertheit und intellektuellem Hochmut beigetragen. Der Fehler der Philosophiehistoriker habe sich in der Rechtsgeschichte und Jurisprudenz wiederholt. 40 Hinter der junghegelianischen Ablehnungsfront ziehen bereits die ersten Anzeichen eines Schismas innerhalb der Hegeischen Linken herauf: Während
38 Ebd., S. 12. 39
Ebd., S. 13 f.
Vgl. ebd., S. 14 f.: .,Zur Grundlage aller Beurtheilung Frankreichs ward der Satz erhoben, dass die Jurisprudenz desselben nicht von Bedeutung sein könne, weil ihr die römisch historische Bildung abgehe; das war einseitig und nur in dieser Einseitigkeit wahr, aber diese Einseitigkeit selbst war der Kern des noch schwankenden deutschen Volksbewusstseins, und wenn man daher das Unvermeidliche ein Glück nennen darf, so war der glänzende Erfolg jener Schule [der historischen Rechtsschule, S. K.] ein wahres Glück für Deutschland. Aber wir haben dadurch die vorurtheilsfreie Anerkennung des eigenthümlichen Rechtslebens dieses Volkes verloren." 40
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A. System und Geschichte im Jugendwerk Steins
Ruge und Feuerbach sich zum atheistischen Radikalliberalismus bekennen41 , entwickelt Heß einen Idealismus der Tat, bei dem der Kommunismus das christliche Liebesgebot zu seiner wahren Wirklichkeit aufhebt, fordert Bruno Bauer einen Terrorismus der wahren Theorie, in dessen Flammen die alte Welt untergehen soll. Die Spannbreite reicht vom Radikaldemokraten Ruge über die gnostischen und gnostizistischen Kommunisten Heß und Bauer bis zum wissenschaftlichen Sozialisten Marx. Heß kritisiert Steins Buch über den französischen Sozialismus nicht zuletzt deshalb als einen langen Seufzer42, weil dieser seiner Darstellung der französischen Zustände und Theorien kein System der Zukunft folgen lasse. 43 Bei ihm steht hinter der Kritik die Überzeugung, dass der "wahre Sozialismus" den Schein von Wahrheit im Glauben zu seiner Wirklichkeit aufhebe sowie die gefallene und deshalb entzweite Welt mit sich versöhnen werde: Ungeachtet des sozialpolitischen Radikalismus greift Heß' Konzeption der neuen Welt auf Archetypen des utopischen Denkens zurück, die bereits den auf die platonische Geistmetaphysik aufbauenden gnostischen Systemen zu Grunde lagen. 44 41 V gl. Ruge, A., Briefe an Feuerbach, L. vom 15.5.1844: "In der ganzen Haltung Frankreichs steckt in allem Ernst noch der katholische oder der christliche Tic. Der Eudämonismus ist eine ganz richtige Forderung, ihm aber mit politischer Phantasie ohne Ortssinn, ohne Sachkenntnis Genüge thun zu wollen und das alles am liebsten mit den Waffen in der Hand - das ist ein diesseitiges Christenthum. Noch mehr - alle Partheien berufen sich direct auf das Christenthum" (Nerrlich, P., Arnold Ruges Briefwechsel und Tagebuchblätter, Bd. I [1825-1847], Berlin 1888, S. 347), und an Fleischer 1845: Heß sei leer und blauen Dunstes voll. Er hat die Philosophie der That erfunden: Welch eine alberne Phrase und welch eine traurige Praxis, diese Polizei im Namen der Armen und alles ohne wirkliche Kenntniß und Stellung in der Wirklichkeit aus der blauen Doktrin, der logischen Sozialtheorie heraus!" (ebd., S. 396). Dass Ruge, wenn auch anders als von ihm beabsichtigt, zu recht die religiöse Dimension der französischen Revolution erkannt hatte, diese Beobachtung kehrt wieder in Steins Bildungswesen; dort erklärt er den Übergang der neuzeitlichen Naturrechtstheorie zur Utopie der französischen Sozialrevolutionäre mit den Verwerfungen in Kirche und Gesellschaft Frankreichs. Vgl. Stein, L. v., Bildungswesen 111, S. 348 ff. W
••
42 Vgl.
Heß, M. (1843), S. 156.
43 V gl. Quese!, C. (1989), S. 30: "Heß macht Stein zum Vorwurf, daß er, von Ressentiments geleitet, blind für die bestehende Ordnung Partei ergreife; er moniert, daß jener die aktuelle Sozialkritik nicht verstanden habe und daß ihm insbesondere der ,Zusammenhang des Kommunismus mit dem Sozialismus und der Wissenschaft' (ebd., S. 157) nicht aufgegangen sei. Zudem begegne Stein den Forderungen des Proletariats mit kompletter Ignoranz, insofern er der Frage nach ihrer Berechtigung mit ,philosophischen Floskeln' (ebd.) ausweiche". 44 Vgl. Krämer, H. J., Der Ursprung der Geistmetaphysik. Untersuchungen zur Geschichte des Platonismus zwischen Platon und Plotin, Amsterdam 1964, S. 225: "Aller
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Gnosis gemeinsam ist die Grundvorstellung vom Dualismus einer dämonisch-bösen Welt und eines femen, unbekannten transzendenten Gottes, von der Gefangenschaft und dem Ausgeliefertsein des pneumatischen Seelenkerns an die Gewalten dieser Welt, und von der Offenbarung der Transzendenz und dem eschatologischen Aufstieg des ,Selbst' zum göttlichen Ursprung" und S. 429 f.: "Hegels System erinnert nicht nur an Stufenmodell und Emanationsbewegung des Neuplatonismus, sondern erneuert auch - mit charakteristischer Umkehrung und Weiterbildung - dessen Geistmetaphysik". Die Schwärmerei Grüns und der wahre Sozialismus von Moses Heß, aber auch die Bewegungsgesetze des Kapitals durch die entfremdete Welt bei Karl Marx folgen diesem ursprünglich gnostischen Schema. Der weite Gnosisbegriff Krämers sieht im Christentum wie im Platonismus Anknüpfungspunkte gnostischer Welterklärungen: "Im christlichen Bereich gibt sich die gnostische Heilswahrheit als esoterische Sonderlehre der Elite der Pneumatiker, die vor den bloßen ,Psychikern' und ,Galiläern' der Gemeinden das Wissen - jene besitzen nur Glauben (Pistis) - um die göttlichen Dinge voraus hat. Die christliche oder christianisierende Gnosis ist der ,erste Versuch einer christlichen Religionsphilosophie'''; sie hinterläßt den, bis in die Moderne wirkenden Topos des schuldlos gefallenen Menschen. Nicht der Mensch, sondern die stoffliche Materie ist das Verhängnis der Schöpfung und wird erst erlöst nach dem Ende des bösen Demiurgen. Vgl. hierzu auch Koslowski, P., Nachruf auf den Marxismus-Leninismus. Über die Logik des Übergangs vom entwickelten Sozialismus zum ethischen und demokratischen Kapitalismus, Tübingen 1991, S. 77 ff. (80): "Der Marxismus ist wie der Idealismus Hegels aus dem christlichen Gedanken entstanden, daß die Menschheit auf dem Wege zu ihrer wahren Menschwerdung ist, aber er leugnet, daß die entscheidende erste Etappe in der Menschwerdung Gottes im Christus-Ereignis bereits geschehen ist und daß allein das mit diesem Ereignis gegebene Versprechen, daß Gott den Weg der Völker und der Menschheit mit seiner Hilfe begleiten wird, die eschatologischen Hoffnungen der Menschheit rechtfertigt". Steins Geschichte des Bildungswesens nimmt nicht nur den weiten Gnosisbegriff vorweg, sie weiß auch die Verbindung zwischen Christentum, spätantiken Eliten und Gnosis philosophiehistorisch, sozialgeschichtlieh und wissenssoziologisch zu interpretieren: ,,In der That ist diese Gnosis überhaupt keine bestimmte Auffassung des Christenthums an sich, sondern sie bedeutet und zwar geradezu vom Anfange des Christenthums an zwei Dinge, von denen wir selbst gegenüber so maßgeblichen Untersuchungen wie denen von Baur, Lipsius und andern glauben möchten, daß man sie stets strenge aus einander halten sollte. Der erste Sinn des Wortes ... enthält die Kenntniß der Bedeutung der formalen Mysterien des Cultus überhaupt, im Christenthum daher der einzelnen Momente seines Cultus, Taufe und Abendmahl ... ; daß dann eben diese Gnosis zugleich die Erkenntniß der Bedeutung der Gleichnisse in den Evangelien enthält, ist wohl als zweites Element derselben selbstverständlich. Dagegen ist der Sinn des Wortes ein wesentlich anderer, wo die Gnosis das Verständniß des menschlichen Wissens vom Standpunkte der christlichen Religion bedeuten will. Wir würden diese Gnosis die Paulinische nennen, denn Paulus bringt sie so enge mit dem Verständniß des Logos zusammen, daß schon er sich gezwungen sieht, den Unterschied der wissenschaftlichen Erkenntniß von der Function des Glaubens überhaupt ganz bestimmt zu trennen ... ; diese Gnosis ist nicht die Kenntniß des Mysteriums und seiner eigentlichen Bedeutung wie die evangelische, sondern sie ist der logos in der pistis, der Gedanke im Glauben arbeitend"
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HeB zufolge erscheint die Weltgeschichte als stufenweiser Aufstieg wie Rückkehr der Menschheit zu Gott. 45 Er knüpft insofern an den Symbolismus des 12. und 13 . Jahrhunderts an, als er ... die Überzeugung Anse1ms und Joachim [de Fiores46 , S. K.], daß Gott sich der stufenweisen Offenbarung in der Geschichte aus pädagogischen Gründen (paedagogice et medicinaliter) bediene, um die Menschen zur Vollkommenheit (plenitudo intellectus; perfectio angelica) zu erziehen und zur vollen Freiheit des Geistes (plena spiritus libertas) zu erheben, teilt [ ... ]. Und selbst darin stimmt er mit ihnen überein, daß er wie diese die Kleruskirche nicht als ewiges Fundament, sondern als Vorstufe der
(Stein, L. v., Die Verwaltungslehre, Teil 5: Bildungswesen I: Das System und die Geschichte des Bildungswesens der alten Welt, 2. Aufl. 1883, Stuttgart [Aalen 1975], S. 417 f.). Folgerichtig bezeichnet Stein den Neuplatonismus als den Punkt " ... in der Weltgeschichte des Geistes, in welchem gegenüber dem Wissen die Function des Glaubens zum Bewußtsein kommt. ... Es liegt im Wesen des Glaubens, daß ich nichts Unpersönliches glauben kann. Unpersönlich aber, das ist nicht die freie Selbstbestimmung, ist das Sein, die Idee das On. Da sie aber zugleich auch nichts Natürliches ist, so kann ich sie auch nicht wissen. Der Zirkel des Neuplatonismus schließt sich nicht; er bleibt rathlos vor sich selber ... An Gott kann ich glauben; an das Sein an sich nicht" (ebd., S. 432). Im Spätwerk wird der frühen Kritik an Sozialismus und Hegelianismus eine fundierte Ausarbeitung nachgereicht, Ideen- und Realgeschichte miteinander verbunden, die Ideologien der industriellen Gesellschaft wissenssoziologisch als säkularisierte christliche Heilserwartung gewürdigt und einem realistischen Personalismus gegenübergesteHt, der seine Kraft gerade daraus gewinnt, dass er die unauflösbare Aporie zwischen Glauben und Wissen anerkennt. "Wenn man von diesem Standpunkt die Patristik betrachtet, so ergibt sich ein wunderbares Bild, das seine Tiefe erst entfaltet, wenn man Wissen und Glauben in ihren Unterschieden versteht. Die ganze Patristik ist nichts als der nur ... klar bewußte Gegensatz von beiden, jener merkwürdige, psychologisch von uns allen empfundene, aber noch gar nie ernsthaft untersuchte Zustand, in welchem in jeder Menschenbrust Glauben und Wissen sich von einander scheiden, jedes in dem andern den eigenen Untergang sehend, ewig umsonst versuchend einander gegenseitig zu vernichten und zu entbehren, und dennoch erkennend, daß sie einer des andern bedürfen. Das aber kommt zuerst zum Bewußtsein und empfängt seine erste Gestalt in dem neuplatonischen Christenthum" (ebd., S. 433). 45 Vgl. Stuke, H., Philosophie der Tat. Studien zur Verwirklichung der Philosophie bei den Junghegelianern und den Wahren Sozialisten, Stuttgart 1963, S. 199.
46 Zu Symbolismus und deutsche Mystik vgl. Dempf, A., Sacrum Imperium. Geschichts- und Staatsphilosophie des Mittelalters und der politischen Renaissance, Darmstadt 1954, S. 229-285; Huizinga, 1., Herbst des Mittelalters. Studien über Lebens- und Geistesformen des 14. und 15. Jahrhunderts in Frankreich und in den Niederlanden, 8. Aufl. 1961, Stuttgart, S. 285-303; Flasch, K., Das philosophische Denken im Mittelalter, Stuttgart 1986, S. 244 ff.
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künftigen Kirche des Geistes (intelligentia spiritualis, ordo spiritualis) versteht, der sie weichen muß, wenn die Vollendung der Heilsgeschichte naht. 47
Kritisiert Ruge Steins ,,Deutschtümelei", sieht HeB Angst, wo Stein analysiert statt zu schwärmen. Hinter aller Kritik steht bei HeB der Glaube an " ... das allgemeine Ziel alles zeitlichen Strebens ... , die ewige Wahrheit, das einige Leben oder Gott, zu dem alles besondere, einseitige, getrennte Leben heimkehrt, wie es von IHM ausgegangen"48. Im wahren Sozialismus trete an die Stelle der Entzweiung zwischen Gott und Mensch und dem dadurch bedingten Fall und Leid der Schöpfung die Versöhnung beider im Menschen als gesellschaftlichem Gattungswesen. Vor diesem Hintergrund liest sich Steins allgemeine Beurteilung der Staatsutopien von 1846 wie ein unmittelbarer Reflex auf den chiliastischen Kommunismus von HeB - Es ist für den allgemeinen Gang des wissenschaftlichen Erkennens bezeichnend genug, dass all jene Theorien, entsprungen aus dem Drange, dem Leiden und dem Mangel des einzelnen Individuums abzuhelfen, keinen anderen Weg dafür wissen, als die Selbständigkeit desselben zum Opfer zu bringen. Schon Plato kennt keine einzelne Persönlichkeit: Und die Negation derselben ist die absolute Voraussetzung aller Staats- und Arbeitsromane von ihm bis auf unsere Zeit geblieben. 49
Steins Hoffnungen, wieder mit Ruge und HeB zusammenzukommen, hatten sich mittlerweile zerschlagen; der Gegensatz zwischen den Anhängern eines wie auch immer gearteten parlamentarischen Liberalismus auf der einen und Radikaldemokraten wie Kommunisten auf der anderen Seite hatte die junghegelianische Bewegung endgültig gespalten und in miteinander unvereinbare Standpunkte aufgelöst. Die Positionen von Feuerbach, Ruge und HeB50 sind aus zwei Gründen kurz getreift worden: Erstens fiihlte sich Stein diesem Kreis bis zum Erscheinen sei-
47
Stuke, H. (1963), S. 199 f.
Heß, M., Die Heilige Geschichte der Menschheit. Von einem Jünger Spinozas, Stuttgart 1837, S. 234. 48
49 Stein, L. v., Der Begriff der Arbeit und die Principien des Arbeitslohnes in ihrem Verhältniß zu Socialismus und Communismus, in: Zeitschrift für die gesammte Staatswissenschaft, Bd. 3, 1846, S. 233-290 (257 f.).
50 Im Gegensatz zu Feuerbach und Ruge, die einander zeitlebens freundschaftlich verbunden blieben, hielt das Bündnis zwischen liberalem und sozialistischem Linkshegelianismus nicht lang. Schon Ende 1844 sah sich Ruge von der extremen Linken geradezu missbraucht. In Briefen an Fröbel (vom 6.12.1844), Rauwerk (vom 21.12.1844) und Fleischer attackierte er Marx, Grün, Everbeck, die Gebrüder Bauer,Engels und Heß scharf: "Bauer ist der Feind unseres Charakters und unserer Principien; und Marx ist nur
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A. System und Geschichte im Jugendwerk Steins
nes Buches über Frankreich sehr verbunden 51 , zweitens übernahm er bei aller Kritik von allen dreien Motive, die bis in sein Alterswerk fortwirken sollten. die potencirte Bauer'sche Richtung, die gewissenlose, die grundlose Kritik, die Charakterlosigkeit, die Untreue, die Wüstheit als Maxime. Dass beide sich zum Extrem des Liberalismus, zum Liberalismus als Exzeß, als communistischer und kritischer Exzess, bekennen, kann die Gegner des Exzesses und der Verrücktheit nicht bestimmen, sie für Freunde zu erkennen ... Marx bekennt sich zum Communismus, er ist aber der Fanatiker des Egoismus und mit mehr heimlichen Bewusstsein als Bauer. Der heuchlicherische Egoismus und die geheime Geniesucht, das Christusspielen, das Rabbinerthum, der Priester und die Menschenopfer (Guillotine) kommen daher sogleich wieder zum Vorschein ... Zähnefletschend und grinsend würde Marx alle schlachten, die ihm, dem neuen Babeuf, den Weg vertreten. Er denkt sich dies Fest, da er nicht/eiern kann ... zudem ist der Fanatismus widerlegt, und hoffentlich widerlegt ihn auch die Geschichte. Ich wünsche das so sehr, daß ich meine eigenen Sachen, die davon angesteckt sind [gemeint sind die Beiträge zu den Deutschen Jahrbüchern von 1842 und 1843, S. K.], jetzt mit Widerwillen ansehe" (Ruge, A., in: Nerrlich, P. [1886], Bd. I, S. 381 und 383). "Heß, Grün, Marx, Everbeck, Engels und selbst die Bauers sind bornirte Apostel des ,Heils' der absoluten Oeconomie" (Brief an Rauwerk vom 21.12.1844, in: ebd., S. 387-396). 51 Davon zeugt noch ein Brief an Schwegler vom 7.12.1843. Stein meint darin offensichtlich noch immer, Teil der gemeinsamen Bewegung zu sein und erkundigt sich eingehend nach Heß und Ruge: "Wenn Sie nach Paris schreiben, so möchte ich Ihre Güte in dieser Beziehung so weit Sie mir es irgend erlauben auf das herzlichste in Anspruch nehmen. Ruge ist bekanntlich auch daselbst; ich möchte un-endlich gern wissen, in welcher Beziehung er zu Lamartine steht, ob wirklich an ein internationales Journal gedacht wird, und welche Pläne man im Sinne hat. Plank [ein offensichtlich allen Beteiligten Bekannter, S. K] würde das alles durch Hess wohl erfahren, wenn nicht schon wissen; wollte er Hess bitten mir zu schreiben, oder durch diesen Ruge veranlassen, mir einige Zeilen zukommen zu lassen, wärs mir allerdings noch lieber. Ich trage alle diese Hoffnungen in Ihre Hände weiter ...... (Der Brief befindet sich in der Handschriftensammlung der Universitätsbibliothek Tübingen, Sign. Md 753-242). Stein konnte nicht wissen, dass nicht nur er, sondern auch Schwegler schon lange "aus dem Rennen" waren. Im März 1843 hatten Ruge und Marx gemeinsam die Deutsch-Französischen Jahrbücher herausgeben wollen. Zwar zerschlug sich das Projekt nach ihrem Zerwürfnis gegen Ende des Jahres, aber weder Stein noch Schwegler waren je als Mitarbeiter vorgesehen: "Würden .. , die ,Deutschen Jahrbücher' wieder gestattet, so brächten wir es zum allerhöchsten auf einen schwachen Abklatsch der selig Entschlafenen, und das genügt heutzutage nicht mehr. Dagegen ,Deutsch-Französische Jahrbücher', das wäre ein Prinzip, ein Ereignis von Konsequenzen, für das man sich enthusiasmieren kann ... Apropos, da ist uns eine anonyme Replik auf Prutz' Bericht gegen die neuen Tübinger ,Jahrbücher' zugegangen. Ich habe an der Handschrift Schwegler erkannt. Sie werden als überspannter Unruhestifter, Feuerbach als frivoler Spötter, Bauer als gänzlich unkritischer Kopf charakterisiert! Die Schwaben! Die Schwaben! Das wird ein schönes Gebräu werden!" (Marx an Ruge vom 13.3.1843, in: MEW, Bd. 27, S. 416 f.) Robert Prutz hatte in der Rheinischen Zeitung Nr. 43 vom 12.2.1843 den Aufsatz veröffentlicht "Die
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Dort kehren sie in gewandelter Fonn wieder und belegen, dass Stein mit den Eindrücken und Erfahrungen seiner Jugend nie gebrochen hat. Das mit dem Sozialismusbuch verbundene Zerwürfnis mit Heß und Ruge ließ sich ungeachtet eigener Vennittlungsversuche 52 nicht mehr kitten. Sechs Jahre später, 1848, stehen die einstigen Gefahrten einander unversöhnlich gegenüber. Stein sieht sich nicht nur gänzlich missverstanden. Die eigene Betroffenheit ist mittlerweile in scharfe Kritik an seinen Gegnern umgeschlagen: Deutschland sei nach wie vor ein bloßer Reflex der Entwicklungen in Frankreich, " ... und die ganze halb socialistische, halb communistische Literatur, wie sie zum Beispiel in den Rheinischen Jahrbüchern vertreten wird, kann niemals darauf Anspruch machen, eine deutsche heißen zu wollen".53 Er schlägt seinerseits kämpferische Töne an, wenn er der Literatur des rohen Communismus vorwirft, dass sie nicht das Wohl des Volkes, ... sondern sogar um den Preiß dieses Wohles und seines Fortschrittes nur ihre eigene Bedeutung sucht. Gegen diese Art der Behandlung socialer Fragen, die mit ihrem Haß und ihrer Beschimpfung sogar jede unparteiische und ruhige Darstellung der wirklichen Sachlage verfolgt, giebt es nur ein Gegengewicht; das ist eben die ernste Untersuchung der Sache selber. 54
Bleiben im Vorwort die Gegner noch unbestimmt, so steht im Anhang, wem das Vorwort galt: Moses Heß sei ein reiner Hegelianer, der in seiner Schrift über die gesellschaftlichen Zustände der civilisierten Welt (1846) die HegeIschen Kategorien unreflektiert auf Realverhältnisse anwende und damit weder Hegel noch den gesellschaftlichen Zuständen gerecht werde. Der Verfasser der Triarchie ... ersetzt den Mangel an klaren und praktischen Gedanken durch eine scharfe, oft unwahre, immer übertriebene Kritik der gesellschaftlichen Verhältnisse und aller anderen Auffassungen als der seinigen. Er ist der Vertreter des abstracten Communismus, dessen Sinn wenige verstehen werden und Niemand benutzen kann. 55 Jahrbücher der Gegenwart und die Deutschen Jahrbücher". Darin hatte Prutz geschrieben, die angekündigte neue Zeitschrift sei keineswegs als Fortsetzung der Deutschen Jahrbücher anzusehen. - Radikaldemokraten und parlamentarischer Liberalismus hatten sich getrennt.
52 Der 1844 entstandene Aufsatz: Blicke auf den Socialismus und Communismus in Deutschland und seine Zukunft, in: Deutsche Vierteljahrsschrift, 1844, S. 1-61, ist auch ein Appell an die alten Gefährten, die von Stein als Irrweg erkannte Richtung aufzugeben. 53 Stein, L. v., Der Socialismus und Communismus in Frankreich. Ein Beitrag zur Zeitgeschichte, 2. Aufl. 1848, Leipzig, S. XIV. 54
Ebd., S. XV.
55
Vgl. Stein, L. v., Der Socialismus und Communismus in Frankreich, S. 589.
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Bemerkenswert ist, dass Steins Kritik des Junghegelianismus deIjenigen von Marx sehr nahe kommt: Die Menschen haben sich bisher stets falsche Vorstellungen über sich selbst gemacht ... Rebellieren wir gegen diese Herrschaft der Gedanken. Lehren wir sie, diese Einbildungen mit Gedanken vertauschen, die dem Wesen des Menschen entsprechen, sagt der Eine, sich kritisch zu ihnen verhalten, sagt der Andere, sie sich aus dem Kopf schlagen, sagt der Dritte, und - die Wirklichkeit wird zusammenbrechen. Diese unschuldigen und kindlichen Phantasien bilden den Kern der neuern junghegelianischen Philosophie ... 56
Bei gleicher Analyse sind die Ziele von Stein und Marx einander diametral entgegengesetzt: Wo Stein das Gewaltpotential der junghegelianischen Utopie entschärfen möchte, satteln Marx / Engels drauf: Die deutsche Ideologie entlarvt den Radikalismus der Junghegelianer Bauer, Stirner und Karl Grün als bloßen Eskapismus. Der erste Band dieser Publikation hat den Zweck, diese Schafe, die sich fiir Wölfe halten und dafiir gehalten werden, zu entlarven, zu zeigen, wie sie die Vorstellungen der deutschen Bürger nur philosophisch nachblöken, wie die Prahlereien dieser philosophischen Ausleger nur die Erbärmlichkeit der wirklichen deutschen Zustände widerspiegeln. Sie hat den Zweck, den philosophischen Kampf mit den Schatten der Wirklichkeit, der dem träumerischen und duseligen deutschen Volk zusagt, zu blamieren und um den Kredit zu bringen. 57 56 Marx, K. / Engels, Fr., Die deutsche Ideologie, in: MEW, Bd. 3, S. 9-530 (13). 57 Ebd. V gl. dazu
Nolte, E., Marxismus und industrielle Revolution, Stuttgart 1983, S. 36 tf., 323 ff., der den antimodernistischen Impetus bei Teilen der Frühsozialisten und des jungen Marx hervorhebt. Er sieht die Übergänge zwischen Reaktion und Revolution, und das Unverständnis beider gegenüber der mit der industriellen Revolution aufkommenden egalitären Erwerbsgesellschaft. Seine Deutung geht jedoch fehl, wenn sie mit ähnlich transpersonalen Kategorien, wie sie der von ihr kritisierten Marxschen Ablehnung der industriellen Welt zugrunde lagen, Marx nicht nur fiir den Marxismus-Leninismus, sondern auch fiir das Aufkommen des Nationalsozialismus verantwortlich macht. Noltes Obsession der totalen Mobilmachung und Vernichtung erschlägt den eigenen Forschungsansatz: Der Marxismus habe " ... im Leninismus seine Verkehrung [erfahren] und wurde dadurch zugleich doch seiner Wahrheit nähergebracht" (ebd., S. 532). Orientiert an der verklärten Urgemeinschaft, habe Marx alle gesellschaftliche Differenzierung - die Voraussetzung der industriellen Welt - abgelehnt: "So konnte er detjenigen Bewegung den Namen geben, welche die Industrielle Revolution ohne diese Prämissen und unter totaler Mobilisierung aller menschlichen und materiellen Kräfte durchfiihrte. Damit gewannen der Fortschritt und die Vernichtung, die sich in England und Westeuropa im Wechselspiel der Tendenzen und unter vielfältigen Ausweich- und Gegenwirkungsmöglichkeiten der Individuen vollzogen hatten, eine personale Gestalt, und ein Konzept der Gegenvernichtung konnte auftauchen, das - keineswegs bloß reaktionär - den Fortschritt selbst als seinen Feind sah, und zwar in biologistischer Umdeutung jenen Fort-
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3. Karl Man und Lorenz von Stein: Ideologiekritik versus Wissenssoziologie und der Revisionismusstreit in der SPD Angesichts der Kritik des jungen Stein am Wahren Sozialismus wird verständlich, dass Marx nicht nur in der ,,Deutschen Ideologie"58 auf ihn zuruckgreift, um den "utopischen Sozialismus" zu attackieren. Bemerkenswert bleibt, dass der junge Marx sich auf Stein beruft, um den gleichermaßen revolutionären wie wissenschaftlichen Sozialismus gegen die deutsche Ideologie und die französische Utopie auszuspielen. In der ,,Deutschen Ideologie" enthält die Kritik an Karl Grün implizit eine Rezension des Steinschen Buchs von 1842: Grün hatte Stein wegen der kritisch-distanzierten Würdigung der französischen Utopien angegriffen und zugleich seinen Realismus als deutsche Unterwürfigkeit diffamiert. Marx wiederum attackiert die "wahren Sozialisten" Heß und Grun: Diese meinten zwar, die sozialistischen Schriftsteller Frankreichs, " ... die sie nur aus den Kompilationen Steins und Oelckers etc. kennen ... "59, über sich selbst aufklären zu sollen, blieben tatsächlich aber hinter der gesellschaftlichen Entwicklung und dem theoretischen Niveau des Sozialismus in Frankreich zurück. Der wahre Sozialismus, der auf der "Wissenschaft" zu beruhen vorgibt, ist vor allen Dingen selbst wieder eine esoterische Wissenschaft; seine theoretische Literatur ist nur für die, die in die Mysterien des "denkenden Geistes" eingeweiht sind. Er hat aber auch eine exoterische Literatur, er muß, schon weil er sich um gesellschaftliche, exoterische Verhältnisse kümmert, eine Art Propaganda machen. In dieser exoterischen Literatur appelliert er nicht mehr an den deutschen, "denkenden Geist", sondern an das deutsche Gemüt. 60
Grün kommt bei Marx besonders schlecht weg, weil ihm nicht die Analyse der Herrschaftsverhältnisse, sondern das "wahre Bewußtsein" die Feder führe. Grüns Arbeit über die soziale Bewegung in Frankreich und Belgien stehe weit unter dem Niveau des Buches von Stein. 61 Vor allem das falsche Bewusstsein schritt, den auch Marx als ,jüdisch' identifizieren wollte" (ebd., S. 532 f.). Die Person und das "Personale" erscheinen hier lediglich als Medium, indem sich die wahre Dialektik der Geschichte, der Antagonismus von Vernichtung und Gegenvernichtung, vollzieht. Hinter dem Historiker erscheint der Augure; dessen Interpretation der Geschichte ist eben so vieldeutig wie verantwortungslos.
58 Vgl. Marx, K., Enthüllungen über den Kommunisten-Prozeß zu Köln, in: MEW, Bd. 3, S. 405-470 (467 f.). 59 Marx / Engels, Die deutsche Ideologie, S. 442. 60
Ebd.
Vgl. ebd., S. 480: der wenigstens versuchte, den Zusammenhang der sozialistischen Literatur mit der wirklichen Entwicklung der französischen Gesellschaft darzu61
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Steins hatte Ruge, Heß und Grün aufgebracht; Marx dagegen stößt sich an dem Grünschen Machwerk, weil es von Dingen berichte - und das auch noch falsch -, von denen es keine Ahnung habe. 62 Grün habe weder Saint Simon noch die Darstellung seiner Lehre bei Stein verstanden. Marx zitiert aus Steins Buch, das Saint Simon als den ersten nennt, der es zum Bewußtsein gebracht hat, daß in der Wissenschaft der Industrie ein staatliches Moment verborgen liege ... es läßt sich nicht leugnen, daß ihm ein wesentlicher Anstoß gelungen ist. Denn erst seit ihm besitzt Frankreich eine "Histoire de l'economie politique" ( ... ) Stein selbst ist in höchstem Grade konfus, wenn er von einem "staatlichen Moment" in der "Wissenschaft der Industrie" spricht. Er zeigt indes, daß er eine richtige Ahnung hatte, indem er hinzufügt, daß die Geschichte des Staats aufs genaueste zusammenhänge mit der Geschichte der Volkswirtschaft ... Herr Grün verwandelt "also" zunächst das "staatliche Moment" Steins in ein "staatliches Element" und macht es zu einer sinnlosen Phrase, indem er die näheren Data, die Stein gegeben hatte, weglässt. Dieser "Stein, den die Bauleute verworfen haben", ist für Herrn Grün wirklich zum "Eckstein" seiner "Briefe und Studien" geworden. Zugleich aber auch zum Stein des Anstoßes. 63
Beide, Stein nicht weniger als Marx, bekennen sich zunächst zur junghegelianischen Bewegung; doch während der Erstere schnell die Hohlheit ihrer Gewaltmetaphorik erkennt und das Aufkommen der leeren Phrase historisch und wissenssoziologisch analysiert, beharrt der Letztere auf der Position des wahren Bewußtseins - ein Standpunkt, den er allerdings materialistisch umkehrt. Nicht die Dialektik des Begriffs, sondern die der Realverhältnisse seien Akteur und Objekt des historischen Prozesses. Während Stein die Hegeische Dialektik um die Realverhältnisse erweitert und korrigiert, beharrt Marx darauf, daß die Antagonismen der modernen Gesellschaft " ... aus den Naturgesetzen der Kapitalistischen Produktion entspringen"64. Anstatt sich von der Triplizität des Begriffs zu lösen, stülpt Marx Hegels Dialektik einfach um, " ... um den rationellen Kern in der mystischen Hülle zu entdecken"65. Marx reduziert, um auf den Punkt zu kommen, Stein differenziert, um der Eigentümlichkeit der von ihm berührten Gegenstände gerecht zu werden. Kurz: Beide beanspruchen, den stellen. Es bedarf indes kaum der Erwähnung, daß Herr Grün ... mit der größten Vornehmheit auf seinen Vorgänger herabsieht". 62 Vgl. ebd., S. 485: "Seine Hauptquellen sind: vor allem der viel verachtete Lorenz Stein, L. Reybaud ... aus den Zitaten seiner Vorgänger, Dichtung und Ausschmückung durch unbestimmte Phrasen, perfide Ausfalle auf die Leute, die er gerade kopiert. Ja Herr Grün ist so übereilt, daß er sich oft auf Sachen beruft, von denen er dem Leser nie gesprochen, die er aber als Leser Steins im Kopfe mit sich herumträgt."
63
Ebd., S. 94.
64
Marx, K., Das Kapital Bd. I, in: MEW, Bd. 23, Vorwort zur ersten Autlage, S. 12.
65 Ebd., S. 27.
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Irrungen des Deutschen Idealismus mit einer realistischen Analyse der Herrschaftsverhältnisse begegnet zu sein. 66 In der SPD ist gegen Ende des 19. Jahrhunderts gesehen worden, dass die Analysen der Klassenantagonismen von Stein und Marx einander sehr nahe sind. Es kommt nicht von ungefähr, dass Stein während des Revisionismusstreits innerhalb der SPD67 "wieder entdeckt" wurde. Peter Struve, offensichtlich Mitglied des revisionistischen Flügels, schrieb 1896 und 1897 in Die neue Zeit, dem theoretischen Organ der Sozialdemokraten, über die Verbindung zwischen dem Realismus Steins und dem wissenschaftlichen Sozialismus von Marx: Struve versucht Stein mit Marx zusammenzuführen und in die Sozialdemokratie einzubürgern; dahinter steht deutlich das Bemühen, die revisionistische Position zu stärken: Der vom revisionistischen Flügel der Partei beabsich-
66 Földes, Bela, Bemerkungen zu dem Problem Lorenz Stein - KarI Marx, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, 102. Bd., 1914, S. 289-299 (S. 297 tT.), hat bereits alles wesentliche zum Verhältnis zwischen Stein, Marx und der sozial-demokratischen Bewegung gesagt: "Wenn wir das Vorausgeschickte zusammenfassen, so kommen wir hinsichtlich des Problems Lorenz Stein - KarI Marx zu folgendem Ergebnis: ... wenn wir sehen, daß Stein die soziale Frage gerade so einstellte, wie sie uns Marx darbietet, wenn wir sehen, daß in den ersten Aeußerungen Marx' manche Ausdrücke Anwendung finden, manche Antithesen hervorgehoben werden, die geradezu die Charakteristik der Steinsehen Auffassungen bilden, wenn wir gewisse Thesen des kommunistischen Manifestes vor Augen halten, so ist es fast unmöglich, der Annahme aus dem Wege zu gehen, daß Stein auf Marx' erste Denkart und Auffassung Einfluß gewonnen hat. Aber ... In seiner Grundlegenden Arbeit ist Marx vollständig selbständig und baut sein System aus ganz anderen Bausteinen, wie die der Steinsehen Arbeit. ... Gewiß hätte Marx, bei aller Bitterkeit, die ihn auszeichnete, nicht versäumt, von dem Umstande Erwähnung zu tun, daß er in seinem Denken von Stein in entscheidender Weise beeinflußt worden sei". Über diese Erkenntnis kam auch die Arbeit von Uhl, H., Lorenz v. Stein und Karl Marx. Zur Grundlegung von Gesellschaftsanalyse und politischer Theorie 1842-1850, Tübingen (Diss. Phi!.) 1977, nicht hinaus; ganz der "kritischen Theorie" verpflichtet, fällt sie sogar dahinter zurück. Steins "Besitzindividualismus und statisch vorgegebener Staatsbegriff' wird Marx' radikaler Gesellschaftskritik gegenübergestellt; utopische Hoffnung und Realität werden miteinander vertauscht: "Anders als bei Stein ist die politisch-soziale Theorie des Kommunismus der Versuch, die sozioökonomische Perspektive konsequent durchzuhalten .... Während Stein von seinem Begriff des Staates zur sozialpolitischen Aktivität und mithin zur Verwaltungslehre gelangt, bedingt die Marxsche Perspektive die Notwendigkeit, die Gesetze der Ökonomie zu erforschen" (ebd., S. 192). Vgl. auch C. V.
67 Vgl. dazu: Fenske, Hans, Deutsche Parteiengeschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart, Paderbom, München, Wien, Zürich 1994, S. 147 ff.
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tigte Übergang von der revolutionären Bewegung zur Reformpartei soll als legitimes Erbe des realistischen Marx erscheinen. 68 In der That zieht sich als roter Faden durch Steins Buch hindurch die realistische Auffassung, wonach die politischen Kämpfe auf wirthschaftlicher Grundlage beruhende gesellschaftliche Klassenkämpfe sind und die sociale Ideologie nur in Zusammenhang mit diesen wirklichen Kämpfen begriffen werden kann. Diese realistische Gedankenreihe tritt - trotz der abstrakten Ausdrucksweise und den idealistischen Denkgewohnheiten Steins - mit großer Schärfe schon in der ersten Auflage des "So-
68 Der "Revisionismusstreit" hatte sich an der Erkenntnis entzündet, dass die Prophetie des "Kommunistischen Manifests" in vielem irre und daher nicht weiter sakrosankt zu befolgen sei. Eduard Bernstein, der Freund Friedrich Engels' und zugleich Führer wie theoretischer Kopf des revisionistischen Flügels, konnte sich nicht gegen Bebel, Kautsky und Rosa Luxemburg durchsetzen; er hielt gleichwohl an seiner Überzeugung fest, dass nicht die Revolution, sondern die permanente Reform der Gesellschaft Inhalt sozialdemokratischer Politik sein müsse; 1899 begründete er die eigene Position mit einer Monographie über Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie: "Ich bin der Auffassung entgegengetreten, daß wir vor einem in Bälde zu erwartenden Zusammenbruch der bürgerlichen Gesellschaft stehen und daß die Sozialdemokratie ihre Taktik durch die Aussicht auf eine solche bevorstehende große soziale Katastrophe bestimmen beziehungsweise von ihr abhängig machen soll. Das halte ich in vollem Umfang aufrecht. ... Die Prognose, welche ,Das kommunistische Manifest' der Entwicklung der modemen Gesellschaft stellt, war richtig, soweit sie die allgemeine Tendenz dieser Entwicklung kennzeichnete. Sie irrte aber in verschiedenen speziellen Folgerungen, vor allem in der Abschätzung der Zeit, welche die Entwicklung in Anspruch nehmen würde. Letzteres ist von Friedrich Engels, dem Mitverfasser des ,Manifests', im Vorwort zu den ,Klassenkämpfen in Frankreich' rückhaltlos anerkannt worden. Es liegt auf der Hand, dass, indem die wirtschaftliche Entwicklung eine weit größere Spanne Zeit in Anspruch nahm, als vorausgesetzt wurde, sie auch Formen annehmen, zu Gestaltungen fUhren mußte, die im ,Kommunistischen Manifest' nicht vorausgesehen wurden und nicht vorausgesehen werden konnten. Die Zuspitzung der gesellschaftlichen Verhältnisse hat sich nicht in der Weise vollzogen, wie sie das ,Manifest' schildert. Es ist nicht nur nutzlos, es ist auch die größte Torheit, sich dies zu verheimlichen. Die Zahl der Besitzenden ist nicht kleiner, sondern größer geworden. Die enorme Vermehrung des gesellschaftlichen Reichtums wird nicht von einer zusammenschrumpfenden Zahl von Kapitalmagnaten, sondern von einer wachsenden Zahl der Kapitalisten aller Grade begleitet. Die Mittelschichten ändern ihren Charakter, aber sie verschwinden nicht aus der gesellschaftlichen Stufenleiter" (zitiert nach der Ausgabe Hannover 1964, S. 6 f. Vgl. dazu: Lösche, Peter / Walter, Franz, Die SPD: Klassenpartei - Volkspartei - Quotenpartei. Zur Entwicklung der Sozialdemokratie von Weimar bis zur deutschen Vereinigung, Dannstadt 1992, S. 2 f, 6).
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cialismus und Communismus des heutigen Frankreich" (1842) hervor, welche Ausgabe allein für uns in Betracht kommt. 69
In der zweiten und dritten Auflage von Steins Buch über den Sozialismus in Frankreich und in seiner Gesellschaftslehre aus dem Jahr 1856 seien die Überschneidungen zwischen ihm und Marx noch auffaIliger. Struve spielt jedoch ob bewusst oder nicht - den tief greifenden Unterschied zwischen den beiden herab: Marx kämpft, ergreift Partei, um zu verändern. Stein begegnet Veränderungen mit Verständnis und Distanz gegenüber den unterschiedlichen Klasseninteressen; beide bleiben dem Idealismus insofern treu, als sie daran festhalten, dass die Geschichte ein Ziel hat. Struve betont jedoch ungewollt den Unterschied zwischen Stein und Marx, indem er hervorhebt, dass der wissenschaftliche Sozialismus die klassische deutsche Philosophie mit seiner Dialektik beerbt habe. ,,Durch diesen Hang zur philosophischen Einheit ... legitimiert sich Marx als Nachfolger der großen deutschen Metaphysiker"70. Genau dies wollte Stein nicht. Die neu zu schaffende Gesellschaftswissenschaft sollte ihm zufolge nicht die Metaphysik aufheben, sondern neben dem Ideenkosmos die realia des wirklichen Lebens erkunden und beides für gelten lassen. Während Marx frühzeitig auf den Kommunismus setzt, den Klassenantagonismus mit dem unaufhaltsamen Zusammenbruch des Kapitalismus sich selbst aufheben sieht und dessen ungeachtet zur revolutionären Aktion aufruft, vertritt Stein von Anbeginn die Meinung: ,,Keine Form und keine Auffassung für sich erschöpft den Stoff der Geschichte, und so trefflich die einzelne sein mag, so giebt es immer etwas, was besser ist; das sind eben alle Formen und Auffassungen nebeneinander".7l Struve übersieht diesen grundlegenden Dissens und betont nur beider Blick in die Abgründe der industriellen Gesellschaft. 72 Zwar ist ihm beizupflichten, 69 Struve, P. , Studien und Bemerkungen zur Entwicklungsgeschichte des wissenschaftlichen Socialismus. 2. Stein, Marx und der wahre Socialismus (Zur Geschichte der Idee des Klassenkampfes), in: Die neue Zeit, 15. Jg., 2. Bd., 1897, S. 228-235 (229).
70 Struve, P. , Zwei bisher unbekannte Aufsätze von Karl Marx aus den vierziger Jahren, in: Die neue Zeit, 14. Jg., Bd. 2, 1896, S. 54.
7l Stein, L. v., Geschichte des französischen Strafrechts und des Processes (Warnkönig, A. I Stein, L., französische Staats- und Rechtsgeschichte, Bd. 1/1, Basel 1846, S. XI. 72 Vgl. Struve, P. , Studien und Bemerkungen zur Entwicklungsgeschichte des wissenschaftlichen Socialismus. 2. Stein, Marx und der wahre Socialismus, S. 229: ,.Meines Wissens ist Stein der Erste, der eine soziologische Charakteristik des Proletariats gegeben hat, welche dessen weltgeschichtlicher Bedeutung gerecht wird. Stein war ein Bourgeois, ein entschiedener Vertheidiger des Privateigenthums und ein ebenso entschiedener Gegner des Kommunisms, und trotzdem ist seine Schrift für jene Zeit eine glänzende und bahnbrechende Leistung." E. No/te erwähnt in: Marxismus und industrielIe Re-
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wenn er schreibt: "Wir finden bei Marx nicht die idealistisch-utopische Auffassung von Heß und Grün, sondern die realistische von Stein, von allen idealistischen Schlacken gereinigt und wissenschaftlich vertieft"73. Er verkennt aber, daß der wissenschaftliche Sozialismus nicht weniger eine Weltanschauung war und ist als der Idealismus. Marx gebraucht das Wort als die schärftte Waffe des Proletariats. Aufklärung und Ideologiekritik stehen bei ihm von vornherein im Dienst des revolutionären Subjekts und entlarven den Klassenfeind. 74 volution, Stuttgart 1983, S. 321 f., den Hegelianer Lorenz von Stein lediglich als Beweis dafür, dass Marx nicht das Genie war, für das man ihn hält. Wäre sein umfassendes Werk nicht auf die Person Karl Marx und die von ihr initiierte Ideologie fixiert, hätte das Referat von Steins Buch über den Socialismus und Kommunismus in Frankreich nicht so nebulös geendet: "Steins Schlußfolgerung ist deIjenigen Franz von Baaders zugleich unähnlich und ähnlich: ,Bis jetzt hat der Staat die Gesellschaft gestaltet und bedingt; die heutigen socialen Bewegungen Frankreichs dagegen enthalten den Versuch, jetzt den Staat durch den Begriff und das Wesen der Gesellschaft gestalten und bedingen zu lassen'. Steins Lösung war ... ein gesellschaftlicher Staat oder eine staatliche Gesellschaft neuer Art, das soziale Volkskönigtum" (ebd., S. 322). Nolte hebt die Überschneidungen zwischen Stein und Baader einerseits, Marx und dem Junghegelianismus andererseits hervor. Der geschichtsphilosophische und ideologiekritische Impetus seines Buches macht es ihm jedoch unmöglich, auf die Differenzen zwischen Steins realistischem Theismus und Baaders theosophischer Gnosis sowie den daraus hervorgehenden Unterschieden einzugehen. Statt über die Mängel der Marxschen Theorie zu Stein zu finden, braucht er den letzteren nur als Beweis dafür, dass Marx nicht der Begründer des deutschen Sozialismus gewesen sei (ebd.). Wäre Nolte weniger mit dem unde malum und seinen kommunistischen und faschistischen Geschäftsführern in der Geschichte beschäftigt, würde seine Arbeit eine - nicht nur wissenschaftstheoretische - Neubewertung der Sozialwissenschaften bewirken können; so aber bleibt das voluminöse Werk fragmentarisch (nur nebenbei: Das dicke Buch Marxismus und industrielle Revolution zitiert im Text aus Steins Buch von 1842, zieht aber in den Anmerkungen als Beleg die Geschichte der sozialen Bewegung heran und erwähnt mit keinem Wort, weshalb die dort angegebenen Stellen für Nolte bedeutend sind). 73 Struve, P. , Stein, Marx und der Wahre Socialismus (Schluß), in: Die neue Zeit 1897, S. 269-275 (273 f.).
74 Vgl. Taschke, H. , Der Nachlass Lorenz von Steins in Kiel. Zugleich ein Beitrag zur Wissenschaftsbiographie, in: Der Staat, 21. Bd., 1982, S. 258-276: ,,Interessant ist in diesem Zusammenhang, daß sich in der Bibliothek [Steins, S. K.] kein Werk von Karl Marx befindet. Wenn man berücksichtigt, daß z. B. Friedrich Engels, Karl Gruen und Ludwig Feuerbach, aber auch Max Stirner in der Bibliothek vorhanden sind, macht das Fehlen jeglicher Werke von Karl Marx stutzig, zum al sich Stein wiederholt, wenn auch nicht ausführlich, mit Karl Marx auseinandergesetzt hat. Nach Angaben von Frau Gerda von Golitschek [der Enkelin L. v. Steins, S. K.] soll ihr Vater, Ernst v. Stein, erzählt haben, Lorenz von Stein habe auch Bücher von Karl Marx besessen. Er habe sich über Karl Marx sehr geärgert und dessen Bücher mit vielen Marginalien versehen. Ernst von
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Struves Rückblick mag in der Sache recht gehabt haben, das Herz der Sozialdemokratie konnte er so wenig erreichen, wie in der ideologischen Auseinandersetzung die sozialdemokratischen Revisionisten die Macht für sich gewannen. 75 In der Replik seines Gegners vom linken Flügel der Partei, Mehring, leuchtet nicht nur das Erbe von HeB, Grün und des utopischen Idealismus auf, sondern auch das sozialdemokratische Ressentiment. 76 Stein habe in Erinnerung an diesen Ärger seines Vaters die in der Bibliothek befindlichen Bücher von Karl Marx später eigenhändig verbrannt." Vgl. auch C. IV. 75
Vgl. Fenske (1994), S. 148 f.
Vgl. Rauh, Manfred, Die Parlamentarisierung des Deutschen Reiches, Düsseldorf 1977, S. 156 tT.: Die Bismarcksche Verfassungskonstruktion habe es den Parteien im Kaiserreich verwehrt, politische Verantwortung zu übernehmen. "Von der Regression in die ideologische Selbstgenügsamkeit vornehmlich betroffen waren einerseits die linksliberalen, die unter Eugen Richters Führung - mit einer gewissen inneren Berechtigung - kaum noch ein anderes Ziel kannten als die rhetorische Aufrechterhaltung ihrer nicht verwirklichten liberaldemokratischen Prinzipien. Andererseits trieb die Bismarcksche Repressivpolitik gegenüber der sozialistischen Partei diese tief ins ideologische Ghetto. Zudem entfaltete die Arbeiterbewegung im Gefolge der überaus raschen Industrialisierung allmählich einen solchen Umfang und eine solch gefahrdrohende Stärke, dass das Bürgertum keine andere Wahl mehr sah, als sich dem konstitutionellen Staat in die Arme zu werfen, der nachhaltigen Schutz vor der (gewaltlosen) sozialen Umwälzung bzw. gar der Revolution versprach" (ebd., S. 157). "Der dem süddeutschen Revisionismus zugehörige Sozialdemokrat E. David erklärte im November 1910 im Reichstag, der gegenwärtige Zustand der Reichsverfassung sei nichts Fertiges. Da man die Verhältnisse nicht rückwärts revidieren könne, bleibe nur der Weg, das Reich zu einem modemen parlamentarischen System umzugestalten ... Während nämlich die Parteiorthodoxie ebenso wie die aktiv-revolutionäre Linke zunächst das Parlament nur als Agitationsbühne und parlamentarische Arbeit nur als Mittel zum sozialistischen Endzweck betrachtete, wobei die Sonderstellung und der ungeteilte, in die Zukunft projezierte Machtanspruch der Arbeiterbewegung stets unhinterfragtes Axiom blieb, hatte der Revisionist Bernstein bereits um die lahrhundertwende die Konzentration auf praktische Reformarbeit im Parlament und zu diesem Zweck Koalitionen mit dem demokratischen Teil des Bürgertums gefordert. Eine solche aus der Theorie geborene Anschauung ergab sich automatisch, wenn man nicht mehr auf den mit Notwendigkeit eintretenden proletarischen Chiliasmus wartete, sondern in konkreter Anstrengung sozialistische Ziele selbst erarbeiten wollte ... Im Zuge des allmählichen Vordringens der revisionistisch-reformistischen Richtung in der Partei setzte sich dann schrittweise eine an den Erfordernissen der 1/ Tagespolitik (... ) orientierte pragmatische Haltung zum Parlamentarismus innerhalb der SPD durch" (ebd., S. 159 f.). "Die an Gewicht ständig zunehmende Arbeiterbewegung war also gleichsam eingespannt zwischen die bei den Pole der entschiedenen Reformambitionen ihrer eigenen Partei rechten einerseits, und der Blockierung politischer Mitsprache aufgrund der ideologischen Radikalität (oder Scheinradikalität) sonstiger Parteigruppen andererseits ... So trieb jenes Spannungsverhältnis vornehmlich die Par76
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... Steins Schrift [war] in den vierziger Jahren ein Versuch, den bürgerlichen Klassen das Verständniß der sozialistischen Zeiterscheinungen zu vermitteln, in derjenigen Form und demjenigen Maße, die das sogenannte "gebildete Publikum" gerade noch verträgt ... Worauf es mir ankam, war das Eine, die Grenze zwischen dieser bürgerlichen und der sozialistischen Literatur ... zu ziehen, weil sonst große Missverständnisse eintreten können ... ; ich behaupte nur, daß [die bürgerliche Literatur, S.K.] ... sich niemals in die Regionen der selbständigen wissenschaftlichen Forschung zu erstrecken vermag. 77
Die Debatte war damit beendet und das Kapitel Lorenz von Stein und die Sozialdemokratie für immer geschlossen. Steins Diagnose, wonach am Anfang der "industriellen Revolution" erst die sozialistischen Theoretiker dem neu entstehenden Proletariat zu einem einheitlichen Klassenbewusstsein verholfen und aus der Atomisierung gegenüber dem Kapital erlöse 8 hatten, machte sich bei allem Verständnis sozialer Belange keinen Klassenstandpunkt zu eigen; sie griff tiefer. Dies nahmen ihm zuerst HeB und Grün, später auch Marx und Engels, schließlich die gesamte sozialistische Literatur übel.
teirechte immer weiter voran auf dem Weg, aus dem Bestreben zur Überwindung der eigenen Immobilität und Objektrolle zugleich ein verstärktes anti-revolutionäres, staatspolitisches Verantwortungsbewusstsein herauszudestillieren" (ebd., S. 161). 77 Mehring, Replik auf Struve, P.: Stein, Marx und der wahre Sozialismus (Schluß), in: Die neue Zeit, 15. Jg., 2. Halbband, S. 379-382. 78 Vgl. Stein, L. v., Soz. Bew. 11, S. 97 f.: Die Arbeiter seien von den Verheißungen der bürgerlichen Revolution ausgeschlossen: "Sie sind nicht frei, nicht gleich, sie sind es nicht, weil sie kein Kapital, nur Arbeitskraft, nicht das der Persönlichkeit zufällige, nur das ihr natürliche und angeborene besitzen! Und dennoch ist Freiheit und Gleichheit der Wahlspruch der ganzen neueren französischen, so unvergleichlich glanzvollen Geschichte! - So hat sich denn in einem Zeitraume von etwa fünfzig Jahren [gemeint ist die Zeit von 1789-1840, S. K.] das zweite große Element der industriellen Gesellschaft, die Arbeit, sich als ein selbständiges dargestellt ... Die industrielle Gesellschaft, bis dahin ein abstrakter Begriff, hat jetzt ihre Ordnung erhalten; der allgemeine Grundsatz, daß in jeder Gesellschaft die Besitzenden den Nichtbesitzenden gegenüberstehen, ist hier verwirklicht in der Tatsache, daß Kapital und Arbeit als Kapitalisten und Proletariat einander gegenübertreten ... wenn das Leben und die Elemente der Gesellschaft den Staat und das ganze Volk beherrschen, wenn sie es sind, welche die wahre Geschichte der Völker bilden, so muß es sich alsbald zeigen, daß jener Gegensatz zwischen den Kapitalisten und dem Proletariate die wahre Grundlage aller Entwicklung des ganzen auf der Erwerbsgesellschaft beruhenden Europas ist. Und um so mehr natürlich, je reiner diese Erwerbsgesellschaft in einem Lande dargestellt ist". Die Wortwahl zeigt, dass der junge Stein - bei allem Gegensatz zum extremen Linkshegelianismus - wie Karl Marlt in junghegelianischen Argumentationsfiguren befangen ist.
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4. Die Vision Lorenz von Steins Die Anerkennung der welthistorischen Bedeutung der sozialistischen Schriftsteller Frankreichs steht bei Stein neben der wissenssoziologischen Analyse des Aufkommens der Menschenrechte aus dem Geist der Utopie. 79 Dazu tritt die Überzeugung, dass der Sozialismus nicht der Zukunft, sondern dem Übergang von der ständischen Vergangenheit zur aufkommenden egalitären Erwerbsgesellschaft angehöre. 8o Er bewundert die Prämisse der sozialistischen Theoretiker, die Betrachtung der Gesellschaft als einer bewusst zu gestaltenden Gemeinschaftsaufgabe: "Und hier ist es, wo der Sozialismus der höchsten, würdigsten Auffassung der natürlichen Welt und ihres Verhältnisses zur Idee der Persönlichkeit, dem wahren Begriffe des irdischen äußeren Lebens zuerst die Bahn gebrochen hat". 81 Diese Reverenz hindert ihn freilich nicht daran, den Sozialismus seiner Zeit scharf zu bekämpfen. Die sozialistischen Theoretiker schlügen sich mit den Gespenstern der Vergangenheit; sie begriffen nicht, dass das Kapital keine dunkle Macht, sondern unabdingbarer Bestandteil der neuen Gesellschaftsordnung sei. Weil die sozialistische Theorie dies nicht verstehe, sei sie dazu verurteilt, neben den Früchten der Arbeit, d. h. dem Eigentum und dem gewerblichen Kapital, auch die Familie und die auf ihr aufbauende Gesellschaftsordnung anzugreifen. 82 So wenig die Linke der neuen Zeit gerecht wurde, begriff die Rechte, dass die Industrialisierung wirklich neue Zustände schuf. Die Geschichte hielt für die modemen Zeiten keine Lehren mehr bereit. Wie Heß und Ruge die scheinbare Mattigkeit des Steinschen Buches beanstandeten,
79
Vgl. dazu unten A. 11. 2. und C.
80 Vgl. Stein, L. V., Soz. Bew. 11, S. 131: "Der Sozialismus hat, indem er eine ganze Weltanschauung aus dem Prinzipe der Arbeit entstehen läßt, zum ersten Mal die Forderung gestellt, das ganze äußere Leben der Welt in seinem Verhältnisse zur höchsten Bestimmung des Individuums zu denken; er hat damit die große Wahrheit zuerst angedeutet, daß die Gesellschaft der Menschheit nicht bloß eine gegebene Ordnung derselben, sondern daß sie vielmehr in ihren verschiedenen Gestalten und Prinzipien diejenige Form ist, in welcher sich die Bestimmung der ganzen äußeren Welt, nach welcher sie der Vollendung des Einzelnen dienen soll, organisch betätigt." 81
Ebd., S. 131 f.
Vgl. Stein, L. v., Soz. Bew. 11, S. 102 (: "Täuschen wir uns nicht. Die Logik des Elends ist unerbittlich gegenüber den anerkanntesten Überzeugungen der Menschheit, und ehe das klare Bewußtsein entsteht, langt der Instinkt der Freiheit unfehlbar bei dem Punkte an, wo er seinen mächtigsten wahren Gegner findet ... ; es gibt für die konsequente Logik gar keinen Mittelweg - entweder es muß, um Eigentum und Familie zu retten, das Prinzip der absoluten materiellen Unabhängigkeit, oder es muß, um diese zu vollziehen, Eigentum und Familie aufgegeben werden". 82
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monierte Wilhelm Roseher Steins Hegelianismus, der zu Unrecht die Einzigartigkeit des modemen Proletariats hervorhebe: Zum Teil mag ihn mangelnde Geschichtskenntnis dazu gezwungen haben; zum großen Teil aber auch seine Verstrickung in die Netze des Hegel'schen Systems. Er war hiernach verpflichtet, die vornehmsten Erscheinungen unserer Tage als spezifisch eigentümlich, früher niemals dagewesen aufzufassen; er mußte, wenn ihm zu anderen Zeiten und bei anderen Völkern etwas Ähnliches vorkam, mit Gewalt die Augen zudrücken. 83 Die historisch-logische Argumentation Steins schließt demgegenüber mit der Überzeugung, nicht am Ende, sondern am Beginn einer Epoche zu stehen: ,,Bei jenen beiden Punkten [Kapital und Arbeit, S. K.] ist die alte Idee der Freiheit und Gleichheit an ihrer Grenze angelangt, und eine ganz neue Bewegung auf einem neuen Gebiete beginnt". 84 Schon der junge Stein schreibt in dem Bewußtsein, einer Zeit vorzuarbeiten, die er nicht mehr erleben wird. Die Fundamente des neuen Äons würden zwar
83 Roscher, W., Betrachtungen über Socialismus und Communismus, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 3. Bd., 1845, S. 540 tT. (544), zitiert nach Heilmann, M., Lorenz von Stein und die Grundprobleme der Steuerlehre. Ein Beitrag zur Geschichte der Finanzwissenschaft, Heidelberg 1984, S. 20, Fn. 31. Demgegenüber betonte Stein im Januar 1848 gegenüber Robert v. Mohl den Zeitenbruch und wohin seine Forschungen liefen. Er bemerkt zur - dem Brief beigefügten - 2. Auflage seines Frankreichbuches: ,,Alle Ereignisse haben mir den Satz bestätigt, den ich früher dunkel ahnte, dessen bestimmendere Entwicklung Sie stets mit besonderm und allerdings vollkommen berechtigten Nachdrucke gefordert haben, daß man Begriff und Natur der Gesellschaft kennen müsse, um nicht bloß die ganze Bedeutung von Sozialismus und Kommunismus sondem die ganze neue Bewegung verstehen zu können ... ; ich hoffe, daß ich später Zeit und Kraft haben werde, die Wissenschaft der Gesellschaft selbständig zu bearbeiten und ihr ihren Platz in den Staatswissenschaften anzuweisen ... Ich mag es nicht läugnen, daß ich auch mein Herz an die Wahrheit dessen gehangen habe, was hier darzulegen versucht worden ist. Diese Studien haben mich befriedigt, während außen der Befriedigung nur wenig zu gewinnen war; und sind jene Ansichten richtig, so werden sie manches erklären, was ohne sie vielleicht Zufall oder Verwirrung scheinen möchte" (Brief an Robert v. Mohl vom 1.12.1848, Universitätsbibliothek Tübingen, Handschriftensammlung, Sign. Md 613-852). In demselben Brief berichtet er v. Mohl vom Scheitern, der Schleswig-Holsteinischen Sache auf friedlichem Wege zu dienen, und dass " ... diejenigen an unserer Universität, die sich am bestimmtesten gegen die dänischen Übergriffe erklärt haben, keine angenehme Zukunft [haben]. Die meinige ist wohl vorläufig vernichtet" (ebd.). Kurz danach begannen die Schleswig-Holsteinische Empörung und der deutschdänische Krieg. 84
Stein, L. v., Soz. Bew. 11, S. 103.
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in seiner Gegenwart gelegt, das darauf stehende Haus gehöre aber erst der Zukunft. Wie jenseits unseres Sonnensystems sich andere Sonnensysteme nach denselben Gesetzen bewegen, welche unsere WeIt beherrschen, so liegt hinter den gegenwärtigen Zuständen eine Zukunft, die man in demjenigen versteht, was fiir die Gegenwart gilt. Es ist möglich das Kommende vorherzusagen, nur daß man das einzelne nicht prophezeien wolle. Aber bis zu einem gewissen Grade reicht die Berechnung mit derselben Sicherheit in die kommenden, wie in die vergangenen Dinge hinein. 85 Diese in die damalige Gegenwart hineinleuchtende Zukunft gehöre der egalitären Erwerbsgesellschaft, einer Gesellschaft, in der nicht mehr bestimmte Stände oder Klassen, sondern das allgemeine Kapitalinteresse an die Stelle des gesellschaftlichen Gegensatzes trete. Und das sei nicht mit dem eines einzelnen Kapitalbesitzers zu verwechseln. 86 In den Wirren der industriellen Gesellschaft schlummerten die Keime einer neuen Gesellschaftsordnung, der Gesellschaft
des gegenseitigen Interesses.
Es soll nicht unsere Sache sein, von deIjenigen Form der Gesellschaft zu reden, weiche auf jener Gegenseitigkeit des Interesses beruht ... Allein das, glaube ich, liegt nunmehr klar vor, wo der Ausgangspunkt aus all den Kämpfen der gesellschaftlichen Ordnungen ist, den alle bisherigen Zeiten vergeblich gesucht haben ... ; er liegt überhaupt nicht in der unmöglichen Aufhebung ... der Verschiedenheit der Menschen überhaupt; denn diese Verschiedenheit ist die absolute Voraussetzung der organischen Einheit ihrer Tätigkeit, ohne welche sie nie aus dem rohen Naturzustand herauskommen wird und kann; sondern er liegt einfach und mit mathematischer Gewißheit in den Verhältnissen der Interessen von Arbeit und Kapital ... Arbeit und Kapital, ihrem innersten Wesen nach sich gegenseitig erzeugend und bedingend, haben daher ein solidarisches Interesse. 87
85 Stein, L. v., Soz. Bew. I1I, S. 194. 86 Zwar drücke der jeweilige Kapitalbesitzer den Arbeitslohn, um seine Kapital-Verwertung zu steigern, und der Gegensatz zwischen Arbeit und Kapital erscheine unausweichlich; man dürfe jedoch das Kapital als solches nicht mit dem Interesse seines jeweiligen Besitzers zusammenwerfen. "Betrachtet man ... diesen Gang der Dinge genauer, so sieht man, daß das allgemeine Interesse des Kapitalerwerbs aufgelöst ist in das Sonderinteresse jedes einzelnen Kapitals, das nicht mehr um des wahren Interesses des Kapitalerwerbs überhaupt, sondern um seines individuellen Interesses willen die Arbeit erwerbslos macht. Auf diese Weise löst sich zunächst die Solidarität der Interessen aller Kapitalien in eine unendliche Menge von Einzelinteressen auf, die alle auf Kosten der Arbeit befriedigt werden wollen. Und das ist der Quell des Übels" (ebd., S. 199). 87
Soz. Bew. I1I, S. 202 f.
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Werde dies Ziel erreicht, trete die Harmonie des Güterlebens an die Stelle des Klassenkampfes und mit ihr " ... der Anfang der wahren Freiheit".88 Steins Vision ist nicht weniger großartig als der Chiliasmus von Marx und Engels, setzt sie doch den Bruch mit der Vergangenheit so grundsätzlich voraus wie diese und die Junghegelianer; sie verbindet ihren Traum aber mit den ,,Mühen der Ebene". Zwanzig Jahre später arbeitet er noch immer intensiv an dem hier nur angedeuteten Projekt. 89 Er begreift die industrielle Revolution als den letzten großen Befreiungsakt der Weltgeschichte. Dank ihr trete der einzelne Mensch aus allen vorgegebenen Gesellschaftsordnungen heraus und sprenge die Kette zwischen Geburt, Familie und sozialem Stand. Jetzt machten ... sich Wirthschaft, Gesellschaft und Staat von diesen Momenten frei ... , welche dem Interesse die Macht gegeben haben, ein solches Recht zu schaffen. Diese Momente waren die Geburt und der Beruf ... So wie daher jene Momente sich historisch ausgelebt haben, tritt die Idee und die Kraft dieser individuellen Selbstbestimmung auf. Sie wird jetzt die wirkende Kraft für das gesammte persönliche Leben in Wirtschaft, Gesellschaft und Staat; sie erzeugt den Organismus derselben, und sie ist daher jetzt die rechtsbildende Kraft der Menschheit. 90 Stein schreibt unbefangen über den Unterschied zwischen Idee und Realität, Entwurf und Verwirklichung der neuen Gesellschaft. So wenig wie er die sozialistische Theorie als bloße Ideologie abtut, so wenig ist er bereit, die in ihr weiterwirkende Macht der ständischen Gesellschaft zu akzeptieren. Die europäische Gesellschaftsgeschichte sei nicht mehr als die verschiedenen Stadien des Kampfes zwischen Arbeit und Besitz; und diese hätten gezeigt, dass die zunächst unfreie Arbeit in Handel und Gewerbe den arbeitenden Besitz geschaffen, damit zu Freiheit und Ebenbürtigkeit mit dem Grundbesitz gelangt und in der industriellen Gesellschaft vor die Herausforderung gestellt sei, indi88
Ebd., S. 203.
Vgl. Stein, L. v., Gegenwart und Zukunft der Rechts- und Staatswissenschaft Deutschlands, Stuttgart 1876, S. 227. Vgl. auch: Stein, L. v., Blicke auf den Socialismus und Communismus in Deutschland (1844), S. 25: "Die Geschichte der tausend Jahre von Karl dem Großen bis zum Ende des 18. Jahrhunderts hat nach dieser Seite hin den Inhalt, über die ursprünglich individuell freie germanische Welt einen mächtigen Organismus auszubreiten, der das freie Recht des Individuums aufhebt. Es entsteht ein Organismus des Eigenthums in der Unterdrückung des Geldbesitzes durch den Grundbesitz, ein Organismus des Grundbesitzes im Lehnsrecht, ein Organismus der Personen in den Ständen, ein Organismus des Staats in seinen Aemtern. Alle diese Seiten der Organisation des Lebens, die im vorigen Jahrhundert vollendet dastehen, haben darin den Charakter der absoluten Unfreiheit, daß sie Stellung, Recht und Arbeit der Person von einem der Person Zufälligen abhängig machen. Den langsamen, aber unaufhaltsam fortschreitenden Gang dieser Entwickelung hat die Geschichte der Gesellschaft zu lehren". 89
90 Stein, L.
v., Gegenwart ... , S. 213.
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viduelle Unabhängigkeit, rechtliche Gleichheit und soziale Freiheit miteinander zu verbinden. Durch ganz Europa geht das Gefühl, daß dieser Zustand nicht dauern kann, nicht dauern wird. Gewaltige, furchtbare Bewegungen bereiten sich vor; niemand wagt es, zu sagen, wohin sie führen werden. Und niemand hat in der Tat das Recht dazu, als einzelner der Zukunft ihr Losungswort zu geben ... Das Gesetz, unter dem das Leben Europas begonnen hat, ist das Gesetz, nach welchem die Verteilung der Güter die Gesellschaft und durch sie den Staat beherrscht. Dies Gesetz muß sich erfüllen. Es hat die Arbeit frei gemacht und sie dem Besitze gegenübergestellt; es fordert jetzt ein neues Prinzip der Gesellschaft, die Anerkennung des gegenseitigen Bedingtseins der Blüte des einen durch die Blüte des anderen, und damit ein beständiges gegenseitiges Opfer der Sonderinteressen des einen für das Interesse des anderen. Es ist mathematisch unmöglich, daß ohne dieses Prinzip die Gesellschaft und die Staaten noch lange fortleben können; denn die Stadien des Gegensatzes beider sind durchlaufen. Wenn daher Europa noch eine Zukunft hat, so beruht sie einzig und allein auf der Fahigkeit seiner Völker, jenes Prinzip anzuerkennen; haben sie diese Fähigkeit nicht, wollen Arbeit und Besitz noch länger im Gegensatze bleiben, so wird Europa mit all seiner Herrlichkeit jetzt in der industriellen Gesellschaft seinen Höhepunkt erreicht haben, und unaufhaltsam sich auflösend, in die Barbarei zurückfallen. 91
Dies waren die Vision und das Programm Lorenz von Steins. Ein Projekt, das bei allem Höhenflug des Gedankens nicht den Boden unter den Füßen verlor, sich der Wahrheit der Tatsachen stellte und die idealistischen Vorgaben mit der Realität zu verbinden wusste. Der Zusammenbruch seiner politischen Hoffnungen brachte Steins gesellschaftliche Stellung zwar ins Wanken, konnte ihn aber in seiner Arbeit nicht beirren, im Gegenteil; zurückgeworfen auf die Position des Privatdozenten und freien Publizisten vollendet er sein Jugendwerk und legt den Grundstein zu den Lehrbüchern der Wiener Zeit.
5. Nach dem Ende politischer TräumeMit dem Scheitern der deutschen Revolution sind zwar Steins politische Träume zerplatzt, aber nicht deren gesellschaftswissenschaftliche und historische Fundierung. Es ist bezeichnend für seine Vorgehensweise, dass er in den Jahren zwischen 1844 und 1856 Zeitgeschichte, Philosophie und Politik miteinander verbindet; er legt nicht nur die Fundamente seiner späteren Arbeiten; interessanter und für den ideengeschichtlichen Stellenwert der ideologischen Kämpfe am Ausgang des 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wichtig scheint mir, wie die Analyse der sozialistischen Schriftsteller mit den Schismen innerhalb der junghegelianischen Bewegung verbunden werden. 91
Stein, L. v., Soz. Bew. IJI, S. 208 f.
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Stein appelliert 1844 noch zwischen den Zeilen an die alten Weggefährten92 , dass sie die Philosophie der absoluten Gewissheit aufgeben und sich der Wahrheit der Tatsachen stellen sollen; später gewinnt die Auseinandersetzung an Schärfe und weicht schließlich dem distanzierten Blick des Apostaten der philosophischen Revolution. 93 Nach dem Zusammenbruch der Schleswig-Holsteinischen Erhebung und der 1852 vollzogenen Amtsentsetzung in Kiel ringt er um seine Zukunft in Deutschland; er spielt seine eigene Rolle im Vormärz und bei der gescheiterten Revolte herunter. Der parlamentarische Monarchist 94 wurde zu jener Zeit der
92 Vgl. Stein, L. (1844), S. 36 ff.
V.,
Blicke auf den Socialismus und Communismus in Deutschland ...
93 1852 beschreibt er, weshalb ihn das Buch über den französischen Sozialismus mit einem Schlag berühmt gemacht habe und warum er mit dieser Publikation die erbitterte Feindschaft der extremen Linken auf sich gelenkt hatte: Zu einer Zeit, wo Deutschland eher staunend als teilnehmend die Umwälzungen innerhalb der französischen Gesellschaft beobachtete, die ehemals staatstragende HegeIsche Philosophie von ihren Epigonen zur Waffe der revolutionären Bewegung gemacht wurde und der technische Fortschritt den Alltag umwälzte, habe sich alles in Gärung befunden. "Da zeigte jenes Buch [über den französischen Sozialismus und Kommunismus, S. K.] auf der einen Seite plötzlich einen Abgrund zu den Füßen der Unbesonnenen, eine hohe Aufgabe für Die, welche den wahren Fortschritt lieben, einen weiten, noch ganz unausgebeuteten Tummelplatz für die Thätigkeit der Mund- und Federlustigen, einen mächtigen Hebel für jede Partei der Bewegung, und endlich sogar ein neues Gebiet für die Wissenschaft. Alles das nicht als ein Fertiges, nicht mit dem Anspruche, die Wahrheit allein entdeckt zu haben und zu wissen, sondern selbst nur noch ahnend, welche Zukunft auf diesem unerforschten Gebiete liege! ... Die verschiedenen Richtungen bemeisterten sich desselben sogleich; es entstand ein Zerfahren nach allen Seiten ... " (Stein, L. v., Der Sozialismus in Deutschland, in: Die Gegenwart, 7. Bd., 1852, S. 517-563, zitiert nach Pankoke [1974], S. 16-62 [30]). 94 Bereits während die Paulskirche tagte, hatte er deren klägliches Ende vorausgesehen. Nach seiner Rückkehr aus Paris, wo er für die Schleswig-Holsteinische Revolutionsregierung geworben hatte (vgl.: Stein, L. V., La Question du Schleswig-Holstein, in: Fa/ck, N. [Hrsg.], Staats- und Erbrecht des Herzogthums Schleswig, Hamburg 1846, Anhang [Paris 1848]), schrieb er Droysen darüber, dass die Bürgerlichen SchleswigHolsteins ihn in keinem Amt sehen wollten: "Unsere Zukunft ist eine höchst unklare. Die constituierende Versammlung ist durchaus conservativ; ... eine Linke wird es nicht geben; das ganze Land ist voll von einer wahrhaft kindischen Angst vor allem was es als demokratisch oder gar republikanisch ansieht; es ist im Allgemeinen ein recht halber Zustand ... Sie kennen die Dissonanzen in diesem Körper [der parlament. Versammlung, S. K.]; ... und dennoch wird das einzige Heilmittel, eine kräftige Haltung der Stände, nicht stattfinden. - Ich bin für meinen Teil nicht einmal genannt - ich soll, sagt man mir,
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Linken zugerechnet und galt Konservativen wie Liberalen als unsicherer Kantonist. Von beiden gemieden, fällt es ihm leicht, sich selbst und sein Werk als Teil einer Entwicklung darzustellen, die ihn mehr mit sich fortgerissen, als dass er sie gestaltet habe. Nicht sein Buch über den französischen Sozialismus und Kommunismus, sondern die Entscheidung Friedrich Wilhelm IV. gegen die konstitutionelle Monarchie in Preußen sei in Deutschland der Ursprung sozialrevolutionärer Bewegungen. Damit sei nicht nur der "alte Liberalismus" als politische Bewegung untergegangen; die Gesellschaft habe ohne politisches Zentrum an den unterschiedlichsten Orten nach neuen Fixpunkten ihrer Selbstvergewisserung gesucht. Es war die Epoche der "Negation"; ihr Fahnenträger waren die "Hallischen Jahrbücher". Es war durchaus wahr, was man ihnen vorwarf, daß sie dem Glauben des Volks viele große Männer genommen, aber ihm keinen einzigen wiedergegeben hätten; aber es war das eben der Charakter dieser Zeit, in der die Trümmer des Alten gleichsam in den Gemüthern umherlagen, zu groß, um schon einem neuen Raum zu gestatten, und doch nicht innerlich stark genug, um selbst einen neuen Bau zu tragen. 95
Er weiß, wovon er spricht, wenn er die erste Hälfte der vierziger Jahre als eine "merkwürdige Zeit" bezeichnet. Die Restauration wird nicht nur von zunehmend radikaleren politischen Bewegungen begleitet; die bei Arnold Ruge und der Rheinischen Zeitung gelagerten Trümmer der idealistischen Philosophie bieten zwar keinen großen Weltentwurf mehr, aber sie reichen aus, vergangene Hoffnungen mit neuen Utopien zu verbinden. Rückblickend sieht Stein, dass gegen Ende des Vormärz nicht der Junghegelianismus, sondern die preußische Regierung den politischen und sozialen Radikalismus stark gemacht hat. Mit dem Verbot der Deutschen Jahrbücher und der Rheinischen Zeitung habe man ... die noch unentschiedenen Anhänger der proletaren Agitation in die weite publicistische Welt rücksichtslos hinaus(gestoßen), und zwang sie auf diese Weise, jetzt erst recht mit rechtem Nachdrucke sich dem Proletariat zuzuwenden ... Denn kaum war dies geschehen, als unter dem Schutze des Unmuths, der sich durch das ganze Rheinland über diese Maßregel verbreitete, die rührigsten und intelligentesten Kräfte jener Zeitung nunmehr geradezu der Volksagitation in die Arme warfen ... Die allgemeinen Redensarten von Freiheit aber waren erschöpft; der Kampf der "Hallischen Jahrbücher" gegen die Tradition und die Romantik hatte die junge Welt gelehrt, nicht blos an Allem zu zweifeln, sondern auch die Consequenz des Gedankens der Freiheit über jede Thatsache zu stellen. 96 die bete noire sein im ganzen Land". Brief an Gustav Droysen vom 8.8.1848, zitiert nach Schmidt (1956), S. 170. 95 Stein, L. v., Der Socialismus in Deutschland (1852), S. 26. 96
Ebd., S. 36 f.
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Der Junghegelianismus hatte Hegels Diktum vom Reich der Freiheit 97 aufgenommen und zur sozialrevolutionären Losung gemacht; im Gegensatz dazu war Hegel dem radikalen Bruch mit der Vergangenheit aus dem Weg gegangen: Die Hegeische Dialektik gipfelte in der konkreten Allgemeinheit, einer Bestimmung, nach der das zufallig einzelne zu seinem Begriff aufgehoben und dieser mit der Wirklichkeit versöhnt wird. Gerade hier hatte die junghegelianische Kritik angesetzt. Die Junghegelianer folgten Hegels Vorgaben nicht unbesehen, sie machten sich vielmehr die Fichtesehe Ausgangsposition zu eigen: der Wille des Ich mache sich zum Ursprung seiner selbst und die wahre Theorie zum Grund der neuen Wirklichkeit. Als nun ihre Publikationsorgane verboten wurden, ging es den Junghegelianern nicht mehr darum, die Theorie auf die gegebenen Zustände anzuwenden; es galt, der wahren Theorie die falsche Wirklichkeit zu unterwerfen. 1852 bezieht Stein sich wie schon 1844 auf Ruges Vorwort zu den daraufhin verbotenen Deutschen Jahrbüchern für Wissenschaft und Kunst aus dem Jahr 1843. Ruge hatte dort die allen gemeinsame Position zusammengefasst: Die deutsche Welt, um ihre Gegenwart dem Tode zu entreißen und ihre Zukunft zu sichern, braucht nichts als das neue Bewußtsein, welches in allen Sphären den freien Menschen zum Princip und das Volk zum Zweck erhebt, mit einem Wort die Auflö-
sung des Liberalismus in Demokratismus. 98
Wer nur das neue Bewusstsein gelten lässt, negiert zwangsläufig alle mit dem Alten verbundenen Zustände. Zunächst behielt noch der Radikaldemokrat Ruge das Heft in der Hand. Als aber die "Deutsch-französischen Jahrbücher" seit 1844 in Paris erschienen und die alten namhaften Mitarbeiter der "Hallischen Jahrbücher" sich sämmtlich zurückgezogen hatten, da verschmolz philosophischer, politischer und socialer Radicalismus in ein Ganzes, und aus diesem Ganzen ging der eigentliche Communismus als Gesammtresultat hervor. Das Jahr 1845 war die Glanzperiode dieser ganzen Richtung. 99
97 Vgl. Hegel, G. W. F., Antrittsvorlesung in Berlin vom 22.10.1818; ders., Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften 1II, Anhang, in: Werke, Bd. 10, S.404: "Die Natur ist darunter gebunden, die Vernunft nur mit Notwendigkeit zu vollbringen; aber das Reich des Geistes ist das Reich der Freiheit; - alles, was das menschliche Leben zusammenhält, was Wert hat und gilt, ist geistiger Natur; und dies Reich des Geistes existiert allein durch das Bewußtsein von Wahrheit und Recht, durch das Erfassen der Idee". 98 Ruge, A., Eine Selbstkritik des Liberalismus, in: Deutsche Jahrbücher für Wissenschaft und Kunst, 1843, S. 1-12 (12).
99 Stein, L. v., Der Sozialismus in Deutschland (1852), S. 37. In diesem Zusammenhang erwähnt Stein auch Friedrich Engels: Dessen Buch "Die Lage der arbeitenden
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Bei aller Kritik steht Stein zu seinem ehemaligen philosophischen und journalistischen Mentor: Die Reste der hallischen Literatur, A. Ruge an der Spitze, standen denn doch im Grunde zu hoch, um sich ruhig mit diesen halb kindischen, halb incendarischen Bestrebungen identificiren zu lassen. Namentlich der rohe Communismus und seine, auch in den rein persönlichen Verhältnissen sich äußernde widerliche Gleichmacherei zwangen die bessern Elemente bald, sich davon loszusagen. So erhob sich bereits 1846 ein Kampf der politisch Radicalen gegen die Socialradicalen ... 100
Apologie und Kritik, Ideen- und Sozialgeschichte fließen in dieser Darstellung zusammen; aus einstigen Vorbildern sind philosophische Widersacher und politische Gegner geworden: Das Bekenntnis zum Personalismus hatte Stein notwendig in den Gegensatz zum Junghegelianismus getrieben und an die Romantik angenähert. Was beiden jedoch gleichermaßen fremd blieb und Steins Berufung wurde, war ein Realismus, der der Wahrheit der Tatsachen ins Auge sah, ohne die Transzendenz zu leugnen. Obgleich der Rekurs auf Die Persönlichkeit nur appellativ ist und unbegründet bleibt, ist das Axiom stark genug, sich gegen den junghegelianischen Hyperrealismus zu behaupten. Die theistische Fundierung verstellt Stein nicht den Blick in die vielschichtigen Zwänge innerhalb der Gesellschaft. Erkennt er in dem reaktionären Konservatismus der Restaurationspolitik lediglich die Ideologie ostelbischer Grundbesitzer und rheinischer Industrieller, so stößt ihn die im bloßen Sozialneid endende kommunistische Bewegung ab: Reaktion wie Revolution leugneten die Individualität wirklicher Personen und die Eigendynamik gesellschaftlicher Sachverhalte. Dies habe die gescheiterte Revolution gerade erst bewiesen: Sie sei gescheitert, weil in der Paulskirche die soziale und die politische Bewegung nicht zusamKlassen in England" sei " ... ohne Frage die beste Invective, die jemals in Deutschland gegen die industrielle Gesellschaft und ihre Zustände geschrieben ward; ein Buch der Partei wie kein anderes" (ebd.). 100 Ebd., S. 39. Auch Ludwig Feuerbach und Friedrich Fröbel werden kritisiert. Fröbel habe die Religionskritik Ludwig Feuerbachs auf das soziale Leben übertragen. Genauso unbegründet wie Feuerbachs Glaube an das wahre Wesen des Menschen sei Fröbels neuer "Humanismus": "Der Mensch ist der höchste Ausdruck des Göttlichen; und wenn man auch dabei nicht recht begreift, woher dann das Übel und sein Schmerz kommt, so muß man doch zugestehen, daß diese Menschlichkeit Gottes, zur Göttlichkeit des Menschen geworden, es sehr leicht macht, ein philosophisches System des ,freien' menschlichen Lebens aufzustellen, in welchem das ,Wesen' und der ,Begriff aller wirklichen Verhältnisse, des Eigenthums, des Rechts, des Verkehrs u. s. w. in der Beleuchtung gegeben sind. Aber, was schwerer zu begreifen ist, das ist, wie eigentlich Männer, die für andere und nicht für sich selber schreiben, sich in practischen Dingen mit einer abstracten Theorie begnügen, die dem Wirklichen, für welches dasselbe eben gelten soll, so ungemein wenig entspricht" (ebd., S. 50).
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mengefunden, sondern sich gegenseitig paralysiert hätten; Deutschlands Einheit sei nicht an der Politik Preußens und Österreichs, sondern am Partikularinteresse der Gesellschaftsklassen zugrunde gegangen. "Die Nationalversammlung trat zusammen und begann Gesetze zu machen; aus diesen Gesetzen sollte dann ,das Reich' hervorgehen, statt daß aus dem Reiche die Gesetze hervorgehen sollen"101. Wie Droysen gegenüber während der Revolution kritisiert Stein jetzt an der Frankfurter Versammlung, sie habe die gesellschaftlichen Verhältnisse in Preußen und Österreich ignoriert; sie habe deshalb gar nicht bemerkt, dass sie mit der Diskussion der Grundrechte die ostelbischen Grundbesitzer wie die rheinischen Arbeiter und Unternehmer gegen sich aufbringen musste, und ... daß eben in Preußen und Östreich die gesellschaftlichen Elemente, die sie in den Grundrechten zum Kampfe mit dem Deutschen Reiche geweckt hatten, bereits siegreich dastanden, und daß die Verfassung für Deutschland absolut unannehmbar war, weil sie eine gesellschaftliche Ordnung voraussetzte, die das deutsche Volk nicht besaß. Die Sache war zu Ende. 102 Ungeachtet seiner aus diesen Erfahrungen hervorgehenden Sozialphilosophie und Gesellschaftslehre referiert und verarbeitet der Revolutionär Stein das Scheitern der deutschen Revolution wie das der Schleswig-Holsteinischen Erhebung. Nicht nur die junghegelianische Philosophie, auch der politische Liberalismus hatten sich in Deutschland als Utopie erwiesen. Stein zieht daraus die Konsequenz, nicht mehr ausschließlich auf den Begriff zu bauen. Nach dem Zusammenbruch der Schleswig-Holsteinischen Erhebung löst er sich von den letzten Resten der junghegelianischen Illusion. Die neue Wissenschaft der Gesellschaft habe nicht die wahre Theorie zu verwirklichen, sie müsse sich vielmehr der Wahrheit der Tatsachen stellen, soziale Gegebenheiten analysieren und der Harmonie divergierender Interessen vorarbeiten: Individuelle Abhängigkeit gebe es in jeder Gesellschaft. Die freie Geschichte der Gesellschaft beginne daher nicht, indem die Arbeit über das Kapital herrsche oder Herrschaft überhaupt aufgehoben werde; sie beginne damit, "daß die letzte Arbeitskraft die Fähigkeit habe, zum Kapitalbesitz zu gelangen" 103. Dieser Satz bildet gleichermaßen den Kern von Steins politischem und sozialem Engagement wie seiner wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Unternehmungen: Dieses Ziel will nicht die Gleichheit aller, sondern die Freiheit jedes einzelnen. Es widerspricht dem Fundamentalsatz der sozialistischen Theorie, wonach die individuelle Freiheit der sozialen Gleichheit zu dienen habe: "denn diese Gleichheit der Menschen lässt sich ebenso wenig denken, als sie je 101 Ebd., S. 56. 102 Ebd., S. 57. 103 Stein, L.v., Soz. Bew. I, S. 136.
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wirklich gewesen ist oder sein wird" 104 . Wo Marx alles von der Zukunft erwartet, erinnert Stein an den Unterschied zwischen dem Begriff des Menschen und seiner wirklichen Individualität: Ich kann mir das Entstehen der Individualität auf verschiedene Weise vorstellen; immer bleibt die Tatsache der Verschiedenheit. Und wenn ich endlich setze, daß diese besondere Individualität nicht in dem einzelnen als solchen liegt, sondern erst durch die besonderen Verhältnisse der Gemeinschaft erzeugt ist, so muß ich, indem ich diese Gemeinschaft selber wiederum als den vollen Ausdruck des Begriffs der Persönlichkeit erkennen muß, dann erst recht entschieden annehmen, daß gerade derselbe Begriff durch sein allgemeines Leben die Individualität erzeugt, die man vermöge desselben im Leben des einzelnen hat leugnen wollen. So ist die rein philosophische Behauptung der Gleichheit der Menschen ein Widerspruch nicht bloß mit der Tatsächlichkeit, sondern mit dem Begriffe selber. 105 Die Gesellschaft sei der Ort, wo "... der Begriff des Menschen, der die Gleichheit fordert ..... 106, auf eine Wirklichkeit trifft, deren Vielfalt, statt zur Freiheit aller zu finden, in mannigfache Abhängigkeit mündet, wo beim Kampf zwischen der Persönlichkeit des Begriffs mit der Realität wirkliche Individuen um Machtpositionen ringen und die Welt des "reinen Begriffs" hinter sich lassen. Der Aufsatz über die sozialen Bewegungen der Gegenwart aus dem Jahr 1848 knüpft an die Arbeiten über den Sozialismus und Kommunismus in Deutschland und seine Zukunft aus dem Jahr 1844 wie über den Begriff der
Arbeit und die Prinzipien des Arbeitslohnes in ihrem Verhältnisse zum Sozialismus und Kommunismus von 1846 an und leitet zu den nachrevolutionären
Schriften über. Er führt die 1844 eröffnete Debatte mit den Junghegelianern geschickt fort, indem er die Widerlegung der junghegelianischen Position mit Worten einleitet, die scheinbar die Meinung der extremen Linken übernehmen. "Begriff und Wirklichkeit heben daher einander auf, und je tiefer man auf die Betrachtung dieses Unterschiedes eingeht, desto schneidender wird jener Widerspruch" 107 . Statt wie Feuerbach, Ruge, Bauer, HeB, Grün und Marx den Kampf mit der Wirklichkeit aufzunehmen, sucht Stein einen Ausweg aus der Lotterie des 104 Ebd., S. 132. Vgl. ebd: "Allerdings sind die Menschen ihrem Begriffe nach gleich; allein das begriffliche Dasein ist an jedem Menschen nur ein Moment; jeder Mensch ist zwar die Erscheinung seines Begriffes, aber er ist zugleich mehr, er ist eine selbständige Erscheinung desselben, eine Individualität". 105 Ebd. 106 Stein, L. v., Die sozialen Bewegungen der Gegenwart, in: Die Gegenwart, Bd. I, 1848, S. 79-93; zitiert nach: Pankoke, E. (Hrsg.), Lorenz von Stein, Schriften zum Sozialismus 1848, 1852, 1854, Darmstadt 1974, S. 1-15 (3).
107
Ebd.
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Lebens, der die rechtliche Gleichheit und faktische Ungleichheit anerkennt, ohne darüber das Ziel, die Freiheit jedes einzelnen, aus den Augen zu verlieren. Dass dies keineswegs mit Quietismus und Unterwürfigkeit verbunden war, hatte er während der Erhebung Schleswig-Holsteins bewiesen. Abermals fällt die unbeabsichtigte Nähe zwischen Stein auf der einen, Engels und Marx auf der anderen Seite auf: Nach Engels scheiterte der Aufstand im Land zwischen den beiden Meeren an der halbherzigen Unterstützung durch Deutschland. 108 Nach dem Zusammenbruch der Revolte wird Stein in Schleswig-Holstein als einer ihrer Wortführer angesehen und zur republikanischen Linken gezählt. Obgleich er ihr Scheitern vorausgesehen hatte, dauert es nach deren unrühmlichem Ende noch drei Jahre, bis ihm klar wird, in Deutschland keine Zukunft mehr zu haben. 1853 schreibt er an Robert von Mohl: So sehr ich auch wünschen muß, in der academischen Carriere zu bleiben, so sehe ich dennoch zu meinem tiefen Schmerze durchaus keine Möglichkeit vor mir, mich an einer Universität und noch dazu als Docent der Staatswissenschaft halten zu können. Man hat mir aus Preußen geradezu sagen lassen, ich allein dürfe auf keine Anstellung in der Preußischen Monarchie rechnen ... Ich glaube, daß die Zeit vorbei ist, wo ein verbannter Professor auf eine Professur in einem andren Staate Deutschlands rechnen durfte, auch wenn er ein selbständiger Mann war. Es war das ja überall nur eine sehr kurze Zeit. Es kommt darauf an, andre Bahnen zu suchen. 109
108 Vgl. Engels, Fr., Revolution und Konterrevolution in Deutschland, in: MEW, Bd. 8, S. 3-108 (55 f.): Statt entschlossener Hilfe " ... ließ man die Truppen in diesem Krieg, dem einzigen, der populär, dem einzigen, der wenigstens zum Teil revolutionär war, geflissentlich nutzlos hin und her marschieren und nahm die Einmischung auswärtiger Diplomatie hin, was nach manchem heldenmütigen Gefecht zu einem höchst kläglichen Ende fiihrte. Die deutschen Regierungen übten an der schleswig-holsteinischen revolutionären Armee bei jeder Gelegenheit Verrat und ließen sie, wenn sie verstreut oder geteilt war, absichtlich von den Dänen zersprengen". 109 Brief an Robert von Mohl vom 14.2.1853. Der Brief befindet sich in der Handschriftensammlung (Sign. Md 613-852) der Tübinger Universitätsbibliothek. Zeichnet sich Steins wissenschaftliches Werk bei aller Vielfalt durch die Gradlinigkeit seiner Grundgedanken aus, belehrt seine Biographie den Interpreten, dass sein wissenschaftlicher Werdegang keineswegs in der "Stille der Studierstube" geplant und ausgefiihrt wurde; 1853 schien er seine Zukunft als Wissenschaftler schon aufgegeben zu haben; dass der lange vorher angestrebte Ruf nach Wien trotz seiner politischen Verwicklungen 1855 doch noch an ihn erging, muss Stein als Wunder erschienen sein. Zwei Jahre nach seiner Ankunft dort schreibt er Mohl, " ... daß ich noch immer mich des Entschlusses fTeue, hierher gegangen zu sein. Könnte ich nur einmal so glücklich sein, Sie hier bei mir zu begrüßen! Wie vieles würde es da zu erzählen und zu besprechen geben." (Brief vom 28.10.1857, Universitätsbibliothek Tübingen, Handschriftensammlung, Sign. Md 613-852).
11. Hegel und die Voraussetzungen des eigenen Systems
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Mit dem Zusammenbruch der Schleswig-Holsteinischen Erhebung schien die eigene Zukunft verloren. Aufgrund seiner Publikationen galt Stein fortan als Preußenhasser, wo er - nicht ohne Konsequenz - zeitlebens Persona ingrata blieb. I 10
11. Hege) und die Voraussetzungen des eigenen Systems Die oben beschriebenen Divergenzen mit dem Kreis um Amold Ruge traten in Steins ersten wissenschaftlichen Publikationen zwischen 1838 und 1846 immer deutlicher hervor; er musste die eigene Position gegen die damaligen Wortführer der neuen Philosophie, Ludwig Feuerbach und Amold Ruge, erst noch entwickeln. Feuerbach, der seit 1837 bei den Jahrbüchern mitarbeitete und dort in vielen kritischen Aufsätzen die junghegelianische Interpretation der Hegeischen Philosophie entwickelte, konnte auf Stein, der ein eifriger Leser und auch Mitarbeiter war, nicht ohne Einfluß bleiben ... Aber die Tatsache, daß Stein hier nicht stehen bleibt, nicht nur auf dem Wesen, sondern auch auf die gesellschaftlich-historische Bedingtheit des Menschen reflektiert, nicht vom Gattungsmenschen, sondern von dem konkreten, in die geschichtlich-gesellschaftliche Wirklichkeit eingegliederten Menschen spricht, zeigt seine Überwindung dieses deutschen Realismus. I II
Anders als Marx kritisiert Stein an Feuerbach und den Junghegelianern nicht den bloß theoretischen Radikalismus; im Gegenteil: die Junghegelianer seien zu extrem und deshalb gleichermaßen einseitig wie unrealistisch. Der Ruf nach Rationalität, vernünftiger Allgemeinheit und Aufklärung übersehe, dass die Elemente des Alls zwar überall gleich seien, aber ..... der Reichthum des Le110 Noch 1869 berichten ihm Gustav Schmoller und Rudolf Gneist auf seine "diskrete" Anfrage, ob er Aussichten habe, in Berlin auf einen Lehrstuhl für Nationalökonomie berufen zu werden, unabhängig von einander, dass er in Preußen nach wie vor als Preußenhasser gelte und persona ingrata sei. Schmoll er schreibt ihm am 31.3.1869 (Schleswig-Holsteinsche Landesbibliothek, Handschriftensammlung Sign. Cb 102. 4. 2: 5): "Wenn sie nicht seit langem als antipreußisch gälten ... ", wäre er der richtige Mann für diese Professur, so aber müsse er sich die Aussichten auf einen Lehrstuhl in Deutschland aus dem Kopf schlagen. Und ein Brief Gneists vom 27.6.1869 (Schleswig-Holsteinsche Landesbibliothek, Handschriftensammlung Sign. Cb 102. 4. 2: 05) bescheinigt ihm, in Preußen immer noch "persona ingrata" zu sein. Dass Stein darauf dem etwas konsternierten Droysen mitteilte, keinesfalls nach Berlin gehen zu wollen, zeigt, dass er - wie bereits im vonnärzlichen Paris - eine regelrechte Infonnationspolitik betrieb; er war nicht gewillt seinen jeweiligen Infonnanten mehr als unbedingt erforderlich mitzuteilen. Zu Schmoll er vgl. C. V.1. 111
Nitzschke, H. (1932), S. 127f.
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bens erscheint erst, wo die Individualität sie erfasst, und in freier That sie gestaltet"1l2. Er erinnert daran, dass der hermeneutische Zirkel der Wirklichkeitswissenschaft nicht geschlossen sei, wenn die Reflexion bei sich bleibt und Anderes nur spiegelt; er sei vielmehr erst umschritten, wenn sie die Eigenständigkeit des Andern, die nicht aufzuhebende Eigentümlichkeit des Wirklichen anerkenne. Idealistische Konstruktion und realistische Reflexion werden ihm zu wechselseitig einander ergänzenden Voraussetzungen der Wirklichkeitswissenschaft, einer Wissenschaft, die versucht den Hegelschen Apriorismus wie den junghegelianischen Aktionismus zu vermeiden. Den Revolutionstheoretikern und Restaurationsphilosophen stellt er das Reformprogramm seiner Wirklichkeitswissenschaft(en) entgegen. Davon zeugen die von ihm maßgeblich mitgestalteten Fachwissenschaften. Im zweiten Teil des Systems der Staatswissenschaft, der Gesellschaftslehre, bilanziert Stein die Theoreme, mit denen er sich zwischen 1838 und 1846 intensiv auseinandergesetzt hatte: Seit der Platonischen Republik gehen nämlich aIle VorsteIlungen von der Harmonie der GeseIlschaft dahin, irgend einen bestimmten geseIlschaftlichen Zustand als den an und tUr sich voIlendeten zu denken. Sie kommen dadurch zu dem Satze, daß eben dieser Zustand ausschließlich erst die Harmonie der GeseIlschaft enthalte, und daß aIle Entwicklung der GeseIlschaft nichtig sey, solange dieser Zustand nicht erreicht sey. Gerade dieser Grundgedanke ist der Grundirrthum. 113
Er erkennt, dass der individuellen wie der kollektiven Freiheit in Wirtschaft, Gesellschaft und Staat nicht ein abstraktes Prinzip, sondern die Ermöglichung, Offenlegung und Bändigung gesellschaftlicher Unterschiede dienen. Diese Überzeugung brachte ihn notwendig in den Gegensatz nicht nur zu den Junghegelianern, sondern auch zur HegeIschen Philosophie. Nach dem Studienaufenthalt in Paris entfernt er sich zunehmend von dem dogmatischen Hegelianismus;
112 Stein, L., Geschichte des französischen Strafrechts und des Processes, S. 2 f. Vgl. ebd.: "Wie aber die Geschichte selbst ein grossartiges Bild durch die majestätische Gleichheit des Gedankens, der sich in ihr voIlzieht, dennoch ihre FüIle und Schönheit erst gewinnt in den Individuen, die die Träger und Diener dieses Gedankens sind, so ist auch die Erkenntnis des Geistes von dieser Geschichte erst ein befriedigtes und vollendetes, wenn sie sich der individuellen Gestaltung der allgemeinen Elemente dieses Geschehens zuwendet. Ewig wird das der Pulsschlag des Erkennens und der Darstellung bleiben, dass sie vom gegebenen und historischen Einzelnen ausgehen zum absoluten AIIgemeinen, und von ihm zurückkehren zu lebendigen und schaffenden Individuen ... Das ist das Gesetz der Bewegung tUr das Verständnis der Geschichte und dieses Gesetz hat keinen Zweck und keine Nothwendigkeit als sich selbst". 113 Stein, L. v., System der Staatswissenschaften 11: Die GeseIlschaftslehre, Stuttgart, Augsburg 1856, S. 235.
11. Hegel und die Voraussetzungen des eigenen Systems
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er führt Hegel mit dem Freiheitspathos der sehen Tatphilosophie und der "positiven Philosophie Frankreichs"114 zusammen: In Deutschland sei der ganze positive Gehalt der Philosophie in das Reich des Gedankens, in Geistmetaphysik und Vernunftkritik geflossen: - Die deutsche Philosophie ist eine Philosophie des Wissens, aber keine Philosophie der Tat. Was ist und wird, weiß sie; nicht aber, was wir schaffen sollen. Und möchte man darüber streiten, sagend, daß sie allerdings uns die Gestalten des Ganzen hinzeichnet, nach deren Verwirklichung wir zu streben haben, so ist ihr doch der Reiz zur Tat, der Inhalt des Tuns, an sich betrachtet, entgangen. Sie weiß nicht, was die Arbeit selber ist, nur was sie hervorbringt; ja selbst in der Logik kommt das Denken nur zu seinen Resultaten, die Bewegung selber bleibt unaufgelöst. Daß dies auch Hegel nicht entwickelt hat, wird man Trendelenburg schwerlich abstreiten können. Hier ist mithin ein reiches, noch unbetretenes Gebiet; ja das wahrhaft praktische Leben des Wissens. 115 Stein sieht im französischen Frühsozialismus den Repräsentanten der französischen Tatphilosophie.11 6 Diese wird dem Idealismus keineswegs abwertend gegenüber gestellt; der Vergleich dient letztlich dazu, das von den idealistischen Vorgaben abweichende eigene Erkenntnisinteresse zu begründen und von der "abstrakten Philosophie" abzuheben. Hier ist mithin ein reiches, noch unbetretenes Gebiet; ja das wahrhaft praktische Leben des Wissens. Der Punkt nun, von welchem wir dasselbe vor uns erscheinen sehen, ist der Trieb, oder wie die Franzosen es nennen, la Passion, die Leidenschaft. Mit Kant wendet sich eigentlich das Erkennen von der Welt der Triebe hinweg, und geht in Deutschland, alle anderen Fragen fallen lassend, geraden Weges auf die Logik zu, diesem Gesetze des Gedankens. Mit ihm versinkt die alte Trilogie des Erkenntnisvennögens, Begehrungsvermögens und Gefühlsvermögens. Dennoch ist sie
114 .,Wenn wir die französische Philosophie des vorigen Jahrhunderts in einem Resultate zusammenfassen wollen, so erscheint sie als negativ gegen alle höhere Bestimmung des Menschen, die ihre Verwirklichung nicht schon auf der Erde finden kann. Dieses Resultat, die Vemeinung des Glaubens an Gott, Staat und Kirche, setzt sich positiv in dem Gedanken des Inten!t personei; ... Das von Descartes gefundene absolute Ich sucht und findet seinen Platz in der materiellen Welt, während ihm in Deutschland sein Reich im Gebiete des Gedankens angewiesen wird" (Stein, L. v., Soz. Bew. 11, S. 128 f.). 115 Ebd., S. 236. 116 Hätten Kühne (1938), Löwith (1995, ursprünglich 1941), Stuke (1963), Hahn (1969) und Blasius (1970), ja selbst Nitzschke (1932) die Geschichte der sozialen Bewegung aufmerksamer gelesen, wäre ihnen die emanzipatorisch-aufklärerische Leistung von Steins Denken gegenüber Idealismus und sozialistischer Theorie nicht verborgen geblieben. Philosophie der Tat steht bei Stein für den Versuch von Sozialismus und Staatswissenschaft, die Welt nicht nur zu verstehen, sondern zu verändern.
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A. System und Geschichte im Jugendwerk Steins nicht eigentlich überwunden, sondern mehr zur Seite geschoben. Der Trieb zum Genuß ist da; er ist in unserer Philosophie nicht aufgelöst. 117
Die Geschichte der sozialen Bewegung verknüpft die historiographische Darstellung mit der systematischen Grundlegung der Gesellschaftswissenschaft. Die sozial- und philosophiegeschichtlichen Einschübe werden mit wissenssoziologischen Erörterungen über den Status der Philosophie in Deutschland und Frankreich l18 sowie einer ideologiekritischen Würdigung des Deutschen Idealismus 119 verbunden l20 . Stein verweigert sich von Anfang an einem Denken, das in den Individuen nur das " ... Material, in welchem der vernünftige Endzweck ausgeführt wird .. ."121, erkennt, kurz: der Betrachtung der Welt als bloßem Schein und Spiegel des Unendlichen; deshalb trennten sich die Wege Steins und der idealistischen Epigonen, der Junghegelianer: Stein sah in einer Philosophie, die alles, nur nicht sich als Erscheinung begriff, selbst ein Phänomen und eine Folge empirisch zu erklärender Ursachen. Auf diese Weise wurde er zum Begründer der modernen Wissenssoziologie und Ideologiekritik 122 :
117
Stein, L. V., Soz. Bew. 11, S. 236.
Steins Gegenüberstellung von Reflexions- und Tatphilosophie, Deutschland und Frankreich, entspricht nur vordergründig Hegels Einteilung, wonach die Franzosen gemacht, was die Deutschen gedacht haben. Vgl. Hegel, G. W. F., Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III, in: Werke, Bd.20, S. 314. Ungeachtet der kritischen Würdigung des Gegensatzes zwischen Deutschland und Frankreich bleibt Hegel in Steins Augen der Reflexionsphilosophie verhaftet und kommt nicht zur "Tat". 118
119
Vgl. Anhang I.
Vgl. Stein, L. v., Soz. Bew. 11, S. 129: "Diderot und Helvetius haben eine analoge Bedeutung für Frankreich, wie Kant und Fichte für Deutschland; denn in dem Inten!t personel wird die Formel gesucht für die absolute Berechtigung des Ich und seiner Tat in der Sphäre des Erscheinenden, dem geschichtlichen Ich, dem materiellen, staatlichen, bürgerlichen Menschen gegenüber". 120
121
Hegel, G. W. F., Geschichtsphilosophie, S. 55.
122 Zwar benutzt Stein weder die Termini "Soziologie" und "Wissenssoziologie", doch lesen seine Schriften sich vom Communismus und Sozialismus des heutigen Frankreich bis zum Handbuch der Verwaltungslehre als komplexe sozialwissenschaftliche Studien, ..... weIche soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich erklären will" (Weber, M., Wirtschaft und Gesellschaft, 5. Aufl. 1980, Tübingen, S. I). Lange vor M. und A. Weber, K. Mannheim, M. Scheler, N. Elias, A. Schütz, P. Berger und Th. Luckmann zeigen Steins Arbeiten, wie der gesellschaftliche Konkurrenzdruck zu einer Monopolisierung des Wissens und seines Erwerbs führt, dass sowohl "Herrschaftswissen" wie "Revolutionswissen" praktisch werden, das ehedem monopolisierte Gesamtwissen entwerten und zugleich neu entstehendes Spezialwissen als Herrschaftsinstrument nutzen (vgl. Stein, L. v., Blicke auf den Communismus und Socialismus in Deutschland; Die Geschichte der sozialen
11. Hegel und die Voraussetzungen des eigenen Systems
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Bereits 1843 äußert er sein Unbehagen an der reinen oder wissenschaftlichen Philosophie; ein Unbehagen, das sich fortlaufend bis zum Unwillen steigert und im Alterswerk als ätzende Kritik erscheint. 123 1. Utopie und Ideologie
Über 80 Jahre bevor im Gefolge von Karl Marx, Wilhelm Dilthey, Max und Alfred Weber, Karl Mannheim, Max Scheler, Norbert Elias und Alfred Schütz die Wissenssoziologie "hoffähig" machten, beschrieb Stein in seinen ersten Schriften die gesellschaftlichen Entstehungsgründe der verschiedenen Wissensfonnen, die - mit Karl Mannheim gesagt -
Bewegung in Frankreich von 1789 bis auf unsere Tage, Bd. 11, S. 106 ff.): "Es ist wahr, jene Gedanken und Zweifel sind große und mächtige Gewalten; allein um in der äußeren Welt zu gelten, was sie in der inneren sind, dazu bedürfen sie eines Körpers, in dem sie lebendig werden ... Wird ihnen dieses leibliche Dasein nun gegeben, so muß es in der Gesellschaft, durch die Gesellschaft geschehen; ... Wenn das obige einen beweisenden Wert hat, so möge man ihn darin finden, daß es die Unvermeidlichkeit eben dieser Ideen [des Kommunismus und Sozialismus, S. K.] in der industriellen Welt nachweist, damit man, den Feind kennend, zu rechter Zeit ihm auf seinem eigenem Gebiet begegne". Daran schließt sich eine über 340 Seiten umfassende Geschichte des französischen Frühsozialismus und Kommunismus an, die nicht nur einzelne Theoretiker von SaintSimon über Fourier bis Proudhon Revue passieren lässt, sondern auch das komplexe Beziehungsgeflecht zwischen sozialistischer Theorie, sozialrevolutionärer Bewegung und gesellschaftlicher Entwicklung packend darstellt. Die Wechselwirkung zwischen gewerblicher Arbeit, Besitz und Wissen wie die zwischen Bildung, Reaktion und Ideologie schildert Stein zunächst in der Gesellschaftslehre des Systems, S. 45 tf., um in seiner Geschichte des Bildungswesens weit ausholend den Differenzierungsprozess der Wissenschaften von der Antike bis zur Gegenwart und ihren Umschlag in die alltägliche Praxis der Fach- und Berufsbildung(en) darzustellen (vgl. Die Verwaltungslehre, Theil 5: Bildungswesen I: Das System und die Geschichte des Bildungswesens der alten Welt, 2. Aufl. 1883, Stuttgart; Theil 6: Bildungswesen 11: Das Bildungswesen des Mittelalters. Scholastik, Universitäten, Humanismus, 2. Aufl. 1883, Stuttgart; Theil 8: Bildungswesen 111: Die Zeit bis zum 19. Jahrhundert, 2. Aufl. 1884, Stuttgart). 123 Vgl. Stein, L. v., Handbuch der Verwaltungslehre. Erster Theil: Der Begriff der Verwaltung und das System der positiven Staatswissenschaften, 3. Aufl. 1888, Stuttgart, S. 111: Hier schlägt er den Meistem des Begriffs vor, " ... daß unsere Philosophie, welche sich ein wenig in dem Mikrobenthum dialektischer Prozesse zu verlieren droht, nachdem sie den Begriff des Eigenthums ziemlich aus ihrem Gesichtskreis verloren hat, sich dennoch einmal die Frage vorlegt, was denn philosophisch nun ,Verwaltung' sei. Nur ein einzigesmal- und wir würden vor dem Anfange mächtiger Erfolge stehen!"
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A. System und Geschichte im Jugendwerk Steins
... als Theorie eine Lehre von der sogenannten "Seinsverbundenheit" des Wissens aufzustellen und auszubauen und als historisch-soziologische Forschung diese "Seinsverbundenheit" an den verschiedenen Wissensgehalten der Vergangenheit und Gegenwart herauszustellen bestrebt ist l24 .
Die weitgehend vergessenen wissenssoziologischen Betrachtungen Steins begannen in der ersten Auflage seines Buches über den Sozialismus und Kommunismus in Frankreich, setzen sich in der Geschichte der sozialen Bewegung und dem System der Staatswissenschaft fort, fließen ein in die Lehrbücher der Volkswirtschaftslehre und der Finanzwissenschaft und münden in seine dreibändige Geschichte des Bildungswesens, wo sie Philosophiegeschichte und Gesellschaftslehre als Teile der Verwaltungslehre miteinander verbinden l25 : Ähnlich wie Wissenssoziologen betrachtete Stein das Wissen als integralen Bestandteil der "Wissenschaft der Gesellschaft", und er tat dies durchaus mit Karl Mannheim vergleichbar. 126 Stein steht jedoch im Zeitenbruch der "ersten Industrialisierung"; die von ihm beobachtete ,,Krise" bezieht sich nicht auf den Kampf von Kommunismus und Faschismus gegen die entfremdete Welt, sondern auf die aus der Feindschaft zwischen Glauben und Wissen resultierende Religionsfeindlichkeit der
124
Mannheim, K., Ideologie und Utopie, 7. Aufl. 1985, Frankfurt a. M., S. 227.
Roeder, P.-M., Erziehung und Gesellschaft. Ein Beitrag zur Problemgeschichte unter besonderer Berücksichtigung des Werkes von Lorenz v. Stein, Weinheim, Berlin 1968, S. 159, Fn. 26 (S. 375 f.), ist, soweit ich weiß, der einzige, der an Steins Arbeiten aus den 40er und 50er Jahren die Iiteratur- und wissenssoziologischen Ausführungen gewürdigt hat. Vgl. dazu C. BI. 2. 125
Vgl. Mannheim, K., Ideologie und Utopie, 7. Aufl. 1985, Frankfurt a. M., S. 227: um die in der gegenwärtigen Krisensituation des Denkens sichtbar gewordene, vielfache Gebundenheit, so in erster Reihe die gesellschaftliche Gebundenheit von Theorien und Denkweisen zum Forschungsthema zu machen und um auf diese Weise einmal faßbare Kriterien für die ,Seinsverbundenheit' herauszuarbeiten, ferner um durch ein vorbehaltloses, radikales Zu-Ende-Denken dieses Problems eine der heutigen Situation angemessene Theorie über die Bedeutung der außer-theoretischen Bedingungen des Wissens auszubauen". Hätte Mannheim die Anfang der zwanziger Jahre von Gottfiied Salomon im Drei Masken Verlag (München) besorgte Neuauflage der Geschichte der sozialen Bewegung gekannt, hätte er seiner Wissenssoziologie eine breitere Basis als die Marxsche Ideologiekritik geben können: "Zum Durchbruch gelangt die Wissenssoziologie bei Marx in dessen genialen Andeutungen, die dieses Thema betreffen. Bei ihm sind aber noch wissenssoziologische Elemente mit Ideologieenthüllung eng verwachsen, zum Ideologieträger werden soziale Schichten und Klassen gemacht" (ebd., S.266). Hätte Mannheim genauer hingeschaut, wäre ihm der antimodernistische Affekt bei Marx vielleicht nicht entgangen; so aber wob er mit an einer Überlieferung, die die Selbstgewissheit zum Prinzip und die Utopie zur Wirklichkeit macht. 126
W
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11. Hegel und die Voraussetzungen des eigenen Systems
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Bildungseliten im vorrevolutionären Frankreich, die Vergötterung des Machbaren, und den Verlust der Tugend in der Republik, sowie die Heraufkunft des Materialismus als der neuen Religion der Bourgeoisie in der volkswirtschaftlichen Gesellschaft: ' Die plumpe Pracht, die Nützlichkeit, die Abwesenheit aller Poesie beginnt heimisch zu werden; der Genuß wird nach seinem Preise, die Kunst nach ihrem Einkommen berechnet; die Fähigkeiten werden nach dem Maße geschätzt, in welchem sie dem Kapitale dienen ... Die ganze Masse menschlicher Tatkraft, menschlicher Tüchtigkeit, ja menschlicher Hoffnungen und Träume wendet sich dem Kapitale zu; es absorbiert die besten Kräfte, die edelsten Naturen, die großartigsten Regungen. Fast unwillkürlich ordnen sich seinem Interesse die größten menschlichen Interessen unter ... Wer es nicht hat, fühlt sich isoliert, abhängig, machtlos, ungeachtet, ohne Schutz; wer es hat, muß das Höchste erreicht glauben, weil es die Voraussetzung des Höchsten ist, was der Mensch vom materiellen Leben erreichen kann. Darum wird dann jede Anstrengung allmählich käuflich, und damit der Mensch selbst am Ende verkäufIich. 127
Steins Beobachtung mag diffuser und der zu ihrer Bearbeitung entwickelte begriffliche Apparat ungenauer sein als die Kategorien der modernen Soziologie, aber sie griff tiefer als die seiner positivistischen Erben: Sein Widerpart waren weder die Religion noch der Irrationalismus als solche; dazu war sein Ansatz zu differenziert. Er war noch in den metaphysischen Hinterwelten des Idealismus heimisch, deshalb konnte er die Weltflüchtigkeit der Hegeischen Dialektik kritisieren, ohne die Transzendenz als solche abzulehnen. 128 Im Gegenteil: Gerade weil er in der junghegelianischen Religionskritik nicht mehr sehen mochte als den Chiliasmus säkularisierter Wiedertäufer, sah er der "Wahrheit der Tatsachen" in die Augen. Er versteckte sich nicht hinter einer Sachlichkeit, deren distanzierte Objektivität die Verantwortlichkeit für sich und andere verdeckt. Wie später Mannheim zeigt er den partiellen Charakter aller politischen Positionen und durchbricht bornierte Klassenstandpunkte; damit ermöglicht er " ... ein besseres Verständnis der vielschichtigen geschichtlichen Situation, ohne natürlich den Anspruch erheben zu wollen, Einigung über die erforderlichen Schritte zustande bringen zu können"129. Dies hinderte Stein nicht daran, neben der scharfen Analyse gesellschaftlicher Entwicklungen den eigenen Standpunkt zu bezeichnen:
127
Stein, L. v., Soz. Bew. 11, S. 31 f.
128
Vgl. dazu B. 11. 8. und 11. 9.
Kelt/er, D. / Meja, V. / Stehr, N. (1989), S. 2J. Was Kettler auf Mannheim bezieht, gilt für Stein nicht minder. 129
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A. System und Geschichte im Jugendwerk Steins Dieser Zustand eines Volkslebens, in dem das Kapital die gesellschaftliche und gesellige Macht, sein Genuß der höchste Genuß der Gemeinsamkeiten, die Anerkennung seiner Wichtigkeit bis zur Hochachtung vor ihm, und das Streben nach ihm bis zur Käuflichkeit und Verkäuflichkeit gestiegen ist, ist der Materialismus der menschlichen Gemeinschaft ... ; der Materialismus ist ein ganz bestimmter Zustand des Geistes der menschlichen Gesellschaft. und unmittelbar verknüpft mit der Herrschaft des Kapitals. Seine Symptome sind Geldstolz und Abwesenheit von Kunst und Poesie, nicht die Schwelgerei und Barbarei, auch nicht die bloße Sparsamkeit, die Geschäftstätigkeit oder die Gesinnungslosigkeit; erst die Herrschaft der großen Kapitalien macht aus all diesen Elementen den Materialismus. 130
130 Stein, L. v., Soz. Bew. 11, S. 32 f. Nach Kettler, D. / Meya, V. / Stehr, N., Die Rationalisierung des Irrationalen. Karl Mannheim über die Sünde der deutschen Intelligenz (Universitäts-Gesamthochschule-Siegen, Forschungsschwerpunkt Historische Mobilität und Normenwandel, Di~cussion Papers DB 126/89) 1989, S. 18 f., habe Mannheim HegeIs Gott, die universale Vernunft und die damit verbundenen metaphysisch-kosmologischen Implikationen ablehnen müssen. Statt - was Mannheim immerhin noch tat das komplexe Verhältnis zwischen Glauben und Wissen bzw. zwischen religiösem Wissen und wissenschaftlichem Denken zu untersuchen, kennen die Autoren nur den Kampf zwischen Rationalismus und verschiedenen Gestalten des nicht weiter thematisierten Irrationalismus. Statt zur Wissens- und Religionssoziologie kommt Mannheim bei den genannten Autoren eher zu einer Art Soziologie des Irrationalen, deren Bezüge im Dunklen bleiben. Statt die Emanzipation Mannheims aus dem Historismus und der "historischen Soziologie", namentlich von Dilthey und Alfred Weber, die Verbindungen zu Husserl und Heidegger, und damit die gemeinsamen Grundlagen von Phänomenologie, Existenzphilosophie und Mannheims "seinsverbundenem Denken" auch nur zu erwähnen, wird der Außenseiter und Grenzgänger Mannheim der Tradition soziologischer Vorurteile einverleibt: ,,zwar teilte auch er die Überzeugung, dass im Hinblick auf sozial neu konstruierbares Handeln eine Synthese [zwischen Rationalismus und Irrationalismus, S. K.] nur über die soziale Theorie (statt über die Kultur-Philosophie) möglich ist, doch glaubte er die Vorbilder fiir seine Berufung und die Ausgangspunkte seines soziologischen Denkens eher in den Arbeiten von Marx und Alfred Weber, Georg Simmel, Ernst Troeltsch und Max Weber zu finden, als in Lukacs' aggressivem Parteigängertum ... Indem Mannheim die marxistische Konzeption von der Wissenschaftlichkeit ihres Wissens über Gesellschaft und Geschichte lediglich als eine unter vielen konkurrierenden Ideologien einstufte und die Wahrheitsansprüche aller Ideologien relativierte, propagierte er - so Lukacs - einen ,skeptischen Relativismus' der entgegen Mannheims Versicherungen ,größtmögliche Eingeständnisse an den Irrationalismus der Lebensphilosophie' impliziere" (ebd., S. 19). Zwar machen die Autoren sich bei dem Disput zwischen Lukacs und Mannheim Mannheims Position zu eigen; der Streit um die Wissenssoziologie wird dabei aber verkürzt zu einem Kampf zwischen liberalen und dogmatischen Marxisten; - der "Klassiker" bleibt unangetastet. "Übersehen wird in der Sekundärliteratur oftmals, dass fiir Mannheim nicht immer der soziale Standort konstitutiv fiir die Eigenart unseres Weltbildes ist. Sehr richtig bemerkt Kurt Lenk (,Soziologie und Ideologielehre', S. 234), daß das Erkenntnissubjekt zwei Bezugssysteme besitzt: ein me-
I!. Hege! und die Voraussetzungen des eigenen Systems
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Nur vor diesem Hintergrund wird für Stein das Aufkommen von Sozialismus und Kommunismus verständlich. Die Gesetze der kapitalistischen Produktion führen in die industrielle Gesellschaft und - dort angekommen - dazu, dass der Arbeiterstand von den Verheißungen der bürgerlichen Revolution ausgeschlossen bleibt. Gerade weil die rechtliche Stellung der einzelnen Person immer gleicher und das Leben abstrakter werden, tritt die sachliche Abhängigkeit an die Stelle personaler Bindungen; Sachzwänge ersetzen Frondienste. Sein waches Gespür für die Schattenseiten der Industrialisierung hindert Stein freilich nicht daran, die technische Revolution als Erfüllung lang gehegter Menschheitsträume zu begrüßen. Die industrielle Welt steht für ihn am Ende einer Tradition, die mit der Emanzipation des Individuums aus dem Clan- und Standesrecht begann. Allen Verwerfungen zum Trotz begreift er die damit verbundene schrittweise Rationalisierung der Lebensjühnmg als Teil einer umfassenden Freiheitsgeschichte 131 ; die Rationalisierung des Alltags ist bei ihm zwar durchaus ambivalent, jedoch zieht er sich weder auf die Position des ,,religiös unmusikalischen" (Max Weber) Agnostikers zurück, noch glaubt er an die Aufhebung des Kapitalismus zur universalen Produktionsgemeinschaft. Ihm sind die Herrschaft des Kapitals, Ausbeutung und materialistischer Geist ähnlich wie für Hegel und Marx notwendige Durchgangsstadien der volkswirtschaftlichen Gesellschaft. Da es bei Stein aber kein letztes Wort der Geschichte gibt, braucht er weder die List der Vernunft noch das ,,revolutionäre Subjekt" heranzuziehen, um Sinn und Verlauf der Geschichte adäquat zu deuten. In der staatsbürgerlichen Gesellschaft und ihrem Recht sieht er so wenig eine Entfremdung des Menschen von seinem Wesen wie im Staat; das Problem der Entfremdung stellt sich ihm nicht als Folge der Individuation als solcher, sondern als ein spezifisches Übergangsphänomen am Anfang des neuen Zeitalters. 132 Die vordergründige Parallele zur Marxschen Endzeitprophetie wird von der Einsicht konterkariert, in der neuen Zeit keineswegs am Ende der Geschichte angekommen zu sein. Stein analysiert stattdessen die Fundamente der zu seiner Zeit entstehenden vielschichtigen Gesellschaftsordnung des neuen Äons: taphysisches und ein soziales" (Deininger-Meyn, G., Grundlagen der Wissenssoziologie K. Mannheims und Max Schelers, Heidelberg 1986 [Diss. phi!.], S. 51). So betrachtet bestünde die größte Leistung Mannheims darin, die marxistische Soziologie von monokausalen Zurechnungen abgebracht zu haben. Die Verbindung von Gesellschaftsform, religiöser Überzeugung, sozialer Lage, Art des Wissenserwerbs und dessen Verwertungsinteresse bleibt unerörtert. Und genau hier setzen - wie gezeigt - die ersten sozialhistorischen Arbeiten Steins ein. 131 Ohne dem Nachfolgenden vorwegzugreifen, sei auf die Aktualität von Steins geschichtsphilosophischer Deutung der gesellschaftlichen Freiheit verwiesen. Vgl. dazu Heilmann, M. (1984), S. 409 ff. und C. III. 2. und V. 132 Vgl. zu Hege! und Marx unten B. !. 7.
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A. System und Geschichte im Jugendwerk Steins
Es liegt etwas sehr Ernstes in der stets sich wiederholenden Erscheinung, daß die Anschauungen des Menschen in Wahnsinn oder Lächerlichkeit überschlagen, sowie sie den Inhalt der Zukunft uns zu enthüllen versuchen. Hier ist eine Schranke, die keiner ungestraft übertritt; wer den Schleier lüftet, darf glücklich genannt werden, wenn er nichts verliert als die Besinnung. 133 Steins Thema ist nicht der Inhalt der Zukunft, sondern die Fernwirkung der in der Gegenwart geschaffenen Strukturen; in der Jugend beschäftigt ihn die Verfremdung des kapitalistischen Ethos durch das Sonderinteresse einzelner Kapitalbesitzer und die Entstehung von Sozialismus und Kommunismus als Emanzipationsvision des Industrieproletariats; Rationalisierung und Emanzipation des Einzelnen aus vorgegebenen Bindungen bilden später die Grenzwerte der Sozialhistorik l34 und der Geistesgeschichte, die wiederum in das Bildungswesen mündet. Dessen Geschichte hat dann zu beweisen, dass nach dem von der Industrialisierung vollzogenen Traditionsbruch nicht mehr die Überlieferung, sondern System und Struktur der gesellschaftlichen und staatlichen Institutionen über den Freiraum des Einzelnen entscheiden. Stein entwirft zur Illustration dieser Überzeugung ein vielschichtiges Tableau von Real- und Idealfaktoren, bei dem nicht nur den materiellen Verhältnissen, sondern auch Glauben und Wissen konstitutive Bedeutung für den Wandel des menschlichen Selbst- und Weltverständnisses beigemessen wird. Auf diese Weise findet er zu einem weiten Ideologiebegriff. Dessen Inhalte wechseln nicht nur mit den jeweiligen Sachbereichen, sondern auch mit der Perspektive, aus der sie analysiert werden. Weil er die Innen- und Außenansicht von einander trennt, erkennt er in der sozialistischen Theorie zum einen die Ideologie des Industrieproletariats par excellence (Außenansicht), zum anderen will er in der Negation von Eigentum und Familie bei den Kommunisten keine Ideologie, sondern die innere Folgerichtigkeit des materiell verstandenen Gleichheitsprinzips ausmachen (lnnenansicht).135 Er wandert nicht in ferne 133 Stein, L. v., Soz. Bew. 11, S. 293. Die Bemerkung bezieht sich auf die Zukunftsvision des ansonsten sehr anerkennend gewürdigten Charles Fourier. Vgl. C. I. I.
134 " ... weil der Materialismus aus der Herrschaft des Kapitals hervorgeht, und ... eine natürliche und notwendige Entwicklungsstufe der volkswirtschaftlichen Gesellschaft ist, so muß er als eine naturgemäße Erscheinung injedem Volksleben betrachtet werden ... Immer aber ist er die eine Hauptwirkung der Herrschaft des Geldkapitals auf den Geist der Gesellschaft" (ebd., S. 33). 135 Vgl. ebd., S. 104 f.: "Setze ich daher die Idee der vollendeten Freiheit, so muß ich, indem ich die Unfreiheit aufhebe, notwendig auch das Eigentum und die Gesellschaft aufheben; ich muß eine ganz andere Ordnung menschlicher Dinge setzen, und wenn ich auch mit Plato die Republik in ihrer Wahrheit nur im unbekannten Jenseits, mit Rousseau sie nur bei den Göttern, mit Morus sie nur in den nie gefundenen Ländern der Welt suche, immer muß ich in ihr weder Eigentum noch Familie finden. Dies ist
II. Hegel und die Voraussetzungen des eigenen Systems
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Kulturen und Vergangenheiten, um seine Gegenwart zu verstehen, denn die philosophische Überlieferung ist für ihn noch lebendige Gegenwart. Der Rationalismus der Aufklärungsphilosophie wie die sozialistische Theorie seien die überschätzten Epigonen der großen europäischen Philosophie. Nicht die soziale Ungleichheit und das Elend als solches stehen demzufolge an der Wiege der sozialistischen Theorie, sondern die abstrakten Gedanken der Freiheit und Gleichheit. Ihr Aufkommen wie ihre Radikalisierung in der Rechtsphilosophie der Neuzeit sei Teil einer Entwicklung, die Stein mit der Ideen- und Realgeschichte verzahnt. 136 Er begreift die französische Aufklärungsphilosophie, den Deutschen Idealismus und die sozialistische Theorie nicht nur in Wechselwirkung mit den politischen, technischen und sozialen Umwälzungen des 17. und 18. Jahrhunderts. Diese seien undenkbar ohne die Emanzipation der Arbeit und des gewerblichen Kapitals aus der Grundherrschaft der ständischen Zeit. Und die sei nicht mit einem bestimmten Revolutionstermin verknüpft, sondern das Ergebnis historisch weit zurückreichender Entwicklungen: Hegels geschichtsphilosophische Prämisse vom notwendigen ,,Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit" wird durchbrochen. 137 Nicht der allgemeine Fortschritt des Bewusstseins, sondern die individuelle Selbstbestimmung der Person ist Stein Ziel und Maß der Geschichte. ,,Prometheus" ist bescheiden geworden; er beugt sich der Erkenntnis, dass einzelne zwar Geschichte machen können, aber von ihrem gesellschaftlichen Umfeld abhängig bleiben. Seine Gesellschaftsanalyse ähnelt nur vordergründig der Marxschen Verelendungstheorie: Erstens sieht Stein den einfachen Gegensatz von Herrschern und Beherrschten, Gewinnern und Verlierern politischer wie gesellschaftlicher Umwälzungen, von qualitativen Innovationen durchbrochen; diese seien letztlich unvorhersehbar und durch kein Modell abzubilden. Zweitens erschöpfe sich die Dialektik von ideellen und materiellen Interessen keineswegs in einem monokausalen Ableitungsverhältnis.
daher, wenn auch nur der negative, so doch der notwendige Inhalt aller Ideen, weIche sich in irgendeiner Gestalt die Idee der Freiheit und Gleichheit in ihrer vollen Verwirklichung unter den Menschen zu irgendeinern Bilde ausmalen, mag dies nun ein logisch durchgeführtes oder ein sinnreich erdachtes sein". 136 Vgl. Stein, L. v., Die Verwaltungslehre, 2. Aufl., Theil 5: Das Bildungswesen, I: Das System und die Geschichte des Bildungswesens der alten Welt, Stuttgart 1883, S. 205 ff. 137 Vgl.
Hegel, G. W. F.,Geschichtsphilosophie, S. 32.
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A. System und Geschichte im Jugendwerk Steins
Drittens lebe die historisch-gesellschaftliche Entwicklung von dem Unterschied zwischen Gattung und Einzelindividuum. 138 2. Hegel und der Geist der Utopie Stein sah - wie gesagt - bereits im "Vormärz" die sozialen Voraussetzungen und Folgen der zunächst als servil geltenden Hegelschen Philosophie: Was Rousseau für Frankreich, bedeutet ihm zufolge Hegel für Deutschland. Wie jener die cartesianische Philosophie mit den Menschenrechten, und den allgemeinen Willen mit dem Gleichheitsgedanken zusammengeführt, habe dieser Gott zum Gesetz und den einzelnen zur Wirklichkeit dieses Gesetzes gemacht. 139
138 Vgl. Knall, R. I Kohlenberger, H., Gesellschaftstheorien. Ihre Entwicklungsgeschichte als Krisenmanagement in Österreich 1850-1938, Wien 1994, S. 49--63 (57): "Freiheit und Gleichheit. Beide definieren die individuelle Persönlichkeit, beide bilden die Normen des Staates. Beide bestimmen den sozialen Status des Menschen in der Gesellschaft, wie an ihnen das gesamte Szenarium sozialer Interaktionen anknüpft. Hier kreuzen sich geistesgeschichtliche Traditionen, die in der Naturrechtsdebatte des 18. Jahrhunderts aufgenommen wurden, hier thematisiert sich wieder die Konfrontation zwischen Christentum und Antike und die Traditionen erhalten in den sozialistischen wie kommunistischen Ideen bei gleichzeitiger Industrialisierungsphase eine veränderte Problemlage". 139 Vgl. ebd., S. 36: "Alles was ich denke und will, ist daher, so fern ich dem Gesetz folge, ein Denken und Wollen des sich befreienden Selbstbewußtseyns. Hegels Philosophie war damit die Philosophie der absoluten Freiheit". Vgl. auch Stein, L. v., Lehrbuch der Nationalökonomie, 3. Autl. 1887, Wien, S. 41 f.: "Die Erfüllung jener Identitätsphilosophie [Fichtes, S. K.] lag deshalb darin, eben jenen Act, durch welchen das Ich sich selber Gegenstand ward und der eigentlich nur das Bewußtwerden der unpersönlichen Welt enthielt, nicht mehr als bloße Thatsache und Behauptung hinzustellen, sondern aus ihm das absolute Gesetz alles Lebens selber, also des Natürlichen und des Persönlichen zugleich zu machen. Das nun konnte ... nur in Einem, für alle Gebiete des Daseins gleichmäßig gültigen Gedanken gedacht werden ... ; alles Erkennen müsse damit beginnen, jedes Seiende und also nicht mehr bl os das Persönliche, sondern in ganz gleicher Weise auch das Natürliche durch seine Unterscheidung von demjenigen zu erkennen, was es nicht ist. Dieser Satz ward dann zum höchsten Gesetz nicht blos des Denkens, sondern des Daseins überhaupt ... Durch sich selbst, das heißt an und für sich, ist überhaupt nichts, und nichts kann mithin auch für sich begriffen werden ... Alles was ich daher empfinde, beobachte, denke, erkenne, muß ich als ein ewiges Werden begreifen, das mithin eine, weder durch bloßes Sein, noch durch bloßes Nichtsein je zu erfüllende Bestimmung hat; das höchste Wesen des Lebens ist daher die Erfüllung der höchsten göttlichen Bestimmung desselben durch das Werden des göttlichen Geistes in dem
11. HegeI und die Voraussetzungen des eigenen Systems
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Hegels Gedanken gewinnen ihre Sprengkraft nicht zuletzt daraus, dass in ihnen das Werden der Welt mit der Reflexion des einzelnen Menschen zusammenfällt: ,,Diese Philosophie", schreibt Stein 1844, "war schon manche Jahre vor 1833 gelehrt und anerkannt. Aber man hatte den Blick nach einer andern Seite gerichtet".140 Nicht nur nebenbei erinnert er daran, dass Hegels Philosophie erst im Gefolge der französischen Julirevolution von 1830 ihr revolutionäres Potential entfaltet habe. Das Preußen der Stein-Hardenbergschen Reformen hatte die Begeisterung der Freiheitskriege dazu genutzt, die preußische Verwaltung auf rational-allgemeine Prinzipien zu verpflichten. 141 Die pantheistischen Implikationen von Hegels theoretischer Philosophie hatten das Einzelne in den Hintergrund, das Allgemeine in den Vordergrund gerückt; seine praktische Philosophie kulminierte - allen Differenzierungen zum trotz - in der Freiheit des Ganzen, das hieß für Hegel: im Staat. Dessen Totalität erscheint personifiziert im Monarchen. 142 Zwar entspricht Hegels Rechtsprinzip der Forderung, dass das Recht nicht historischen Zuständen, sondern der allgemeinen Einsicht, d. h. formellen Gesetzen zu entsprechen habe; der Monarch schlüpft aber durch den Zwang zur Einheit des Systems unversehens in die Rolle des unbewegten Bewegers. Gerade da, wo sie streng von einander zu trennen wären, verbindet Hegel Prämissen der praktischen mit Grundlagen seiner theoretischen Philosophie. Weil Endliches und Unendliches, die Allgemeinheit des Ganzen und die Besonderheit des Einzelnen unendlich ineinander übergehen und die Bewegung dennoch ihre Fixpunkte unmittelbar in der Wirklichkeit fmdet, fällt Hegels Staatsphilosophie ungewollt auf den Standpunkt des aufgeklärten Absolutismus zurück. Nicht die einzelne Person, sondern die im Staat verkörperte Allgemeinheit wird zum Ursprung des Rechtsprinzips. Beide, erkennt Stein, Hegel wie der preußische Reformstaat setzen abstrakte Normen, vertreten organologische Vorstellungen und verkünden die Freiheit zum Staat.
Wechsel des Irdischen mit seinem Wandel von Sein und Nichtsein und umgekehrt. Das ist der große Grundgedanke der Hegelsehen Philosophie". 140 Stein, L. v., Blicke auf den Communismus und Socialismus in Deutschland und ihre Zukunft, S. 36 f.
141 Vgl. Spil11er, G., Wissen als Herrschaftsbasis. Zur Entstehungsgeschichte bürokratischer Herrschaft im Bauernstaat Preußen, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 32. Jg., 1980, S. 574-604 (574): "Bürokratische Herrschaft beruht auf abstrakten Normen und damit auf einem abstrakten Wissen". Die Allgemeinheit des neuen Verwaltungsprinzips wie die Universalität des neuen Staatsbegriffs kamen der Hege\schen Philosophie entgegen. 142 Vgl. Hegel, G. W. F., Rechtsphilosophie, § 280 Zusatz u. § 281 (S. 451 f.).
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Auf diese Weise stimmte das Leben des preußischen Staates mit den Grundgedanken der Hegeischen Philosophie zusammen. Diese Übereinstimmung im Grundgedanken erzeugte zugleich die Übereinstimmung in der Verurteilung, als der preußische Staat begann, die Prinzipien des Ministers Stein fallen zu lassen. So kam es, daß die Hegelsche Philosophie zwischen den Jahren 1820-1830 als die servile und Staatsphilosophie ausgegeben wurde. 143
In dem vergleichsweise schwach industrialisierten Deutschland kommt es ungeachtet der Reformbemühungen Preußens schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts zu einer übermäßig aufgeblähten Bildungsschicht; es entsteht ein intellektuelles Proletariat. Darauf reflektiert Stein, wenn er zwischen den Zeilen die Zusammenarbeit mit den Junghegelianern bei den Hallischen und Deutschen Jahrbüchern schildert: Waren unsere Ideen nicht vielleicht zufällige, von außen gegebene Gefühle, die uns beherrschten, statt daß wir sie beherrschen sollten? ... Hatten wir Recht, so muß dieses Recht sich nicht blos fühlen und behaupten, es muß sich beweisen lassen. Wer zeigt uns, wie wir das vermögen?l44 Er rechtfertigt seine Abwendung von deren revolutionärem Pathos und ideologischer Verblendung: Nicht die Philosophie Hegels l4 5, sondern das Sektierertum seiner schwärmerischen Epigonen habe einen unendlichen Schritt vonvärts getan. 146 Der Kern des Streits mit dem radikalen Junghegelianismus besteht in dem unterschiedlichen Status, den beide Seiten dem Wissen zubilligen. War den Junghegelianern das wahre Bewusstsein alles, wurde es fiir Stein zu einem Element historischer Veränderung und Gegenstand wissenssoziologischer Analysen: Er beschreibt, wie das durch die Religionskritik der Aufklärung verwaiste Erlösungsbedürfnis von den utopischen Elementen der idealistischen Philosophie aufgefangen wird. Die idealistische Utopie verbindet sich wiederum mit den Interessen deklassierter Bildungsschichten und beginnt als deren Ideologie Geist und Tat der Junghegelianer zu beherrschen.
143
Stein, L. v., Geschichte der Rechtsphilosophie, 1846, S. 185.
Stein, L. v., Blicke auf den Socialismus und Communismus in Deutschland und seine Zukunft, S. 36. 145 Vgl. B. I. 144
146 Vgl. Stein, L. v., Blicke auf den Communismus ... , S. 36: "Es ist deßhalb nicht so sehr das System Hegels, in dem es seine Befriedigung fand; denn von allen seinen Werken hat seine Rechtsphilosophie am wenigsten Ueberzeugungen gefesselt; sondern die Gewißheit, in dieser Auffassung eine organische und selbständige Leiterin durch alle Fragen der Zeit zu haben. Die Selbstgewißheit alles Wissens war es, die einen unendlichen Schritt vorwärts that".
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Nun aber blicken wir zurück auf die geschichtlichen Verhältnisse. Hier hatte der gegebene Zustand eine Reihe von Hoffuungen und Erwartungen nicht befriedigt, die sich als Consequenzen der Idee der abstracten Persönlichkeit ergeben hatten. Gerade diese Idee der Persönlichkeit war es, die Hegel zur Spitze seiner Philosophie machte. Das Recht der Persönlichkeit in der wirklichen Welt entsprach daher wenig dem Recht der Persönlichkeit ihrer Idee nach. War nun die letztere gefunden, so mußte sie sich gegen jene Beschränkungen der wirklichen Welt des Staats negirend verhalten; sie konnte dies, indem sie zur Basis ihrer Negation das logische Gesetz machte. Dasselbe Princip aber, das sie zur Negation des Bestehenden trieb, forderte das Aufstellen eines neuen Gebäudes der Freiheit. Wenn der Inhalt der Persönlichkeit der zum Selbstbewußtseyn gekommene Gott war, so mußte aus diesem Inhalt sich die Gestalt des neuen geistigen und materiellen Lebens als eine jetzt absolut selbstbedingte, unendlich nothwendige ergeben. 147
Die Analyse der theoretischen Grundlagen des Junghegelianismus steht neben der feinfühligen Beobachtung des Stils öffentlicher Debatten l48 Stein charakterisiert - die Ereignisse vorwegnehmend - den Weg des Junghegelianismus von der Religionskritik Heinrich Heines l49 bis zu den Ursprüngen des Marx147
Ebd., S. 36 f.
148 Vgl. ebd., S. 37: "Man pflegt bei dem ernsten Betrachten solcher Zeiten leicht über den Erscheinungen, die sich in den Vordergrund drängen, dasjenige zu übersehen, was sich ohne individuelles Auftreten und daher in der Stille vollzieht ... In den Arbeiten und Bestrebungen, die in dieser Richtung stehen, fangen die Forderungen auf freieres Recht, neue Organisationen, Aenderung veralteter Institute ... fortschreitend an, nicht mehr als Behauptungen und Klagen, sondern als lauter bestimmte und so weit möglich consequente Entwicklungen aus einem Princip aufzutreten. - Indem ferner jedes Princip ein allgemeines ist, verschwindet die eine Basis der früheren Idee der Freiheit des Volks, als einer Freiheit für das bestimmte Volk und für den Einzelnen, insofern dies Volk sie ihm geben kann; an ihre Stelle tritt die Idee der Freiheit der Person überhaupt, als eine durch das absolute Wesen der Person bedingte. - ... Als die That dieser Zeit wird man die deutschen Jahrbücher bezeichnen". 149 Vgl. Heine, H., Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland (1834), in: Sämmtliche Werke, Bd. 7, Leipzig o. Jg., S. 116 f.: "Wirhabenjetzt Mönche des Atheismus, die Herrn von Voltaire lebendig braten würden, weil er ein verstockter Deist sei. Ich muß gestehen, diese Musik gefällt mir nicht, aber sie erschreckt mich auch nicht, denn ich habe hinter dem Maestro gestanden, als er sie komponierte, freilich in sehr undeutlichen und verschnörkelten Zeichen, damit nicht jeder sie entziffere - ich sah manchmal, wie er sich ängstlich umschaute, aus Furcht, man verstünde ihn. Er liebte mich sehr, denn er war sicher, daß ich ihn nicht verriet, ich hielt ihn damals sogar für servil. Als ich einst unmutig war über das Wort: ,Alles, was ist, ist vernünftig', lächelte er sonderbar und bemerkte: ,Es könnte auch heißen: Alles, was vernünftig ist, muß sein'. Er sah hastig um sich, beruhigte sich aber bald ... Später erst verstand ich solche Redensarten. So verstand ich auch erst spät, warum er in der Philosophie der Geschichte behauptet hatte: das Christentum sei schon deshalb ein Fortschritt, weil es einen Gott
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sehen Systems und ahnt die Herautkunft totalitärer Diktaturen. Die neue Bewegung habe richtig erkannt, dass ... jeder, der überhaupt von der Bestimmung des Menschen spricht, ... eben von der Bestimmung jedes Menschen [spricht], und jede Philosophie muß bei diesem Satze anlangen. Nun war nach zehnjähriger Arbeit das Gebiet der Fragen nach den Rechten der Persönlichkeit überhaupt ziemlich durchlaufen ... Der Vorkämpfer in jenen Aktenstücken unserer Geschichte, war tief genug, es zu begreifen. Er wagte es, offen jenes Princip auszusprechen. Das Vorwort zum Jahre 1843 ist nicht vorlaute Willkür, sondern nothwendig gebotene Consequenz. Was geschehen wäre, wenn man ihn hätte gewähren lassen, ist eine müßige Frage. In dem Augenblick aber, wo man der wissenschaftlichen Besprechung den Untergang bereitete, erstand derselbe Gedanke in roher Gestalt an einem andem Orte; der französische Communismus und Socialismus begann sein Wesen auf deutschem Boden. 150 Er weiß zwischen seinen Sympathien für die AnHinge der junghegelianisehen Utopie, der Kritik an ihren Fehlern, dem Verbot der Bewegung und ihrer Umwandlung zur Brücke zwischen dem französischen Sozialismus und dem entstehenden deutschen Proletariat zu unterscheiden. Die deutschen Jahrbücher waren nur in der Theorie radikal. Nachdem der Junghegelianismus mit ihnen sein Sprachrohr verloren hatte, sei es bloß eine Frage der Zeit, bis das geistige Proletariat die abstrakte Gleichheitsforderung aufnehme und konkret verwirklichen wolle. Man hatte der beweglichsten Classe der Gesellschaft die einzige Bahn verschlossen, auf welcher sie zu einer Stellung und Bedeutung gelangen konnte; man hatte der ärmsten Classe durch Bildung und Erweckung ihres Selbstgefühls ihre Lage fühlbar gemacht; so bedurfte es denn nur eines verbindenden Gliedes, um diesen Theil des inneren Lebens der einen Nation in das der anderen Hinüberzutragen. 151 Mehrere Faktoren hätten einen Paradigmenwechsel des individuellen und kollektiven Selbstverständnisses bewirkt. Der überlieferte Glaube und die alte ständische Gesellschaft seien nicht mehr Orte religiöser und sozialer Sinnvermittlung. Mit der großen Revolution seien die alte Gesellschaftsordnung wie die Verbindung von gesellschaftlicher, politischer und religiöser Macht zerbrochen. Stein wird später in seiner Geschichte des Bildungswesens die Legitimationsdejizite der ständischen Gesellschaftsordnung als maßgeblichen Faktor bei der Entwicklung der sozialphilosophischen Theorien der Aufklärungszeit würdigen. Aber schon im Jugendwerk beschreibt er das Ergebnis der gesellschaftlilehre, der gestorben, während die heidnischen Götter von keinem Tode etwas wußten. Welch ein Fortschritt ist es also, wenn der Gott gar nicht existiert hat''" 150
Stein, L. v., Blicke auf den Communismus ... (1844), S. 38.
151
Ebd., S. 48.
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ehen Umwälzung: Nicht mehr der Kampf des dritten Standes gegen den Ständestaat, sondern die in der egalitären Erwerbsgesellschaft offen zu Tage tretenden Widersprüche lägen der Krise des Glaubens wie den Ideologien des industriellen Zeitalters zu Grunde. Man kämpfe nicht mehr um die Rechtsprinzipien, sondern um die Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums. Kurz: Aufklärung und Deutscher Idealismus hätten den wirklichen Menschen mit seiner Bestimmung identifiziert und das wirkliche Recht mit der Rechtsidee zusammengeworfen. Dabei bestehe die Rechtsordnung im Allgemeinen ... darin, daß eben die Gesammtheit der Verhältnisse der Einzelnen innerhalb jener Gebiete des Lebens für alle als unverletzlich anerkannt werden ... Die Bedeutung des Rechts für das Daseyn jener Ordnung liegt mithin nicht darin, daß es die Ordnung an sich fordern oder schaffen soll und kann, sondern nur darin, daß es die gegebene Ordnung über die Willkür und die That jedes Einzelnen erhebt, indem es sie selbst zum Inhalt des Gesammtwillens macht. 152
Man habe Ethik, Rechtsphilosophie und positives Recht nicht mehr von einander geschieden; damit sei weder der Ethik noch dem Recht gedient. Die Rechtsphilosophie müsse sich wieder darauf besinnen, dass die Rechtsordnung den Wandel der Gesellschaft nicht bestimmt, sondern ihm/olgt. Das Entstehen der Rechtsordnung aus den Ordnungen des Lebens ist daher nicht der Proceß des Entstehens dieser Ordnungen aus dem Rechtsbegriff, wie die Lehre von der Rechtsphilosophie meint, sondern nur der Proceß, vermöge dessen die entstandene Ordnung als Inhalt des Gesammtwillens ihre über jede Einzelwillkür erhabene Gestalt erhält l53 .
Werde der Gemeinschaftsbegriff nicht in seine selbständigen ,,Momente", nämlich Gesellschaft und Staat aufgelöst, und fasse man ihn unstrukturiert als Realisation des "persönlichen Lebens" oder setze seine Momente in entelechialer Folge zu ihrer Vollendung im Staat l54, so gerate das selbsttätige Leben ebenso aus dem Blick wie die Individualität des einzelnen; daher sei es eine Herausforderung rur die neue Reehtsphilosophie, die kategorial abstrakt erfassten Stufen des persönlichen Lebens in ihrer wechselseitigen Durchdringung und Bestimmung aufzulösen. - Eine Aufgabe, weIche die idealistische Philosophie nicht einmal erkannt habe. Der Idealismus habe von Kant bis Hege! insofern im Geist der Utopie geschrieben, als er den im 17. Jahrhundert begonnen Kampf der neuen europäi152
Stein, L., System 11, S. 224.
153
Ebd.
154 Ein Vorwurf, der Steins Auseinandersetzung mit Hege! zeitlebens in Bewegung hält; vgl. Stein, L. v., Die Verwaltungslehre, Teil I, I, 2. Aufl., S. 122; Blicke auf den Communismus und Socialismus in Deutschland und ihre Zukunft (1844), S. 59 f.
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schen Rechtsphilosophie gegen die ständische Gesellschaft nur gespiegelt und nicht weitergeführt habe. Die Kritik ist weniger scharf, als es zunächst scheint; denn Steins gesellschaftswissenschaftliche Analyse der europäischen Aufklärung berücksichtigt die Wechselwirkung zwischen dem aufkommenden Territorialstaat, dem Gleichheitsprinzip und der Gesellschaft. Im dritten Teil seiner Geschichte des Bildungswesens wird später präziser gefasst, was an der Rechtsphilosophie von Grotius bis Rousseau und Hegel utopisch gewesen sei. Die neue Rechtsphilosophie, welche die freie Theilnahme des Volkes an der Staatsgewalt fordert, enthält ihrerseits, indem sie das Volk dem Staat gegenübersetzt, den ... Grundgedanken ... der gleichen Berechtigung aller zu jener Theilnahme am Staatswillen. Dabei nun hatte sie, vom reinen Gedanken ausgehend, die Wirklichkeit vergessen (Hervorhebung S. K.). Die neue Rechtsphilosophie kannte den Begriff der Gesellschaft und seine Consequenzen nicht. 155
Die abstrakte Gleichheitsforderung der Rechtsphilosophie sei auf eine Gesellschaft getroffen, deren Rechtsprinzip auf der Ungleichheit der Stände aufbaut. Bewusst oder nicht, die neue Philosophie und die ständische Gesellschaft schlossen einander aus. 156 An der Berechtigung der Ungleichheit schieden sich die Geister. Während die auf Platon bauende rechtsphilosophische Richtung keine Abweichung von dem neuen Prinzip der Gleichheit duldete, hätten die Aristoteles folgenden Denker über dem Recht der Ungleichheit zur Staatswissenschaft gefunden. Wir werden nun gewiß verstanden werden, wenn wir, alles in zwei Worte zusammenfassend, ... sagen, daß aus den ersten Fragen die Idee der unveräußerlichen Menschenrechte entstanden ist, aus den letzten dagegen sich die Betrachtung der selbständigen Staatsaufgaben, das ist also die StaatswissenschaJten entwickelte. 157
Stein schlägt einen weiten Bogen von Francis Bacon und Descartes über Savonarola, Giordano Bruno, Kopernikus, Galilei, Bodin, Thomas Morus, Hob-
155 Stein, L. v., Die Verwaltungslehre, 2. Aufl. 1884, Theil 8, Bildungswesen III, Stuttgart, S. 316. 156 Vgl. ebd.: "Indem nun jene neue Rechtsphilosophie des souveränen, aber freien Staats sich eine auf der gleichen Berechtigung des Staatsbürgers beruhende Staatsidee schuf, mußte sehr bald der Augenblick eintreten, wo ihr nicht mehr so sehr die rechtliche Ordnung des Staats ... , sondern ihre sociale Grundlage in dem anerkannten Recht der ständischen Gesellschaftsordnung als der eigentlich herrschenden Macht im Staate gegenübertrat. Damit fand sich jenes Princip der Gleichheit gerade durch die positive staatliche Rechtsordnung Europa's der gewaltigen Thatsache der gesellschaftlichen Ungleichheit mit all ihren persönlichen, wirthschaftlichen und socialen Consequenzen gegenübergestellt". 157
Ebd., S. 317 f.
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bes, Hugo Grotius, Voltaire, Montesquieu und Rousseau bis zum Sozialismus seiner Zeit; er konfrontiert das voraussetzungslose Denken der Neuzeit wie den Geist ihrer Utopien mit den Grundlagen der mittelalterlichen Welt: Einerseits wird die unterschiedliche Bearbeitung des von Descartes entdeckten Subjektivitätsprinzips in der theoretischen Philosophie dargestellt, andererseits wird die an Francis Bacon, Thomas Hobbes und Hugo Grotius anknüpfende vertragstheoretische Begründung des Gleichheitsgedankens in der politischen Theorie hervorgehoben. Grotius sei der "wahre Vater des Naturrechts wie des Völkerrechts", weil er das Recht nicht mehr aus dem Staat abgeleitet, sondern mit dem Begriff der Menschheit verbunden und diesen mit der ewigen Natur des Menschen begründet habe. 158 In der Person Hugo Grotius' verbänden sich utopisches Denken und realistische Staatsphilosophie. An ihn hätten die Sozialutopien wie die Staatswissenschaft des 18. und 19. lahrhunderts l59 angeknüpft l60 . 158 Vgl. ebd., S. 321 f.: "Das Recht dieser ewigen Natur des Menschen ist damit selbst ein ewiges und gleiches; es ist das rein menschliche Recht gegenüber dem kirchlichen und staatlichen, dem historischen und willkürlichen; es gibt im Namen dieses Begriffes unveräußerliche Menschenrechte ... Er ist der erste und einzige, der seinen Rechts-Begriff nicht unter den Schutz eines logisch construierten Staates stellte; und er that das, weil er das tiefe Gefiihl hatte, daß der eigentliche Kampf mit dem unfreien gesellschaftlichen Rechte seiner Zeit nicht durch Berufung auf die Staatsgewalt durchgefiihrt werden könne. Er ist damit der Gründer der socialen Rechtsidee geworden; das ist seine historische That, und sie ist es, die ihn zur Grundlage des Völkerrechts gemacht hat, das ja allein in der Welt das an und fiir sich keinem Staate unterworfene, gesetzlose Recht ist". 159 Vgl. ebd., S. 320 f.: "ln der Epoche, von der wir reden, sehen wir stets, daß das ganze 17. Jahrhundert auf derselben Grundlage einen wesentlich verschiedenen Charakter hat wie das 18. Wir können denselben fiir alle sich hier entwickelnden Gebiete kurz bezeichnen, und werden ihn fiir alles Folgende festhalten. Es ist der, daß das 17. Jahrhundert allenthalben das vorbereitende, das 18. Jahrhundert das erfüllende ist, soweit es sich um das geistige Leben Europa's handelt, während das 19. aus den geistigen Ergebnissen des 18. positiv geltende Rechte und Ordnungen erzeugt. Das, was wir jetzt über die Idee der Menschenrechte anzudeuten haben, darf deßhalb nur so weit gehen, um auch fiir sie dem Charakter jener beiden Jahrhunderte einen, allerdings nicht unwesentlichen Theil seines Inhalts zu geben".
160 Vgl. ebd., S. 322: "Während Volta ire mit unermüdlichem Eifer die elenden Zustände der inneren Verwaltung mit seinem Spotte verfolgt, stellt Montesquieu zuerst den Gedanken auf, daß alles positive Recht nicht an und fiir sich richtig, sondern nur die Consequenz der gesellschaftlichen Verhältnisse, und alles Ungerechte daher zuletzt ein auf der socialen Ordnung beruhendes Unrecht sei. Hinter ihm verfolgt Rousseau den Gedanken Hugo Grotius' bis in seine äußersten politischen Consequenzen, und kommt in denselben zu dem Satze, daß die unverlierbaren Menschenrechte in Wahrheit unverlierbare Rechte des Volkes, seiner Souveräneität und seines Gesammtwillens seien und daß dieser Freiheit des Volkes die Egalite der Einzelnen zum Grunde liegen müsse".
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Rousseau bezeichnet in Frankreich für Stein - wie gesagt - den Übergang von der Sozialutopie zur totalitären Sozialideologie. Er lasse keine individuellen Freiheitsrechte mehr gelten; an deren Stelle trete die Freiheit des Volkes als ein homogenes Subjekt gedacht; das Prinzip der Gleichheit schlägt um in die Bedrohung der Freiheit der Einzelnen . ... der souveräne Staat ist nicht bloß ein gesellschaftlicher, sondern er ist der absolute Feind der Gesellschaft; die Societe Rousseaus ist die unterschiedslose Gemeinschaft und damit die Ungerechtigkeit aller bestehenden Rechtsordnung. So ist der Grundgedanke Hugo Grotius' in Rousseaus Contrat social zu einem absolut negativen Prinzip keineswegs so sehr gegenüber der Staatsgewalt, sondern den gesellschaftlichen Rechten geworden; er durchzieht von da an alle Anschauungen vom gesammten Staatsleben, erfaßt im Communismus das Eigenthum, im Bildungswesen al1en historischen Unterricht, in der Erziehung alle gesellschaftlichen Einflüsse, und schält gleichsam den Menschen aus seiner ganzen Geschichte heraus, um ihn als Product jener eigenen Natur jetzt nur unter jenes unverlierbare Naturrecht zu stellen. 161 Rousseaus Sozialphilosophie sei zwar die radikalste, aber keineswegs die einzige Utopie. Denn auch Montesquieus Staatslehre und die Wirtschaftstheorie der Physiokraten 162 enthielten utopische Elemente; sie hätten der bestehenden Gesellschaftsordnung prinzipiell widersprochen und seien nicht nur mit den bestehenden Zuständen unzufrieden gewesen; sie hätten alles gegebene Recht, die ganze auf der rechtlichen Ungleichheit aufbauende Privilegienordnung negiert. Das Prinzip der Gleichheit duldet keinen Unterschied. Das war es eigentlich, und nicht ein philosophischer Begriff des Staats, dessen das damalige Frankreich bedurfte; es verfolgte diesen Gedanken auf allen Gebieten; er war der Inhalt der eigentlichen Freiheitsidee jener Zeit, in hundert Formen während der Revolution durchbrechend und sie zu dem machend was sie eigentlich war, nicht eine republikanische, sondern die erste sodale Revolution des Continents ... 163 Stein kritisiert nicht die Ziele jener Theorien, sondern dass sie über das Ziel den Weg und mit ihm die Realität aus den Augen verloren hätten. Von da an geht die Vorstellung von jenen "Menschenrechten" durch ganz Europa, um in der französischen Revolution von 1848 sowie in der deutschen als "Grundrechte" wieder zu erscheinen, ohne daß man sich recht bewußt wird, daß das keine staatlichen, sondern nur die gesellschaftlichen Rechte bedeute! ... Das unveräußerliche Menschenrecht beginnt an seinem Gegensatz zu den großen Principien von Eigenthum und Arbeit sehr verständlich zu werden, und die sociale Frage entsteht als die Frage der Gleichheit des Individuums gegenüber dem gesellschaftlichen Unter161
Ebd., S. 322 f.
162
Vgi. C. i. 1.
163 Stein, L. v., Die Verwaltungslehre, 2. Aufl. 1884, Theil 8, Bildungswesen 111, Stuttgart, S. 323.
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schiede, als der eigentliche und letzte Kern des inneren Kampfes mitten in der höchsten Freiheit der souveränen Nation. So beginnt schon hier rur das 19. Jahrhundert die schwerste seiner Aufgaben. 164
In dieser Perspektive ist Hegel weniger der Urheber neuer Bewegungen als das Opfer rationalistischer Verkürzungen. Ähnlich wie Johann Friedrich Herbart l65 sieht Stein, dass Hegel wirkliche Gegensätze nicht aufhebt: Statt den Schwerpunkt der Freiheit in das individuelle Handeln zu setzen, und dieses inmitten der gesellschaftlichen Unterschiede zu beobachten, macht Hegel die Freiheit zu einem Moment am Ganzen, d. h. er integriert sie in sein System. Auf diese Weise wird ihm die Wirklichkeit weniger zur Bühne der Phänomenologie des Geistes, als zum Labor seiner Logik: Die Gestalten des Bewusstseins inszenieren nicht mehr das große Welttheater; in der Wirklichkeit realisiert sich stattdessen nur die Allgemeinheit des Begriffs. Der Begriff ergreift nicht etwas Wirkliches, er fmdet in allem Existierenden bloß den Schein seiner selbst. Alle Resultate sind in den Prämissen abstrakt enthalten; das konkret Allgemeine Hegels erschöpft sich daher in der Selbstreflexion des hypostasierten absoluten Subjekts, des Begriffs und bleibt tautologisch.
Die Hegelsche Philosophie entspricht dem Geist der Utopie. Das System lässt ungeachtet der Flexibilität seiner Momente "Externalitäten" nicht zu; die äußerliche Zufälligkeit wird negiert. Auf diese Weise wird Hegel nicht nur in Steins Augen l66 ungewollt zum letzten großen Repräsentanten der cartesiani164
Ebd., S. 323.
Vgl. Herbart, J. Fr., Rezension der 2. Autl. von Hegels Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, in: Werke, Bd. 13, S. 198-216 (202 u. 204 f.): Hegels Philosophie sei " ... die reif gewordene Frucht langer Jahre; und sie gewährt dem aufmerksamen Beschauer den Vorteil, dass er an ihr sehen kann, wohin die früheren Versuche geruhrt haben, - ein Vorteil, dessen Wert freilich ganz vom weitern Nachdenken abhängt. ( ... ) Hegel hat mit einer Offenheit, die ihm persönlich, und mit einer Bestimmtheit, die seinem Scharfsinne Ehre macht, das hingestellt, was herauskommt, wenn man die Widersprüche behält, anstatt ihr gerades Gegenteil zu ergreifen und dies mit der Erfahrung in Einklang zu bringen. Darur muß er dulden, daß man ihn auf der einen Seite anstaunt, auf der andern mit Befremden sich von ihm abwendet. Is1's ein Wunder ... ? Nicht einmal darüber dürfen wir uns wundern, daß die Widersprüche nicht so wie sie gegeben sind, ... sondern in einer künstlich erworbenen Zusammenziehung und Ausdehnung auftreten, die den mancherlei systematischen Forderungen am besten zu entsprechen scheint. Jedoch dieser Umstand ist desto mehr zu bedauern, je natürlicher mit ihm der Irrtum des Systems zusammenhängt". Stein hat im Gegensatz zu Marx und Herbart Hegel weder angestaunt, noch mit Befremden sich von ihm gewendet, sondern kritisch geprüft. 165
166 Mit dieser Einsicht stand Stein keineswegs allein. Es ist bemerkenswert, dass die Hege!sche Philosophie in der Mitte des 19. Jahrhunderts wesentlich differenzierter be-
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schen Philosophie in Deutschland. 167 Die deutsche Philosophie gehe nur den Weg nach Innen, statt ihre eigene Entwicklung mit der Alltagswirklichkeit zu verbinden; ihr würden deshalb die Begriffe fehlen, um der veränderten Welt l68 trachtet wurde als heute. Offensichtlich kannten sowohl Theisten wie Franz von Baader, Immanuel Hermann Fichte und Christi an Herrmann Weiße, aber auch der strenge Realist Johann Friedrich Herbart die Quellen besser, aus denen Hegel schöpfte, als die nachmetaphysische Aufklänmg. Vgl. Baader, F. X., Über das Verhalten des Wissens zum Glauben, in: Sämmtliche Werke, Hrsg. Hoffmann, F. et al., Bd. I, Leipzig 1851, S.339-356 (345), dazu: Koslowski, S., Idealismus als Fundamentaltheismus, Wien 1994, S. 44 f., 290 ff. 167 Vgl. Stein, L. V., Lehrbuch der Nationalökonomie, 3. Aufl., S. 44 f: "Der Grundgedanke der deutschen Philosophie, die Entwickelung des wesentlichen Unterschiedes zwischen dem Natürlichen und dem Persönlichen, die doch schon Descartes als Ausgangspunkt der Logik in seinem Cogito, ergo sum aufgestellt hatte und deren höhere Vereinigung zu einer organischen Weltanschauung die Idee Hegel's war, ist in dieser Zeit in der Philosophie nicht weiter gekommen, während dagegen umgekehrt das praktische Leben gerade das Moment der Freiheit zur höchsten Entwickelung brachte. Aber diese Freiheit hatte jetzt einen ganz anderen als den alten philosophischen Sinn ... Sie war zu einer staatlichen Freiheit geworden. Und gerade dieser Idee gegenüber zeigte sich der Mangel jener philosophischen Systeme und Bewegungen, weIche allerdings die tiefsten Accorde der innersten Freiheit angeschlagen hatten, ohne doch zu einem Inhalt derselben zu gelangen". Stein sah sich selbst als Vermittler zwischen der Vergangenheit und einer Zukunft, die er nicht mehr erleben würde. Dieses Bewusstsein verleiht seinem Alterswerk Trauer und eine gewisse Tragik: "Es ist unmöglich, die historische Bedeutung eines Zustandes für die Entwickelung des Ganzen vollständig zu verstehen oder zu beschreiben, so lange das Stadium, in dessen Mitte man steht, nicht selbst zum klaren Abschluß gediehen ist. Das ist nun gerade mit jener Bewegung der Fall. Unsere Zeit ist hier in einem Uebergange befindlich, in weIchem sich auf allen Punkten gerade das entwickelt und zur Geltung bringt, wonach die früheren großen Denker suchten, und dessen innerstes Wesen, die freie Selbstbestimmung der Persönlichkeit, sie so vollkommen verstanden, daß sie für alle Zeiten dieselbe als den wahren Inhalt des bis daher unfertigen Begriffes der ,Freiheit' festgestellt haben. Wir übergehen nun alle die Erscheinungen, weIche wie die Schelling'sche Philosophie die sogenannte ,unmittelbare Anschauung" oder wie die Herbart'sche die zuletzt doch immer individuelle Empfindung, oder wie Lotze und Spencer die physiologische Verbindung des Natürlichen und Persönlichen als BTÜcke von der strengen Dialektik der großen Philosophen zu dem inneren Leben des Ich wie der Naturwissenschaft bilden (... ) Allein gleichzeitig hatte die Geschichte selber in derselben Zeit, in weIcher die Arbeit des allgemeinen Begreifens in menschlichen und natürlichen Erscheinungen und Kräften so mächtige Fortschritte gemacht und so tiefe Grundlagen gefunden, den Schwerpunkt ihrer eigenen Entwickelung gerade in das tätige Leben der einzelnen Persönlichkeit gelegt" (ebd., S. 44 f.).
168 Schulz, W., Philosophie in der veränderten Welt, Pfullingen 1972, S. 738-748, möchte der Praxisferne des spekulativen Denkens mit einem universalistischen Pragmatismus begegnen, der weder der "Härte des Begriffs" noch der "Wahrheit der Tatsachen"
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gerecht zu werden. 169 Sie habe Ursache und Folge vertauscht. Ursprung und Ziel der Freiheit lägen weder im Begriff noch in irgend einer abstrakten Definition, sondern im Handeln der Person. Dies ist der Grund, weshalb Stein den Fürsten des Ekklektizismus der französischen Philosophie die Trieblehre Charles Fouriers 170 als wissenschaftliches System gegenüberstellt,171 und die Emanzipation von Nationalökonomie und
genügt. Sein humanistischer Utilitarismus nimmt weder das ökonomische Denken auf, noch verlässt er die Höhen der philosophischen Abstraktion. 169 Vgl. Stein, L. v., Lehrbuch der Nationalökonomie, 3. Aufl., S. 45: "Zwei große, zunächst rein thatsächliche Bewegungen waren es, welche nunmehr begannen die abstracte Idee der Freiheit zur wirklichen persönlichen Freiheit des Individuums durch eignen WiIJen und That zu erheben ... Die eine dieser Bewegungen war das volkswirthschaftliche Leben mit seiner materielJen Selbständigkeit des Einzelnen, welche die neue Nationalökonomie als Bedingung und zugleich als Ziel der gesammten wirthschaftlichen Entwickelung erkannte; die zweite war die, welche jedem Einzelnen und seiner Selbstbestimmung die persönliche Freiheit in dem Leben der Gemeinschaft als das Recht auf seine freie Selbstbestimmung wiedergab. War es daher bis dahin unmöglich gewesen, ohne das Suchen und die tiefste Begründung des Wesens der Persönlichkeit zu dem abstracten Begriffe jener Freiheit zu gelangen, so ward es jetzt unmöglich, fiir dieselbe ohne das Verständniß von Wirthschaft und Recht einen Inhalt zu finden. Gerade eben diese specifischen Kategorien hatte die bisherige Philosophie auf ihrer ausschließlichen Grundlage der rein begrifflichen Selbstbestimmung nicht entwickelt, ja eigentlich nicht verstanden". 170 Vgl. Stein, L. V., Soz. Bew. I, S. 273 f: "Die höchste Betrachtung des Daseienden muß von dem höchsten Entwicklungspunkte ausgehen, den es erreichen kann. Nur so bleibt sie hinter ihrer Aufgabe nicht zurück. Dieser aber ist das Glück. Damit ist denn der Ausgangspunkt des ganzen Systems gegeben; ... AIJein die Befriedigung, die den Trieb vöIJig aufhebt, ... erfiiIJt nicht ganz die Idee des Glücks; ... Die Befriedigung ist der ewig aufs neue entstehende, ewig aufs neue sich volJziehende Trieb. Damit erhält sie einen dreifachen Inhalt: den Trieb, sein Ziel, und die Bewegung". Stein schätzt Fourier nicht wegen der Betonung des Triebes als Vater aIJer Dinge, sondern weil dieser den französischen Eklektizismus zur systematischen Weltanschauung des Sozialismus gebracht habe und damit der neuen Wissenschaft der GeseIJschaft vorarbeitete. Nicht die Triebe als solche, sondern die als System dargesteIJte Trieblehre faszinierte Stein, bot sie doch den Übergang aus den begrifflichen Abstraktionen in das volle Leben. 171 Vgl. Stein, L. v., Soz. Bew. 11, S. 254: "Die Philosophie des heutigen Frankreichs aber ist nicht viel weiter in Beziehung auf ihre Form, wie die des vorigen Jahrhunderts; seit den Vätern ihrer gegenwärtigen Gestalt, dem geistreichen Montaigne und Rochefoucauld, denkt man nur in Aphorismen. Man gab sich daher nicht die Mühe, ein volJzogenes System systematisch zu würdigen ... Die Fürsten des Ekklektizismus begriffen ihn daher nicht, oder versuchten ihn in Vergessenheit zu begraben".
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Jurisprudenz aus den Fesseln überholter Begriffspyramiden begrüßt. 172 Die französische Revolution war für Hegel das welthistorische Ereignis schlechthin, der Horos, an dem das Reich der Unfreiheit zugrunde geht. 173 Das faszinierende, ja man kann sagen gleichermaßen irritierende wie beruhigende an der politischen Philosophie Hegels war, dass er dem Idealismus treu bleiben und zugleich zu einer realistischen Grundlage verhelfen wollte. Doch statt sich von der Übersteigerung der Aufklärungsphilosophie zur Religion des Deutschen Idealismus zu lösen, versuchte er die Ungeheuer vernünftig aufzuheben,174 die der Glaube an die Vernunft heraufbeschworen hatte. 175 Hinter dem Subjekt der Idee steht nur der Geist - und keine freien Geister. 176 Die einzelnen Subjekte werden nicht zu Trägem der substantiellen Sittlichkeit, sie erscheinen vielmehr als eine vermittelte Form der im Staat unmittelbar zu sich findenden sittlichen Idee. 177
172 Vgl. Stein, L. v., Lehrbuch der Nationalökonomie, 3. Aufl., S. 45 f. Wie der Übergang von der "reinen Philosophie" in das "wirkliche Leben" zu bewerkstelligen sei, zeigt Stein im ersten Buch seiner Nationalökonomie von 1887: Die Identitätsphilosophie der Arbeit gebe einen Schlüssel, der die Türen zu a1\en Sphären der Welt des Menschen öffne. Vgl. dazu C. 111. 2. 173
Vgl. Hegel, Geschichtsphilosophie, S. 528 f.
174 Dass die HegeIsche Rechts- und Sozialphilosophie zukunftweisende Ansätze bietet, wenn man sie aus dem von Hegel beabsichtigten metaphysischen Holismus löst, sei nicht geleugnet; ich komme darauf in B. I. zurück. 175 Vgl. Hegel, Rechtsphilosophie, § 257 (S. 398): Die Freiheit des einzelnen und die überlieferte Ständegese1\schaft so1\en gemeinsam im konkret Allgemeinen, dem Staat zu ihrer substantiellen vernünftigen Freiheit aufgehoben sein. Spekulative Philosophie, Gesellschaftsanalyse und pragmatische Geschichtsbetrachtung sind miteinander vermengt. Der Staat sei " ... die Wirklichkeit der sittlichen Idee ... An der Sitte hat er seine unmittelbare und an dem Selbstbewußtsein des Einzelnen, dem Wissen und Tätigkeit desselben, seine vermittelte Existenz, so wie dieses durch die Gesinnung in ihm, als seinem Wesen, Zweck und Produkte seiner Tätigkeit, seine substantielle Freiheit hat". 176 Nach I. H. Fichte ist Hegel " ... über jenes subjektiv-idealistische Princip, das Wissen nur in seiner Uebereinstimmung mit sich selbst, in der subjektiven Identität, zu fassen und gelten lassen zu wollen, ... der Sache nach nie hinausgekommen: ... So ist er hier, dem Principe nach, Fichteaner geblieben ... Diess ist die petitio principii, ... die, einer subjektiv-idealistischen Philosophie gegenüber, gegen welche sie gerichtet war, fast noch etwas schlimmeres wird, nämlich ein Rückfall in die blinden Voraussetzungen des Dogmatismus" (Fichte, I. H., Beiträge zur Charakteristik der neueren Philosophie oder kritische Geschichte derselben von Des Cartes bis auf Hegel, 2. Aufl. 1841, Sulzbach, S. 820 f.).
177 Hegel, Rechtsphilosophie, § 258 (S. 399).
11. Hegel und die Voraussetzungen des eigenen Systems
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Wie Grotius, Pufendorf, Rousseau und Kant schreibt Hegel gegen das überständige Alte und konfrontiert die ständische Welt mit der radikalen Gleichheitsforderung des philosophischen Rationalismus. 178 Die Utopie kleidet sich im realistischen Gewand: Der "unsinnige Zustand" der ständischen Zeit soll der klaren Welt vernünftiger Einsicht weichen. Die vernünftige Betrachtung, das Bewußtsein der Idee, ist konkret und trifft insofern mit dem wahrhaften praktischen Sinne, der selbst nichts anderes als der vernünftige Sinn, der Sinn der Idee ist, zusammen, - der jedoch nicht mehr mit bloßer Geschäftsroutine und dem Horizonte einer beschränkten Sphäre zu verwechseln ist. Der konkrete Staat ist das in seine besonderen Kreise gegliederte Ganze ... 179
Hegel selbst hat wohl kaum geahnt, dass nur ein kleiner Schritt von seiner Rechtsphilosophie zu dem Jeder nach seinen Fähigkeiten, Jedem nach seinen Bedürfnissen! des kommunistischen Manifests führt. 180 Ungeachtet der Vielfalt, die der mit Hegels Dialektik gesetzte stereoskopische Blick auf das Ineinander von staatlicher Einheit und gesellschaftlicher Mannigfaltigkeit ermöglicht, fliegt der Primat der Idealität als konkrete Allgemeinheit über die Realverhält178 In der Schrift: Beurteilung der Verhandlungen in der Versammlung der Landstände des Königreiches Württemberg im Jahre 1815 und 1816, Nürnberger und Heidelberger Schriften, Werke, Bd. 4, S. 462-597, kritisiert Hegel die Landstände nicht wegen deren Widerstand gegen die neue Verfassung, sondern den Kampf der Ständegesellschaft gegen das neue Staatsprinzip. Als sich die Landstände gegen die Konstitution für das Königreich Württemberg aussprachen, sah er darin eine Revolte der Vergangenheit gegen Gegenwart und Zukunft: Sie ., ... erklären sich als Landstände, aber einer anderen Welt, einer vergangenen Zeit, und fordern, daß die Gegenwart zur Vergangenheit, die Wirklichkeit zur Unwirklichkeit umgeformt werden solle. In derselben Sitzung am 15. März, worin der König sein Reich vollends nach innen konstituiert zu haben glaubte, geschieht der Anfang, dass teils die vormals privilegierten Klassen, teils die, um Landstände zu sein, Einberufenen gemeinschaftlich erklärten, daß sie sich außerhalb der neuen Rechtsverfassung des Staates befinden und daß sie in die vom Könige gegebene Verfassung gar nicht eintreten" (ebd., S. 493 f.). "Die gesamte Ständeversammlung selbst stellt sich ebenso auf einen den wirklichen Weltverhältnissen entgegengesetzten Standpunkt ... - Die Ständeversammlung verwarf die königliche Verfassung nicht deswegen, weil sie dem Rechte, welches Untertanen aus dem ewigen Rechte der Vernunft für sich in der Staatsverfassung fordern können, entgegen sei ... darauf ließ sie sich gar nicht ein ... , sondern sie verwarf dieselbe deswegen, weil sie nicht die altwürttembergische Veifassung sei, - ... weil der Akt, wodurch sie eintreten sollte, nicht das bloße Wiederherstellen und Wiederaufleben des Alten sei. - Das Tote kann aber nicht Aufleben; die Ständeversammlung bewies in ihrer Forderung, daß sie von der Natur der Aufgabe, welche zu lösen war, nicht nur keinen Begriff, sondern auch keine Ahnung hatte" (ebd., S. 496 f.).
179
Hegel, Rechtsphilosophie, § 308 (S. 477).
180
Vgl. dazu B. I. 7.
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nisse und geht am gesellschaftlichen Gegensatz zugrunde. Der Idealismus, so Stein, habe seine Vision mit der Wirklichkeit verwechselt und dazu beigetragen, dass nicht mehr klare Gedanken, sondern tiefe Gefühle die Wirklichkeit regierten. Die Utopie ersetzt den Mangel an analytischer Schärfe: Die Identificirung von sittlicher Bestimmung und Recht ist daher entweder eine Unklarheit, indem in der Bestimmung des Menschen der gewaltige Keim der Geschichte des Rechts liegt, und man mithin die Rechtsgeschichte für die Wissenschaft des positiven Rechts ausgibt, oder geradezu ein Fehler, indem man etwas, das man selbst seinem Begriff nach als unwirklich setzt, zugleich als den geistigen Inhalt von einem andem setzt, das selbst gar nichts ist, wenn es nicht wirklich ist, das Recht. 181
Statt aus den Wirren der Revolution herauszufinden, habe der Idealismus, namentlich Hegel, den Fehler der französischen Aufklärungsphilosophie wiederholt, die Bestimmung des Menschen mit dem wirklichen Individuum vertauscht und das Recht mit dem zu regelnden Inhalt verwechselt; deshalb habe er seine Prinzipien zur Wirklichkeit erhoben und sei am wirklichen Leben gescheitert. 182 Das war für Stein die unabweisbare Konsequenz einer Philosophie, die vom reinen Gedanken ausgehend die Wirklichkeit zu sich aufheben will. - Und gerade weil Stein vordergründig so nahe bei Hegel steht, sieht er, daß und warum der Geist der Utopie den objektiven Idealismus durchdringt. 183 Dank der 181
Stein, L. v., System 11, S. 221.
182 VgI. ebd.: "Es ist nämlich seit dem vorigen Jahrhundert, wo die Lehre von Begriff und Wesen des Rechts als Mittel im Kampfe der niederen Klasse gegen die höhere gebraucht wurde, ganz allgemein der Begriff des Rechts mit dem der sittlichen Bestimmung identisch gemacht worden, so daß Object und Inhalt des Rechts vollkommen zusammenfallen mit Object und Inhalt der Sittlichkeit. So lange man auf diesem Standpunkt, der im vollsten Maße von Fichte, Hegel und an dem weniger bedeutenden Philosophen, wie Bercuise, Schopenhauer etc. angenommen wird, stehen bleibt, so lange wird es niemals weder ein klares Verständniß über den Begriff des Rechts, noch auch eine Möglichkeit geben, zwischen der Philosophie des Rechts und dem wirklichen Recht irgend eine nutzbringende Verbindung zu schaffen. Denn es ist einleuchtend, daß die sittliche Bestimmung wesentlich in dem besteht, was noch nicht erfüllt und erreicht ist, während das Recht undenkbar ist, ohne daß es sich auf etwas Positives und Gegebenes beziehe". 183 VgI. ebd., S. 222 f.: "Man kann den großen Fehler, der hier seit zwei Jahrhunderten immer aufs Neue begangen wird, mit einem Satze bezeichnen. Da das Recht eben jenem ihm eigenthümlichen Wesen nach, in allen Verhältnissen des wirklichen Lebens nothwendig vorkommt, so hat man die Vorstellung gefaßt, daß deßhalb alle Verhältnisse des Lebens im Recht vorkämen. Man hat daher das ganze persönliche Leben als Inhalt des Rechts aufgefaßt. Da nun aber schon bei einfacher Ueberlegung dieß nicht thunlich ist, so hat man nach dem gesucht, wovon diese Gesammtheit der Lebensverhältnisse
III. Zusammenfassung
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Vertrautheit mit den Grundlagen des Idealismus und der intimen Einsicht in die sozialrevolutionären Bewegungen seiner Zeit konnte Stein sich von Hegellösen und die totalitären Implikationen des Hegelianismus kritisieren, ohne Hegels Leistungen zu leugnen.
111. Zusammenfassung Die Jugend und erste Publikationen Lorenz von Steins sind geprägt von dem rasanten gesellschaftlichen Wandel und den politischen Spannungen im vorrevolutionären Deutschland wie der Auseinandersetzung zwischen Deutschem Idealismus, Historismus und Romantik. Der junge Stein orientiert sich zunächst an der Fichteschen Tatphilosophie und der Rechtsgeschichte; unter dem Einfluss Amold Ruges und Ludwig Feuerbachs zählt er sich anfangs zur junghegelianischen Bewegung. Indessen zeigt ihm schon 1842 ein Forschungsaufenthalt in Paris, dass nicht die ,.,soziale Richtung der neueren Philosophie" - wie Ruge glaubte -, sondern der innerhalb der Gesellschaft offen ausgetragene Interessenkonflikt zwischen den sozialen Klassen den Kampf des dritten Standes gegen den feudalen Staat abgelöst hatte; der Klassenantagonismus werde die Zukunft bestimmen. Die Zustände im brodelnden Paris der vierziger Jahre belehren ihn, dass nicht mehr die Philosophie, sondern das wirkliche Leben, der Kampf zwischen Arm und Reich, den Gang der Ereignisse bestimmt. Diese Einsicht führt Stein jedoch nicht näher an den linksextremen Junghegelianismus heran - im Gegenteil. Ich gehöre nicht zu denen, die weil sie mit ihren Gedanken einen Weg durch das Labyrinth der Dinge gefunden haben, nun auch glauben, daß sie sogleich den Schlüssel zum großen Rätsel in den Händen halten. Ich weiß, daß an der Erkenntnis der einfachsten Wahrheiten Jahrhunderte gearbeitet haben ... Allein ich weiß auch, daß, um
selbst wieder der äußere Ausdruck ist. Dieß nun ist die Bestimmung der Persönlichkeit. So kam es, daß die Meisten die Bestimmung der Persönlichkeit als Inhalt des Rechtsbegriffs setzten, und natürlich dabei eine Menge von Dingen, die zwar dieser Bestimmung, nicht aber dem Recht angehören, - die Art und Weise, wie der Mensch die Natur als solche seiner Bestimmung unterwirft und einen wesentlichen Theil der inneren Welt - in den Rechtsbegriff gewaltsam und unverständlich hineinzogen. Das Recht wurde dadurch so allgemein, daß auch die moralische Bestimmung mit hinein gelegt wurde, und daß sich trotz des Sträubens der Sprache, die das Verschiedene mit so verschiedenen Namen belegte, Ethik und Rechtsphilosophie ganz identisch wurden ... Dieß nun muß verlassen werden, und es ist sehr leicht, jenes Mißverständniß zu beseitigen, wenn man nur einfach annimmt, daß der Inhalt des Rechts durch den Inhalt des Objekts des Rechts, das wirkliche Leben der Persönlichkeit, allein gegeben wird". Vgl. dazu B. 11. 3. - 11. 5.
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A. System und Geschichte im Jugendwerk Steins
dies Ziel zu erreichen, manche ernste und doch vielleicht künftig überflüssige Arbeit voraufgehen muß ... Ich glaube, daß die Zeit der sozialen Theoreme vorbei ist ... Diese Zeit ist vorüber. Die Frage liegt jetzt auf einem anderen Gebiete. 184
Gerade weil er sieht, wie in Frankreich die Interessen von Arbeit und Kapital aufeinander prallen, glaubt er nicht mehr an den Vorrang der Theorie; weder die wahre Theorie noch die soziale Revolution kann den gesellschaftlichen Gegensatz lösen; " ... die soziale Revolution [ist] ... nicht ein Fortschritt oder eine Bedingung des Fortschritts, sondern an sich ein Unglück, und in ihren Tendenzen eine reine Un-Möglichkeit ... Die Unfreiheit ist nicht minder da, wo die Arbeit das Kapital, als da, wo das Kapital die Arbeit beherrscht".185 Dieser Überzeugung bleiben das politische Wirken wie die wissenschaftliche Arbeit Steins verpflichtet. Politisch bekennt er sich zur parlamentarischen Monarchie; ein Engagement, das ihn zwischen die Fronten der äußersten Linken auf der einen und der reaktionären Rechten auf der anderen Seite bringt, verhindert, dass er Deputierter in der Frankfurter Versammlung wird, und bewirkt, dass ihm in Deutschland nach dem Zusammenbruch der Revolutionen in Frankfurt und Kiel zeitlebens die Universitätslautbahn verschlossen bleibt. Die immer deutlicher zu Tage tretende Unvereinbarkeit von philosophischer Forderung und gesellschaftlicher Wirklichkeit führt ihm vor Augen, dass die Wissenschaft nicht mehr auf die im platten Sinne unpraktische Philosophie zurückgreifen kann. Die ewigen Kategorien taugen nicht, dem rasanten gesellschaftlichen Wandel gerecht zu werden; deshalb untersucht Stein - darin seiner Zeit weit voraus - die Kluft zwischen Philosophie und Wirklichkeit wie die Entstehungsbedingungen philosophischer Systeme. Auf diese Weise findet er zur Gesellschaftswissenschaft. Die neue Wissenschaft der Gesellschaft zeigt ihm, dass der Zweck der Gesellschaft keineswegs in der sozialen Gleichheit besteht. Die gesellschaftliche Ungleichheit sei nicht mit der sozialen Unfreiheit zu verwechseln; das Ziel aller Vergemeinschaftung sei nicht die Gleichheit aller, sondern die Freiheit jedes Einzelnen. Um das komplexe Ineinander von Freiheit und Ungleichheit, Verschiedenheit und Gleichheit in Staat und Gesellschaft darzustellen, entwirft er frühzeitig das komplexe Instrumentarium einer Wirklichkeitswissenschaft, die weder den Sieg der Theorie über die Wirklichkeit fordert, noch "die Verhältnisse zum Tanzen bringen" will. Dadurch gerät er in scharfe Auseinandersetzungen mit ehemaligen Weggefahrten wie Ruge, Grün und HeB. Stein entfremdet sich nicht nur politisch den im Umfeld der Hegeischen Philosophie entstandenen Theorien. Er ist von Anbeginn Theist und glaubt so wenig an die Aufhebung des Glaubens zum Wissen wie an die Selbsterlösung des Menschen; stattdessen fmdet er in Glauben und Wissen zwei gleichwertige
184
Stein, L. v., Soz. Bew. I, S. 2.
185 Ebd., S. 127.
III. Zusammenfassung
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Fonnen menschlicher Selbstverständigung und Weltgestaltung. Dies prädestinierte ihn geradezu zu Ideologiekritik und Wissenssoziologie. Lorenz von Stein reflektiert auf die offene Gesellschaft: Er war von deren Heraufkunft überzeugt und entwickelt früh seine Bestimmungen in der Spannung zwischen zeitfreien Grundkategorien und wandelbaren Prozessbegriffen. Der systematische Grundansatz wird dabei ständig historisch überprüft und gegebenenfalls korrigiert: Der Ausgangspunkt ist nicht die Hegeische Dialektik; Stein deduziert nicht, sondern untersucht den gesellschaftlichen Rahmen, wie die historische Herkunft von Hegels Kategorien. ,,Die Lücke" einer Philosophie, der es nur um "das Affinnative" zu tun ist, der Mangel, das Leiden und der Schmerz der Wirklichkeit bleiben stets präsente Phänomene und Grundlage von Steins wissenschaftlicher Arbeit wie seines sozialpolitischen Engagements in Gesellschaftswissenschaft und Nationalökonomie, Finanzwissenschaft, Staatstheorie, Verwaltungslehre, Bildungswesen und Rechtswissenschaft.
B. Geistmetaphysik, Philosophiegeschichte und Historische Soziologie bei Hegel, Karl Marx, Lorenz von Stein, Wilhelm Dilthey und Max Weber Wie oben mehrfach erwähnt, hat die Steinforschung - von Ausnahmen abgesehen l - sich damit begnügt, in Lorenz von Stein bestenfalls einen Reformhegelianer zu erkennen. Sein Schreibstil diente dazu, ihm die geschichtsphilosophischen Irrtümer des Deutschen Idealismus zu unterstellen; darüber "vergaß" man, die Verbindungen zwischen den philosophischen Vorgaben und Steins "Entdeckung" der Gesellschaftswissenschaften zu untersuchen. Bezogen auf Steins Oeuvre werden sowohl die Unterschiede innerhalb der HegeIschen Schule als auch die "Aufhebung" der HegeIschen Philosophie zur sozialen Agitation und Aktion im Junghegelianismus gering geachtet;2 vor allem aber wurde die eigenständige Begründung der in der spät- beziehungsweise nachidealistischen Zeit entstehenden Geschichts- und Gesellschaftswissenschaften vernachlässigt. Nicht nur Lorenz von Stein, auch "unsere Altmeister" (Max Weber), die Begründer der Historischen Schule der Nationalökonomie, Wilhelm Roscher, Karl Knies und Bruno Hildebrand3 standen im Bann " ... der großen HegeIschen Gedanken ... , welche für die Geschichts-, Sprach- und Kulturphilosophie verschiedener noch in den mittleren Jahrzehnten des abgelaufenen Jahrhunderts [gemeint ist das 19. Jh., S. K.] einflussreicher Richtungen so charakteristisch
1 Willrns, B., Lorenz von Steins politische Dialektik, in: Schnur (1978), S. 97-123 (101), erfasst genau, woran der Stein-Hegel-Vergleich krankt: Man müsse " ... sich ... auf beider Denken je von diesem Denken selbst her einlassen und nicht das eine bloß am anderen festmachen. Denn dabei muß, wie die Dinge liegen, Stein stets zu kurz kommen. Für denjenigen, der von Hegel nichts hält, ist Stein dann bloß ein schlechterer Hegel, und für denjenigen, der von Hegel etwas hält, ist dieser sowieso der bessere Hege\".
2 Stuke, H., Hegelianismus, in: HWP, Bd. 3, Sp. 1026-1030 (1028 f.), beschreibt knapp den Zerfall und die Diffusion der Hegeischen Schule in der sozialen Auseinandersetzung und ihre unterschwellige Präsenz in der Historik und den Gesellschaftswissenschaften des ausgehenden 19. Jh. 3 Vgl. Weber, Max, Roscher und Knies und die logischen Probleme der Historischen Nationalökonomie, in: ders.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 4. Aufl. 1973, Hrsg.: Winckelmann, Johannes, Tübingen, S. 1-145 (1 f.).
B. Geistmetaphysik, PhiJosophiegeschichte und Historische Soziologie
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war."4 Das ,,Hegelianismusverdikt" greift hier so wenig zur Charakterisierung der Methode, wie damit der Reiz und die Problematik der Historischen Schulen des Rechts und der Nationalökonomie5, bzw. der geschichtlich angelegten verstehenden Soziologie Max Webers angemessen zu würdigen sind. Im Folgenden werden die Ansätze Lorenz von Steins und Hegels auf der einen, und die von Kar! Marx, Wilhelm Dilthey, Max Weber und des gläubigen Katholiken und Hegelianers Graf August v. Cieszkowski auf der anderen Seite miteinander verglichen: Nicht erst bei den Epigonen, schon beim ,,Meister"6, Hegel, zeigen sich die Größe und das Ungenügen einer ausschließlich philosophischen Weltbetrachtung, finden sich die Keime der aufkommenden Geisteswissenschaften wie die Anfänge des doktrinären, säkularistischen Chiliasmus und Gnostizismus der Hegeischen Linken von Heinrich Heine bis Kar! Marx und Max Weber. Die Modernität der Vermittlung von Philosophie und Leben bei Lorenz von Stein und der Gegensatz zwischen Utopie und Wissenschaft werden im direkten Vergleich mit Hegel, Dilthey und Max Weber deutlich: Ich werde zunächst Teile der Hegeischen Philosophie skizzieren, die nicht nur Lorenz von Stein, sondern auch Karl Marx, Wilhelm Dilthey und Max Weber - ungeachtet ihrer Kritik am Hegeischen Monismus 7 - übernommen haben. Deren historisch-sozialwissenschaftliche "Reformulierung" der Vernunft in der Geschichte wird anschließend mit der messianistischen Geschichtsphilosophie Graf August von Cieszkowskis verglichen: der gläubige Katholik und Linkshegelianer gab dem Junghegelianismus die Losung; von ihm stammt das von Moses Hess übernommene Schlagwort ,,Philosophie der Tat". Dabei setzte Cieszkowski die Akzente völlig anders als die deutschen Junghegelianer; er kritisiert weder den Idealismus noch die Dialektik oder den Holismus Hegels, im Gegenteil: Dessen Rechts- und Geschichtsphilosophie werden kritisiert, weil ihre realphilosophische Explikation das trichotomische Schema der Wissen4
Ebd., S. 145.
5
Vgl. Harstick, H.-P., Historische Schule, in: HWP, Bd. 3, Sp. 1137-1141.
6 Nach Rihs, eh., Lorenz v. Stein. Un Jeune Hegelien Liberal a Paris (1840-1842). Observateur du mouvement social dans la France contemporaire, in: Revue d'histoire economique et sociale, XLVll e Vol., 1969, S. 404--444 (41 f.), ist Stein durch und durch Hegelianer, weil er die neue Qualität des proletarischen Bewusstseins spekulativ erfasst habe: "Pour Stein, le XIxe siecle, avec ses bouleversements economiques, apporte la preuve que le moment est arrive ou le monde du reel rend consciente I'idee a realiser, au niveau du collectif et de I'individuel". Nicht die Tatsache, dass die Sprengkraft der sozialen Bewegung überall mit Händen zu greifen war, sondern Hegels Philosophie habe Stein geprägt (vgl. ebd., S. 443). Vgl. auch Freund, J., Politique et economie sei on Lorenz von Stein, in: Schnur(1978), S. 125-147. 7
Vgl. dazu Koslowski, S. (1989), S. 70 ff.
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B. Geistmetaphysik, Philosophiegeschichte und Historische Soziologie
schaft der Logik nicht beibehalten und damit sowohl gegen die Architektonik des Systems als auch dessen Widerspiegelung in der Wirklichkeit verstoßen habe. Vor dem Hintergrund der junghegelianischen Diskussion zeigen Cieszkowskis ,,Prolegomena zur Historiosophie" sowohl die Grenzen des Junghegelianismus, wie sie den "Umschlag" des Deutschen Idealismus in die Mystik und den polnischen Messianismus einleiteten.
I. Metaphysik (Logik) und praktische Philosophie bei Hegel In seiner Logik gibt Hegel eine Grundlegung seines Systems, der eigenen Philosophie; fiir die Welt endlicher Geister übernehmen Philosophiegeschichte, Geschichtsphilosophie und Rechtsphilosophie deren weitere Ausarbeitung. Da Rechts- und Geschichtsphilosophie "den Gang des Geistes" in der Geschichte demonstrieren, sind sie nicht nur als Marksteine von Hegels praktischer Philosophie zu betrachten. "Als Teil des Hegeischen Systems", schrieb bereits der Hegelschüler Eduard Gans, "wird die Rechtsphilosophie mit diesem zu stehen und zu fallen haben".8 Beide, die Rechtsphilosophie wie die Geschichtsphilosophie beinhalten darüber hinaus die kritische Verarbeitung der Umbrüche des revolutionären Zeitalters. 9 In ihnen werden die theoretischen Vorgaben des Systems mit den Veränderungen jenes Zeitenbruchs konfrontiert. In der Rechtsphilosophie setzt Hegel " ... die traditionelle metaphysische Theorie unmittelbar und als diese mit der Erkenntnis der Zeit und der Gegenwart gleich. Die Philosophie als Erkenntnis des Seins ist zugleich ihre Zeit in Gedanken erfaßt".lo Nichts anderes geschieht in der Philosophie der Geschichte und in der Geschichte der Philosophie. Während die Rechtsphilosophie versucht, die subjektive Freiheit und die substantielle Sittlichkeit miteinander zu vermitteln, zeigt die Geschichtsphilosophie den " ... Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit 8 Gans, Eduard, Vorwort zur 2. Aufl. der Rechtsphilosophie (1833), in: Riedei, M. (Hrsg.), Materialien zu Hegels Rechtsphilosophie, Bd. I, Frankfurt a. M. 1975, S. 242248 (248). 9 Vgl. Bergeron, L. / Furet, F. I KoselIek, R., Das Zeitalter der europäischen Revolution 1780-1848, Frankfurt a. M. 1969, S. 297: Die Jahre um 1830 bilden " ... einen Einschnitt, der - vor allem in Deutschland - von dem Absterben einer schon zu Lebzeiten ihrer Vertreter klassisch gewordenen Epoche zeugt: 1827 starb Beethoven, 1828 Schubert, 1830 Constant und Motz, 1831 Hegel, Stein (Frh., S. K.) und Gneisenau, alles Männer der preußischen Reform; ... alle zusammen indizieren sie... das Ende eines Zeitalters, dessen Spannung die Einheit von Aufklärung, Romantik und Revolution ausmachten". 10 Ritter, J., Hegel und die französische Revolution, in: ders.: Metaphysik und Politik. Studien zu und Hegel, Frankfurt a. M., S. 183-233 (189).
I. Metaphysik (Logik) und praktische Philosophie bei Hegel
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- ein Fortschritt, den wir in seiner Notwendigkeit zu erkennen haben";l1 die Geschichte der Philosophie verhält sich komplementär dazu: Rechts- und Geschichtsphilosophie führen gleichermaßen die Homogenisierung der Lebensstile wie die zunehmende Individualisierung und Freiheit der subjektiven Lebensführung als zusammengehörende Momente eines Ganzen vor Augen; die Philosophiegeschichte begreift darüber hinaus das Aufkommen unterschiedlicher Philosophien als notwendige Momente der sich selbst entfaltenden Idee: "So ist die Philosophie System in der Entwicklung, so ist es auch die Geschichte der Philosophie."12 Metaphysik, geschichtsphilosophische Reflexion und emanzipatorisches Interesse laufen bei Hegel zusammen. Denn trotz des Fortschritts im Bewußtsein der Freiheit ist " ... die Weltgeschichte ... nicht der Boden des Glücks. Die Perioden des Glücks sind leere Blätter in ihr".13 Gnostische Elemente l4 stehen neben der ernüchternden Einsicht, dass weder die Philosophie
11 Hegel, Geschichtsphilosophie, S. 32. 12 Hegel, Geschichte der Philosophie I, S.47. Während die empirische Geschichtsschreibung im Wechsel historischer Gestalten nur den (zufälligen) Schein vor sich habe, sei es der Philosophie und ihrer Geschichte vorbehalten, hinter allem Vergänglichen den Sinn des Wandels zu entdecken. Eschatologische Hoffnungen verbinden sich mit aufklärerischen Vorstellungen und utopischen Bildern: "Nach dieser Idee behaupte ich nun, daß die Aufeinanderfolge der Systeme der Philosophie in der Geschichte dieselbe ist als die Aufeinanderfolge in der logischen Ableitung der Begriffsbestimmungen der Idee. Ich behaupte, daß, wenn man die Grundbegriffe der in der Geschichte der Philosophie erschienenen Systeme rein dessen entkleidet, was ihre äußerliche Gestaltung, ihre Anwendung auf das Besondere und dergleichen betrifft, so erhält man die verschiedenen Stufen der Bestimmung der Idee selbst ... ; - aber man muß freilich diese reinen Begriffe in dem zu erkennen wissen, was die geschichtliche Gestalt enthält ... Ich bemerke nur noch dies, daß aus dem Gesagten erhellt, daß das Studium der Geschichte der Philosophie Studium der Philosophie selbst ist ... " (ebd., S. 49). 13
Hege/, Geschichtsphilosophie, S. 42.
Krämer, H. l, Der Ursprung der Geistmetaphysik. Untersuchungen zur Geschichte des Platonismus zwischen Platon und Plotin, Amsterdam 1964, begreift nicht nur christliche und außerchristliche gnostische Systeme als Teil des Platonismus; er verfolgt darüber hinaus dessen Geschichte bis zur HegeIschen Philosophie: Vgl. ebd. S. 437 f. und 441 f.: "Hegels System erinnert nicht nur an Stufenmodell und Emanationsbewegung des Neuplatonismus, sondem erneuert auch - mit charakteristischer Umkehrung und Weiterbildung - dessen Geistmetaphysik". "Hegels objektiver Geist erweist sich ... vom Zusammenhang des Systems selbst her als Derivat der Nus-Metaphysik des Platonismus und als ,Geist' im Sinne des traditionellen platonistisch-christlichen intellectus divinus". Kos/owski, P., Gnosis und Theodizee. Eine Studie über den leidenden Gott des Gnostizismus, Wien 1993, S. 99 tT., sieht Verbindungen zwischen dem spätantiken gnostizistischen (häretischen) System Valentinians und dem Deutschen Idealismus: Beide würden im Gegensatz zur gnostischen Spekulation der Kirchenväter (Patristik) nicht 14
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B. Geistmetaphysik, Philosophiegeschichte und Historische Soziologie
die Geschichte noch die Geschichte die Philosophie zu einem Abschluss bringen. Nach Hegel gelingt die Versöhnung des Endlichen mit dem Unendlichen nur dem Ineinanderübergehen beider, d. h. der kritischen Reflexion des Begriffs, die Realgeschichte erscheint dem gegenüber als der untaugliche Versuch vergänglicher Subjekte, die Fülle des Absoluten durch den bösen Schein ihrer bloß vorübergehenden Existenz zu ersetzen. Aber auch indem wir die Geschichte als diese Schlachtbank betrachten, auf welcher das Glück der Völker, die Weisheit der Staaten und die Tugend der Individuen zum Opfer gebracht worden, so entsteht dem Gedanken notwendig auch die Frage, wem, welchem Endzustand (Hervorhebung S. K.) diese ungeheuersten Opfer gebracht worden sind. 15
dem Menschen, sondern Gott den Sündenfall anlasten; dadurch verkehre sich das Licht der Schöpfung in die Finsternis eines von sich selbst abgefallenen Gottes und seiner missratenen Welt: "Im Gnostizismus erleiden Gott oder Teile Gottes selbst das Böse und das Leiden, in der christlichen Gnosis wird Gott als ein solcher gedacht, der das Leiden freiwillig aus Liebe und Mitleid auf sich nimmt ... Es wird hier eine merkwürdige Dialektik in der Ähnlichkeit der Theodizee-Modelle, die der Gnostizismus der Antike und der Deutsche Idealismus entwickelt haben, sichtbar. Diese Dialektik rührt von dem Theorem des leidenden Gottes her, das den beiden Typen gnostischer bzw. gnostisierender Systeme gemeinsam ist, aber in ihnen unterschiedlich entfaltet wird. Der fallende Gott des valentinianischen Gnostizismus erleidet die Entäußerung aus dem Pleroma. Der Gott des Deutschen Idealismus erleidet die Welt als das andere seiner selbst, um zur vollendeten Subjektivität des absoluten Geistes zu gelangen ... Für den antiken Gnostizismus ist die Erschaffung der Welt Sünde und der Anstoß zur Entstehung dieser materiellen Welt Folge der Sünde Gottes. Für Hegel ist der ,Fall' der Idee in die Natur notwendig und damit ebenfalls der Fall mit der Schöpfung identisch. Es zeigt sich hier, daß eine radikal dualistische Metaphysik ebenso wie eine radikal monistische aus sich selbst heraus mit Notwendigkeit zu dem für die philosophische Theologie widersprüchlichen Begriff des unfreiwillig leidenden Gottes geführt werden". Nicht nur das; Gnostizismus und Idealismus kennen zudem keine wirklich freie Handlung endlicher Wesen. Zwar setzen beide die Akzente unterschiedlich, in beidem erscheinen jedoch das Werden der Welt wie das Schicksal des Einzelnen vor aller Zeit in Gott bzw. der Idee vorherbestimmt. Das gnostizistische Grundmuster zieht sich in unterschiedlicher Ausprägung und Intensität von der Spekulation des Origines über Marcions Evangelium vom fremden Gott, der Zwei-Reiche-Lehre des Augustinus, die Prädestinationslehren calvinistischer Sekten bis zu Hegel, Marx und der Wiederkehr der entzauberten Götter im "stahlharten Gehäuse" des modernen Kapitalismus bei Max Weber. Ob dabei, wie Krämer meint, HegeIs Theorie des objektiven Geistes den Zusammenbruch des Idealismus wirklich überlebt und die Geisteswissenschaften, namentlich Dilthey nicht nur inspiriert, sondern auch zu neuen Ufern geführt hat, wird unten (Abschnitt I. 7. und unter B. VI.) wieder aufgenommen. 15
Hegel, Geschichtsphilosophie, S. 35.
I. Metaphysik (Logik) und praktische Philosophie bei Hegel
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Dass und warum das HegeIsche System in der "Explikation" seiner junghegelianischen Epigonen verfremdet und zu einem Grundmuster rationalistischer Utopien wurde, ist oben dargestellt. 16 In diesem Teil werden die Seiten im Hegelschen Oeuvre angeprochen, an die in der nachidealistischen Zeit die Begründer der Gesellschaftswissenschaften anknüpften. Hegel war unbestritten ein herausragend kritischer Begleiter des revolutionären Zeitalters und sein gleichermaßen spekulativer wie realistischer Chronist. Politisch den Idealen Kants und Fichtes verpflichtet, griff seine theoretische Philosophie auf Vorgaben zurück, die weit hinter den philosophischen Rationalismus des 17. und 18. Jahrhunderts zurückreichen. 17 Mit dem Grundsatz des unendlichen Ineinanderübergehens von Endlichem und Unendlichem durchbrach sie Kants Vernunftkritiken und rehabilitierte die "spekulative Theologie" auf hohem Niveau: In einer Doppelbewegung knüpfen Hegels Phänomenologie des Geistes und die Wissenschaft der Logik gleichermaßen an Kant an, wie sie sich von ihm abheben. Sieht man von der Irritation ab, dass Hegel in der Vorrede seiner "Wissenschaft der Logik" diese brüsk als Schwester der Metaphysik einführt, wird mit Kant der Ballast an Begriffsschimären erkannt, der die "Wissenschaft der Logik" am Fortschreiten hindert: Kant hatte die Grenzen der Logik " ... dadurch ganz genau bestimmt, dass sie eine Wissenschaft ist, welche nichts als die formalen Regeln alles Denkens (... ) ausführlich darlegt und strenge beweist"; 18 Hegel dagegen findet - wie schon der genitivus obiectivus des Titels anzeigt in der Wissenschaft der Logik " ... die substantielle Form des Geistes, die sich umgestaltet ... ".19 Diese Umgestaltung begnügt sich nicht mit der "Entrümpelung" der wissenschaftlichen Logik, sie begründet vielmehr die Logik erst als Wissenschaft. Die Wissenschaft der Logik folgt und "expliziert" die Form des Geistes, der " ... allem Bewusstsein zuruft: seid für euch selbst, was ihr alle an euch selbst seid - vernünftig".20 Dessen Gestaltung setzt gleichermaßen den Aufstieg des Bewusstseins zur Wissenschaft, d. h. zum abstrakt-allgemeinen Denken voraus, wie sie zum Medium wird, in dem sich der substantiell gefasste Geist gegen den Willen der an ihm teilhabenden Individuen verwirklicht. Demzufolge ist das Denken nicht mehr eine Weise, dem Sein zu begegnen, sondern das Sein
16
Vgl. A. 11. 2.
17 Hege! w •. kannte und schätzte unmittelbar die Neuplatoniker, vor allem Plotin und Proklos, griff aber darüber hinaus direkt auf Platons Parmenides und Sophistes zurück" (Meinhardt, H., Andersheit, in: HWP, Bd. I, Sp. 297-300 [299]). 18
Kant, 1., Kritik der reinen Vernunft (KV), B VIII f.
Hege!, Wissenschaft der Logik I, Vorrede zur I. Aufl., S. 15. 20 Hege!, Phänomenologie, S. 398. 19
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B. Geistmetaphysik, Philosophiegeschichte und Historische Soziologie
selbst gibt sich seine Gestalt im Medium des Gedankens; Sein und Denken sind zu unterschiedlichen Ausfaltungen derselben Idee geworden: Die Logik ist insofern die metaphysische Theologie, welche die Evolution der Idee Gottes in dem Äther des reinen Gedankens betrachtet, so dass sie eigentlich derselben, die an und für sich schlechthin selbständig ist, nur zusieht. 21 Bedingt durch die Einheit von Denk- und Seinsstrukturen, wächst der Logik ein vordem unbekannter Rang zu. Die wichtigsten Aufgaben und Leistungen der Vernunft bleiben dem ,,reinen Denken" vorbehalten; sie gehen der Realphilosophie voraus, die sich mit der phänomenalen Welt beschäftigt. Die Logik ist demnach nichts anderes als die unendliche Reflexion des sich seine Gestalt selbst gebenden Logos; es bleibt ihr vorbehalten, die Selbstentfaltung der Idee in dem einzig ihr angemessenen Medium, d. i. rur Hegel "der Begriff' zu verfolgen. Der Begriff schließt das Sein im Werden des Geistes auf, worunter Hegel die sich selbst bewusst werdende Totalität versteht. Die Logik wird damit zur Erforschung des Seins von Seiendem, zur Ontologie. Diese bleibt wiederum durchgängig an den Ursprung des reinen Seins in der (zurückkehrenden) Identität mit sich gebunden. Die einzelnen Dinge sind Momente des sich als und in der Idee selbst begreifenden allumfassenden Seins. Spekulative Theologie, Ontologie und Erkenntnistheorie gehen ineinander über. Diese Konzeption ermöglicht es Hegel, in der Einleitung der "Logik" zu sagen: Die Logik ist ... als das System der reinen Vernunft, als das Reich des reinen Gedankens zu fassen. Dieses Reich ist die Wahrheit, wie sie ohne Hülle an und für sich selbst ist. Man kann sich deswegen ausdrücken, daß dieser Inhalt die Darstellung Gottes ist, wie er in seinem ewigen Wesen vor der Erschaffung der Natur und eines endlichen Geistes ist. 22 Hegel knüpft keineswegs nahtlos an die vorische Philosophie an; im Gegenteil! Die Transzendentalphilosophie und der "subjektive Idealismus" seien aufzuarbeitende und vom "objektiven Idealismus" aufzuhebende Vorstufen des eigenen Systems. Die Transzendentalphilosophie hatte die Himmel der überlieferten Metaphysik zum Einsturz gebracht, indem sie die Vernunft an die vernünftige Einsicht des Subjekts zurückband. J. G. Fichte und der junge Schelling entwickelten ihre Systeme innerhalb der Grenzen der Subjektivität auf der Innenansicht des Bewusstseins. Beide machten - wenn auch in verschiedener Absicht - das Ich zum Ausgangspunkt der Philosophie. Hegel erkennt deren Mängel: Transzendentalphilosophie und subjektiver Idealismus bleiben auf ihre
21 Hegel, Vorlesungen über die Beweise vom Dasein Gottes, 10. Vorlesung, in: ders., Vorlesungen über die Philosophie der Religion 11, in: Werke, Bd. 17, S. 412-421 (419).
22 Hegel,
Wissenschaft der Logik I, in: Werke, Bd. 5, S. 44.
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Innerlichkeit, d. h. aus der Perspektive des "objektiven Denkens" der HegeIschen Logik auf die Ä'ußerlichkeit des subjektiven Gedankens zurückgeworfen; sie können keine Ontologie nach Art einer metaphysica generalis23 entwickeln.
Der Niedergang und notwendig gewordene Neuaufbau der Metaphysik und Logik brauche endlich die wissenschaftliche, systematische Entfaltung des ... logischen Satzes, dass das Negative ebenso sehr positiv ist oder dass das sich Widersprechende sich nicht in Null, in das abstrakte Nichts auflöst, sondern wesentlich nur in die Negation seines besonderen Inhalts, oder dass eine solche Negation nicht alle Negation, sondern die Negation der bestimmten Sache, die sich auflöst, somit bestimmte Negation ist ... Indem das Resultierende, die Negation, bestimmte Negation ist, hat sie einen Inhalt. Sie ist ein neuer Begriff, aber der höhere, reichere Begriff als der vorhergehende; denn sie ist ... die Einheit seiner und seines Entgegengesetzten. 24 Die "noch ungeübte Denkkraft" bedarf folgerichtig der Befreiung aus der Willkür des Beliebens und der subjektiven Eitelkeit der Empfindung,25 bevor
das reine Denken bei sich heimisch wird und der Philosophie dazu verhilft, " ... ihren Namen der Liebe zum Wissen ablegen zu können und wirkliches Wissen zu sein ... ";26 denn, so Hegel, "Es kommt nach meiner Einsicht ... alles darauf an, das Wahre nicht als Substanz, sondern ebenso sehr als Subjekt aufzufassen und auszudrücken".27 Der subjektive Geist muss daher alle Erscheinungen seiner selbst durchlaufen haben, bevor das Bewusstsein die Höhe des objektiven Denkens erreicht. ,,Dies Werden der Wissenschaft überhaupt oder des Wissens ist es, was diese Phänomenologie des Geistes darstellt".28 Sie eröffnet ein System, das für sich beansprucht, die Mannigfaltigkeit möglicher Grundsätze in sich aufzunehmen, wie es selbst zu einem Moment der philosophischen Reflexion und Diskussion wird; indessen ohne von Letzterer aufgesogen zu werden. Das System soll sich vielmehr gerade dadurch zur Wissenschaft "aufheben",
23 Der Ausdruck geht zurück auf die Schulphilosophie des 17. Jahrhunderts, in Sonderheit auf eh. Scheibler, der in seinem Opus metaphysicum, erschienen 1617, darunter .,das Seiende als solches, die ihm als solchem zukommenden Bestimmungen und seine Ursachen" (Kobusch, Th., Schulphilosophie des 17. Jh., Metaphysik, in: HWP, Bd. 5, Sp. 1235) definiert.
24 Hegel, Wissenschaft der Logik I, S. 49. Vgl. ebd., S. 52: "In diesem Dialektischen, wie es hier genommen wird, und damit in dem Fassen des Entgegengesetzten in seiner Einheit oder des Positiven im Negativen besteht das Spekulative. Es ist die wichtigste, aber fiir die noch ungeübte, unfreie Denkkraft schwerste Seite". 25
Vgl Hegel, Rechtsphilosophie, § 187 (S. 345).
26
Hegel, Phänomenologie, S. 14.
27 Ebd., S. 22 f. 28
Ebd., S. 31.
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dass alle denkmöglichen Standpunkte in ihm zusammenfließen. Erst dann wird die Liebe zur Weisheit zu einer Wissenschaft der reinen Erkenntnis als solcher. Als Wissenschaft ist die Wahrheit das reine sich entwickelnde Selbstbewußtsein und ist die Gestalt des Selbsts, daß das an und fir sich Seiende gewußter Begriff, der Begriff als solcher aber das an und fir sich Seiende ist. Dieses objektive Denken ist denn der Inhalt der reinen Wissenschaft. 29
Im Gegensatz zur Metaphysik der "Alten" ruhe die reine Erkenntnis nach Kants Revolution des Denkens nicht mehr in unveränderlichen Seins strukturen; der Gedanke erscheine vielmehr im Wissen und Denken des sich wandelnden menschlichen Bewusstseins. Die reine Erkenntnis fließt mit ein in die Entwicklung des endlichen Bewusstseins und wird selbst historisch. Damit hat Hegel den Kantischen Idealismus - über Fichte und Schelling hinausgehend - weiter radikalisiert. Die Dinge sind als Objekte menschlicher Vernunfttätigkeit nicht nur bloße Erscheinung; ihr Ansichsein ist und bleibt grundsätzlich dem Subjekt entgegengesetzt. Sie gewinnen fiir Hegel darüber hinaus nur eine eigene Dignität, wenn sie auf den Begriff gebracht, Bestandteil des gedachten Subjekts geworden sind. Fichte und Schelling hätten in ihren Systemen versucht, die Subjektivitätsphilosophie mit der Substanz Spinozas zu verbinden; sie seien daran gescheitert, dass Fichte das Subjekt nur in seiner Negativität gegenüber dem Absoluten begriffen und Schelling das Absolute lediglich intellektual angeschaut habe. Fichtes Subjekt verharre in sich und komme erst gar nicht zur "Objektwelt"; sein Idealismus münde in Fantasterei, wo die Ideale " ... zu Erdichtungen werden und jede Beziehung auf sie als wesenloses Spiel oder als Abhängigkeit von Objekten und als Aberglaube erscheint"30. Johann Gottlieb Fichtes Derivationssystem mache das Ungenügen des subjektiven Idealismus deutlich: "Nach Fichte ist Gott etwas Unbegreifliches und Undenkbares; das Wissen weiß nichts, als dass es nichts weiß, und muß sich zum Glauben flüchten".31 Seine Deduktionen emanieren nicht aus der absoluten Idee, sie entsprechen seinen subjektiven Vorstellungen, weshalb sie allzu bald ihre Wahrheit als ein Schein offenbaren, der gegenüber der Wirklichkeit nicht bestehen kann. Schellings "System des transzendentalen Idealismus" setze wiederum mit der Sichselbstgleichheit der als unbedingtes Ich bezeichneten absoluten Urform ein; dieses unbedingte Ich bringt sich selbst wie die phänomenale Welt in der Selbstanschauung und der dadurch bedingten Verdoppelung seiner selbst hervor. Mit und nach diesem theogonisch-kosmogonischen Urakt tritt das freie, 29
Ebd., S. 43.
30 Hegel, Glauben und Wissen oder Retlexionsphilosophie der Subjektivität in der
Vollständigkeit ihrer Formen als Kantische, Jacobische und Fichtesche Philosophie (Glauben und Wissen), in: Werke, Bd. 2, S. 287-301 (290).
31 Ebd., S. 288.
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endliche an die Stelle des theoretischen absoluten Ichs und vereinigt sich jetzt bewusst mit dem anderen seiner selbst, dem allumfassenden absoluten Ich. Subjekt und Substanz sind hier zwar nicht mehr wie bei Fichte einander entgegengesetzt, es bleibt aber unbeantwortet, ob die intellektuelle Anschauung das sich schlechthin unendlich in sich dirimierende Absolute angemessen erfasst oder ob sie " ... nicht wieder in die träge Einfachheit zurückfällt und die Wirklichkeit selbst auf eine unwirkliche Weise darstellt. "32 Hegels Philosophie will die "Quadratur des Kreises": Einerseits möchte sie an die Kantische Revolution des Denkens und den "subjektiven Idealismus" Fichtes anknüpfen, wonach die Philosophie ihren Anfang nicht mehr in Gott nimmt, sondern bei der " ... Vorstellung von mir selbst als einem absolut freien Wesen. Mit dem freien selbstbewußten Wesen tritt zugleich eine ganze Welt aus dem Nichts hervor - die einzig wahre und gedenkbare Schöpfung aus dem Nichts"33. Andererseits erkennt Hegel in Spinoza mit Fichte und Schelling einen Höhe- und Wendepunkt der Philosophie; er löst jedoch im Gegensatz zu diesen das Ich nicht im Begriff des absoluten Subjekts als den Inbegriff aller Möglichkeit der Substanz auf. 34 Stattdessen findet er in der "Ethik" Spinozas die Reflexion auf das unbedingt Absolute, Gott, fiir sich zu ihrem Abschluss gekommen. Wird nämlich Gott mit Spinoza als die eine, unbedingte und allumfassende Substanz gedacht,35 ist alles Dasein, einschließlich der Existenz des Menschen, nicht mehr als ein Modus, Attribut der all-einen unendlichen Substanz der Aeterna Veritas Gottes. Weil darin " ... das Selbstbewusstsein nur untergegangen, nicht erhalten ist ... ",36 sei es "in dem Instinkte" des Zeitalters gelegen, dass die "erwachende Subjektivität" sich gegen diese einseitige Reflexion empört habe. Das spekulative Denken sei über Spinozas System, das zwar
32
Hege!, Phänomenologie, S. 23.
33 Hege!, Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus, in: Werke, Bd. I, S. 234-236 (234). Die Frage, ob Hegel oder Schelling der Urheber des Textes ist, möchte ich nicht berühren; für die folgenden Argumente hat sie keine Bedeutung.
34 Vgl. Schelling, F. W. J., Über die Möglichkeit einer Form der Philosophie überhaupt (1794), in: Schröter, M. (Hrsg.), Schellings Werke, nach der Originalausgabe in neuer Anordnung, Erster Hauptband: Jugendschriften 1793-1798 (Nachdruck des 1927 erschienenen Jubiläumsdruckes), Bd. I, München 1965, S. 45-72 (69): "Es erhellt hieraus, dass jeder identische Satz ein kategorischer seyn muß, aber nicht umgekehrt, weßwegen auch nicht die Form der Identität, welche einer höhern untergeordnet ist, sondern die des unbedingten Gesetztseyns überhaupt, Urform der Philosophie ist". 35 Vgl. Spinoza, B. de, Die Ethik nach geometrischer Methode dargestellt, Hamburg 1976, I. Von Gott, Definition 3 und 6 (S. 3 u. 4), Lehrsatz 25 (S. 28 f.). 36
Hege!, Phänomenologie, S. 23.
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die Substanz, aber nicht die Wirklichkeit des Subjekts bedacht habe, hinweg geschritten. Und was sonst für den Tod der Philosophie galt, dass die Vernunft auf ihr Sein im Absoluten Verzicht tun sollte, sich schlechthin daraus ausschlösse und nur negativ dagegen verhielte, wurde nunmehr der höchste Punkt der Philosophie. 37
Auffallend ist an den Hegels System einleitenden Vorreden zu ,,Phänomenologie" und "Logik", dass der Kampf und Wandel in der Philosophie wie die Erscheinungen des Bewusstseins in den Termini konfessioneller Auseinandersetzungen beschrieben werden. Der Fortschritt der Reflexion breitet sich aus in Analogie zur Reformation, Kants Revolution des philosophischen Denkens wie die Französische Revolution. Die Analogien haben nicht nur bildhafte Bedeutung: Ein System, das beansprucht, nicht nur die reine Erkenntnis zu lieben, sondern die sich entwickelnde Totalität, das Ganze, wie das Einzelne, in sich zu schließen, muss den Übergang von der Idealität zur Realität so gestalten, dass in der Wirklichkeit nicht nur der Wandel der Phänomene im allgemeinen, sondern deren wirkliche Gegensätze ganz konkret als Teil des spekulativen Gedankens erscheinen. Andernfalls würde es sich schnell selbst überholen, wie das System Fichtes es vorgefiihrt hatte. Die zur Wissenschaft erhobene Logik und Philosophie Hegels muss daher alle denkbaren Veränderungen des Erkenntnisvermögens in sich aufnehmen können. Das System befestigt seine Fundamente zugleich so, dass das Leben des Geistes insgesamt sich in seinem Rahmen vollzieht und es dennoch in sich ruht. Kann es ersteres nicht, schreitet die Entwicklung des Gedankens über seine veraltete Erscheinung hinweg und es gerät in Widerspruch zu den die Wirklichkeit gestaltenden Mächten des Bewusstseins. Bildet das System kein in sich geschlossenes Ganzes, verschwindet es hinter seiner willkürlichen Interpretation. Das "System" ist daher ebenso ein System des absoluten Geistes, wie es den Wandel der ,,Erscheinungswelt" in sich aufnimmt. Folgerichtig wird das Absolute so gedacht, dass es mit sich identisch bleibt und sich zugleich in die Unendlichkeit seiner Erscheinungen "dirimiert". 1. Spekulatives Denken und Wissenschaft
Man müsse stets auf Gott, das Absolute und die schlechthinnige Unbedingtheit allen Seins reflektieren, weil es dem endlichen Selbstbewusstsein entspricht, die eigene Vergänglichkeit zu transzendieren, d. h. gedanklich "aufzuheben". In der Reflexion erscheint das Absolute nicht anders als die Negation
37 Hegel,
Glauben und Wissen, S. 289.
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allen Daseins schlechthin, d. h. als Negation des Daseins selbst. 38 Andererseits muss die Mannigfaltigkeit einander ablösender Erscheinungen Teil des philosophischen Systems werden: das (endliche) Selbstbewusstsein wird sich seiner selbst erst auf dem Weg durch die phänomenale Welt bewusst. Die Erscheinungen sind daher nur fiir das sie reflektierende Bewusstsein da, mithin ist die erscheinende Welt gleichermaßen eine Emanation des Absoluten wie Produkt des sie reflektierenden Subjekts. Dem gemäß "erwachen" die natürlichen Erscheinungen erst im reflektierenden Subjekt zu Leben, so dass ihr Werden und Vergehen den einzelnen Menschen gleichermaßen beeinflusst, wie dieser die Phänomene gestaltet. Das Absolute besteht demzufolge an sich zwar in der Unmittelbarkeit des reinen Wissens, d. h. im Wissen des Wissens oder Denken des Denkens;39 ein so gefasstes Absolutes kann aber nicht als allumfassende Substanz seine in Raum und Zeit erscheinenden Modi und Akzidentien durchdringen und dem selbständigen Menschengeist begegnen. Die Erkenntnis des Göttlichen dürfe nicht prinzipiell des Feldes menschenmöglicher Einsicht verwiesen werden: Die Substanzphilosophie entfaltet sich zu Lasten der subjektiven Selbstbestimmung und die Subjektivitätsphilosophie setzt sie absolut. Beide Denkrichtungen seien unvollständige, einseitige Formen der geistigen Durchdringung des Daseins; sie biegen das Denken nicht in sich zurück, sondern entfalten es - wenn auch in einander entgegengesetzter Absicht - in Raum und Zeit. Beide Richtungen binden Hege! zufolge die philosophische Einsicht an die kontingenten Voraussetzungen des Philosophierens; sie setzen ihre Einsicht für sich absolut und vermitteln sie nicht mit ihrem Gegensatz; dadurch verfehlen sie die vorausgesetzte Allgemeinheit des Begriffs. Der wahre Begriff verwirkliche keinen allgemeinen Grundsatz, vielmehr entfalte die Realität sich erst im Medium des Begriffs. Deshalb geht ein wirklich allgemeines philosophisches System, wie Hege! es schaffen wollte, nicht von einem allgemeinen Grundsatz aus und deduziert aus ihm seine Ableitungen. Der Gedanke versenkt sich vielmehr in die Tiefen der. Strukturen des Bewusstseins, ehe er im Verfolgen der allen Phänomenen immanenten Vernunft vom Geist bis zur Darstellung des Systems " ... der reinen Vernunft, als das Reich des reinen Gedankens .....40 emporgeführt wird. Dies Verfahren beinhaltet nichts anderes als den "... Prozeß, der sich seine Momente erzeugt und durchläuft, und diese ganze Bewegung macht das Positive und seine Wahrheit
38 Vgl. zum Folgenden: Beierwaltes, W., Identität und Differenz, Frankfurt a. M. 1980, S. 241-268; Hartmann, K., Hegels Logik, herausgegeben von Olaf Müller mit einem Vorwort von Klaus Brinkmann, Berlin, New York 1999, S. 6 f. 39 Vgl. Aristoteles, Metaphysik, 1074b; Nikomachische Ethik, Buch 10, 78b. 40
Hegel, Logik I, S. 43.
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aus. Diese schließt also ebenso sehr das Negative in sich".41 Wirklichkeit und Begriff stehen daher so wenig einander unvennittelt gegenüber, wie das Absolute und das Endliche einander ausschließen. In und unter dem Spiel wechselnder Erscheinungen fängt der vordem feste Boden an zu schwanken, da alles " ... für sich sowohl als in Beziehung aufeinander ... auf alle Weise ist und nicht ist und scheint sowohl als nicht scheint. "42 Hegels Logik knüpft implizit an die neuplatonische Interpretation dieser Aporien des platonischen Parmenides an, jedoch in einer entscheidenden Umkehr des neuplatonischen Derivationssystems: Die philosophische Reflexion wiederholt nicht mehr den Ausfluss und Abstieg des Seienden aus dem Einen, die Reflexionsbewegung beginnt vielmehr mit dem Aufstieg über die phänomenale Welt. Da Vieles zumindest scheint, kann die Gestalt des Absoluten sich weder im ,,reinen Sein" noch in der ununterschiedenen Eins erschöpfen. Wenn das Dasein zwar kontingent, aber in sich endlich und relativ ist43 , kann die absolute Fonn nicht alles Seiende in sich aufnehmen. Das lebendige Individuum 44 begreife sich zudem als selbstbestimmtes, nicht-absolut gesetztes Wesen im und als Gegensatz zum Ganzen. Das nicht gesetzte, sondern wirklich absolut Absolute kann daher weder reines Sein oder die leere Al/gemeinheit für sich sein, noch kann es sich im unmittelbaren Wissen erschöpfen, soll seine Totalität im Einzelnen erscheinen. Das Wissen des Wissens ist daher bereits sowohl ein Wissen an sich als auch ein Wissen von etwas. Schon das reine Wissen für sich bestehe als unmittelbare Zweiheit; es setze den Akt des Wissens und seinen Gegenstand ebenso voraus, wie es beide erzeugt. Das reine Wissen ruht daher nicht in sich; hat es doch das reine Sein oder die Allgemeinheit des Absoluten zu seinem Gegenstand; es steht dem Absoluten gegenüber; denn das Wissen des Absoluten setzt dessen Sein, mithin die Differenz von Sein und Seiendem voraus. Im Medium des Wissens erscheint das reine Sein daher als Wissen an sich, Wissen für sich, Wissen an ihm und Wissen an und für sich. Dadurch wird das Absolute zur sich "dirimierenden" lebendigen Substanz, deren Sein " ... in Wahrheit Subjekt oder was dasselbe heißt, welches in Wahrheit wirklich ist, nur insofern sie die Bewegung des Sichselbstsetzens oder die Vennittlung des Sichanderswerdens mit
41
Hegel, Phänomenologie, S. 46.
42
Platon, Pannenides, 166c5.
43 Vgl. Hegel, Logik I, S. 115: Für das Dasein sind " ... Sein und Nichts ... dasselbe; damm weil sie dasselbe sind, sind sie nicht mehr Sein und Nichts und haben eine verschiedene Bestimmung ... ; im Dasein als einer anders bestimmten Einheit sind sie wieder anders bestimmte Momente". 44 Vgl. Hegel, Logik 11, S. 474 ff. (475); Hartmann, K., Hege\s Logik, S. 393 ff. (395 f.).
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sich selbst ist".45 Das Absolute ist demnach so wenig ,,reines Sein für sich" wie das Bedingte; wäre dem so, wäre tatsächlich " ... Nichts ... dieselbe Bestimmung oder Bestimmungslosigkeit und damit überhaupt dasselbe, was das reine Sein ist",46 und das spekulative Denken dazu verurteilt, in den Gegensatz zwischen dem Absoluten und dem Relativen zurückzufallen. Doch die "Wahrheit" von Sein, Nichts und Dasein besteht nicht in ihrem Gegensatz zueinander, sondern im Werden, d. h. in der gedoppelten Reflexionsbewegung des sich selbst in sich und uns spiegelnden, und von uns an ihm und in uns reflektierten wahrhaft Absoluten. Es ist das Werden seiner selbst, der Kreis, der sein Ende als seinen Zweck voraussetzt und zum Anfange hat und nur durch die Ausfiihrung und sein Ende wirklich ist. 47 In diesem Dialektischen, wie es hier genommen wird, und damit in dem Fassen des Entgegengesetzten in seiner Einheit oder des Positiven im Negativen besteht das Spekulative. 48
Die sich in sich und uns reflektierende absolute Substanz entwickelt sich ebenso sehr zum absoluten Subjekt, wie das endliche Subjekt zur Substanz des Absoluten aufgehoben wird. Das Absolute besteht nicht mehr in seiner absoluten Negativität gegenüber dem Seienden, sondern entwickelt sich als, in und zur wiederherstellenden Gleichheit mit dem Anderssein seiner selbst, dem Dasein. 49 - So gefasst durchläuft das Absolute die Unendlichkeit des Daseins in Zeit und Raum, bevor es sich in seiner wahrhaft affirmierten vollendeten Selbstgleichheit als unendliches Subjekt ewig wieder findet. Die trinitarische Einheit des sich als Wissen, Sein und Geist konstituierenden Absoluten vollendet die in Platons Parmenides begonnene dialektische Reflexion auf den vorbzw. über aller Entzweiung gegebenen Urgrund all dessen, was ist. Den Aporien des sich im Dasein entäußernd entäußerten Seins Hegels entsprachen bei Plotin die Emanationen des (Über-)Einen: Hieß es bei ihm zunächst, dass alles Seiende nur durch das Eine Seiendes sei, so begann dessen Spekulation über den Ursprung der Vielheit und deren Verhältnis zur "wiederhergestellten Einheit" mit der Klage, dass unser Geist zwar als Eines anfange, betrachtend aber das Andere seiner selbst, die Vielheit seiner Begriffe und Definitionen ... unvermerkt vor sich, wie schlaftrunken hervorbringt. Er ... hebt ... an als Eines, bleibt aber nicht, wie er anhub, sondern wird ... zur Vielheit, er entfaltet sein Selbst, 45
Hegel, Phänomenologie, S. 23.
46 Hegel,
Logik I, S. 83.
47
Hegel, Phänomenologie, S. 23.
48
Hegel, Logik I, S. 52.
49 Vgl. dazu Hartmann, K., Hegels Logik, S. 50 fT.
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da er alles besitzen will (wie wär es doch besser für ihn, dies nicht zu wollen, denn so wurde er das Zweite) .... Das Bessere ist das Woher, das Schlechtere das Wohin. 50
Die Zwei steht bei Plotin sowohl für den Ursprung der Andersheit aus dem Einen, als sie auch die Weise kennzeichnet, in der wir uns dem Einen nähern: Die Einheitsschau wird nur im Medium der Andersheit erreicht, d. i. in der Betrachtung; " ... denn sonst würde der Geist gar nicht entstehen".5' Dank der vorauszusetzenden Einheit der Andersheit mit dem Einen gilt wiederum, dass die Gleichheit des Anderen mit dem Einen, oder die des Abbildes mit dem Urbild zur in sich vollendeten Totalität der Einheit in der Differenz ihrer Erscheinungen zuriickfindet. Die Drei steht daher sowohl für das zu seiner Einheit mit dem Einen aufgehobene, wiederhergestellte und vollendete Seiende,52 als sie auch den Kreis unserer Reflexionsbewegung kennzeichnet. Ungeachtet der vielen Zwischenstufen und Variationen des christlichen Neuplatonismus werden die Metaphysik und Kosmologie Plotins über Proklos und Ps.-Dionysius Areopagita an Raimundus Lullus53 und Nikolaus Cusanus überliefert. 54 Von dort aus beeinflusst die Spekulation über das Erste Prinzip wiederum so unterschiedliche Denker wie Giordano Bruno, Baruch de Spinoza und Gottfried Wilhelm Leibniz, um in den großen Systemen des Deutschen
50 Plotin, Enneade 11 8 [30]: Die Natur, die Betrachtung und das Eine, in: Plotin, ausgewählte Schriften, Hrsg.: Marg, W., Stuttgart 1973, S. 35-54 (48). 51
Ebd.
52 Vgl. ebd., Enneade VI 9 (9), S. 145 u. 148: ,,Alles Seiende ist durch das Eine ein Seiendes ... Denn, was könnte es sein, wenn es nicht eines ist. Da ja, wenn man ihm die Einzahl ... nimmt, es nicht mehr das ist, was man es nennt". ../1.. "das gesamte Seiende, welches alle seienden Dinge in sich hat, ist ja erst recht Vielheit, also vom Einen verschieden, welches es nur durch Anteilnahme und Teilhabe besitzt". 53
In Lulls Triade sind die Streben der Konstruktion fest ineinander gefügt:
differentia: Das Andere des Einen, die Vielheit setzt das Andere seiner selbst, eben das Eine voraus. Concordantia: Beide, das Eine oder reine Sein, wie das Andere oder das Dasein, sind in ihrer Einheit zu fassen. contrarietas: In dieser Einheit sind das Eine und das Andere einander entgegengesetzt. Diese Spekulation wird über Nikolaus Cusanus, Giordano Bruno, Jacob Böhme und Franz von Baader an Hegel weiter gereicht 54 Vgl. Koslowski, S., Nikolaus Cusanus und der Kampf um die Herrschaft in Kirche und Welt. Zu Entstehung und Perspektiven der drei Bücher "Oe concordantia catholica", in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, 2005.
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Idealismus und namentlich Hegels 55 weiterzuwirken: Hegels Logik und Geistmetaphysik kehrt das platonische und neuplatonische Verhältnis zwischen Bedingtem und Unbedingtem um: Nicht die Rückkehr zum Einen, sondern die Prozessualität von Sein und Nichts im Dasein, ihr Werden zum Wesen, und dessen Selbstentfaltung in sich und uns zum Begriff, dem Subjekt56 , bildet den Kern eines Systems, in dem das Absolute erst am Ende seines unendlichen Kreislaufes erkennt, was es an sich immer schon war: in der unendlichen Reflexion seiner selbst findet Es seine wahre Identität beim Durchwandern eines Kreises, der schon im Anfang war. Das Absolute erkennt sich als das wahre Subjekt, wie seine Substantialität in uns Subjekten zu sich kommt. Die Frage ist nur, wer in diesem unendlichen Übergang das Subjekt ist und wo es bleibt?57 55 Vgl. dazu die Würdigung Plotins in Hegel, G. W. F., Geschichte der Philosophie 11, Werke, Bd. 19, S. 435-465, im Dienst der eigenen Selbstverortung: "Entzweiung, Emanation, Ausfließen oder Hervorgehen, Hervortreten; Herausfallen sind Worte, die auch in neuerer Zeit viel herhalten mußten, in der Tat aber nichts sagen ... Plotin hat ... sich in die höchste Region geschwungen, in das aristotelische Denken des Denkens; er hat viel mehr von diesem als von Platon" (ebd., S. 463). 56 Vgl. Hegel, Logik H, S. 248 f.: "Diese unendliche Reflexion in sich selbst, dass das Anundfiirsichsein erst dadurch ist, dass es Gesetztsein ist, ist // die Vollendung der Substanz. Aber diese Vollendung ist nicht mehr die Substanz selbst, sondern ist ein Höheres, der Begriff, das Subjekt. Der Übergang des Substantialitätsverhältnisses geschieht durch seine eigene immanente Notwendigkeit und ist weiter nichts als die Manifestation ihrer selbst, dass der Begriff ihre Wahrheit und die Freiheit die Wahrheit der Notwendigkeit ist". Mit anderen Worten: In der unendlichen Reflexionsbewegung kehren die Modi und Attribute zur sich selbst entäußernden Substanz zurück; deren Selbstverhältnis transzendiert die eigene Andersheit und begegnet sich selbst als der wahrhaft transzendente freie Geist und Geist der Freiheit; vgl. ebd., S. 250 f. "Im BegrifJhat sich daher das Reich der Freiheit eröffnet. Er ist das Freie, weil die an und für sich seiende Identität, welche die Notwendigkeit der Substanz ausmacht, zugleich als aufgehoben oder als Gesetztsein ist und dies Gesetztsein, als sich auf sich selbst beziehend, eben jene Identität ist. Die Dunkelheit (Hervorhebung S. K.) der im Kausalitätsverhältnisse stehenden Substanzen fiireinander ist verschwunden; denn die Ursprünglichkeit ihres Selbstbestehens ist in Gesetztsein (kursiv S. K.) übergegangen und dadurch zur sich selbst durchsichtigen Klarheit geworden; die ursprüngliche Sache ist dies, indem sie nur die Ursache ihrer selbst ist, und dies ist die zum BegrifJe befreite Substanz ... ". Zum Ausdruck Autbebung vgl. Hegel, Enzyklopädie H, § 261 Zusatz (S. 58 ff.).
57 Vgl. Schick, F., Hegels Wissenschaft der Logik - metaphysische Letztbegründung oder Theorie logischer Formen?, FreiburglBrsg., München 1994, S. 296 f.: "Zu Prinzipiaten der Idee bestimmt, leiden die Gegenstände der Realphilosophie nicht nur einen Mangel an Bestimmung, sondern dieser Mangel erscheint selbst als ihre allgemeine positive Bestimmung. Es drückt sich darin überhaupt die ambivalente Stellung aus, die die logische Idee zum Wirklichen einnimmt. Das Wirkliche tritt am Ende der Logik auf als das Nicht-Logische ... Seine bestimmte Identität erhält der Gegenstand nicht im
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In den drei Bänden der Hegelschen Philosophiegeschichte wird deutlich, dass seine Dialektik sowohl an das "henologische Prinzip"58 der Entfaltung des Einen in der Differenz zu und in seinen Erscheinungen wie die Substanzphilosophie Spinozas anknüpft; sie sucht darüber hinaus die ,,Mystik" des unendlichen Übergangs zwischen dem Endlichen und dem Unendlichen aufzuhellen: Das System setzt nicht mehr die absolute Differenz zwischen dem unbekannten Grund und der durch und mit ihm gesetzten Andersheit59 voraus, es hebt sie auf Das Subjekt erfährt und begreift seine Andersheit durch und in der Negation seiner Empfindungen wie der unmittelbaren Erscheinungen. Dem entsprechen Hegels Rechts- und Geschichtsphilosophie. Der objektive Idealismus nimmt in seiner praktischen "Explikation" gleichermaßen die metaphysische Überlieferung auf, wie er die "unendliche Macht der Subjektivität" (Hegel) mit dem "allgemeinen Vemunftzweck" verbinden und an den Zielen der Französischen Revolution festhalten will: Auch hier haftet das Denken nicht am Konkreten; es verliert sich nicht in der Welt der Phänomene, gegenüber der es sich ... unangegriffen und unbeschädigt im Hintergrund hält. Die Idee bezahlt den Tribut des Daseins und der Vergänglichkeit in der Geschichte nicht aus sich, sondern aus den Leidenschaften der Individuen 60 . Sprechen wir philosophisch, so kann die Spekulation nicht umgangen werden. Die Folge war: a) in der Begrenzung unbegrenzt bleiben, b) in der Besonderung allgemein bleiben, c) in der Negation zugleich positiv zu sein. Dies ist die Negation der Negation, die Aufuebung der Grenze. Dies ist die wahrhafte Unendlichkeit; Begriff des Willens, darin die Freiheit. Der spekulative Begriff des Willens ist die Freiheit, dies der Anfang unserer ganzen Wissenschaft. 61
Aus diesem Anspruch resultieren die gleichen Zweideutigkeiten und Brüche in der Rechts- und Geschichtsphilosophie Hegels, die seine theoretische Philo-
Verhältnis zu sich selbst. Insofern seine Identität damit gegeben sein soll, ist das Verhältnis der Andersheit negiert. Das heißt in diesem Fall: Das Wirkliche ist die Idee. Zugleich wird diese Identität unmittelbar negiert: Als das Andere der Idee ist das Wirkliche nicht die Idee - also, wie man annehmen muß, etwas anderes. Das Reflexionsurteil setzt so das Wirkliche als Gegenstand sui generis voraus und widerruft diese Voraussetzung, indem es selbst diese Bestimmung zu leisten beansprucht".
58 Vgl. Wyller, E. A., Henologie, in: HWP, Bd. 3, Hrsg.: Ritter, Joachim, Basel, Stuttgart 1974, Sp. 1059 f. 59
V gl. Meinhardt, H., Andersheit, Anderssein, in: HWP, Bd. I, Sp. 297-300 (299).
60
Hege!, G. W. F., Geschichtsphilosophie, S. 49.
Hege!, G. W. F., Philosophie des Rechts. Die Vorlesung von 1819/20 in einer Nachschrift, Hrsg.: Henrich, 0., Frankfurt a. M. 1983, S. 61. 61
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sophie kennzeichnen. Spekulatives Denken und Gesellschaftsanalyse stehen neben einander; die Beobachtung berührt den spekulativen Gedanken nicht. 2. Das "wahre" Subjekt und die Faktoren der Geschichte In der Rechts und Geschichtsphilosophie stellt Hegel die Gestalten des "objektiven Geistes" in Gesellschaft und Staat dar. Er führt die Erscheinungen der sozialen Welt auf ihre begriffliche Einheit zurück; er verbindet sie zugleich mit der Selbstentfaltung des Seins in seiner theoretischen Philosophie. Hegel glaubt, mit dieser Konstruktion den Differenzierungen der modemen Welt zu entsprechen, ohne die Verbindung zu Metaphysik und Ontologie abzubrechen. Der Widerspruch zwischen Substanz- und Subjektivitätsphilosophie wird auf den Gegensatz zwischen staatlichem Zwang und individueller Freiheit übertragen. "... das Gewissen weiß sich selber als das Denken, und dass dieses mein Denken das allein für mich Verpflichtende ist"62. Dieses Sich-Autonom-Setzen" des Subjekts soll gleichermaßen respektiert wie zur im Staat erscheinenden vernünftigen Allgemeinheit aufgehoben sein. Das Grundverhältnis zwischen Seins- und Wesenslogik, Substanz- und Reflexionsphilosophie wird dergestalt auf die Rechtsphilosophie übertragen, dass der Einzelne im Staat zu seinem, nunmehr zur vernünftigen Allgemeinheit aufgehobenen Ausgangspunkt zurückkehrt, d. h. seine wahrhafte Affirmation in der zum Staat aufgehobenen Gesellschaft findet. ... die kategorialanalytische Fassung des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft reicht nicht, um auch das Koexistenzverhältnis bei der zu bestimmen. Vielmehr wird methodologisch die Tendenz bekräftigt, den Staat als Substanz und die Individuen als Akzidenzen zu denken. 63
Die Entwicklung konkreter Denkbestimmungen ist ein Teil der Selbstentfaltung der Idee, der einzelnen wie der allgemeinen Vernunft; diese liegt niemals in den Dingen selbst, sondern wird allein durch das Denken geschaffen. 64 Der Vernunftzweck ist deswegen ... , daß die Natureinfalt, d. i. teils die passive Selbstlosigkeit, teils die Roheit des Wissens und Willens, ... weggearbeitet werde und die Vernünftigkeit, der sie j(ihig ist, erhalte, nämlich die Form der Allgemeinheit, die
62
Hege!, Rechtsphilosophie, § 136 Zusatz (S. 254).
63 Hartmann, K., Reiner Begriff und tätiges Leben. Lorenz von Steins Grundkonzeption zum Verhältnis von Staat und Gesellschaft und von Rechtsphilosophie und Recht, in: Schnur, R (Hrsg.), Staat und Gesellschaft. Studien über Lorenz von Stein, Berlin 1978, S. 65-95 (66); vgl. Hege!, G. W. F., Rechtsphilosophie, § 145 f. (S. 294 f.). 64
Vgl. Hege!, Rechtsphilosophie. Die Vorlesung von 1819/20, S. 57.
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Verständigkeit. Auf diese Weise nur ist der Geist in dieser A"ußerlichkeit als solcher einheimisch und bei sich. 65
Im Vertrauen auf die universale Macht der Vernunft der vorkantischen Aufklärung und der Transzendentalphilosophie verpflichtet, hält Hegel an einem Bildungsideal fest, nach dem die Erziehung den einzelnen zu seiner höheren Bestimmung befreit. Die Bildung ist daher in ihrer absoluten Bestimmung die Befreiung und die Arbeit der höheren Befreiung, nämlich der absolute Durchgangspunkt zu der nicht mehr unmittelbaren, natürlichen, sondern geistigen, ebenso zur Gestalt der Allgemeinheit erhobenen unendlich subjektiven Substantialität der Sittlichkeit. 66
Die unendlich subjektive Substantialität der Sittlichkeit äußert sich darin, dass die Wirklichkeit als Objektivierung der freien Subjektivität an deren Denken zurückgebunden bleibt, - eben der an und für sich freien Subjektivität nichts anhaben kann. Das Abstraktionsvermögen wird zum Ort und Prüfstein wahrer Freiheit. 67 Für den objektiven Idealismus definiert das abstrahierende Denken die "Natur der Sache". Wahrheit und Irrtum, Richtiges und Falsches gehen ineinander über: Das Verständnis von Freiheit als Bindung an selbst gewählte Zwecke fUhrt Hegel dazu, den Naturzustand als einen " ... Zustand absoluten und durchgängigen Unrechts ... "68 zu kennzeichnen; in ihm herrschen Willkür und Begierden. Frei ist der Mensch dagegen nur, insofern er vernünftig ist. Dies wird mit dem Anspruch verbunden, praktische und theoretische Philosophie ineinander überzufUhren und den Geschichtsverlauf als Selbstentfaltung der Idee zu begreifen; deshalb sieht Hege! die Hypostasen des Begriffs als die eigentliche 65
Hegel, Rechtsphilosophie, § 187 (S. 344).
66
Ebd. S. 344 f.
67 Vgl. ebd., S. 345: "Diese Befreiung ist im Subjekt die harte Arbeit gegen die bloße Subjektivität des Benehmens, gegen die Unmittelbarkeit der Begierde sowie gegen die subjektive Eitelkeit der Empfindung und die Willkür des Beliebens. ( ... ). Bildung also ist Glättung der Besonderheit, daß sie sich nach der Natur der Sache benimmt". Darin stimmt Hege! mit einem seiner schärfsten Kritiker, Johann Friedrich Herbart, überein; der - obwohl Schöpfer einer prinzipiell anti idealistischen, die Pluralität des Seienden betonenden, radikal individualistischen Metaphysik - glaubte auch, dass Bildung und Erziehung den Menschen nahezu unbegrenzt modellieren können: Die Zuversicht in die Macht der Erziehung als solcher ersetzt das Vertrauen in die Person: .,Man wollte den reifenden Menschen aufbauen, anstatt ihm die Güter zugänglich zu machen, an denen er sich aufzubauen vermöchte" (Willmann, 0., Didaktik als Bildungslehre nach ihren Beziehungen zur Sozialforschung und zur Geschichte der Bildung, 6. Aufl. 1957, Freiburg/Brsg., S. XVII f.).
68 Hegel, Geschichtsphilosophie, S. 129.
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Realität; denn nur diese haben es mit einer Wirklichkeit zu tun, "... welche nicht so ohnmächtig ist, um nur zu sollen und nicht wirklich zu sein, und damit mit einer Wirklichkeit, an welcher jene Gegenstände usf. nur die oberflächliche Außenseite sind."69 Zwar ist Hegel zu pragmatisch, als dass er nicht wüsste, dass der von ihm beschriebene Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit nicht zu paradiesischen Zuständen zurückführt, aber das Vernünftige verknüpft den Sieg der Idee über ihren vergänglichen Schein unmittelbar mit der Heraufkunft des Verfassungsstaates. Dieser Fortschritt ist ambivalent: Hegel lässt es unbestimmt, ob er von der Abstraktionsfähigkeit einzelner Menschen, von der Befreiung staatlicher Institutionen aus personalen Bindungen oder von der Idee herbeigeführt wird. Diese erscheint sowohl in den Gestalten des Bewusstseins und deren Objektivationen, wie sie sich in ihnen, den Faktoren des Geschichtsprozesses, reflektiert. Die Rechtsphilosophie hat deshalb auch das unmittelbar erscheinende Negative, die Kosten der Freiheit zu reflektieren.
3. Das System der schlechten Unendlichkeit Die sich industrialisierende bürgerliche Gesellschaft ersetzt den Handwerker durch die Maschine und das Werkzeug durch den Arbeiter. Hegel berücksichtigt die Schattenseiten der Industrialisierung nicht minder als seine Zeitgenossen A. L. Schlözer, Franz v. Baader und Heinrich Luden 7o : Bei der Teilung der Arbeit werden die Arbeiter immer stumpfer und abhängiger .... Indem nun aber die Arbeit so einfach wird, so ist kein konkreter Geist mehr dafür notwendig. Der Mensch kann selbst davon abtreten und eine Maschine an seine Steile setzen 71.
Die in der Revolution mit dem Sieg des Gleichheitsprinzips etablierte Marktgesellschaft wird als System der "schlechten Unendlichkeit"72 bezeichnet. Hegels kategoriale Bestimmung definiert das freie Spiel der Kräfte und Bedürfnisse, wie die damit aufkommenden sozialen Unterschiede in der bürgerlichen Gesellschaft als Entzweiungen des Geistes von sich und Formen der Entfremdung. Spekulatives Denken und empirische Beobachtung treten auseinander: Wo nur die abstrakte Leistung zählt und der Markt als Maßstab gilt, wird die Entwicklung neuer Produkte zu einer Frage des Konsumentengeschmacks, so dass Be-
69
Hege!, Enzyklopädie I, in: Werke, Bd. 8, § 6 (S. 49).
Vgl. Kos!owski, St., Vom socialen Staat zum Sozialstaat. Aufstieg und Niedergang einer Vision, in: Der Staat, 34. Bd., 1995, S. 221-241 (223,228 f.). 70
71
Hege!, Rechtsphilosophie. Die Vorlesung von 1818/19, S. 159.
72 Vgl. ebd., § 185 Zusatz (S. 342 f.).
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dürfnisse " ... durch solche hervorgebracht werden, welche durch sein Entstehen einen Gewinn suchen"73. So unerschöpflich die Phantasie, so unendlich sind die von ihr angeregten Wünsche. Neben die Partikularisierung der Bedürfnisse und Produkte tritt die Atomisierung der Produzenten; es kommt zur Dequalifizierung und Proletarisierung des Handwerks. Hier setzt das empirische Moment an Hegels Staatstheorie ein.74 Anders als Kant und Fichte sieht er den Unterschied zwischen der rechtlichen Gleichheit aller, der Freiheit der Individuen und der aus dem Zusammenwirken beider entstehenden Gesellschaftsordnung: Gegen die Natur kann kein Mensch ein Recht behaupten, aber im Zustande der Gesellschaft gewinnt der Mangel sogleich die Form eines Unrechts, was dieser oder je-
73 Ebd., § 191 Zusatz. 74 Sie wendet sich gegen Kants Rechtslehre, die mit den Prinzipien der französischen Revolution insofern übereinstimme, als bei den nur gelte, was dem Menschenverstand einleuchte und dieser nichts enthalte als " ... diese Wahrheit und Forderung, sich selbst zu finden, und in dieser Form stehen bleibt" (Geschichte der Philosophie 111, S. 291). Damit hätten sie zwar das Menschenbild fundamental zum Besseren verändert, jedoch Konzepte hinterlassen, auf die man keine Gesellschaft, geschweige denn einen Staat bauen könne. Hegel sieht die Widersprüche und Grenzen der bürgerlichen GeselIschaft schärfer als Kant. Er kritisiert an dessen Rechtsbegriff, er sei bloß formal-alIgemein, weil nach ihm " ... der Wille als besonderes Individuum, als Wille des Einzelnen in seiner eigentümlichen Willkür, die substantielle Grundlage und das Erste sein soll. Nach diesem einmal angenommenen Prinzip kann das Vernünftige freilich nur als beschränkend fiir diese Freiheit ... herauskommen" (Rechtsphilosophie, § 29 [So 80 f.]). Gerade weil das einzig Allgemeine, was der Einzelne schaffen kann, in seinem allgemeinen Willen besteht, mussten Hegel zufolge die Revolution und die Kantische Ptlichtenlehre an der Wirklichkeit scheitern. Beiden wirft Hegel vor, bei der bloßen Moralität stehen geblieben zu sein. Indem ihnen " ... die Sinnlichkeit schlechthin ... das Negative, hingegen das reine Denken der Pflicht das Wesen ist, von welchem nichts aufgegeben werden kann, so scheint die hervorgebrachte Einheit [der Moralität, St. K.] nur durch das Aufheben der Sinnlichkeit zustande kommen zu können. Da sie aber selbst Moment dieses Werdens, das Moment der Wirklichkeit ist, so wird man sich ... zunächst mit dem Ausdrucke begnügen müssen, daß die Sinnlichkeit der Moralität gemäß sei. - Diese Einheit ist gleichfalls ein postuliertes Sein, sie ist nicht da; denn was da ist, ist ... der Gegensatz der Sinnlichkeit und des reinen Bewußtseins. Die Vollendung ist darum nicht wirklich zu erreichen, sondern nur als eine absolute Aufgabe zu denken, d. h. als eine solche, welche schlechthin Aufgabe bleibt" (Phänomenologie ... , S. 446 f.) . .,Die moralische Weltanschauung ist daher in der Tat nichts anderes als die Ausbildung dieses zum Grunde liegenden Widerspruchs nach seinen verschiedenen Seiten; sie ist, um einen Kantischen Ausdruck hier, wo er am passendsten ist, zu gebrauchen, ein ganzes Nest gedankenloser Widersprüche" (ebd., S. 453).
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ner Klasse angetan wird. Die wichtige Frage, wie der Annut abzuhelfen sei, ist eine vorzüglich die modemen Gesellschaften bewegende und quälende. 75
In seinen Vorlesungen zur Rechtsphilosophie verarbeitet der Zeitzeuge Hegel den mit der Industrialisierung verbundenen Pauperismus und dessen Auswirkung auf das gesellschaftliche Ethos: Hier hat die Not nicht mehr bloß diesen momentanen Charakter. In dieser Entstehung der Annut kommt die Macht des Besonderen gegen die Realität des Freien zum Dasein ... Wie nun auf der einen Seite die Annut zum Grunde liegt zur Pöbelhaftigkeit, der Nichtanerkennung des Rechts, so tritt auf der anderen Seite in dem Reichtum ebenso die Gesinnung der Pöbelhaftigkeit auf. Der Reiche betrachtet alles als käuflich fiir sich, weil er sich als die Macht der Besonderheit des Selbstbewußtseins weiß. Der Reichtum kann so zu derselben Verhöhnung und Schamlosigkeit fiihren, zu der der anne Pöbel geht ... Diese beiden Seiten, Annut und Reichtum, machen so das Verderben der bürgerlichen Gesellschaft aus. 76
Hegel wendet sich nicht nur gegen Savigny und die Historische Rechtsschule; er übernimmt zwar die Forderung nach einer allgemeinen Kodifikation 77 und sucht in seiner Rechtsphilosophie den sozialen Gegensatzes institutionell einzuhegen; er verbindet aber auch hier die Rechts- und Sozialphilosophie darüber hinaus mit den theoretischen Teilen des "Systems": Der Gegensatz von Substanz- und Subjektivitätsphilosophie erscheint hier als Gegensatz zwischen institutioneller Rechts- und Gesellschaftsordnung und individueller Freiheit; Erstere definiert als substantielle Sittlichkeit, Letztere als subjektive Freiheit. Aus der Bewegung des Ineinanderübergehens beider resultieren die Veränderungen und der Fortschritt im Verhältnis zwischen Individuum, Gesellschaft und Staat. Betrachtet man nur Hegels wachen Sinn für die Mißstände seiner Zeit, scheint Lorenz von Stein nicht minder ,,Hegelianer" als Karl Marx, und selbst die Mitglieder der ethisch-historischen Schule der Nationalökonomie Schmoller, Schäffle, Wagner78 und sogar Max Weber fielen unter das Hegelianismusverdikt. Lorenz von Stein setzte sich aber nicht nur mit den metaphysischen Vorgaben und Implikationen der Hegeischen Sozialphilosophie auseinander79 , er sah darüber hinaus die Doppeldeutigkeit der Hegeischen Reflexionsverhältnisse. Er begegnet deren Mangel mit einer eigenständigen Fundierung der metaphysischen Anfangsgründe der Staatswissenschaft: Da nach Hegel nicht nur 75 Ebd., 76
§ 244 Zusatz (S. 390).
Ebd., S. 196.
77 Vgl. ebd., § 211 (S. 363). 78
Vgl. dazu C.V.
79
V gl. dazu den folgenden Abschnitt.
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die einzelne Person, sondern auch die substantielle Vernunft Subjekt und Objekt der Geschichte und des Rechts ist, sind Recht und Geschichte bloß das abgeleitete Substrat eines Inhaltes, dessen wahres Subjekt sich unbeschadet im Hintergrund hält. Stein ist klar, dass Hegel zwar den Inhalt der Vernunft von konkreten Erscheinungen trennt, ihm also nur im Denken der Menschen Realität zuschreibt; dies aber so, dass jene ihr Leben zwar nach einmal gefassten Prinzipien ausrichten, aber zugleich dem allgemeinen Vernunftzweck unterworfen bleiben. 8o 4. Revolution und Reform Die Gesellschaft definiert sich nach der Revolution nicht mehr als Schicksalsgemeinschaft, sondern beschränkt sich auf den allgemeinen Rechtsschutz, in Hegels Terminologie den Not- und Verstandesstaat; sie gewährleistet freie Produktion und friedlichen Handel. 81 Die Analyse der vielfältigen Bewegungen zur und in der bürgerlichen Gesellschaft wird zum wissenschaftlichen Bewusstsein aufgehoben: Kant sei an der Theorie, die französische Revolution an der Wirklichkeit gescheitert; beide hätten nur die Einheit der moralischen Pflicht bzw. die Allgemeinheit des einzelnen Willens bedacht, und nicht die Einheit in der Differenz - eben das Spekulative. Die Freiheit, die Hegel zufolge die bürgerliche Gesellschaft bringt, bleibt der Revolution wie dem aufgeklärten Rationalismus bloß formell, weil die Gesellschaft als solche nur ein System allseitiger Vernetzung, Abhängigkeit und Not schafft. 82 Hegel wendet sich folgerich-
80
Vgl. Heget, Rechtsphilosophie, § 146 ( S. 295).
Vgl. ebd., § 182 Zusatz (S. 339 f.): "In der bürgerlichen Gesellschaft ist jeder sich Zweck, alles andere ist ihm nichts. Aber ohne Beziehung auf andere kann er den Umfang seiner Zwecke nicht erreichen; diese anderen sind daher Mittel zum Zweck des Besonderen". 81
82 Vgl. Rechtsphilosophie, § 195 (S. 350 (): "Diese Befreiung istfonnell, indem die Besonderheit der Zwecke der zugrunde liegende Inhalt bleibt. Die Richtung des gesellschaftlichen Zustandes auf die unbestimmte Vervielfältigung und Spezifizierung der Bedürfnisse Mittel und Genüsse, welche ... keine Grenze hat, - der Luxus - ist eine ebenso unendliche Vermehrung der Abhängigkeit und Not, welche es mit ... äußeren Mitteln von der besonderen Art, Eigentum des freien Willens zu sein, dem somit absolut Harten zu tun hat".
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tig gegen den Formalismus 83 der Aufklärung wie das französische Jakobiner-
turn. Dem Übermaß an Luxus und Not in der bürgerlichen Gesellschaft84
... die Forderung der Gleichheit entgegenzusetzen, gehört dem leeren Verstande an, der dies sein Abstraktum und sein Sollen rur das Reelle und Vernünftige nimmt. Diese Sphäre der Besonderheit, die sich das Allgemeine einbildet, behält in dieser nur relativen Identität mit demselben ebensosehr die natürliche als willkürliche Besonderheit, damit den Rest des Naturzustandes, in sich. 85
Hegel war klug genug, " ... um in seiner Umgebung vieles zu sehen, was in der Tat nicht so ist, wie es sein soll ... ".86 Ein gerechtes Recht muss daher die Willkür des Einzelnen mit der ihm gegenüberstehenden Allgemeinheit frei verbinden, d. h. deren Besonderheit beachten; denn für Hegel war es offensichtlich, dass die Willkürherrschaft früherer Zeiten mit dem Verfassungsstaat zu Ende ging. Gerade um der Freiheit der vielen Einzelnen willen bedurfte das unvermittelte Vemunftideal von Aufklärung und subjektivem Idealismus einer kritischen Aufarbeitung; der Gegensatz zwischen der Freiheit der Einzelnen und der ihnen gegenübertretenden staatlichen Ordnung, zwischen Liberalismus und autoritärem Staat verlangte nach einer intellektuellen Bearbeitung, für die weder die Aufklärungsphilosophie noch der subjektive Idealismus angemessene Instrumentarien hinterlassen hatten. Die Rechtsphilosophie knüpft an die Einsicht, dass die Freiheit der vielen Einzelnen nur innerhalb eines institutionellen Rahmens bestehen kann. Das Prinzip ,,Freiheit als Recht" (Rechtsphilosophie § 29) fordert, das eigene Leben allgemeinen Regeln unterzuordnen. Will die Gesellschaft als Gebilde der über den Markt vermittelten Partikularinteressen nicht am aufkommenden Klassengegensatz zerbrechen, muss sie ein Konkret-Allgemeines - den Staat - sich gegenüberstellen. Dessen besondere Aufgabe besteht darin, in der Gesellschaft allgemeine Zwecke zu verwirklichen. In diesem Zusammenhang bezeichnet Hegel " ... die Frage, wie der Armut abzuhelfen sei ... "87, als die drängendste seiner Zeit; Almosen und Überproduktion, - nichtstaatliche Lösungen insgesamt -, scheiden aus, weil sie gegen die Freiheit der Personen und Märkte, kurz das Strukturprinzip der bürgerlichen Gesellschaft verstoßen: er erkennt im freien Erwerb und Gebrauch von Eigentum, und - unmittelbar damit verbunden 83 Vgl. ebd., § 200 (S. 354). Nur am Rande sei erwähnt, dass der Staatstheoretiker in Hege\ die Lehren, die Hobbes aus der englischen Revolution gezogen hatte, übernahm. 84
Vgl. ebd., § 243 (S. 389).
85
Ebd., § 200 (S. 354).
86 Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften I, in: Werke, Bd. 8, S. 49 (§ 6).
87
Hegel, Rechtsphilosophie, § 244 Zusatz (S. 390).
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- festen Gesetzen sowie klaren Kompetenzen, kurz: in der Rechtssicherheit, die beiden tragenden Stützen der bürgerlichen Gesellschaft. Differenzierung und Privatisierung, abstraktes Denken und rationale Ordnungen treten an die Stelle feudal-hierarchischer Bezugssysteme. ,,Die konkrete Person ... als ein ganzes von Bedürfnissen und eine Vennischung von Naturnotwendigkeit und Willkür ... "88 ist der eine, die Allgemeinheit ihrer über den Markt ennittelten Bedürfnisse der andere Entstehungsgrund des Reichs der Notwendigkeit. Hegel folgt insofern Rousseau, Kant und Fichte, als er die subjektive Freiheit an die Spitze stellt, aber er rückt darüber hinaus den gesellschaftlich-politischen Aspekt der Gerechtigkeit in das Zentrum der Moralphilosophie und widmet der Tugend der Gerechtigkeit eine eigenständige gesellschaftliche Ethik: Sein Zeitalter hatte ihm das Scheitern des von 1. G. Fichte beschworenen Vernunftstaates gezeigt. Ganz im Sinne des liberalen Bürgertums erkennt Hegel rückblickend, dass die Revolution eine meist " ... fürchterliche Wirklichkeit ... "89 hervorgebracht hatte; er wechselt die Fronten und schlägt sich auf die Seite ihrer Kritiker. Nach den GTäueltaten der Revolution bleibt er zwar dem utopischen Grundzug der idealistischen Philosophie verpflichtet, übernimmt jedoch daneben die Hauptforderungen des politischen Liberalismus. Für ihn war und blieb die Große Revolution das weltgeschichtliche Ereignis schlechthin; mit ihr habe ein neues Selbstverständnis des Menschen begonnen, Politik und Recht zu gestalten; endlich sei die Menschheit ihren Kinderschuhen entwachsen . ... denn die Forderung der Freiheit ist, daß das Subjekt sich darin wisse und das Seinige dabei tue, denn sein ist das Interesse, daß die Sache werde ... Alle Unfreiheit aus dem Lehnsverband hört hiermit auf, alle jene aus dem Feudalrecht hergekommenen Bestimmungen ... fal\en hiermit weg. Zur reel\en Freiheit gehört ferner die Freiheit der Gewerbe, daß dem Menschen erlaubt sei, seine Kräfte zu gebrauchen, wie er wolle, und der freie Zutritt zu allen Staatsämtern. Dieses sind die Momente der reellen Freiheit, welche nicht auf dem Geruhl beruhen, ... sondern auf dem Gedanken und Selbstbewußtsein des Menschen von seinem geistigen Wesen. 90
Es sind diese Seiten der HegeIschen Rechtsphilosophie, die Stein wohl begeistert haben und denen er zeitlebens treu blieb: Die rationale Fundierung der Staatsorganisation, die Legitimation politischer Macht durch das Recht und die ungeheure Gewalt des Systems der Bedürfnisse; - allerdings nicht mehr verstanden als schlechte Unendlichkeit, sondern als Voraussetzung und Wiege realer Freiheit. Denn anders als Fichtes Ich-Philosophie sieht Hegel "die normative Kraft des Faktischen" (Jellineck) und verbindet den Idealismus mit der 88 Hegel,
Rechtsphilosophie,
*182 (S. 339).
89 Hegel, Geschichte der Philosophie III, S. 465; vgl. ders., Philosophie der Geschichte, S. 534. 90
Ebd., S. 529 f.
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empirischen Beobachtung. Er sagt schnörkellos, dass die Revolution sich an ihren Idealen vergangen habe. Was zunächst die Gleichheit betrifft, so enthält der geläufige Satz, daß alle Menschen von Natur gleich sind, den Mißverstand, das Natürliche mit dem Begriff zu verwechseln; es muß gesagt werden, daß von Natur die Menschen vielmehr nur ungleich sind ... - Daß die Bürger vor dem Gesetze gleich sind, enthält eine hohe Wahrheit, aber die so ausgedrückt eine Tautologie ist; denn es ist damit nur der gesetzliche Zustand überhaupt, daß die Gesetze herrschen, ausgesprochen ... Die Gesetze selbst, außer insofern sie jenen engen Kreis der Persönlichkeit betreffen, setzen die ungleichen Zustände voraus und bestimmen die daraus hervorgehenden ungleichen rechtlichen Zuständigkeiten und Pflichten. 91
Statt das Recht der natürlichen Ungleichheit gegen Herkunft und Stand zu schützen, habe die Revolution die abstrakten Begriffe der Freiheit und Gleichheit als Realbestimmungen genommen und damit gegen die wirkliche Freiheit der Menschen verstoßen. In der Phänomenologie des Geistes wird der Verlauf der Revolution idealtypisch als "die absolute Freiheit und der Schrecken"92 beschrieben. In der Revolution habe sich das Bewusstsein der absoluten Freiheit verwirklicht, dem nichts gelte außer sein eigener Wille; da es aber alles als seinen Willen, seinen Gedanken erkennt, akzeptiere es nur seine Vorstellung von der Realität. - Fichtes Ich-Philosophie scheint in der Feme auf: Die absolute Freiheit ... erhebt sich auf den Thron der Welt, ohne daß irgend eine Macht ihr Widerstand zu leisten vermöchte. Denn ... ihr ganzes System [ist] ... zusammengefallen, nachdem das einzelne Bewußtsein den Gegenstand so erfaßt, daß er kein anderes Wesen habe als das Selbstbewußtsein selbst ... In dieser absoluten Freiheit sind also alle Stände ... getilgt; das einzelne Bewußtsein ... hat seine Schranke aufgehoben; sein Zweck ist der allgemeine Zweck, seine Sprache das allgemeine Gesetz, sein Werk das allgemeine Werk 93 .
Dank der Revolution sei sich der Einzelne seiner Vernunft als seiner freien Subjektivität bewusst geworden; der Mensch habe die Welt als seine eigene Schöpfung erkannt. Doch im Gegensatz zu Fichte sieht Hegel die Ursachen ihres blutigen Verlaufs: Das sich autonom setzende Individuum ist außerstande, Gemeinschaften zu bilden. In ihm ist nur ... die Bewegung des allgemeinen Selbstbewußtseins in sich selbst vorhanden ... Das ... einzelne Bewußtsein ist sich seiner ... als allgemeinen Willens bewußt; ... in Tätigkeit übergehend und Gegenständlichkeit erschaffend, macht es also nichts Einzelnes,
91
Hegel, Enzyklopädie 11\, § 539 (S. 332 f.).
92 Vgl. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Abschnitt VI Bill. 93
Ebd., S. 433.
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sondem nur Gesetze und Staatsaktionen ven Werke 00. kommen kann. 94
00.
Es folgt daraus, daß es zu keinem positi-
Weitsichtig erfasst Hegel das Paradox aller Demokratien und den Grund des repräsentativen Prinzips: Das sich allgemein setzende Individuum kann keine Institutionen und damit keine staatliche Ordnung schaffen; es ist stets nur in Form eines Besonderen, d. h. in seinem Denken allgemein und folglich sind alle einzelnen dazu gezwungen, sich im Gegensatz zum Konkret-Allgemeinen, d. i. der ihnen im Staat gegenübertretenden Gemeinschaft zu erkennen. 00. denn der allgemeine Wille ist nur in einem Selbst, das Eines ist, wirklicher Wille. Dadurch aber sind alle anderen Einzelnen von dem Ganzen dieser Tat ausgeschlossen und haben nur einen beschränkten Anteil an ihr, so dass die Tat nicht Tat des wirklichen allgemeinen Selbstbewußtseins sein würde. 95
Die absolute Freiheit schlägt um in Terror, weil ihr Auftreten notwendig in einzelnen Aktionen mündet; deshalb bleibt ihr ,,00' nur das negative Tun; sie ist nur die Furie des Verschwindens"96. Die Unfähigkeit zur Gestalt zwingt die absolute Freiheit zur ganz unvermittelten 00. Negation des Einzelnen als Seienden in dem Allgemeinen. Das einzige Werk und Tat der allgemeinen Freiheit ist daher der Tod, 00. ohne mehr Bedeutung als das Durchhauen eines Kohlhauptes oder eines Schluckes Wassers. 97
Die Idealtypen der Phänomenologie beschreiben vordergründig die Wandlungen und den Aufstieg des subjektiven Bewusstseins zum objektiven, substantiellen Denken der Logik; sie repräsentieren jedoch darüber hinaus Entwicklungsstufen, auf denen es dem allgemeinen Bewusstsein noch nicht gelingt, wirklich selbstbewusst, d. h. politisch eigenständig in und gegenüber der Gemeinschaft zu handeln. ,,Die Tugend und der Schrecken" der französischen Revolution dienen hier als ein Beispiel missglückter politischer Vergemeinschaftung: Die französische Revolution hatte das System der falschen Götter, der naturgegebenen Wahrheiten gestürzt, aber sie war an der Unfähigkeit zur Repräsentation des Allgemeinen, dem Beharren auf der bloßen Allgemeinheit des subjektiven Gedankens und dem Prinzip der unmittelbaren Identität von Herrschern und Beherrschten gescheitert. Die Revolutionäre predigten Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, schufen jedoch die Tyrannei der Gerechten 98 :
94
Ebd., S. 434.
95
Ebd.
96 Ebd., S. 435. 97
Ebd., S. 436.
Vgl. Hegel, Enzyklopädie III, § 539 (S. 334 f.): "Schon die oberflächliche Unterscheidung, die in den Worten Freiheit und Gleichheit liegt, deutet darauf hin, daß die 98
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... eine Regierung ist immer vorhanden. Die Frage ist daher: wo ging sie hin? Sie ging an das Volk der Theorie nach, aber der Sache nach an den Nationalkonvent und dessen Komitees. Es herrschen nun die abstrakten Prinzipien der Freiheit und - wie sie im subjektiven Willen ist - der Tugend. 99 Herrscht die bloße Tugend, werden die Gesinnung zum Maßstab und der
Verdacht zum Richter; denn die reine Freiheit und Gleichheit fügen sich nicht
in die Schranken von Institutionen, Verfahrensregeln und Rechtsstatuten; sie unterscheiden nur zwischen
00. solche[n], die in der Gesinnung sind, und solche[n], die es nicht sind 00.: die Tugend aber, sobald sie verdächtig wird, ist schon verurteilt 00. Von Robespierre wurde das Prinzip der Tugend als das Höchste aufgestellt, und man kann sagen, es sei diesem Menschen mit der Tugend Ernst gewesen. Es herrschen jetzt die Tugend und der Schrecken; denn die subjektive Tugend, die bloß von der Gesinnung aus regiert, bringt die fürchterlichste Tyrannei mit sich. Sie übt ihre Macht ohne gerichtliche Formen, und ihre Strafe ist ebenso nur einfach - der Tod. Diese Tyrannei mußte zugrunde gehen; denn die Vernünftigkeit selbst war gegen diese fürchterliche konsequente Freiheit, die in ihrer Konzentration so fanatisch auftrat. 100
5. Der Staat als konkrete Allgemeinheit und Wahrer des Gerechten Weniger die Vorgaben des Systems, als der Verlauf der Französischen Revolution und die Gestalt der sich etablierenden bürgerlichen Gesellschaft bilden den Hintergrund, vor dem die Konstruktion des objektiven Geistes aufgebaut wird. In dem neuen Reich des Gedankens wird - über den Markt vermittelt alles und jeder von allem und jedem abhängig. Alles Partikulare wird insofern ein Gesellschaftliches; in der Art der Kleidung, in der Art des Essens liegt eine gewisse Konvenienz, die man annehmen muß, weil es in
erstere auf die Ungleichheit geht; aber umgekehrt führen die gang und gäben Begriffe von Freiheit doch nur auf Gleichheit zurück (00') Was aber die politische Freiheit betrifft, nämlich im Sinne einer förmlichen Teilnahme des Willens und der Geschäftigkeit auch detjenigen Individuen, welche sich sonst zu ihrer Hauptbestimmung die partikulären Zwecke und Geschäfte der bürgerlichen Gesellschaft machen, anden öffentlichen Angelegenheiten des Staates, so ist 00. zunächst nur dies zu sagen, daß unter Verfassung die Bestimmung der Rechte, d. i. der Freiheiten überhaupt, und die Organisation der Verwirklichung derselben verstanden werden muß und die politische Freiheit auf jeden Fall nur einen Teil derselben ausmachen kann 00'''' Die politische und die wirtschaftliche Freiheit beginnen - so verstanden - mit der negativen Koalitionsfreiheit. 99
Hegel, Geschichtsphilosophie, S. 532.
100
Ebd., S. 532 f.
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diesen Dingen nicht der Mühe wert ist, seine Einsicht zeigen zu wollen, sondern es am klügsten ist, darin wie andere zu verfahren. 101
Hegel spricht von Dialektik, wenn er beschreibt, wie eine Gesellschaft, die sich auf die Freiheit der Individuen gründet und den einzelnen von Standesschranken befreit, eine Vereinheitlichung der Lebensführung bewirkt, die den neuen Freiheiten zu widersprechen scheint; er entwirft ein klassifikatorisches Raster, das weniger dem spekulativen Gedanken von Phänomenologie und Logik als der empirischen Beobachtung entspricht: Wo nicht mehr die Standesregeln herrschen, wird das Gewohnte zur Norm. Die freie Subjektivität braucht sich nicht im Gegenständlichen zu beweisen, sondern macht sich im Subjekt selbst gegenständlich. Darin liegt das Moment der Befreiung in der bürgerlichen Gesellschaft, " ... dass der Mensch sich zu seiner und zwar allgemeinen Meinung und einer nur selbstgemachten Notwendigkeit, statt nur zu äußerlicher, zu innerer Zufälligkeit, zur Willkür sich verhält"102. Doch Zufälligkeit und Willkür - auch die des Selbstbewusstseins - können keine Freiheit für alle schaffen. Die Freiheit bleibt innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft nur formell, weil die Abstraktion, das Denken der vergesellschafteten Menschen in dieser Sphäre nur " ... auf die unbestimmte Vervielfältigung und Spezifizierung der Bedürfuisse, Mittel und Genüsse, welche ... keine Grenze hat ... "103, geht. An die Stelle der natürlichen Ungleichheit tritt - wie gesagt - die des Geistes; diese äußert sich in der Geschicklichkeit, dem Vermögen sowie der intellektuellen und moralischen Bildung, ... so dass der ganze Zusammenhang sich zu besonderen Systemen der Bedürfnisse, ... zu einem Unterschied der Stände ausbildet ... Hier ist also die Wurzel, durch die die
Selbstsucht sich an das Allgemeine, an den Staat knüpft, dessen Sorge es sein muß, dass dieser Zusammenhang ein gediegener und fester sei. 104
Die zitierte Stelle lässt sich sowohl als Einleitung zu Hegels sozialpolitischem Engagement wie als Durchgangspunkt auf dem Weg zur "Wirklichkeit der sittlichen Idee", dem Staat, lesen. Sieht man in ihr eine Äußerung des Zeitdiagnostikers Hegel, beschreibt sie die aporetische Struktur der institutionell nicht eingehegten Erwerbsgesellschaft und der kapitalistischen Revolution. Will die Bürgerliche Gesellschaft, ein Gebilde der über den Markt vermittelten Besonderheit, d. h. der wirtschaftlichen Zusammenarbeit, nicht an aufkommenden Gegensätzen zugrunde gehen, muss sie sich ein ,,Konkret-Allgemeines" gegenüber stellen: Dessen Besonderheit besteht folgerichtig darin, in der Gesell-
101
Hegel, Rechtsphilosophie, § 192 Zusatz (S. 349).
102
Ebd., § 194 (S. 350).
103
Ebd., § 195 (S. 350 f.).
104
Ebd., § 201 und Zusatz (S. 354 f.).
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schaft als dem System der subjektiven, nicht verallgemeinerungsfähigen Präferenzen allgemeine Zwecke zu verwirklichen. Das kann nur der Staat, weil Almosen und Überproduktion - die nicht-staatlichen Angebote insgesamt - gegen das Strukturprinzip der bürgerlichen Gesellschaft verstoßen. Es kommt hierin zum Vorschein, dass bei dem Übermaße des Reichtums die bürgerliche Gesellschaft nicht reich genug ist, d. h. an dem ihr eigentümlichen Vermögen nicht genug besitzt, dem Übermaße der Armut und der Erzeugung des Pöbels zu steuern. 105 Zeitgleich mit der Verelendung des preußischen Handwerks 106 und der Proletarisierung in England sucht Hegels Rechtsphilosophie ungeachtet der ,,Positionierung des objektiven Geistes" im sich entwickelnden System einen Ausweg für diese neuen Erscheinungen. Die Partikularisierung und Atomisierung der Arbeit und des Arbeiters zwingt zur Genossenschaftsbildung, zur ,,Korporisation"; deren Mitglieder vertreten ihren besonderen Zweck einheitlich und gemeinsam. Der allgemeine Zweck der Korporation ist " ... damit ganz konkret ... und [hat] ... keinen weiteren Umfang ... , als der im Gewerbe, dem eigentümlichen Geschäfte und Interesse liegt"107. Die Korporation beinhaltet jedoch mehr als bloß wirtschaftliche Interessen. Sie gibt dem Einzelnen seine an die Maschine verlorene "Standesehre" zurück: ohne Korporation bleibt die atomisierte Arbeitskraft von äußeren Zufällen abhängig, ist die Versorgung des Arbeiters nichts "Stehendes". In der Korporation verliert die Hilfe, welche die Armut empfängt, ihr Zuf!illiges sowie ihr mit Unrecht Demütigendes und der Reichtum in seiner Pflicht gegen die Genossenschaft den Hochmut und den Neid, den er in den anderen erregen kann; die Rechtschaffenheit erhält ihre wahre Anerkennung und Ehre. 108 Hegels Korporation sei "... keine geschlossene Zunft: sie ist vielmehr die Versittlichung des einzelnstehenden Gewerbes und sein Hinaufnehmen in einen Kreis, in dem es Stärke und Ehre gewinnt" 109. Die empirische Beobachtung, Zeitdiagnose und der sozialpolitische Entwurf Hegels treten jedoch zunehmend hinter den spekulativen Ansatz zurück. Mit der Einführung des neuen Korporisationsbegriffs gerät der Versuch, die Reinheit der Idee mit der Wirklichkeit zu
105 Ebd., § 245 (S. 390). 106 Vgl. Twesten, K., Der preußische Beamtenstaat, Darmstadt 1979, S. 63 ff. Hegel, Rechtsphilosophie, § 251 (S. 394). 108 Ebd., § 253 (S. 396). 109 Ebd., § 255 Zusatz (S. 397).
107
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B. Geistmetaphysik, Philosophiegeschichte und Historische Soziologie
verbinden, ins Schlingern. IID Die Korporisation verbindet die bürgerliche Gesellschaft mit dem Staat insofern, als ihr Zweck zwar partikular (das gemeinschaftliche Interesse ihrer Mitglieder), ihr Adressat jedoch die im Staat verkörperte Allgemeinheit ist. Der Zweck der Korporisation als beschränkter und endlicher hat seine Wahrheit ... in dem an und für sich allgemeinen Zwecke und dessen absoluter Wirklichkeit; die Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft geht daher in den Staat über ... -. Diese Entwicklung der unmittelbaren Sittlichkeit durch die Entzweiung der bürgerlichen Gesellschaft hindurch zum Staate, der als ihren wahrhaften Grund sich zeigt, und nur eine solche Entwicklung ist der wissenschaftliche Beweis des Begriffs des Staats. III
Der Zauber des Systems ist zu verfiihrerisch; Hegel überträgt die Entwicklung des Lebensbegriffes seiner Logikl12 kurzerhand auf die Realverhältnisse und schreibt, dass der Staat zwar aus der Familie und der bürgerlichen Gesellschaft hervorgeht, in Wirklichkeit aber " ... überhaupt vielmehr das Erste [ist], innerhalb dessen sich die Familie zur bürgerlichen Gesellschaft ausbildet, und es ist die Idee des Staates selbst, welche sich in diese beiden Momente dirimiert"ll3. Somit erweist der Staat sich als die konkrete Totalität und schließt den Kreis, der seinen Anfang in der Familie und der bürgerlichen Gesellschaft zur Voraussetzung hatte. Der Staat erhebt sich als Resultat seines Werdens in Familie und Gesellschaft über beide, und ist als " ... objektiver Wille das an sich in seinem Begriffe Vernünftige ... , ob es von Einzelnen erkannt und von ihrem Belieben gewollt werde oder nicht" II 4. Das Gerechte wird zu einem Moment an der substantiellen Sittlichkeit des Staats. Die Rechtsphilosophie leidet unter derselben Zweideutigkeit wie die theoretischen Teile des Systems. Diese resultiert weniger aus dem Schweben zwischen Substanz- und Subjektivitätsphilosophie oder zwischen Neuplatonismus und Idealismus als aus der Unentschlossenheit Hegels, sich zwischen dem Liberalismus seiner Jugend und dem "obersten Lebens- und Entwicklungsprinzip
110 Vgl. ebd., § 255 Zusatz (S. 397): "Wir sahen früher, daß das Individuum, für sich in der bürgerlichen Gesellschaft sorgend, auch für andere handelt. Aber diese bewußtlose Notwendigkeit ist nicht genug: zu einer bewußten und denkenden Sittlichkeit wird sie erst in der Korporisation. Freilich muß über dieser die höhere Aufsicht des Staates sein, weil sie sonst ... zu einem elenden Zunftwesen herabsinken würde." III
Ebd., § 256 (ebd.).
112
Vgl. Hegel, Logik 11, S. 474-487.
113
Hegel, Rechtsphilosophie, § 256 (S. 398).
114
Ebd., § 258 (S. 401).
I. Metaphysik (Logik) und praktische Philosophie bei Hegel
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des Preußischen Staates"115 zu entscheiden. Dies zeigt ein Blick auf den Übergang von der Moralität zur Sittlichkeit: Die Moralität gehört in die Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft; das Subjekt verharrt auf dieser Stufe im Gegensatz zwischen seinen privaten Zwecken und dem an und für sich allgemein Guten. Diese Moralität bleibt dem Bereich der Willkür verhaftet, weil die subjektiven Zwecke dem zum Staat "aufgehobenen" allgemein Vernünftigen widersprechen können. Der "subjektive Zweck" und die "substantielle Sittlichkeit" treten auseinander. Auf der Stufe der Sittlichkeit fallen die subjektiven Zwecke dagegen notwendig mit dem allgemeinen Guten zusammen. In dieser Sphäre sich gegenständlich gewordener Sittlichkeit verfolgt der einzelne seine Ziele, ohne überhaupt der Sittlichkeit widersprechen zu können; das allgemein Sittliche ist hier Teil des besonderen Zwecks und umgekehrt. Das geht nur in einem Beamtenstaat, wo die Beamten fiir sich arbeiten und nolens volens dem Allgemeinen dienen. So heißt es in der Rechtsphilosophie, durch ihre Bildung und sichere Stellung bedingt, machen ... die Mitglieder der Regierung und die Staatsbeamten ... den Hauptteil des Mittelstandes aus, in welchem die gebildete Intelligenz und das rechtliche Bewusstsein der Masse eines Volkes fällt. [... ]. Der Staat, in dem kein Mittelstand vorhanden ist, steht deswegen noch auf keiner hohen Stufe. 116 Was Moralität und Sittlichkeit fiir die Entfaltung der freien Subjektivität, sind Staatsdiener und Institutionen fiir das Konkret-Allgemeine, den Staat: ihre Besonderheit besteht darin, die Bedürfnisse der Allgemeinheit zu befriedigen. Deshalb ist der Staat ... die Wirklichkeit der sittlichen Idee ... An der Sitte hat er seine unmittelbare und an dem Selbstbewusstsein des Einzelnen, dem Wissen und Tätigsein desselben, seine vermittelte Existenz, so wie dieses durch die Gesinnung in ihm, als seinem Wesen, Zweck und Produkt seiner Tätigkeit, seine substantielle Freiheit hat. 117 Spekulatives Denken und empirische Beobachtung stehen ineinander: Die Dialektik des Begriffs spiegelt sich in der Staatsidee, diese in der Gesellschaft wie im einzelnen, und der wiederum in Gesellschaft und Staat. Der wahre
115 Der bereits kurz nach Hegels Tod einsetzende Streit um die richtige Interpretation der HegeIschen Rechtsphilosophie wird bei K. E. Schubart, Über die Unvereinbarkeit
der HegeIschen Staatslehre mit dem obersten Lebens- und Entwicklungsprinzip des preußischen Staats (1839), in: Riedei, M. (1975), Bd. I, S. 249-266, und Gans, E., Erwiderung auf Schubarth, ebd., S. 267-275, deutlich. Hegel, Rechtsphilosophie, § 297 und Zusatz (S. 464 f.). 117 Ebd., § 257 (S. 398).
116
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Staatsbegriff steht nicht nur der Gesellschaft gegenüber, er geht auch über den Not- und Verstandesstaat hinaus. Wenn der Staat mit der bürgerlichen Gesellschaft verwechselt wird und seine Bestimmung in die Sicherheit und den Schutz des Eigentums und der persönlichen Freiheit gelegt wird, so ist das Interesse der Einzelnen als solcher der letzte Zweck, zu welchem sie vereinigt sind und es folgt hieraus ebenso, dass es etwas Beliebiges ist, Mitglied des Staates zu sein. 1l8
Die dem Staat gewidmeten Abschnitte zeigen in beeindruckender Weise die Zweideutigkeit der Rechtsphilosophie: Hegel sieht und begründet zum einen, dass Gesellschaft und Staat aus den prinzipiell zu scheidenden Momenten der wirtschaftlichen und der politischen Koordination hervorgehen. "... der Begriffspleonasmus Privateigentum, den Hegel in die Diskussion eingeführt hat, zeigt eine neue Nuance der Eigentumsrechte. Eigentum wird privatisiert, die Verfügungsrechte ausgedehnt, soziale Restriktionen von Eigentumsrechten abgebaut" 119. Zum andern wird diese Diremtion des objektiven Geistes jedoch negiert und zum Staat aufgehoben. Die Reflexionsbewegung der setzenden, der äußeren und der bestimmenden Reflexion aus der subjektiven Logik l20 kennzeichnet auch Hegels Weg in den Staat. Das natürliche Verhältnis in der Familie entäußert sich in die Gesellschaft auf die Stufe der Differenz, wo die Allgemeinheit die ... nur noch innerliche - Grundlage und deswegen auf formelle, in das Besondere nur scheinende Weise ist. Dies Retlexionsverhältnis stellt daher zunächst den Verlust der [natürlichen, S. K.] Sittlichkeit dar oder, da sie als das Wesen notwendig scheinend ist, ( ... ) macht es die Erscheinungswelt des Sittlichen, die bürgerliche Gesellschaft aus. 121
In der bürgerlichen Gesellschaft erscheint die Idee folgerichtig in ihrer Entzweiung, so dass " ... das Sittliche ... hier in seine Extreme verloren ... "122 ist und seinerseits zum Staat auf die Stufe der objektiven Sittlichkeit aufzuheben ist. Unter der Herrschaft des Gedankens obliegt es dem Staat, zwischen dem abstrakt Guten - der Moralität - und der Willkür des Subjekts zu vermitteln. Deshalb besteht die Vernünftigkeit des Staats
118 Ebd.,
§ 258 (S. 399).
119
Koslowski, P., Ethik des Kapitalismus, 3. Autl. 1986, S. 18.
120
Vgl. Hegel, Logik 11, S. 24-35. Vgl. Hartmann, K. (1999), S. 169-174.
121
Heget, Rechtsphilosophie, § 181 (S. 338).
122
Ebd., § 184 Zusatz (S. 340).
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... abstrakt betrachtet, überhaupt in der sich durchdringenden Einheit der Allgemeinheit und der Einzelheit ... und deswegen der Form nach in einem nach gedachten, d. h. allgemeinen Gesetzen und Grundsätzen sich bestimmenden Handeln. 123 Der Staat ist eine Form des Geistes und zugleich Produkt des Ineinanderübergehens der Vernunft aller; diese Gestalt des Sittlichen verselbständigt sich als objektiver Geist. Nachdem die französische Revolution die Welt und den Menschen auf den Kopf gestellt hat, steht auch für Hegel der Staatsgedanke auf einem neuen Fundament; deshalb kann " ... das Allgemeine ... nicht ohne das eigene Wissen und Wollen der Besonderheit, die ihr Recht behalten muß, fortschreiten ... ".124 Ähnlich wie in der Einleitung der Logik l25 legt Hegel auch in der Rechtsphilosophie großen Wert auf die Unterscheidung zwischen dem Gang des Geistes und der erscheinenden Wirklichkeit l26; weder der subjektive Idealismus noch die an der Zufälligkeit äußerer Erscheinungen haftende restaurative Staatsphilosophie würden der Komplexität des entwickelten Staatsbegriffs gerecht. Dessen Wirklichkeit besteht darin, "... dass das Interesse des Ganzen sich in die besonderen Zwecke realisiert ... ",127 d. h. dass die Einheit des Staats als in sich ausdifferenzierte Einheit zu begreifen ist. Der Staatsbegriff umfaßt daher die Einheit von bürgerlicher Gesellschaft und politischem System. Der allgemeine Staatsbegriff und der politische Staat treten auseinander: Der allgemeine Staat umfasst die auf der Verfassung aufbauende und von ihr grundsätzlich begrenzte verfassungsmäßige Ordnung, die alle Bereiche des gesellschaftlichen und politischen Lebens umfasst. Im politischen Staat wird der allgemeine Staatsbegriff dagegen "konkret" und tritt der Gesellschaft gegenüber. In diesem Zusammenhang übernimmt Hegel die Lehre von ... der notwendigen Teilung der Gewalten des Staats .. , einer höchst wichtigen Bestimmung, welche mit Recht, wenn sie nämlich in ihrem wahren Sinn genommen worden wäre, als die Garantie der öffentlichen Freiheit betrachtet werden konnte 128 Der "wahre" Sinn der Gewaltenteilung liegt in deren Differenzierung, wonach sie " ... als Momente des Begriffs unterschieden sein sollen"129. Denn -
123 Ebd., § 258 (S. 399). 124 Ebd., § 260 Zusatz (S. 407). 125 Vgl. Hegel, Logik I, S. 52 ff. 126 Vgl. Hegel, Rechtsphilosophie, § 258 (S. 40 I). 127 Ebd., § 270 Zusatz (S. 428). 128 Ebd., § 272 (S. 433). 129 Ebd., Zusatz (S. 435).
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B. Geistmetaphysik, Philosophiegeschichte und Historische Soziologie
und wieder erinnert Hegel an die Einheit des Prinzips: ,,Der konkrete Staat ist das in seine besonderen Kreise gegliederte Ganze." 130
6. Metaphysik und Politik in Hegels Rechtsphilosophiel 31 Die den Staatsbegriff entfaltenden Passagen in Hegels Rechtsphilosophie zeigen "Licht und Schatten": Es bleibt im Dunklen, wer in Geschichte, Gesellschaft und Staat das Subjekt ist; der einzelne Mensch oder die in staatlichen Institutionen zur Herrschaft gelangende zweckrationale Ordnung als solche, oder das wahre Subjekt der Geschichte, der Weltgeist. Der Fortschritt der Geschichte besteht demnach nicht nur in der ,,rationalen" Durchdringung der Lebensführung, d. i. in der Fähigkeit, sein Leben allgemeinen Prinzipien zu unterwerfen. Der wahrhaft objektive Boden des Denkens wurzelt in der wirklichen Freiheit des Subjekts. Das Allgemeine, Substantielle selbst soll Objektivität haben. Indem das Denken dies Allgemeine, der Boden des Substantiellen ist und zugleich Ich ist - das Denken ist das Ansich und existiert als freies Subjekt -, so hat das Allgemeine unmittelbare Existenz und Gegenwart; es ist nicht nur ein Ziel, ein Zustand, in den übergegangen werden soll, sondern die Absolutheit ist gegenständlich. 132 Diese Anwendung des Prinzips auf die Weltlichkeit, die Durchbildung und Durchdringung des weltlichen Zustandes durch dasselbe ist der lange Verlauf, weIcher die Geschichte selbst ausmacht. 133
130 Ebd., § 308 (S. 477). 131 Dieser Abschnitt knüpft insofern an Ritter, J., Moralität und Sittlichkeit. Zu Hegels Auseinandersetzung mit der kantischen Ethik, in: ders., Metaphysik und Politik. Studien zu Aristoteles und HegeI, Frankfurt a. M. 1977, S. 281-309 (300 f., 302, 307), an, als er Hegels "Protosoziologie" mit Ritter als eine große Leistung würdigt, die aus den Aporien des subjektiven Idealismus herausfUhrt; ich folge allerdings Ritters Interpretation nicht so weit, dass der Konflikt zwischen individueller Moral und institutioneller Sittlichkeit von Hegel systemimmanent überzeugend gelöst ist: "In dieser Zuflucht [auf die ideelle Innerlichkeit, S. K.] bleibt allein die innere Moralität, doch als die Ohnmacht der Subjektivität, die keine sittliche Wirklichkeit mehr im Leben und Handeln zu haben vermag. Das Individuum hat so nur die heroische Möglichkeit, sich und sein Gewissen in der Kollision mit den unsittlich gewordenen Institutionen geltend zu machen und sich zu opfern" (ebd. S. 308). Der "verhaltene Historismus" Ritters kann nach einem Jahrhundert der Gräuel und des permanenten Ausnahmezustandes, d. h. des Unrechts nicht überzeugen.
132
Hege!, Geschichte der Philosophie I, S. 169.
133
Heget, Geschichtsphilosophie, S. 32.
1. Metaphysik (Logik) und praktische Philosophie bei Hegel
127
Der Zeithistoriker Hegel steht hier gegen die Grundlagen seiner Metaphysik; indem die praktische Philosophie die Beobachtung des von der französischen Revolution vollzogenen qualitativen Sprunges mit der Prämisse aller Abstraktion, dem Absehen von Naturnotwendigkeit und Kontingenz verbindet, leugnet sie die wirklichen Menschen als Urheber ihrer Geschichte. Dadurch wird, wie Karl Marx zu Recht einwandte, ... die Betätigung des Scheinwesens oder des sich entfremdeten Wesens in seiner Verneinung oder die Verneinung dieses Scheinwesens als eines gegenständlichen, außer dem Menschen hausenden und von ihm unabhängigen Wesens und seine Verwandlung in das Subjekt ... 134 philosophisch sanktioniert. Spekulative Philosophie und Gesellschaftsanalyse werden gleichsam kurzgeschlossen. Allen Differenzierungen zum Trotz mündet die Rechtsphilosophie gänzlich "unspekulativ", ja nicht einmal systematisch abgeleitet in die Propagierung der Monarchie als vom ,,Begriff' geforderte Regierungsform. In der Person des Monarchen inkarniert das Staatsganze. Zwar steht der konstitutionell "domestizierte" Monarch Hegels nur an der Spitze des formellen Entscheidens, " ... und man braucht zu einem Monarchen nur einen Menschen, der Ja sagt und den Punkt auf das I setzt; denn die Spitze soll so sein, dass die Besonderheit des Charakters nicht das Bedeutende ist",135 aber die Notwendigkeit der Monarchie wird willkürlich gesetzt. 136 Die Rechtsphilosophie verstößt damit sowohl gegen das spekulative Prinzip wie die politische Klugheit. Das Modell, die philosophischen Wissenschaften als einen Kreis von Kreisen zu fassen, " ... deren jeder ein notwendiges Moment ist, so dass das System ihrer eigentümlichen Elemente die ganze Idee ausmacht, die eben in jedem einzelnen erscheint"137, lässt sich nicht auf die Rechts- und Sozialphilosophie übertragen. Zwar sieht Hegel die Grenzen seiner Einteilungen und schreibt in der Geschichtsphilosophie " ... das Individuum ist ein solches, das da ist, nicht Mensch überhaupt, denn der existiert nicht, sondern ein bestimmter"138; die Übertragung der spekulativen Logik auf das Recht in Gesellschaft und Staat erdrückt jedoch die konkrete Person. Die Allgemeinheit des Begriffs wird zum einzigen Maßstab des Rechts:
134 Marx, K., Kritik der HegeIschen Dialektik und Philosophie überhaupt, in: MEW, Bd. I, Ostberlin, 1983, S. 201-231. 135 Hegel, Rechtsphilosophie, § 280 Zusatz (S. 451). 136 Vgl. ebd., § 281 Zusatz (S. 453 f.). 137 Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften I, Werke, Bd. 8, § 15 (S.60). 138 Heget, Geschichtsphilosophie, S. 38.
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B. Geistmetaphysik, Philosophiegeschichte und Historische Soziologie
Wir stellen das Recht in seiner Totalität dar, dies zu entwickeln ist unser Fortgang. Die Anwendung für das Besondere gehört nicht in unsere philosophische Rechtswissenschaft. Vollständig entwickelt würde sie denselben Umfang wie die positive Rechtswissenschaft gewinnen. Aber Anwendung ist nur Sache des Verstandes, der das Einzelne unter das Allgemeine ordnet, nicht philosophische Untersuchung. 139
Hegel hat die Begriffe Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit aufeinander bezogen und dynamisch entfaltet, er bleibt aber der begrifflichen Sphäre zu sehr verhaftet. Der aufbrechende soziale Gegensatz entzog sich seinen Bestimmungen und benutzte seine Philosophie wie die Sozialutopie J. G. Fichtes als bloßes Mittel im Klassenkampf. Zwar ist die "Hegeische Sozialphilosophie ... ein großer Versuch, sowohl die Freiheit und das Recht des Individuums als die Freiheit und das Recht des sozialen Ganzen zu sichern und miteinander zu vereinigen",140 jedoch beendet sie ungewollt das große Projekt von philosophischem Rationalismus und Deutschem Idealismus. Die Metaphysik der Alten lässt sich nicht mehr mit dem Freiheitsbewusstsein der Neuen zusammenführen. In der Hegeischen Sozialphilosophie kreuzen sich zum letzten Mal die Wege der Rechtsphilosophie und der Staatswissenschaft: Der pragmatische Hegel sieht, dass das von dem Ethos der Alten geforderte sittliche Leben nicht mehr als eine Frage der persönlichen Moral, sondern als staatliche Veranstaltung zu begreifen ist. Der Idealist in ihm verbindet diese Einsicht mit platonistischen und neuplatonistischen Derivationssystemen, so dass der Geist, der aller Zeiten Geister Brüder heißt, im Werden der Welt zu sich findet. Hegel kann die Geschichte als im absoluten Geist aufgehobene Emanzipation der Menschheit deuten und zugleich die metaphysische Trias der Alten bewahren. Gott schafft und durchläuft die Natur, um im und durch den Menschen und dessen Gestaltung der Welt zu sich zurückzukehren. Die Freiheit der Einzelnen wird zu einem Moment der Selbstbestimmung des Weltgeistes. Gerechtigkeit und Tugend, Unrecht, Gewalt und Laster ... haben in der Sphäre der bewußten Wirklichkeit ihre bestimmte Bedeutung und Wert und finden darin ihr Urteil und ihre, jedoch unvollkommene Gerechtigkeit. Die Weltgeschichte fällt außer diesen Gesichtspunkten; in ihr erhält dasjenige notwendige Moment der Idee des Weltgeistes, welches gegenwärtig seine Stufe ist, sein absolutes Recht ... 141
Zu Recht sahen Hegels Zeitgenossen - wie diese Äußerung belegt - ihn nicht als den Wegbereiter eines neuen Zeitalters, sondern den Bewahrer einer 139 Hegel, Philosophie des Rechts. Die Vorlesung von 1819/20 in einer Nachschrift, Hrsg. Henrich, 0., Frankfurt a. M. 1983, S. 54. 140
Peperzak, A., Zur HegeIschen Ethik, in: Horstmann / Henrich (1982), S 107.
141
Hegel, Rechtsphilosophie, § 345 (S. 505).
I. Metaphysik (Logik) und praktische Philosophie bei Hegel
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alten Überlieferung; Freiheit und Gleichheit bleiben trotz aller Verhüllung Attribute des absoluten Subjekts, d. h. Relationen in Gott, die im Vergänglichen bloß widerscheinen. 142 Dies hatte zur Folge, dass Hegels Philosophie in Deutschland zunächst - wie von L. v. Stein beschrieben - als ,.,servil" erschien, später aber weltweit zum Mittel in sozialen Auseinandersetzungen wurde l43 ; Hegels Philosophie stellte, so Lorenz von Stein, ... zuerst das an sich nothwendige Gesetz des Denkens als ein, den Einzelnen wie das Allgemeine beherrschendes, objectiv Daseyendes hin ... Was ich weiß und will, weiß und will ich demnach als ein Absolutes; denn in jedem einzelnen Punkte lebt, weil er selber ein Resultat des Gesetzes ist, das Ganze. 144
Wie gesagt, es waren nicht die Inhalte, sondern ,,Die Selbstgewißheit alles Wissens war es, die einen unendlichen Schritt vorwärts that."145
7. Vom Weltgeist zum revolutionären Subjekt Ich habe dargestellt, dass und wie im Hegeischen Oeuvre der rechtsphilosophische Idealismus und der staatswissenschaftliche Realismus ineinander übergehen. Der holistische Anspruch des Hegeischen Systems beseitigt darüber hinaus die Grenzen zwischen Idealität und Realität, Normativität und Faktizität; Die Enzyklopädie der Philosophischen Wissenschaften wandelt sich zur szientistischen Mythologie. ,,Die Philosophie wird dadurch selbst dichtend und täuscht sich zugleich über ihr dichtend und mythologisch Werden dadurch hinweg, dass sie sich als das absolute Wissen und als Wissenschaft definiert"146. 142 Vgl. Koslowski, P. (2001), S. 804: "Nach Hegel muß sich das besondere Individuum dareinschicken, dass es für die Entwicklung des Weltgeistes in seiner Partikularität geopfert wird. Das Opfer für den Fortschritt wird in der Hegeischen und Marxschen Philosophie - bei Hegel bewusst, im Marxismus wohl eher unbewusst - zur einzigen Versöhnung mit der Wirklichkeit, die dem Individuum in der Gegenwart bleibt ... Das Fremdopfer, das Opfer des anderen, für einen höheren Zweck wird somit von Hegel metaphysisch legitimiert. Die Weltgeschichte ist als Ganzes ein Opfer, das der Weltgeist seiner Entwicklung bringt". 143 Vgl. Stein, L. v., Blicke auf den Socialismus und Communismus ... (1844), S. 36 tT. 144
Ebd., S. 35.
145 Ebd., S. 36. 146 Koslowski, P. (2001), S. 831. Vgl. ebd.: ,,In dem Moment ihrer Geschichte, in dem die Philosophie mit Hegels System alle Grenzen der literarischen Gattungen sprengt und sich als die Meistererzählung und Totalität der Wissenschaft begreift, die zugleich den Mythos, die Religion, das poetische Epos und die metaphysische Onto-Lo-
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Für Hegel entsprach die Einheit der philosophischen Wissenschaften durchaus den Herausforderungen der Zeit; denn das Preußen der Stein-Hardenbergschen Refonnen nahm das Verlangen des Bürgertums nach politischer Mitsprache auf und schien bis 1830 Hegels Vorstellung vom Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit organologisch einzulösen. Als jedoch, wie gezeigt l47 , die Verhältnisse hinter den Erwartungen der Akteure zurückblieben und das neu entstandene geistige Proletariat sich die Philosophie der absoluten Freiheit zu eigen machte, nahm der Begriff den Kampf mit der schlechten Wirklichkeit auf. Nicht so sehr die idealistische Philosophie als vielmehr deren utopisches Potential durchdrang die sozialen Auseinandersetzungen, und die erste Gestalt des revolutionären Subjekts trat in Erscheinung: Nicht mehr die Idee, wirkliche Individuen sollen die notwendige Veränderung der Verhältnisse, den Fortschritt gegen die überständige gesellschaftlich-politische Vergangenheit durchsetzen und zur gegenwärtigen Stufe des historisch-gesellschaftlichen Bewusstseins aufheben.
Wie von der List der Vernunft ungewollt beschrieben, kehrt sich der objektive Idealismus um zu einem Grundmotiv der sozialen Ideologien: Hatte Hegels Rechtsphilosophie noch die Prinzipien der Freiheit und Gleichheit bis auf ihren metaphysischen Ursprung in der Gerechtigkeit des Weltgeistes zurückgeführt, ändern sich mit dem Entstehen des Industrieproletariats die Verhältnisse so radikal, dass die Hoffnung auf innerweltliche Erlösung nicht nur zum Bedürfnisse breiter Massen wird, sondern auch die ethische Ausgleichskausalität (Max Weber) der religiösen Hinterwelt von Grund auf ins Wanken bringt. 148 Die neuen Sozialutopien konfrontieren die nicht nur überständige, sondern auch zutiefst verwerfliche Geschichte mit einem revolutionären Subjekt, das wie Friedrich Engels es ausdrückte - keineswegs nach Reichtum des " ... eingik umfasst, wird eben durch diese totale und universelle Synthese der Wissenschaftscharakter der Philosophie und ihre Unterscheidbarkeit von der Dichtung undeutlich. Indem die Philosophie szientistisch wird und das absolute Wissen zu sein beansprucht, wird sie dichtend, und ihr vermeintlicher Szientismus zu jenem Schein, der ihre gnostischen Elemente verdeckt". 147 Vgl. oben A. 11. I. 148 Vgl. Stein, L. v. (1844), S. 41: "Proletarier ist der Arme, der von der Idee seiner Persönlichkeit aus Anspruch auf eine höhere Stellung und damit auf ihre Bedingung, den Besitz, macht. - Das Proletariat ist daher kein Begriff in der Wissenschaft, sondern ein Zustand in der Geschichte ... Es ist schon hieraus klar, wie der eigentliche Communismus als Ausdruck jenes Widerspruchs nur einen Punkt in einer weit tiefer gehenden Geschichte bildet, einer Geschichte, die durchaus noch ihrer vollständigen Bearbeitung entbehrt". Zum Übergang von der Gesellschaftslehre und Wissenssoziologie zur Wirtschaftstheorie und Rechtsphilosophie vgl. C. 11. dieser Arbeit.
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zeinen lumpigen Individuums ... "149 strebt, sondern das Urteil der Geschichte vollstreckt. Weil er alles bedachte, ist Hegel gewissermaßen auch zur Wiege des dialektischen Materialismus geworden: Die große Bedeutung Hegels liegt darin, das allgemeine Leben der Welt und der Persönlichkeiten als Ganzes zu begreifen, das sich in seinen Momenten organisch entfaltet, und in weIchem daher das Einzelne nichts fiir sich, alles nur als Glied an diesem Ganzen ist. Demzufolge ist in jenem absoluten Communismus die Menschheit selbst die einzige wahre Persönlichkeit, an der das Einzelne ... ein verschwindendes Glied, und daher alle Einzelnen wesentlich dadurch gleich sind, dass sie ... als Individuen gleich wenig bedeuten. 150
Der dialektische Materialismus tauscht die idealistische Dialektik gegen einen Hypernaturalismus als Entwicklungsprinzip. Zwar wechselt das Subjekt der Geschichte, aber die Unerbittlichkeit der historischen Entwicklung bleibt dieselbe: ... was ... von der Natur, das gilt auch von der Gesellschaft ... je mehr sie dem puren Zufall überlassen scheint, desto mehr setzen sich in diesem Zufall die ihr eigentümlichen, innewohnenden Gesetze wie mit Naturnotwendigkeit durch. 151
Nach dieser Prämisse prognostizierten Marx und Engels folgerichtig nicht nur die gesellschaftliche Umwälzung als solche, sondern die soziale Revolution. Ausbeutung sei die Grundlage der gesamten Zivilisation, deshalb " ... bewegt sich ihre ganze Entwicklung in einem fortdauernden Widerspruch. Jeder Fortschritt der Produktion ist gleichzeitig ein Rückschritt in der Lage der unterdrückten Klasse, d. h. der großen Mehrheit". 152 Es handeln nicht mehr Personen I53 , sondern Klassen. - Und deren Verhalten ist seinerseits ein Resultat
149 Engels, Fr., Über den Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats, 4. Aufl. 1892, Stuttgart, S. 186.
ISO Stein, L., Der Begriff der Arbeit und die Principien des Arbeitslohnes in ihrem Verhältnisse zum Socialismus und Communismus, in: Zeitschrift fiir die gesammte Staatswissenschaft, Bd. 3 (1846), S. 233 ff. (239). 151
Engels, Fr. (1892), S. 184.
152
Ebd., S. 186 f.
Dabei hatte der junge Engels an Marx geschrieben: "Wir müssen vom Ich, vom empirischen, leibhaftigen Individuum ausgehen, um ... uns von da aus zu ,dem Menschen' zu erheben. ,Der Mensch' ist immer eine Spukgestalt, solange er nicht an dem empirischen Menschen seine Basis hat. Kurz, wir müssen vom Empirismus und Materialismus ausgehen, wenn unsere Gedanken und namentlich unser ,Mensch' etwas wahres sein sollen; wir müssen das Allgemeine vom Einzelnen ableiten, nicht aus sich selbst oder aus der Luft a la HegeI" (Engels, Fr., Brief an Marx vom 19.11.1844, in, Bebe!. A. I Bernstein, E. (Hrsg.), Der Briefwechsel zwischen Friedrich Engels und Karl Marx, 153
132
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ökonomischer Gesetze. Mit einem Satz: Abstrakte Mengenverhältnisse bestimmen nicht nur das Marktgeschehen, sie sind darüber hinaus die Urheber des historischen Prozesses; 154 der Mensch ist dem Fluch der Materie unterworfen. 155 Das Verhältnis zwischen Freiheit und Gleichheit wird ausschließlich als Attribut größerer Aggregate bedacht und nicht mehr auf die einzelne Person bezogen. Die Geschichte beantwortet die Frage nach der Gerechtigkeit und das Recht wird zum bloßen Annex des ins überzeitliche erweiterten Klasseninteresses. Justitia ist nicht mehr blind, sondern weiß genau, wo sie zu stehen hat: Das Recht wird als ein Epiphänomen des Kampfes zwischen Unterdtückern und Unterdrückten erkannt; ein Kampf, der auf allen Stufen gesellschaftlicher Entwicklung ausschließlich von ökonomischen Gesetzen bestimmt wird . ... wenn eine Gesellschaft dem Naturgesetz ihrer Bewegung auf die Spur gekommen ist ... , kann sie naturgemäße Entwicklungsphasen weder überspringen noch wegdekretieren ... Weniger als jeder andere kann mein Standpunkt, der die Entwicklung der ökonomischen Gesellschaftsformation als einen naturgeschichtlichen Prozeß auffaßt, den einzelnen verantwortlich machen für Verhältnisse, deren Geschöpf er sozial bleibt, sosehr er sich auch subjektiv über sie erheben mag. 156 Der Kapitalismus, die Bourgeoisie und abstrakt-allgemeine Rechtsprinzipien bedingen bei Marx und Stein einander. Während Stein bei aller Kritik die egalitäre Erwerbsgesellschaft und das abstrakte Recht als einen Durchbruch zur individuellen Freiheit und Wendepunkt der Geschichte feiert, bedeuten Marx und Engels die Genese und der Sieg des Kapitals über die agrarische Gesellschaft " ... nur die Expropriation der unmittelbaren Produzenten, d. h. die Auflösung des auf eigener Arbeit beruhenden Privateigentums"157: Die industrielle Massenproduktion lindert nicht die Not, sie treibt bloß das Bürgertum zur Revolution gegen feudalistische Erwerbsschranken. Der am Markt gemessene TauschBd. I, Stuttgart 1913, S. 4-9 (7). Beides wird deutlich: der junghegelianische Hyperrealismus wie die Abhängigkeit von Hegels trichotomischen Schema. 154 Vgl. Marx, K., Das Kapital, Bd. I, Vorwort zur I. Aufl., in: MEW Bd. 23, Berlin 1977, S. 12: .,An und für sich .... handelt [es] sich um diese Gesetze selbst, um diese mit
eherner Notwendigkeit wirkenden und sich durchsetzenden Tendenzen".
155 Vgl. Servier, J., Der Traum von der großen Harmonie. Eine Geschichte der Utopie, München 1971 (ursprünglich: Paris [Gallimard] 1967), S. 265 f.: .. Für Marx mußte diese so heiß ersehnte und unvermeidliche Revolution die un-entbehrliche Katastrophe sein, mit der eine verfluchte Epoche zu Ende geht, und der Beginn einer neuen .Sonne'. Der Mensch wird durch sie geläutert werden, befreit von der Gier nach Reichtümern, diesem Übel, das durch den allzu lange andauemden Zwang ungerechter Gesetze erzeugt wurde ... Die neue Gesellschaft, die aus der Revolution hervorgeht und von ihr geprägt wird, wird allen Menschen Freiheit und volle Entfaltung möglich machen". 156
Marx, K., Das Kapital I, Vorwort zur ersten Aufl., S. 15 f.
157 Ebd., S. 789.
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wert der Waren privilegiert den Geldbesitz, steigert die unpersönliche Macht der Bourgeoisie und verwandelt Handwerker und Bauern zu Dienern der Maschine. "Wo die Maschine allmählich ein Produktions-Feld ergreift, produziert sie chronisches Elend in der mit ihr konkurrierenden Arbeiterschaft". 158 Die Verlängerung der Handlungsketten im Produktionsprozess einerseits, andererseits die Konzentration des Kapitals in den Händen von immer weniger Bourgeois erzwingen das formell-allgemeine und gleiche Recht rur alle, die formelle Garantie der Freiheit des einzelnen und den Schutz des einzelnen Privateigentums. Dieses formelle Recht bringt keine wirkliche Freiheit, sondern dient lediglich dazu, das allgegenwärtige Elend zu verdecken. Tatsächlich bringt es nur den Schutz einzelner Privateigentümer und bevorzugt das Verwertungsinteresse des Kapitals. Endlich erlaubt die außerordentlich erhöhte Produktivkraft in den Sphären der großen Industrie, begleitet, wie sie ist, von intensiv und extensiv gesteigerter Ausbeutung der Arbeitskraft in allen übrigen Produktionssphären, einen stets größeren Teil der Arbeiterklasse unproduktiv zu verwenden und so namentlich die alten Haussklaven unter dem Namen der .,dienenden Klasse", wie Bediente, Mägde, Lakaien usw. stets massenhafter zu produzieren. 159
Hegels Weltgeist benutzte noch welthistorische Persönlichkeiten, große Geister als seine Geschäftsführer; er ließ der individuellen Tat Gestaltungsmöglichkeiten. Marx dagegen schließt die metaphysische Hinterwelt mit der konkreten Wirklichkeit kurz. Der historische Prozess macht alle zu Opfern; er kennt keine Täter: Für die calvinistischen Sekten erwählte Gott vor der Zeit die einen zur ewigen Gnade und stieß die anderen in ewige Verdammnis; im historischen Materialismus ist dem Kapitalisten das blutige Morgenrot der Revolution unausweichlich vorherbestimmt: ... die kapitalistische Produktion erzeugt mit der Notwendigkeit einer Naturkatastrophe ihre eigene Negation. Es ist Negation der Negation. Diese stellt nicht das Privateigentum wieder her, wohl aber das individuelle Eigentum auf Grundlage der Errungenschaften der kapitalistischen Ära: der Kooperation und des Gemeinbesitzes der Erde und der durch die Arbeit selbst produzierten Produktionsmittel ... Dort handelte es sich um die Expropriation der Volksmasse durch wenige Usurpatoren, hier handelt es sich um die Expropriation weniger Usurpatoren durch die Volksmasse. 160
Ungeachtet des revolutionären Pathos und sozialdarwinistischer Anklänge geraten Marx die vergesellschafteten Fabrikhallen zum neuen Jerusalem. Die 158
Ebd., S. 454.
159
Ebd., S. 469.
160
Ebd., S. 791.
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B. Geistmetaphysik, Philosophiegeschichte und Historische Soziologie
drei Bände des Kapitals beschreiben nicht nur Genese, Geschichte und Struktur des Kapitals, sondern auch den Prozess der Entfremdung seiner Produzenten im Schein ihres Wesens. Der dritte Band erzählt den Gipfel und Umschlag der kapitalistischen Produktionsweise aus der Anarchie der Märkte in die Freiheit der gesellschaftlich kontrollierten Produktionsgemeinschaften; er verheißt den Sieg des wahren Menschen. Wir haben gesehen, daß der kapitalistische Produktionsprozeß eine geschichtlich bestimmte Form des gesellschaftlichen Produktionsprozesses überhaupt ist ... Wir sahen ferner: das Kapital- und der Kapitalist ist nur das personifizierte Kapital ...-, also das Kapital pumpt in dem ihm entsprechenden gesellschaftlichen Produktionsprozeß ein bestimmtes Quantum Mehrarbeit aus den unmittelbaren Produzenten oder Arbeitern heraus, Mehrarbeit, die jenes ohne Äquivalent erhält und die ihrem Wesen nach immer Zwangsarbeit bleibt ... 161
Die kapitalistische Produktion trägt dennoch den Keim einer höheren Gesellschaftsordnung in sich; sie bleibt hinter der Vergesellschaftung der wahren Produzenten, d. h. der Arbeiter zurück und erreicht den Punctum saliens, an dem der wahre Mensch aus demfalschen Schein seiner geschundenen Existenz nach " ... den früheren Formen der Sklaverei, der Leibeigenschaft usw .... "162 wiederaufersteht. Die kapitalistische Produktion ... führt so ... eine Stufe herbei, wo ... sie die materiellen Mittel und den Keim zu Verhältnissen [schafft], die in einer höhern Form der Gesellschaft erlauben, diese Mehrarbeit zu verbinden mit einer größeren Beschränkung der der materiellen Arbeit überhaupt gewidmeten Zeit. 163
Produktivität und Vergesellschaftung werden zum Schlüssel ins Paradies der Werktätigen. Nach der Vergesellschaftung der Produktivkräfte wird die Sozialisierung des Besitzes die Entfremdung des Menschen von seiner Arbeit und deren Produkten durchbrechen. Dann findet der wahre Mensch zu sich; er wird vorn Fluch der Materie befreit. Das gnostizistische Motiv einer gottverstoßenen Welt durchbricht die ökonomische Theorie. In der zukünftigen, höheren Gesellschaftsformation sollen die "assoziierten Produzenten" die Arbeit ... mit dem geringsten Kraftaufwand und unter den ihrer menschlichen Natur würdigsten und adäquatesten Bedingungen vollziehen ... Aber es bleibt dies immer ein Reich der Notwendigkeit. Jenseits desselben beginnt die menschliche Kraft-Entwicklung, die sich als Selbstzweck gilt, das wahre Reich der Freiheit, das aber nur auf je-
161 Marx, K., Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Bd. II1: Der Gesamtprozeß der kapitalistischen Produktion, (Ost-)Berlin 1964, S. 826 f. 162
Ebd., S. 827.
163
Ebd.
I. Metaphysik (Logik) und praktische Philosophie bei Hegel
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nem Reich der Notwendigkeit als seiner Basis aufbauen kann. Die Verkürzung des Arbeitstags ist die Grundbedingung. 164
Die Hegeische Philosophie sei der Höhepunkt und Umschlag einer fortlaufenden Entfremdung des Menschen. Hegel habe in der Rechtsphilosophie zwar den der eigenen Gesellschaft "entfremdeten" preußischen Staatsapparat überhöht, philosophisch sanktioniert und (schein-)legitimiert; seine Dialektik habe aber den Schlüssel zum wahren Verständnis des historischen Prozesses hinterlassen. Marx stellt der sich in der bürgerlichen Rechtswissenschaft, Nationalökonomie und Philosophie spiegelnden, von ihrem eigentlichen Wesen entfremdeten Existenz des Menschen den dialektischen Materialismus entgegen. Der falsche Schein von Hegels "Überbaudialektik" muss Marx zufolge lediglich seiner Mystizismen entkleidet werden, bevor die Produktivität des wahren Widerspruchs anfängt zu wirken. Ich bekannte mich daher offen als Schüler jenes großen Denkers ... Die Mystifikation, welche die Dialektik in Hegels Händen erleidet, verhindert in keiner Weise, daß er ihre allgemeinen Bewegungsformen zuerst in umfassender und bewußter Weise dargestellt hat. Sie steht bei ihm auf dem Kopf. Man muß sie umstülpen, um den rationellen Kern in der mystischen Hülle zu entdecken ... In ihrer rationellen Gestalt ist sie dem Bürgertum ... ein Ärgernis und ein Greuel, weil sie in dem positiven Verständnis des Bestehenden zugleich auch das Verständnis seiner Negation, seines notwendigen Untergangs einschließt, jede gewordene Form im Flusse der Bewegung also auch nach ihrer vergänglichen Seite auffaßt, sich durch nichts imponieren läßt, ihrem Wesen nach kritisch und revolutionär ist. 165
Die abstrakten Allgemeinbegriffe Hegels weichen dem Leben der sich selbst schaffenden Menschheit und werden von den wirklichen Bestimmungsfaktoren ihrer Geschichte und Gesellschaft abgelöst. Der wahre Mensch und die wirklichen Determinanten seines Daseins sind weder "intelligible Wesen", noch erfasst der ideelle "Überbau", kurz die Ideologie des Bürgertums die gesellschaftliche Basis, d. h. die im Kapital beschriebenen Bewegungsgesetze der kapitalistischen Produktion. Die Interessen und Ziele des "wahren Menschen" gehören der höheren Stufe der menschlichen Entwicklung an. Dort wird der Mensch endlich zum wahren Schöpfer seiner selbst und verwirklicht sich selbst als Teil der Gesellschaft. Die Gattung Mensch und das Einzelich fallen zusammen. Hegels sittliche Idee wird von wirklichen Subjekten verdrängt, die wiederum aufgehen in der Einheit der wahren Gesellschaft; erst dann werden die wahren Akteure in Hegels Weltgericht zum wahren Subjekt ihrer Geschichte, womit die wirkliche Geschichte der wahren Freiheit beginnt. Der Traum der Identitätsphilosophie wird hyperrealistisch weitergeträumt: Nicht mehr die 164
Ebd., S. 828. Vgl. auch C. IlI. I. und V. 2.
165
Marx, K., Das Kapital, Bd. I, Nachwort zur zweiten Auflage, S. 27 f.
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Willkür von Personen, die Geschichte selbst wird den neuen Menschen schaffen. Der Staat wird dann verschwinden und durch spezialisierte Verwaltungsorgane ersetzt werden. Er wird sich, wie es schon Saint-Simon wollte, damit begnügen, Sachen zu verwalten, anstatt über Menschen zu herrschen, und wird überflüssig werden, wenn die Menschen kein anderes Ziel mehr kennen als die kollektive Arbeit und das Glück der Menschheit ... : die Herrschaft der Armen auf Erden, das Reich der freien Menschen, die bereit sind, ihre Freiheit im Namen der neuen Gesellschaft zu op-
fern. 166
So wenig, wie die Trennung von Individuum, Gesellschaft und Staat bestehen bleibt, kennt der dialektische Materialismus inmitten der gesellschaftlichen Mächte einen Freiraum der einzelnen. Die Differenz zwischen Gesellschaft und Staat wird so verworfen, wie der Unterschied zwischen der wirklichen Person und der Gattung. Der Staat " ... ist vielmehr ein Produkt der Gesellschaft auf bestimmter Entwicklungsstufe; er ist das Eingeständnis, daß diese Gesellschaft ... sich in unversöhnliche Gegensätze gespalten hat, die zu bannen sie ohnmächtig ist".167 Die Gesellschaft erscheint entweder als Schauplatz und Produkt des seine Formen wechselnden, aber den Klassenantagonismus als solchen beibehaltenden Klassenkampfes, oder sie wird mit der kommunistischen Endzeitgesellschaft in eins gesetzt. Die Gesellschaft, die die Produktion auf Grundlage freier und gleicher Assoziation der Produzenten neu organisiert, versetzt die ganze Staatsmaschine ... in's Museum für Altertümer, neben das Spinnrad und die bronzene Axt. 168
Die im Gegensatz zu Hegel durchweg abgelehnte Individualisierung der Gesellschaft und Trennung von Staat und Gesellschaft ruht auf einer ontologisierenden Anthropologie, die der Freiheit des einzelnen keine Chance lässt. Der Begriff der Gattung Mensch gewinnt eine stärkere Realität als die konkrete, "vereinzelte" Person. Kant hatte mit der Verlagerung des Sittengesetzes in transzendente Räume den Grund dafiir bereitet, die Freiheitsvorstellung von konkreten Erscheinungen zu lösen und als eine unbedingte Forderung der Vernunft zu begreifen. Hegels objektiver Idealismus deutete das Sittengesetz gleichermaßen als Besitz wirklicher Individuen wie Selbstrealisation des Absoluten in der Zeit. Marx ergriff Schwert und Scheide; er verband Kant und Hegel, indem er einerseits die Kluft zwischen der phänomenalen Welt und Kants noumenalem Reich der Vernunft leugnet und als Eigentum des wahren Menschen bestimmt, anderer166 167
Servier, J. (1971), S. 266. Engels, Fr. (1892), S. 177.
168 Ebd., S. 182.
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seits dessen Reich der Freiheit mit dem Untergang der kapitalistischen Welt und dem Sieg des Sozialismus beginnen lässt: Kants Vemunftgesetz wird als der gefallene Logos erkannt und am Ende der Zeit vom Proletariat aus seiner Knechtschaft unter der Materie erlöst. 169 Sieht man diese Tiefenstruktur im dialektischen Materialismus, wird dessen Sprengkraft verständlich. Die Kritik am Idealismus fällt auf Marx zurück. Der Vorwurf, dass im Idealismus etwas Jenseitiges, nämlich die Idee der Sittlichkeit, also eine menschliche Projektion den Menschen fesselt, triffi zwar zu - fUhrt aber zu anderen als den von Marx gezogenen Folgerungen. Hegel "explizierte" Kant, als er die Hypostasen der Vernunft und die Prozessualität des Weltganzen über die Wirklichkeit koDkreter, eben nicht in der Bewegung des Ganzen aufgehender Personen stellte; Marx macht demgegenüber die Gesellschaft zu einem Kollektivsubjekt, ohne sie zu strukturieren. Ist das Kollektivsubjekt in der Theorie etabliert, bleibt fiir die Komplexität konkreter Personen und Verhältnisse wenig Platz. In der Marxschen Klassentheorie werden die vielschichtige Sozial- und Rechtstheorie Hegels mit ihrer metaphysischen Hyperstruktur ersetzt von der Hypostasierung des Proletariats zum Ganzen der Gesellschaft; Marx schuf damit weniger eine Sozialtheorie des Kapitalismus als eine Metaphysik ohne Transzendenz: Der dialektische Materialismus verspricht Klarheit, entspricht dem Sinnbedürfnis und entfaltet folgerichtig ,,kryptoreligiöse" Wirkung.
169 Vgl. Koslowski, P. (2001), S. 838 f.: ,,zur Modeme und ihrem Gedanken der Versöhnung der Widersprüche im Fortschritt der Zeit gehört neben dem Progressismus notwendig der Gedanke der Utopie. Die Utopie ist die Erwartung einer inner-weltlichen Autbebung aller Widersprüche in der nahen Zukunft ... Zur Modeme gehört die geschichtsphilosophische Naherwartung in der szientistischen Variante der Autbebung der Widersprüche durch vollständiges positives Wissen von der Welt im Positivismus, in der dialektischen Variante Hegels durch die Autbebung der Widersprüche im absoluten Geist und in ihrer politisch-ökonomischen Variante von Marx durch Autbebung der Widersprüche in der Vergesellschaftung der Produktionsmittel. Alle drei Formen der innerweltlichen Naherwartung stehen im Gegensatz zum mystischen Gedanken eines Ertragens, Verwindens und Ausgleichens der Widersprüche im Hier und Jetzt, im mystischen Augenblick, und im Gegensatz zur Idee der Philosophie der Offenbarung, dass Versöhnung ein Geschehenes ist, das noch geschieht". Steins "aufgeklärter Personalismus" fügt sich in die christliche Überlieferung, ohne deren mystischem Gehalt zu erliegen.
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B. Geistmetaphysik, Philosophiegeschichte und Historische Soziologie
11. Metaphorik der Persönlichkeit und gesellschaftswissenschaftliche Analyse des Bewusstseins: Grundlagen der Steinschen Wirklichkeitswissenschajt An diesem Punkt angelangt, scheint es nur ein kleiner Schritt von der objektiven Methode Hegels zu Steins "wahrer Philosophie der Tat" - der Staatswissenschaft. Tatsächlich scheint mir der Weg von Hegel zu Max Weber jedoch kürzer als zu Lorenz von Stein. Gerade, weil Stein der idealistischen Philosophie zeitlich und systematisch so nahe stand, beherrschte er zum einen deren Konstruktionen, sah aber zum anderen ihren Mangel. Weil er beides vermeiden möchte: die ideenlose juristische Subsumption, wie die wirklichkeitsfremde philosophische Spekulation, begann sein Einstieg in die Wirklichkeitswissenschaften mit dem System der Staatswissenschaft, einem systematischen Grundriss der Statistik, Demographie (Populationistik), Volkswirtschaftslehre und Gesellschaftslehre. Das System der Staatswissenschaft sollte der neuen ,,Regierungswissenschaft" ein Fundament geben. Dieser Einstieg war jedoch ein Anfang, der zugleich eine Rückkehr, nämlich die aus der philosophischen Abstraktion zur Realität war. Dem entsprechend beginnt Steins System mit einer Einleitung, die vom Idealismus zum Realismus führt. Im Zentrum dieser Transformation steht wie in den späteren Einleitungen zu den Lehrbüchern der Volkswirtschaftslehre, der Finanzwissenschaft und der Nationalökonomie, der Verwaltungslehre und dem Handbuch der Verwaltungslehre der Persönlichkeitsbegriff. Wie unklar dieser Begriff auch immer gefasst sein mag, er bildet den Dreh- und Angelpunkt von Steins Schaffen. Im Folgenden werden zunächst die Metaphorik der Persönlichkeit vorgestellt und in die darauf bauende Begrifflichkeit eingeführt. Das komplexe Zusammenspiel von Begriff und Leben, Person und Lebensverhältnis mündet - wenn auch rudimentär dargestellt - in eine Fundierung der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, die bei allem "Idealismus" die Interaktionen in Gesellschaft und Staat realistischer abbildet als die "leidenschaftliche Leidenschaftslosigkeit" Max Webers und die "introspektive Induktion" Wilhelm Diltheys. Zur Veranschaulichung dieser Position werden anschließend Gemeinsamkeiten zwischen Hegel und seinen agnostischen Epigonen, Verbindungslinien zwischen methodologischen Aussagen der HegeIschen Geschichts- und Sozialphilosophie und einführenden Sätzen der "verstehenden Soziologie" Max Webers sowie dem ,,Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften" der historisierenden Phänomenologie Diltheys gezeigt. Abschließend fasst ein vergleichender Überblick die Positionen Hegels, Steins, Webers und Diltheys zusammen. Die subjektive Substanzphilosophie kann - darin stimmen alle Nachfolger und Kritiker Hegels überein - die neue Qualität der Wirklichkeit, die Diffusion der aus nahezu allen vorgegebenen Bindungen befreiten Welt nicht mehr in
11. Grundlagen der Steinschen Wirklichkeitswissenschaft
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sich aufnehmen. 170 Wo Hegel hätte differenzieren und auf die Einheit des Systems verzichten sollen, hat er vereinfacht. Er missachtete die Komplexität und vielfältigen Interaktionen der Realverhältnisse und wirklichen Personen. Der "objektive Idealismus" und nicht die Wirklichkeit erwiesen sich als falsch; man müsse sich deshalb, schreibt Lorenz von Stein, vom Zauber des Systems lösen. Eine geradezu unendliche Perspektive eröffnet sich, so wie wir die philosophische Anschauung des begrifflich Gleichen verlassen und jene Welt der Ungleichheit derselben betreten ... Die Thatsache der Ungleichheit der Gleichen, in der die bisherige Philosophie immer nur das letztere Moment erkannt hat, steht so fest, daß wir sie als eine organische, das ist als eine von dem Wesen der Persönlichkeit geforderte, aber auch das Leben derse!ben bedingende setzen dürfen. Sie ist der Grundstein aller Wissenschaft des Lebens der Gemeinschaft und darum auch der Gesellschaftslehre und ihrer Rechtswissenschaft. 171
Nicht mehr die ,,Idee", sondern dieses Leben der "ungeselligen Geselligkeit"l72 wird fiir ihn zur Chiffre wirklicher, d. h. begrenzter Freiheit. Nicht die mit der staatsbürgerlichen Gesellschaftsordnung gesetzte rechtliche Gleichheit, sondern die aus der Vielfalt individueller Handlungen hervorgehende wirkliche Ungleichheit wird zur sozial- und rechtsphilosophischen Herausforderung, wie Gegenstand von Steins gesellschaftswissenschaftlicher Arbeit. Nicht die Metaphysik 173 , sondern der handelnde Mensch steht am Anfang von Steins Gesell-
170 Steins Kritik am Idealismus, namentlich Kant und Hege!, erweist sich als zeitlos aktuel1e Herausforderung an die Sozialphilosophie. Die vielfältigen Versuche, in Hege! den Theoretiker der modernen Welt zu sehen (vgl. Ritter, J., Hege! und die französische Revolution, Frankfurt a. M. 1965; Metaphysik und Politik, Studien zu Aristoteles und Hegel, Frankfurt a. M. 1977, der ebd., S. 243, Hegels Rechtsphilosophie als die größte politische Philosophie, "... die die moderne bürgerliche Gesellschaft hervorgebracht hat", bezeichnet; Avineri, Sh. [1976]; und Hösle, V., Hegels System, Der Idealismus der Subjektivität und das Problem der Intersubjektivität, Bd. 2: System der Natur und des Geistes, Hamburg 1987, S. 471 f.), sind so zum Scheitern verurteilt, wie es von Popper, C. (The open Society and its Enemies, Bd. 2, 5. Aufl. 1966, S. 30) nicht zu rechtfertigen war, Hege! als Wegbereiter des Nationalsozialismus und seiner Verbrechen zu verurteilen.
171 Stein, L. v., Gegenwart und Zukunft der Rechts- und Staatswissenschaft Deutschlands, Stuttgart 1876, S. 133. 172 Vgl. Kant, 1., Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, in: ders., Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 1, Hrsg.: Weischädel, W., Frankfurt a. M., S. 31-50 (37). 173 Zu Hegel und Marx vgl. Rose, G., Hege! contra Sociology, London, New Jersey (Athlone Humanities Press) 1981, S. 209: "Hegel had no ,solution' to the contradictions of bourgeois productive and property relations. He searched for a different concept of law but it could only be explicated abstractly. Marx did not reso1ve these aporias in
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B. Geistmetaphysik, Philosophiegeschichte und Historische Soziologie
schaftslehre und Staatstheorie l74 . Er lehnt - wie gesagt - das Hegeische System ab, weil es keine "Externalitäten" zulässt; dort richte der Begriff, die bloße Idealität über die Wirklichkeit. Bei aller "Werdelust" fehlt der Hegeischen Philosophie Stein zufolge "der Reiz zur Tat", treten die Ergebnisse des Denkens an die Stelle der gedanklichen Arbeit. Diese kurze Bemerkung im zweiten Band der Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich bezeichnet präziser als langatmige Kritiken den Punkt, an dem Stein sich von Hegel trennt und eigene Wege geht. Die Geschmeidigkeit seiner Reflexionen über die Wechselwirkung von Gesellschaftsstruktur und philosophischer Konstruktion führt nicht zum Sieg trunkener Dialektik über die Wahrheit der Tatsachen, sie erklärt vielmehr wissenssoziologisch die Radikalisierung der Philosophie im vorrevolutionären Frankreich. 175 Man sollte nicht übersehen, dass "die Geschichte der sozialen Bewegung" mitnichten - wie vielfach behauptet l76 - ein abschreckendes Bild der französischen Zustände zeichnet, im Gegenteil: Deutschland habe den Absolutismus politisch nicht überwunden, sondern nur mit einer Revolution des Geistes, mit einer neuen Philosophie beantwortet. 177 Ob bereits während der Mitarbeit bei den ,,Deutschen Jahrbüchern" oder erst während seines Parisaufenthaltes, Steins Denken verfolgt von Anfang an weder die Selbstentfaltung des Begriffs, noch entspricht die den Franzosen zugeschriebene und von ihnen zumindest teilweise übernommene Philosophie der Tat dem junghegelianischen Hyperrea-
Hegel's position. He inherited them and retumed to a pre-Hegelian position by reading Hegel non-speculatively and by reviving the dichotomies which Hegel had sought to expose as rooted in bourgeois social relations. A speculative reading of social and philosophical contradictions anticipates and accounts for subsequent non-speculative misreadings of the speculative discourse. Speculative discourse recognizes the difference between concept and reality. But Marx's non-speculative presentation does not anticipate and cannot account for the subsequent fate ofthe ideas represented". 174 Vgl. Stein, L. V., Gegenwart ... , S. 113 f.: "Erst die That des Menschen nimmt Art und Maß in sich auf; erst bei ihr beginnt die Ungleichheit; erst das, was der Mensch thut, erzeugt ein ungleiches Verhalten zur Gemeinschaft, welche nur durch sie möglich ist ... Ist auf diese Weise jene Un-Gleichheit zum organischen Faktor des Lebens geworden, so wird die That, welche sie erzeugt, ihre Quelle wieder einerseits in der freien Selbstbestimmung der Persönlichkeit finden, anderseits aber in den Elementen derselben haben ... Im ersten Falle wird die Ungleichheit aus der Gleichheit durch die That des Menschen entstehen; im zweiten aber wird diese durch die elementaren Verhältnisse der Persönlichkeit gesetzte Ungleichheit durch die That wieder zur Gleichheit werden". 175
Vgl. C. 11.
176
Vgl. Quesel (1989), Hahn (1969), Pross (1966), Blasius (1970).
177
Vgl. Stein, L. v., Soz. 8ew. 11, S. 236 und Anhang.
11. Grundlagen der Steinschen Wirklichkeitswissenschaft
141
lismus. 178 Zwar steht die erste Auflage des Buches über den französischen Sozialismus und Kommunismus ... noch im Banne des Hegeischen Weltgeistes und der Weltvernunft und des Volksgeistes der Historischen Schule. Aber gerade seine gesellschaftswissenschaftlichen Forschungen führen ihn zu einer anthropologischen Besinnung, bis er ... 1852 zu einer eigenen, systematisch und klar durchdachten Auffassung vom Wesen und Sinn des Menschen kommt, die über Hegel und die Historische Schule hinausführt, aber die Anlehnung an philosophische Anschauungen des Fichteschen und Kantschen Idealismus und an die anthropologischen Untersuchungen des französischen Sozialismus nicht verleugnet ... Während der Ausgangspunkt der Transzendentalphilosophie die Genesis des Bewußtseins ist, ist es in Steins historischer Gesellschaftslehre die Genesis des handelnden, historisch tätigen Menschen. 179
Dass Hegels System als System scheitern musste l80 , hat Stein nicht daran gehindert, in seiner Gesellschafts- und Verwaltungslehre auf methodische Grundannahmen Hegels zurückzugreifen und sie - unter Berücksichtigung der Einwände von Seiten der Historischen Schule (des Rechts) - der Wirklichkeitswis-
178 Nach Taschke, H. (1982), S. 264 und 272, soll Stein dem Publizisten Friedrich Eckstein gesagt haben: "Studieren Sie Kant. Später einmal können Sie ja dann auch Hegel zu lesen versuchen, aber davon können Sie keine Silbe verstehen, wenn Sie nicht vorher Kant genau durchgearbeitet haben". Stein soll insbesondere auf die Lehre von den Kategorien in der Kritik der reinen Vernunft verwiesen haben. - Anekdote oder Wahrheit - Jedenfalls erkennt Stein noch 1887: "Jeder wahre Philosoph ist daher zuerst Kantianer" (ebd., S. 272). Stein war zuerst Kantianer, blieb aber im Gegensatz zur Schulphilosophie nicht bei der begrifflichen Abstraktion stehen, sondern erweiterte den eigenen Horizont zeitlebens. Zwar findet sich auch in der Nachlassforschung der stereotype Hinweis auf seine angeblich "geniale Oberflächlichkeit": "Man kann aber auch sehen, wie er bis zum Lebensende an seinen Werken arbeitete, Absätze durchstrich, neu formulierte und wieder änderte. Besonders interessant ist dies im Manuskript seines ,Lehrbuch(s) der Nationalökonomie', 3. Aufl., 1887, und dort gerade bei der Niederschrift der letzten und ausführlichsten Fassung seiner eigenen Identitätsphilosophie der Arbeit, in der er wie in mehreren anderen nicht veröffentlichten Manuskripten vom idealen Standpunkt aus das philosophische Grundthema der Verwirklichung des Persönlichen im Natürlichen, die zweite Schöpfung, behandelt" (ebd., S. 273). Hätte man das philosophische Konzept ernst genommen, wäre der Umweg über den Nachlass nicht nötig. Stein hat oft genug und klar dargestellt, dass die vergleichsweise einfache Welt des Begriffs vor der komplexen Wirklichkeit verblasst, sobald sie sich dem Leben und der Macht der Individualität öffnet.
179 Nitzschke, H., Die Geschichtsphilosophie Lorenz von Steins. Ein Beitrag zur Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts, München u. Berlin 1932, S. 35 f. Zur Auseinandersetzung mit dem Frühsozialismus vgi. C. Ii. 180
Vgi. dazu Koslowski, S., Idealismus als Fundamentaltheismus, S. 29--{,6.
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B. Geistmetaphysik, Philosophiegeschichte und Historische Soziologie
senschaft einzuarbeiten. Er übernimmt und verbindet theistische mit realistischen Einwänden gegen den Idealismus. Weder der Systemgedanke noch das trichotomische Schema seien als solche zu kritisieren. Der Fehler des Systems resultiert aus dem Status, den Hegel der Dialektik zubilligt. Der Irrtum liegt daher nicht in einzelnen Bestimmungen der Rechts- oder Geschichtsphilosophie, er folgt daraus, dass Hegel den "Tanz im Reich der Schatten", die Selbstentfaltung des Begriffs zum Grund und Siegel der praktischen Philosophie erhebt. Steins Jugendwerk über den Sozialismus und Kommunismus in Frankreich und die darauf aufbauende Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich von 1789 bis auf unsere Tage gewinnen ihre Spannung nicht zuletzt aus dem Gegensatz zwischen französischer Tat- und deutscher Geistphilosophie l81 ; die Dichotomie zwischen den Klassenkämpfen in Frankreich und der deutschen Spekulation zwingt ihn dazu, die systematische Entfaltung dieses Gegensatzes mit den historischen Voraussetzungen seiner Gesellschaftslehre zu verbinden. Er erkennt schnell, dass diese Arbeiten nicht dazu geeignet sind, angemessen in die neue Wissenschaft der Gesellschaft einzuführen. 182 In beiden sei ein ,,Mit-
181 Wer die Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich von /789 bis au/unsere Tage genau liest, bemerkt, dass die darin kritisierten Zustände den Deutschen keineswegs nur ein abschreckendes Beispiel vor Augen führen; bei aller Kritik spart Stein weder an Lob für die ersten großen Theoretiker der sozialen Bewegung in Frankreich, Saint-Simon und Fourier, noch mit Kritik an deutschen Zuständen und deutschem Denken. Die von Angermann (1962), Hahn (1969), Blasius (1970) und Quese! (1989) Stein unterstellte konservative Abwehrhaltung lässt sich mit Quellenangaben widerlegen. 182 Vgl. Stein, L. v., Der Sozialismus in Deutschland (1852), S. 27 f.: .,Mitten in diese unsichere Bewegung der Anschauungen und politischen Zustände trat nun das Buch von L. Stein hinein: ,Der Socialismus und Communismus des heutigen Frankreich, ein Beitrag zur Zeitgeschichte' ... Stein geht von der, zum Teil auch bestimmt ausgesprochenen Ansicht aus, dass die Ideen und Bewegungen der Freiheit in Deutschland wesentlich auf dem Hintergrunde der französischen Entwickelung beruhen; daß sie dies gethan haben seit dem vorigen Jahrhundert, und daß voraussichtlich auch in nächster Zeit der Gang der Dinge in Deutschland noch von der Entwickelung Frankreichs abhängen werde ... , weil eben in Frankreich die stufenweise Ausbildung der Freiheitsideen in ganz bestimmten Thatsachen erscheine ... Was daher in Frankreich als Thatsache gefunden werde, das müsse für andere Länder als Gesetz ihres innem Lebens erkannt werden. In diesem Sinne sei Frankreich das Vaterland der politischen Bewegung". Zu dieser Zeit ist Stein noch zu sehr dem Stufenschema der Hegeischen Geschichtsphilosophie verpflichtet. Die Selbständigkeit der .,Faktoren des wirklichen Lebens" wird nicht hinreichend berücksichtigt.
II. Grundlagen der Steinschen Wirklichkeitswissenschaft
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telding zwischen einer Geschichte und einer systematischen Auffassung des Gesellschaftsbegriffs"183 herausgekommen. 184 Bei allen Mängeln im einzelnen ist er sich dennoch sicher, die Grundlagen der neuen Wissenschaft gefunden zu haben. Jetzt werde es möglich, die Bewegungsgesetze innerhalb der Gesellschaft zu analysieren und deren Zukunft zu gestalten. Die Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich habe gezeigt, dass ... die Geschichte der Staatsverfassungen ... zu einer Geschichte der Gesellschaft wird. Wenn dem aber so ist, so folgt, daß dieselben Gesetze, welche die Entwicklungsgeschichte der GeselJschaft beherrschen, nun auch diejenigen sein müssen, welche als die festen Gesetze der Geschichte des Rechtslebens dastehen. Dieses allgemeine Entwicklungsgesetz nun leitet der Verfasser aus dem tiefen Wesen der Persönlichkeit her, und findet es wesentlich in dem Kampfe der freien Arbeit mit dem arbeitslosen Capital und seiner gesellschaftlichen und staatlichen Herrschaft. Es war ganz natürlich, daß ein solches System heftigen Widerspruch fand, daneben freilich auch offene Anerkennung ... Es wird klar sein, daß damit der Boden und die Betrachtungsweise des französischen Socialismus gänzlich verlassen war; der Socialismus und Communismus im bisherigen Sinn des Wortes sind zu bloßen Einzelerscheinungen an einer unendlich viel größeren Frage geworden, und wir dürfen hoffen, daß an ihre StelJe von jetzt an eine eigenthümlich deutsche Wissenschaft der Gesellschaft treten wird. 185 Mit der Geschichte der sozialen Bewegung hat Stein ein neues Fundament für die staatswissenschaftlichen Fächer geschaffen. Dabei standen bereits 1843 die Grundlagen seines philosophischen Konzepts, einer keineswegs bloß synkretistischen Verbindung der drei Protagonisten der Identitätsphilosophie, Kant, Fichte und Schelling fest: Weder das absolute Ich noch die in Geist und Natur depotenziert, d. h. getrennt erscheinende Identität von Intelligenz und Materie, noch der Sieg des Begriffs über seine Erscheinungen liegen der wahren Identität der Gegensätze zu Grunde. Die philosophische Begründung des "allgemeinen deutschen Staatsrechts" von 1843 gipfelt in der Einsicht: ,,Der Wille des Staats soll der Wille einer einzelnen Persönlichkeit und doch zugleich der persönlich gewordene Wille aller - der freien Staatsbürger sein". 186 Man ahnt den 183 Ebd., S. 60. 184 Vgl. ebd.: "Aber diese Natur der Sache war im Grunde kein Vorteil für das Werk selbst, das dadurch ein Mittelding zwischen einer Geschichte und einer systematischen Auffassung des GeselJschaftsbegriff werden mußte". 185 Ebd., S. 61. 186 Stein, L. v., AlJgemeines deutsches Staatsrecht (Vorlesungsmanuskript), in: Taschke, H., Lorenz von Steins nachgelassene staatsrechtliche und rechtsphilosophische Vorlesungsmanuskripte, Heidelberg 1985, S. 78.
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B. Geistmetaphysik, Philosophiegeschichte und Historische Soziologie
Streit im Hintergrund, wenn Stein die liberale und die junghegelianische Position gleichermaßen ablehnt: "Ihr Mangel liegt eben darin, ein Moment des Staats als das allgemeine Wesen des Staats hinzustellen. Sie wollen, dass dieses Moment alle übrigen beherrschen SOll".187 Bereits auf abstrakter, d. h. rein begrifflicher Ebene wird die Kluft zwischen ihm und den Junghegelianern deutlich: Stein fordert nicht den Vorrang der allgemeinen, sondern den der individuellen Persönlichkeit: Wer die Unendlichkeit im einzelnen findet und dessen Freiheit metaphysisch begründet, lehnt bei aller Bewunderung die "großartige HegeIsche Philosophie" und den Vorrang des Allgemeinen ab. 1846 steht in dem Vorlesungsmanuskript "Geschichte der Rechtsphilosophie" zu Hegels Philosophie: Das Überwältigende liegt darin, daß mit dem einfachen Gesetz des Denkens und Seins ich das Wissen von allem Seienden im Organismus und Keime besitze ... Der Mangel im Allgemeinen liegt darin, daß von allem Besonderen nur das gewußt wird, was dasselbe zum Allgemeinen macht. Die ganze Geschichte der Rechtsphilosophie bernht auf dem Satz der unendlichen Bestimmung des Einzelnen. Statt der Unendlichkeit des Einzelnen hat Hegel nur die Unendlichkeit des Ganzen. Daher kommt er nur zur Freiheit des Staats und seines Organismus' nicht aber zur Freiheit des Staatsbürgers. 188
In der ersten Auflage seines Buches über den Sozialismus und Kommunismus in Frankreich von 1842 hatte Stein den Dissens zu den Junghegelianern noch in Hegelscher Terminologie vorgetragen und sich selbst als Teil der neuen Philosophie begriffen. Aber schon hier wird deren eschatologische Hoffnung von zeitjreien Strukturbestimmungen überlagert; ohne auf ein definitives Ziel, einen bestimmten Zustand zuzulaufen, bringen diese den Prozess der Zivilisation voran. Nicht ein vorherbestimmtes Ergebnis, sondern die Bewegung selbst steht am Ende der somit wieder offenen Geschichte: Die innere Arbeit der Geschichte ist immer die Verwirklichung der Civilisation durch das Voran schreiten des Einen und das Nachfolgen der Anderen gewesen [ ..// .. ] ... ; wir beginnen zu begreifen, was durch uns geschieht ... Stehen wir nicht wirklich auf der Stufe, von der aus es ewigen Fortschritt, aber keinen Kampf mit einer Negation ihrer Forderungen giebt? Mag auch manches, und manches Große sogar mit der Bewegung der Civilisation zu erreichen sein - zwischen der Verwirklichung derselben und der Gegenwart liegt nur die Zeit, und mit dieser darf der Einzelne nicht rechten. 189
187 Ebd., S. 83. 188 Stein, L. v., Geschichte der Rechtsphilosophie 1846 (Vorlesungsmanuskript), in: Taschke, H., S. 184. 189 Stein, L., Der Socialismus und Communismus des heutigen Frankreich. Ein Beitrag zur Zeitgeschichte, Leipzig 1842, S. 23.
11. Grundlagen der Steinschen Wirklichkeitswissenschaft
145
Stein löst sich von der Hegeischen Schule, indem er die dialektische Bewegung zwar in der Endlichkeit ablaufen sieht, zugleich aber deren absolute Grenze vom Gottesbegriff her bestimmt. Die dialektische Bewegung erreicht nicht die Substanz der Person, das Selbst, weil sie zwar deren Existenz erfasst, aber die innerliche, potentiell unendliche Gestaltungskraft am endlichen Abbild der Gottheit nicht begreifen kann. Die Unendlichkeit, die im Begriff des Werdens liegt, wird in der Natur zur Endlichkeit; die Unendlichkeit, in der Natur verwirklicht, ist zum Widerspruch mit sich seIber, zur endlichen Unendlichkeit geworden. 190
Er glaubt zwar zeitlebens an die Macht des Geistes und konstruiert Zusammenhänge zwischen weit entfernten Wissensprovinzen. aber er deduziert nicht nur; und dies im Gegensatz zu seinen Vorbildern und Antipoden: Kant legt der Wirklichkeit das allgemeine Vernunftgesetz zu Grunde, Fichte stellt ihr das absolut gesetzte Ich gegenüber und Hegel schickt ihr das absolute Denken kategorial voraus. Aber auch Schelling schaut in der Philosophie der Offenbarung die Versöhnung Gottes mit der Welt progressiv an, d. h. er deduziert erzählerisch, und der junghegelianische "Terrorismus der wahren Theorie" (Bruno Bauer) will den bösen Schein der falschen Wirklichkeit vernichten. 191 Im Gegensatz zu Idealismus, positiver Philosophie und Junghegelianismus bleibt der Status von Steins Kategorien hier und später darauf beschränkt, als heuristische Hilfen die philosophische Spekulation und die empirische Forschung voranzutreiben; er bleibt prekär: So sehen auch wir jenseits der Zustände des Geistes ... in eine Zukunft hinein, in der vielleicht die bekannten Gesetze gelten werden, in der aber eben so leicht sich noch andere Gültigkeiten entwickeln können, andre Gestalten und andre Bewegungen. 192
Dies Nichtwissen der Zukunft trennt ihn von seinen philosophischen Vorgängern und Zeitgenossen und erklärt die - bei aller Bewunderung - eindeutige Ablehnung des idealistischen Projekts: Als mit Kant, Fichte und Hegel vertrauter, philosophisch ambitionierter Jurist hält er an deren Idealen fest, jedoch empfindet er den Historismus wie die Philosophie der Offenbarung als Befreiung des Glaubens aus den Fesseln des Begriffs; er beachtet gleichwohl zwei Einsichten Hegels: Erstens, dass in der reinen Wissenschaft (Metaphysik) jeder Anfang kein Anfang, sondern als Reflexionsakt auf Seiendes schon Produkt, in Hegels Sprache Rückkehr ist: ,,Die Reflexion ist also die Bewegung, die, indem sie die Rückkehr ist, erst darin das ist, das anfängt oder das zurückkehrt". 193 Allgemeines deutsches Staatsrecht, S. 85.
190
Stein, L.
191
Vgl. dazu oben A. I.
192
Stein, L.
193
Hegel, Logik 11, S. 26.
V.,
V.,
System 11, S.13.
146
B. Geistmetaphysik, Philosophiegeschichte und Historische Soziologie
Zweitens daran, dass bei aller rein begrifflichen, d. h. für Stein wie Hegel spekulativen Reflexion " ... der feste Boden ... schwankt ... , und nur diese Bewegung selbst ... der Gegenstand [wird]"194. Diese Grundsätze aus Hegels Logik und Phänomenologie werden allerdings nicht metaphysisch interpretiert, sondern als heuristische Hilfen auf eine Wirklichkeit angewendet, 195 die allen Begriffen voraus und über ist und bleibt. Denn, so fasst Stein 1846 das Räsonnement über den Unterschied zwischen Gott, Person und Natur zusammen, " ... die praktische Philosophie - die Philosophie der Tat - beginnt erst bei dem Gegensatz der Idee des absolut selbstbedingenden Ichs zu dieser veränderungslosen Welt".196 Die erst noch zu schaffenden Wirklichkeitswissenschaften sollen daher ... in dem seinem Wesen nach Wechselnden den dauernden und einheitlichen Gedanken ... finden ... Sie knüpfen an die Auffassung und Darstellung des Geschehenden an, suchen zuerst die äußere Einheit desselben in der Form einer einheitlichen Geschichte zu setzen, dann heben sie das Moment heraus, das die Einheit jener Form bedingte, und ... endlich setzen sie dieses Moment selber in sein Verhältnis zum abstracten, ungeschichtlichen Princip.197 Zwar wird das begriflliche Instrumentarium laufend ausgebaut und die Position mit der Eigenart der von ihm beobachteten Phänomene 198 ständig verändert, jedoch bleiben Steins Persönlichkeitsbegriff und die Grundkategorien des Sozialen zeitlebens dieselben: Die Wirklichkeitswissenschaft der sozialen Welt entfaltet und betrachtet sich selbst als Teil des von ihr analysierten gesellschaftlichen Wandels. Die praktische Philosophie tritt begleitend hinzu und läßt als eine Philosophie der konkreten Freiheit sich auf die Dynamik einer Gesellschaft ein, deren Komplexität von keinem System einzuholen ist. Die Philosophie des wirklichen Lebens leugnet nicht die Wahrheit der Tatsachen; sie nutzt die Idee der Persönlichkeit als heuristisches Prinzip. Die selbstreflexive Identität dieser Idee begründet Steins Personalismus: Das natürliche Individuum wie die in den zwei Gestaltungen der Gemeinschaft, nämlich Gesellschaft und Staat erscheinende allgemeine Person entwickeln ihre jeweilige Persönlichkeit erst und nur insofern als die Umwelt zu einem Teil ihrer selbst wird und in ihnen widerklingt. Das Prinzip hebt ihre Individualität nicht auf, es bereichert sie vielmehr um den Niederschlag der Außenwelt im eigenen Selbst.
194
Hegel, Die Phänomenologie des Geistes, S. 57 f.
195 Vgl. dazu Hartmann (1978). 196
Stein, L.
V.,
197
Stein, L.
V.,
kunft, S. I. 198 Vgl. C. V.
Rechtsphilosophie 1846, S. 186. Der Communismus und Socialismus in Deutschland und seine Zu-
11. Grundlagen der Steinschen Wirklichkeitswissenschaft
147
Vor diesem Hintergrund war es konsequent, dass Stein zu einem der schärfsten Gegner des Hegelschen Systems und der darauf bauenden Theorien wurde. 199 Hier, im Persönlichkeitsbegriff liegen die Anfänge und die Offenheit von Steins pluralem Wissenschaftsverständnis wie die seiner sozialhistorisch fundierten positiven Philosophie, Ideologiekritik und Wissenssoziologie.
1. Kategorientafel und Zeitverhältnisse Stein entwirft Prozesskategorien, um der komplexen modemen Welt gerecht zu werden; diese sollen den sozialen Wandel erfassen. Sie setzen gleichermaßen den Rekurs auf unsere Vernunft voraus, wie sie die Aporien einer axiomatischen Kategorientafel insgesamt durchbrechen. Daraus ergibt sich eine Vielfalt der Forschungsschwerpunkte, die sich einer fachlichen Zuordnung entzieht. Eine angemesse Würdigung wird auch dadurch erschwert, dass ihre philosophischen Grundlagen zwar vorausgesetzt, aber nicht richtig "expliziert" werden: 2OO Kant - und dafür gebührt ihm in Steins Augen zeitlebens der Ruhm des philosophischen Neuanfangs - entzauberte den Mythos einer vorgegebenen, objektiven Metaphysik und göttlichen Weltordnung. Die Krise und Kritik der Vernunft zeigen dem reflektierenden Bewusstsein, dass es zwar Subjekt und Objekt der Untersuchung, aber auch der einzige Gegenstand der Reflexion ist. Daß die Beschränkung des Denkens auf die eigene Subjektivität keineswegs in die Öde führt, dafür zeugen die großen Systeme der idealistischen Philosophie, " ... Systeme, welche eben, weil sie nur als selbständig nachgedachte verstanden werden, nicht Freiheit des Geistes lehren, sondern Freiheit des Geistes sind ...... 201 Ungeachtet ihrer "großartigen Konstruktionen" sieht Stein die deutsche Philosophie seit und mit Kant auf Abwegen. Zwar habe Hegel die Kantischen Kategorien auf Zeitverhältnisse angewandt und insofern seinem System ein 199 Vgl. Taschke (1985), S. 239 f.: "Berücksichtigt man ferner, wie dem Vorlesungsmanuskript ,Geschichte der Rechtsphilosophie' zu entnehmen ist, daß der Jurist Stein sich eingehend mit der abendländischen Philosophie und insbesondere mit der Philosophie der Aufklärungszeit beschäftigt hat, muß festgehaIten werden, daß es immer schwieriger wird, die Quellen Steinschen Denkens umfassend zu ermitteln ... Das Ergebnis solcher Forschungen aber wird, das kann schon heute eindeutig gesagt werden, sein, daß Stein ein originärer Denker war, der sein Wissen aus sehr vielen Quellen bezog, der zudem in den Grundlinien seines Denkens im wesentlichen konstant blieb, in den Feinheiten seiner Definitionen, Formulierungen, Begründungen und Vorschläge sich im Laufe der Jahre jedoch immer wieder veränderte."
200
Zum konkreten Gebrauch der Begriffe vgl. 11. 8.
201
Stein, L, v. (1844), S. 28.
148
B. Geistmetaphysik, Philosophiegeschichte und Historische Soziologie
"virtuelles Leben eingehaucht", aber dieses Leben ist weder das des Absoluten noch das endlicher Wesen; es ist vielmehr die absolut gesetzte Denkbewegung; - und die ist keineswegs für die Wirklichkeit gerüstet: Hier setzt Steins sozialphilosophische Fundierung der Gesellschaftswissenschaften ein: Die idealistische Philosophie betrachtete die Wirklichkeit nur als Erscheinung und Abbild der intelligiblen, noumenalen Welt und war in die Unendlichkeit ihres Geistes gesprungen; Stein dagegen bewahrt sich den Blick für das Vexierspiel menschlicher Verhältnisse und den Wandel der "phänomenalen Welt": Sein "System" baut weder ausschließlich auf bestimmten kategorialen Einteilungen noch auf die empirische Erforschung der faktisch gegebenen Gesellschaftsordnung aur 02 ; die ständische und die staatsbürgerliche Gesellschaftsordnung seien lediglich zwei Gesellschaftsformationen unter prinzipiell nicht abschließend fixierbaren Realisationen der "Gesellschaft an sich", d. h. des Gesellschaftsbegriffs. Diese ,,reine" Gesellschaft oder die Gesellschaft des ,,Begriffs" sei nur der begrifflich "... geordnete Ausdruck eines absolut im Menschen liegenden Moments ... , eine unter allen Verhältnissen der Menschen gegenwärtige, in ihr thätige, sie bestimmende, von ihr bestimmte"203. Aus diesem Ansatz folgt dreierlei: 1. Der junge Stein versucht, die Hegeische Dialektik sowohl systematisch wie historisch in ihren prinzipiell unendlichen Verästelungen darzustellen. Mit zunehmendem Alter tritt der Dialektik des Begriffs die empirische Sozialforschung undjuristische Systematik zur Seite;
2. das gesamte Werk lebt von gedoppelten Begriffsbedeutungen, die entweder einen Gegenstand "für sich" festlegen oder aber das Verhältnis zweier sich gegenseitig bedingender ,,Momente" in einem ständig sich bewegenden Ganzen bestimmen. Wird eine Sache vom Ganzen gelöst definiert, erscheint sie als reiner Begriff und wird einem kategorialen Schema eingeordnet. Sie gewinnt aber erst Wirklichkeit, wenn sie Teil des "tätigen Lebens" wird. Haben Definition und Begriff einer Sache Eingang ins "tätige Leben" gefunden, werden sie von letzterem - weil der Begriff im prinzipiell unbegrenzbaren Lebensprozess aufgeht - zu einem Lebensbegriff relativiert. 3. Die dialektische Entfaltung des Weltganzen wird ihrerseits von einem monadischen Persönlichkeitsbegriff durchbrochen, der ähnlich der Doppelung von reinem Begriff und tätigem Leben in der Gegenüberstellung des transzendentallogisch geforderten Ich der Gottheit und des transzendenten menschlichen Ich Wirklichkeit gewinnt.
202 Anders Böckenforde (1958), S. 149. 203 Stein,
L.
V.,
System 11, S. 35.
II. Grundlagen der Steinschen Wirklichkeitswissenschaft
149
Diese drei Grundbestimmungen durchziehen das gesamte Schaffen Steins; sie zeigen, dass mit der Bezeichnung "gemäßigter Hegelianer"204 für das Verständnis seiner Methode nur insofern etwas gewonnen ist, als damit ausgesagt wird, dass nach der mit Hegel eingeleiteten Aufnahme der Geschichte in die philosophische Reflexion alle Philosophie sich auf das nunmehr vom Geist durchdrungene Endliche einlassen muss beziehungsweise in den verschiedenen ,,Fachphilosophien", d. h. Letztbegriindungsversuchen konkreter Wissenschaften aufgeht. Sie zeigen aber auch, dass Steins Berufung auf die ,,Bestimmung" des Menschen mehr als ein bloßer Glaubenssatz ist, "... dem die tiefsinnige Begriindung der Hegeischen Logik fehlt''205. Die Staats- und Gesellschaftstheorie, Wirtschafts- und Sozialwissenschaft entfaltet vielmehr den Widerspruch zwischen der "unendlichen Bestimmung" des Menschen und seiner allzu beschränkten Wirklichkeit, zwischen kategorialer Setzung und zeitlichem Wandel zu einem "organischen Ganzen". Die Individualität des Einzelnen und die Gesamtheit der in Staat und Gesellschaft ihm entgegen tretenden menschlichen Gemeinschaft durchdringen sich wechselseitig, ohne je miteinander identisch zu werden. Dieser komplexe Ansatz hat Stein zu Unrecht den Ruf eingetragen, unsaubere Begriffe zu bilden und ohne feste Basis zu argumentieren; Vorwürfe, die in der Behauptung gipfeln: "Lorenz von Steins Denken über das Verhältnis von Staat und Gesellschaft zeigt weder Kohärenz noch Logik''.206 Dem gegenüber sei daran erinnert, dass Stein schon Wh ein begriffiiches Instrumentarium bereithält, das dem Wandel seiner Gegenstände gerecht wird. Worte und Begriffe, so seine Einsicht, wechseln ihre Bedeutung, sobald die Verhältnisse, denen sie entstammen, sich ändern. Je nachdem man nun die allgemeine Grundkraft oder die besondere historische Erscheinung bezeichnen will, wird man etwas anderes sagen; immer aber doch in der Weise, daß man um der gemeinsamen Grundlage willen die verschiedenen Erscheinungen unter einen Begriff, und um der verschiedenen Erscheinungen willen denselben Begriff mit stets verschiedenen Inhalt geben wird. 207
204 "... es kommt uns dabei vor, als spräche man, wo eine Rechnung nicht stimmen will, etwa von einer gemäßigten Quadratwurzel" (Stein, L. v., Verwaltungslehre, Teil 6, 2. Aufl., S. XI). 205
Vogel (1925), S. 131.
206
Fischer, K., Die Wissenschaft der Gesellschaft. Gesellschaftsanalyse und Ge-
schichtsphilosophie des Lorenz von Stein unter besonderer Berücksichtigung seines gesellschaftswissenschaftlichen Entwurfs, Frankfurt a. M. 1990, S. 56. 207 Stein, L. v., Demokratie und Aristokratie, in: Die Gegenwart, 9. Bd., 1854, S. 306-344 (Pankoke [1974], S. 63-101 [65]).
150
B. Geistmetaphysik, Philosophiegeschichte und Historische Soziologie
Weil dem so ist, verliert nicht Stein, sondern alles Denken " ... so sehr seinen festen gegenständlichen Boden, den es am Subjekte hatte, als es im Prädicate darauf zurückgeworfen wird und in diesem nicht in sich, sondern in das Subjekt des Inhalts zuIÜckgeht"208. Er wendet diese Einsicht Hegels jedoch auf dessen Philosophie insgesamt, sich und die Realverhältnisse an. Dadurch sieht er - wie später auch Max Weber -, dass in der Hege1schen Dialektik, der "Werde1ust" des Systems, etwas liegt, ... was Jahrzehnte hindurch von ihren Anhängern übersehen wurde, was aber zwischen ihr und dem wirklichen Leben und seinem "Werden" eine unausfullbare Lücke ließ. War dies Gesetz des Werdens einer höheren Bestimmung absolut, wo blieb dann eigentlich ... der Unterschied zwischen der Natur und der Persönlichkeit, die sich ... nur noch als "Momente" zu jenem Werden verhielten, während das, "warum" sie Momente waren, jene höchste Bestimmung selbst logisch wieder selber in ihr gleichberechtigtes "Gegenteil umschlagen" mußte, die ungöttliche Bestimmung des Werdens, die Gesammtheit aller Unfertigkeit, alles Unsinns und aller Untaten des wirklichen Lebens. 209 Hegel identifizierte die Person mit dem Selbstbewusstsein und dieses mit dem absoluten Subjekt; Stein steht dieser Verkürzung der Realität auf die gedankliche Bearbeitung der Wirklichkeit zunehmend kritischer gegenüber. 210 Gerade weil er mit dem Idealismus so vertraut ist, sieht er lange vor Max Weber, dass die neue empirische Wirklichkeitswissenschaft nicht mehr auf " ... der überwältigenden Macht der Hege1schen Gedankenwelt, welcher sich auch seine Gegner ... nur langsam ... zu entziehen vermochten"211, aufbauen kann212 . Die Gesellschaftslehre zeigt nicht nur die Herrschaft des Besitzes und den Kampf zwischen ,,Höheren" und "Niederen", sondern auch den Weg, auf dem der Einzelne, die Gesellschaft und der Staat immer weiter auseinander treten und in der natürlichen die geistige Welt schaffen. Hinter diesem Ansatz verbirgt sich
208
Hegel, Die Phänomenologie des Geistes, S. 60.
209
Stein, L. v., Lehrbuch der Nationalökonomie, 3. Aufl. 1887, Wien, S. 43.
210 Zwar distanziert Stein sich - wie gezeigt - vom Junghegelianismus nach dessen erstem Auftreten als "Terrorismus der wahren Theorie", aber erst im Alter schildert er den Weg der Linkshegelianer in Terrorismus und Nihilismus: "Was half es, dies alles die ,schlechte Wirklichkeit' zu nennen? Mußte nicht sogar dialectisch jenes Gesetz, nach welchem doch das Wissen das Sein war, streng consequent zu einem Sein ohne Wissen und zu einem Wissen ohne Sein, also zu dem Gegentheil der Philosophie überhaupt fuhren? ... Gerade jenes absolute Hegel'sche Gesetz des Werdens hob nicht bloß die Kant'sche und Fichte'sche, sondern die Persönlichkeit überhaupt auf'. Stein, L. v., Lehrbuch der Nationalökonomie, 3. Aufl., S. 43 f. 211 Weber, M., Roscher und Knies ... , S. 21 f. 212 Vgl. dazu Anhang I.
11. Grundlagen der Steinschen Wirklichkeitswissenschajt
151
keine Romantik, sondern die Einsicht, dass jede Gesellschaft eine Einheit von idealen wie realen Momenten, Elementen und Faktoren darstellt; deren komplexes Zusammenspiel bestimmt die Gestalt der Gesellschaftsordnung wie die des Staats. Weder ein Schema, noch der dialektische Prozess können dem als solche gerecht werden. 213 Wo Marx / Engels die bestehenden Mißstände zur Freiheit des Gattungsmenschen aufheben und Auguste Comte insofern an SaintSimon anknüpft, als seine positive Wissenschaft gleichermaßen die Gesellschaft erforscht, wie am Ende der Geschichte das religiöse und metaphysische zum positiven Zeitalter aufhebt, kennt Stein weder ein Ende noch feste Stadien der Geschichte und " ... widerspricht dem Stadiengesetz von Comte ... Er formuliert eher in Richtung einer ,Kulturkreistheorie' (die bei Max Weber wieder aktuell ist), deren Persönlichkeitsbild sich in historischen Augenblicken aktualisiert"214. Die Differenz zwischen dem Einzelnen und der Gattung, zwischen der endlichen Person und ihrer "Bestimmung", bildet ihm die Grundlage seines Schaffens, den Fluchtpunkt der Theorie im Allgemeinen, wie der Staats- und Gesellschaftslehre, der ideologiekritischen und wissenssoziologischen Schriften, sowie insbesondere seiner philosophiehistorischen, religionssoziologischen Apercus und der historischen Klassifikationen. Er sieht den qualitativen Sprung zwischen den "unschuldigen Utopien" vergangener Zeiten und der Macht der sozialistischen Idee an der Schwelle zur industriellen Gesellschaft und dem von deren Verheißungen ausgeschlossenen Proletariat. Während Hegel aus den Aporien der theoretischen Vernunft herausfindet, indem er die Geschichte wie die einzelnen Erscheinungen insgesamt zu einem Moment seines Systems macht, begreift Stein, dass zwar alles miteinander in Verbindung steht und insofern für einander wechselseitig bedingendes Moment ist; er erkennt aber auch, dass die gesellschaftliche und staatliche Einheit sich aus unzähligen Elementen zusammensetzt, die ihre Selbständigkeit behalten. Gesellschaft und Staat bilden im Zusammenspiel der Teile mit dem Ganzen ungeachtet des historischen Wandels - die in jeder Konstellation auf einander einwirkenden Organisations formen der societas und der civitas, d. h. Grundmuster der gesellschaftlichen und der politischen Vergemeinschaftung. Art und Maß der Interaktionen zwischen beiden Sphären stehen ihrerseits in Wechsel213 Vgl. Knall! Kahlenberger (1994), S. 62: ,,Ähnlich wie Marx kommt auch Stein zu dem Schluß, ein ,Bewußtseinsprozeß' habe das Proletariat zu einer neuen sozialen Kategorie geformt, jedoch im Gegensatz zu Marx. sieht er im Proletariat keinen ,säkularistischen' Messianismus. Es war ihm wie Marx. klar, daß aus dem philosophischen Spannungsverhältnis ein realpolitisches geworden war, das soziale Ziel fiel mit dem Sollen des Menschen nicht mehr zusammen; er meinte aber im Gegensatz zu Marx, daß der Revolutionismus sozialer Bewegungen auch künftig keine Lösung dieses Konfliktfeldes herbeiführen werde." 214 Ebd., S. 55 f.
152
B. Geistmetaphysik, Philosophiegeschichte und Historische Soziologie
wirkung mit ideellen und materiellen Faktoren, die wiederum den historischen Verlauf und die Gestalt des vielschichtigen Interdependenzgeflechts zwischen Gesellschaft und Staat beeinflussen. Diese Faktoren können als welthistorische Individuen, technische Innovationen, philosophische Ideen oder neue Formen der Wissensvermittlung auftreten; entscheidend ist und bleibt, dass Stein die geistige Welt stets in Wechselwirkung mit der materiellen erforscht. Bei ihm ist Entfremdung daher gleichermaßen ein Phänomen im Industrieproletariat wie ein Problem deklassierter Bildungsschichten und Folge des utopischen Denkens. 215 Sah die an Marx, Comte und Durkheim anknüpfende Soziologie sich als wissenschaftliche Aufklärung der sozialen Entstehungsbedingungen der Philosophie und ihr Erbe, ging Steins Gesellschaftslehre einen Schritt weiter. Die Momente, Elemente und Faktoren, welche die soziale Wirklichkeit schaffen, bestimmen auch deren Spiegelung in der geistigen Welt, d. h. die Produktion und den Status des Wissens 216 . Arbeitsteilung und Produktivität müssen demzu215 ,,Alle rein geistige Arbeit hat nämlich durch das Wesen ihres Stoffes und durch die Natur der Kräfte, deren sie bedarf, das gemein, daß sie den Menschen dem wirtschaftlichen Leben und seinen Interessen entfremdet. Je höher jene geistige Arbeit steht, je weiter entfernt ihre Ergebnisse von der Anwendbarkeit im praktischen Leben sind, desto größer ist auch naturgemäß die Entfernung des geistigen Arbeiters von den Arbeiten, Zwecken und Genüssen der materiellen Welt. Dieß Verhältniß nun erzeugt bei den geistigen Arbeiten, je nach ihrem Charakter, für ihre Stellung in der äußeren Welt entweder eine große Aengstlichkeit bei allen, auf die letztere bezüglichen Handlungen, oder einen sehr festen und oft unwandelbar starken Sinn allen Einflüssen gegenüber, welche von außen her auf die geistige Welt einwirken können. Denn die geistige Arbeit ist zwar innerlich frei, aber äußerlich von den Mitteln des Besitzes durchaus abhängig" (Stein, L. v., System 11, S. 192 f.). 216 Vgl. Roeder (1968), S. 329: Stein habe nie zwischen Bildung und Ausbildung strikt geschieden, sondern stets die enge Verbindung von sozialer Lage und Bildungsstand betont. Sie " ... kehrt ins Positive um, was Marx der bürgerlichen Gesellschaft vorwirft, daß nämlich jede Arbeit einen durch ökonomische Mechanismen bestimmten Preis habe und damit als Ware erscheint". Roeder vermutet hinter Steins Apologie des Kapitalismus lediglich ein konservatives Interesse, das ideologiekritisch aufzubrechen sei: "Steins Philosophie bleibt Metaphysik in der Tradition des objektiven Idealismus. Er wirft zwar die Frage auf, ob der individuelle Ursprung des Begriffs nicht die objektive Geltung philosophischer Sätze über die ewige Ordnung des Lebens aufhebe, aber er beantwortet sie nicht. Vielmehr setzt seine Wissenschaftslehre voraus, dass unbeschadet der Individualität der Begriffe und philosophischer Systeme Wahrheit erreichbar sei. Allerdings ist es eine Wahrheit, die der Gewißheit im einzelnen nicht bedarf, deren Kriterium vielmehr in der Harmonie des Systems liegt" (ebd., S. 305). Roeders Steininterpretation bleibt ihrerseits im Geist der pädagogischen Aufklärung befangen. Die Tatsache, dass die Bildung ein marktgängiges Gut sein muss, um wirklich wertvoll zu sein,
11. Grundlagen der Steinschen Wirklichkeitswissenschaft
153
folge " ... weit genug gediehen sein, um mit einem Theile der Ueberschüsse ... die geistige Arbeit unterhalten zu können"217. Wissen und Bildung sind nicht nur wichtige Momente in der Ideengeschichte; in der Gesellschaftslehre, Geschichtsphilosophie und Sozialhistorik werden sie zu entscheidenden Realfaktoren auf dem Weg zur Gegenwart. Die Dialektik zwischen philosophischer Idee und Leben erscheint hier nicht mehr als innere und äußere Reflexion eines Ganzen, sondern als Ergebnis der Differenz zwischen Begriff und Leben, d. h. zwischen Kategorien und Realverhältnissen in Raum und Zeit Die kategorialen Schemata werden stets von dem empirisch beobachtbaren Prozess korrigiert. ... darum soll jede Wissenschaft ihre Kritik in sich selber tragen; der höchste Richter des Gedankens ist stets die letzte Folgerung die ich aus ihm zu ziehen vermag: Die Consequenzen allein sind das Gewissen des Princips, und die Ohnmacht des Begriffes gegenüber der Thatsache ist nie ein angenommenes unnahbares Wesen der letzteren, sondern der Fehler des ersteren. 218
An die Stelle der dialektischen Methode tritt die wechselseitige Inhärenz des Besonderen; die ineinander stehenden Elemente und Faktoren negieren einander nicht im Prozess des zu sich zurückkehrenden Ganzen, sie spiegeln vielmehr das Ganze im Individuellen. Mit dieser vordergründig hegelianisierenden, tatsächlich aber monadischen Prämisse seiner Gesellschaftslehre wurde Stein seinen Zeitgenossen zunächst suspekt, dann unverständlich: Robert v. Mohl, Wilhelm Roscher und Gustav Schmoller warfen ihm bei aller Anerkennung nicht nur die " ... trunkene Sicherheit des spekulativen Standpunktes .. ."2\9 vor,
zeigt ihm nicht deren revolutionäre Bedeutung im Prozess der Zivilisation; sie dient ihm vielmehr als Nachweis ihrer Perversion unter kapitalistischen Produktionsbedingungen. Dieser Deutung folgt auch Lahmer, G., Lorenz von Stein. Zur Konstitution des bürgerlichen Bildungswesens, Frankfurt a. M., New York 1982, S. 71: "Der systematische Ort der Pädagogik in Steins Werk wird nun deutlich: Seine Lehre vom Bildungswesen soll die Reproduktion des Gegebenen sichern. Die Pädagogik soll die Integration des einzelnen in diese Reproduktion sichern". 217
Ebd., S. 193.
218
Stein, L. v., Gegenwart und Zukunft, S. 103.
Schmol/er, G., Lorenz Stein, in: Preußische Jahrbücher, 19. Bd., 1867, S.245270 (262). Schmoller bezog diese "Trunkenheit" nur auf Steins System der Staatswissenschaft und hebt lobend hervor, dass Stein später seine "Spekulation" immer besser empirisch erhärtet habe. Ein "schlechtes Gewissen" muss er ihm gegenüber gleichwohl gehabt haben. 1861 hatte er sich ihm brieflich mit den Worten vorgestellt: "Vom Studium der Philosophie und Geschichte herkommend, bin ich zu dem der Nationalökonomie übergegangen und ... es [ist] ... keine leere Schmeichelei, wenn ich Sie versichere, daß ich Sie für den größten deutschen Nationaloekonomen nicht nur, sondern überhaupt für 219
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B. Geistmetaphysik, Philosophiegeschichte und Historische Soziologie
sondern hinterließen auch das die Steinforschung bis heute belastende Diktum von dem Hegelianer Lorenz von Stein. 220 2. Leben, Recht und Persönlichkeit Stein bietet in seiner ersten größeren Publikation, Der dänische Civilprocess und das heutige Verfahren, einen Ausblick auf das spätere Werk: Im Vorwort seiner Dissertation entwirft er kurz sein Vorhaben; er zeichnet hier ein Bild von sich und seinen Plänen, das weniger die idealistische "Aufhebung" der Transzendentalphilosophie zur Freiheit des Selbstbewusstseins und seiner Welt als den Widerspruch zwischen Begriff und Leben in das Zentrum rückt. Bemerkenswert ist an diesem Vorwort, dass Stein die Antinomie zwischen Leben und Persönlichkeit nicht nur am Gegensatz zwischen dem ,,Persönlichen" und dem "Natürlichen" festmacht, sondern deren Wechselbezug von Anbeginn im Medium des Rechts entfaltet. Der Übergang oder besser gesagt, die Anverwandlung der Natur zur und durch die Person gelingt hier nur, wenn die von der Natur gesetzten Schranken gleichermaßen respektiert wie in und durch die Arbeit überwunden werden. Der Gegensatz zwischen ,,Begriff und Leben" erscheint folgerichtig stets als Gegensatz zwischen dem reinen Recht und der von ihm berührten Verhältnisse. Was also das Recht bedingt, ist also das Erscheinen des Verhältnisses, wie wir kurz die Beziehung mehrerer auf ein Objekt bezeichnen wollen, - was das Recht aber giebt, ist die Vernunft, der allen gemeine menschliche Geist. Es folgt also, daß wo das Verhältniß, als das hervorrufende Element, dasselbe ist, zugleich das Recht dasselbe sein muß, weil es durch dasselbe entsteht; wo aber die Verhältnisse verschieden sind, auch das Recht ein Verschiedenes sein muß221. den größten Genius in dieser Wissenschaft seit Adam Smith halte" (Brief vom 26.3. 1861; Schleswig-Holsteinische Landesbibliothek, Handschriftensammlung, Sign. Cb 102. 4. 2: 5). Diesem Brief folgte eine lebenslange, zumindest brieflich lebhafte Bekanntschaft. Vgl. dazu C. V. I. 220 Roscher, W., Geschichte der National-Oekonomik in Deutschland, München 1874, S. 1039, hebt lobend Steins Affinität zur Historischen Schule der Nationalökonomie hervor, läßt sich aber in seiner Klassifikation nicht beirren: "So ist z. B. Lorenz v. Stein ... , ein wesentlich philosophischer Kopf, ganz auf Systematik und dialektische Entwicklung bedacht ... Aber in allen seinen Schriften sind leicht das Werthvolle die groß angelegten historischen Ueberblicke und Zusammenfassungen, die ... an Hegel's Philosophie der Geschichte erinnern"; Schmol/er, G., Grundriss der allgemeinen Volkswirthschaftslehre, Theil I, Leipzig 1900, S. I 13 f., würdigt Stein angemessen; vgl. dazu C. V. I. 221 Stein, L. v., Die Geschichte des dänischen Civilprocesses und das heutige Verfahren. Als Beitrag zu einer vergleichenden Rechtswissenschaft, Kiel 184 I, S. XIII.
11. Grundlagen der Steinschen Wirklichkeitswissenschaft
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Der 25jährige bekennt sich zwar zur auf Thibaut und Anselm von Feuerbach zurückgehenden, in Berlin von dem Hegelschüler Eduard Gans gelehrten, "philosophischen Rechtsschule"222, doch unternimmt er erste Schritte zu einer Wissenschaft, die weder reiner Begriff noch bloße Kompilation beliebig aneinandergereihter Daten ist. Schon hier beginnt Steins Weg zwischen der Historischen und der Hegeischen Schule, zwischen Historismus und Hegelianismus, zwischen dem germanistischen Zweig der Historischen Schule des Rechts223 und einem systematischen Verständnis von Wirtschaft, Gesellschaft und Recht. 224 Zwar steht der die Hinwendung zur Gesellschaftswissenschaft endgültig besiegelnde Aufenthalt in Frankreich noch bevor, doch legen diese ersten Überlegungen zum Verhältnis zwischen Recht und Wirklichkeit bereits die Grundlage zu einem Wissenschaftsverständnis, das die theoretische Konstruktion mit der historischen Erklärung gegebener Zustände verbindet: Stein sucht einen Ausweg aus dem Zwiespalt zwischen dem Höhenflug des Begriffs und der Macht "altüberlieferter Zustände". Neben dem Bekenntnis zur reinen praktischen Vernunft, zur unbedingten Rationalität der Rechtsnorm steht die Einsicht in die normative Kraft des Lebens: Das tägliche Leben ist zugleich der Kreis, in welchem sich das Recht, an dessen Verhältnissen entstehend, lebendig bewegt. Dieses tägliche Leben aber ist nicht dasselbe; es geht nicht in vorgeschriebenem Kreislaufe um seine Grundtypen herum ... Neue Verhältnisse treten auf, neu nicht bloß dem einzelnen Rechtsleben, sondern auch dem Gesetze selbst, das aus ihm entstanden ist, und das Alte, untergehend hinterläßt; Bil-
222 Vgl. oben, A. I. 223 Vgl. Harstick, H.-P., Historische Schule, in: HWP, Bd. 3, Sp. 1137-1141 (1138). Noch im Vorwort der zweiten Auflage des Rudolph Gneist gewidmeten I. Bandes der Verwaltungslehre beschreibt Stein den von der französischen Revolution vollzogenen Bruch mit der Geschichte und die Leistung der deutschen Rechtsgeschichte: "Die französische Codification hat die gesammte romanische Welt von dieser römischen Rechtsbildung getrennt ... Die deutsche Reichs- und Rechtsgeschichte ... war es, welche es Deutschland möglich machte, neben dem Glanze der französischen Rechtsbildung noch frei und tapfer an der eigenen festzuhalten; und wenn ein Name ... in erster Reihe genannt werden darf, so wollen wir uns dem Namen Eichhorns beugen; wenige haben so viel, wenige mehr für Deutschland geleistet, als er" (ebd., S. VII). Zugleich heißt es im I. Band der 2. Auflage von Steins System und Geschichte des Bildungswesens der alten Welt (Stein, L. v., Die Verwaltungslehre, Bd. 5, S. VI f.): "Niemand wird uns das Ideale tiefer erfassen lassen, als die philosophische Anschauung; niemand wird uns seinen Werth besser beweisen als die Geschichte". 224 Vgl. Stuke, H., Hegelianismus, in: HWP, Bd. 3, Sp. 1026--1030 (1027). Scholtz, G., Historismus, in: HWP, Bd. 3, Sp. 1141-1147 (1141 f.); Wittkau, A., Historismus. Zur Geschichte des Begriffs und des Problems, 2. Aufl. 1994, Göttingen, S. 33 ff. (35 ff.).
156
B. Geistmetaphysik, Philosophiegeschichte und Historische Soziologie
dungen, die dem alten Gesetze nicht entsprechen, und ein neues fordern. Hier verläßt den Richter wie den Rechtsbeistand das Gesetz; der Praktiker steht allein. 225
Obgleich von einer expliziten Wissenschaftstheorie nicht die Rede sein kann, fühlt er deutlich den Mangel der reinen Philosophie oder Wissenschafts lehre wie den eines bloß historischen Rechtsverständnisses. Die vergleichende Rechtswissenschaft weist ihm den Weg aus den Aporien beider2 26 ; sie löse sich von der bloßen ,,Faktenhuberei" und dem Überjlug der Idee: Der Rechtsvergleich setze den Bezug auf die in verschiedenen Rechtsordnungen geltenden gemeinsamen Rechtsideen voraus, wie er im Rekurs auf die historisch-gesellschaftlichen Zustände erklärt, weshalb aus der gleichen Idee unterschiedliches positives Recht entsteht. Obwohl die "Wissenschaft der Gesellschaft" namentlich noch nicht auftaucht, wird der Inhalt und Wandel des positiven Rechts geseIlschaftswissenschaftlich erklärt. Der Wechsel rechtlicher Bestimmungen sei nicht auf das Recht als solches zurückzuführen, er resultiere vielmehr aus der Veränderung der Verhältnisse, zu deren Gestaltung das positive Recht geschaffen ist. Ohne es zu erwähnen, greift er auf die Rechtstheorie des Aristoteles zurück227 : Aristoteles unterscheidet in der Nikomachischen Ethik gleichfalls zwischen dem Recht und seinem Inhalt. Das Recht bedingt also mindestens vier Stücke, die beiden, für die es Recht ist, und die beiden, worin das Recht besteht, die Gegenstände ... Also besteht das Recht in ei-
225 Vgl. Stein, L. v., Der dänische Civilprozeß, S. XIX: "Wollen wir daher weiter gelangen, so müssen wir einen Punkt aufheben, der allerdings den Gränzstein der Wissenschaftlichkeit überhaupt bildet: das Zujälligsein für unser Wissen. Wir müssen sehen, warom das Gleiche ein Gleiches ist bei den verschiedenen Völkern, und warom es ein Verschiedenes giebt. Die Lösung dieser Frage ist die Theorie der vergleichenden Rechtswissenschaft" . 226
Ebd., S. XXII.
Von den ersten Vorlesungen in Kiel über die Geschichte der sozialen Bewegung bis zur Verwaltungslehre zieht sich wie ein roter Faden Steins sozialphilosophischer Aristotelismus. Vgl. Deutsches Staatsrecht, S. 78; Soz. Bew. 11, S. 103; System 11, S. 235 ff.; Verwaltungslehre (V erwl.) I, I, S. 16, 32 f. etc. Aber erst in der 2. Auflage der Geschichte des Bildungswesens (Verwl., Teil 5, 6 und 8) verknüpft er die Kritik am Idealismus mit dem Bekenntnis zu AristoteIes, begreift Platon und AristoteIes als die Archetypen der Rechts- und Staatstheorie, und verbindet die Geschichte des Aristotelismus und Platonismus bis zur Neuzeit mit einer wissenssoziologischen Analyse des utopischen Denkens. 227
11. Grundlagen der Steinschen Wirklichkeitswissenschaft
157
ner Verhältnisgleichung ... Denn die Verhältnisgleichung ist die Gleichheit zweier Verhältnisse und braucht mindestens vier Glieder. 228
Ob Hegelianer oder nicht: der philosophisch ambitionierte Doktorand der Rechtsgeschichte muss die Differenzierung zwischen Rechtsbegriff und Rechtsverhältnis bei Aristoteles gekannt haben. Anders bliebe die jetzt folgende Erläuterung von Rechtsbegriff und Lebensverhältnis unverständlich. Das positive Recht wird nicht einfach aus dem Rechtsbegriff abgeleitet; Stein definiert, was ein Verhältnis ist. Dies sei eine komplexe Bestimmung, in der die Handlungen mehrerer als Einheit gesetzt sind. Gewöhnlich nämlich ist der Fehler, Verhältniß und Recht zu verwechseln, oder lieber zusammen zu schmelzen. Man faßt Eigenthum, Besitz, Vertrag, Verbrechen fast immer als ein wirkliches Recht auf, nicht das wesentlich Doppelte unterscheidend. Das Eigenthum ist ein Zustand, ein Verhältniß; sein Recht ist die Unverletzlichkeit; der Vertrag selbst ist eine Handlung; sein Recht ist die Unverbrüchlichkeit ... ; dies ist unleugbar; aber sehr leicht fiel man darauf, es zu verwechseln; denn die Bildung des Rechts beruht auf der tausendfachen Verschiedenheit seiner factischen Grundlage, und mit dem gefundenen neuen Verhältniß war zugleich eine neue Anwendung des Rechtssatzes, scheinbar ein neues Recht gefunden. 229
Zwar steht der junge Stein, wie der Sprachduktus zeigt, im Bann des Deutschen Idealismus, aber er sieht, " ... daß das Recht bedingt und bestimmt wird durch diese factische Grundlage, das der Vernunft erscheinende Verhältniß"230; er beleuchtet den Raum der Rechtsvergleichung sozial und historisch. Erst die Zusammenschau beider Ebenen, die geschichtliche Heraufkunft wie die gesellschaftliche Konstruktion eines Lebensverhältnisses, mache die Kontinuität und den Wandel der Rechtsbestimmungen verständlich. Zunächst werden die Verhältnisse und Funktionen des öffentlichen und des Privatrechts von einander getrennt. Bei allen Verhältnissen zwischen dem Einzelnen und der als Rechtsperson auftretenden Gesamtheit, d. i. dem Staat, handele es sich um öffentlichrechtliche Verhältnisse, wogegen sämtliche Rechtsverhältnisse zwischen Einzelpersonen dem Privatrecht angehörten. Obgleich die Grundformen des Rechts über allem Wandel der Rechtsordnungen beibehalten werden, sei die bloß formale Kennzeichnung des Rechts nicht ausreichend . ... den Inhalt erhält diese allgemeine Bestimmung erst durch das Entgegensetzen der Einzelwillen. Daraus entstehen die einzelnen Fälle, die concreten Verhältnisse, mit ihnen das concrete Recht, die einzelne Bestimmung ... Es bleibt nun die zweite [Frage] zu lösen: wie ein Ungleiches wird, und was verschieden ist. Die Grundzüge der 228 AristoteIes, Die Nikomachische Ethik (EN), Hrsg.: Gohlke, P., 2. Aufl. 1966, Paderbom, S. 131. 229
Stein, L. v., Der dänische Civilprozeß, S. XXlII f.
230 Ebd., S. XXIV f.
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Beantwortung sind folgende: Das Recht ist der Wille der allgemeinen Vernunft. Diese aber, wie die Vernunft des Einzelnen, durchläuft verschiedene Stadien ihrer Entwickelung; und da diese Entwickelung die Bestimmung des Willens bedingt, so muß dieser Wille, das Recht, ein verschiedener sein auf den verschiedenen Standpunkten der Bildung der einzelnen Völker. Diesen Standpunkt nachzuweisen, und aus ihm heraus das abweichende Recht, als von ihm begründet, darzustellen, ist die zweite Aufgabe unserer Wissenschaft.231 Stein spricht von vergleichender Rechtsgeschichte, legt tatsächlich aber das Fundament zu seinen, die vergleichende Rechtsgeschichte weit hinter sich lassenden Forschungsprojekten232 : Die reine praktische Vernunft soll dem Leben Maß und Richtung geben; dieses wird nicht mehr zur Idee "aufgehoben", sondern gestaltet sich nach den wirklichen Verhältnissen, die ihrerseits von gegenläufigen Ideen und Interessen bestimmt sind. 233 Der Ausblick auf die Zukunft endet mit Anklängen an die Identitätsphilosophie: Nur ist es nicht die Philosophie, sondern die vergleichende Rechtswissenschaft, die für den jungen Stein das Gebäude des Geistes vollendet; sie versöhne wirklich die Vernunft mit der Realität. 234 Ungeachtet der sprachlichen Ähnlichkeit mit idealistischen Konstruktionen stellt er sich neben die auf den Idealismus bauenden Philosophen. 235 Die Vernunft sei nicht zur Idee aufzuheben, sondern mit dem sie hervorbringenden Leben zu vermitteln.
231 Ebd., S. XXVI. 232 Dass Stein die vergleichende Rechtsgeschichte bis ins hohe Alter schätzte, sei keineswegs bestritten. Den drei Teilen seiner Geschichte des Bildungswesens ist eine philosophische Rechtsgeschichte eingearbeitet, die am Vergleich der "europäischen Kulturvölker" die fortschreitende Differenziertheit des Rechts darstellt und anhand der unterschiedlichen Aufnahme und Umbildung alten Rechts die jeweils entstehende Individualität der einzelnen Kulturen veranschaulicht. Doch dem Staatswissenschaftier genügte die Rechtsgeschichte nicht mehr. Die Rechtsvergleichung wurde ihm zu einem Prolegomenon der Gesellschaftswissenschaft, Nationalökonomie und Verwaltungslehre. Vgl. C. 233 Vgl. Stein, L. v., Geschichte des Dänischen Civilprocesses ... , S. XXVII. 234 Vgl. ebd., S. XXVII f.: "So wird die vergleichende Rechtswissenschaft die Rechtswissenschaft selbst; auf diesem Punkte, dem Höhepunkt alles Wissens vom Recht, verschwindet das Moment der Vergleichung; hier ist sie reines Wissen, das Wissen der Welt des Rechts und seiner Weltgeschichte ... Das von uns Angedeutete ist zu groß und zu wahr, als daß ihm lange eine eigne Untersuchung fehlen sollte." 235 Nur am Rande sei erwähnt, dass der Spätidealist Immanuel Herrmann Fichte versuchte, Stein als einen Repräsentanten des von ihm vertretenen "Idealrealismus" im Bereich der "gesellschaftlichen Ethik" darzustellen: Er feiert Steins System der Staatswissenschaft als eine "Explikation" des Idealismus, die ..... im Principe der .Societät' gerade die letzte staatswissenschaftliche Lösung der socialen Probleme findet, wie wir
II. Grundlagen der Steinschen Wirklichkeitswissenschaft
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Wie von ihm angedeutet, war Stein beim Abfassen dieses Vorwortes in Gedanken bereits in Frankreich; und dies nicht, um sein berühmtes Buch über den Sozialismus und Kommunismus in Frankreich zu schreiben, sondern um den im Vorwort der Doktorarbeit erhobenen Anspruch einzulösen und eine wirklich vergleichende Rechtsgeschichte vorzulegen. Schon bei meiner Ankunft in Paris im Jahr 1841 begann ich die Vorarbeiten für eine französische Staats- und Rechtsgeschichte 00. Denn eine Ueberzeugung vor allem ist es, die mich seit meinem ersten Schritt auf der Bahn rechtsgeschichtlicher Untersuchungen begleitet hat und die ich stets mit derselben Entschiedenheit ausgesprochen habe 00. Wir sind allerdings das einzige Volk der Welt, das die Geschichte seines Rechts sich zur Wissenschaft erhoben hat 00. Aber dass wir in diesem unserm Rechtsleben ein individuelles Ganze sind, das haben wir bis jetzt nicht zu untersuchen gewusst 00' Jene innere Lebenskraft, die nicht bloß die daseienden Elemente erhält, sondern neue Formen aus den Trümmern des Alten schafft 00. lebt auch in den Bewegungen des Rechts 00. Und sie zu erfassen, durch sie dem ewig Lebendigen um einen Schritt näher zu rücken, der freien That des Lebens in dem Zerfallen und Neubilden
die ethische. Darin liegt zugleich die große Bedeutung dieses Werkes für die gesammte Gesellschaftswissenschaft, indem er den Satz, den wir als den Kern der Sittigung in der Gesellschaft bezeichnen mussten, auch als das innere ,Gesetz' der staatsökonomischen Verhältnisse nachgewiesen hat" (ders., System der Ethik, Theil 11, 2.: Die Lehre von der Rechts-, Sittlichen- und Religioesen Gemeinschaft oder die Gesellschaftswissenschaft, Leipzig 1853, S. IX). Fichte sah in Steins System das ökonomische Pendant zur eigenen Ethik, dem "00' es obliegt, die ökonomische Ausführbarkeit solcher Societäten (gemeint war die Gesellschaft des gegenseitigen Interesses, S. K.) zu zeigen und das Sophisma der Trägen oder dünkelhaft Klugen, es seien dies ,unausführbare Träumereien' in sein Nichts zurückzuscheuchen" (ebd., S. XI). Fichte betrachtete Steins System als "ethische Ökonomie" (vgl. ebd., S. 331), ohne die - Steins Volkswirtschaftslehre erst ermöglichende - Unterscheidung zwischen ethischem Prinzip und ökonomischem Gesetz zu berücksichtigen. Daher dann die geradezu barsche Zurückweisung von Fichtes "Staatsbegriff' in der Verwaltungslehre, Teil I, Abt. I, S. 7 f.: ,Jlegel hat 00. den Staat als höchstes Moment an der Entwicklung der sittlichen Idee erfaßt; der Begriff der Persönlichkeit, in dem die Selbstthätigkeit liegt, war ihm damit unzugänglich, und seine unklaren Definitionen über die constitutionelle Monarchie zeigen, daß man eben ohne Persönlichkeit das persönliche Leben nicht verstehen kann. 00' Ebenso hat der jüngere Fichte (System der Ethik 11, 2. Abth. S. 329 u. öfter) den Staat als ,das umfassendste Individuum' aufgefaßt 00. Allein mit dieser formalen Idee ist nichts gewonnen; denn das ist doch unzweifelhaft, dass wenn wirklich der Staat eine 00. ,höhere Form der Persönlichkeit' ist, was auch wir glauben, 00. die Erkenntniß des Staats und die Elemente der ,organischen Staatslehre' denn doch eben im Wesen der Persönlichkeit gefunden werden müssen. Und diese ist nirgends untersucht 00. Das Criterium dafür aber ist stets der Begriff der Thatoo. Ein wirklicher Staat, der nicht handelt, ist lebensunfähig; ein Begriff vom Staat, der die That des Staats nicht enthält, ist einfach falsch, wie der Hegels".
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B. Geistmetaphysik, Philosophiegeschichte und Historische Soziologie
des Aeusserlichen zuzuschauen, das ist das Ziel, nach dem auch unsere Wissenschaft hinaufstreben muss. 236
Zwischen diesen beiden Aussagen liegt der Steins Horizont enonn erweiternde Parisaufenthalt. Um so bemerkenswerter scheint mir, dass die Aufgabe der vergleichenden Rechtswissenschaft in beiden Vorworten, dem der Doktorarbeit und dem der Geschichte des französischen Strafrechts und des Prozesses, fast mit denselben Worten umschrieben wird: Die vergleichende Rechtswissenschaft hat zunächst die Rechtsnonn von ihrem Inhalt zu trennen, sodann die gleichen Strukturen des Rechts in den verschiedenen Ländern zu ennitteln und abschließend deren unterschiedlichen Gehalt als Folge der jeweiligen Lebensverhältnisse zu erkennen. Leben und Persönlichkeit entfalten sich nur in rechtlichen Bahnen. Die Vernunft setzt darin zwar das Recht, aber dessen Allgemeinheit beriihrt nicht den Inhalt der von der Rechtsnonn erfassten und gespiegelten Verhältnisse; Form und Inhalt des Rechts bleiben stets getrennt. Steins Ansatz ist daher dem Traum der Vernunft diametral entgegengesetzt. Das Einzelne soll und kann gar nicht zur Allgemeinheit des Rechts und seiner rationalen Ordnung aufgehoben werden, weil die Vernunft und das Gesetz zwar Manifestationen eines unbedingten Willens, aber auch Erscheinungen sind, deren Inhalt aus dem Gemenge divergierender Interessen hervorgeht; und die entsprechen dem Drang und der Fähigkeit alles Persönlichen, durch die eigene Tat sich selbst zur Ursache seines Daseins zu machen. Ähnlich wie später Max Weber, aber mit ihm eigentümlicher Konsequenz findet Stein seinen Weg von der Rechtswissenschaft und Philosophie zur Wirklichkeitswissenschaft. Das an sich Unendliche umfaßt seinem abstrakten Begriffe nach das Endliche; alIein nur in der Weise, daß nach rein logischem Ausdruck das Endliche nur ein Moment des Unendlichen ist. Es muß daher ... das Unendliche in dem Endlichen lebendig und das Allgemeinere damit das herrschende seyn ... Indem nun das Persönliche das Unendliche ist, muß es demnach gleichsam das Endliche, die Natur in sich und sein Daseyn aufnehmen ... Dieß Princip nun, indem es ... in jeder That das gleiche ist, und mithin jeder That das gleiche Ziel vorsetzt, ist damit die wahre Einheit des wirklichen Lebens. Es fUhrt die unendliche Mannichfaltigkeit der einzelnen, durch die Mannichfaltigkeit der natürlichen Erscheinungen selber unendlich vielgestaltigen Thätigkeiten auf einen großen Zweck zurück; es lehrt sie als Vermittlung einer großen Bewegung erkennen; es ist daher ... das Princip des Organismus im Leben der Menschheit. 237
236 Stein, L. v., Geschichte des französischen Strafrechts und des Processes, in: Warnkoenig, L. A. / Stein, L. v. (Hrsg.), Französische Staats- und Rechtsgeschichte, Bd. IIl, Basel 1846, S. VII f. 237
Ebd., S. 10 f.
11. Grundlagen der Steinschen Wirklichkeits wissenschaft
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Das organische Prinzip hat nicht nur mit romantischen Träumereien zu
tun238 ; es dient vielmehr dazu, der chaotischen Mannigfaltigkeit des Lebens
Strukturen zu geben; das Organismusmodellliefert einen Ariadnefaden, der aus dem Labyrinth der Bewegung herausführt: Die Fragestellung des Staatswissenschaftiers setzt die Struktur; seine Kategorien weben den Faden, der durch das Leben und die einzelnen Sparten der Staatswissenschaft führt; die relative Selbständigkeit ihrer Teile wird nicht bestritten: Die Momente dieses Princips sind daher keineswegs rein logische Gedankenbestimmungen. Sie sind vielmehr die Herrscher der Wirklichkeit; und wie es die Natur solcher herrschenden Kräfte fordert, erscheinen sie dem Nachdenkenden auf jedem Punkte, bei der Betrachtung jeder Thätigkeit, bei dem Verständnis jedes Zustandes gleichsam als der allgemeine Grund, auf dem das daseyende und wechselnde Leben ruht. 239
Die "Sozialanthropologie" zeigt, dass die wirkliche Person den Begriff der Persönlichkeit nur in und mittels der Gemeinschaft zu Leben erwecken kann. 240 Das prinzipiell und empirisch notwendige Ineinandergreifen von Individuum und Gemeinschaft, ihr persönliches Leben verharrt nicht starr in sich, es entfaltet sich in einem nicht fixierbaren Prozess, der das gesamte individuelle und gemeinschaftliche Leben durchdringt und immer komplexer gestaltet. Der einzelne gerät in eine immer größere Spannung zwischen seiner zunehmenden Vernetzung mit von ihm nicht zu beeinflussenden Vorgängen innerhalb der Gemeinschaft und seinem sich im und als Gegensatz zu anderen konstituierenden Selbstbewusstsein. Die Reflexionsverhältnisse Hegels werden strikt anthropozentrisch interpretiert. Darüber hinaus zeigt nicht die Idee, sondern das wirk238 Nach Nitzschke (1932), S. 46 Fn. 2, habe Steins Denken um 1852 eine romantisch-konservative Phase durchlaufen; diese konservative Kehre habe sich nicht zuletzt in seinen organologischen Vorstellungen niedergeschlagen. Dem war nicht so. Wie gezeigt baute Steins Staatsbegriffbereits in den Vorlesungsmanuskripten aus den vierziger Jahren auf dem Gegensatz zwischen endlicher Natur und der an sich unendlichen, aber inhaltslosen Persönlichkeit, zwischen dem endlichen Dasein und der wirklichen, ebenso endlichen Persönlichkeit auf: als Lösung dieses Widerspruchs erschien dort Leben als ein organischer Prozess, in dem die an sich unendliche, aber inhaltslose Persönlichkeit den Inhalt der an sich entwicklungslosen Natur zu einem Teil ihrer selbst macht und damit ihre Gestalt wie den Inhalt ihres persönlichen Lebens in den Objektivationen ihrer selbst in der Natur gewinnt. Dieses Grundmuster bestand bereits vor 1848 und wurde bis zu Steins Tod lediglich in Nuancen modifiziert. Von einer dezidiert konservativen Phase in Steins Leben kann zu keinem Zeitpunkt gesprochen werden.
239 Stein, L. v., System I, S. 11; vgl. auch System 11, S. 141 f.: "In der That, nicht logische Systeme sind es, um die es sich hier handelt, sondern es ist der lebendige Organismus des wirklichen Geistes der Menschheit, den wir zu erfassen streben". 240
Vgl. Koslowski, S. (1989), S. 9-36.
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liche Leben, dass allgemein anthropologische Einsichten über das Verhältnis zwischen Individuum und Gemeinschaft weder das Leben der in Gesellschaft und Staat Gestalt annehmenden Gemeinschaft noch die Selbständigkeit des Einzelnen hinreichend erfassen und abbilden. Der Nachweis, dass die Gemeinschaft und der Einzelne ihr "persönliches Leben" selbständig entfalten und einander gegenüber stehen, sagt weder etwas darüber aus, wie die natürlichen Personen zueinander stehen, noch in welcher Beziehung die verschiedenen Glieder (Staat, Gesellschaft, Verbände etc.) der Gemeinschaft einander begrenzen. Begreift man die Gemeinschaft unstrukturiert als eine Erscheinung des "persönlichen Lebens" oder setzt ihre ,,Momente" mit Hegel in entelechialer Folge zu ihrer Vollendung im Staat241 , gerät deren selbständiges Leben ebenso aus dem Blick wie der Einzelne. Stein kommt es darauf an, die von Kant und Hegel abstrakt erfassten Stufen des persönlichen Lebens in ihrer wechselseitigen Durchdringung und Bestimmung darzustellen. Er sieht anders als Karl Marx und Max. Weber in der Modeme nicht die Wiederkehr der vielen Götter in Gestalt unpersönlicher Mächte, sondern bejaht die Komplexität der industriellen Welt als ein Ergebnis des Lebens. 1846 hatte er die Metaphysik (tatsächlich eher Metaphorik) des Persönlichen noch dazu genutzt, die Idee der Persönlichkeit im Staat vollendet zu sehen; die Geschichte der sozialen Bewegung begriff den Antagonismus zwischen Staatsidee und Gesellschaftsrnacht als Reflex des unaufhebbaren Kampfes zwischen dem Persönlichen und dem Natürlichen im Menschen. Dagegen beendet 1852 die Einleitung zum System der Staatswissenschaft die Suche nach einem philosophisch befriedigenden und gleichwohl praktisch anwendbaren Fundament der Wissenschaften vom menschlichen Zusarnmenleben. 242 241 Vgl. Stein, L. V., Die Verwaltungslehre, Teil I, 1., S. 122; ders. (1844), S. 59 u. ebd. Fn.: "denn ... die Hegeische Philosophie hat keinen Begriff der einzelnen Persönlichkeit, sondern nur den der Persönlichkeit überhaupt ... Nur so werden Sätze möglich, wie ... ,dass alle Menschen ein Auskommen für ihre Bedürfnisse haben - ist nur ein moralischer, nichts Objectives seyender Wunsch' (§ 49) - was am deutlichsten zeigt, wie unbestimmt ihm der Gedanke der Wirklichkeit seines Begriffs der Person geblieben ist". 242 In seiner Vorlesung über .,Allgemeines deutsches Staatsrecht" (in: Taschke [1985], S. 50-85) hatte er die Prämissen seiner Staatstheorie nur abstrakt vorgetragen; der Staatsbegriff schwebt über der Wirklichkeit und beherrscht die Momente seines Lebens. Aus Steins Notizen geht jedoch hervor, dass er sich der Grenzen staatlicher Freiheit sehr wohl bewusst war. Was dort fehlt, ist nicht die Einsicht in die Grenzen staatlicher Gestaltungsmacht, sondern die Interaktionen und Verwerfungen zwischen wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und staatlicher Regelungskompetenz. Der Begriff der Staatspersönlichkeit enthalte die "Momente" der Unüberwindlichkeit und Freiheit, der Unteilbarkeit und der Unfehlbarkeit. Dem entspreche die Souveränität, die Einheit und die Selbstbestimmung des Staats. "Diese Wirklichkeit ist dem Einzelnen gegenüber die
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Im Gegensatz zur Philosophie fußt die Staatswissenschaft - wie gesagt - auf dem Begriff des Lebens, dieser auf dem der Bewegung und diese verbindet im Werden des Begriffes der Persönlichkeit in Geist und Natur das absolut von einander geschiedene natürliche und persönliche Dasein. Wille. Tat und Leben entstehen demzufolge in ihrer wechselseitigen Durchdringung. Diese Selbigkeit der Grenze und des Bestimmtseyns mit dem eigenen Wesen ist die Freiheit. Die Freiheit enthält daher ihrem reinen Begriff nach die Herrschaft des Persönlichen innerhalb der selbstbestimmten Grenze, und damit die Fähigkeit, über dieselbe hinauszugehen ... Sie besteht nicht in dem bloßen Drange, die gegebenen Grenzen al1er Art aufzuheben; sie ist auch nicht das bloße Genügen und Ergründen des gegebenen, begrenzten Gebiets; sie ist eben bei des zugleich, und in beiden die Herrschaft des Persönlichen über seine gegebene Begrenzung. Es gibt keine Freiheit ohne Grenze; aber für das Persönliche gibt es auch keine Grenze ohne Freiheit. Und wo wir daher das Streben und Arbeiten sehen in al1en Gebieten des Lebens, die gegebenen Begrenzungen zu bewältigen, da ist es die Freiheit die in der That des Menschen lebendig ist. 243
Die Gegenüberstellung von ,,reinem Begriff" und "tätigem Leben"244, Philosophie und Staatswissenschaft verlässt die Enge begrifflicher Systematik, ohne deren Leistungen dem - wie auch immer gearteten - Erleben zu opfern. Verwirklichung seines eigenen Wesens, die wirkliche Unendlichkeit; sie heißt die Majestät des Staates. Diese fordert eine persönliche Erscheinung ... die Majestät des Staats enthält die freie Selbstbestimmung der einzelnen Persönlichkeit. In ihr liegt daher, unentwickelt, aber dennoch entschieden vorhanden, stets der Gedanke des Gegensatzes gegen die absolute Herrschaft des Staates" (ebd., S. 50). Daher entfaltet sich das Staatsleben zunächst als Kampf zwischen den persönlichen Trägern des Staatsbegriffs, d. h. im Kampf zwischen dem Fürsten, den Beamten und dem Volk. Da al1e drei jedoch jeweils selbständige Momente und Faktoren der Staatspersönlichkeit darstel1en, können sie einander nur um den Preis der eigenen Existenz zerstören: "Jene Elemente lernen zuerst, ihre richtige Stel1ung gegeneinander einzusehen, dann lernen sie sie achten und aufrecht halten, endlich lernen sie mit einheitlicher Kraft ihrem gemeinsamen Zwecke leben und ihn zu erreichen. Jetzt erst wird der Zweck der Tat nicht mehr die Erreichung eines größeren oder verschiedenen Maßes an der Staatspersönlichkeit, sondern der Staat hat seinen Zweck jetzt in sich selbst - in der Verwirklichung seiner eigenen Ideen" (ebd., S.74 f.). 243
Stein, L.
V.,
System I, S. I I f.
244 Vgl. Hartmann, K., Reiner Begriff und tätiges Leben. Lorenz von Steins Grund-
konzeption zum Verhältnis von Staat und Gesel1schaft und von Rechtsphilosophie und Recht (1978), S. 65-95, der zu den wenigen Vertretern vom Fach gehört, die Stein als philosophischen Denker anerkennen. Seine Steininterpretation deutet das Auseinandertreten von Begriff und Leben als einen Gegensatz, den Stein "hegelianisierend" wieder dialektisch aufgehoben habe: .,Stein denkt zunächst an einen kantianisierenden reinen Rechtsbegriff, der die Anerkennung der Persönlichkeit durch eine andere (oder: die
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B. Geistmetaphysik, Philosophiegeschichte und Historische Soziologie
Die natürlichen Dinge sind der Selbstbestimmung des Menschen unterworfen; der Gedanke begreift sie, das Gefühl genießt sie, das Leben besitzt sie. Sie werden damit aus ihrer rein natürlichen Sphäre herausgehoben ... ihr Leben aber, ihr Angehören an die Sphäre der persönlichen Welt empfangen sie aus den Händen der Persönlichkeit. Die natürlichen Kräfte werden zu Dienern des persönlichen Willens, die natürlichen Bewegungen ordnen sich dem persönlichen Zwecke unter, und die Gesammtheit des natürlichen Daseyns beginnt, zum Inhalte des persönlichen zu werden. Damit ist die an sich abstrakte Idee der Persönlichkeit erfollt; der Mensch in der Welt ist der Anbeginn einer neuen Lebensepoche derselben ... Und diese durch Freiheit und Einheit verwirklichte Herrschaft des Persönlichen über das Natürliche ist, indem sie selber aus dem innersten Wesen wieder hervorgeht, die Vollendung der Idee der Persönlichkeit. 245
Idealistische Spekulation, pragmatische Geschichtsbetrachtung und positive Fakten wirken zusammen: 246 Das Persönliche bestand in der Einheit von Wille, Vereinbarkeit der Willen) beinhaltet. Diesem reinen Rechtsbegriff steht das Leben gegenüber, das in Lebensbegriffen, d. h. in verschiedenen sozialen Gestaltungen bestimmbar ist. Während der reine Rechtsbegriff konstant ist, sind die Lebensbegriffe variabel ... " "Die Steinsche Position erscheint zunächst als ein ,zweiter Teil' der HegeIschen Rechtsphilosophie. Sie stellt die Frage, wie Staat und Gesellschaft zusammen bestehen" (ebd., S. 72 und 82). Hartmann war nicht nur ein großer Verehrer von Hegel und Lorenz von Stein, er erkannte auch den in Steins Realismus gründenden Gegensatz zu Hegels Idealismus; dennoch scheint er mir Stein zu sehr durch die HegeIsche Brille gesehen zu haben, wenn er die Grundmuster von Hegels Logik auf Steins Konzeption des Verhältnisses zwischen Gesellschaft und Staat überträgt: Deren Verhältnis zu einander sei wesenslogisch als eines der Negativität (Persönlichkeit) und Sein zu fassen: "Der Staat reflektiert auf das Sein (Leben) der vielen Einzelnen als auf seine Objekte; er ist der Reflexionspunkt, für den das so ist" (ebd., S. 71). Zugleich habe Stein die seinslogische Eigenständigkeit der Gesellschaft nicht aufgehoben, sondern eigenständig ihrem "wesenslogischen Reflexionspunkt" gegenübergestellt. Ungeachtet seiner Verdienste um die Modernität Steins verkannte Hartmann, dass - von der bildhaften Sprache abgesehen - die Kategorien Steins dem im folgenden dargestellten Gesetz und Wandel des Lebens unterworfen sind. 245 Stein, L.
v., System I, S. 13 f.
246 Vgl. ebd., S. 14: "Es wird vielleicht schwer fallen, in dem scheinbar absolut Freien und darum Willkürlichen der That und ihres lebendig Werdens ein Gesetz anzuerkennen, das für sich im Gebiete des Lebens eine ebenso unbedingte Geltung hat, als das Gesetz des Denkens im Daseyn des rein persönlichen Geistes, und das Gesetz der Schwere im reinen Daseyn der Natur. Aber in Wahrheit wäre es unbegreiflich, wenn das Leben, die höchste Form der Bewegung, eines solchen, absolut gültigen Gesetzes entbehrte, ... der Mangel eines solchen Gesetzes müßte das Leben in absoluten Widerspruch mit allem setzen, was der Mensch als Seyendes erkannt; das Daseyn desselben dagegen wird ihn wahrhaft begreifen lassen, was die Grundlage seines Wirkens, das Ziel desselben, ja was er selber ist".
11. Grundlagen der Steinschen Wirklichkeitswissenschafi
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Tat und Leben; diese entsprach dem teleologischen Prinzip, wonach die freie Selbstbestimmung sich durch die Ausführung des die einzelnen Teilhandlungen umgreifenden Handlungsentwurfes realisiert. Indem nämlich das Persönliche seinem Begriffe nach unendlich und damit inhaltslos ist, so ergibt sich, daß der Inhalt jedes Moments alles wirklichen Lebens ein natürliches und ein persönliches Element seyn muß. So wie sich beide berühren, so entsteht eine Bewegung, in welcher das persönliche Element sich das natürliche unterwirft, indem es ihm seine rein natürliche Bestimmung raubt und ihm dafür eine Bestimmung (einen Zweck) für das persönliche Leben gibt. Das natürliche Element nimmt dagegen dem persönlichen seine abstrakte Bewegung und gibt ihm statt dessen ein sachliches Maß und Gestalt. So verbinden sich beide zur Einheit; aber in dieser Einheit sind dennoch beide wieder lebendig indem das natürliche Element strebt, in seinen rein natürlichen ... Zustand zurückzukehren, während das persönliche seinem allgemeinen Wesen nach bei dem gegebenen Natürlichen ... sich nicht genügt, sondem sofort über die so eben erst erfüllte Genüge wieder hinauszugehen sucht. So entsteht aus der ersten Bewegung der Verbindung beider eine zweifache neue, in die einerseits das persönliche seine einmal gesetzte Herrschaft über das Natürliche durch beständige Rückkehr [Hervorhebung S. K.] auf dasselbe erhalten, andererseits jenseits der Grenzen des Vorhandenen ein Neues sich erzeugen will .... Diese Bewegung ist das Gesetz des Lebens; es ist die Urform des lebendigen Werdens, die bei jeder erreichten Verbindung bei der Lebenselemente, der gestalt- und maßvollen Einheit aufs neue sich öffnet, um einen neuen Gegenstand in neuem Maße und neuer Gestalt sich zu unterwerfen .... und so gleichsam ein Lebendiges an das andere reihend, das Leben in seiner vollen Wirklichkeit zugleich zu erzeugen und zu erfüllen. 247
Ungeachtet der nicht zu übersehenden Nähe zu Hegels Sprachduktus basiert Steins System der Staatswissenschaft auf einer mit Hegels ethisch-theologischem Übergang von der theoretischen zur praktischen Philosophie nicht zu vereinbarenden Prämisse: Ausgangspunkt ist nicht die unendliche Reflexionsbewegung als solche, sondern die handelnde Person. Weder die Reflexion noch die Menschheit, d. h. die Gattung können dem Einzelnen .die Grenzen seiner Selbstentfaltung nehmen. Die unendliche Rückkehr des Persönlichen ist keine Leistung des Begriffs, sondern ein Realprozess, dessen Glieder nicht zu ihrer Einheit aufgehoben werden, sondern im Gegensatz von Stoff (Natur), Form (Zweck) und formgebender (endlicher) Person bestehen bleiben. Nicht die Glieder, sondern die aus ihrem Zusammenwirken hervorgehenden Verhältnisse gehen ineinander über. Nicht mehr das Monodram des sich als und in der Welt 247 Ebd., S. 15; vgl. ebd., S. 16: "Wer aber in dem aufgestellten Begriffe als solchem tiefer eingehen will mit philosophischer Forschung, der wird zunächst seine Geltung an der Thatsache erkennen, daß der Mensch keinen Begriff zu bilden im Stande ist, ohne ihn aus dem persönlichen Elemente des reinen Denkens und dem natürlichen des Objekts als die Einheit bei der und damit als neuen Inhalt seines eigenen geistigen Lebens zu setzen"; vgl. auch System 11, S. 3 ff.
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selbst verdoppelnden Absoluten und seiner Erscheinungen, sondern der Gegensatz und Kampf der endlichen Person gegen und in der Natur und der Gesellschaft bilden die beiden Pole, zwischen denen die gesellschaftliche und staatliche Entwicklung der Gemeinschaft sich entfalten: Die große Frage ... ist und bleibt daher auch hier: in weIcher Weise dieser Widerspruch zwischen dem allgemeinen Wesen und Begriff des Menschen und seinem wirklichen Leben, von denen das erste die unendliche Bestimmung, das zweite die endliche Kraft enthält, gelöst werden soll.248
3. Rechtsbegriff und Lebensverhältnis Das abstrakte Ineinandergreifen von Person und Natur gestaltet sich im Leben der Gemeinschaft zu einem schlechterdings nicht abzuschließenden Prozess. Dies füreinander Vorhandensein natürlicher Individuen nimmt erst Gestalt an, wenn die miteinander verbundenen Menschen die Verhältnisse untereinander konkret bestimmen: Sie brauchen Regeln, welche die Lebenssphäre jedes Einzelnen innerhalb der Gemeinschaft festlegen und schützen. Aus Regeln werden Rechte, sobald die einzelne Person als gegebene unverletzliche Tatsache anerkannt wird. 249 Das Bewusstsein aber von dieser Heiligkeit der individuellen Bestimmung innerhalb und durch die Gemeinschaft nennen wir die höhere Gesittung, das Ethos; die Selbständigkeit selber ist die Freiheit; die Anerkennung derselben ... gegenüber meinem tätigen Willen und meiner konkreten Tat ist das Recht. 250 In der Gemeinschaft bestimmt der Einzelne sich weder ausschließlich selbst, noch treten Individuum und Gemeinschaft zu einem kontradiktorischen Gegensatz auseinander; in der Gemeinschaft erscheint vielmehr all das, was in der einzelnen Person nur als Vorstellung gegeben ist, zu einer vielschichtigen Realität ausgefaltet. 251 Diese Wirklichkeit lässt sich weder in das Gehäuse feststehender Begriffe bannen, noch in den unendlichen Wechsel der Verhältnisse auflösen. ,,Die Erhaltung der selbstbestimmenden Persönlichkeit muß daher nicht bloß im Allgemeinen, sondern eben für das einzelne Lebensverhältnis ... gefordert werden"252; denn im wirklichen Leben fixieren das Allgemeine und Einzelne wechselseitig ihre Besonderheit, wodurch beide ihre Individualität 248
Stein, L. v., System 11, S. 4.
249 Vgl. Stein, L. v., Gegenwart, S. 247 f. 250 Ebd., S. 247. 251 Vgl. Stein, L. v., System 11, S. 5 fT. 252 Stein, L. v., Gegenwart, S. 249.
II. Grundlagen der Steinschen Wirklichkeitswissenschaft
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gestalten. Mithin ist das Recht nicht " ... das Dasein des absoluten Begriffes, der selbstbewußten Freiheit ... "253; es erscheint entgegen Hegels Überzeugung nicht als " ... an und fiir sich seiender, vernünftiger, ... als wahrer Geist ... "254, sondern gründet in einem Akt der Freiheit.
J. G. Fichte habe zu recht gesehen, " ... dass alle Rechtsphilosophie Konsequenz von etwas und nur als Konsequenz von [Hervorhebung S. K.] Bedeutung für etwas ist"255, und die Rechtsidee "entzaubert": Sein Naturrecht habe erkannt, dass das Recht aus der Selbstbegrenzung des Einzelnen hervorgeht und
zugleich der Freiheit aller dient. 256 Beidem, dem Zusammenleben aller wie der Selbstbeschränkung des einzelnen, geht nicht die Rechtsidee, sondern die menschliche Freiheit voraus. ,,Denn was ich mir selbst sein muß, muß auch der mir gleiche für mich sein"257. Daher fällt der Ursprung des Rechts mit der handelnden Person zusammen. Das Recht entsteht erst da wo die gewollte That des einen die äußere Lebenssphäre des andern erfasst, und der Einzelne dem Einzelnen entgegentritt; hier ist es das große Princip, die große ethische Gewalt welche die persönliche Selbständigkeit gegenüber dem anderen Willen setzt und erhält; es ist der Schutz des Kernes alles Lebens, die individuelle Unverletzlichkeit gegenüber dem gewaltigsten Feinde den sie hat, der That und der Macht der anderen Persönlichkeit, und damit die erste und heiligste Grundlage und Voraussetzung jeder Entwicklung des Einzelnen wie des Ganzen. 258 Stein wendet sich ganz entschieden gegen die Utopie der Freiheit des absoluten Begriffes259 ; er erkennt in Hegels Vision eine fatale Umkehr des Verhältnisses von Wirklichkeit und Begriff. 26o
253
Hegel, Rechtsphilosophie, § 30 (S. 83).
254 Ebd., § 29 (S. 80). 255 Stein, L. v., Vorlesungsmanuskript "Geschichte der Rechtsphilosophie" (1846), in: Taschke, H. (Hrsg.), Lorenz von Steins nachgelassene staatsrechtliche und rechtsphilosophische Vorlesungsmanuskripte, Heidelberg 1985, S. 96-193 (178). Zu Fichte vgl. im Text passim.
256 Vgl. Fichte, J. G., Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre 1796, in: Werke, Bd. 3, S. 9: "Alle müssten durch Freiheit selbst sich diese Grenze setzen, d. h. alle müssten es sich zum Gesetze gemacht haben, die Freiheit derer, mit denen sie in gegenseitiger Wechselwirkung stehen, nicht zu stören". 257
Stein, L. v., Gegenwart, S. 93.
258 Ebd., S. 93 f. 259 Vgl. Hege!, Rechtsphilosophie, § 30 (S. 83). 260 Vgl. Stein, L. v., Vorlesungsmanuskript "Geschichte der Rechtsphilosophie" (1846), S. 184.
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Um die Diskrepanz zwischen Stein und Hegel hervorzuheben und den tieferen Grund von Steins Bruch mit dem Junghegelianismus auf der einen, wie der philosophischen und der historischen Schule des Rechts261 auf der anderen Seite verständlich zu machen, habe ich der Entwicklung von Steins Rechtsbegriff etwas vorweg gegriffen; ist es doch Stein zufolge das von und in Individuen realisierte Leben selbst, das neue Verhältnisse und Begriffe, neue (subjektive) Rechte und neue Rechtsordnungen hervorbringt. Das Prinzip der individuellen Selbstbestimmung gebiert aus sich heraus den Gegensatz zwischen den Einzelnen untereinander und zwischen Individuum und "Gemeinschaftspersönlichkeit", wie seine Überwindung in Konvention, Ethos und Recht. Freiheit, Ethos und Recht sind daher Erscheinungsarten des ,,Persönlichen an sich". Sie werden, da sie wie alles Wirkliche die Relativität des Daseins in sich aufnehmen, wieder zu Bestandteilen der Selbstbestimmung des Einzelnen. Damit unterliegen alle drei, jeweils für sich, wieder dem Ineinanderübergehen von Natürlichem und Persönlichem, von Leben und Begriff. Die der individuellen Selbstverwirklichung gesetzten Schranken folgen weder aus einem, wie auch immer gearteten, substantivierten allgemeinen Rechtsprinzip, noch sind sie bloßer Reflex auf äußere Zwänge, der Verhältnisse; ihre Form entspricht der wechselseitigen Anerkennung der Individuen. Das (positive) Recht ist deshalb weder Prinzip noch Vernunftsatz. Im Recht wird vielmehr der Gegensatz zwischen der prinzipiellen Freiheit aller, dem ,,Persönlichen an sich", und seiner nur relativ freien Erscheinung offenbar, wie der Widerspruch der unendlichen Bestimmung des Menschen mit der allseits beschränkten Wirklichkeit der einzelnen Person versöhnt wird. 262 Die Bestimmung des Verhältnisses zwischen Individuum und der ihm als Gesellschaft und Staat entgegen tretenden Gemeinschaft ist deshalb untrennbar mit der Frage nach dem Wesen des Rechts verknüpft. Das Recht zeigt beiden, dem Einzelnen wie der Gemeinschaft, die Grenzen ihrer Macht, ohne selbst ein vom Menschen unabhängiges Leben zu führen. Das Recht lebt daher nicht, es ist nur insofern "lebendig", als es Produkt und Erscheinung des Lebens ist. Es ist eben nur eine Schranke der unmit-
261 Vgl. dazu auch Stein, L. v., Gegenwart, S. 79 tT. 262 Vgl. Fichte, J. G., Naturrecht ... , S. 9: " ... würde Freiheit ... nur unter der Bedingung möglich seyn, dass alle ihre Wirksamkeit in gewissen Grenzen einschlössen, und die Welt, als Sphäre ihrer Freiheit, gleichsam unter sich theilten ... alle müssten durch Freiheit selbst sich diese Grenzen setzen, d. h. alle müssten es sich zum Gesetze gemacht haben, die Freiheit derer, mit denen sie in gegenseitiger Wechselwirkung stehen, nicht zu stören .... Es findet sich, dass man in Gedanken jedes Mitglied der Gesellschaft seine eigene äussere Freiheit, durch innere Freiheit, so beschränken lasse, dass alle andere neben ihm auch äusserlich frei seyn können. Dies nun ist der Rechtsbegriff'.
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telbaren Willkür263 und als solche gleichgültig gegen seinen Inhalt. Weil dem so ist, ist alles Recht dazu verurteilt, Unrecht zu werden, sobald sich sein Inhalt, die Lebensverhältnisse, wandelt, über die alte Form hinaus schreitet und sich eine neue Gestalt, neues Recht gibt.
4. Der doppelte Inhalt des Rechts: Recht als Gegenstand und Gegenstände des Rechts In der Bewegung des Lebens dient das Recht gleichermaßen dazu, bestehende Lebensverhältnisse zu sichern, wie deren Veränderung zu ermöglichen. Kein bestehendes Recht " ... hat ein Recht, Recht zu bleiben"264. Das Recht umgrenzt die Wandlungen des Lebens; es entspricht den Veränderungen in Gesellschaft und Staat, kann diese aber nicht ersetzen. Andererseits ist es schlechterdings undenkbar, " ... , dass das Recht selbst Nichtrecht sei. Der Widerspruch bleibt daher unlösbar, sobald ich das Recht als einen einfachen Begr!ff(Hervorhebung S. K.) aufIasse"265. Schon das ,,reine" Recht besitzt sowohl einen sich wandelnden Inhalt, wie es davon unabhängig mit sich identisch bleibt. 266 Wirkliches, positives Recht entsteht immer dann, wenn die Menschen das Verhältnis zwischen einander festlegen und gegenseitig die Grenzen der jeweiligen Entfaltungsmöglichkeit bestimmen. Deshalb ist der ... Inhalt des Rechts ... überhaupt kein Recht, sondern etwas fiir sich Seiendes, und das Recht dieses Inhalts ... ist ganz etwas anderes - es bezeichnet, sowie ich es fiir sich betrachte, nur ein bestimmtes Verhältnis des ersteren zu einer bestimmten Persönlichkeit. 267 Die bereits in Steins Doktorarbeit hervorgehobene Unterscheidung zwischen dem Recht und seinem Inhalt, zwischen Rechtsprinzip und positivem Recht, ist beibehalten: Das Recht hat zwei Inhalte, diese sind dessen ungeachtet untrenn263 Soweit folgt Stein Kants negativer Rechtsdefinition. Vgl. Kant, 1., Metaphysik der Sitten, § B 230. 264 Stein, L. v., Gegenwart, S. 242. 265 Ebd., S. 243. 266 Vgl. Stein, L. v., Handbuch der Verwaltungslehre. Erster Theil. Der Begriff der Verwaltung und das System der positiven Staatswissenschaften, 3. Aufl. 1888, Stuttgart (Hdb. I), S. XIV: "Alles Recht ist daher an sich Eins, und das wodurch es als Eines erscheint, ist sein Princip. Aber indem es das Verhältniß aller Einzelnen zu einander und zur Gemeinschaft umfasst, verleihen die Verschiedenheiten jener Ordnungen und ihrer Bewegungen dem Rechte seinen verschiedenen Inhalt, und so entsteht das Rechtssystem". 267
Stein, L. v., Gegenwart, S. 244.
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bar miteinander verbunden. Zum einen bildet das Recht im Dasein die Grenze des allen endlichen Individuen gemeinsamen Persönlichen an sich: Dies Persönliche, sowohl die individuelle Person, als auch die ihr in den gesellschaftlichen Mächten und der staatlichen Ordnung als allgemeines Individuum beziehungsweise allgemeine Persönlichkeit entgegentretende Gemeinschaft, gilt gleichermaßen: keine Freiheit ohne Grenze, und keine Grenze ohne Freiheit. Stein überträgt Hegels Bestimmung der "Schranke und des Sollens"268 aus der objektiven Logik auf das Rechtsverhältnis zwischen Personen und interpretiert es strikt anthropomorph: Nicht der Übergang zwischen dem Endlichen und dem Unendlichen, sondern das einander Gegenübertreten und Zusammenwirken endlicher Personen findet im Recht seine Schranken. Das Recht stellt als Gegenstand insgesamt die Grenze individueller Entfaltungsmöglichkeiten in der Gemeinschaft dar. In dieser Eigenschaft bleibt es "an sich" immer dasselbe, so sehr sein Inhalt sich wandeln mag; aber "... Grenze ist als Schranke nur bestimmt im Gegensatz gegen sein Anderes überhaupt als gegen sein Unbeschränktes; das Andere einer Schranke ist eben das Hinaus über dieselbe"269. Dies Andere der Schranke findet Stein nicht in der Negation bestehenden Rechts oder bestimmter Realverhältnisse als solcher, sondern im Inhalt des Rechts, den Lebensverhältnissen. Die wiederum werden von den Interessen wirklicher Personen und deren Gegensatz untereinander bestimmt. Mit anderen Worten, das Andere des Rechts, seine Objekte, unterwerfen sich nicht dem Rechtsprinzip, sie fUhren ein selbständiges Leben; darin wird das Verhältnis zwischen den divergierenden Interessen samt ihres Gegensatzes untereinander - obwohl "an sich" kein Recht - zur rechtsgestaltenden Macht. Deshalb bestimmt nicht das wirkliche, positive Recht das Leben der Gemeinschaft, vielmehr bestimmen die deren Leben beherrschenden Interessen Form und Inhalt der wirklichen, positiven Rechtsordnung . ... nicht in der Natur des Rechts, in der man es so oft und so vergeblich gesucht hat, sondern in dern Verhältniß der Rechtsordnung zur Gesellschaftsordnung liegt es, dass "Recht zum Unrecht, und Wohlthat Plage" wird, und das andererseits die einzige Grundlage der Wahrheit und der wirklichen Ordnung positiver Rechte geben kann. 270
Die vom Rechtsprinzip geforderte Anerkennung des Anderen als Person beinhaltet folglich keinerlei konkrete Rechte. Das ,,reine Recht" oder Recht "an sich", kurz das von Stein als Utopie abgelehnte neuzeitliche Naturrecht271 ,
268 Vgl. Hegel, Logik I, S. 142-149. 269 Ebd., S. 145. 270 271
Stein, L. v., System 11, S. 65. V gl. C. 11.
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schützt zwar die Person als zu achtendes Objekt der Tat eines anderen272 ; damit ist aber nur der Schutz des individuellen Lebens als solcher verbunden, es bleibt unterbestimmt. Wie das Verhältnis konkret gestaltet wird, darüber sagt das Prinzip nichts; das kann es gar nicht, weil die Einzelnen sich nicht als tote Gegenstände im Raum, sondern als handelnde Personen gegenüber stehen. Während der Einzelne nur insofern Rechtssubjekt ist, als er sein Leben selbst bestimmen kann, erscheint er im ,,reinen Recht" als negativ bestimmte, objektive Grenze der Willkür eines Anderen. In Wahrheit ist das reine Rechtsprinzip nur der leere Spiegel der erst im Anderen zu sich findenden Individualität, mithin die "objektive Seite" an der Selbstentfaltung der Person. Dasjenige, was demgemäß das System des Rechts bildet, kann, da das Recht mit allern Unpersönlichen nichts zu thun hat, nur in den Grundformen liegen, welche das Leben der persönlichen Welt sich durch seine eigene Natur erzeugt, und aus deren Einfluß auf die Entwicklung des Rechtslebens die noch unklaren Vorstellungen über das alte Naturrecht entstanden sind. 273 Mit anderen Worten: das ,,reine Recht" erreicht nicht das "wirkliche Leben"; der Gegenstand ,,Recht" kann ohne den von ihm umgrenzten Inhalt nicht hinreichend bestimmt werden. Die "Geschichte des Naturrechts" besteht daher darin, dass seine Gestaltung im wirklichen, positiven Recht immer die Beziehungen zwischen den Individuen und der Gemeinschaft, d. h. die Lebensverhältnisse spiegelt. Die historische Entwicklung zeigt die wechselseitige Abhängigkeit von Individuum und Lebensverhältnis; sie zeigt, dass die Lebensverhältnisse den Einzelnen prägen; sie demonstriert darüber hinaus aber auch, dass Individuen die Verhältnisse ändern. Dem entsprechend genügt das wirkliche Recht erst dann seinem Prinzip und wird tatsächlich allgemein, wenn " ... der Begriff der selbständigen Einzelpersönlichkeit und ihrer Selbstbestimmung innerhalb des Gesammtlebens die Grundlage und der Inhalt des Rechtssystems ... "274 geworden ist. Erst dann findet die Vermittlung zwischen Individualinteressen und deren Beschränkung durch die Gemeinschaft ihr Maß im Rechtsbegriff. Bis dahin erscheint das Recht nur in Gestalt der Vorrechte des Privilegienrechts; dieses kennt keine allgemeinen Grenzen, sondern besteht in der rechtlichen Fixierung jeweils nur eines Lebensverhältnisses, eben der persönlichen Herrschaft Einzelner. Somit endet die "Geschichte des Naturrechts" damit, dass das positive Recht " ... die Anerkennung des einzelnen als gleicher Persönlich272 Vgl. Stein, L. V., Gegenwart, S. 110: "Wenn der thätige Wille des Einen den Andem ... nur als reine, natürliche Thatsache setzt, so setzt er ihn eben damit als rechtlos ... das Wollen und Thun ... , welches das Persönliche als unpersönlich setzt, ist die Negation des Rechts ... ; wir nennen eine solche That daher ein Unrecht - eine Unthat". 273 Stein, L. V., Handbuch der Verwaltungslehre I, 3. Aufl., S. 359. 274 Ebd., S. 360.
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keit, und die Theilnahme seiner Selbstbestimmung an allem Wollen und Thun anderer, das ihn von außen her bestimmt, zur Geltung bringt".275 Unter Rechtssubjekten ist ein bloß negativ bestimmtes, objektives Verhältnis nicht möglich, weil jeder einzelne handelt. Das ständige Verschmelzen und Auseinanderhervorgehen von objektiver Ordnung und subjektiver Willkür lässt sich in und für die Gemeinschaft weder objektiv festlegen noch in die Willkür einzelner auflösen. Wie der Begriff des ,,Persönlichen an sich" im Leben der Menschheit erst durch die Vermittlung mit seinem Gegenteil, dem "Natürlichen", Wirklichkeit gewinnt, bleibt das ,,reine Recht" ein leerer Wahn, wenn es nicht vom Leben der Menschen aufgenommen wird und dort seine Inhalte empfängt.
5. Rechtsbegriff und Lebensbegriff Der Einzelne findet und entfaltet die eigene Individualität zwar erst in der Gemeinschaft, jedoch bleiben seine Gedanken, Absichten und Taten Teil der eigenen Lebensgeschichte; diese will geschützt und bewahrt sein: Das ,,reine Recht" kann sie nicht sichern, weil die Abstraktion einer objektiven Grenze bereits durch das gemeinsame Handeln nur zweier Personen beiseite geschoben wird. Die Verbindung oder die Gemeinschaft setzt jetzt vielmehr eine beständige, niemals ruhende Verschmelzung auch der äußeren Lebenssphären der Menschen, wie sie in geistigem Wechselverkehr sich ewig erzeugt und emeut. 276 Dennoch: auch die allseits mit anderen Individuen verbundene Person bewahrt sich prinzipiell die eigene Selbstbestimmung. ,,Die Erhaltung der selbstbestimmenden Persönlichkeit muß daher nicht bloß im allgemeinen, sondern eben für das einzelne Lebensverhältnis oder den einzelnen von uns sogenannten Lebensbegriff gefordert werden"277. Recht, das nicht den Wandel der Lebensverhältnisse begrenzt und reflektiert, bleibt eine Chimäre, weil seine Schranken entweder ohne Inhalt sind oder vom Wechsel der Lebensverhältnisse eingerissen werden; dies hatten 1849 bereits drei Revolutionen in Frankreich und die missglückte deutsche Revolution gezeigt. Der Inhalt des positiven Rechts ist daher "an sich" kein Recht, sondern Ausfluss der in Gesellschaft und Staat sich objektivierenden Lebensverhältnisse.
275 Ebd., S. 357.
Stein, L. v., Gegenwart, S. 95; vgl. Stein, L. v., Verwaitungslehre, Teil 2, S. 101 f. 277 Stein, L. v., Gegenwart, S. 96.
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Das inhaltslose reine Recht bleibt so wenig eine Chimäre, wie die Lebensverhältnisse, bzw. der Inhalt des zu positivierenden Rechtsprinzips, ihre Grenzen zufällig finden; denn das Recht ist dem Wandel der Lebensverhältnisse keineswegs hilflos ausgeliefert. Es bleibt zwar immer nur der Maßstab zwischenmenschlicher Beziehungen und ist als solcher abhängig vom Wechsel der Maßstäbe, jedoch orientieren sich alle Lebensverhältnisse am Maßstab des Üblichen, d. h. am geltenden Recht. "Es folgt 00. daraus, dass jede Gesellschaftsordnung in beständigem Streben begriffen ist, das geltende Recht mit sich in Einklang zu bringen"278. Die im Lebensbegriff zusammengefassten Lebensverhältnisse bestimmen zwar nicht normativ, aber faktisch die Grenzen einzelner und der Gemeinschaft insgesamt. Der Lebensbegriff beschreibt daher objektiv und genau die Voraussetzungen des positiven Rechts; "00' denn diese Formulierung ist es, welche ihm das zu geben vermag, was das Rechtsprinzip fordert, die Rechtsgrenze gegenüber dem anderen"279. Aus unbestimmten Einflusszonen werden scharf umgrenzte Machtpositionen, und diffuse Lebensverhältnisse klären sich zu genau definierten "Vertragsbeziehungen". Damit fängt das Recht an, die Lebensverhältnisse inhaltlich zu gestalten; die Bestimmung der rechtlichen Grenze zwingt zu einer Definition des von ihr umgrenzten Lebensverhältnisses. Ein solches, durch das Recht und mithin auch für das Recht formuliertes Lebensverhältnis ist und heißt damit ein Rechtsverhältnis, und der entsprechende Lebensbegriff ist und wird dann ein RechtsbegrifJ.280
Der Rechtsbegriff vollendet die Inversion des inhaltslosen Rechtsprinzips zur "lebendigen Wirklichkeit" und die Umkehr rechtloser Zustände zu wohl geordneten Rechtsbeziehungen. Die "Verrechtlichung" erscheint hier nicht als Bedrohung "lebensweltlicher Nischen", im Gegenteil: Verrechtlichung ist die Chance und Voraussetzung zur Entfaltung des Reiches der Freiheit. Erst das "auf den Begriff' gebrachte Leben der Gemeinschaft verwandelt die unbegrenzte Vervielfältigung individuellen Leids in die Mehrung der Wohlfahrt aller und des Einzelnen: ... so ergibt sich, als die wahre Grundlage jedes Rechtsbegriffes und jeder Rechtsbildung, dass zwar das Princip des Rechts aus dem Wesen der Persönlichkeit an sich, der selbständige Inhalt desselben aber und damit auch jeder Rechtsbegriff dagegen
278 Stein, L.
V.,
System 11, S. 66.
279 Stein, L.
V.,
Gegenwart, S. 96.
280
Ebd., S. 96.
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aus dem arbeitenden und wechselnden Leben erzeugt und mit demselben gebildet wird. 281
Die Suche nach den prinzipiell möglichen Inhalten des Rechts verdeutlicht, dass Individuum, Gemeinschaft und Recht einander voraussetzen: Das endliche Ich realisiert die eigene Selbstbestimmung als Person; als solche erkennt es die menschliche Gemeinschaft als das Andere seiner selbst und transzendiert zugleich die allseits gegebenen Schranken zu selbst geschaffenen Grenzen. Die ungesellige Geselligkeit zwingt den Einzelnen auch im Bereich seiner ureigensten Interessen282 dazu, sich Grenzen zu setzen; ihr Inhalt bestimmt - obwohl von Einzelnen gesetzt - im positiven Recht insgesamt das Leben aller unabhängig von den Präferenzen einzelner. Die Arbeitsteilung und das positive Recht ermöglichen die Realisierung individueller Interessen in der Gemeinschaft. 283 Das "positive Recht" ist damit Grenze und Spiegel gegebener Lebensverhältnisse. Dem entsprechen drei rechtliche Grundverhältnisse: Zunächst ist ... jeder einzelne für den anderen ... eine einfache Tatsache, ... die er jedoch als eine sich selber gleichartige erkennt. Dann wird derselbe für ihn zu einer Kraft, welche vermöge ihrer Gleichartigkeit seinen Zwecken zu dienen vermag. Und endlich wird, weil er selbst alsbald begreift, dass er nur in dieser Verbindung mit der Kraft eines anderen seine Bestimmung für sich zu erreichen vermag, die Verbindung mit demselben zu einer auch für sein Bewusstsein gültigen absoluten Bedingung seines eigenen Lebens284 .
Die Geschichte der im Recht Gestalt annehmenden allgemeinen Grenze von Individuum und Gemeinschaft zeigt, dass die menschliche Person sämtliche Schranken übersteigt, um sich in neuen Bestimmungen ihrer selbst und damit neuen Rechtsgrenzen der Gemeinschaft zu finden. Erst im Medium des Rechts - verstanden als Grenze und Vermittlung divergierender Interessen285 - ent-
281 Ebd., S. 97. Vgl. ebd.: "Ich kann somit auch niemals aus dem bloßen Recht zum Rechtsbegriffe und der Rechtsbildung gelangen; es ist der Lebensinhalt derselben, weIcher das wirkliche Recht erzeugt, bedingt und gestaltet". 282 V gl. Stein, L. v., System 11, S. 124: "Bei allem Interesse ... herrscht die Beziehung auf das Individuum selbst vor. Es ist das Interesse die subjektive Seite der für sich selbst thätigen Individualität. Bei jedem Interesse denkt der Einzelne nur an sich". 283 Vgl. 284
Koslowski, S. (1989), S. 21 tT.
Stein, L. v., Gegenwart, S. \09 f.
285 Vgl.
Stein, L. v., System I, S. 5; System 11, S. 128 f.; Gegenwart, S. 147-297. Der Umfang, den die Umwandlung des "Lebensbegriffes" zum "Rechtsbegriff', bzw. die Transformation der Rechtsgeschichte zur Gesellschaftsgeschichte und systematischen Rechtswissenschaft hier einnimmt, zeigt, dass Stein den radikalen Bruch der staatsbürgerlichen Gesellschaft mit den "geschichtlichen Mächten" so bedeutend fand, dass er
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wickelt sich das Leben der Menschheit, emanzipiert sich der Einzelne von der Gemeinschaft und erhält die Chance, sein Leben selbst zu gestalten. 286 Die "Explikation" des "Rechtsbegriffs" zeigt deutlich beides: den nachhaltigen Einfluss 1. G. Fichtes auf Steins Rechtsverständnis wie seinen eigenständigen Übergang von der philosophischen Spekulation zur empirischen Exploration. Das Konzept, die menschliche Individualität als einen Prozess sich durchhaltender Identität im Gegensatz zu allen Affektionen und Tätigkeiten darzustellen, verbindet Hegels Bestimmung der Vernunft in der Geschichte mit den durch die ,,Fichtesche Brille" gesehenen Entwürfen von Leibniz und Kant. Weil jeder Einzelne ein vollständiges Abbild des Absoluten ist, nimmt er zwar teil an dem "unendlichen Lebensprozess" , aber er ist nicht nur "Moment" an dessen Übergängen; er ist vielmehr ein selbstbewusstes, das Ganze wie das Einzelne spiegelndes Element. Daraus folgt ein monadischer Aufbau der Wirklichkeit. Weil jedes Individuum ein vollendetes Abbild des Absoluten ist, verfügt jeder Mensch über alle Attribute seiner Bestimmung, wie er seine Wirklichkeit nur im Zusammenwirken mit anderen gestalten kann. Das erste fUhrt dazu, den Einzelnen als einfaches, mit sich identisches Wesen, als Monade287 zu denken, das letztere dazu, das Individuum als einen Reflektor und Reflex der Entwicklung des Ganzen zu betrachten. Beharrt man auf dem ersten Standpunkt, gewinnen weder die Gemeinschaft im Leben des Einzelnen noch das Individuum im Leben der Gemeinschaft Wirklichkeit: Es gibt keinen Übergang von der abstrakten Selbstgleichheit des Ich=Ich zur wirklichen, d. h. sozialen Welt. Folgt man dem letzteren, bleibt die menschliche Freiheit unbegreiflich. Es gelingt nicht, der subjektiven Selbstbestimmung und Tatkraft den Stellenwert zuzugestehen, der ihnen gebührt: der Einzelne bleibt Moment und Reflex der Entwicklung des Ganzen. Demgegenüber ist der Einzelne gleichermaßen als abgeschlossene Einheit, Individuum wie Teil und Teilhaber am Ganzen, Person, zu begreifen. Erst dann findet die unendliche Transzendenz des ,,Persönlichen an sich", d. h. der absoluten Persönlichkeit, einen angemessenen Spiegel in der Wirklichkeit: Das Ganze begrenzt daher nicht das Einzelne; das Einzelne seinerseits bindet sich nicht an das Ganze. Und so ergibt sich der Begriff des Persönlichen dahin, dass es in seinem Daseyn wie in seiner Bewegung das Unendliche ist. 288 meinte, ihn sowohl historisch als auch systematisch begründen zu sollen. Vgl. dazu Abschnitt 111. 286 Vgl. Stein, Hdb. I, S. XIV: "Die Voraussetzung aller Gemeinschaft ist ... eine Beschränkung der an sich freien, also unbegrenzbaren individuellen Selbstbestimmung, insoweit diese Beschränkung als Bedingung fiir jene Ordnungen der Gemeinschaft erscheint. Diese Beschränkung(en) ... bilden das Recht". 287
Vgl. Leibniz, G. W., Monadologie, §§ I, 11, 16.
288
Stein, L. v., System I, S. 6.
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Der ,,Begriff" sei wohl ein Produkt des Lebens, aber er schaffe nichts, folgerichtig werden die begrifflichen Konstruktionen ständig von der Dynamik des Lebens überholt. Deshalb haben das (positive) Recht und die Staatswissenschaft( en) die Gesellschaftswissenschaften im weiteren Sinn (Sozialwissenschaften, Wirtschafts- und Finanzwissenschaft, Geschichtswissenschaft) zur Voraussetzung - indessen, ohne bei ihnen stehen zu bleiben. Das formale Prinzip, aus dem alle staatlichen Handlungen hervorzugehen haben, wird demnach durch die Verwaltung verwirklicht und " ... ist daher ausgedrückt in der durch dieselbe in den einzelnen Lebensverhältnissen der Einzelnen verwirklichten Idee der höchsten Bestimmung der allgemeinen und der Einzelpersönlichkeit".289 Der Staat hat nicht nur die Eigenständigkeit von Individuum, Gesellschaft und Recht zu respektieren, er muss darüber hinaus den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandel anband der Veränderungen im Rechtsbegriff verstehen, um wirtschaftlichen und sozialen Fehlentwicklungen steuern zu können. Somit wurde das anthropologische Konstrukt der "Persönlichkeit" als Einheit von "Wille" und "Tat" für Stein zur Schlüsselfigur, nicht nur um die Handlungsmuster individueller Interessenverfolgung herauszupräparieren, sondern auch um die Legitimations- und Integrationsformen öffentlichen HandeIns darzustellen. 290
6. Individuum, Gesellschaft und "Staatspersönlichkeit"291 Die Vermittlung von Individuum und Gemeinschaft, wie der Übergang vom Rechtsprinzip zum wirklichen Recht entsprechen sowohl der Kantischen Beschränkung des Vernunftrechts als auch Hegels Forderung, im Recht die Freiheit verwirklicht zu sehen. Der doppelte Inhalt von Steins Rechtsbegriff und das Zusammenspiel von Lebens- und Rechtsbegriff gehen dabei der Entscheidung ,,Kant oder Hegei" nicht aus dem Weg. Stein begreift sich weder als Kant- oder Hegelianer, noch bedeutet die Aufspaltung des Rechts in das reine Recht des ,,Persönlichen an sich" und das zwar relative, dafiir aber wirkliche Recht, dass das Recht als bloßer Annex der sozialen Bewegung292 betrachtet wird.
In der gedoppelten Dialektik, besser gesagt "polaren Inhärenz" von reinem Begriff und tätigem Leben spiegeln sich sowohl der "Gang des Geistes von 289
Stein, L. v., Hdb. I, S. 408. Vgl. Deutsches Staatsrecht, S. 54.
290
Pankoke (1977), S. 127.
291 Dieser Abschnitt fasst meine Arbeiten von 1989 und 1992 zusammen. 292 So aber Böckenförde (1958), S. 158.
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Kant über Fichte und Hegel zum Junghegelianismus", wie die Rationalisierung und Homogenisierung der menschlichen Lebensformen ihren Niederschlag in den zu Rechtsbegriffen geronnenen individualisierten Lebenswelten der industriellen Gesellschaft findet. Letzteres veranlasst Stein frühzeitig dazu, die "Veredelung der Gesellschaft" durch eine die Gesamtheit der Staatswissenschaften, d. h. Gesellschaftslehre, Nationalökonomie und Rechtswissenschaft beinhaltende .,Regierungswissenschaft"293 zu fordern; diese legte wiederum den Grundstein zum Bau einer Verwaltungslehre. die die philosophische Einsicht mit den konkreten Sozialwissenschaften verbinden und für die freie, allgemeine Persönlichkeit, den Staat, nutzbar machen wollte. Ähnlich wie J. G. Fichte die Selbstbestimmung zum Dreh- und Angelpunkt seiner Philosophie machte und damit die Kantische Aporie zwischen der reinen Vernunft und der bloß möglichen Freiheit im Sinne der menschlichen Willensfreiheit entschied und den weiteren Weg der idealistischen Philosophie maßgebend beeinflusste, rettet Stein Hegels Leistungen für die industrielle Welt: Er macht sich frei von Hegels Traum und Zwang zur großen Harmonie des Weltganzen und gebraucht dessen Rechtsphilosophie als phänomenologische Vorgabe; damit wendet er die Hegeische Philosophie gegen Spätidealismus und Junghegelianismus: "Logisch-rational" erfordert die Gesellschaft der Individuen folgenden Begriff staatlicher Souveränität: Die Majestät des Staates enthält die freie Selbstbestimmung der einzelnen Persönlichkeit. In ihr liegt daher. unentwickelt. aber dennoch entschieden vorhanden. stets der Gedanke des Gegensatzes gegen die Idee der absoluten Herrschaft des Staates. 294
Diese Konstruktion sieht eine begriffliche Trennung des faktischen Ineinander von Individuum, Gesellschaft und Staat vor. Während die Gesellschaft die Individualität der Einzelnen im Allgemeinen realisiert, obliegt es dem Staat als Einheit der vielen, die allgemeine Persönlichkeit aller gegen den aus der individuellen Zweckverfolgung resultierenden gesellschaftlichen Gegensatz zu behaupten; gesellschaftliche Widersprüche seien sozialtherapeutisch zu steuern. Die begriffliche Konstruktion ... eröffnet ... damit die Möglichkeit ...• die Gesellschaft soziologisch und historischdeskriptiv zu untersuchen und doch eine gegenseitige Abhängigkeit von Staat und Gesellschaft und ihrer jeweiligen Variation. also ihre dynamische Koexistenz. in den Blick zu nehmen und auf Gesetze zu bringen 295 .
293 Vgl. Stein. L. v .• Der Begriff der Arbeit und die Principien des Arbeitslohnes in ihrem Verhältniß zu Socialismus und Communismus. in: Zeitschrift für die gesammte Staatswissenschaft. Bd. 3. 1846. S. 233-290 (247). 294
Stein. L. v.• Allgemeines deutsches Staatsrecht (1873). in: Taschke (1985). S. 50.
295
Hartmann (1981), S. 246.
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Genau das ist der Zweck des arbeitenden Staats. Um den Interdependenzen in Wirtschaft und Gesellschaft gerecht zu werden, entwickelt die Steinsche Staatstheorie einen viergliedrigen Staatsaufbau: Dieser ist notwendig, um die Freiheit des Einzelnen gegenüber Gesellschaft und Staat, die Eigendynamik gesellschaftlicher Prozesse und die Ermöglichung staatlicher Autorität gegenüber Individuum und Gesellschaft "organisch" darzustellen und von einander abzugrenzen. Der arbeitende Staat verbindet die Freiheit der Gesellschaft vom Staat mit dem notwendigen Maß an staatlicher Autorität und sichert den gesellschaftlichen Frieden: a) Die unmittelbare Volkssouveränität wird abgelehnt; sie schaffe nicht die Gemeinschaft aller, sondern übertrage den Gegensatz zwischen den vielen Einzelnen auf die staatliche Ebene: "Sobald ... die Volkssouveränität als Prinzip anerkannt wird, so wird sofort die Souveränität der Gesellschaft die wirkliche Grundlage der Staatsordnung"296 und der Klassenkampf beherrscht die gesamte Staatsorganisation. Es gelte, das Volk in die Staatsorganisation zu integrieren und nicht die Souveränität der Gesellschaft über den Staat zu zementieren: Dank der Gesetzgebungskompetenz der Volksvertretung mutiert die Volksherrschaft zur innerstaatlichen Staatswillensbestimmung. Das Parlament legt als das " ... staatliche Organ des Volkes und das volkliche Organ des Staates .. ."297 nicht nur den in Gesetzen zum Ausdruck kommenden Staatswillen fest; es wirkt darüber hinaus in die Gesellschaft zurück: Die Parlamentsbeschlüsse gelten als ein Wille; die gesellschaftlichen Konflikte werden somit " ... von dem Willen der Gesetzgebung, dem Geiste der gemeinsamen Vertretung abhängig gemacht und eben dadurch von vornherein auf einen höheren Standpunkt gefiihrt"298. Das Volk ist zwar souverän bei der Gestaltung der Gesetzesinhalte, es kann seine Souveränität aber nur als Staatsorgan wahrnehmen. Der gesellschaftliche Gegensatz wird von den Parlamentsbeschlüssen folgerichtig "aufgehoben" und das Volk wandelt sich zu einem Organ des ihm entgegentretenden Staates; diese wechselseitige Verzahnung von Gesellschaft und Staat unterscheidet die staatsbürgerliche Gesellschaft von allen überlieferten Gesellschafts- und Staatsformen (Begriff des Staatsbürgertums). b) Die Freiheit des Staats erscheint am deutlichsten in den selbständigen Rechten der vollziehenden Gewalt gegenüber dem Parlament; zwar bestimme die Gesetzgebung den Staatswillen, jedoch
296
Stein, L. v., Soz. Bew. III, S. 138.
297 Stein, L. v., Zur preußischen Verfassungsfrage (1852), In: Forsthoff (1972), S. 115-147 (132).
298 Ebd., S. 131.
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... ist die "Regierung" ... nicht ... die bloße Vollziehenn ihres Willens, sondern sie ist zugleich die Erfüllung derselben sowohl ihrem Geiste als ihrer Verwirklichung nach; sie ist der wahrhaft thätige, der nie ruhende, allgegenwärtige Vertreter der persönlichen Staatsidee. In ihr concentriert sich alles, was der Staat will und kann ... Sie ist daher die wahre herrschende Macht im Leben des Staates und keine Verfassung und keine Institution kann ihr diese Stellung nehmen, wenn sie geistig im Stande ist, sie zu behaupten. 299
Die Regierung vollzieht den Willen des Gesetzgebers; sie steht zwischen der Legislative und der Verwaltung; sie gestaltet mit ihren Verordnungen,3oo wie der Staatswille ausgeführt wird. "Unter Regierung ist also die wesentlich vom Politischen her bestimmte Leitung der Verwaltung zu verstehen, welche diese zu einem einheitlichen, gegenüber der normativen Sphäre weithin selbständigen funktionsfähigen Körper zusammenfaßt".301 Die Regierung eröffnet dem Staat die Möglichkeit, gestaltend auf die Gesellschaft einzuwirken; sie verpflichtet die Verwaltung zur Ausführung der Gesetze in der Gesellschaft und bestimmt die Grundlinien der Verwaltungspolitik: Die Gesetze ermächtigen die Regierung zu Verordnungen; demgegenüber verpflichten das Verordnungsrecht und die Verordnungen der Regierung die Verwaltung zum Handeln Das Recht der vollziehenden Gewalt hat daher mit dem eigentlichen Verwaltungsrecht formell gar nichts zu tun; es hat vielmehr ... für alle diese [Verwaltungs-, S. K.] Aufgaben in ganz gleicher Weise die Frage zu beantworten, in welchem inneren (rechtlichen) Verhältniß alle jene Thätigkeiten zum reinen Staatswillen oder zum Gesetze des Staates stehen ... Oder, indem man diese Fragen anders ausdrückt, ihre Beantwortung liegt in der Entscheidung darüber, wieweit die Selbstbestimmung des Vollzugswillens in Verordnung, Organisation und Zwang entweder vermöge des Staatswillens gesetzt, oder durch ihn (gesetzlich) begränzt ist, oder endlich die Berechtigung hat, ihn zu vertreten. 302
299
Stein, L. v., Die Verwaltungslehre, Teil I, Abt. I, S. 294 f.
Böckenforde (1958) würdigt eingehend die Aktualität von Steins Kennzeichnung des Verhältnisses zwischen Gesetz und Verordnung. 300
301
ForsthojJ(l973), S. 17.
302 Stein, L. v., Die Verwaltungslehre, Teil I, Abt. I, S. 65 f. Vgl. auch ebd., S. 66: "Und es ist somit, denken wir, klar, daß dieß Recht der vollziehenden Gewalt einerseits als ein selbständiges Rechtsgebiet dasteht, mit dem eigentlichen Verwaltungsrecht gar nicht zu verwechseln und in Objekt und Aufgaben so wesentlich verschieden von demselben ist, daß man es nur zu bezeichnen braucht, um es wirklich zu unterscheiden; andererseits aber auch, daß dies Recht der vollziehenden Gewalt wie die vollziehende Gewalt jedem einzelnen Organ der ganzen wirklichen Verwaltung inne wohnt, und daß daher jedes vollziehende Organ den Grundsätzen und Bestimmungen speciell unterworfen ist, welche ihrerseits für dieß Recht der vollziehenden Gewalt in Verantwortlichkeit und Klag- und Beschwerderecht gelten ... ".
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Gesetzgebung, Regierung und Verwaltung werden nicht inhaltlich, sondern funktional bestimmt, wobei bei Stein - was die moderne Verwaltungsrechtswissenschaft dem 20. Jahrhundert vorbehält - auch " ... die Unterscheidung von Gesetzgebung und Verwaltung im materiellen Sinne auf die Trennung zweier Formen der Staatstätigkeit, nämlich der rechtssetzenden und der vollziehend rechtsanwendenden [zielt]". 303 c) Der Staat hat die gesellschaftlichen Bedingungen seiner Existenz zu gestalten; nur so kann er seinen Zweck erfüllen, der Freiheit aller Einzelnen zu dienen. Der Regierungswille wird verwirklicht, indem die Verwaltung die staatlichen Absichten in den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Verhältnissen realisiert. Der Schwerpunkt staatlichen Handeins wird eindeutig in die Verwaltung gelegt. Dies bedeutet keine Schwächung rechts staatlicher Grundsätze, sondern die sozialstaatliche Einlösung der Versprechen des liberalen Verfassungsstaats: Die Verwaltung darf das staatliche Gesamtinteresse nur in einer Weise verwirklichen, die die Eigenständigkeit ihrer Objekte und die verfassungsrechtlich verbürgte Freiheit des Einzelnen beachtet und schützt (Prinzip des verfassungsmäßigen Verwaltungsrechts). ,,Das leitende Prinzip für dieß ganze Rechtsgebiet ist daher die Zweckmäßigkeit, die wiederum ... nur durch Untersuchung und Verständniß der Lebensverhältnisse gefunden werden kann, auf welche sich die Verwaltung bezieht"304. Dieser Satz ist keine Vorgabe zur "freien" Verwaltungsorganisation; er ist Programm: In der Verwaltungslehre folgen dem allgemeinen Teil "das verfassungsmäßige Verwaltungsrecht" die Abschnitte ,,Die Bedeutung des Rechtsstaats und sein Verhältniß zum verfassungsmäßigen Regierungsrecht"305 und ,,Das System der Verantwortlichkeit und Haftung der Behörden"306; dort werden das individuelle Einspruchs- und Beschwerderecht sowie das Rechtsinstitut der Verwaltungsklage akribisch abgehandelt. Die "subjektiven Rechte" der Einzelnen gegenüber dem Staat und seiner Verwaltung haben hier ihren Platz; Verwaltungsfehler dürfen zwar nicht durch die unmittelbare Selbsthilfe und den Widerstand des von rechtswidrigen Verwaltungsakten Geschädigten "geheilt" werden, jedoch muss dem Betroffenen der ,,Rechtsweg" offen stehen: Ihm bleibt nichts übrig, als eine Klage zu führen, und es ist dann Sache der Gewalten, welche die Verantwortlichkeit verwirklichen, das Recht gegen die Verwaltung zu schützen ... Die Entwicklung der Grundsätze des öffentlichen Rechts setzt ja 303 WoljJ, H. 1. / Bachof, 0., Verwaltungsrecht I, § 17 IIb (S. 73). Wie hier auch ForsthofJ(l973), S. 17,46,439. 304 Stein, L. v., Die Verwaltungslehre, Teil I, Abt. I, S. 66. 305 Vgl. ebd., S. 294-408. 306 Vgl. ebd., S. 367-390.
11. Grundlagen der Steinschen Wirklichkeitswissenschafi
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eben einen Rechtszustand voraus; der Grundsatz der Verweigerung des Gehorsams durch den Einzelnen würde ihn auch hier vernichten. 307 d) Die Konstruktion des sozialen Rechtsstaats scheint abgeschlossen: Gesetzgebung, Regierung und Verwaltung erfüllen alle konkreten Staats-Aufgaben; sie gestalten gemeinsam das selbständige Leben der Staats-Persönlichkeit. Ihr Zusammenwirken folgt gleichwohl keinem Automatismus; es vollzieht sich nicht reibungslos. Da sie bei der Verwirklichung des Staatsprinzips unterschiedliche Funktionen haben, setzen sie verschiedene Akzente und stehen in einem Spannungsverhältnis zueinander. Jedes Staatsorgan folgt der Eigenlogik des in ihm verkörperten Prinzips, wenn es versucht, sich absolut zu setzen und die Selbständigkeit der anderen leugnet. Stein bemüht wieder den Persönlichkeitsbegriff, um den Gegensatz zwischen der Legislative und den beiden Exekutivgewalten geschichtsphilosophisch als einen Lernprozess zu beschreiben: Die jeweils partikularen Elemente der allgemeinen Staats-Persönlichkeit versuchen zunächst sich über die anderen zu erheben, geraten in unversöhnlichen Gegensatz zu einander und scheitern. Denn jedes Staatsorgan sei eine ... Persönlichkeit, welche stets das Allgemeine zu sein strebt, ohne es sein zu können; deshalb entfaltet sich zunächst der Begriff des Staatslebens zu dem Kampfe jener drei Elemente der Staats-Persönlichkeit, des Fürsten, der Beamten und des Volkes. Dieses ist ein großer Teil der Geschichte des Staates. 308 Die historische Entwicklung habe gezeigt, dass in allen europäischen Staaten dem Zusammenwirken der drei Staats gewalten Bürgerkriege vorausgingen 309 , bevor ,,Jene Elemente ... lernen ... , mit einheitlicher Kraft ihrem gemeinsamen Zwecke zu leben und ihn zu erreichen"31O. Das Spannungsverhältnis zwischen Legislative, Exekutive und Verwaltung bleibt dem Staat der Verwaltungslehre ebenso erhalten wie das zwischen Gesellschaft und Staat. Das im "Vorrang des Gesetzes", dem selbständigen Verordnungsrecht der Regierung und dem Wirken der Verwaltung sich niederschlagende Prinzip der Gewaltenteilung sichert keineswegs ihre harmonische Zusammenarbeit. War in der Geschichte der sozialen Bewegung das ,,Königtum der gesellschaftlichen Reform" noch der Garant der staatlichen Einheit und Gestalter der zu reformierenden Gesellschaft, weicht in der Verwaltungslehre diese wolkige Vision einem organisationssoziologischen Modell der Staatsspit307 Ebd., S. 382. 308 Stein, L. v., Allgemeines deutsches Staatsrecht, S. 74. Vgl. C. III. 2. 309 Belege finden sich in: Soz. Bew. I, S. 406 tf., Soz. Bew. III, S. 41-108; Verwaltungslehre Teil I, Abt. I, S. 107 tT., Teil 7, S. 96 ff., sowie in den Lehrbüchern der Volkswirtschaft und der Finanzwissenschaft. 310 Stein, L. v., Allgemeines deutsches Staatsrecht, S. 74.
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ze: Der Staat braucht ein Staatsoberhaupt, weil Gesetzgebung und Vollziehung unterschiedlichen Zwecken dienen: Während die Legislative das gesellschaftliche Interesse im Staat aufgenommen sehen will, fühlt die Regierung sich nur dem staatlichen Wohl verpflichtet. Die tiefe Verschiedenheit in der Funktion bei der, die große Gewalt der Interessen, die sich an beide knüpfen, kurz die höhere organische Natur derselben, macht einen Gegensatz und Kampf zwischen ihnen in allen Staatsformen ganz unvermeidlich. 311
Die "Idee" des Staats dient der persönlichen Freiheit des Einzelnen. Um seiner Idee entsprechen zu können, muss der Staat demzufolge selbst eine Form der Persönlichkeit sein. Die Einheit des Staats werde nur gewahrt, wenn die gesamte Staatsorganisation in der Person des Staatsoberhauptes zusammenläuft und hier eine natürliche Verkörperung ihrer selbst findet. In Steins Konstruktion verkörpert das Königtum am unmittelbarsten die Staatspersönlichkeit. 312 Der freie Staat muss zugleich die individuelle Selbstbestimmung der Einzelnen schützen und die im König verkörperte allgemeine Persönlichkeit gegen die gesellschaftlichen Interessenskämpfe zur Entfaltung bringen. Gerade weil das Königtum die "Staatsidee" in der Person des Königs am unmittelbarsten verkörpert, ist dieser zwar von der gesellschaftlichen Auseinandersetzung befreit, aber er muss auch der staatlichen Willensbestimmung entzogen sein, um die formale Identität von Einzelwillen und Staatswillen zu ermöglichen. 313 Folgerichtig darf der Staat der staatsbürgerlichen Gesellschaft nicht vom "guten Willen" des Königs abhängen; die Gegensätze, die der Staat ausgleichen soll, sind nicht mehr ständisch vorgegeben; in der industriellen Gesellschaft seien sie nun die unmittelbare Folge und Erscheinung der in der Gesellschaft sich entfaltenden Individualität jedes Einzelnen. In dieser Gesellschaft halte das Königtum die Besinnung auf die Staatsidee, das Ethos der Gemeinschaft wach; andererseits könne es nur dann seiner ,,Bestimmung" genügen, wenn die Arbeit des Staats den gesellschaftlichen Sonderinteressen entgegenwirkt. Beide, der Staat wie die Gesellschaft, realisierten ihre Freiheit nur, wenn sie " ... die hohe Bedeutung der einzelnen Persönlichkeit, das absolute Moment des Allgemeinen
311
Stein, L.
V.,
Die Verwaltungslehre, Teil I, Abt. I, S. 137.
Vgl. Stein, L. V., Die Verwaltungslehre I, I, S. 6 f.: " ... die deutschen Denker denken ... stets in ganzen Systemen und sind viel zu dialektisch gebildet, um viele Fehler im Einzelnen zu begehen; die Wahrheit wie der Mangel ist stets ihr theoretisches Princip, selten ihre logischen Konsequenzen .. Was hilft es da, mit einzelnen Folgerungen ringen, wie Herbart es thut? ..// .. ; der Begriff der Persönlichkeit, in dem die Selbstthätigkeit liegt, war [HegeI] ... unzugänglich, und seine unklaren Definitionen über die konstitutionelle Monarchie zeigen, dass man eben ohne Persönlichkeit das persönliche Leben nicht verstehen kann". 312
313 V gl. C. I. 4.
11. Grundlagen der Steinsehen Wirklichkeitswissenschaft
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zu sein, die Erkenntnis, dass sich beide bedingen,"314 nicht bloß respektieren; sie müssten im Zusammenwirken von individueller Freiheit und gesellschaftlicher Abhängigkeit ein Gleichgewichtsverhältnis mit erzeugen: den Einzelwillen wie dem Staat seien ihre Freiheit nicht nur prinzipiell, sondern auch wirklich zu ermöglichen. Damit der durch die Gesetzgebungskompetenz des Parlaments in die Staatsorganisation hineingetragene Gegensatz zwischen Volkssouveränität und staatlicher Autorität den Staat weder in die gesellschaftliche Auseinandersetzung zurück schleudert, noch zur unvermittelten Herrschaft einer in der Vollziehung absolut der Gesellschaft entgegengesetzten Staatsordnung führt, stellt Stein das Königtum an die Spitze der gesamten Staatsorganisation. 31S Im Königtum fänden alle Staatsorgane ihre ... fonnale Einheit ... , [deren] Funktion in Gesetzgebung und Verwaltung daher stets die gleiche ist. Das Staatsoberhaupt gibt keine Gesetze und verwaltet nicht, sondern es macht durch seinen persönlichen Willen jeden Akt der Gesetzgebung und der Verwaltung zu einem Akte des persönlichen Staats. Das ist die Basis, welche daher weder der Gesetzgebung noch der Verwaltung allein angehört, sondern in beiden gleichmäßig erscheint. 316
Das Königtum stehe über allen Staatsorganen, daher ist das Staatsoberhaupt zwar gegenüber Parlament und Regierung unverantwortlich317 , jedoch unterliegen seine Anordnungen dem Zustimmungsvorbehalt der Regierung . ... diese ihre Zustimmung bedeutet dann, daß der mögliche Gegensatz zwischen Gesetz und Vollziehung in dem einzelnen königlichen Willen nicht vorhanden, die Vollziehung eine gesetzmäßige sei. Die Form darur ist die Unterzeichnung durch die Minister als Häupter der Regierung. Mit der Unterzeichnung geht daher die Verantwortlichkeit rur den einzelnen Akt von der Person des Regenten auf die Person der Minister über, und der fonnelle Ausdruck jenes Prinzips, welches auf diese Weise als verfassungsmäßige Gränze der königlichen Vollzugsgewalt bezeichnet und herstellt, ist der, daß jeder Akt des Monarchen durch den Minister unterzeichnet werden muß.318
Die Entscheidung zwischen einer konstitutionellen und einer parlamentarischen Monarchie wird offen gehalten. Ein der "Staatspersönlichkeit" angemessenes Verständnis sei derart komplex, dass es
314
Stein, L. v., Deutsches Staatsrecht, S. 54.
315 Vgl. Stein, L. v., Verwaltungslehre, Teil I, I, S. 140. 316 Ebd., S. 71f. 317 Vgl. ebd., S. 150. 318 Ebd., S. 151.
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.. , unter diesen Verhältnissen nunmehr wohl ganz erklärlich [ist], daß dieser formelle Abschluß der Frage nach dem Rechte der persönlichen Vollzugsgewalt des Königs sich erst langsam und in jedem Lande verschieden gebildet hat. 319
Der Schwerpunkt staatlicher Autorität liegt jedoch eindeutig bei Parlament und Regierung. Das "kompetenzlose Staatsoberhaupt" sei rur die "allgemeine Staatspersönlichkeit" nicht überflüssig. Seine Hauptaufgabe bestehe darin, dass der Gedanke des "Gemeinwohls" in der Dynamik gegenläufiger Interessen nicht untergeht; das Staatsoberhaupt bilde den Kristallisationspunkt rur ein festes Beamtenethos. 320 Steins König hat nicht mehr Kompetenzen als der Präsident einer parlamentarischen Demokratie. In beiden Staatsformen liegt der Schwerpunkt staatlicher Autorität eindeutig in Parlament und RegierungYI Das muss so sein, weil der Staat der staatsbürgerlichen Gesellschaft eben der Staat aller Einzelnen ist;322 ihn dürfen weder Geschlechter noch Stände oder Klassen beherrschen. 7. Staatspersönlichkeit und Judikative Die Gestaltung der "allgemeinen Staatspersönlichkeit" verzichtet auf eine selbständige Darstellung der "dritten Gewalt", der Judikative; man könnte meinen, dass Stein deren Bedeutung im Zusammenspiel von Individuum und gesellschaftlichen wie staatlichen Mächten vernachlässigt habe, zumal die Rechtsprechung in der Darstellung des "organischen Staatsbegriffs" nicht als eigenständige Staatsgewalt auftaucht. Dem ist aber nicht so: Das Recht und die 319
Ebd.
320 Vgl. ebd., S. 209: " ... das Königthum vertritt das Princip, das Amtswesen vertritt die Ausführung im Einzelnen; sie bilden zusammen einen großen Körper, dessen Seele das Bewußtsein ist, daß beide als Eins die großen Bedingungen der Gesammtentwicklung gegenüber den besonderen Rechten und Interessen der herrschenden Klassen im Allgemeinen und specieller Verhältnisse im Besondern zu vertreten haben. Das Königthum ist ... der personifizierte Ausdruck der Staatsidee, des Gemeinwohls selber, im Namen dessen jedes Amt in seiner Weise funktioniert". Wegen dieser und ähnlicher Äußerungen gilt Lorenz von Stein als der Theoretiker des "sozialen Königtums" - meines Erachtens zu Unrecht, denn Stein hat hier nichts Neues formuliert, er übernimmt vielmehr fast wörtlich ein Diktum Saint-Simons vgl. C. I. I. 321 Dies sind z. Bsp. auch die Aufgaben des Bundespräsidenten; vgl. Mangold! / Klein (1964), Art. 58, Anm. 111, I f., VI; Schenke, in: Bonner Kommentar, Art. 58, Rdnr. 16.
322 Vgl. Stein, L. v., Deutsches Staatsrecht, S. 68: "Nicht die Stände als Begriff an die Spitze ... stellen, sondern die Einzelnen".
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Rechtsordnung werden der Gesellschaft und dem Staatsorganismus nicht gegenübergestellt, weil sie beide durchdringen; Form und Inhalt des Rechts sindwie gezeigt - nicht einfach zu bestimmen; das Recht und die Rechtsprechung lassen sich nicht auf die Konkretisierung rechtlicher Gebote beschränken. In der staatsbürgerlichen Gesellschaft und ihrem Verfassungs- und Verwaltungsstaat ergibt sich die eigentümliche Stärke des vordergründig "wehrlosen" Rechts daraus, dass das Rechtssystem nicht auf den Willen eines Einzelnen, sondern auf den der Allgemeinheit aufbaut; diese begegnet im Staat ihrem "persönlichen" Alter ego. Die "persönliche Einheit" der Gemeinschaft setzt voraus, dass Individuum, Gesellschaft und Staat ihre Eigenständigkeit bewahren. Die Rechtsprechung hat somit die Aufgabe, in der Gesellschaft die gegenseitigen Rechte der Einzelnen zu sichern; sie grenzt das Recht des Staats und seiner Organe untereinander und gegenüber der Gesellschaft wie den Einzelnen ab; darüber hinaus muss das (positive) Recht sich gleichermaßen dem gesellschaftlichen und politischen Wandel anpassen wie diesen und die eigene Fortbildung gestalten. In der Steinschen Staats- und Gesellschaftstheorie steht die Judikative mithin quer zur gesamten Staatsorganisation, der sie gleichwohl angehört: Die Rechtsprechung bestimmt die im Gesetz abstrakt gezogenen Schranken zwischen den einzelnen Elementen der Gemeinschaft in Gesellschaft und Staat und verhilft darüber hinaus dem für sich wirkungslosen Gesetzesrecht zu gestaltender Macht. Die Justiz darf niemandem nutzen, deshalb dient sie allen; dies hat zur Folge, dass in einer dynamischen Erwerbsgesellschaft das Verwaltungsrecht ständig zu aktualisieren ist; die Verwaltung überrollt sonst die Rechte einzelner. ,,Hier ist es, wo die wahre Achtung des individuellen Rechts zur Erscheinung kommt; hier ist es, wo der Einzelne der gesamten Staatsgewalt gegenüber als selbständiges Rechtssubjekt auftritt"323. Mit der Verwaltungsgerichtsbarkeit und dem subjektiven Klagerecht einzelner Personen schließt sich der Kreis von der natürlichen Person über die allgemeine Persönlichkeit zurück zum Individuum; er zeigt die individuelle Person als Grund und Ziel staatlicher und gesellschaftlicher Vergemeinschaftung. Die Begriffe Leben und Persönlichkeit stehen hier für mehr als eine " ... ideologisch diffuse und somit als unmittelbare Handlungsanweisung kaum eindeutig instruktive Entscheidungsprämisse".324 Sie bilden den teleologischen Fluchtpunkt
323
Stein, L. v., Die Verwaltungslehre, Teil I, Abt. I, S. 410.
Pankoke, E., Sozialer Fortschritt und soziale Verwaltung. Planungstheoretische Ansätze in der deutschen Staats- und Gesellschaftswissenschaft des 19. Jahrhunderts, in: Die Verwaltung Bd. 2,1969, S. 425-443 (441). Bemerkenswert ist, dass Pankoke diese eher distanzierte Haltung gegenüber Stein im Laufe seiner jahrelangen Beschäftigung 324
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von Steins Anliegen, auf eine Philosophie des wirklichen Lebens zu bauen, die wiederum in alle positiven Wirklichkeitswissenschaften einfließt.
8. Zu den Voraussetzungen der "personalistischen Gesellschaftslehre" Steins Gesellschaftslehre ist entgegen dem ersten Anschein weder als dezidiert empirische Wissenschaft noch als ,,Basis" zu begreifen, auf welcher der "Überbau" Staat und die ihn begleitende Staatswissenschaft ruhen; Ausgangspunkt der Gesellschaftslehre ist vielmehr das "erotische Wesen"325 des Menschen und der daraus resultierende Gegensatz zwischen der natürlichen Hinfälligkeit und der "unendlichen Transzendenz" des Persönlichen in jedem Individuum: Um der zu werden, zu dem sich der Einzelne selbst bestimmt hat, muss er sich vergemeinschaften; anders kann er die eigene Willensentscheidung nicht in die Tat umsetzen und arbeitend verwirklichen. Nicht die Natur, sondern der Geist ist es hier, der die Menschen gestaltet, zur Arbeitsteilung zwingt und verschiedene Ordnungen der Gemeinschaft schafft. Bei 1. G. Fichte heißt es: "Ich hätte blind dem Zuge meiner geistigen Natur folgen können. Ich wollte nicht Natur, sondern mein eigenes Werk seyn; und ich bin es geworden, dadurch dass ich es wollte".326 Fichte verknüpft das Ich mit der Vernunft, die Vernunft mit der unbedingten Tätigkeit, und diese mit dem Willen; Stein sieht dagegen das geistige Wesen der Person im Schnittpunkt zwischen ,,Ich" und "Welt".327 Er denkt offensichtlich an eine Art Identität in absoluter Differenz, mit dem Werk zugunsten einer dessen Modernität immer stärker betonenden Position verlassen hat; dazu zuletzt Pankoke (1995). 325 Die Interpretation der menschlichen Doppelnatur geht zurück bis auf die platonische Interpretation des "Eros" als eines mächtigen Dämon "00. zwischen den Sterblichen und Unsterblichen 00. Denn alles Dämonische ist zwischen Gott und dem Sterblichen" (Platon, Symposion, 202 d, 23 f.). 326 Fichte, 1. G. (1971) , Bd. 2, S. 256. 327 Stein knüpft damit an eine henologische Tradition spekulativen Denkens an, die über den Deutschen Idealismus und die Scholastik bis auf die spätantiken Kirchenväter zurückgeht und der Unendlichkeitsspekulation die "unendliche Identität" der Person entgegensetzt. Die neuplatonisch inspirierten Kirchenväter, heißt es schon bei Nikolaus Cusanus, " ... haben den Logos als Gesamtheit der Ideen gefaßt, aber sie kamen nicht bis zum Begriff der Person" (serrno 21 n. 6, 1-12, zitiert nach Flasch (1998], S. 96, Fn. 145). Die Identität des Alls mit Gott sei nur denkbar als vom Intellectus aufzuhebende absolute "Gegensatzheit". Dieser von Cusanus erstmals eingeführte Begriff persönlicher Identität wird von Flasch eher abstrakt erläutert: Vgl. Flasch, K., Nikolaus von Kues. Geschichte einer Entwicklung. Vorlesungen zur Einführung in seine Philosophie, Frankfurt 1998, S. 116: "Für Cusanus sucht die eindringende Analyse immer zugleich die
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um den Zusammenhang zwischen der absoluten Persönlichkeit der Gottheit und der Individualität endlicher Personen zu beschreiben. Mit anderen Worten: Der Mensch weiß zwar nichts von Gottes Absichten, jedoch wird die Weltgeschichte zum Beweis der Existenz des Schöpfers. Nicht mehr die Naturerscheinungen, sondern die ihnen zugrunde liegenden Gesetze liefern ein Bild - nicht der absoluten Persönlichkeit, sondern ihrer Kreativität. Der ganze Kosmos ist unabhängig vom Menschen das Produkt göttlichen Schaffens, das von jedem Menschen in nuce wiederholt wird. Diese Idee der Persönlichkeit setzt nicht wie die Substanz Spinozas eine unendliche Reihe von Modi und Affektionen ihrer selbst, sie kehrt auch nicht wie Hegels subjektive Substanz aus dem Werden ihres Wesens unendlich zu sich zurück; sie setzt sich vielmehr selbst injedem Individuum, d. h. die Totalität ihres Wesens reproduziert sich in jeder endlichen Person. Die solchermaßen eingeleitete Differenzierung sieht nicht nur " ... die Gesellschaft ... als die geistige Ordnung unter den Menschen im Gegensatz zur rein materiellen Ordnung der Güterwelt und der rein einheitlichen des Staates bestimmt"328; sie steht auch in einer Spannung zwischen ihrer stets alternierenden Gestaltung und ihrer gleich bleibenden Natur. Nun ist aber jene Natur des Dinges, deren Untersuchung den ersten Teil der Wissenschaft (der Gesellschaft, S. K.) bildet, nur durch die Thätigkeit des reinen Denkens gefunden; denn beobachten kann ich nur Wirkungen, nicht aber die Ursachen. 329 Der Ansatz ist genuin philosophisch: Die Betrachtung der einzelnen Individuen zeigt, "dass in der geistigen Arbeit wie in der materiellen nur die Theilung der Arbeit das Ganze und damit zuletzt auch den Einzelnen fordert ... wir sind ja alle nicht durch uns das, was wir sind: wir sind die Beauftragten, die gemeinsamen Diener einer höheren Aufgabe".330 Da der einzelne Gesellschaftswissenschaftier ohnehin außerstande ist, die Mannigfaltigkeit des gesellschaftlichen Lebens überhaupt wahrzunehmen331 , ist er darauf verwiesen, dessen GrundDifferenz der Individuen - niemals kann es zwei völlig gleichartige geben (... ) - und die Spiegelungen des Kosmos, die in ihm, dem Ding, auf dessen Weise sind" (dazu Koslowski, S., Nikolaus Cusanus und der Kampf um die Herrschaft in Kirche und Welt, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, 2005). - Die sich in der Differenz durchhaltende persönliche Identität liegt auch Steins Überzeugung zugrunde, dass die vom Menschen geschaffene Welt als "zweite Schöpfung in der ersten" zu bewundern sei. Wer glaubt, Stein habe für derartige "Subtilitäten" kein Verständnis, lese die der Gnosis und dem Neuplatonismus gewidmeten Teile in der Geschichte des Bildungswesens (vgl. Bildungswesen I, S. 417--440). 328 Stein, L. v., System 11, S. 16. 329 Ebd., S. 17. 330 Ebd., S. 14. 331 Vgl. ebd., S. 20 (
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struktur, Stein spricht von "Idee", zu erkennen. Er muss voraussetzen, was die Wirklichkeit bringen kann. 332 Dieser gleichermaßen umfassende wie bescheidene Gedanke ist philosophisch und sozialwissenschaftlich zugleich; er lässt sich weder auf das eine noch auf das andere zurückführen. Das philosophische Denken darf und kann sich nicht mehr auf die reine Betrachtung beschränken, will es nicht den Kontakt zum allseits tätigen Leben und damit auch jede Bedeutung für die Wirklichkeit verlieren. Mit einem Satz: Die theoretische Wissenschaft muss "praktisch" werden: "Die praktische Wissenschaft ist am Ende diejenige, welche den Begriff zuerst findet und dann im Einzelnen stets wieder findet, mit all seinen Folgerungen und Forderungen333 . Der rasante Wandel der Wirklichkeit hatte Stein unnachsichtig vor Augen geführt, dass die Philosophie nur als Wirklichkeitswissenschaft weiter bestehen kann, sollen ihre Aussagen ernst genommen werden. Mit dieser Überzeugung ist Stein zu einem der Urheber der Gesellschaftswissenschaften geworden. Ihn trennen gleichwohl wesentliche Prämissen von der heutigen Soziologie, ja, sie bringen sein Wissenschaftsverständnis in den direkten Gegensatz zum heutigen Selbstverständnis der Sozialwissenschaften. Im Widerspruch zu Positivismus, verstehender Soziologie334 und "Lebensphilosophie"335 glaubte Stein, dass weder Objektivität noch "Wertfreiheit" der Wissenschaft sich selbst tragen, geschweige denn genügen können. Das Gebot der "intellektuellen Rechtschaffenheit" (Max Weber) beruht für ihn gerade nicht auf der Trennung der empirischen Tatsachenfeststellung von der praktischen Wertung des Wissenschaftlers. Allein die ideelle Bestimmung reißt ihm zufolge den Menschen aus der Wiederkehr des ewig Gleichen, verleiht seinen Handlungen Sinn und Zweck, und nimmt ihn in die Zucht336 . Die Gesellschaftsanalyse steht daher nicht am Anfang der wissenschaftlichen Arbeit; erst müssen die anzustrebenden Ziele gefunden sein, dann formuliert die Wissenschaft die Fragen und Antworten zu ihrer Realisierung. Stein steht gleichsam in der Mitte zwischen Hegels Idealismus und Max Webers Agnostizismus: Von Hegel trennt ihn der Verzicht auf den Überflug der Idee, von Weber der Anspruch, im Einzelnen ungeachtet des Diktats der Fakten einen kleinen Schimmer vom ideellen Glanz zu entdecken:
332 Vgl. ebd., S. 21. 333 Stein, L. V., Umschlagdeckel seines Exemplares der HegeIschen Rechtsphilosophie, zitiert nach Taschke (1985), S. 11. 334 Zu Max Weber vgl. Abschnitt IV. 335 Zu Dilthey vgl. Abschnitt III. 336 Die sozial wissenschaftliche Analyse stand bei Stein von Anbeginn neben seinem politischen und bildungspolitischen Engagement; ich komme in C. daraufzuJÜck.
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Die Wissenschaft ist kein Ideal und sie hat keines; aber sie allein vermag es, durch die Idee des einheitlichen und organischen Bedingtseins aller Beschränktheiten untereinander jede derselben über ihren begrenzten Kreis auch da zu erheben, wo die Empfindung an ihrer Inhaltslosigkeit sie in nichts auflöst ... In der Wissenschaft kehrt die Idee zum wirklichen Leben zurück, und nachdem sie zuerst die Thatsachen, und dann das Zweckmäßige gelehrt hat, verleiht sie auch dem Einzelnen sein höheres Element durch das Bewusstsein seines Werthes für das Ganze337 .
Der Staat ist die Einheit der Vielen in der Differenz der Gemeinschaft. Weil er das ist, empirisch aber die gesellschaftliche Entzweiung ihm vorhergeht, ist sein Zweck wiederum " ... die Kraft und Intelligenz aller einzelnen .. .'