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German Pages 311 [318] Year 2017
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Perspektiven der Ethik herausgegeben von Reiner Anselm, Thomas Gutmann und Corinna Mieth
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Die Begründung der Menschenrechte Kontroversen im Spannungsfeld von positivem Recht, Naturrecht und Vernunftrecht
Herausgegeben von
Margit Wasmaier-Sailer und Matthias Hoesch
Mohr Siebeck
IV Margit Wasmaier-Sailer, geboren 1975; Studium der Philosophie und Katholischen Theologie; 2006 Promotion; 2017 Habilitation; 2016–2017 Vertretung des Lehrstuhls für Philosophische Grundfragen der Theologie an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt; Mitglied des Exzellenzclusters „Religion und Politik“ an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Matthias Hoesch, geboren 1984; Studium der Philosophie, Rechtswissenschaft und Katholischen Theologie; 2013 Promotion; Arbeit an einer Habilitationsschrift zur Migrationsethik; derzeit Vertretung des Lehrstuhls für praktische Philosophie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und Mitglied des Exzellenzclusters „Religion und Politik“.
ISBN 978-3-16-154057-8 / eISBN 978-3-16-154370-8 ISSN 2198-3933 (Perspektiven der Ethik) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb. de abrufbar. © 2017 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohr.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Computersatz Staiger in Rottenburg a.N. gesetzt, von Gulde Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Großbuchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden.
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Inhalt Matthias Hoesch, Margit Wasmaier-Sailer Die Begründung der Menschenrechte: eine Skizze der gegenwärtigen Debatte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1
Ein wertfreier Blick auf das positive Recht? Florian Rödl Zur Kritik rechtspositivistischer Menschenrechtskonzeption . . . . . . . . . . . . 29 Fabian Wittreck Naturrecht und die Begründung der Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 Stefan Kadelbach Die Migration der Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 Thomas Gutmann Die Dynamik der Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101
Neoaristotelismus und Naturrecht Arno Anzenbacher Menschenrechtsbegründung zwischen klassischem und neuzeitlichem Naturrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Franz-Josef Bormann Naturrechtliche Begründung von Menschenrechten? Ein Blick in die aristotelische Tradition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Sebastian Laukötter Zur Begründung der Menschenrechte im Fähigkeitenansatz . . . . . . . . . . . . . 161 Georg Lohmann „Nicht zu viel – nicht zu wenig!“ Begründungsaufgaben im Rahmen der internationalen Menschenrechtskonzeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181
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Inhalt
Vernunftrechtliche Ansätze in der kantischen Tradition Oliver Sensen Möglichkeiten und Grenzen einer vernunftrechtlichen Begründung der Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 Margit Wasmaier-Sailer Die Bedeutung von Kants Würdeverständnis für die Begründung der Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 Adela Cortina Eine diskursethische Begründung der Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 Matthias Hoesch Universalität und Priorität der Menschenrechte in diskursethischen Begründungsmodellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309
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Die Begründung der Menschenrechte: eine Skizze der gegenwärtigen Debatte Matthias Hoesch, Margit Wasmaier-Sailer Menschenrechte sind in verschiedensten normativen Debatten unserer Zeit allgegenwärtig: Politiker und Nichtregierungsorganisationen berufen sich auf Menschenrechte, um ihre Entscheidungen zu rechtfertigen oder die Handlungen anderer zu kritisieren; Juristen sind mit Fragen konfrontiert, ob einzelne staatliche Handlungen oder gar erlassene Gesetze gegen Menschenrechte verstoßen; und auch in der philosophischen Diskussion ist die Verwendung des Menschenrechtsbegriffs geradezu überbordend. Kaum ein Aufsatz zur politischen Philosophie kommt ohne irgendeinen Bezug zu Menschenrechten aus: Mal als eine geteilte Grundannahme eingeführt, mal als Minimalstandard der Gerechtigkeit präsentiert, mal als potentieller Einwand gegen die Konklusion einer Theorie vorgeführt, und zuweilen auch nur als rhetorisches Mittel benutzt, übernehmen Menschenrechte verschiedene Funktionen innerhalb philosophischer Argumentationen. Der Frage nach der Begründung der Menschenrechte wird demgegenüber deutlich seltener nachgegangen. Natürlich gibt es auch zu dieser Frage eine Fülle an Literatur. Der Schwerpunkt liegt dabei deutlich auf der Geschichte von Menschenrechtsbegründungen, aber auch systematische Argumente werden entworfen und diskutiert. Angesichts der inflationären Verwendung des Menschenrechtsbegriffs bleibt die Begründungsfrage aber eher unterrepräsentiert. Dies hat verschiedene Gründe. Offensichtlich ist ein wesentlicher Grund in der Tatsache zu suchen, dass die Berufung auf Menschenrechte auch ohne eine überzeugende Menschenrechtsbegründung problemlos „funktioniert“. Man kann die Begründungsfrage in den meisten Fällen schlicht ausblenden, ohne dass die Argumentation dadurch an Überzeugungskraft verlieren würde. Ganz im Gegenteil sieht es so aus, als würde man sich, indem man eine Antwort auf die Begründungsfrage gibt, unnötig Gegner machen. Denn es scheint für Menschenrechte charakteristisch zu sein, dass es zwar einen weiten Konsens über ihre Existenz, aber viel Streit über ihren Geltungsgrund gibt. Aus dieser Diagnose wird zuweilen der weitergehende Schluss gezogen, dass es gar nicht möglich sei, Menschenrechte zu begründen. Denn in pluralistischen Gesellschaften gebe es keine allgemein geteilte Doktrin mehr, die als Basis einer Menschenrechtsbegründung dienen könnte; und ohne eine solche Basis – also
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allein mit empirischen Tatsachen und Mitteln des logischen Schließens – könne man nie bis zum normativen Charakter von Menschenrechten vordringen. Spielarten solcher „begründungsskeptischer“ Positionen werden uns unten noch begegnen. Es kann aber vorweggenommen werden, dass sie jeweils die Idee der Begründung der Menschenrechte nicht komplett in Frage stellen, sondern nur bestimmte Formen und Ziele der Begründung zurückweisen. Was es heißt, Menschenrechte zu begründen, versteht sich schließlich nicht von selbst, und verschiedene Menschenrechtskonzeptionen setzen teils ganz unterschiedliche Begründungsformen und Begründungsziele voraus. Der vorliegende Band wählt den Zugang zu Menschenrechtsbegründungen über das Spannungsfeld der Trias „positives Recht – Naturrecht – Vernunftrecht“. Bevor dieses Spannungsfeld expliziert werden kann, sind zwei Vorklärungen nötig, die zusammengenommen eine grobe Skizze der gegenwärtigen Debatte um Menschenrechtsbegründungen bilden: Was sind Menschenrechte (Abschnitt 1)? Was heißt es, Menschenrechte zu begründen, und wie könnten die verschiedenen Begründungsziele eingelöst werden (Abschnitt 2)? Nach diesen Vorklärungen können wir näher darauf eingehen, weshalb die Begriffe „positives Recht“, „Naturrecht“ und „Vernunftrecht“ eine Reihe offener Fragen aufwerfen (Abschnitt 3). Abschließend stellen wir die Beiträge des Bandes vor (Abschnitt 4).
1. Zum Begriff der Menschenrechte Menschenrechte sind Rechte, die allen Menschen zukommen, bloß weil sie Menschen sind. Soweit scheint die Definition klar. Doch bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass der Begriff in verschiedenen Kontexten und von verschiedenen Personen unterschiedlich gebraucht wird – und zwar gerade auch innerhalb der philosophischen Debatte, die hier im Vordergrund steht. An dieser Stelle geht es uns nicht darum, einen „Arbeitsbegriff“ von Menschenrechten für diesen Band normativ festzulegen. Dass verschiedene Autoren unterschiedliche Verständnisse des Begriffs haben, hat oftmals gute Gründe, die mit zugrundegelegten Theorien und Beweiszielen zusammenhängen und nicht einfach ignoriert werden sollten. Stattdessen sollen hier Bedeutungsdifferenzen aufgezeigt werden, die möglichen Missverständnissen vorbeugen. Welche Art von Rechten sind Menschenrechte?1 Damit man davon reden kann, dass jemand ein Recht hat, reicht es offenbar nicht einfach aus, dass diese
1 Zum
Begriff der Menschenrechte vgl. insbesondere James Nickel, „Human Rights“, in: Edward N. Zalta (Hg.), The Stanford Encyclopedia of Philosophy, Version: Frühling 2017. https://plato.stanford.edu/archives/spr2017/entries/rights-human/(30.03.2017) (= Human Rights); Christoph Menke/Arnd Pollmann, Philosophie der Menschenrechte zur Einführung, Hamburg 2007 (= Philosophie der Menschenrechte); Georg Lohmann, „‚Nicht zu viel – nicht
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Person einen normativen Anspruch für gerechtfertigt hält. In irgendeiner Weise muss diesem Anspruch eine objektive Dimension zukommen. Daher sind viele Autoren erst dann bereit, von Menschenrechten zu sprechen, wenn solche Rechte Teil eines Rechtssystems, also positives Recht sind. Einige, etwa Rawls und Beitz, reservieren den Begriff des Menschenrechts sogar nur für solche Rechte, die Bestandteil der internationalen Abkommen zum Menschenrechtsschutz sind, da nur diese Rechte tatsächlich jedem Menschen zukommen. Nach der überwiegenden Auffassung zählen jedoch auch Grundrechte der einzelnen Verfassungen sowie alle Arten, wie die Menschenrechte des internationalen Rechts von nationalen Rechtssystemen aufgegriffen werden, zu Formen von Menschenrechten, auch wenn deren Geltung natürlich territorial beschränkt ist. Nach einer konkurrierenden Lesart handelt es sich bei Menschenrechten um Naturrecht in einem ontologischen Sinn, d.h. um ein Recht, das Menschen „von Natur aus“ haben, also unabhängig von staatlichen Institutionen und unabhängig von der Frage, ob andere Menschen dieses Recht anerkennen. Menschenrechte sind demnach gewissermaßen eine angeborene metaphysische Eigenschaft des Menschen, die in mindestens ebenso starker Weise verbindlich ist wie das positive Recht. Diese Position, heute oft mit Hugo Grotius oder John Locke verbunden, stellt einen Spezialfall des moralischen Realismus dar, insofern die Existenz von moralischen Rechten eine Tatsache ist, die unabhängig von Überzeugungen der Menschen zur Welt gehört. Da viele Autoren Rechte aber als intersubjektiv konstituierte Ansprüche verstehen und zugleich die Engführung auf das positive Recht vermeiden wollen, wird der Ausweg oft darin gesehen, Menschenrechte als moralische Rechte aufzufassen, also als Rechte, die Teile eines gelebten Moralsystems darstellen, innerhalb dessen es eine Praxis des Sich-Berufens auf subjektive Rechte gibt. Menschenrechte sind den Menschen demzufolge nicht von Natur aus „angewachsen“, sondern werden durch die moralische Praxis in die Welt gesetzt. Zwischen dem positiv-rechtlichen und dem moralischen Verständnis des Begriffs lassen sich enge Beziehungen herstellen: So wird stark gemacht, dass fundamentale moralische Rechte gewissermaßen darauf drängen, positiv-rechtliche Gestalt anzunehmen, denn nur auf diese Weise könnten sie eine verbindliche Gestalt einnehmen. Andererseits kann man annehmen, dass nur solche Rechte des positiven Rechtssystems zu den Menschenrechten zählen können, die eine moralische Grundlage besitzen. Um dies an einem konstruierten Beispiel zu verdeutlichen: Es ist denkbar, dass das internationale Recht eines Tages vorsehen wird, dass jeder Mensch das Recht hat, den Sitzungssaal der Vereinten Nationen zu besichtigen. Einem solchen Recht würde die moralische Grundlage fehlen, und
zu wenig!‘ Begründungsaufgaben im Rahmen der internationalen Menschenrechtskonzeption“, in diesem Band, 181–205 (= Begründungsaufgaben).
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wir wären daher nicht bereit, es als Menschenrecht zu klassifizieren, auch wenn es faktisch jedem Menschen zukäme.2 Begriffliche Differenzen gibt es aber nicht nur im Hinblick auf die Frage, welche Art von Rechten Menschenrechte sind. Die Träger von Menschenrechten sind klarerweise Menschen (als Individuen). Doch wer ist Adressat der Menschenrechte, wer wird also durch sie verpflichtet? Das ist weniger klar. Die meisten, die die Auffassung vom Doppelcharakter der Menschenrechte als moralisch fundiertes und zugleich positiv gesetztes Recht teilen, gehen davon aus, dass Menschenrechte unmittelbar nur Staaten oder internationale Institutionen in die Pflicht nehmen, wogegen Individuen nur durch eine mittelbare Drittwirkung verpflichtet werden, wie es im Völkerrecht und im Verfassungsrecht angenommen wird.3 Versteht man Menschenrechte dagegen allein als moralische Rechte, spricht nichts dagegen, auch im interpersonalen Bereich Menschenrechte anzunehmen.4 In welchem Sinn kommen Menschenrechte allen Menschen zu? Negativ ausgedrückt, zielt dieses Merkmal von Menschenrechten v.a. darauf, dass niemand besondere Eigenschaften (Fähigkeiten oder Zugehörigkeiten) haben muss, um Träger von Menschenrechten zu sein. Im Detail bleibt auch hier vieles unklar, denn prima facie provoziert der Universalismus der Menschenrechte zumindest drei Probleme für Autoren, die Menschenrechte als moralische Rechte verstehen: Erstens müssen sie einen moralischen Universalismus vertreten, der kultur übergreifende Normen kennt. Zweitens müssen sie erklären, warum Menschenrechte erst im Laufe der Geschichte entstanden sind, wenn sie doch allen Menschen, also auch den früher lebenden, zukommen sollen. Und drittens müssen sie plausibel machen, warum innerhalb des universalistischen Moralsystems alle Menschen bestimmte Rechte haben sollen, wo doch viele moralisch relevante Eigenschaften nicht von allen Menschen geteilt werden – manche Menschen, etwa Kinder, Schwerbehinderte oder Komatöse, sind keine vernünftigen Akteure und können kein autonomes Leben führen.5 Zuweilen wird daher konstatiert, in einem strengen Sinne kämen die Rechte, die wir landläufig als Menschenrechte bezeichnen, nur Personen zu. Menschenrechte werden in der Regel mit weiteren Eigenschaften verbunden als den bislang genannten. So wird in der Regel davon ausgegangen, dass nur solche Rechte zu den Menschenrechten zählen sollten, die eine hohe Priorität 2 Zu den Wechselverhältnissen von moralischen und positiven Rechten vgl. insbesondere Georg Lohmann, „Menschenrechte zwischen Moral und Recht“, in: Stefan Gosepath/ Georg Lohmann (Hgg.), Philosophie der Menschenrechte, Frankfurt am Main 1998, 62–95. 3 Vgl. etwa Lohmann, Begründungsaufgaben, 184. 4 So etwa James Griffin, On Human Rights, Oxford 2008 (= On Human Rights); oder Martha C. Nussbaum, Die Grenzen der Gerechtigkeit. Behinderung, Nationalität und Spezieszugehörigkeit, Berlin 2010, 398 f. 5 Vgl. in diesem Band insbesondere Margit Wasmaier-Sailer, „Die Bedeutung von Kants Würdeverständnis für die Begründung der Menschenrechte“, in diesem Band, 231–253.
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genießen6 bzw. „fundamental“7 sind; ihre Missachtung stelle eine besonders schwere Gerechtigkeitslücke dar. Es wird etwa niemand auf die Idee kommen, ein moralisch begründetes, universales Recht wie etwa das Recht, von Inhabern öffentlicher Ämter höflich behandelt zu werden, in die Liste der Menschenrechte aufnehmen zu lassen, denn ein solches Recht ist nicht mit einer besonderen Dringlichkeit verbunden und hat keine Priorität vor anderen normativen Handlungsgründen. Wie stark diese Priorität zu verstehen ist, ist allerdings umstritten. Zuweilen wird davon ausgegangen, dass es zumindest manche Rechte unter den Menschenrechten gibt, die absolute Priorität genießen, etwa den Schutz der Menschen würde.8 Nach dem Standardverständnis lassen sich aber auch Menschenrechte durch andere moralische Erwägungen einschränken. Wie Griffin formuliert, sollten Menschenrechte „resistant to trade-offs, but not too resistant“9 sein. Aber auch in diesem Rahmen gibt es massive graduelle Unterschiede in den Auffassungen: Je umfangreicher der Kanon an Menschenrechten konzipiert wird, desto weniger überzeugt deren Priorität. Während manche dafür argumentieren, dass ein Recht auf einen gerechten Anteil an natürlichen Ressourcen oder das Recht auf globale Bewegungsfreiheit in den Menschenrechtskanon aufzunehmen sei, möchten andere Menschenrechte als „Minimalrechte“ verstehen, die nur die grundlegendsten menschlichen Bedürfnisse sichern. Wenn Henry Shue etwa schreibt, Menschenrechte seien „lower limits on tolerable human conduct“ und keine „great aspirations and exalted ideals“10, dann können das Recht auf den gerechten Anteil an natürlichen Ressourcen und globale Bewegungsfreiheit kaum noch als ernsthafte Kandidaten angesehen werden. Ein letzter Hinweis auf begriffliche Fragen ist unerlässlich. Menschenrechte werden außerdem zuweilen über eine politische Funktion definiert. Auf diese Weise entstehen engere Menschenrechtsbegriffe, denen kürzere Listen an Menschenrechten korrespondieren, was in manchen Kontexten hilfreich erscheint. Im Hinblick auf die Vielfalt an Diskursen, in denen auf den Menschenrechtsbegriff Bezug genommen wird, kann eine solche eingeschränkte Definition aber nicht überzeugen. Allerdings können Funktionen benannt werden, die Menschenrechte typischerweise übernehmen: Sie sind im nationalen Bereich Abwehrrechte gegen Willkürherrschaft; sie setzen den demokratischen Entscheidungen gewisse Grenzen; sie dienen dem Minderheitenschutz; und sie definieren einen Mindeststandard an sozialer Gerechtigkeit. Im internationalen Bereich setzen sie 6 Vgl.
Nickel, Human Rights. Lohmann, Begründungsaufgaben. Lohmann spezifiziert dort genauer, in welchen Hinsichten Menschenrechte in Politik, Moral und Recht Priorität genießen. 8 Für das deutsche Recht vgl. dazu T homas Gutmann, „Struktur und Funktion der Menschenwürde als Rechtsbegriff“, Angewandte Philosophie 1 (2014), 49–74. 9 Griffin, On Human Rights, 37. 10 Henry Shue, Basic Rights, Princeton 1996, xi. 7 Vgl.
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v.a. einen Standard, dessen Nichterfüllung Einmischung von außen rechtfertigt, und zwar von bloßer Kritik bis hin zu militärischen Interventionen.
2. Begründungsziele und Argumentationsstrategien Die Frage nach einer Begründung der Menschenrechte ist unterbestimmt. Zum einen ist schon unklar, wonach gefragt wird: Soll gezeigt werden, warum Menschenrechte faktisch gelten; oder warum Menschenrechte gelten sollten; oder aber welche Menschenrechte gelten sollten? Während in der Regel das zweite Verständnis der drei genannten im Vordergrund steht, gibt es – wie sich noch zeigen wird – Antworten auf die Begründungsfrage, die das erste oder das dritte Verständnis voraussetzen. Zum anderen sind Begründungen nicht unbedingt „Beweisführungen“ in einem strengen Sinn. Stattdessen haben verschiedene Begründungsprojekte verschiedene Ziele. Ein klassischer Beweis im mathematischen Sinn kommt im Fall der Menschenrechte als Begründungsziel sogar überhaupt nicht sinnvoll in Betracht. Was dann? Die folgende Darstellung möchte grob einige Begründungsziele unterscheiden und jeweils die typischen in der Literatur vertretenen Argumentationsstrategien benennen. Natürlich lässt sich hier weder eine abschließende noch eine eindeutige Beschreibung des Feldes an Begründungen erzielen; in der Literatur fehlt bislang eine umfassende systematische Darstellung der Debattenlage. Die nachfolgende Skizze kann diese Lücke nur im Ansatz ausfüllen und soll vor allem dazu dienen, Missverständnissen zwischen den verschiedenen Begründungsprojekten vorzubeugen.11 Die Denknotwendigkeit von Menschenrechten oder die Widerlegung des Skeptikers In einem starken Sinn bedeutet „Menschenrechte begründen“, jemandem, der (real oder als Gedankenexperiment) bezweifelt, dass Menschenrechte gelten sollten, zu beweisen, dass er seinen Zweifel aufgeben sollte. Soweit wir sehen können, gibt es zwei Begründungsformen, die anstreben, diesem Ziel gerecht zu werden: Zum einen können Menschenrechte aus Prämissen abgeleitet werden, die in irgendeiner Weise in Debatten als unbestreitbar vorausgesetzt werden können, etwa weil sie selbstevident sind. So wurde die Geltung von Menschenrechten oft auf die Existenz Gottes zurückgeführt, die entweder als allgemein geteilte Diskursvoraussetzung gesetzt oder wiederum aus selbstevidenten Prämissen „be11 Der vorliegende Systematisierungsvorschlag versteht sich insbesondere als Ergänzung zu den Übersichtsdarstellungen in Menke/Pollmann, Philosophie der Menschenrechte; N ickel, Human Rights; Arnd Pollman/Georg Lohmann, Menschenrechte. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2012.
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wiesen“ werden sollte; und auch Kants „Faktum der reinen praktischen Vernunft“ dürfte als eine solche unbeweisbare, aber von niemandem zurückweisbare Prämisse intendiert worden sein.12 Die Moderne ist aber davon gekennzeichnet, dass es zunehmend keine Prämissen mehr gibt, die als selbstevident oder unbestreitbar gelten können. Ja, wenn heute nach solchen unbestrittenen Prämissen gesucht wird, dann sind es ausgerechnet Begriffe wie „Menschenwürde“ und „Menschenrechte“, die als Kandidaten in Frage kommen; wer aber die Frage stellt, wie diese Begriffe zu begründen sind, der kann sich gewiss auf keine letzten Prämissen mehr zurückziehen, die ein sicheres Fundament bieten könnten. Daher hat sich im 20. Jahrhundert eine neue Form ausgebildet, unhintergehbare Prämissen zu begründen, die bei der Idee eines pragmatischen Widerspruchs ansetzt. Demzufolge kann zwar ohne logischen Widerspruch vorgebracht werden, dass Menschenrechte nicht gelten sollten; wer einen solchen Satz vorbringt, der widerspricht aber mit seinem Handeln dem Inhalt des Ausgesagten. Wer sich auf solche pragmatischen Widersprüche beruft, der behauptet weder, dass seine Aussagen selbstevident sind, noch dass sie als stillschweigend geteilte Annahmen dem Menschenrechtsdiskurs vorausliegen. Zwei Varianten werden dabei vertreten: Die erste Variante, die man als transzendentalpragmatisch im engeren Sinn bezeichnen kann, geht davon aus, dass jeder, der handelt, für sich selbst all die Rechte beanspruchen muss, die Voraussetzung jedes Handelns sind, wenn er nicht in einen pragmatischen Widerspruch geraten will; diese Rechte müsse er dann auch allen anderen zusprechen, die über die gleiche relevante Eigenschaft – die Eigenschaft, Mensch zu sein – verfügen. Die Grundidee geht auf Alan Gewirth zurück; in Deutschland wurde sie von Klaus Steigleder und Marcus Düwell weiterentwickelt.13 Die diskursethische Variante sucht den pragmatischen Widerspruch dagegen zwischen dem Bestreiten von Menschenrechten und dem gleichzeitigen Vorbringen eines normativen Geltungsanspruchs. Nach Jürgen Habermas, der sich allerdings im Rahmen der für die Begründungsfrage einschlägigen Überlegungen nur auf Grundrechte in nationalen Verfassungen bezieht, kann ein Widerspruch darin gesehen werden, dass demokratische Entscheidungen ihre eigene Ermöglichungsbedingung zerstören würden, wenn sie nicht allen Bürgern gleiche Rechte zusicherten, die ihnen eine faire Beteiligung am demokratischen Prozess ga12 Oliver Sensen prüft in seinem Beitrag in diesem Band unter anderem, ob Kants Ethik noch als eine Art sicheres Fundament für eine Menschenrechtsbegründung funktionieren kann. Oliver Sensen, „Möglichkeiten und Grenzen einer vernunftrechtlichen Begründung der Menschenrechte“, in diesem Band, 209–230 (= Vernunftrechtliche Begründung). 13 Alan Gewirth, „T he Basis and Content of Humans Rights“, Nomos 23 (1981), 119–147; Klaus Steigleder, Grundlegung der normativen Ethik: Der Ansatz von Alan Gewirth, Freiburg im Breisgau/München 1999; Marcus Düwell, „Human Dignity and Human Rights“, in: Paulus Kaufmann/Hannes Kuch/Christian Neuhäuser/Elaine Webster (Hgg.), Humiliation, Degradation, Dehumanization: Human Dignity Violated. Dordrecht 2010, 215–230.
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rantieren. Rainer Forst bezieht sich auf die Tatsache, dass jeder, der im internationalen Diskurs als Sprecher einer partikularen Gemeinschaft auftritt und die Geltung von Menschenrechten für diese Gemeinschaft bestreiten will, zugleich geltend machen muss, dass er ein legitimer Sprecher der Gemeinschaft ist; diese Legitimität sei aber mit einer Anerkennung des Rechts auf Rechtfertigung verbunden. Wer also nach außen die Geltung von Menschenrechten für seine eigene Kultur bestreitet, gerät in einen Widerspruch zwischen dem Gehalt seiner Aussage (dem Bestreiten der Menschenrechte) und den Voraussetzungen der Legitimität seiner Rolle als Stellvertreter dieser Kultur (individuelle Rechte der Mitglieder der Kultur). Eine weitere Form der diskursethischen Variante, der zufolge Menschenrechtsdiskurse keine Ergebnisse hervorbringen dürfen, die gegen die Regeln verstoßen, die Diskursen erst Sinn verleihen, vertritt seit den 1980er Jahren Adela Cortina; in diesem Band präsentiert sie eine weiterentwickelte Fassung.14 Die negative Begründung: keine Gründe für ihre Infragestellung denkbar Wie einige Varianten des diskursethischen Begründungsmodells bereits andeuten, kann die Beweislast auch umgedreht verstanden werden. Begründet werden soll dann nicht mehr, warum es Menschenrechte geben sollte, sondern nur noch, warum wir sie, da wir sie doch jetzt einmal haben, nicht mehr abschaffen sollten. Die Grundthese ist dann: Es gibt keine überzeugenden Argumente mehr dafür, die Geltung der Menschenrechte in Frage zu stellen. Dabei wird vorausgesetzt, dass Menschenrechte im Laufe der Geschichte in gewisser Weise kontingent als Reaktion auf Unrechtserfahrungen entstanden sind oder erkämpft wurden; es stünde nicht a priori fest, dass die Moral die Etablierung von Menschenrechten fordere. Rückblickend könnten diese aber als das Ergebnis von Lernprozessen verstanden werden, hinter die zurückzufallen es keine guten Gründe geben könne. Natürlich lässt sich diese Argumentation nicht ganz ohne einen doch irgendwie zeitenthobenen normativen Maßstab durchführen. Das Prinzip der Unparteilichkeit bzw. Thomas Nagels „View from Nowhere“15 könnten aber bereits ausreichen, um mögliche Gründe, Menschenrechte zu bestreiten, auszuhebeln. So könne der universale und egalitäre Charakter der Menschenrechte nicht bestrit
14 Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt am Main, 4. Aufl. 1998 (= Faktizität und Geltung); Rainer Forst, „Die Rechtfertigung der Menschenrechte und das grundlegende Recht auf Rechtfertigung. Eine reflexive Argumentation“, in: Gerhard Ernst/Stephan Sellmaier (Hgg.), Universelle Menschenrechte und partikulare Moral, Stuttgart 2010, 63–96; Adela Cortina, „Eine diskursethische Begründung der Menschenrechte“, in diesem Band, 255–276 (= Eine diskursethische Begründung). 15 T homas Nagel, T he View from Nowhere, Oxford 1989.
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ten werden, ohne gegen das Prinzip der Unparteilichkeit zu verstoßen. Positionen dieser Art werden insbesondere von Georg Lohmann, Thomas Gutmann und Ludwig Siep vertreten.16
Plausibilisierung und Explizierung anhand von Moraltheorien Wer eine Menschenrechtsbegründung formuliert, kann sich aber auch mit einem bescheideneren Ziel zufriedengeben. In der praktischen Philosophie gibt es seit jeher unterschiedliche Auffassungen darüber, mit welcher normativen Theorie das Phänomen Moral am besten eingefangen werden kann, und Versuche, eine Theorie in einem strengen Sinn als die einzig richtige auszuweisen (wie es etwa Kant oder Bentham klarerweise versucht haben), werden heute überwiegend als gescheitert angesehen. Es scheint nicht zu gelingen, eine einheitliche Theorie zu formulieren, die alle überzeugt. Aber es bleibt natürlich möglich, innerhalb von bestimmten Theorien Menschenrechtsbegründungen zu formulieren. Im Unterschied zu den vorherigen Positionen sollen hier also Menschenrechte bewusst unter der Voraussetzung von Prämissen begründet werden, für die ihrerseits keine zwingenden Argumente mehr vorgebracht werden können. Die Übergänge zu den stärkeren Begründungszielen sind dabei allerdings fließend: In unterschiedlicher Stärke kann behauptet werden, dass die vertretene Moraltheorie überzeuge oder gar die einzig sinnvolle Erklärung von Normativität anbiete; und die oben genannten diskursethischen Modelle können, wenn der Anspruch der Unhintergehbarkeit fallengelassen wird, auch eher im Sinn der Plausibilisierung und Explizierung verstanden werden. Menschenrechtsbegründungen dieser schwächeren Art sind keinesfalls redundant, sondern in zwei Hinsichten sehr aussagekräftig: Gelingt eine solche Begründung, so stärkt das die Verbindlichkeit der Menschenrechte zumindest in den Augen derer, die die zugrundgelegte Moraltheorie für richtig halten. Aber in gleicher Weise stärkt es die Plausibilität dieser Moraltheorie, denn sie kann dann offensichtlich ein weit verbreitetes moralisches Phänomen gut erklären. Dieses Wechselverhältnis lässt sich in negativer Hinsicht am Beispiel des Utilitarismus zeigen: Manche Utilitaristen bezweifeln, dass Menschenrechte in der starken Weise Priorität vor anderen Gütern haben, wie dies im Commonsense angenommen wird. Aber die Zielrichtung der Kritik lässt sich problemlos auch umkehren: Ein Standardeinwand gegen Utilitaristen besteht darin, dass dieser unbedingt geltende Rechte nicht angemessen rekonstruieren kann.17
16 Vgl. Lohmann, Begründungsaufgaben; T homas Gutmann, „Die Dynamik der Menschenrechte“, in diesem Band, 101–117 (= Dynamik der Menchenrechte); Ludwig Siep, „Naturrecht und Bioethik“, Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik 13 (2008), 29–50, 44; Ludwig Siep, „On the Historicity and Irreversibility of Human Rights“, bislang unveröffentlichtes Manuskript. 17 Es gibt selbstredend eine Reihe von Versuchen, Menschenrechte konsequentialistisch
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In positiver Hinsicht fallen zunächst kontraktualistische Versuche ins Auge, Menschenrechte als moralische Rechte zu begründen, denn offensichtlich wird niemand einer Regelung zustimmen, die ihm nicht fundamentale Rechte einräumt. Eine rein interessenbasierte kontraktualistische Moralbegründung, die ausdrücklich Menschenrechte miteinschließt, hat Norbert Hoerster vertreten.18 John Rawls’ Kontraktualismus soll dagegen durch den Schleier der Unwissenheit künstlich Unparteilichkeit herstellen; die Beteiligten einigen sich auf nationaler Ebene auf weitgehende Grundrechte, die allen gleichermaßen zukommen, und im internationalen Bereich auf Menschenrechte im engeren Sinn.19 Otfried Höffe hat schließlich das Modell eines „transzendentalen Tauschs“ vorgeschlagen, dem zufolge jeder Mensch ein fundamentales Interesse an Menschenrechten hat, weil diese die Bedingungen allen Handelns sichern; Menschen müssten sich daher Menschenrechte wechselseitig zusichern. Höffe muss, wie er offen zugesteht, dabei die zusätzliche normative Annahme voraussetzen, dass sich Menschen als Rechtspersonen anerkennen.20 Daneben gibt es zahlreiche Überlegungen im Anschluss an Kants praktische Philosophie. An dessen Rechtsphilosophie anknüpfend, aber auch von den verschiedenen Versionen des Kategorischen Imperativs ausgehend, wird insbesondere versucht, absolute Verbote für staatliches Handeln zu begründen.21 Eine wichtige Rolle spielt, nicht zuletzt durch das Bundesverfassungsgericht prominent gemacht, die Selbstzweckformel des Kategorischen Imperativs.22 Diese ist die Brücke zu einer weiteren, sehr verbreiteten Form der moralischen Begründung von Menschenrechten: deren Rückführung auf den Begriff der Menschenwürde. Menschenwürde kann, muss aber nicht im kantischen Sinn verstanden werden. Viele sehen den Vorteil des Konzepts der Menschenwürde gerade darin, dass sie Teil von mehreren plausiblen Moraltheorien sei. Entsprezu begründen, insbesondere im Regelkonsequentialismus. Vgl. dazu insbesondere William Talbott, „Consequentialism and Human Rights“, Philosophy Compass 8/11 (2013), 1030– 1040. Talbott verweist u.a. auf Derek Parfit, On What Matters, Bd. 1, Oxford 2011; kritisch zur Reichweite dieser Theorie bei der Menschenrechtsbegründung aber Matthias Hoesch/ Martin Sticker, „Parfit über Kantianismus und Konsequentialismus“, in: Matthias Hoesch/ Sebastian Muders/Markus Rüther (Hgg.): Worauf es ankommt. Derek Parfits praktische Philosophie in der Diskussion, Hamburg 2017. 18 Norbert Hörster, Ethik und Interesse, Stuttgart 2003, 210. 19 John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt am Main 1979; John Rawls, Das Recht der Völker, Berlin/New York 2002 (= Recht der Völker), 41. 20 Otfried Höffe, Demokratie im Zeitalter der Globalisierung, München 1999, Kap. 2 und 3. 21 In kantischer Tradition sehen sich mit Habermas, Höffe, Pogge und Rawls eine ganze Reihe prominenter Vertreter von Menschenrechtskonzeptionen. Explizit an Kants Texte anknüpfend, argumentieren die Autoren in Andreas Follesdal/Reidar Maliks (Hgg.), Kantian Theory and Human Rights, New York 2013; sowie in diesem Band Sensen, Vernunftrechtliche Begründung. 22 Kritisch aufgearbeitet in Bernd Ladwig, „Menschenwürde als Grund der Menschenrechte?“, Zeitschrift für politische Theorie 1/1 (2010), 51–69.
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chend wird die Menschenwürde entweder als Geltungsgrund oder als Geltungsziel der Menschenrechte aufgefasst.23 Dem Begriff der Menschenwürde nahe stehend, hat Griffin einflussreich den Gedanken formuliert, dass die moralische Basis der Menschenrechte darin zu suchen ist, dass Menschen Lebenspläne entwerfen und verwirklichen; während die Lebenspläne selber sehr unterschiedlich ausfielen, bedürften doch alle Menschen der gleichen Rechte, um Pläne entwickeln und umsetzen zu können. Die Strömung des Libertarianismus setzt dagegen in Locke’scher Tradition Eigentum am eigenen Körper, das Recht auf Eigentum an den Resultaten der eigenen Arbeit und das Recht auf freien Tausch als drei wesentliche gegebene Rechte voraus. Aus diesen wird abgeleitet, dass soziale Menschenrechte, die den Staat zur Umverteilung von Ressourcen nötigen, kaum Bestandteil von Rechtsordnungen sein dürften, weil ihre Durchsetzung gegen die letzten beiden der genannten Prinzipien verstoßen müsse.24 Eine „kontingente“ und insofern außergewöhnliche Menschenrechtsbegründung hat schließlich Mathias Risse vorgeschlagen. Demnach dürfte jeder nur so viel an natürlichen Ressourcen für sich in Anspruch nehmen, dass für alle anderen Menschen noch ausreichend übrig bleibt, um Grundbedürfnisse befriedigen zu können. In einer Welt, in der der Zugang zu natürlichen Ressourcen komplett verteilt ist und daher viele Menschen keine Möglichkeit haben, direkt auf natürliche Ressourcen zuzugreifen, müssen subsidiär die Staaten bzw. die Staatengemeinschaft jedermann die Befriedigung seiner Grundbedürfnisse ermöglichen. Menschenrechte leiten sich diesem Modell zufolge nicht aus menschlichen Eigenschaften ab, sondern aus der kontingenten Tatsache, dass die Erde über ausreichend Rohstoffe verfügt.25 Begründungen dieses Typs haben neben der Plausibilisierung, die sie über die hergestellte Kohärenz von moralischen Überzeugung erzielen, noch eine weitere wichtige Funktion: Sie können explizieren, worin das Besondere der Menschenrechte liegt, und damit eine Aufgabe der oben präsentierten stärkeren Begründungsformen vollumfänglich weiterführen. U.a. wird es durch die Explikation möglich, Kriterien dafür vorzuschlagen, welche Rechte in den Kanon der Menschenrechte aufzunehmen wären, und wie die einzelnen Menschenrechte untereinander zu gewichten sind. Allerdings bleiben diese Explikationen oft strittig, 23 Um nur zwei Beispiele herauszugreifen: John Tasioulas, „On the Foundations of Human Rights“, in: Rowan Cruft/S. Matthew Liao/Massimo Renzo (Hgg.), Philosophical Foundations of Human Rights, Oxford 2015, 45–70; Arnd Pollmann, „Menschenwürde nach der Barbarei. Zu den Folgen eines gewaltsamen Umbruchs in der Geschichte der Menschenrechte“, Zeitschrift für Menschenrechte 1 (2010), 26–45. 24 Vgl. z.B. Robert Nozick, Anarchy, State, and Utopia, Oxford 1974; John Simmons: „Human Rights, Natural Rights, and Human Dignity“, in: Rowan Cruft/S. Matthew Liao/ Massimo Renzo (Hgg.), Philosophical Foundations of Human Rights, Oxford 2015, 138–152. 25 Mathias Risse, On Global Justice, Princeton/Oxford 2012, Kap. 7.
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da sie jeweils Moralkonzepte voraussetzen, die nicht allgemein geteilt werden. Dieses Problem motiviert Versuche, Menschenrechte als überlappenden Konsens divergierender Moraltheorien aufzufassen. Berufung auf faktische Akzeptanz Versucht man, die Differenzen zwischen Moraltheorien aus dem Spiel zu nehmen, dann muss man auf eine Antwort auf die Frage verzichten, aus welchen normativen Gründen Menschenrechte gelten sollten. Es bleibt aber immer noch die Frage zu beantworten, warum wir von der Geltung der Menschenrechte ausgehen können. Verstehen wir Menschenrechte als moralisch begründete Rechte und wollen gleichzeitig die Festlegung auf eine bestimmte moralische Begründung vermeiden, dann kann argumentiert werden: Sie gelten universal, weil ihre Geltung einen Konsens aller Moralsysteme darstellt. Im Anschluss an Rawls wird dies oft als „politische Konzeption“ bezeichnet und der „moralischen Konzeption“ entgegengesetzt, die wiederum als Oberbegriff für alle obengenannten Positionen zu verstehen ist.26 Der Konsens, der hier in den Blick genommen wird, kann sich auf einen Konsens der konkurrierenden Moraltheorien einer Kultur beziehen – Gegenstand wären dann die Grundrechte in einer Verfassung – oder auch einen globalen Konsens zwischen den verschiedenen Kulturen meinen – dann ginge es um internationale Menschenrechte. Die Konsensthese lässt sich anhand von empirischem Vergleichsmaterial stützen – so etwa das Projekt Weltethos von Hans Küng. Prinzipiell kann sie empirisch aber auch falsifiziert werden und ist daher ständigen Einwänden ausgesetzt. Robuster erscheint im Vergleich dazu die These, dass Menschenrechte einen Konsens von solchen Moralsystemen bilden, die sich überhaupt auf das Spiel von normativen Regelbegründungen einlassen. Rawls hat dies wirkmächtig als die „Idee eines überlappenden Konsenses vernünftiger umfassender Lehren“27 bezeichnet. Andere Ansätze gehen davon aus, dass sich ein Konsens zumindest dann erzielen ließe, wenn sich erst einmal ein sinnvoller kulturenübergreifender Diskurs etabliert habe. Es liegt auf der Hand, dass solche Modelle – jedenfalls wenn sie internationale Menschenrechte in den Blick nehmen – einen minimalistischen Menschenrechtsgedanken verfolgen, dem zufolge nur die grundlegendsten Interessen der Menschen durch Menschenrechte geschützt werden. Gegenüber den eigentlichen Begründungsfragen gehen Theorien dieser Art typischerweise mit einer von zwei möglichen Haltungen einher: einer agnostischen
26 Rawls,
Recht der Völker, 2002; John Rawls, Politischer Liberalismus, Stuttgart 2002 (= Politischer Liberalismus); Joseph Raz: „Human Rights Without Foundations“, in: John Tasioulas/Samanta Besson (Hgg.), The Philosophy of International Law, Oxford 2010, 321– 338. 27 Rawls, Politischer Liberalismus, 219.
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oder einer skeptischen. In der Tradition von Rawls verbleibt man agnostisch gegenüber moralischen Begründungen der Menschenrechte. Es ist demnach zwar möglich, dass eine der vorgeschlagenen Begründungen wahr sein kann, aber es ist in pluralistischen Gesellschaften nicht zu erwarten, dass diese Wahrheit von allen eingesehen wird. Andere, pragmatistisch oder kulturrelativistisch orientierte Theoretiker glauben nicht, dass eine der moralischen Begründungen wahr sein könnte. Die Begründungen seien immer nur Ausdruck von konkreten historischen Erfahrungen und partikularen Wertsystemen; entsprechend sei der Konsens über Menschenrechte immer brüchig. Paradigmatisch für eine solche Position ist der Ansatz von Richard Rorty: Dass es weltweit ein funktionierendes Sich-auf-Menschenrechte-berufen-können gibt, sei das Resultat von traurigen und aufwühlenden Geschichten, nicht aber von moralischen Argumenten.28 Man kann die Differenzen von Moralsystemen aber auch ausblenden, indem allein auf das positive Recht abgestellt wird. Menschenrechte gelten dem zufolge, weil und insofern sie Teil des positiven Rechts sind. Mehr als die Berufung auf diese Faktizität gebe es zur Geltung von Menschenrechten als positiven Rechten nicht zu sagen. Eine solche Position kann man als rechtspositivistische Sicht bezeichnen – dieser Begriff wird unten noch ausführlicher erläutert.
Diese Übersicht über die verschiedenen Begründungsziele und Argumentationsstrategien zeigt ein heterogenes Bild der Debatte. Die Komplexität steigt weiter, wenn man sich vor Augen führt, dass verschiedene Begründungsformen miteinander kombiniert werden können. So kann jemand zugleich Rechtspositivist sein und glauben, dass Menschenrechte als moralische Rechte in einem strengen Sinn begründet werden können; und es kann jemand als „freistehende“ politische Konzeption einen überlappenden Konsens vertreten und gleichzeitig auf der Ebene umfassender Theorien eine kantische Menschenrechtsbegründung verteidigen – dass wir in politischen Diskursen auf die Begründungsfrage verzichten, heißt ja nicht, dass die akademische Arbeit an umfassenden Theorien per se sinnlos wäre. Und selbstverständlich kann man der Auffassung sein, dass sich ein enger Kern der Menschenrechte in einem strengen Sinn begründen lässt, weitere Menschenrechte aber nur im Sinne einer Plausibilisierung anhand einer Moraltheorie. In ähnlicher Weise sind viele weitere Kombinationen denkbar. Menschenrechte sind ein derart komplexes Phänomen, dass kaum zu erwarten ist, mit einer eindimensionalen Begründung das gesamte Phänomen einfangen zu können.
28
Richard Rorty, „Menschenrechte, Rationalität und Gefühl“, in: Stephen Shute/Susan Hurley (Hgg.), Die Idee der Menschenrechte, Frankfurt am Main 1996, 144–170, 151. Wir verstehen auch Hans Joas’ Menschenrechtstheorie in diesem Sinn – auch wenn Joas dem „Geschichten erzählen“ ausdrücklich einen rechtfertigenden Charakter zuspricht. Vgl. Hans Joas, Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte, Berlin 2011.
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3. Das Spannungsfeld von positivem Recht, Naturrecht und nachkantischem Vernunftrecht Der vorliegende Band nähert sich der Begründungsfrage anhand von Termini, die aus der Geistesgeschichte gut bekannt sind. Konzeptionen des Natur- und Vernunftrechts spielten in der Tradition des europäischen Menschrechtsdenkens eine große Rolle, und im zwanzigsten Jahrhundert haben sie in der deutschsprachigen Debatte ein gewisses Revival erfahren. Ursache dafür waren nicht zuletzt die Gräueltaten des Zweiten Weltkriegs, die teils vom geltenden Recht gedeckt waren; das Recht als allein gültige normative Instanz erschien unzureichend. Naturrechtsdiskurse entstanden insbesondere im katholischen Kontext, und bis heute sehen sich einige Autoren in dieser Traditionslinie.29 Auf der anderen Seite schien die zunehmende Pluralisierung von Weltanschauungen dafür zu sprechen, Recht und Moral stärker voneinander zu trennen – die Grundidee des Rechtspositivismus. Allerdings sind die Begriffe des Rechtspositivismus, des Natur- und Vernunftrechts zunehmend auch negativ konnotiert und werden – zumindest im deutschsprachigen Raum – oftmals zur polemischen Abgrenzung von argumentativen Gegnern verwendet: Der Rechtspositivismus ist für viele eine krude Tradition, der zufolge noch die größte Ungerechtigkeit rechtmäßig sein kann; Naturrechtslehren werden oftmals eines theologischen Hintergrunds verdächtigt oder als partikulare Berechtigungen verstanden, das geltende Recht zu brechen; und das Vernunftrecht steht zuweilen für einen interkulturell unsensiblen Vernunftpaternalismus. Die angelsächsische Debatte hat, der Philosophiegeschichte weniger verpflichtet, einen anderen Lauf genommen, denn die Begriffe haben zumindest in einigen Debattenkontexten ihre Aussagekraft dort weitgehend eingebüßt.30 Die Gegenüberstellung von moralischen und politischen Menschenrechtskonzeptionen dominiert im angelsächsischen Bereich weitgehend die Diskussion, wohingegen Positivismus, Natur- und Vernunftrecht in der Menschenrechtsdebatte weder als Gegenstand der Abgrenzung noch als positive Tradition in besonderer Weise aufgegriffen werden. 29 In jüngerer Zeit u.a. Papst Benedikt XVI; vgl. etwa seine Rede im Bundestag vom 22.09.2011, online unter https://www.bundestag.de/parlament/geschichte/gastredner/bene dict/rede/250244 (03.04.2017); Joseph Ratzinger, Werte in Zeiten des Umbruchs. Die Herausforderungen der Zukunft bestehen, Freiburg im Breisgau 2005, 25 f.; Eberhard Schockenhoff, „Ein transzendentalphilosophischer Zugang zur Naturrechtslehre des Thomas von Aquin“, Concilium 46 (2010), 272–279. Vgl. auch die Übersicht in Jan Leichsenring, „Gegenwärtige Naturrechtstheorien und ihr Umgang mit Religion und Säkularität“, in: Daniel Bogner/ Cornelia Mügge (Hgg.), Natur des Menschen. Brauchen die Menschenrechte ein Menschenbild? Fribourg 2015, 67–82. 30 Für neue Bezüge auf das Naturrecht im englischsprachigen Raum vgl. aber den Beitrag von Fabian Wittreck, „Naturrecht und die Begründung der Menschenrechte“, in diesem Band, 43–66 (= Naturrecht).
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Der vorliegende Band möchte den Versuch unternehmen, beiden Tendenzen – der Polemisierung der Begriffe wie ihrem Bedeutungsverlust – zu trotzen: Es soll geprüft werden, inwieweit die Gegenüberstellung von Positivismus, Naturrecht und Vernunftrecht in der gegenwärtigen Debatte noch sinnvoll erscheint, indem sie gehaltvolle Abgrenzungen erlaubt; wie nicht-polemische Rekonstruktionen der verschiedenen Modelle aussehen können; und welche Begründungsressourcen sie unter Bedingungen des Pluralismus noch bereitstellen können. Durchgängig ist der Band daher bemüht, Begrifflichkeiten in nicht-polemischer Form zu schärfen und gängige Vorurteile auszuräumen. Wie schon im Fall des Menschenrechtsbegriffs, gibt es nämlich auch hier sehr unterschiedliche Bedeutungsweisen der drei Begriffe. Auch wenn diese Pluralität nicht aufgelöst werden kann, sind daher kurze begriffliche Vorklärungen unabdingbar. Der Begriff des Naturrechts kann in zwei Dimensionen in unterschiedlicher Weise gebraucht werden.31 Auf der ontologischen Ebene kann er in einem starken Sinn die Existenz von Rechten „von Natur aus“, also unabhängig von der faktischen Anerkennung dieser Rechte bezeichnen; er kann aber auch in einem nicht-ontologischen Sinn verstanden werden, sodass die proklamierten Rechte dadurch konstituiert werden, dass sie Teile eines gelebten Moralsystems sind, das einen universalen Geltungsanspruch mitbringt. Auf der inhaltlichen Ebene bildet er in einem weiten Sinn alle normativen Anforderungen an das positive Recht ab. Im engeren Sinn ist er dagegen der Gegenbegriff zum Vernunftrecht und somit nur eine Variante unter mehreren, normative Anforderungen an das Recht zu begründen. Naturrecht in diesem engeren Sinn zeichnet sich nämlich dadurch aus, dass es begründet wird, indem auf die (teleologisch aufgefasste) Natur Bezug genommen wird. Die äußere Natur kann zur Begründung herangezogen werden, indem argumentiert wird, man könne aus ihr ablesen, wozu Dinge da sind – so hat Grotius etwa behauptet, die Weltmeere seien erkennbar dazu da, Reisemöglichkeiten zwischen den Kontinenten zu schaffen, woraus folge, dass jedermann einen naturrechtlichen Anspruch auf ihre Besegelung hat. Die Natur des Menschen übernimmt eine Begründungsleistung, wenn angenommen wird, dass Menschen bestimmte Anlagen oder Fähigkeiten ausbilden sollen, die von Menschenrechten zu schützen seien. Neoaristotelische und neuthomistische Ansätze sehen sich oft in dieser Tradition.32 Das (nachkantische) Vernunftrecht dagegen konstruiert Rechte „formal“ oder prozedural, d.h. ohne oder nur mit minimalem direktem Bezug auf anthropologische Merkmale, und es ist daher inhaltlich weniger stark greifbar.33 Oftmals 31 Zum Begriff des Naturrechts vgl. auch Wittreck, Naturrecht und Florian Rödl, „Zur Kritik rechtspositivistischer Menschenrechtskonzeption“, in diesem Band, 29–42. 32 Vgl. Franz-Josef Bormann, „Naturrechtliche Begründung von Menschenrechten? Ein Blick in die aristotelische Tradition“, in diesem Band, 135–159 (= Naturrechtliche Begründung). 33 Kritisch zu der üblichen Differenzierung zwischen Naturrecht und nachkantischem
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wird das Vernunftrecht nicht im Sinne eines moralischen Realismus verstanden, sondern als von der Vernunft konstruiertes System normativer Anforderungen an legitimes Recht, wobei dem positiven Recht viel Spielraum verbleibt. Gewirth kann genauso wie Habermas, Höffe und der frühe Rawls in dieser Tradition gesehen werden. Ist hier vom Rechtspositivismus die Rede, dann soll nicht auf das „Zerrbild“34 rekurriert werden, dem zufolge Rechtspositivisten sich jeglicher Beurteilung rechtlicher Normen enthalten müssen. Der Rechtspositivist vertritt lediglich die These, dass die Geltung des Rechts allein davon abhängt, dass es gemäß der geltenden Grundnorm gesetzt wurde. Damit ist eine Trennungsthese von Recht und Moral verbunden: Was rechtlich gilt, muss unabhängig von der Moral bestimmt werden. Es kann aber auch in dieser Sicht moralische Gründe geben, das Recht in die eine oder andere Richtung zu gestalten; diese Gründe sind aber selbst nicht rechtlich bindend, und sie sind nach der unter Rechtspositivisten verbreiteten Meinung nicht objektiv bzw. für alle gleichermaßen einsehbar. Der Positivist hält daher Widerstand gegen die Staatsgewalt grundsätzlich für rechtlich illegitim, es sei denn, der Widerstand ist selbst gesetzlich geregelt. Es kann allerdings auch für den Rechtspositivisten moralische Gründe geben, dem Recht nicht Folge zu leisten; typischerweise wird die Messlatte dafür im Rechtspositivismus sehr hoch g ehängt, oder Rechtsbrüche werden sogar in jeder Hinsicht für illegitim gehalten. Das Spannungsfeld von positivem Recht, Naturrecht und Vernunftrecht, das sich durch diese begrifflichen Vorklärungen andeutet, lebt von einer Vielzahl an offenen Fragen. Wenn Natur- und Vernunftrecht als Gegenbegriff zum positiven Recht verstanden werden, in welchem Sinn kommt ihnen dann Verbindlichkeit zu? Sind sie eine Art höherrangiges Recht, das das positive Recht im Konfliktfall außer Kraft setzt (so noch Grotius), oder sind sie eher Empfehlungen an tugendhafte Politiker (wie etwa Kant stellenweise nahelegt), oder begründen sie moralische Rechte von Menschen, auf die sie sich in normativen Diskursen und vor der Weltöffentlichkeit berufen können? In welchem Sinn ist es überhaupt sinnvoll, Menschenrechte als moralische Rechte aufzufassen, wie oben mehrfach vorausgesetzt? „Existieren“ Menschenrechte, auch wenn sie nicht im positiven Recht enthalten sind? Eine wichtige Rolle spielt in diesem Zusammenhang die Beurteilung diachroner Prozesse: Das positive Recht ist einem steten Wandel ausgesetzt, und daher unterliegen auch positiv-rechtlich formulierte Menschenrechte einem Entwick
Vernunftrecht Arno Anzenbacher, „Menschenrechtsbegründung zwischen klassischem und neuzeitlichem Naturrecht“, in diesem Band, 121–133. 34 Horst Dreier, „Zerrbild Rechtspositivismus. Kritische Bemerkungen zu zwei verbreiteten Legenden“, in: Clemens Jabloner/Gabriele Kucsko-Stadlmayer/Gerhard Muzak/Bettina Perthold-Stoitzner/Karl Stöger (Hgg.), Vom praktischen Wert der Methode. Festschrift für Heinz Mayer, Wien 2011, 61–91.
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lungsprozess.35 Natur- und Vernunftrecht dagegen scheinen überzeitlich konzipiert zu sein; sie sind in der kantischen Tradition a priori begründet, in der aristotelischen Tradition bauen sie auf die unveränderliche menschliche Natur auf. Können solche Konzeptionen den Wandel des Menschenrechtsdenkens angemessen erklären? Kontrastiert man Natur- und Vernunftrecht, so stellt sich die Frage, welche Rolle die Natur des Menschen bei der Begründung von Menschenrechten spielen kann. Martha Nussbaum hat wirkmächtig den capability approach mit Menschenrechten in Verbindung gebracht und damit den Neoaristotelismus in der politischen Philosophie gestärkt.36 Doch bleibt nicht nur offen, ob sie eine kulturübergreifend akzeptierbare Liste an menschlichen Fähigkeiten formuliert; fraglich ist vor allem, was genau diese Liste für die Menschenrechtsbegründung austragen kann.37 In kantischer Tradition wird dagegengehalten, dass nur formale und prozessuale Modelle dem Pluralismus an Lebensformen Rechnung tragen können.38 Doch sind diese hinreichend bestimmbar, um konkrete Menschenrechte begründen zu können, oder müssen sie mit Kant dabei stehenbleiben, ein allgemeines Freiheitsrecht als das „einzige, ursprüngliche, jedem Menschen, kraft seiner Menschheit, zustehende Recht“39 zu postulieren? All diese Fragen bieten Raum für zahlreiche Zwischenpositionen, und wie die Beiträge des Bandes zeigen, sind diese Zwischenpositionen vermutlich aussichtsreicher als die denkbaren Extreme. Wer Menschenrechte begründen möchte, der sollte also, mit Habermas formuliert, in der ein oder anderen Weise erfolgreich „zwischen den Klippen des Rechtspositivismus und des Naturrechts“40 Kurs halten. Wenden wir uns abschließend der Frage zu, wie die einzelnen Beiträge dieses Manöver zu bestehen versuchen.
35 Vgl. insbesondere Stefan Kadelbach, „Die Migration der Menschenrechte“, in diesem Band, 67–100, Gutmann, Dynamik der Menschenrechte und Lohmann, Begründungsaufgaben. 36 Martha C. Nussbaum, „Capabilities and Human Rights“, Fordham Law Review 66/2 (1997), 273–300. 37 Siehe hierzu Bormann, Naturrechtliche Begründung und Sebastian Laukötter, „Zur Begründung der Menschenrechte im Fähigkeitenansatz“, in diesem Band, 161–179. 38 Siehe insbesondere Cortina, Eine diskursethische Begründung und Sensen, Vernunftrechtliche Begründung. 39 Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten, Werkausgabe, Bd. 08, hg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt am Main 1997, 345. 40 Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, 1998, 668 (Nachwort zur 4. Auflage).
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4. Zu den einzelnen Beiträgen Der Band gliedert sich in drei Gruppen von Beiträgen, innerhalb derer sich die Autoren konstruktiv oder kritisch aufeinander beziehen. Die erste Gruppe dreht sich um die Frage, ob ein wertfreier Blick auf das positive Recht möglich ist – der Rechtspositivismus wird damit ebenso thematisiert wie der Versuch, die historische Entwicklung des Rechts wertneutral zu beschreiben. Die zweite Gruppe ist neoaristotelischen und neuthomistischen Ansätzen gewidmet. Inwiefern lassen sich solche Ansätze von der kantischen Tradition abgrenzen, welche Rolle spielen sie in aktuellen Menschenrechtsbegründungen? Die dritte Gruppe thematisiert Theorien, die dem kantischen Vernunftrecht zugeordnet werden können, und evaluiert deren Begründungsaussichten generell oder mit Blick auf bestimmte Aspekte.
Ein wertfreier Blick auf das positive Recht? Florian Rödl eröffnet den Band mit einem Beitrag, der auf die These abzielt, dass Rechtsordnungen nicht ohne einen gewissen Bezug auf naturrechtliche Standards auskommen können. Dieser These gehen zahlreiche Begriffsklärungen voraus: Rödl zeigt, wie der Begriff des Positivismus und der Begriff des Naturrechts in jüngerer Zeit missverstanden worden sind. Als entscheidendes Merkmal von aussagekräftigen positivistischen Positionen macht er die Skepsis gegenüber „objektiven“, also allgemein überzeugenden Naturrechtskonzeptionen aus; diese Skepsis rechtfertige in den Augen der Positivisten die Forderung, rechtliche Beurteilungen nur anhand geltenden Rechts zu treffen. Rödl weist diese Skepsis zurück, weil sie die Differenz zwischen subjektiven Vorlieben und objektiven moralischen Forderungen verkenne. Vielmehr müsse aus methodischen Gründen die Rechtsprechung Bezug auf ein objektives Naturrecht nehmen. Rechtsnormen seien unterbestimmt und müssten daher von Gerichten ausgelegt werden; doch in vielen Fällen reichten die dem Positivisten zur Verfügung stehenden Auslegungsprinzipien nicht hin, sodass die Rechtsprechung, wolle sie nicht in Dezisionismus verfallen und Rechtsinhalte einfach „erfinden“, objektive naturrechtliche Grundsätze heranziehen müsse. Auch Fabian Wittreck widmet sich zunächst häufigen Begriffsverwirrungen rund um die Termini „Naturrecht“, „Rechtspositivismus“ und „Menschenrechte“. Sein Beitrag stellt dann insbesondere dar, wie der Naturrechtsbegriff in den Rechtswissenschaften in Verruf geraten ist, und weshalb auch der Begriff des Positivismus einigen Vorbehalten ausgesetzt ist. Dazu wirft Wittreck einerseits einen Blick auf die katholisch geprägten Naturrechtslehren der Nachkriegszeit und verbindet andererseits die Vorbehalte gegenüber dem Positivismus mit dem Erbe des Dritten Reiches. Erstaunlich sei allerdings, wie die offene Ablehnung des Naturrechts mit der selbstverständlichen Überzeugung von der universalen
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Gültigkeit der Menschenrechte koinzidiere – Wittreck sieht hier ein „menschenrechtliches Begründungsparadoxon“41. Im Ergebnis bleibt auf der einen Seite ein Plädoyer für einen unbefangeneren Umgang mit naturrechtlichen Argumentationen; auf der anderen Seite wird betont, dass sich diese Argumentationen aber nur als partikulare Beiträge zu einer pluralistischen Debatte verstehen sollten. Für Stefan Kadelbach stellt sich die Frage nach der Begründung der Menschenrechte im Zusammenhang mit der „Migration der Menschenrechte“, also der sukzessiven Ausweitung der Geltung von Menschenrechten. Diese beschreibt er rechtshistorisch als einen Prozess zunehmender Relativierung und betrachtet sie geltungstheoretisch unter dem Aspekt der Gegenüberstellung von Universalität und Relativität. Kadelbach verhandelt die geltungstheoretische Fragestellung dabei unter einer rechtshistorischen und damit am positiven Recht orientierten Perspektive: Die Geltung und Begründung der Menschenrechte variiert ihm zufolge erheblich mit dem jeweiligen kulturellen Kontext; sie sei das Ergebnis diskursiver Aushandlungsprozesse und nicht aus der Natur des Menschen oder einer übergeschichtlichen Vernunft im Sinne einer intelligiblen Welt der Gründe ableitbar. Allenfalls könne man im Hinblick auf die Geltung der Menschenrechte von einem „relativen Universalismus“ sprechen: Im Anschluss an Michael Walzer interpretiert Kadelbach das Verhältnis von Menschenrechten und innerstaatlichem Recht im Sinne einer Schichtung von enttraditionalisierten, dafür aber universalistisch zu verstehenden Normen einerseits und traditionsgesättigtem, aber kulturrelativem Recht andererseits. Versteht Kadelbach die Entwicklung der Menschenrechte als einen Prozess zunehmender Relativierung, so begreift Thomas Gutmann sie als Fortschrittsgeschichte des Universalitätsprinzips. Er macht gegen eine rein rechtspositivistische Betrachtung der Menschenrechte nicht nur die normative Perspektive der Rechtsphilosophie, sondern auch die deskriptive Perspektive der Sozialwissenschaften geltend. Die Menschenrechte haben nach Gutmann ihre Mitte im individuellen „Recht auf gleiche Achtung“ 42 und damit im Verbot von Diskriminierung aufgrund von nicht disponiblen Eigenschaften. Die Begründung der Menschenrechte liege darin, dass niemand sie vernünftigerweise zurückweisen könne. Insofern der egalitäre Individualismus der Menschenrechte einer Logik der Inklusion folge und neu auftretende oder auch neu entdeckte Diskriminierungen als Unrecht zu identifizieren vermöchte, handle es sich bei der Entwicklung der Menschenrechte normativ gesehen um eine Fortschrittsgeschichte. Die Menschenrechte sind Gutmann zufolge sowohl dem Gehalt als auch dem Begründungsmodus nach als posttraditionale Normen aufzufassen: Zwar seien sie mit unterschiedlichen Traditionen vereinbar, als solche aber nicht aus irgendeiner bestimmten Tradition heraus begründbar. Einer rein rechtspositivistischen
41 Wittreck,
Naturrecht, 56. Dynamik der Menschenrechte, 103.
42 Gutmann,
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Perspektive auf die Menschenrechte entgehe nicht nur die philosophische Dimension normativer Begründung, sondern auch die gesellschaftliche Dimension des mit der Verabschiedung traditioneller Begründungsmuster verbundenen kollektiven Lernprozesses. Neoaristotelismus und Naturrecht Arno Anzenbacher, dessen Beitrag die Ablösung des klassischen Naturrechts durch sein neuzeitliches Pendant geistesgeschichtlich einordnet, vertritt die Position, dass der Lex-naturalis-Ansatz des Thomas von Aquin einerseits den formalen Vernunftbegriff Kants vorwegnehme, andererseits in seiner materialen Implementierung den Abhängigkeitsstrukturen seiner Zeit verhaftet sei und von daher hinter dem Universalitätsanspruch des neuzeitlichen Naturrechts zurückbleibe. Gerade dieser Universalitätsanspruch aber kennzeichne das neuzeitliche Naturrecht: Durch die radikale Betonung der Freiheit und Gleichheit aller Menschen habe erst diese Variante des Naturrechts das Menschenrechtsdenken hervorgebracht. Gleichwohl können nach Anzenbacher die gegenwärtigen Menschenrechtsdiskurse von einer Rückbesinnung auf das klassische Naturrecht profitieren, da dieses durch die Identifikation natural vorgegebener und daher nicht beliebiger menschlicher Bedürfnisse auf die konkrete Freiheit und nicht nur auf abstrakte Ideen ziele. Anzenbacher hat dabei eine von den Humanwissenschaften informierte Anthropologie als Grundlage normativer Aussagen für das zwischenmenschliche Zusammenleben im Sinn. Unter Berücksichtigung der aristotelischen und thomanischen Naturrechtstheorie wertet Franz-Josef Bormann zeitgenössische Versuche einer aristotelisch inspirierten Menschenrechtsbegründung auf deren Tragfähigkeit hin aus. Bormann untersucht mit den Ansätzen von Amartya Sen und Martha Nussbaum die derzeit vielversprechendsten Versuche, in der Tradition des aristotelischen Naturrechts menschenrechtliche Ansprüche zu begründen. Indem Sen und Nussbaum – mit je unterschiedlichen Schwerpunkten – die menschlichen Fähigkeiten zur Basis menschenrechtlicher Überlegungen machten, gelinge es ihnen, schwerwiegende Mängel der Gerechtigkeitstheorie von John Rawls zu überwinden. Eine der größten Stärken des Fähigkeitenansatzes ist nach Bormann dessen „anthropologischer Reichtum“ 43. Eine seiner größten Schwächen sei die fehlende Ausrichtung der einzelnen Fähigkeiten auf eine integrierende Mitte und ein daraus resultierendes „Ordnungs- und Vorrangproblem“44. Eine Rückbesinnung auf Aristoteles und Thomas von Aquin könne durch die Bereitstellung von Kriterien möglicherweise Abhilfe schaffen.
43 Bormann,
44 Bormann,
Naturrechtliche Begründung, 137, 152. Naturrechtliche Begründung, 147, 154, 156.
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Sebastian Laukötter nimmt erneut Amartya Sen und Martha Nussbaum in den Blick und geht der Frage nach, in welcher Hinsicht der Fähigkeitenansatz einen Beitrag zur Menschenrechtsbegründung leisten kann, und in welchen Hinsichten er Probleme offenlassen oder theoriefremde Ressourcen in Anspruch nehmen muss. Seine Ausgangsbeobachtung ist, dass der Fähigkeitenansatz oftmals relativ global mit den Menschenrechten in Verbindung gebracht wird. Ein genauerer Blick lasse aber ein ambiges Ergebnis zu Tage treten: Während der Fähigkeitenansatz für die Frage, welche Menschenrechte gelten sollten, wichtige Überlegungen liefere, klammere er die Frage, warum Menschenrechte gelten sollten, entweder aus oder gebe defizitäre Antworten. Skeptisch gegenüber allen Versuchen, naturrechtliche Lehren zu rehabilitieren, zeigt sich Georg Lohmann. Menschenrechte seien Antworten auf spezifische historische Unrechtserfahrungen und somit besondere Rechtskonstruktionen, die einerseits politisch gesetzt und andererseits in bestimmter Hinsicht moralisch begründbar seien. Sie sind für Lohmann daher keine ewige Idee, die entdeckt werden kann, sondern sie realisieren sich erst in besonderen Konzeptionen. Lohmann legt eine Bestandsaufnahme vor, welche Begründungsaufgaben sich in der internationalen Konzeption der Menschenrechte stellen, und formuliert eine grobe Skizze, wie sie eingelöst werden können. Er verteidigt insbesondere die These, dass die normativen Behauptungen weder absolute noch „transzendente“ Begründungen benötigen, wie sie in der Tradition von Naturrecht und Vernunftrecht vertreten worden sind, aber auch nicht durch schlicht politische Setzung umgangen werden können. Eine solche Auffassung müsse, ohne einem prinzipiellen Opportunismus zu verfallen, einräumen, dass die Menschenrechte nicht immer „das letzte Wort“ haben.
Vernunftrechtliche Ansätze in der kantischen Tradition Oliver Sensen bewertet in seinem Beitrag vier zeitgenössische Modelle, Menschenrechte vernunftrechtlich zu begründen: die Begründung der Rechte anderer Menschen durch einen allen Menschen zukommenden objektiven Wert; die Begründung der Menschenrechte durch Klugheitsüberlegungen, etwa dergestalt, dass die Einhaltung der Menschenrechte das friedliche Zusammenleben der Menschen sichert; die Begründung der Rechte anderer mit sogenannten Bedingungsargumenten, denen zufolge jeder Wert durch die Selbstzweckhaftigkeit des Menschen als absolutem Wert bedingt ist, aus dem dann seinerseits das Recht auf Achtung resultiert; und schließlich die Begründung der Menschenrechte durch den Kategorischen Imperativ als unbedingter Forderung der Vernunft. Sensen hält die ersten drei Modelle für gescheitert und führt dies darauf zurück, dass sie allesamt zunächst einen Wert etablieren, aus dem dann – in einem zweiten Schritt – Rechte abgeleitet werden. Das vierte Modell, von Sensen als genuin kantisch qualifiziert, zeichne sich dagegen dadurch aus, dass es die
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Pflicht zur Achtung anderer Menschen direkt als ein Gebot der Vernunft denke und nicht den Umweg über einen erst zu etablierenden Wert gehe. Von diesem Modell müsse eine vernunftrechtliche Menschenrechtsbegründung ausgehen. Tatsächlich zwingend seien Überlegungen dieser Art aber nicht; eine ihrer größten Herausforderungen stelle in der Gegenwart die naturalistische Rückführung der Ethik auf evolutionstheoretische Annahmen dar. Ausgehend von der Beobachtung, dass der Begriff der Menschenwürde, der in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland als die tragende Säule unveräußerlicher Rechte gilt, entgegen einer langen Auslegungstradition nicht mehr unbedingt auf Kant zurückgeführt wird, prüft Margit Wasmaier-Sailer, ob die gegen diesen Rezep tionszusammenhang vorgebrachten Einwände von den kantischen Quellen her stichhaltig sind. Es handelt sich zum einen um den etwa von Thomas Gutmann vorgebrachten Einwand, Kants Würdebegriff habe ein erhebliches Exklusionspotential, insofern er nur Personen Würde zuschreibe, nicht aber alle Menschen als Personen betrachte. Zum anderen geht es um den von Oliver Sensen vorgebrachten Einwand, die in den genannten Rechtsdokumenten zugrunde gelegte wertethische Auffassung von Würde sei mit den erkenntnistheoretischen und moralphilosophischen Voraussetzungen von Kants Ethik nicht vereinbar, deren Würdebegriff also nicht auf Kant zurückzuführen. Wasmaier-Sailer sieht in der Zweistufigkeit von Kants Würdebegriff, der die Zweistufigkeit des Konzepts der Gottebenbildlichkeit widerspiegle, eine Möglichkeit, beide Einwände zu entkräften. Adela Cortina sieht die Aufgabe ihrer diskursethischen Menschenrechtsbegründung darin, einen Mittelweg zwischen dem naturrechtlichen Ansatz einerseits und einer rein politischen Konzeption der Menschenrechte andererseits zu finden. Menschenrechte seien weder einfach von Natur aus da, noch seien sie ein beliebiges Ergebnis von politischen Aushandlungsprozessen. In Auseinandersetzung mit Habermas, Apel und Alexy argumentiert sie, dass Menschenrechte als moralische Rechte zu verstehen seien, die historisch mit den Menschenrechtserklärungen entstanden sind; die Ergebnisse der internationalen Diskurse über Menschenrechte dürften aber nicht gegen die Voraussetzungen der ernsthaften Argumentation verstoßen. Daher seien die Ergebnisse der Menschenrechtsdiskurse nicht beliebig den historischen Fakten überlassen, sondern müssten notwendig innerhalb bestimmter Grenzen liegen. Menschenrechtsdiskurse vermitteln laut Cortina insofern zwischen geschichtlichen Prozessen und den transzendentalen Voraussetzungen von Diskursen. Der Beitrag von Matthias Hoesch nimmt noch einmal diskursethische Modelle in den Blick, fokussiert dabei aber auf zwei Bedingungen, die Menschenrechtsbegründungen erfüllen sollten: Jede Begründung der Menschenrechte müsse einerseits die Universalität der Menschenrechte explizieren und andererseits erläutern können, warum Menschenrechten ein Vorrang vor anderen nor
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mativen Ansprüchen und Gütern zukommen sollte. Jürgen Habermas’ Modell der Rückführung von Menschenrechten auf die Voraussetzungen von legitimitätserzeugenden Diskursen in demokratischen Rechtsstaaten scheitere an der Universalitätsbedingung. Rainer Forsts These des Rechts auf Rechtfertigung dagegen führe auf einen zu weiten Menschenrechtsbegriff, der nicht mehr sinnvoll mit einem Prioritätsanspruch verbunden werden könne. In beiden Hinsichten biete Adela Cortinas Vorschlag eine Lösung, doch sei diese wiederum zu stark an realen Menschenrechtsdiskursen orientiert – auch ohne faktischen Konsens und ohne formelle Erklärung könne es Menschenrechte als moralische Rechte geben. Eine plausible diskursethische Begründung sehe die Funktion der Menschenrechte darin, allen Menschen eine mögliche künftige Teilnahme an normativen Diskursen zu sichern.
Der vorliegende Band wurde nur durch den Einsatz und das Zusammenwirken vieler möglich. Die Beiträge des Sammelbandes gehen überwiegend auf die interdisziplinäre Tagung „Menschenrechte im Spannungsfeld von positivem Recht, Vernunftecht und Naturrecht“ zurück, die im November 2014 am Exzellenzcluster „Religion und Politik“ in Münster stattgefunden hat. Wir danken dem Exzellenzcluster für die Finanzierung der Tagung sowie für die Gewährung des Druckkostenzuschusses. Bei Stephanie Warnke-De Nobili möchten wir uns für die verlegerische Betreuung bedanken. Kristiina Hartmann und Markus Sturm von der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt sind wir für Arbeiten an den Manuskripten zu großem Dank verpflichtet. Der größte Dank gilt allerdings den Beiträgern, die sich darauf eingelassen haben, durch eine Vielzahl an wechselseitigen kritischen wie konstruktiven Anregungen einen Band mit zahlreichen internen Bezugnahmen, Weiterführungen und Abgrenzungen hervorzubringen.
Literatur Anzenbacher, Arno, „Menschenrechtsbegründung zwischen klassischem und neuzeitlichem Naturrecht“, in: Margit Wasmaier-Sailer/Matthias Hoesch (Hgg.), Die Begründung der Menschenrechte. Kontroversen im Spannungsfeld von positivem Recht, Naturrecht und Vernunftrecht, Tübingen 2017, 121–133. Bormann, Franz-Josef, „Naturrechtliche Begründung von Menschenrechten? Ein Blick in die aristotelische Tradition“, in: Margit Wasmaier-Sailer/Matthias Hoesch (Hgg.), Die Begründung der Menschenrechte. Kontroversen im Spannungsfeld von positivem Recht, Naturrecht und Vernunftrecht, Tübingen 2017, 135–159 (= Naturrechtliche Begründung). Cortina, Adela, „Eine diskursethische Begründung der Menschenrechte“, in: Margit Wasmaier-Sailer/Matthias Hoesch (Hgg.), Die Begründung der Menschenrechte. Kontroversen im Spannungsfeld von positivem Recht, Naturrecht und Vernunftrecht, Tübingen 2017, 255–276 (= Eine diskursethische Begründung).
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Matthias Hoesch, Margit Wasmaier-Sailer
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Die Begründung der Menschenrechte: eine Skizze der gegenwärtigen Debatte
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Ein wertfreier Blick auf das positive Recht?
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Zur Kritik rechtspositivistischer Menschenrechtskonzeption Florian Rödl Der Rechtspositivismus und sein Zerrbild Im folgenden Beitrag sollen die Probleme einer rechtspositivistischen Konzeption der Menschenrechte entfaltet werden. Was ist mit „rechtspositivistischer Konzeption“ gemeint? Verbreitet ist heute ein Zerrbild des Rechtspositivismus.1 Vor dem Hintergrund dieses Zerrbildes bezeichnet sich heute fast niemand mehr als Rechtspositivist. Nur wenige nehmen die Mühe auf sich, den Rechtspositivismus gegen dieses Zerrbild zu verteidigen.2 Wenn im Folgenden eine rechtspositivistische Konzeption der Menschenrechte kritisiert wird, dann geht es nicht um jenes Zerrbild. Es geht um den eigentlichen Rechtspositivismus, dem gerade auch die meisten derjenigen anhängen, die sich strikt gegen den Rechtspositivismus in Gestalt des verbreiteten Zerrbildes verwahren. Damit die Lage klarer wird, sei kurz das Zerrbild skizziert. Im Zerrbild werden dem Rechtspositivisten insbesondere zwei Positionen zugeschrieben.3 Ausgangspunkt ist zunächst die Festlegung, dass der Begriff des Rechts nichts anderes als das geltende Recht bezeichne. Auf dieser Grundlage soll der Rechtspositivist erstens behaupten, dass sich geltendes Recht nicht kritisieren ließe. Der Rechtspositivist sei also einer, der davon ausgehe, dass eine geltende Rechtsnorm immer auch eine gerechte Rechtsnorm sei. Zweitens soll der Rechtspositivist behaupten, dass sich die Lösung eines rechtlichen Streitfalls vollständig aus dem geltenden Recht ableiten lasse. Kein relevanter Rechtspositivist hat wohl jemals eine solche Position vertreten.4 Vielmehr sind viele Rechtspositivisten der Auffassung, dass es gerade die 1 Maßgeblich für die Identifikation als „Zerrbild“: Horst Dreier, „Zerrbild Rechtspositivismus. Kritische Bemerkungen zu zwei verbreiteten Legenden“, in: Clemens Jabloner/Gabriele Kucsko-Stadlmayer/Gerhard Muzak/Bettina Perthold-Stoitzner/Karl Stöger (Hgg.), Vom praktischen Wert der Methode. Festschrift für Heinz Mayer, Wien 2011, 61–91 (= Zerrbild). 2 Neben Horst Dreier vor allem Norbert Hoerster, Verteidigung des Rechtspositivismus, Frankfurt am Main 1989. 3 Vgl. Dreier, Zerrbild, 63 f. 4 Siehe nur Leslie Green, „Legal Positivism“, in: Stanford Encyclopedia of Philosophy,
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Begrenzung des Rechtsbegriffs auf das geltende Recht erlaube, die Frage nach dem geltenden Recht und die Frage nach dem richtigen Recht klar zu unterscheiden. Weiterhin sind viele Rechtspositivisten der Auffassung, dass das geschriebene Recht gerade nicht ausreicht, um die Lösung eines Streitfalls zu bestimmen. Sie haben darum in der Rechtsanwendung einen richterlichen Spielraum angenommen, den der Richter nach eigenem Ermessen zu füllen hat.5 Insoweit der Zerrbild-Rechtspositivismus annimmt, geltendes Recht könne man nicht kritisieren, hätte er mit der Idee der Menschenrechte gravierende Probleme. Denn er lehnt grundsätzlich die Vorstellung ab, geltendes Recht unterstünde einem wie auch immer gearteten Maßstab. Der Gesetzgeber untersteht keinem Maßstab gerechten Rechts, der unabhängig von seiner Rechtssetzung im Spiel wäre, und den er bei der Rechtssetzung verfehlen könnte. Als ein solcher Maßstab operieren aber die Menschenrechte. Menschenrechte sind Rechtspositionen, die jedem ein menschenwürdiges Dasein rechtlich sichern sollen. Sie sind in unserer Welt von heute nicht gesichert (und waren es niemals zuvor). Sie müssen eingefordert, oftmals hart erkämpft werden. In diesen gesellschaftlichen Kämpfen fungieren Menschenrechte als Maßstab, an dem geltendes Recht gemessen wird. Das geltende Recht wird diesem Maßstab unterstellt. Ein Gesetzgeber kann den Maßstab der Menschenrechte verfehlen. Wenn er ihn verfehlt, dann verdient er scharfe Kritik. Könnte sich ein Zerrbild-Rechtspositivist den Kampf um Menschenrechte überhaupt verständlich machen? Das wäre nur möglich, insofern sich die Menschenrechte als geltendes und vorrangiges Recht aufweisen lassen. So liegt es etwa im Kontext der deutschen Rechtsordnung. Dort ist eine Reihe elementarer Menschenrechte im Grundrechtskatalog verankert. Sie stellen nicht nur geltendes Recht dar, sondern haben auch Vorrang vor dem einfachen Gesetz. Der Maßstab „gerechten Rechts“, dem das gesetzte Recht untersteht, ist also zum Glück des Zerrbild-Rechtspositivisten selbst Teil gesetzten Rechts, wobei es durch seinen höheren Rang zum Maßstab des untergeordneten Rechts avanciert. Schwieriger wird es, wenn die Rechtssetzung eines staatlichen Gesetzgebers keinen vergleichbaren verfassungsrechtlichen Bindungen unterliegt. Dann müsste der Zerrbild-Rechtspositivist in völkerrechtlichen Quellen suchen, etwa der Europäischen Menschenrechtskonvention oder den UN-Menschenrechtspakten. verfügbar unter: http://plato.stanford.edu/entries/legal-positivism/(02.12.2016); zur detaillierten philologischen Widerlegung anhand der Schriften von Gerhard Anschütz, Richard Thoma, Hans Kelsen, Herbert L.A. Hart und Felix Somló siehe Dreier, Zerrbild, 65 ff. und 81 ff. 5 Letzteres Postulat bildete gerade den Ausgangspunkt der Kritik Ronald Dworkins am Rechtspositivismus von Herbert L.A. Hart; dazu Ronald Dworkin, Bürgerrechte ernstgenommen, Frankfurt am Main 1990 (= Bürgerrechte), insbesondere Kap. 2: Das Regelmodell I.
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Dabei stellen sich ihm dann immer wieder reizvolle Fragen zur Verbindlichkeit und zum Vorrang der jeweiligen Normen. Wenn aber Verbindlichkeit und Vorrang einmal feststehen, wird die Verletzung von Menschenrechten durch geltendes Recht aus der Perspektive des Zerrbild-Rechtspositivisten zum schlichten Verstoß einer Rechtsnorm gegen höherrangiges Recht. Doch damit entsteht ein merkwürdiges Bild. Es ereignet sich auf dieser Basis bei einem Verstoß gegen geltende Menschenrechtsgarantien nichts anderes als beim Verstoß einer Steuerverordnung gegen das Einkommenssteuergesetz. Natürlich müssen Verstöße gegen höherrangiges Recht korrigiert werden. Alles andere wäre ein Verstoß gegen geltendes Recht, und das lässt gerade auch ein Zerrbild-Rechtspositivist nicht durchgehen. Aber wir hätten vielleicht gerne eine Erläuterung, warum glücklicherweise immer wieder viele Menschen bereit sind, für den Kampf auch um die Effektuierung bereits geltender Menschenrechtsgarantien ihre Freiheit oder sogar ihr Leben aufs Spiel zu setzen, nicht aber für die Einhaltung der Vorgaben des Einkommenssteuergesetzes. Auch vor den Menschenrechten macht der Zerrbild-Rechtspositivist demnach keine gute Figur. Er kann den gesellschaftlichen Kampf um Menschenrechte allenfalls dann verständlich machen, wenn die Menschenrechtsgarantieren schon ihrerseits geltendes Recht sind, aber er kann ihn selbst dann nur als einen merkwürdig selektiven Kampf um den Vorrang höherrangigen Rechts präsentieren. Der Zerrbild-Rechtspositivist ist darum in einer Diskussion um die Konzeption der Menschenrechte eigentlich kein satisfaktionsfähiges Gegenüber. Im Folgenden soll es darum nicht weiter um ihn gehen, sondern um einen ernstzunehmenden Rechtspositivismus. Wie oben schon festgehalten, sind echte Rechtspositivisten sehr wohl der Auffassung, dass das geltende Recht als ungerecht, etwa als menschenrechtswidrig, kritisiert werden kann. Damit ist aber wieder die Eingangsfrage aufzugreifen, welche Auffassung den Rechtspositivisten auszeichnet. Eigentlich charakterisiert den Rechtspositivismus die Ablehnung von „Naturrecht“ oder „Vernunftrecht“6: Die Idee eines Naturrechts sei unverständlich. Zwar unterstehe geltendes Recht einem kritischen Maßstab, aber zugleich stehe fest, dass diesen Maßstab nicht etwa ein Naturrecht liefere. Der Rechtspositivist ist demnach essentiell Naturrechtskritiker. Wenn es insofern im Folgenden um die Kritik der rechtspositivistischen Konzeption von Menschenrechten geht, dann zielt diese auf jede nicht-naturrechtliche Konzeption. Und die rechtspositivistische Konzeption ist eben durch die Überzeugung 6
In diesem Aufsatz kritisiere ich den Rechtspositivismus aus einer Perspektive, die neutral ist gegenüber der Entscheidung zwischen aristotelischem Naturrecht und kantischem Vernunftrecht. In meiner Arbeit Gerechtigkeit unter freien Gleichen, Baden-Baden 2014 zeige ich, dass das Vernunftrecht das geltende Privatrecht trägt und kritisiere es am Ende aus naturrechtlicher Perspektive. Wenn aber im Folgenden von „Naturrecht“ die Rede ist, dann nicht im spezifisch aristotelischen, sondern nur im übergreifenden Sinn eines vom geltenden Recht unabhängigen Maßstabs.
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charakterisiert, Menschenrechte seien auch ohne die Idee ihrer naturrechtlichen Grundlegung zu haben.
Das positivistische Missverständnis: Naturrecht als geltendes Recht Bevor die anvisierte Kritik des Rechtspositivismus von naturrechtlicher Warte aus entfaltet werden kann, muss ein verbreitetes Missverständnis ausgeräumt werden. Es geht um das gängige Missverständnis dessen, was eigentlich die naturrechtliche Position charakterisiert. Dem Missverständnis zufolge behaupten die Anhänger einer Idee von Naturrecht, beim Naturrecht handle es sich um geltendes Recht. Naturrecht sei, das vertritt angeblich der Anhänger des Naturrechts, geltendes Recht von höchstem Rang, also von höherem Rang als jedes andere geschriebene Recht; sei es Gesetz, Verfassung oder Völkerrechtsnorm. Es erscheint treffend, diese Vorstellung als positivistisches Missverständnis des Naturrechts zu bezeichnen.7 Die Behauptung eines Naturrechts wird missverstanden als Behauptung einer Geltung von Naturrechtsnormen, die sich von der Geltung des geschriebenen Rechts nicht unterscheide.8 Es sei von Gerichten anzuwenden und es genieße zudem allen anderen Rechtsnormen gegenüber im Konfliktfall Vorrang. Ein solches Naturrecht würde strukturell ähnlich wie der Grundrechtskatalog des Grundgesetzes funktionieren. Im Fall der Grundrechte ist der Gesetzgeber an die Grundrechte gebunden, seine Gesetze dürfen die Grundrechte nicht verletzen. Die Grundrechtskonformität der einfachen Gesetze wird von den Gerichten, allen voran vom Bundesverfassungsgericht kontrolliert. Damit ist die Vereinbarkeit des geltenden Rechts mit den Grundrechten zugleich dessen materielle Geltungsbedingung. Auf der Grundlage des positivistischen Missverständnisses der Naturrechtsidee verhält es sich strukturgleich mit dem Naturrecht. Der Gesetzgeber wäre an das Naturrecht gebunden. Er dürfte mit seinen Gesetzen das Naturrecht nicht verletzen. Die Naturrechtskon7 Durch Gustav Radbruch hat dieses Missverständnis eine besondere Wirkmächtigkeit erhalten. Der Rechtspositivist Radbruch rief in Reaktion auf die weitgehend willfährige Mitwirkung der Justiz an den Verbrechen des NS-Staates eine naturrechtliche Geltungsbedingung geltenden Rechts auf (Gustav Radbruch, „Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht“, Süddeutsche Juristenzeitung 1946, 105–108). Politisch zielte Radbruch damit auf zweierlei: zum einen auf die moralische Desavouierung des NS-Rechts, zum anderen auf die moralische Entlastung der Richterschaft: Der Richterschaft war die naturrechtliche Geltungsbedingung, als es darauf ankam, leider noch unbekannt gewesen. 8 Das ist wichtig. Natürlich wird allenthalben von „Verbindlichkeit“ des Naturrechts gesprochen (vgl. nur etwa Karl-Heinz Ilting, Eintrag „Naturrecht“, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hgg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Stuttgart 1997, 245–313). Aber damit ist in der Regel die moralische Verbindlichkeit gemeint, hinter der gerade kein staatlicher Zwang steht.
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formität müsste entsprechend kontrolliert werden, etwa durch einen von Rechtsphilosophen besetzten Naturrechtsgerichtshof.9 Diese (positivistisch missverstandene) Vorstellung von Naturrecht als geltendem Recht weist der Rechtspositivist zurück. Die Zurückweisung erfolgt augenscheinlich mit der These, die gemeinhin als eine zentrale Position des Rechtspositivismus gilt, nämlich der These der Trennung von Recht und Moral, kurz der „Trennungsthese“.10 Die Trennungsthese besagt, dass Recht und Moral unterschieden werden müssen. „Recht“ bezeichnet dabei natürlich das geltende Recht. Weniger klar ist, wofür der Begriff der Moral steht. Als Urheber der Trennungsthese gilt gemeinhin John Austin, bei dem sie lautete, man habe zu unterscheiden zwischen der Existenz als geltendes Recht, also dem „Recht, wie es ist“, und seiner Richtigkeit oder Unrichtigkeit, also dem „Recht, wie es sein soll“.11 Wenn der Ausdruck „Moral“ in der Trennungsthese also eigentlich „Recht, wie es sein soll“ meinen würde, dann stünde die „Moral“ für eine Vorstellung eines gerade nicht geltenden, aber richtigen Rechts, mithin für den kritischen Maßstab des Rechts. Die direkte Entgegnung auf das (positivistisch missverstandene) Naturrecht müsste auf Grundlage der Trennungsthese lauten, dass hier ein kritischer Maßstab („Moral“) als geltendes Recht („Recht“) ausgegeben würde, in diesem Sinne Moral und Recht nicht unterschieden würden. Freilich artikuliert die Trennungsthese damit zunächst einmal nur einen Widerspruch zum (positivistisch missverstandenen) Naturrecht. Sie ist ihrerseits noch nicht begründet. Im positivistischen Geist müsste die Begründung lauten, dass Rechtsnormen dann gelten, wenn sie in den geltenden Verfahren durch einen zuständigen Gesetzgeber verabschiedet oder durch ein zuständiges Gericht artikuliert wurden.12 Das ist beim Naturrecht nicht der Fall, also gilt es nicht. Bis hierher liegt der Rechtspositivismus einigermaßen richtig.13 Aber er trifft eben nur ein positivistisch missverstandenes Naturrecht. Tatsächlich aber ver
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Vgl. Helmut Coing, Die obersten Grundsätze des Rechts, Heidelberg 1947, 59 f. Prägend Herbert L.A. Hart, „Positivism and the Separation of Law and Morals“, Harvard Law Review 71 (1958), 593–629. 11 John Austin, T he Province of Jurisprudence Determined (1832), Cambridge 1985, 184 f. 12 Mit diesem Verständnis geltenden Rechts gerät der Rechtspositivismus allerdings in die an sich bekannte Sackgasse, die Geltung der Regeln zur Erzeugung geltenden Rechts ausweisen zu müssen, ohne am Ende in eine soziologische Perspektive zu wechseln (in einem solchen Perspektivwechsel hatten Herbert L.A. Hart und Hans Kelsen den Ausweg sehen wollen; dazu Fabian Wittreck, Geltung und Anerkennung von Recht, Baden-Baden 2014). Aber offenbar kann es in einer Sackgasse auch gemütlich sein. 13 Der Rechtspositivismus könnte allerdings schnell entwaffnet wirken, wenn ein Gericht eine Entscheidung auf Naturrecht stützt, etwa einen strafrechtlichen Freispruch auf „übergesetzlichen Notstand“ (RG, in: RGZ 61, 242). Der Widerspruch des Rechtspositivisten zum Naturrecht scheint dann erledigt, weil das Naturrecht dank der Rechtsprechung offenbar doch geltendes Recht ist. Einige Rechtspositivisten versuchen dem mit der Idee eines „inklusiven Rechtspositivismus“ beizukommen (etwa Jules Coleman, The Practice of Principle, Oxford 2001). 10
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treten die Anhänger eines Naturrechts die These, dass das Naturrecht einen kritischen Maßstab geltenden Rechts liefert. Als kritischer Maßstab kann es selbst niemals geltendes Recht sein. Dies gilt selbst dann, wenn ein Verfassungsgeber neben den Grundrechten unter entsprechender Überschrift zusätzlich noch einen Katalog von Naturrechtsnormen erließe, oder wenn ein Gericht im Rahmen einer Entscheidung erklärte, dass über der Verfassung noch naturrechtliche Normen stünden (was durchaus schon vorgekommen ist). Selbst dann ereignet sich keine Transformation des Naturrechts vom Maßstab geltenden Rechts in geltendes Recht, kein Umschlag des essentiell normativen Charakters des Naturrechts ins Faktische. Denn selbst wenn Gesetzgeber oder Gericht tatsächlich nur die authentische Absicht haben, nichts als die Normen des Naturrechts zu artikulieren, könnten sie dabei falsch liegen. Sie unterstünden weiterhin dem Maßstab des Naturrechts. Durch die Behauptung, man hätte das Naturrecht erkannt, lässt sich die Kritik anhand dieses Maßstabs nicht ausschalten. Es liegt genauso wie bei der Erkenntnis der empirischen Welt: Auch wer behauptet, er wüsste die Öffnungszeiten des Stadtmuseums, kann immer noch falsch liegen. Eine Idee von Naturrecht, die nicht positivistisch missverstanden ist, wird also nie als geltendes Recht, sondern immer nur als Maßstab geltenden Rechts ins Spiel gebracht. Ein Umschlag vom Maßstab in geltendes Recht ist ausgeschlossen. Das besagt nichts anderes, als dass für die Idee des Naturrechts die Unterscheidung zwischen geltendem Recht und seinem Maßstab konstitutiv ist. Dies vor Augen wird fraglich, was der Rechtspositivist gegen dieses Verständnis von Naturrecht vorzubringen hat. Denn die These einer Trennung von Recht und Moral bringt, jedenfalls nach der bisherigen Erläuterung ihres Gehalts, nichts anderes als die Unterscheidung zwischen geltendem Recht und seinem kritischen Maßstab zum Ausdruck. Die ist, wie eben gesehen, gerade für die naturrechtliche Perspektive konstitutiv. Mit anderen Worten: Die angeblich für den Rechtspositivismus charakteristische Kernthese einer Trennung von Recht und Moral artikuliert tatsächlich die naturrechtliche Position.
Das skeptische Vorurteil: Unmöglichkeit eines objektiven Maßstabs geltenden Rechts Doch der Streit zwischen Rechtspositivismus und Naturrecht ist kein bedauerliches Missverständnis, das mit Vorstehendem glücklicherweise aufgeklärt wäre. Zwar ist es richtig, dass Rechtspositivismus und Naturrecht Seite an Seite stehen gegen das Missverständnis des Naturrechts als geltendes Recht. Aber damit ist erst einmal nur klar, worin ihre Differenz gerade nicht besteht, nämlich nicht darin, die Idee eines kritischen Maßstabs geltenden Rechts einerseits zu bejahen und andererseits zu bestreiten. Die eigentliche Differenz besteht darin, wie dieser Maßstab zu verstehen ist.
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Das Naturrechtsdenken ist dadurch charakterisiert, dass das Naturrecht als Teil einer Welt des Geistes konzipiert ist. Es ist die Welt des Geistes, zu dem neben dem Guten auch das Wahre und Schöne zählen. Die Welt des Geistes ist unterschieden von der empirischen Welt, die wir uns in erster Linie durch unsere fünf Sinne erschließen, während wir die Welt des Geistes weder sehen, hören, riechen, fühlen oder schmecken können. Gemeinsam mit der empirischen Welt hat die Welt des Geistes aber den objektiven Charakter. Das bedeutet, dass sie als objektive Welt über die Richtigkeit subjektiver Auffassungen von ihr entscheidet. Im Fall der empirischen Welt kann man versuchen, die Wahrheit über die Lage der Dinge herauszubekommen. Dabei kann man scheitern, und das hängt am Ende nicht von Auffassungen des Einzelnen oder mehrerer über die empirische Welt ab, sondern von der Lage der Dinge in der Welt. Im gleichen Sinn kann man versuchen, die Wahrheit über die Welt des Geistes, darin des Guten, und darin des Naturrechts, herauszubekommen. Dabei kann man scheitern, und auch das hängt am Ende nicht von Auffassungen einzelner oder mehrerer über das Naturrecht ab, sondern vom Gehalt des Naturrechts. Charakteristisch für die Idee des Naturrechts ist also nicht dessen Behauptung als geltendes Recht, sondern dessen Behauptung als objektiver Maßstab. Wenn der Rechtspositivist den objektiven Charakter des Maßstabs geltenden Rechts bestreitet, dann muss man seine These einer Trennung von Recht und Moral anders lesen. Wenn nämlich die vom geltenden Recht als dessen Maßstab zu trennende „Moral“ keinen objektiven Charakter haben soll, dann muss sie wohl einen subjektiven Charakter haben. Subjektiver Charakter bedeutet, dass nicht ein einziger Maßstab, sondern verschiedene Maßstäbe im Spiel sind. Welcher Maßstab greift, hängt davon ab, wer ihn anlegt. Das kann man so aus drücken, der Maßstab würde „konstituiert“.14 In Austins Version der Trennungsthese, dernach zu unterscheiden sei zwischen der Existenz als geltendes Recht („Recht, wie es ist“) und seiner Richtigkeit („Recht, wie es sein soll“), kommt der subjektive Charakter des Maßstabs noch nicht recht zum Ausdruck. Präziser müsste „Recht, wie es ist“ unterschieden werden vom „Recht, wie der einzelne es bevorzugt“. Nach dieser Lesart der Trennungsthese liegt ihre naturrechtskritische Pointe nicht darin, dass Recht und Moral überhaupt zu trennen wären. Die Pointe der Trennungsthese in dieser Lesart liegt vielmehr darin, der Moral einen objektiven Charakter abzusprechen und ihren Gehalt durch individuelle Präferenz bestimmt zu sehen.15
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Es wird viel darüber gehandelt, ob die Konstitutionsleistung von einem allein oder nur von vielen im bewussten oder unbewussten Zusammenwirken („intersubjektiv“) erbracht werden kann, wobei sich die meisten für letztere Option aussprechen. Aber im Kontrast zur Idee eines objektiven Maßstabs spielen diese Erläuterungen des Subjektiven keine systematische Rolle. 15 Genau das ist die Pointe des moralischen Utilitarismus, der die Befriedigung von Präferenzen mit Glück gleichsetzt. Das gerechte Recht ist für den Utilitaristen das Recht, das
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Doch wenn der Rechtspositivist der Moral als kritischem Maßstab geltenden Rechts nur einen subjektiven Charakter zugestehen will, dann muss er weiter erläutern, wonach sich der Einzelne denn richtet, wenn er eine bestimmte Rechtsnorm gegenüber dem geltenden Recht bevorzugt. Man könnte überlegen, die moralische Präferenzbildung erfolge nach dem Muster schlichter Geschmacks erfahrungen. Genauso wie einer vielleicht Erdbeereis mag, aber kein Waldmeistereis, mag ein anderer deliktischen Schutz des Eigentums, aber nicht der vertraglichen Forderung. Das mag in Bezug auf die Feinheiten zivilrechtlicher Haftung für den Außenstehenden vielleicht noch plausibel erscheinen. Aber es wird sofort unplausibel, wenn es um Menschenrechte geht. Niemand wird der Auffassung sein, dass viele von uns zufällig keine Menschenrechtsverletzungen mögen, im gleichen Sinn wie viele von uns zufällig kein Eis mit Geschmacksrichtung „Himmelblau“ mögen. Der Preis für den Verzicht auf eine naturrechtliche Grundlegung der Menschenrechte liegt also augenscheinlich in ihrer Degradierung zur Geschmacksfrage.16 Doch an dieser Stelle wird der Rechtspositivist natürlich protestieren: Der Unterschied zwischen Auffassungen über gerechtes Recht und Vorlieben für Eissorten läge darin, dass für die Auffassungen über gerechtes Recht natürlich Gründe angegeben werden müssten. Aber erstens ist dann aufzuklären, warum das kein beklagenswerter Irrtum ist. Vielleicht wäre es ganz richtig, wenn wir über richtiges Recht so sprächen wie über Eissorten. Zweitens sind wir mit dem Verweis auf das Erfordernis von Gründen nur an dem aus der allgemeinen Philosophie wohlbekannten Ort angelangt, an dem verständlich werden muss, was in einer Praxis des Begründens einen Grund zu einem tragenden Grund macht.17 Inzwischen sollte sich herumgesprochen haben, dass es nicht hilft, den Grund für tragend zu erklären, der von den meisten oder unter idealen Bedingungen von allen akdas größte Glück der größten Zahl bewirkt, also im Sinne einer aggregierten Präferenz. Zur ausführlichen Entfaltung des utilitaristischen Ursprungs des Rechtspositivismus siehe Martin Stone, „Legal Positivism as an Idea about Morality“, University of Toronto Law Journal 61 (2011), 313–341. Wenn man – warum auch immer – die Gleichheit aller schon voraussetzt, müsste man die geschmacklichen Präferenzen eigentlich abfragen. Die Mehrheit gäbe den Ausschlag dafür, welches das richtige Recht ist. Unter demokratischen Vorzeichen bräche die Trennungsthese dann allerdings zusammen. „Recht, wie es von der Mehrheit gesetzt ist“ wäre zu unterscheiden vom „Recht, das die Mehrheit bevorzugt“. 16 Die häufig beschrittene Alternative zur Erläuterung als Geschmacksfrage liegt im Versuch, die individuelle Präferenz zu objektivieren. Es soll dann nicht mehr um zufälligen Geschmack gehen, sondern um menschliche „Interessen“. Als solches galt in der utilitaristischen Tradition die Meidung von Leid. Aber das ist wieder eine subjektive Empfindung, so dass die Objektivierung damit schon gar nicht gelingt. Man kann sich dann noch andere angeblich fundamentale menschliche Interessen ausdenken, etwa ein Interesse an gleicher Achtung. Aber diese Behauptung hängt normativ in der Luft, wenn das vorgebliche allgemeine Interesse nicht als vernünftig ausgewiesen ist. 17 Dazu für das Feld empirischer Erkenntnis Andrea Kern, Quellen des Wissens, Frankfurt am Main 2006.
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zeptiert würde.18 Denn das erläutert nicht, warum jemand einen Grund als tragend akzeptiert, solange er nicht weiß, wie seine Mitmenschen die Tragfähigkeit beurteilen. Ohne eine solche Erläuterung fällt die Akzeptanz eines Grundes als tragend aber auf den Status einer geschmacklichen Vorliebe zurück. Damit lässt sich Zwischenbilanz ziehen: Der Zerrbild-Rechtspositivist kann überhaupt nur eine juridische Auseinandersetzung um die Einhaltung bereits geltender Menschenrechte begreifen, sie aber in ihrer Bedeutung nicht unterscheiden von der Prüfung einer beliebigen Norm auf ihre Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht. Der Rechtspositivist als Naturrechtskritiker kann gesellschaftliche Auseinandersetzungen um Menschenrechte zwar immerhin begreifen, aber er kann sie wiederum nicht unterscheiden von einem Austausch über geschmackliche Vorlieben.
Die methodologische Notwendigkeit des Naturrechts Wie bereits festgehalten, ist der ernstzunehmende Rechtspositivist entgegen dem verbreiteten Zerrbild auch nicht der Ansicht, die Lösung einer rechtlichen Streitigkeit, auch einer Streitigkeit um eine mögliche Menschenrechtsverletzung, ließe sich immer unmittelbar und ohne weiteres dem geltenden Recht entnehmen. Aber die Orientierung der richterlichen Entscheidung kann sich auf rechtspositivistischer Grundlage nicht aus der naturrechtlichen Grundlegung des Rechts und der Menschenrechte speisen. Im Folgenden soll nicht der Frage nachgegangen werden, welche Quellen das angeblich sein sollen und ob sich derlei Behauptungen mit der Idee der Gesetzesbindung versöhnen lassen.19 Es soll vielmehr am Beispiel der Menschenrechte vorgeführt werden, dass die richterliche Entscheidung notwendig orientiert ist an selbst nicht geltender und in diesem Sinne naturrechtlicher Grundlegung des geltenden Rechts. 18
So lautete – in immer neuen Verfeinerungen – die Auskunft bei Jürgen Habermas; siehe etwa „Richtigkeit vs. Wahrheit. Zum Sinn der Sollgeltung moralischer Urteile und Normen“, in: ders., Wahrheit und Rechtfertigung, Frankfurt am Main 1999, 299–346. 19 Verbreitet ist der Befund, dass sich das Bild der durch geltendes Recht nicht abschließend bestimmten richterlichen Entscheidung mit der für den Rechtsstaat (allemal für den demokratischen) eigentlich zentralen Idee der Gesetzesbindung tatsächlich nicht versöhnen lasse. Die Lösung wird dann meist in einer Ermäßigung der Idee der Gesetzesbindung gesucht (exemplarisch Matthias Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz, Tübingen 1999, 322: Rechtsanwendung bedeute „Rechtssetzung in Bindung an bestehendes Recht“). Aber es bleibt unklar, wie weit die Ermäßigung reichen soll. Die in diesem Zusammenhang behauptete Begrenzung des richterlichen Spielraums durch das Gesetz, soweit es reicht, ist nicht kontrollierbar. Denn man weiß nie, wann eine angebliche Unbestimmtheit, die den Spielraum eröffnen würde, nicht mehr dem Interpreten, sondern dem Gesetz angelastet werden kann. Noch befremdlicher erscheint der bisweilen unterbreitete Vorschlag, den Richter der Gesetzesbindung zu unterstellen trotz und eingedenk ihrer Unmöglichkeit – eigentlich eine Empfehlung zu (natürlich harmlosem) Orwell’schem Zwiedenken.
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Wenn ein Gericht eine gesetzliche Regelung auf ihre Vereinbarkeit mit einer geschriebenen Menschenrechtsgarantie überprüft, muss es den Gehalt der Garantie bestimmen. Es muss etwa bestimmen, wie weit der Schutzbereich des Grundrechts zu spannen ist. Dafür muss es die geschriebene Menschenrechtsgarantie auslegen. Niemand, der mit der Materie juridischen Menschenrechtsschutzes im Ansatz vertraut ist, wird bestreiten, dass Antworten auf etwas schwierigere Fragen zur Reichweite des Schutzbereichs eines Menschenrechts dem geschriebenen Text, also seinem Wortlaut, nicht unmittelbar zu entnehmen sind. Auch der inhaltliche Zusammenhang mit anderen Normen eines Menschenrechtskatalogs führt allenfalls in seltenen Fällen zu einem klareren Ergebnis. Daraufhin kann man noch den Willen der Urheber des Menschenrechtskatalogs befragen, wie er sich aus den Dokumenten zur Entstehungsgeschichte ergeben mag. Aber auch da wird man vielfach keine oder keine klare Auskunft gewinnen.20 Das sei am Beispiel der Meinungsfreiheit illustriert: Ihr Verständnis fällt leicht, wenn ein Gesetz kritische Äußerungen gegenüber der Regierungspolitik mit Strafe belegt. Das maßgebliche Gesetz verletzt wohl das Recht auf Meinungsfreiheit. Fraglich wird das Verständnis aber spätestens, wenn eine Werbebotschaft als „unlauter“ untersagt wird, die durch reißerische Fotos das Leid anderer Menschen als Blickfang nutzt.21 Bei letzterem Fall stellt sich die Frage, ob Werbung unter den Schutz der Meinungsfreiheit fällt, präzise ob sie eine Meinung darstellt, welcher der Schutz des Grundrechtes gilt. Das lässt sich den maßgeblichen Texten regelmäßig weder unmittelbar noch im Zusammenhang entnehmen und auch anhand von Materialien zur Entstehungsgeschichte oftmals nicht klären. Wenn aber Text, Zusammenhang und Entstehungsgeschichte zu keinem klaren Ergebnis führen, kann das Gericht dem Kläger nicht einfach „ich weiß es nicht“ sagen. Es muss den Gehalt der Norm dennoch bestimmen. Die juristische Methodenlehre nennt das die „teleologische Auslegung“22. Man fragt nach dem 20 In den Worten der juristischen Methodenlehre sind hier die Aspekte der grammatischen, systematischen und historischen Auslegung angesprochen; dazu Karl Larenz/ Claus-Wilhelm Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, Berlin/Heidelberg, 3. Aufl. 2008 (= Methodenlehre), 141–153. 21 Angesprochen ist hier die Reihe der Entscheidungen zur „Schockwerbung“ der Firma Benetton: BGH, in: BGHZ 130, 196; BVerfG, in: BVerfGE 102, 347; BGH, in: BGHZ 149, 247; BVerfG, in: BVerfGE 107, 275. Allerdings war zu diesem Zeitpunkt die Einbeziehung von Werbeaussagen bereits anerkannt. Anders aber noch BVerfG, in: BVerfGE 60, 215. 22 Larenz/Canaris, Methodenlehre, 153–159. Rechtspositivisten mahnen bei der teleologischen Auslegung des Rechts oft zur Zurückhaltung. Sie sprechen davon, die teleologische Auslegung sei vielfach eigentlich „Einlegung“ (etwa Bernd Rüthers/Christian Fischer/Axel Bork, Rechtstheorie mit Juristischer Methodenlehre, München, 8. Aufl. 2015, § 22 Rn. 820; explizit gemünzt auf die hier gemeinte „objektiv-teleologische“ Auslegung). Sie werde nur als Auslegung dargestellt, aber eigentlich handle es sich um eigenständige Kreationen, Erfindungen. Doch die Kritik ist letztlich ohne Belang, eben weil die anderen Auslegungsaspekte
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„telos“ der Norm, was oft mit „Zweck“ übersetzt wird. Weil sich mit der Rede vom „Zweck“ aber instrumentalistische Nuancen verbinden, spricht man jedenfalls im Bereich der Menschenrechte lieber ausschließlich vom Sinn des jeweiligen Menschenrechts. Im Fall der reißerischen Werbung muss das Gericht also klären, ob Produktwerbung eine Meinung im Sinne des Grundrechts darstellt oder nicht. Woran aber soll sich ein Gericht orientieren in dem Moment, in dem es die Frage nach dem Sinn der Grundrechte zu klären hat, und Wortlaut, Systematik und Entstehungsgeschichte ihm dabei nicht recht weiter helfen? Das Gericht könnte einerseits den Sinn des Grundrechts erfinden. Aber das würde niemand für eine befriedigende Auskunft oder billigenswerte Praxis halten. Vielmehr macht sich das Gericht auf die Suche nach tragenden Gründen, die für den einen oder anderen Sinn sprechen. Dabei orientieren sich die Richter an Positionen, die in der normativen Diskussion um den Sinn der Meinungsfreiheit schon geäußert werden oder jedenfalls geäußert werden könnten. In der normativen Diskussion, also der Diskussion, die nicht auf das geltende Recht bezogen und verpflichtet ist, sondern auf das richtige Recht, das „Recht, wie es sein soll“, wird um diese Positionen mit Gründen gerungen. Genau an diese Diskussion, die nicht nur, aber hoffentlich besonders gehaltvoll in den Disziplinen der politischen Philosophie oder auch der theoretischen Politikwissenschaft geführt wird, schließt das kontroverse Gespräch in der Richterbank mehr oder weniger gezielt, mehr oder weniger vorgebildet an. Damit befindet sich aber die Richterbank schon inmitten eines naturrechtlichen Gesprächs. Ein Rechtspositivist wird hier wiederum einen Einwand erheben. Er wird insistieren: Die Richter dürften nicht wie in einem philosophischen Seminar ihren eigenen Standpunkt artikulieren. Aufgabe der Richter sei es, den Standpunkt der Quelle zu artikulieren, die die fragliche Norm enthält, also etwa den Standpunkt des Grundgesetzes oder der Europäischen Menschenrechtskonvention. Daraus wird der Rechtspositivist folgern wollen, es ginge eben doch nur um den Gehalt des positiven Rechts, eben dieser oder jener positivierten Quelle der Menschenrechte, und das habe doch mit einer naturrechtlichen Begründung nichts zu tun. Und in der Tat ist diese Bemerkung des Rechtspositivisten von großer Relevanz. Es ist tatsächlich anders als im Seminar an der philosophischen Fakultät nicht die Aufgabe des Richters, den eigenen Standpunkt zu finden. Seine Aufgabe ist es, den Standpunkt des geltenden Rechts zu artikulieren, im Fall der Anwendung von geltenden Menschenrechten also den Standpunkt des Grundgesetzes etwa oder der Europäischen Menschenrechtskonvention. Um aber den Standpunkt zum Gehalt des Normtextes herauszubringen, muss der Richter unterstellen, dass die Norm einen sinnvollen Gehalt hat. Wenn er nicht mit dieser meist nicht zum klaren Ergebnis führen und die Entscheidung gleichwohl nicht verweigert werden darf und doch begründet werden muss.
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Unterstellung arbeitet, vermag er überhaupt nichts herauszubringen. Die Auslegung eines jeden Rechtssatzes endete in völliger Desorientierung.23 Man könnte keine völlig abseitige Auslegung damit zurückweisen, dass sie eben abseitig ist. Es müssten immer Hinweise im Text, im Zusammenhang, in der Entscheidungsgeschichte gesucht werden, um sie zurückzuweisen. Nehmen wir an, es würde behauptet, die Meinungsfreiheit in Art. 5 GG müsse nicht für Äußerungen in der Öffentlichkeit gewährleistet werden, es genüge, wenn die eigene Meinung hinter verschlossenen Türen geäußert werden dürfe. Dann dürfte nicht mit der Bedeutung der Meinungsfreiheit in einer demokratischen Ordnung argumentiert werden. Es müsste empirisch gezeigt werden, dass dieses Verständnis dem Wortlaut für sich oder im Zusammenhang mit anderen Grundrechten widerspricht oder in den Beratungen des parlamentarischen Rates präsent gewesen wäre. Kann man das nicht zeigen – und das ist jetzt die Pointe – dann hat man keine Argumente mehr gegen die abseitige Lesart. Um den Standpunkt des Rechts zu artikulieren, nimmt der Richter im Verhältnis zum geltenden Recht die Perspektive der Zweiten Person ein. Sein Gegenüber ist das Recht. Das Recht „spricht“ in Gestalt der einzelnen Rechtsnormen. Mehr sagt es nicht. Der Richter muss entfalten, was in diesem oder jenem Fall damit gemeint ist. Seine Frage ist im Fall eines Streits um die Reichweite der Meinungsfreiheit: „Welche Auffassung vom Gehalt der Meinungsfreiheit wird durch den Normtext in Art. 5 GG repräsentiert?“24 Er muss dabei aber unterstellen, dass das Gesetz im Zweifel etwas Sinnvolles meint. Was aber sinnvoll ist, kann er nur bestimmen, wenn bzw. weil er selbst Teilnehmer der Diskussion um den richtigen Sinn ist und das heißt, wenn und weil er selbst begründete Auffassungen davon hat, welche Grundrechte es geben müsste und welchen Gehalt
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Die Notwendigkeit einer solchen Unterstellung in jedem Verstehen ist das, was Donald Davidson in seinem Konzept der radikalen Interpretation explizit gemacht hat anhand des Verstehens einer unbekannten Sprache (vor allem Donald Davidson, „Radikale Interpretation“ (1973), in: ders., Wahrheit und Interpretation, Frankfurt am Main 1990, 183– 203): Wenn wir nicht annehmen, dass der Sprecher einer fremden Sprache im Wesentlichen wahre Überzeugungen äußert, kommen wir in das Verstehen der Sprache nicht hinein. 24 In diesem präzisen Sinne ist die oft geradezu verlachte Bemerkung Montesquieus, der Richter sei „Mund des Gesetzes“ vollkommen richtig (Charles-Louis de Secondat Montesquieu, Vom Geist der Gesetze (1748), Stuttgart 2011, 225). Weil indessen Normtexte der Grundrechte vergleichsweise offen sind, wird diese für die Rechtsprechung insgesamt charakteristische Perspektive der Zweiten Person bei der Anwendung von Grundrechtsnormen nicht immer ganz deutlich. Transparenter wird sie in den systematisch durchgearbeiteten Normtexten von BGB oder StGB. Man kann dem BGB, das eine Idee gleicher Freiheit artikuliert, keine Auslegung geben, nach der es tatsächlich um gemeinschaftlichen Wohlstand gehen soll, auch wenn man die Idee gleicher Freiheit für überholt hält. Man kann dem StGB, das eine Idee individueller Schuld artikuliert, keine Auslegung geben, nach der es um präventiven Rechtsgüterschutz gehen soll, auch wenn man die Idee der Schuld für unhaltbar ansieht.
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sie haben sollten. Den sinnvollen Gehalt des geltenden Grundrechtstextes kann er sich erst in Abgleich mit seiner eigenen begründeten Auffassung erschließen. Im Kontrast zur normativen Diskussion außerhalb der Richterbank kann allerdings gegen eine Artikulation des fraglichen Grundrechts tatsächlich eingewandt werden, dass sie diejenige sein mag, für die normativ die besten Gründe sprechen, sie aber mit dem Text (nach Wortlaut, Zusammenhang oder Entstehungsgeschichte) nicht in Einklang zu bringen ist. Das ist damit gemeint, wenn es hier hieß, die Richter führten eine naturrechtliche Diskussion, aber aus der Perspektive der Zweiten Person. Die Aufgabe der Richter ist es nicht, wie im philosophischen Seminar ihre eigene naturrechtliche Position zu finden. Sondern sie haben die naturrechtliche Position der autoritativen Quelle zu rekonstruieren.25 Eine Rekonstruktion der juridischen Anwendung menschenrechtlicher Garantien kommt also nicht ohne Rückgriff auf die Idee eines gründenden Naturrechts aus. In dem Moment, in dem der Sinn des auszulegenden Gesetzestextes fraglich wird, muss der Rechtsanwender begründen, welchen Gehalt der Text ausdrückt. Damit wird deutlich: Um das für die Anwendung des geltenden Rechts notwendige Moment teleologischer Auslegung zu verstehen, muss der Rechtsanwender Rekurs nehmen auf eine naturrechtliche Begründung, die das geltende Recht trägt.26
Schluss So ist denn gezeigt, dass auf Basis einer rechtspositivistischen Konzeption von Menschenrechten nicht nur die gesellschaftliche Auseinandersetzung um ihre Geltung als merkwürdige Aufregung über Differenzen in Geschmacksurteilen erscheinen muss. Darüber hinaus wird die im Zuge juridischer Anwendung zwingend erforderliche Sinnbestimmung geltender Menschenrechtsgarantien unverständlich, weil diese auf ihre naturrechtliche Gründung Bezug nehmen muss. 25 Das ist der Aspekt, der die Idee des Naturrechts gegen seine anti-demokratische Funktionalisierung durch höchste Gerichte immunisiert. Es ist darum entbehrlich, die Idee des Naturrechts gewissermaßen strategisch, nämlich aus Sorge um die Autorität des demokratischen Gesetzgebers gegenüber den Gerichten, zu bestreiten (zu dieser sympathischen politisch-demokratischen Funktion des Rechtspositivismus auch Ronald Dworkin, „Book Review: Thirty Years On“, Harvard Law Review 115 (2001–2002), 1655–1687, 1677). 26 Es war die Pointe Dworkins, dass Richter in der Rechtsanwendung keinen Spielraum haben, sondern den Sinngehalt rekonstruieren müssen, der im Normtext zum Ausdruck kommt und den der Rechtsanwender jedenfalls in schwierigen Fällen rekonstruieren muss: Dworkin, Bürgerrechte und ders., Law’s Empire, Cambridge, MA/London 1986. Diese Überlegungen führten Dworkin zum Begriff der Prinzipien. Diese Überlegungen werden bisweilen verstanden als Prinzipienpositivismus, der weiterhin auf die Idee naturrechtlicher Gründung verzichten könnte. Das mag daran gelegen haben, dass Dworkin nicht klar genug gemacht hat, dass auch Prinzipien normativ nicht in der Luft hängen, sondern von Gründen getragen werden müssen.
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Die Probleme würden sich sofort auflösen, wenn die Idee einer naturrechtlichen Gründung des geltenden Rechts und damit auch der Menschenrechte anerkannt würde. Zwar bleibt an dieser Stelle offen, ob sich die mit dem Naturrecht verbundene Idee eines objektiven Maßstabs geltenden Rechts positiv verständlich machen lässt. Gerade die Rechtswissenschaft aber sollte sich dringend aufs Neue daran versuchen – nachdem jetzt etwas klarer ist, was eigentlich auf dem Spiel steht.
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Naturrecht und die Begründung der Menschenrechte Fabian Wittreck I. Begriffsbestimmungen Wer der Frage nachgeht, welche Relevanz eine naturrechtliche Begründung der Menschenrechte für gegenwärtige rechtswissenschaftliche oder rechtsphilosophische Debatten noch haben kann, ist zunächst gehalten, sich wie seinem Leser Klarheit über die verwandten – hochgradig missverständlichen – Begriffe zu verschaffen1. Dies soll im Anschluss in der Reihenfolge Naturrecht (1.) – Rechtspositivismus (2.) – Menschenrechte (3.) geschehen. Erst danach kann sinnvoll gefragt werden, welche Relevanz das so verstandene Naturrecht für den allgemeinen rechtswissenschaftlichen Diskurs (II.) und in Sonderheit für den Menschenrechtsdiskurs (III.) noch entfalten kann. 1. Naturrecht Als „naturrechtlich“ stuft der vorliegende Beitrag alle Positionen ein, die davon ausgehen, dass dem menschlichen oder heute typischerweise von Staaten generierten Recht bestimmte Mindestinhalte unverfügbar vorgegeben sind2; diese können positiv als Regelungsgebote oder negativ als Regelungsverbote formuliert sein (sind insofern aber nur zwei Seiten einer Medaille, wie sich am Gebot, die menschliche Würde zu schützen, und dem damit korrespondierenden Folterverbot illustrieren lässt). Dabei ist die Naturrechtstradition außerordentlich vielgestaltig und bunt3; das betrifft erstens die Ergebnisse, also die konkreten 1 Im ersten Zugriff die Beiträge in Werner Maihofer (Hg.), Naturrecht oder Rechtspositivismus? Darmstadt 1962 (= Naturrecht); Franz Böckle/Ernst-Wolfgang Böckenförde (Hgg.), Naturrecht in der Kritik, Mainz 1973 (= Naturrecht) sowie Horst Dreier, „Naturrecht und Rechtspositivismus – Pauschalurteile, Vorurteile, Fehlurteile“, in: Wilfried Härle/Bernhard Vogel (Hgg.), „Vom Rechte, das mit uns geboren ist“. Aktuelle Probleme des Naturrechts, Freiburg im Breisgau 2007, 127–170 (= Naturrecht; gesamter Band = Rechte). 2 Näher Fabian Wittreck, „Die Radbruchsche Formel als klassischer Text der Rechtsphilosophie – Teil 2“, Ad Legendum 2008, 186–188, 186 f. Abweichende Akzentsetzung bei Arthur F. Utz, „Die Grundpositionen der Naturrechtstheorien“, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 83 (1997), 307–315. 3 Siehe nur Felix Flückiger, Geschichte des Naturrechts, Bd. 1, Zürich 1954; Karl-Heinz Ilting, Naturrecht und Sittlichkeit, Stuttgart 1983 (= Naturrecht), 35 ff.; Reinhold Zippelius,
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Verhaltensbefehle bzw. die jeweiligen Vorgaben für das menschliche oder staatliche Recht.4 Höchst heterogen ist zweitens die mit „Natur“ nur sehr unscharf bezeichnete Zurechnungsposition; hier begegnen nebeneinander die Orientierung an der schieren physischen Natur (Sophistik)5, am göttlichen und im Wege philosophischer Schau erkennbaren „eidos“ (Platon)6, am durch praktische Vernunft zu ermittelnden „telos“ (Aristoteles)7 sowie an einem als göttliche Weltvernunft kraft Teilhabe erkennbaren „logos“ (Stoa)8. Die christliche Tradition kombiniert diese Elemente und lässt die praktische Vernunft den seinerseits vernünftigen Schöpfungsplan eines nunmehr personalen Gottes nachvollziehen9, während die neuzeitliche Tradition allein auf die menschliche Vernunft setzt und sich insofern ungeachtet aller eingestreuten Referenzerweise10 als dezidiert „nach„Art. Naturrecht“, in: Adalbert Erler/Ekkehard Kaufmann (Hgg.), Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 3, Berlin 1984, Sp. 933–940 sowie die Beiträge in Francisco José Contreras (Hg.), The Threads of Natural Law. Unravelling a Philosophical Tradition, New York 2013. – Instruktiv zur praktischen Wirkung des Naturrechts jetzt Richhard H. Helmholz, Natural Law in Court. A History of Legal Theory in Practice, Cambridge/London 2015. 4 Klassische Kritik bei Erik Wolf, Das Problem der Naturrechtslehre, Karlsruhe, 3. Aufl. 1964, 193 ff. 5 Dass die Vertreter der Sophistik dabei sowohl ein „Naturrecht des Stärkeren“ als auch ein „Naturrecht des Schwächeren“ formulieren können, belegt sogleich die Gefahr der Beliebigkeit naturrechtlicher Ansätze. Näher Erik Wolf, Griechisches Rechtsdenken, Bd. 2, Frankfurt am Main 1952, 103 ff., 134 ff.; Hans Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, Göttingen, 4. Aufl. 1962, 12 ff.; Klaus Friedrich Hoffmann, Das Recht im Denken der Sophistik, Stuttgart/Leipzig 1997, 368 ff.; Helga Scholten, Die Sophistik. Eine Bedrohung für die Religion und Politik der Polis? Berlin 2003, 206 ff., 228 ff.; Ernst-Wolfgang Böckenförde, Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie, Tübingen, 2. Aufl. 2006 (= Geschichte), 51 ff. 6 Eingehend Johann Sauter, Die philosophischen Grundlagen des Naturrechts, Wien 1932, 13 ff.; Erik Wolf, Griechisches Rechtsdenken, Bd. 4,2, Frankfurt am Main 1970, 197 ff.; Böckenförde, Geschichte, 79 ff. 7 Siehe Joachim Ritter, ‚Naturrecht‘ bei Aristoteles, Stuttgart/Berlin/Köln 1961, 14 ff.; Fabian Wittreck, Geld als Instrument der Gerechtigkeit. Die Geldrechtslehre des Hl. Thomas von Aquin in ihrem interkulturellen Kontext, Paderborn 2002 (= Instrument), 220 ff.; Böckenförde, Geschichte, 110 ff.; Tony Burns, Aristotle and Natural Law, London 2011, 41 ff. 8 Phillip Mitsis, „T he Stoics and Aquinas on virtue and natural law“, T he Studia Philonica Annual 15 (2003), 35–53; speziell zu Cicero Böckenförde, Geschichte, 160 ff.; Laura E. Corso de Estrada, „Marcus Tullius Cicero and the Role of Nature in the Knowledge of Moral Good“, in: Alejandro N. García/Mario Šilar/José M. Torralba (Hgg.), Natural Law: Historical, Systematic and Juridical Approaches, Newcastle upon Tyne 2008, 9–22 (Band = Natural Law); zuletzt Jochen Sauer, „Dichotomie in der Naturrechtskonzeption von Ciceros Schrift De legibus?“, Ancilla iuris 10 (2015), 125–153. 9 Zusammenfassend Alexander Hollerbach, „Das christliche Naturrecht im Zusammenhang des allgemeinen Naturrechtsdenkens“, in: Böckle/Böckenförde, Naturrecht, 9–38. – Zu Augustinus Böckenförde, Geschichte, 204 ff. sowie jetzt Brett W. Smith, „Augustine’s natural law theory in De libero arbitrio“, The Irish theological quarterly 80 (2015), 111–135; zu Thomas von Aquin Wittreck, Instrument, 68 ff.; Böckenförde, Geschichte, 243 ff.; John Rziha, Perfecting Human Actions. St. Thomas Aquinas on Human Participation in Eternal Law, Washington 2009, 29 ff. 10 Statt aller T homas Hobbes, Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen
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christlich“ (Hasso Hofmann) präsentiert.11 Die geläufige Einteilung in das ältere (wahlweise als metaphysisch, ontologisch oder theonom eingestufte, teils auch abqualifizierte) und das neuere Vernunftnaturrecht12 ist plastisch, dürfte aber verdecken, dass der tragende Anteil menschlicher Vernunftbemühungen am Gesamtgebäude sich nur graduell und nicht kategorial unterscheidet.13 Drittens schließlich obwaltet größte Vielfalt in der rechtlichen Qualifikation oder Einordnung der so aus der „Natur“ gewonnenen Sätze.14 Sie reicht von der Einstufung als Gebote der Moral, die letztlich als Reformimpuls und Reformmaßstab für das menschliche Recht dienen15, über den Ausweis als unmittelbar geltendes Recht16, dessen Konkurrenz- oder auch Korrespondenzverhältnis mit dem menschlichen
und bürgerlichen Staates (1670), Frankfurt am Main 1984, 31. Kapitel: „Vom natürlichen Reich Gottes“. 11 Hasso Hofmann, „Von den Ursprüngen deutschen Rechtsstaatsdenkens in der nachchristlichen Sozialphilosophie – Eine Erinnerung an Hugo Grotius (1583–1645) und Samuel von Pufendorf (1632–1694)“ (1984), in: ders., Recht – Politik – Verfassung, Frankfurt am Main 1986, 74–84, 82 ff., insb. 84. – Vgl. zur neuzeitlichen Naturrechtstradition etwa Werner Schneiders, Naturrecht und Liebesethik, Hildesheim/New York 1971, 97 ff. (zu Thomasius); Wilhelm Baumgartner, Naturrecht und Toleranz, Würzburg 1979, 111 ff. (zu Locke); Moritz Heepe, „Das Recht eines jeden auf alles. Hobbes’ Theorie natürlicher Individualrechte und ihr Zusammenhang mit der Entwicklung der modernen Naturrechtstheorie“, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 92 (2006), 534–551; im Überblick Richard Tuck, Natural Rights Theories. Their Origin and Development, Cambridge 1979 sowie die Beiträge in Lorraine Daston/Michael Stolleis (Hgg.), Natural Law and Laws of Nature in Early Modern Europe, Farnham/Burlington 2008. – Bereichsspezifisch Bernd Franke, Sklaverei und Unfreiheit im Naturrecht des 17. Jahrhunderts, Hildesheim/Zürich/New York 2009 sowie Feras Gisawi, Der Grundsatz der Totalreparation, Tübingen 2015. 12 Sie begegnet etwa bei Ralf Dreier, „Art. Naturrecht“, in: Ergänzbares Lexikon des Rechts, 2/370, Neuwied 1987, 1–6, 2 ff. oder Heiner Alwart, Recht und Handlung, Tübingen 1987, 22 ff. 13 Instruktiv hier namentlich die Beiträge der iberischen Spätscholastik (dazu nur Böckenförde, Geschichte, 346 ff., 380 ff.; Kirstin Bunge/Anselm Spindler/Andreas Wagner (Hgg.), Die Normativität des Rechts bei Francisco de Vitoria, Stuttgart 2011; Nils Jansen, Theologie, Philosophie und Jurisprudenz in der spätscholastischen Lehre von der Restitution, Tübingen 2013, 10 ff. u. passim; Wim Decock/Christiane Birr, Recht und Moral in der Scholastik der frühen Neuzeit 1500–1750, Berlin 2016, 88 ff.) sowie von Hugo Grotius (dazu Paul Ottenwalder, Zur Naturrechtslehre des Hugo Grotius, Tübingen 1950 sowie jetzt Benjamin Straumann, Roman Law in the State of Nature. The Classical Foundations of Hugo Grotius’ Natural Law, Cambridge 2015). 14 Siehe nochmals Dreier, Naturrecht, 129 ff. 15 Dies dürfte cum grano salis für die Mehrzahl der Vertreter des neuzeitlichen Vernunftnaturrechts gelten; näher m.N. Jan Schröder, „‚Naturrecht bricht positives Recht‘ in der Staatstheorie des 18. Jahrhunderts?“, in: Dieter Schwab/Dieter Giesen/Joseph Listl/ Hans-Wolfgang Strätz (Hgg.), Staat, Kirche, Wissenschaft in einer pluralistischen Gesellschaft. Festschrift für Paul Mikat, Berlin 1989, 419–433 sowie Diethelm Klippel, Politische Freiheit und Freiheitsrechte im deutschen Naturrecht des 18. Jahrhunderts, Paderborn 1976, 31 ff., 72 ff.; vgl. auch Ilting, Naturrecht, 286 ff. 16 Dies gilt für T homas von Aquin; näher Wittreck, Instrument, 71 f.
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Recht wiederum ganz unterschiedlich ausgeflaggt werden kann17, bis hin zur Charakterisierung als kritischer Standard geltenden Rechts, der von einer Geltung im üblichen Sinne strikt getrennt wird.18 Schon die kurze Auflistung belegt, dass die bloße Einstufung einer Position als „naturrechtlich“ damit ohne gleich mehrere Präzisierungen praktisch heuristisch wertlos bleibt. 2. Rechtspositivismus Als „rechtspositivistisch“ sollen demgegenüber hier alle Positionen angesprochen werden, die davon ausgehen, dass das Recht bzw. die Geltung des Rechts sich allein menschlicher (in der Neuzeit typischerweise: staatlicher) Setzung verdankt.19 Recht ist danach verfügbar, ohne an Mindestinhalte gebunden zu sein; die einzige Voraussetzung wohlgemerkt formaler Natur ist, dass die jeweils geltenden Meta-Regeln der Rechtserzeugung gewahrt worden sind (in modernen Verfassungsstaaten also regelmäßig die klassische Trias von Zuständigkeit – Verfahren – Form).20 Erneut endet auf dieser obersten Ebene der Konsens. 17 Irrig ist insofern die verbreitete Vorstellung, Naturrecht reklamiere generell einen Geltungsvorrang gegenüber dem menschlichen Recht; sie begegnet etwa bei Winfried Hassemer, „Naturrecht im Verfassungsrecht“, in: Andreas Donatsch/Marc Forster/Christian Schwarzenegger (Hgg.), Strafrecht, Strafprozessrecht und Menschenrechte, Festschrift für Stefan Trechsel, Zürich/Basel/Genf 2002, 135–150 (142: „Es geht jeder vom Menschen verantworteten Rechtssetzung vor.“). Eine regelrechte Brechungswirkung nimmt offensichtlich Cicero (De re publica, hg. und übers. von Karl Büchner, Stuttgart 1979, III, 22, 23) an; differenziert ist hier etwa Thomas zu betrachten, der das naturrechtswidrige menschliche Gesetz zwar als „legis corruptio“ bezeichnet (Thomas von Aquin, Summa theologica, Die deutsche Thomas-Ausgabe [lat./dt.], Graz/Wien/Köln, 1933 ff., I II 95, 2), dem menschlichen Gesetzgeber aber an zahlreichen Stellen Spielraum eröffnet; näher Wittreck, Instrument, 73 f. 18 So der Ansatz von Florian Rödl, Zur Kritik rechtspositivistischer Menschenrechtskonzeption, in diesem Band, 29–42. Er ist in sich konsequent, blendet nach hier vertretener Auffassung aber historische (wie aktuelle) Naturrechtsansätze aus, die darauf beharren, dass die von ihnen als geltend ausgewiesenen Sätze rechtlicher Natur sind und widersprechendes menschliches Recht nach dem Muster des Art. 31 GG brechen. 19 Zusammenfassend zum folgenden Walter Ott, Der Rechtspositivismus. Kritische Würdigung auf der Grundlage eines juristischen Pragmatismus, Berlin 1976 (= Rechtspositivismus), 98 ff.; Norbert Hoerster, Verteidigung des Rechtspositivismus, Frankfurt am Main 1989; Bernd Gräfrath/Herbert R. Ganslandt, „Art. Rechtspositivismus“, in: Jürgen Mittelstraß (Hg.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Bd. 3, Stuttgart 2004, Sp. 514–515; Dreier, Naturrecht, 137 ff.; Walter Ott, Die Vielfalt des Rechtspositivismus, BadenBaden 2016; vgl. auch die Beiträge in Rainer Schmidt (Hg.), Rechtspositivismus: Ursprung und Kritik, Baden-Baden 2014. 20 Statt aller Fabian Wittreck, Geltung und Anerkennung von Recht, Baden-Baden 2014 (= Geltung), 11 sowie Bernd Rüthers/Christian Fischer/Axel Birk, Rechtstheorie mit Juristischer Methodenlehre, München, 8. Aufl. 2015, § 2 Rn. 55 ff. – Die weitere Debatte, ob diese Engführung auf staatliches Recht noch adäquat ist, soll hier nicht aufgenommen werden; vgl. zum Konzept des sog. Rechtspluralismus nur die beiden neueren Monographien von Ralf Seinecke, Das Recht des Rechtspluralismus, Tübingen 2015 sowie von Peter Gailhofer, Rechtspluralismus und Rechtsgeltung, Baden-Baden 2016.
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Eine breite Mehrheit (aber eben keine Einhelligkeit) dürfte sich zumindest unter modernen rechtspositivistischen Positionen für die Maxime der Trennung von Recht und Moral nachweisen lassen.21 Eng damit verknüpft ist die Folgefrage, welche Relevanz das positive Ergebnis der Prüfung hat, ob eine bestimmte Norm Teil des geltenden Rechts ist. Die häufig unterstellte Schlussfolgerung, die Qualifikation als geltend ziehe die Einstufung als unbedingt befolgenswert nach sich22 (diese auf die Formel „Gesetz ist Gesetz“ verkürzte Sicht spielte eine erhebliche Rolle in der Nachkriegsdiskussion um das kollektive Versagen des deutschen Juristenstandes im Dritten Reich23), begegnet zwar bei einzelnen Vertretern, die sich als Rechtspositivisten verstehen oder verstanden haben24, wird von den reflektierteren Vertretern aber gerade nicht vollzogen, weil sie darin zu Recht einen Schritt zurück hinter die Trennung von Recht und Moral sehen: Die Frage, ob eine Norm als geltendes Recht auszuweisen ist, muss in dieser Optik von der moralischen Frage getrennt werden, ob sie befolgenswürdig ist.25 Ähnlich ver21 Wie hier namentlich Ott, Rechtspositivismus, 107 ff.; Dreier, Naturrecht, 146 f.; Matthias Mahlmann, Rechtsphilosophie und Rechtstheorie, Baden-Baden, 4. Aufl. 2017 (= Rechtsphilosophie), § 23 Rn. 8 ff. 22 Klassisch Gustav Radbruch, „Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht“ (1946), in: Ralf Dreier/Stanley Paulson (Hgg.), Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie. Studienausgabe, Heidelberg 1999, 211–219 (= Unrecht; Band = Studienausgabe), 215: „Der Positivismus hat in der Tat mit seiner Überzeugung ‚Gesetz ist Gesetz‘ den deutschen Juristenstand wehrlos gemacht gegen Gesetze willkürlichen und verbrecherischen Inhalts.“ – Vgl. aus der Sekundärliteratur noch (kritisch) Herbert L. A. Hart, „Der Positivismus und die Trennung von Recht und Moral“ (1958), in: ders., Recht und Moral, hg. von Norbert Hoerster, Göttingen, 1. Aufl. 1971, 14–57, 39 ff. sowie Dreier, Naturrecht, 137 ff. 23 Siehe nur Fabian Wittreck, Nationalsozialistische Rechtslehre und Naturrecht – Affinität und Aversion, Tübingen 2008, 1 ff. (m.w.N.). 24 Bekanntlich hat ausgerechnet Gustav Radbruch eine solche Gehorsamspflicht angenommen bzw. begründet: Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie, Leipzig, 3. Aufl. 1932, 83 (Studienausgabe, 85): „Wir verachten den Pfarrer, der gegen seine Überzeugung predigt, aber wir verehren den Richter, der sich durch sein widerstrebendes Rechtsgefühl in seiner Gesetzestreue nicht beirren läßt.“ Zu der an diese Passage anknüpfenden Debatte, ob Radbruch in der Zwischenkriegszeit als Positivist gelten durfte bzw. tatsächlich nach 1945 einen Wandel vollzogen hat, nur Friederike Wapler, „Wertrelativismus und Positivismus“, in: Walter Pauly (Hg.), Rechts- und Staatsphilosophie des Relativismus. Pluralismus, Demokratie und Rechtsgeltung bei Gustav Radbruch, Baden-Baden 2011, 33–56 (Band = Relativismus), 47 ff. sowie Stanley L. Paulson, „Zur Kontinuität der nichtpositivistischen Rechtsphilosophie Gustav Radbruchs“, in: Martin Borowski/ders. (Hgg.), Die Natur des Rechts bei Gustav Radbruch, Tübingen 2015, 151–182 (Band = Natur). 25 Klassisch Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, Wien, 2. Aufl. 1960 (= Rechtslehre), 123: „Der Begriff der Rechtspflicht bezieht sich ausschließlich auf eine positive Rechtsordnung und hat keinerlei moralische Implikation.“ Vgl. dazu Horst Dreier, Rechtslehre, Staatssoziologie und Demokratietheorie bei Hans Kelsen, Baden-Baden, 2. Aufl. 1990, 174 ff.; knapper ders., Naturrecht, 140 ff. Vgl. ferner Herbert L. A. Hart, „Das positive Recht als System von sozial akzeptierten Regeln“, in: ders., Recht und Moral, hg. von Norbert Hoerster, München, 2. Aufl. 1980, 45–67, 63 f. sowie Richard Thoma, „Rechtsstaatsidee und Verwaltungsrechtswissenschaft“ (1910), in: ders., Rechtsstaat – Demokratie – Grundrechte, hg. von Horst Dreier, Tübingen 2008, 1–28, 8.
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kürzt ist die Vorstellung, Vertreter des Rechtspositivismus stellten sich richterliche Rechtsanwendung als das Werk des vielzitierten Subsumtionsautomaten vor.26 Hier gilt also nicht minder, dass das Etikett „Rechtspositivist“ ohne einhegende Beiworte wenig über die tatsächlich vertretene Position verrät. 3. Menschenrechte Auch der Begriff der Menschenrechte ist notorisch unscharf.27 Während „Grundrechte“ als staatlicherseits kodifizierte subjektive Rechte hinreichend deutlich konturiert sind (unter dem Grundgesetz im Kern die Art. 1–19; vgl. ferner die Aufzählung in Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG), werden als „Menschenrechte“ wenigstens zwei Gruppen von Gewährleistungen ganz unterschiedlicher normativer Dignität bezeichnet. Es sind dies auf der einen Seite die nach dem Zweiten Weltkrieg weltweit verkündeten Menschenrechtskataloge teils regionaler, teils universaler Natur. Sie sind in der Sache dem Völkerrecht zuzurechnen (im Fall der Europäischen Union haben sich die ursprünglich völkerrechtlichen Verträge zu einer supranationalen Rechtsordnung eigener Art verdichtet28) und teilen dessen Durchsetzungsambivalenz: Die Bandbreite reicht von der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948, die als bloße Resolution der Vollversammlung der Vereinten Nationen ohne Bindungswirkung im engeren Sinne ist29, über völkerrechtlich verbindliche Werke ohne echtes Durchsetzungsinstrumentarium30 bis hin zur Europäischen Menschenrechtskonvention mit ihrem star26 Näher zur „Subsumtionsthese“ Horst Dreier, „Zerrbild Rechtspositivismus. Kritische Bemerkungen zu zwei verbreiteten Legenden“, in: Clemens Jabloner/Gabriele KucskoStadlmayer/Gerhard Muzak/Bettina Perthold-Stoitzner/Karl Stöger (Hgg.), Vom praktischen Wert der Methode. Festschrift für Heinz Mayer, Wien 2011, 61–91, 81 ff.; Norbert Hoerster, Was ist Recht? München, 2. Aufl. 2013, 118 ff. sowie Dreier, Naturrecht, 151 ff. 27 Näher zum folgenden Klaus Stern, „Die Idee der Menschen- und Grundrechte“, in: Detlef Merten/Hans-Jürgen Papier (Hgg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. 1, Heidelberg 2004, § 1 Rn. 46 ff.; ders., „Menschenrechte als universales Leitprinzip“, in: Detlef Merten/Hans-Jürgen Papier (Hgg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. 6,2, Heidelberg 2009 (Band = Handbuch 6,2), § 185 Rn. 5 ff.; Fabian Wittreck, „Grund- und Menschenrechte. Die Bedeutung der Unterscheidung vor dem Hintergrund der Verbindung von Normativität und Institutionalisierung“, Philosophisches Jahrbuch 118/2 (2011), 328–351; ders., Christentum und Menschenrechte – Schöpfungs- oder Lernprozeß? Tübingen 2013 (= Christentum), 7 ff.; Horst Dreier, in: ders. (Hg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Tübingen, 3. Aufl. 2013 (= GGK 1), Vorb. Rn. 1 ff.; ders., „Art. Menschenrechte“, in: Albrecht Cordes/Hans-Peter Haferkamp/Heiner Lück/Dieter Werkmüller/Ruth Schmidt-Wiegand/Christa Bertelsmeier-Kierst (Hgg.), Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, 22. Lieferung, Berlin, 2. Aufl. 2015, Sp. 1452–1460. 28 Statt aller Helmut Lecheler, „Allgemeine Grundsätze des Unionsrechts“, in: Detlef Merten/Hans-Jürgen Papier (Hgg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. 6,1, Heidelberg 2010 (Band = Handbuch 6,1), § 158 Rn. 1 ff. 29 Martin Nettesheim, „Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und ihre Rechtsnatur“, in: Merten/Papier, Handbuch 6,2, § 173 Rn. 38 ff.; Dreier, GGK 1, Vorb. Rn. 25. 30 An erster Stelle die Internationalen Pakte über bürgerliche und politische bzw. über
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ken institutionellen Durchsetzungsmechanismus in Gestalt des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte31 (Ähnliches gilt für die Gewährleistungen der Europäischen Union32). Allerdings stoßen auch die beiden letztgenannten Garantiesysteme derzeit an ihre Grenzen, weil einzelne Mitgliedstaaten die Gefolgschaft verweigern (Russland im Falle der EMRK und Polen wie Ungarn in Ansehung der Union).33 Auf der anderen Seite steht ein vielstimmiger Diskurs der verschiedensten Disziplinen, der „Menschenrechte“ als vor- oder nichtstaatliche Rechte versteht, die dem Menschen kraft seines Menschseins zukommen und vom Staat lediglich anerkannt bzw. im Sinne der Rechtssicherheit kodifiziert resp. durch die Möglichkeit gerichtlicher Geltendmachung „wehrhaft“ gemacht werden können.34 Dieser Diskurs, der in politikwissenschaftlichen, philosophischen, theologischen u.a. Teildiskursen geführt wird35, dient der fortwährenden Legitimation der weithin anerkannten und überwiegend völker- oder staatsrechtlich kosoziale, wirtschaftliche und kulturelle Rechte von 1966; dazu näher Christoph Vedder, „Die allgemeinen UN-Menschenrechtspakte und ihre Verfahren“, in: Merten/Papier, Handbuch 6,2, § 174 Rn. 11 ff.; Dreier, GGK 1, Vorb. Rn. 26; bereichsspezifisch Bianca Petzhold, Die „Auffassungen“ des UN-Menschenrechtsausschusses zum Schutze der Religionsfreiheit, Tübingen 2015, 7 ff. 31 Siehe Rudolf Bernhardt, „Entwicklung und gegenwärtiger Stand“, in: Merten/Papier, Handbuch 6,1, § 137 Rn. 1 ff.; Eckart Klein, „Der Schutz der Grund- und Menschenrechte durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte“, in: Merten/Papier, Handbuch 6,1, § 150 Rn. 1 ff.; Dreier, GGK 1, Vorb. Rn. 28 f. 32 Maßgeblich Dirk Ehlers (Hg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, Berlin, 4. Aufl. 2014 sowie Christoph Grabenwarter (Hg.), Europäischer Grundrechteschutz (Enzyklopädie Europarecht 2), Baden-Baden 2014; siehe ferner Andreas Haratsch, „Grundrechtsschutz durch den Europäischen Gerichtshof“, in: Merten/Papier, Handbuch 6,1, § 165 Rn. 1 ff. 33 Siehe einerseits Matthias Hartwig, „Vom Dialog zum Disput? Verfassungsrecht vs. Europäische Menschenrechtskonvention – der Fall der Russländischen Föderation“, Europäische Grundrechte-Zeitschrift 2017, 1–22 sowie andererseits Reinhold Vetter, „Brüder im Geiste. Was Kaczyński mit Orbán verbindet und wie die EU damit umgehen sollte“, Internationale Politik 71 (2016), 25–33. 34 Aus der reichhaltigen Literatur nur Johannes Schwartländer (Hg.), Menschenrechte, Tübingen 1977; Norbert Brieskorn, Menschenrechte, Stuttgart/Berlin/Köln 1997; Eike Wolgast, Geschichte der Menschen- und Bürgerrechte, Stuttgart 2009, 214 ff., 287 ff.; Gerhard Ernst/Jan Christoph Heiliger (Hgg.), The Philosophy of Human Rights, Berlin 2012; Daniel Bogner/Cornelia Mügge (Hgg.), Natur des Menschen. Brauchen die Menschenrechte ein Menschenbild? Freiburg im Üechtland 2015. 35 Speziell zur Frage der naturrechtlichen Begründung von Menschenrechten Josef Seifert, „Zur Erkenntnis der Menschenrechte und ihrer axiologischen und anthropologischen Grundlagen“, in: ders. (Hg.), Wie erkennt man Naturrecht? Heidelberg 1998, 65–106, 76 ff.; Kopaonik School of Natural Law (Hg.), Declaration of Natural Human Rights, Belgrad 2003; Johannes Messner, „Zur Begründung der Menschenrechte“ (1976), in: ders., Menschenwürde und Menschenrecht, Wien 2004, 227–244; Eberhard Schockenhoff, „Beruht die Menschenwürde auf einer kulturellen Zuschreibung?“, in: Härle/Vogel, Rechte, 248–261, 250 ff.; Christina A. Astorga, „Menschenrechte aus einer asiatischen Perspektive“, Concilium 46 (2010), 318–328, 319 ff.
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difizierten Rechtsgarantien, ihrer Einforderung in solchen Staaten, die sie nicht oder nur auf dem Papier gewährleisten, ihrer Erstreckung auf solche Akteure, die wie Religionsgemeinschaften und Großkonzerne nach überkommenem Verständnis eher Träger von Rechten als Verpflichtete der Individualrechte sind36, sowie zuletzt der materiellen Weiterentwicklung des Katalogs durch die Hinzufügung oder das Erfinden neuer Menschenrechte. Prominente Kandidaten der gegenwärtigen Debatte, die sich derzeit noch im Vorhof der kodifizierten Rechtegewährleistungen im Wartestand befinden, sind das „Menschenrecht auf Migration“ und das eng damit verwandte „Menschenrecht auf Staatsangehörigkeit“37.
II. Naturrechtlich fundierte Positionen im gegenwärtigen deutschsprachigen rechtswissenschaftlichen Diskurs Auch im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts darf die deutschsprachige rechtswissenschaftliche Debatte als gemäßigt positivistisch eingestuft werden. Dabei ist die offene Selbstbezeichnung als „Rechtspositivist“ weiterhin selten bzw. nicht frei von einem feinen Schwefelaroma – prominente „Bekenner“ sind Horst Dreier oder Norbert Hoerster.38 Umgekehrt ist der offene Rekurs auf Naturrecht randständig und gilt entweder als methodisch unterkomplex (mehrfach verkürzt als Sein-Sollen-Fehlschluss perhorresziert39) oder in Anlehnung an die bekannte Wendung von Ernst-Wolfgang Böckenförde als Versuch, sich dem für den demokratischen Verfassungsstaat unabdingbaren Zwang zum Kompromiss zu entziehen40 – was einmal als von Natur aus rechtens erkannt wurde, ist nicht mehr verhandelbar. Diese fast flächendeckende Diskreditierung der Na36 Zur
Frage der Grund- bzw. Menschenrechtsbindung der Kirchen nur Wittreck, Christentum, 35 ff. (m.w.N.); zu Unternehmen zuletzt Jilles L. J. Hazenberg, „Transnational Corporations and Human Rights Duties: Perfect and Imperfect“, Human Rights Review 17 (2016), 479–500. 37 Siehe nur Michael Blake, „Migration as Right and as Remedy“, Zeitschrift für Menschenrechte 8 (2014), H. 2, 15–28 sowie dagegen Jan Brezger, „Zur Verteidigung des Menschenrechts auf internationale Bewegungsfreiheit. Eine Antwort auf Michael Blake“, Zeitschrift für Menschenrechte 8 (2014), H. 2, 30–49; aus der genuin rechtswissenschaftlichen Diskussion Christian Walter, „Der Bürgerstatus im Lichte von Migration und europäischer Integration“, Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer 72 (2013), 7–48, 27 sowie Fabian Wittreck, in: Dreier, GGK 1, Art. 16 Rn. 23; Art. 16a Rn. 30 (jeweils m.w.N.). 38 Wittreck, Geltung, 32. 39 Dazu nur Mahlmann, Rechtsphilosophie, § 11 Rn. 3 ff. 40 Ernst-Wolfgang Böckenförde, „Das Ethos der modernen Demokratie und die Kirche“ (1957), in: ders., Kirche und christlicher Glaube in den Herausforderungen der Zeit, Münster 2004, 9–26, 18 ff. Vgl. auf der gleichen Linie dens., „Kirchliches Naturrecht und politisches Handeln“, in: Böckle/ders., Naturrecht, 96–125.
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turrechtslehre41 ist Resultat ihres rauschenden Erfolges wie ihres krachenden Scheiterns zugleich.42 Erfolg: Das Grundgesetz kodifiziert die zentralen Menschenrechtsforderungen des neuzeitlichen Vernunftrechts und macht sie durch die Verfassungsbeschwerde für jedermann wehrhaft43, wohingegen ein Teil der frühen Nachkriegs-Landesverfassungen darüber hinaus noch „Lebensordnungen“ aufnimmt, die sich in der Sache als Protokolle des damaligen Standes der neuthomistischen Naturrechtstradition katholischer Prägung präsentieren.44 Scheitern: Ein jeder Versuch der Wiederbelebung naturrechtlicher Argumentation in Deutschland trägt den Mühlstein der „Naturrechtsrenaissance“ der unmittelbaren Nachkriegszeit um den Hals45, die heute einhellig als ganz überwiegend methodisch dürftig, konfessionell einseitig, politisch reaktionär und in Anschauung einzelner Akteure entweder als historisch naiv oder als doloser Akt der Verunklarung rechtsphilosophischer Verursachungs- und Verantwortungszusammenhänge eingestuft wird.46 Während etwa im angelsächsischen Raum (namentlich den Vereinigten Staaten) der offene Rekurs auf Naturrecht in einiger Dichte gepflegt wird47, lassen sich in der deutschsprachigen Diskussion bes41 Überrissen Georg Geismann, „Naturrecht nach Kant. Zweite und letzte Replik zu einem untauglichen Versuch, die ‚klassische‘ Naturrechtslehre – besonders in ihrer christlich-mittelalterlichen Version – wiederzubeleben“, Jahrbuch für Politik 5 (1995), 141–177. 42 Ähnlich Stephan Kirste, Einführung in die Rechtsphilosophie, Darmstadt 2010 (= Einführung), 108, der allerdings stärker auf den Erfolg abstellt. 43 Zusammenfassend Karl Korinek/Elisabeth Dujmovits, „Grundrechtsdurchsetzung und Grundrechtsverwirklichung“, in: Merten/Papier, Handbuch 1, § 23 Rn. 8 ff. 44 Näher m.w.N. Fabian Wittreck, „Die ‚Ordnung der Wirtschaft‘ in den frühen Landesverfassungen: Weimarer Reminiszenz oder neuscholastisches Naturrecht?“, in: Matthias Casper/Karl Gabriel/Hans-Richard Reuter (Hgg.), Kapitalismuskritik im Christentum. Positionen und Diskurse in der Weimarer Republik und der frühen Bundesrepublik, Frankfurt am Main 2016, 300–336. 45 Vgl. dazu Arthur Kaufmann, „Die Naturrechtsrenaissance der ersten Nachkriegsjahre – und was daraus geworden ist“ (1991), in: ders., Über Gerechtigkeit, Köln 1993, 221– 244; Kristian Kühl, „Rückblick auf die Renaissance des Naturrechts nach dem 2. Weltkrieg“ (1990), in: ders., Freiheitliche Rechtsphilosophie, Baden-Baden 2008, 87–111; Lena Foljanty, Recht oder Gesetz. Juristische Identität und Autorität in den Naturrechtsdebatten der Nachkriegszeit, Tübingen 2013; Arndt Künnecke, „Die Naturrechtsrenaissance in Deutschland nach 1945 in ihrem historischen Kontext“, Rechtsphilosophie Zeitschrift für Grundlagen des Rechts 1 (2015), 84–105. 46 Prominentes Beispiel für einen schwerstens NS-belasteten Autor, der nach dem Krieg im fliegenden Wechsel zu besonders steilen Naturrechtsthesen greift, ist der später in Würzburg lehrende Günther Küchenhoff. Vgl. aus seinem systemkonformen Œuvre namentlich Günther Küchenhoff, „Großraumgedanke und völkische Idee im Recht“, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 12 (1944), 34–82 (= Großraumgedanke). Nach dem Krieg legt K. dann Naturrecht und Christentum (Düsseldorf 1948) sowie Naturrecht und Liebesrecht (Hildesheim 1962) vor. Der Gedanke der Liebe als zentraler Rechtsfigur zieht sich dabei als roter Faden über den Systemwechsel durch seine Schriften: vgl. dens., Großraumgedanke, 51: „Liebe der Geführten als Charakteristikum des Führerbegriffs“. 47 Siehe nur einige neuere Publikationen: John Finnis, Natural Law and Natural Rights, Oxford 1980, Nachdruck 1996; Robert P. George (Hg.), Natural Law Theory. Contemporary
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tenfalls Naturrechtsalkoven oder -reservate ausfindig machen. Es sind dies die katholische Tradition (1.), einzelne versprengte Autoren, die keiner Schule zuzuordnen sind (2.), sowie – mit leicht ansteigender Tendenz – Argumentationsfiguren namentlich in der Staatsrechtslehre, die zwar auf das epitheton ornans „Naturrecht“ verzichten, in der Sache aber inhaltliche Vorgaben für staatliches Recht generieren, die demselben bzw. der Verfassung als seinem Maßstab so nicht zu entnehmen sind (3.). 1. Katholische Naturrechtstradition Weder ungebrochen noch gänzlich unangefochten, aber doch in einiger Dichte wird die Naturrechtstradition von katholischen Autoren fortgeführt, die sich disziplinär der Theologie, der Philosophie, der Kanonistik oder der Rechtswissenschaft zurechnen lassen (wobei im letzten Fall die Abgrenzung zum nächsten Punkt milchig wird und gerade bei den hier häufig anzutreffenden Wissenschaftlern mit Mehrfachqualifikation auch kaum trennscharf zu leisten ist). Ganz formal erkennt zunächst der Codex Iuris Canonici von 1983 das Naturrecht neben dem göttlichen Recht zumindest implizit als Rechtsquelle an (Can. 1163 § 1 sowie Can. 1165 § 2 sprechen „impedimenta iuris naturalis“ an48).49 Zugleich legt er in Can. 252 § 3 nach wie vor fest, dass die Priesterausbildung „unter Anleitung des
Essays, Oxford 1995; Robert P. George, In Defense of Natural Law, Oxford 1999; Mark C. Murphy, Natural Law and Practical Rationality, Cambridge 2001; Russell Hittinger, The First Grace. Rediscovering the Natural Law in a Post-Christian World, Wilmington 2003; John Goyette/Mark S. Latkovic/Richard S. Myers (Hgg.), S. Thomas Aquinas & the Natural Law Tradition. Contemporary Perspectives, Washington 2004; Francis Oakley, Natural Law, Laws of Nature, Natural Rights, New York/London 2005; Jean Porter, Nature as Reason. A Tho mistic Theory of the Natural Law, Grand Rapids/Cambridge 2005; Christopher Wolfe, Natural Law Liberalism, Cambridge 2006; Brian Leiter, Naturalizing Jurisprudence, Oxford 2007; García/Šilar/Torralba, Natural Law; Ana Marta González (Hg.), Contemporary Perspectives on Natural Law, Aldershot/Burlington 2008; Lawrence S. Cunningham (Hg.), Intractable Disputes About the Natural Law, Notre Dame 2009; C. Fred Alford, Narrative, Nature, and the Natural Law. From Aquinas to International Human Rights, New York/Basingsstoke 2010; Holger Zaborowski (Hg.), Natural Moral Law in Contemporary Society, Washington 2010; Owen Anderson, The Natural Moral Law, Cambridge 2012; Steven J. Jensen, Knowing the Natural Law. From Precepts and Inclinations to Deriving Oughts, Washington 2015. 48 Gemeint sind die Ehehindernisse des bestehenden Ehebandes (Can. 1085 § 1 CIC), der dauerhaften und vollständigen Impotenz (Can. 1064 § 1 CIC) sowie die Verwandtschaft in gerader Linie bzw. in der Seitenlinie im zweiten Grad (Can. 1091 §§ 1 u. 2 CIC): James A. Coriden/Thomas J. Green/Donald E. Heintschel (Hgg.), The Code of Canon Law, New York/Mahwah 1985, 827. 49 Aus der einschlägigen Literatur Eugenio Corecco, T he T heology of Canon Law, Pittsburgh 1992, 21 ff., 35 ff. sowie Gerhard Luf, „Rechtsphilosophische Grundlagen des Kirchenrechts“, in: Stephan Haering/Wilhelm Rees/Heribert Schmitz (Hgg.), Handbuch des katholischen Kirchenrechts, Regensburg, 3. Aufl. 2015, § 4, 42‒56, 44 ff. – Der Codex von 1917 spricht das Naturrecht noch explizit in den einleitenden allgemeinen Bestimmungen an: Can. 6 Nr. 6 CIC; vgl. dazu nur Eduard Eichmann, Lehrbuch des Kirchenrechts auf Grund
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hl. Thomas als Lehrer“ erfolgen soll.50 Dabei lässt sich auch unter katholischen Autoren, die explizit naturrechtlich argumentieren, längst eine deutliche Pluralisierung feststellen.51 Neben der mehr oder minder in sich ruhenden Fortführung der (neu-)thomistischen Tradition52 begegnet eine Fülle von Ansätzen, die etwa stärker biblisch argumentieren oder Anleihen bei genuin vernunftrechtlichen Autoren oder anderen Strömungen der modernen Rechts- und Sozialphilosophie nehmen.53 Derartige Rekonstruktionen der Lehre des Aquinaten, die sich aus den Gleisen oder besser dem Streckbrett des Thomismus lösen, haben – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – etwa Christian Kissling54, Franz-Josef Bormann55, Karl-Wilhelm Merks56, Martin Rhonheimer57 oder Eberhard Schockenhoff 58 vorgelegt. Demgegenüber bleibt der Protestantismus – mit der prominenten Ausnahme von Eilert Herms59 – grundsätzlich skeptisch.60
des Codex Iuris Canonici, Bd. 1, Paderborn, 4. Aufl. 1934, 51 f. sowie knapp Heribert Jone, Gesetzbuch der lateinischen Kirche, Bd. 1, Paderborn, 2. Aufl. 1950, 30. 50 Näher dazu Heinrich J. F. Reinhardt, in: Klaus Lüdicke (Hg.), Münsterischer Kommentar zum Codex Iuris Canonici, Essen 1984 ff., Can. 252 (1994), Rn. 3. 51 Instruktiv die Bandbreite der Beiträge in Concilium 46 (2010), 343 ff. 52 Klassisch Johannes Messner, Das Naturrecht. Handbuch der Gesellschaftsethik, Staatsethik und Wirtschaftsethik, Berlin, 7. Aufl. 1984 sowie Arthur Fridolin Utz, „Kommentar“, in: ders. (Hg.), Thomas von Aquin, Naturgesetz und Naturrecht. Theologische Summe Fragen 90–97, Bonn 1996, 171–225. Hierher zählen etwa Rudolf Weiler, „Wiederkehr des Naturrechts und Neuevangelisierung“, in: ders. (Hg.), Die Wiederkehr des Naturrechts und die Neuevangelisierung Europas, Wien/München 2005, 9–97, 33 ff. oder Christian Machek, Die Rückkehr zu den Ursprüngen der politischen Philosophie. Die Katholische Soziallehre, Leo Strauss, Eric Voegelin und die Aktualität des Naturrechts, Paderborn 2012, 193 ff. u. passim. – Historische Darstellung und Analyse bei Peter Schallenberg, Naturrecht und Sozialtheologie. Die Entwicklung des theonomen Naturrechts der späten Neuscholastik im deutschen Sprachraum (1900–1960), Münster 1993. 53 Instruktiver Versuch der Kategorisierung bei Jan Leichsenring, „Gegenwärtige Naturrechtstheorien und ihr Umgang mit Religion und Säkularität“, in: Daniel Bogner/Cornelia Mügge (Hgg.), Natur des Menschen. Brauchen die Menschenrechte ein Menschenbild? Freiburg im Üechtland 2015, 67–82, 70 ff. 54 Christian Kissling, Gemeinwohl und Gerechtigkeit. Ein Vergleich von traditioneller Naturrechtsethik und kritischer Gesellschaftstheorie, Freiburg im Breisgau 1993. 55 Franz-Josef Bormann, Natur als Horizont sittlicher Praxis. Zur handlungstheoretischen Interpretation der Lehre vom natürlichen Sittengesetz bei Thomas von Aquin, Stuttgart/Berlin/Köln 1999. 56 Karl-Wilhelm Merks, „Naturrecht als Personrecht? Überlegungen zu einer Relektüre der Naturrechtslehre des Thomas von Aquin“, in: Marianne Heimbach-Steins (Hg.), Naturrecht im ethischen Diskurs, Münster 1990, 28–46. 57 Martin Rhonheimer, Praktische Vernunft und Vernünftigkeit der Praxis. Handlungstheorie bei Thomas von Aquin in ihrer Entstehung aus dem Problemkontext der aristotelischen Ethik, Berlin 1994. 58 Hier nur Eberhard Schockenhoff, „Ein transzendentalphilosophischer Zugang zur Naturrechtslehre des Thomas von Aquin“, Concilium 46 (2010), 272–279. 59 Siehe nur Eilert Herms, „Die Begründung des Naturrechts“, in: Härle/Vogel, Rechte, 262–321. 60 Instruktiv Klaus Tanner, Der lange Schatten des Naturrechts, Stuttgart/Berlin/Köln
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2. Naturrechtspartisanen In der gegenwärtigen juristischen deutschsprachigen Rechtsphilosophie ist das explizit als solches ausgeflaggte Naturrecht bestenfalls randständig.61 Soweit ersichtlich, taucht in den gängigen Standardlehrbüchern das Naturrecht regelmäßig nur im Rahmen eines historischen Referats auf.62 Sucht man nach wenigstens halbwegs prominenten Autoren, die sich offen der Naturrechtstradition zuordnen, so bleiben nur Norbert Brieskorn63 – bei ihm ist allerdings schon die Abgrenzung zur Theologie hin fraglich –, der emeritierte Passauer Ordinarius Johann Braun64, der primär als Vertreter der römischen Rechtsgeschichte ausgewiesene Wolfgang Waldstein65 sowie der 2007 verstorbene Romanist Theodor Mayer-Maly66. Einen Mindestinhalt des Rechts postuliert auch der Würzburger Rechtshistoriker Dietmar Willoweit.67 Zuletzt gibt es gegenwärtig Anzeichen dafür, dass eine jüngere Generation von Wissenschaftlern wieder unbefangener mit dem Begriff „Naturrecht“ umgeht – ohne mit dieser Beobachtung einer Wellenbewegung sogleich wieder eine Renaissance ausrufen zu wollen. Das gilt für den Beitrag von Florian Rödl im
1993, 13 ff. sowie Ingolf U. Dalferth, Naturrecht in protestantischer Perspektive, BadenBaden 2008. 61 Nur als historische Reminiszenz taucht es etwa auf in Hasso Hofmann, Neuere Entwicklungen in der Rechtsphilosophie, Berlin 1996 (9 zum „‚naturrechtlichen‘ Minimalgehalt“ bei Hart); instruktiv auch Michael Henkel, „Was bleibt vom Naturrecht?“, Politisches Denken. Jahrbuch 2011, 97–121, 105 ff. 62 Statt aller Kirste, Einführung, 106 ff. oder Mahlmann, Rechtsphilosophie, § 23 Rn. 2 ff. 63 Siehe außer seinen Arbeiten zur iberischen Spätscholastik – zuletzt Oliver Bach/Norbert Brieskorn/Gideon Stirling (Hgg.), Die Naturrechtslehre des Francisco Suárez, Berlin 2017 – namentlich sein programmatischer Beitrag Norbert Brieskorn, „Wofür benötigen wir überhaupt ein Naturrecht? Sinn und Notwendigkeit des Naturrechts aus philosophischer und theologischer Sicht“, in: Härle/Vogel, Rechte, 97–126, 114 ff. 64 Siehe Johann Braun, Rechtsphilosophie im 20. Jahrhundert. Die Rückkehr der Gerechtigkeit, München 2001, 314 ff.; ders., Einführung in die Rechtsphilosophie, Tübingen 2006, 51 ff. u. passim; zuletzt ders., „Rechtsrelativismus und Rechtsabsolutismus. Oder: Was ist eigentlich aus dem Naturrecht geworden?“, Juristenzeitung 2013, 265–273. 65 Nur einige neuere Werke: Wolfgang Waldstein, „Das Naturrecht und die Grundlagen seiner Erkenntnis im Römischen Recht“, in: Josef Seifert (Hg.), Wie erkennt man Naturrecht? Heidelberg 1998, 35–64 (Band = Naturrecht); ders., Ins Herz geschrieben. Das Naturrecht als Fundament einer menschlichen Gesellschaft, Augsburg 2010; ders., „Zur Fähigkeit des menschlichen Geistes, Naturrecht zu erkennen“, in: Matthias Armgardt/Tilman Repgen (Hgg.), Naturrecht in Antike und früher Neuzeit, Tübingen 2014, 173–188; ders., „Naturrecht im römischen Recht und in der europäischen Rechtsentwicklung“, in: Civitas-Institut (Hg.), Naturrecht und Menschenrecht, Neunkirchen-Seelscheid 2014, 71–98. 66 Siehe T heodor Mayer-Maly, „Vergewisserung über Naturrecht“, in: Seifert, Naturrecht, 13–31; vgl. seine Selbstzuordnung in ders., Rechtsphilosophie, Wien 2001, Vorwort (o.S.). 67 Dietmar Willoweit, „Der richtige Kern der Lehre vom richtigen Recht“, Juristenzeitung 2010, 373–379; vgl. dens., „‚Ungerechtes Recht‘ oder ‚Grenzen des Rechts‘? – Ein Nachwort“, in: Ulrike Müßig (Hg.), Ungerechtes Recht, Tübingen 2013, 183–187, 185 f.
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vorliegenden Band, aber auch für die Schriften von Matthias Wendland68 und Alexander Hellgardt69. Instruktiv ist hier noch der Band des „Jungen Forums Rechtsphilosophie“ von 2014/2015, der „Vorbedingungen des Rechts“ nachspürt.70 3. Naturrechtsanaloge Argumente Es bleiben – der Verfasser beschränkt sich an dieser Stelle auf die staats- oder verfassungsrechtliche Debatte, ohne positiv ausschließen zu können, dass der gleiche Befund im Zivil- oder Strafrecht zu verzeichnen ist – argumentative Strategien, die hier als naturrechtsanalog bezeichnet werden. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass ohne Anhalt im Verfassungstext und damit im Wege der letztlich überpositiv radizierten Setzung inhaltliche Vorgaben für die Rechtsordnung generiert werden. Drei Beispiele sollen an dieser Stelle genügen. Das Bundesverfassungsgericht hat namentlich in der vielkritisierten Entscheidung zum Vertrag von Lissabon ein Konzept von staatlicher Souveränität zugrundegelegt bzw. der Verfassung unterlegt, das in dieser Form nicht bruchlos aus dem Grundgesetz folgt, sondern ganz offensichtlich staatsphilosophische Prämissen hat, die der überpositiven Sphäre zuzurechnen sind.71 In der Literatur ist namentlich Uwe Volkmann mit dem Postulat eines „Kernbestand[s] moralischer Pflichten“ hervorgetreten, die dem Recht des modernen Verfassungsstaates vorausliegen.72 Und in Literatur wie Rechtsprechung findet sich die Rechtsfigur der „Bundestreue“, die wahlweise aus dem Bundesstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG oder aus allgemeinen Rechtsgrundsätzen abgeleitet wird, in der Sache aber ebenfalls Sätze des überpositiven Rechts enthält, die dort weiterhelfen sollen, wo 68 Matthias Wendland, Mediation und Zivilprozess. Dogmatische Grundlagen einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre, Tübingen 2017, i.E., § 1 III.3. 69 Alexander Hellgardt, Regulierung und Privatrecht. Staatliche Verhaltenssteuerung mittels Privatrecht und ihre Bedeutung für Rechtswissenschaft, Gesetzgebung und Rechtsanwendung, Tübingen 2016, 365 ff. 70 Programmatisch das Fazit von Lutz Eidam, „Braucht unser heutiges Strafrecht (noch) den philosophischen Horizont eines Naturrechts? Zum Streit zwischen Positivismus und Nichtpositivismus am Beispiel der Radbruch-Hart-Kontroverse“, in: Markus Abraham/Till Zimmermann/Sabrina Zucca-Soest (Hgg.), Vorbedingungen des Rechts, Stuttgart/BadenBaden 2016, 13–25 (= Horizont), 25: „Gleichzeitig tun wir aber insbesondere als Strafrechtler gut dran, uns bei allem Nutzen, den der Positivismus für die Rechtstheorie haben mag, ein nichtpositivistisches Denken nicht nehmen zu lassen.“ Vgl. ferner den Beitrag von Moritz Hagedorn, „Die Zweideutigkeit des Naturrechts und das Recht auf Eigentum“, in: ebd., 183–193. 71 BVerfGE 123, 267 (330, 341, 344). Vgl. aus der ganz überwiegend kritischen Literatur nur Matthias Kottmann/Christian Wohlfahrt, „Der gespaltene Wächter? Demokratie, Verfassungsidentität und Integrationsverantwortung im Lissabon-Urteil“, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 69 (2009), 443–470, 461 f. 72 Uwe Volkmann, Darf der Staat seine Bürger erziehen? Baden-Baden 2012, 37 ff. (Zitat 37).
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die geschriebene Verfassung (vermeintlich) keine Antworten mehr gibt.73 Die Liste ließe sich verlängern.
III. Die Fundierung der Menschenrechte Wenden wir uns nach Begriffsklärung und kursorischer Vermessung des naturrechtlichen Feldes wieder dem Oberthema der Begründung der Menschenrechte zu. Dabei ist zunächst herauszuarbeiten, dass die Ablehnung des Naturrechts hier auf paradoxe Weise mit einem breiten Konsens koinzidiert, dass dem Menschen kraft seines Menschseins Rechte zukommen (1.). In der Rechtswissenschaft findet dies seine Parallele in einem Rechtspositivismus, der mit einem naturrechtlichen Minimum einhergeht, das wiederum regelmäßig menschenrechtlich ausgefüllt wird (2.). Beides mag ein Indiz dafür sein, dass die geläufige „endgültige“ Verabschiedung des Naturrechtsdenkens ebenso unterkomplex ist, wie es die Naturrechtsrenaissance nach 1945 war (3.). 1. Das menschenrechtliche Begründungsparadoxon Die Redeweise vom Paradoxon bedarf der Begründung oder genauer der Einlösung des damit erhobenen Anspruchs. Paradox ist die Situation in Deutschland insofern, als einerseits – wie dargelegt – ein breiter Konsens besteht, dass der Rekurs auf Naturrecht methodisch fragwürdig, wenn nicht sogar wissenschaftlich diskreditiert ist. Zu vielgestaltig, ja zu beliebig sind die Ergebnisse, die das breite Spektrum der Naturrechtslehren vorgelegt hat.74 Andererseits besteht – über die Wissenschaften hinaus bis weit in die Gesellschaft hinein – ein empirisch belastbarer Konsens, dass zumindest ein Kerngehalt an Menschenrechten (sowie normative Kerngehalte von Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip) zu den Regeln zählen, auf die wir uns einigen könnten bzw. die niemand in Abrede stellen kann, ohne sich wiederum außerhalb des Gruppendiskurses zu stellen. Die breite Ablehnung des Naturrechtskonzepts geht einher mit einer ebenso breiten praktischen Akzeptanz von Prämissen staatlichen Zusammenlebens, die inhaltliche Anforderungen selbst an eine neue Verfassunggebung nach Art. 146 GG stellen würden75, in der Sache also in der hier verstandenen Weise naturrechtlich wirken.
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Eingehende Kritik m.w.N. bei Fabian Wittreck, „Bundestreue“, in: Ines Härtel (Hg.), Handbuch Föderalismus, Bd. 1, Heidelberg/Berlin/New York 2012, 497–525, § 18 Rn. 2. 74 Luzide Zusammenfassung bei Pauline C. Westerman, T he Disintegration of Natural Law Theory. Aquinas to Finnis, Leiden/Boston/Singapore 1998, 287 ff. 75 Dazu nur Horst Dreier, Gilt das Grundgesetz ewig? München 2009, 78 ff.
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2. Deutscher Rechtspositivismus als Rechtspositivismus nach Auschwitz Die in Deutschland ganz herrschende rechtsphilosophische oder rechtstheoretische Ausrichtung ist oben als „gemäßigt rechtspositivistisch“ umschrieben worden. Das impliziert zunächst den praktischen Ausschluss explizit na turrechtlicher Positionen (nochmals oben II.2). Zugleich ist die vorbehaltlose Selbstkennzeichnung als „Rechtspositivist“ nach wie vor selten – ein solcher erscheint vielleicht nicht mehr „als ein minderwertiges Mitglied seiner Zunft“76, aber doch als jemand, der seinem diesbezüglichen Bekenntnis aus wohlgemerkt moralischen Gründen ein rechtsphilosophisches „Aber“ nachsenden zu müssen glaubt. Das moralische Motiv ist in der Überschrift angerissen: Deutsche Rechtsphilosophie nach 1945 kann den Satz, dass jeder beliebige Inhalt Gegenstand des menschlichen Rechts werden kann, praktisch nur noch um den Preis des Nachsatzes formulieren, dass eingedenk der Erfahrung eines schlicht und einfach bösen Normgebers in den Jahren 1933–1945 eine äußerste Grenze zu wahren ist, mithin bestimmte Inhalte doch ausgeschlossen sein müssen. Das Urvertrauen, das etwa Max Weber als Angehöriger des wohlgemerkt protestantischen Bürgertums noch gegenüber der Rationalität des wilheminischen Gesetzgebers aufbringen konnte77, ist nach den Nürnberger Rassegesetzen, der Aktion „T4“ und dem Holocaust dahin. Es ist einmal mehr bezeichnend, dass gerade der „Erzpositivist“ Hans Kelsen hier Konsequenz beweist und unterstreicht, dass die Nationalsozialisten ihre Gewalttaten aus seiner Sicht ganz selbstverständlich durch Gesetz hätten legalisieren können.78 Ganz überwiegend aber wird das im demokratischen Verfassungsstaat naheliegende rechtstheoretische bzw. rechtsphilosophische Votum für eine rechtspositivistische Position mit dem nichtpositivistischen Vorbehalt versehen, dass die Geltung des staatlichen Rechts ihre Grenze dort finde, wo es – holzschnittartig formuliert – schwer und evident gegen einhellig anerkannte Gerechtigkeitsgrundsätze verstoße.79 In letzter Konsequenz versammelt sich die deutschsprachige Rechtswissenschaft damit im tiefen Tal 76 Erwin Riezler, „Der totgesagte Positivismus“ (1951), in: Maihofer, Naturrecht, 239– 256, 239. 77 Anders wird man seine Legitimation des Rechtspositivismus (vgl. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen, 5. Aufl. 1972, 19 f., 503 ff. und dazu nur Thomas Raiser, Grundlagen der Rechtssoziologie, Tübingen, 6. Aufl. 2013, 98 f.) kaum deuten können; für Katholiken wie Sozialdemokraten hätte ein anderes Narrativ nähergelegen. 78 Kelsen, Rechtslehre, 13. 79 Hier nur Nachweise aus zwei Generationen: Robert Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, Studienausgabe, Freiburg im Breisgau, 5. Aufl. 2011, 151: danach verlieren Rechtsnormen „ihren Rechtscharakter und damit ihre rechtliche Geltung, wenn sie extrem ungerecht sind“. Gleichsinnig jetzt Eidam, Horizont, 24: „Dieser Mittelweg erkennt weitestgehend einen positivistischen Rechtsbegriff an, hält für nichtpositivistische Erwägungen aber eine explizite Hintertür offen, die allerdings nur bei besonders krassen Widersprüchen zum Ideal der Gerechtigkeit verfügbar ist.“
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der Radbruchschen Formel, die von ihrem Autor in ihrer ganzen Rätselhaftigkeit nicht umsonst noch zu Lebzeiten menschenrechtlich unterfüttert worden ist.80 3. Die Rest-Relevanz naturrechtlicher Argumentation Was bleibt danach vom Naturrecht in Ansehung der Begründung, Legitimation oder Fortschreibung der Menschenrechte? Angesichts der internationalen Entwicklung der Diskussion dürfte es gleich mehrfach verkürzt sein, vom eher deplorablen Bild der gegenwärtigen deutschsprachigen rechtswissenschaftlichen Naturrechtsdebatte darauf zu schließen, man müsse (oder dürfe?) derlei Argumente schlicht nicht mehr hören. Ganz abgesehen davon, dass die wissenschaftsadäquate Umsetzung einer solchen Anathematisierung kaum praktikabel erscheint, würde sie die regulative Idee der Menschenrechte schwächen. Denn deren Begründung, begründete Erweiterung oder Verteidigung gegen Angriffe von staatlicher wie nichtstaatlicher Seite setzt neben institutionellen Sicherungen letztlich Individuen und Gruppen voraus, die von der Existenz und Sinnhaftigkeit von Menschen- und insbesondere Minderheitenrechten intrinsisch überzeugt sind. In einer pluralistischen (Welt-) Gesellschaft, der gemeinsame Überzeugungen entweder abhandengekommen sind oder nie zugrunde lagen, sollte man keiner Gruppe verwehren, sich diese Überzeugung in der Formensprache der eigenen Tradition zu bilden, zu vergegenwärtigen und beständig zu erneuern – auch wenn diese Gruppe ein theonomes Naturrecht pflegt, das dem aufgeklärten Positivisten aus hoffentlich (?) intrinsisch besseren Gründen ein Gottseibeiuns ist.81
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80 Radbruch, Unrecht, 216; der Hinweis auf die Menschenrechte ebd., 217. Aus der reichhaltigen Literatur nur die jüngeren Beiträge von Fabian Wittreck, „Die Radbruchsche Formel als klassischer Text der Rechtsphilosophie – Teil 1“, Ad Legendum 2008, 128–132; Joachim Renzikowski, „Die Radbruchsche Formel – Hintergründe und Wirkungsgeschichte“, in: Pauly, Relativismus, 223–244 sowie Horst Dreier, „Die Radbruchsche Formel: Erkenntnis oder Bekenntnis?“ (1991), in: Borowski/Paulson, Natur, 1–22. (alle m.w.N.). 81 Treffend Eidam, Horizont, 24: „Nichtpositivistische Erwägungen […] vermitteln ein Störgefühl“. Vgl. zur Sinnhaftigkeit genuin theologischer Beschäftigung mit den Menschenrechten Wittreck, Christentum, 23 f.
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Die Migration der Menschenrechte* Stefan Kadelbach I. Einleitung Grundrechte sind Garantien, die dem Menschen durch die Rechtsordnung eines Staates, meist die Verfassung, zugesprochen werden.1 Sie sind daher vom innerstaatlichen Recht und von der Autorität abhängig, von der es sich ableitet. Dass ihre Anwendbarkeit zunächst territorial gebunden ist, ist eine Folge der Begrenztheit effektiver Staatsgewalt. Andererseits verweist der geschichtliche Zusammenhang, aus dem heraus die Grundrechte ihren Weg in die staatlichen Verfassungen fanden, auf ihren universellen Charakter, der sich in der Idee der Menschenrechte ausdrückt. Grundrechte sind also Garantien mit beschränkter territorialer Anwendbarkeit, gehen aber auf Normen zurück, die universelle Geltung beanspruchen. Darin liegt ihr Potenzial, die Grenzen zu überschreiten. Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich mit der Frage, wie sich territoriale Begrenztheit und universeller Geltungsanspruch der Grundrechte zueinander verhalten und was diese Spannung für ihre Normativität bedeutet.2 Beispiele für diese Ambivalenz finden sich in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG). In seinem Lüth-Urteil von 1958 unterstreicht es die Bedeutung der freien Rede für die demokratische Gesellschaft und beruft sich, um dies zu unterstreichen, auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1789 und zitiert den Richter am US Supreme Court Benjamin Cardozo, der sie als „the matrix, the indispensable condition of nearly every other form of freedom“3 bezeichnet hatte.4 Das Gericht bezieht sich also auf die bei* Der Verfasser dankt Günter Frankenberg und Thomas Kleinlein für Anregungen zu früheren Fassungen. 1 Der Begriff droits fondamentaux wurde zum ersten Mal in den 1770er Jahren in politischen Zirkeln um Mirabeau verwendet, s. Gerhard Oestreich, Geschichte der Menschenrechte und Grundfreiheiten im Umriß, Berlin, 2. Aufl. 1978 (= Geschichte), 66. 2 Er greift zurück auf Stefan Kadelbach, „T he Territoriality and Migration of Fundamental Rights“, in: Günther Handl/Joachim Zekoll/Peer Zumbansen (Hgg.), Beyond Territoriality – Transnational Legal Authority in an Age of Globalization, Leiden/Boston 2012, 295–324. 3 Benjamin Cardozo in Palko v. Connecticut, 302 U.S. 319, 327 (1937). 4 BVerfGE 7, 198, 208; zur Bedeutung Rainer Wahl, „Die objektiv-rechtliche Dimension der Grundrechte im internationalen Vergleich“, in: Detlef Merten/Hans-Jürgen Papier (Hgg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. 1, Heidelberg 2004 (= Die objektiv-rechtliche Dimension der Grundrechte), § 19 Rn. 2–27.
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den verfassungsrechtlichen Ordnungen, die das deutsche Verfassungsdenken am meisten beeinflusst haben wie auch viele andere Rechtsordnungen in Europa. Von hier war es bis zu den weniger weit zurückliegenden Entscheidungen, in denen das BVerfG eine Tendenz zur Immunisierung gegen externe Einflüsse auf seine Grundrechte-Rechtsprechung entwickelt hat, ein weiter Weg. Doch hat sich diese Neigung deutlich in der Rechtsprechung zur Bindungskraft von Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) bemerkbar gemacht, des Gerichts, das für die Auslegung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) zuständig ist. Lange galt hier der Grundsatz der völkerrechtsfreundlichen Auslegung.5 In seinem Görgülü-Urteil von 2004 hat das BVerfG dieses Prinzip indessen eingeschränkt6, indem es in einem obiter dictum Vorbehalte im Hinblick auf die Bindung an die Rechtsprechung des EGMR aufstellte, der das Verhältnis zwischen der Meinungsfreiheit der Boulevardpresse und dem Persönlichkeitsrecht Prominenter in einem kurz zuvor ergangenen Urteil anders gewichtet hatte als das BVerfG.7 Während es also das BVerfG im Lüth-Fall mit einer Anrufung universeller Gehalte der Meinungsfreiheit unternommen hatte, die Überzeugungskraft seiner Entscheidung zu stärken8, versuchte es im Görgülü–Fall dasselbe Ziel zu erreichen, indem es die Selbständigkeit der durch die deutschen Grundrechte und seiner Rechtsprechung geschaffenen Werteordnung gegen ihre Internationalisierung in Schutz nahm. Die beiden Entscheidungen, Lüth und Görgülü, markieren für das deutsche Verfassungsrecht den Anfang und den derzeitigen Stand in einem fortdauernden Prozess der Migration der Grund- und Menschenrechte. Lüth bezieht sich mit seinen komparativen Hinweisen auf die erste Phase dieser Migration, die im ausgehenden 18. Jahrhundert begann, und versucht damit zugleich, den deutschen Konstitutionalismus in einer Gemeinschaft von Staaten neu zu etablieren, die die Rechtsstaatlichkeit achten. Görgülü dagegen wurde in einer Zeit entschieden, in der die Legitimität der staatlichen Gerichtsbarkeit vor den Maßstäben der eigenen Verfassung wichtiger geworden schien als die Einbindung in den überstaatlichen Zusammenhang internationaler Menschen5 Übersicht bei Andreas Zimmermann, „Rezeption völkerrechtlicher Begriffe durch das Grundgesetz“, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 67 (2007), 297–317. 6 BVerfGE 111, 307. 7 Caroline von Hannover/Bundesrepublik Deutschland, ECHR Reports 2004–VI. 8 Siehe T hilo Rensmann, Wertordnung und Verfassung. Das Grundgesetz im Kontext grenzüberschreitender Konstitutionalisierung, Tübingen 2007 (= Wertordnung und Verfassung), 85; s. auch die Diskussion über eine Öffnung des Verfassungsrechts für das Völkerrecht bei Tom Ginsburg/Svitlana Chernykh/Zachary Elkins, „Commitment and Diffusion: How and Why National Constitutions Incorporate International Law“, University of Illinois Law Review 201 (2008), 201–237 und Anne Peters, „Precommitment Theory Applied to International Law: Between Sovereignty and Triviality“, University of Illinois Law Review 201 (2008), 239–252.
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rechte, die das Produkt eines zweiten Zeitalters der Migration der Grundrechte sind. Inzwischen waren die deutschen Grundrechte und das BVerfG selbst Bezugspunkt neu gegründeter Verfassungsordnungen geworden, wie man an den Verfassungen Griechenlands (1975), Portugals (1976), Spaniens (1978), Ungarns (1989) und anderer Staaten ersehen kann.9 Der vorliegende Beitrag will zunächst den verschiedenen Schüben nachgehen, in denen sich die Migration der Grundrechte bisher ereignet hat. Seine erste These lautet, dass dies in drei Phasen geschehen ist: Nach der Ausbreitung der Grundrechtskataloge des 19. Jahrhunderts, der ersten Phase, setzte die zweite Phase nach 1945 ein, als völkerrechtliche Verträge und internationale judizielle und quasijudizielle Systeme geschaffen wurden, die Einzelnen Schutz vor seinem eigenen Staat bieten sollten. Während in der ersten Phase die Universalität der Menschenrechte die treibende Kraft ihrer Verbreitung war, war die zweite von Debatten über ihre kulturelle Relativität begleitet. Die dritte Phase begann in den frühen 1990er Jahren und ist durch verschiedene Arten von Rechtstransfers aus der Welt der „liberalen“ Staaten in andere Systeme gekennzeichnet, die von privaten und staatlichen Akteuren ausgingen, seien dies internationale Organisationen, Entwicklungshilfeeinrichtungen, Wirtschaftsunternehmen, Anwaltskanzleien oder NGOs. Während dieser Zeit, so die zweite These, hatten die Grund- und Menschenrechte für die Herkunfts- und die Zielländer unterschiedliche Funktionen zu erfüllen, wurden Teil einer komplexen normativen Schichtung und vertieften einen Prozess der Relativierung, der bereits in der zweiten Phase eingesetzt hatte. Die dritte These ist, dass dieser Mangel an Einheitlichkeit im Verständnis der Grund- und Menschenrechte gleichwohl das Potenzial für ihre Universalität erhält, indem er es verschiedenen Rechtskulturen erlaubt, durch eine eigenständige Anpassungsleistung den größten Teil der Substanz der Rechte zu bewahren. Um diese Thesen zu entfalten, rekapitulieren die Abschnitte II und III die ersten beiden Phasen der Migration der Rechte und der Herausbildung ihrer normativen Relativität. Teil IV wird sich mit ihrer Entterritorialisierung beschäftigen. In Teil V wird ein prozedurales Verständnis skizziert, das die Legitimitätsprobleme anspricht, die sich aus dem Universalitätsanspruch der Grundrechte ergeben.
9 Frederick Schauer, „On the Migration of Constitutional Ideas“, Connecticut Law Review 37 (2005), 907–919, 910; Peter Häberle, „Wechselwirkungen zwischen deutschen und ausländischen Verfassungen“, in: Detlef Merten/Hans-Jürgen Papier (Hgg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. 1, Heidelberg 2004, § 7 Rn. 11 und 35; zur Rezeption der Lüth-Entscheidung im Ausland Wahl, Die objektiv-rechtliche Dimension der Grundrechte, Rn. 28–52; s. auch Rensmann, Wertordnung und Verfassung, 266–268.
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II. Die erste Phase der Migration der Grundrechte: Amerikanische Erklärungen, die Französische Revolution und der Konstitutionalismus des 19. Jahrhunderts Die Geschichte der Migration der Grundrechte von den Vereinigten Staaten nach Frankreich und von dort zu vielen anderen Staaten in Europa ist oft dargestellt worden. Obwohl die amerikanische Abstammung des französischen Rechtekatalogs meist vorausgesetzt wird10, ist sie nicht nur in Frankreich umstritten geblieben.11 Dagegen spielt die englische Tradition im kontinentalen Narrativ Europas kaum eine Rolle.12 Danach sind die Magna Charta (1215), die Petition of Right (1628), der Habeas Corpus Act (1679) und die Bill of Rights (1689) lediglich Zeugnisse von Konflikten zwischen König und Adel oder zwischen Krone und Parlament und werden deshalb eher der Entstehung der konstitutionellen Monarchie zugerechnet als der Herausbildung der Grundrechte. Sie gelten als bloße Auswirkungen eines politischen Prozesses, der in die Souveränität des Parlaments mündete. Allerdings ist diese Ansicht nicht unumstritten.13 Einer anderen Lesart zufolge können die Garantien, die im 17. Jahrhundert in den englischen Verfassungsurkunden niedergelegt worden sind, als Vorgänger bürgerlicher Rechte gegen staatliche Macht verstanden werden und haben somit ihren Platz in der Geschichte der Grund-, wenn nicht der Menschenrechte.14 Unter diesem Vorbehalt steht es, wenn hier der Prozess der allmählichen Kodifizierung der Menschenrechte so aufgenommen wird, wie dies üblicherweise 10 Prägend Georg Jellinek, Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, Leipzig 1895; vgl. Andreas Haratsch, Die Geschichte der Menschenrechte, Potsdam, 3. Aufl. 2006, 35; allerdings ist man sich heute weitgehend einig, dass die amerikanischen Proklamationen nicht auf das religiöse Denken der Reformationszeit zurückgeführt werden können, wie Jellinek annahm, s. Oestreich, Geschichte, 57–74. 11 Emile Boutmy, „La déclaration des droits de l’homme et du citoyen et Georg Jellinek“, Annales des Sciences Politiques XVII (1902), 415–443; übers. und neu gedruckt als „Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte und Georg Jellinek“, in: Roman Schnur (Hg.), Zur Geschichte der Erklärung der Menschenrechte, Darmstadt 1964, 78–112; Alfred Voigt, Geschichte der Grundrechte, Stuttgart 1948, 26–30; Felix Ermacora, Menschenrechte in der sich wandelnden Welt, Bd. 1, Wien 1974 (= Menschenrechte in der sich wandelnden Welt), 98–100; Eike Wolgast, Geschichte der Menschen- und Bürgerrechte, Stuttgart 2009, 51 f. 12 Hasso Hofmann, „Die Grundrechte 1789 – 1949 – 1989“, Neue Juristische Wochenschrift 42 (1989), 3177–3187, 3178. 13 Lois G. Schwoerer, T he Declaration of Rights, 1689, Baltimore/London 1981, 281–292; Alfred W.B. Simpson, Human Rights and the End of Empire: Britain and the Genesis of the European Convention, Oxford 2001 (= Human Rights and the End of Empire), 20–37; Michael Weinzierl, „Grund- und Menschenrechte in Großbritannien (16.–19. Jahrhundert)“, in: Margarete Grandner/Wolfgang Schmale/Michael Weinzierl (Hgg.), Grund- und Menschenrechte: Historische Perspektiven – Aktuelle Problematiken, Wien/München 2002, 101–118, 101–107. 14 Zu Beispielen David Feldman, Civil Liberties and Human Rights in England and Wales, Oxford 1993, 127, 286–288.
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geschieht. Danach beginnt die Geschichte der Menschenrechte mit den Bills of Rights amerikanischer Staaten wie Connecticut, North Carolina, Pennsylvania, Vermont, Virginia und anderen (1776/77) und der Amerikanischen Unabhängigkeitserklärung (1776). Diese Manifeste gelten als durch Blackstone’s Verständnis der europäischen politischen Philosophie des 17. und 18. Jahrhundert geprägt15 und dienten als Vorbild für die Déclaration des droits de l’homme et du citoyen von 1789.16 Dem ihr zugrunde liegenden französischen Verständnis zufolge waren die Grund- und Menschenrechte kein Geschenk Gottes, sondern aus der Natur des Menschen als vernunftbegabtem Wesen abgeleitet. Während die amerikanischen Proklamationen der Rechte teils von christlichen Begründungen, teils von dem Bedürfnis, sie gegen koloniale Beherrschung zu verteidigen, geprägt sind, ist die französische Idee der Menschenrechte antiklerikal und ein Versuch, Grundrechte ohne Rückgriff auf den Glauben zu begründen.17 Hier liegt der Ursprung des universellen Geltungsanspruchs der Menschenrechte. Im 19. Jahrhundert schwächte sich der revolutionäre Schwung der frühen Proklamationen ab. Unter dem Schirm der Deutschen Bundesakte (1815) entstanden monarchische Verfassungen mit Grundrechtsgarantien wie in Bayern, Baden (beide 1818) oder Württemberg (1819) nach dem Vorbild der französischen Charte constitutionelle (1814), einem konstitutionellen Kompromiss zwischen revolutionären Kräften und Royalisten.18 Diese Grundrechte wurden nicht mit der Geburt erworben, sondern vom Staat verliehen. Beruhte die revolutionäre französische Idee der Menschenrechte auf der Volkssouveränität einer politischen Gemeinschaft, also auf der Demokratie, mündete die deutsche Vorstellung einer an Individuen gebundenen Rechtsinhaberschaft in den deutschen Rechtsstaat. Die Julirevolution von 1830 brachte eine zweite Welle europäischer Grundrechtskataloge hervor, etwa in Belgien (1831) und in Mitgliedstaaten des Deut15 Oestreich,
Geschichte, 54. Die Verfassungen von 1791 und 1793 (die nicht in Kraft traten) sowie von 1795 und 1799 gingen in Teilen hierauf zurück. Die Verfassung von 1946 rezipierte die Menschenrechtserklärung durch Verweis, ebenso die gegenwärtig geltende Verfassung von 1958. Dagegen waren die Grundrechte lange Zeit nicht Bestandteil der akademischen Lehre des französischen Verfassungsrechts, die sich traditionell auf die politischen Institutionen konzentrierte; dies hat sich unter dem Einfluss europäischen Rechts und der Rechtsvergleichung geändert, s. Louis Favoreu/Patrick Gaïa/Richard Ghevontian/Jean-Louis Mestre/Otto Pfersmann/Guy Scoffoni/André Roux, Droit constitutionnel, Paris, 5. Aufl. 2002, Rn. 1213. 17 Zu antiklerikalen Tendenzen Bronislaw Baczko, „Das Erbe der Französischen Revolution“, in: Ernst-Wolfgang Böckenförde/Robert Spaemann (Hgg.), Menschenrechte und Menschenwürde. Historische Voraussetzungen – säkulare Gestalt – christliches Verständnis, Stuttgart 1987, 31–42, 33–35; Josef Isensee, „Die katholische Kritik an den Menschenrechten. Der liberale Freiheitsentwurf in der Sicht der Päpste des 19. Jahrhunderts“, in: Ernst-Wolfgang Böckenförde/Robert Spaemann (Hgg.), Menschenrechte und Menschenwürde. Historische Voraussetzungen – säkulare Gestalt – christliches Verständnis, Stuttgart 1987, 138–174. 18 Siehe Dieter Grimm, „Grundrechte und Privatrecht in der bürgerlichen Sozialordnung“, in: ders., Recht und Staat in der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt am Main 1987, 192–211, 204. 16
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schen Bundes wie Kurhessen und Sachsen (1831), Braunschweig und Hannover (1832). Nach den Revolutionsjahren 1847/48 beeinflussten, wenn auch in sehr unterschiedlichem Maße, Nationalismus, Liberalismus und Sozialismus die weitere Entwicklung. Sie führten zu Verfassungsreformen in Republiken wie der Schweiz und Frankreich, im Kirchenstaat und in Monarchien wie Piemont (das Statuto Albertino wurde später zur italienischen Staatsverfassung und galt bis 1946), Sizilien, den Niederlanden und Dänemark.19 Die Frankfurter Paulskirchenverfassung (1849) war die deutsche Antwort auf die revolutionären Ereignisse in Europa 1848. Bekanntlich trat sie als Verfassung nicht in Kraft20, doch war sie ein Referenzdokument für andere Verfassungen, etwa in Preußen (1850), Sachsen-Coburg-Gotha, Kurhessen-Waldeck und Oldenburg (alle 1852). Typischerweise waren die Grundrechte an die Staatsangehörigkeit geknüpft. Kataloge dieser Art waren auch Teil der Verfassungen von Griechenland (1864), Rumänien (1866), Spanien (1876), Serbien (1888) und selbst der Imperien der Donaumonarchie (1849/67), des Osmanischen Reiches (1876), Japans (1889) und des zaristischen Russland (1906).21 Die Weimarer Reichsverfassung (1919) baute auf der Idee des republikanischen Nationalstaats auf, die auch die Paulskirchenverfassung inspiriert hatte. Erstmals wurden soziale Rechte aufgenommen, die die Herausbildung der Industriegesellschaft und das Schutzbedürfnis derer reflektierte, die dem bürgerlichen Leitbild der Grundrechtskataloge des 19. Jahrhunderts nicht entsprachen. Zwei Beobachtungen sind für den hier betrachteten Zusammenhang von Interesse, von denen sich die eine auf die Form und die andere auf den Inhalt bezieht. Was die Form betrifft, werden diese Entwicklungen in der Rechtswissenschaft als Belege für die allmähliche Entwicklung konstitutioneller Archetypen gedeutet, womit eine Bewegung vom Typ des Vertrages (zwischen Bürgern und Herrscher) über das „Manifest“ zum Programm und schließlich zum Recht gemeint ist.22 Während danach die englischen Urkunden als Verträge über die Bedingungen der Macht zu lesen sind, folgen die US-amerikanischen und französischen Erklärungen dem Manifest-Typus und repräsentiert die Weimarer Verfas19 Jörg-Detlef Kühne, „Von der bürgerlichen Revolution bis zum Ersten Weltkrieg“, in: Detlef Merten/Hans-Jürgen Papier (Hgg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. 1, Heidelberg 2004, § 3 Rn. 48–57. 20 Der Grundrechtskatalog wurde aber am 27. Dezember 1848 als Gesetz erlassen und blieb so formal drei Jahre bestehen; s. Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 2, Der Kampf um Einheit und Freiheit 1830 bis 1850, Stuttgart 1960, 776–783. 21 Fritz Hartung, Die Entwicklung der Menschen- und Bürgerrechte von 1776 bis zur Gegenwart, Göttingen 1964, 23; Ermacora, Menschenrechte in der sich wandelnden Welt, 122–124. 22 Günter Frankenberg, „T he Return of the Contract – Problems and Pitfalls of European Constitutionalism“, European Law Journal 3 (2000), 257–276; ders., „Comparing Constitutions: Ideas, Ideals, and Ideology – Toward a Layered Narrative“, International Journal of Constitutional Law 4 (2006), 439–459, 451–455.
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sung den Archetyp „Programm“.23 Das Grundgesetz schließlich transformierte diese politischen Forderungen in Recht, das unmittelbare Wirkung hat (Art. 1 Abs. 3 GG).24 So hat die Migration konstitutioneller Elemente durch verschiedene Kulturen zu einer Metamorphose der Form geführt. Im Hinblick auf die Inhalte der Rechte lässt sich festhalten, dass sie nicht bestimmten Staaten zugeordnet werden können. So können verschiedene Verfassungskulturen die Urheberschaft für verschiedene Grund- und Menschenrechte beanspruchen. Auch die Begründungen hinter diesen Ansprüchen können sich unterscheiden. Dies mag ein Hinweis darauf sein, dass eine ähnliche Sprache kein gleiches Verständnis und auch keine Identität im Gehalt voraussetzt. Auch wenn die grenzüberschreitenden Einflüsse zwischen den Verfassungen nicht zu übersehen sind, ist doch Vorsicht angebracht, wenn daraus auf ihre Universalität geschlossen werden soll. So muss, um beim deutschen Beispiel zu bleiben, die Herausbildung der Wertordnung der Grundrechte als Reaktion auf die Weimarer Verfassung und die Zeit ihrer Wirkungslosigkeit verstanden werden, aber auch als Weg, die Einbindung in die Gemeinschaft der westeuropäisch-atlantischen Staaten zu erreichen. Beides kommt in der Formel des Grundgesetzes zum Ausdruck, der zufolge sich das „Deutsche Volk […] zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt“ bekennt (Art. 1 Abs. 2 GG). Dem entspricht es, wenn, wie eingangs festgestellt, das Lüth-Urteil einen auch universellen und komparativen Zugang zur Auslegung der Grundrechte sucht. Doch selbst in dieser Anfangszeit der Bundesrepublik waren die Vorstellungen sehr verschieden, die den Grundrechten zugrundelagen. Unter den Vätern und Müttern des Grundgesetzes fanden sich Anhänger der katholischen Soziallehre, des Protestantismus und säkular-aufklärerischer Philosophien ebenso wie sozialdemokratischer oder kommunistischer Ideologien. Zwar mag es Gewährleistungen im Grundgesetz geben, über deren Gehalt sich die verschiedenen Weltanschauungen weitgehend einig sind, wie das Recht auf Leben, körperliche Unversehrtheit, religiöses Bekenntnis und freie Meinungsäußerung. Doch selbst diese scheinbar unverrückbaren Kerngarantien können im Einzelnen sehr unterschiedlich verstanden werden. Andere Elemente des Grundrechtsteils der Verfassung wie das Recht auf Ehe und Familie, die Koalitionsfreiheit und das 23 Vgl. Gerhard Anschütz, Drei Leitgedanken zur Weimarer Reichsverfassung, Tübingen 1923, 26 (Kompromiss zwischen Bürgertum und Arbeiterklasse); Carl Schmitt, Verfassungslehre, Berlin 1928, 162 („interfraktionelles Kompromißprogramm“). 24 Einige der Garantien der Weimarer Verfassung wurden als unmittelbar anwendbar angesehen, wenn sie auch kaum als Maßstab für die Überprüfung von Gesetzen und Verwaltungsentscheidungen herangezogen wurden, s. Christoph Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung, Tübingen 1997, 280–286. Zur Umwandlung von Grundrechten in unmittelbar anwendbares Recht in Frankreich und Großbritannien vgl. Antje von Ungern-Sternberg, Religionsfreiheit in Europa, Tübingen 2009, 89–99 und 151–163.
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Verhältnis zwischen Kirche und Staat waren seit jeher Gegenstand von Kontroversen.25 So kann „die“ westliche Konzeption der Menschenrechte, die in politischen Debatten oft als einheitliches Konstrukt unterstellt wird, bereits innerhalb eines Staates ein heterogenes normatives Gefüge sein. Grundrechte, wie sie sich in den Verfassungen finden, sind also nur in einem sehr speziellen Sinne universell. Trotz der Versuche, die rechtsvergleichende Methode als Auslegungstechnik zu etablieren26, und trotz des berechtigten Insistierens der Völkerrechtler auf einer getreuen Umsetzung der Menschenrechtskonventionen27 ist es nicht selbstverständlich, dass Verfassungsgerichte individuelle Rechte nach universellen Standards auslegen, wie auch immer ein solcher Universalismus aussehen mag. In den USA etwa ist hierüber eine verfassungsrechtliche Debatte entbrannt28, und auch sonst hält sich der Einfluss vergleichenden Verfassungsdenkens in engen Grenzen. Das Görgülü-Urteil wählt einen anderen Ansatz, indem es sich zunächst auf die ältere Rechtsprechung des BVerfG bezieht, dass das Grundgesetz im Einklang mit der EMRK auszulegen sei, dann aber Ausnahmebereiche benennt, in denen die „schematische“ Umsetzung von Urteilen des EGMR verfassungswidrig sein soll.29 Trotz aller gegenseitigen Beeinflussung zwischen den Verfassungen und zwischen ihnen und internationalen Konventionen ist es also dabei geblieben, dass Grund- und Menschenrechte auf mindestens zwei Stufen, nämlich der innerstaatlichen und der völkerrechtlichen, bestehen30 und dementsprechend zumindest analytisch unterschieden werden müssen. Ihnen liegt kein gemeinsames Verständnis der internationalen Gemeinschaft und ihrer Mitglieder zugrunde, 25 Friedhelm Hufen, „Entstehung und Entwicklung der Grundrechte“, Neue Juristische Wochenschrift 52 (1999), 1505–1510, 1506 m.w.N. 26 Peter Häberle, „Grundrechtsgeltung und Grundrechtsinterpretation im Verfassungsstaat. Zugleich zur Rechtsvergleichung als ‚fünfter‘ Auslegungsmethode“, Juristenzeitung 44 (1989), 913–919. 27 Vgl. dazu Jochen Frowein, „Kritische Bemerkungen zur Lage des deutschen Staatsrechts aus rechtsvergleichender Sicht“, Juristenzeitung 53 (1998), 806–811. 28 Zur Debatte über 539 U.S. (2003), Lawrence v Texas, s. u.a. J. Andrew Atkinson, „King Arthur in a Yankee Court: The United States Supreme Court’s Use of European Law in Law rence v Texas“, ILSA Journal of International & Comparative Law 10 (2003), 143–166; Rex D. Glensy, „Which Countries Count? Lawrence v Texas and the Selection of Foreign Persuasive Authority“, Virginia Journal of International Law 45 (2005), 357–449; Sujit Choudhry, „Migration as a New Metaphor in Comparative Constitutional Law“, in: ders., The Migration of Constitutional Ideas, Cambridge 2006, 1–25. 29 BVerfGE 111, 307. 30 Für Staaten, die, wie Österreich und die Schweiz die EMRK, Menschenrechtskonventionen unmittelbar in das innerstaatliche Recht inkorporiert haben, gibt es theoretisch nur einen Schutzstandard. Andererseits kann die Praxis ihrer Gerichte von der Rechtsprechung internationaler Gerichte wie des EGMR abweichen. Zudem gibt es in föderal oder regionalistisch organisierten Rechtsordnungen zuweilen auch eine dritte Grundrechtsebene, und regionale Organisationen wie die EU können eine weitere Ebene einziehen.
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sondern ihre Bedeutung variiert nach institutionellem und politischem Zusammenhang. Zu fragen ist nun, wie weit völkerrechtliche Verträge in sich einen universellen Standard verkörpern und wie sie sich zur Ebene des innerstaatlichen Rechts verhalten.
III. Die zweite Phase der Migration: Internationalisierung der Grundrechte nach 1945 1. Grundlagen Die zweite Epoche der Migration der Grundrechte begann nach dem Zweiten Weltkrieg. Schon zuvor hatte es völkerrechtliche Normen gegeben, die einen Schutz Einzelner bewirken sollten, wie das gewohnheitsrechtliche Fremdenrecht, Konventionen gegen die Sklaverei und den Sklavenhandel, Regeln über die Kriegsführung, Friedensverträge mit Minderheitenschutzklauseln und Konventionen der International Labour Organization (ILO) über Rechte von Arbeiterinnen und Arbeitern. Dabei war die Rechtsstellung Einzelner immer durch die Staaten mediatisiert, so dass ihre Rechte nur Reflexe staatlicher Pflichten blieben. Zudem waren die Inhalte dieser Rechte, gemessen an Grundrechten staatlicher Verfassungen, disparat und fragmentarisch. Erst nach 1945 wurden ganze Grundrechtskataloge, die auch den eigenen Staat verpflichteten, Gegenstand völkerrechtlicher Verträge. Der Begriff der Menschenrechte, der zuvor in den Manifesten der Revolutionsepoche verwendet worden war, wurde zum Rechtsbegriff. Seine Verwendung in den Texten der 1940er Jahre stellte diese Verbindung bewusst her. Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 (AEMR) nimmt die Sprache der Französischen Erklärung auf: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren“.31 Der Text der AEMR war von verschiedenen Rechtstraditionen beeinflusst, vor allem aber prägten ihn US-amerikanisches, britisches und französisches Denken, da viele ihrer Verfasser an Universitäten dieser Länder studiert hatten.32 31 Vgl. Artikel 1 der Déclaration des droits de l’homme: „Les hommes naissent et demeurent libres et égaux en droit […]“; zur Entstehungsgeschichte Johannes Morsink, The Universal Declaration of Human Rights – Origins, Drafting and Intent, Philadelphia 1999, 281–302. 32 Meist wird, von Eleanor Roosevelt abgesehen, dem American Law Institute und René Cassin der größte Einfluss zugesprochen; s. René Cassin, „La Déclaration Universelle et la mise en œuvre des droits de l’homme“, Recueil des Cours 79 (1951), 237–364; Robert Charvon, „R. Cassin et la Déclaration Universelle des Droits de l’Homme“, Revue Belge de Droit International 31 (1998), 321–337; Mary Ann Glendon, A World Made New: Eleanor Roosevelt and the Universal Declaration of Human Rights, New York 2001; s. auch John P. Humphrey, „The Universal Declaration of Human Rights: Its History, Impact and Judicial Character“, in: Bertrand G. Ramcharan (Hg.), Human Rights. Thirty Years after the Universal Declaration, Den Haag 1979, 21–28; Simpson, Human Rights and the End of Empire, 361–377 und 418–421; zur Rezeption Jochen von Bernstorff, „The Changing Fortunes of the Universal
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Diese Resolution der UN-Generalversammlung33 bildete die Grundlage der beiden Menschenrechtspakte der Vereinten Nationen über bürgerliche und politische (sog. Zivilpakt) sowie über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (Sozialpakt, beide von 1966). Die EMRK nahm die bürgerlichen Rechte der AEMR ebenso auf34 wie die Amerikanische Konvention von 1969, die ihr weitgehend folgt35. Es überrascht daher nicht, wenn diese Texte als Konsens westlicher Demokratien aufgefasst werden und ihre Verbreitung aus dieser Sicht als Geschichte des Fortschritts berichtet wird. Man kann von einem „relativen Universalismus“ sprechen.36 Dieses Verständnis hat in erheblichem Maße zur seit den 1970er Jahren andauernden Debatte um den kulturellen Relativismus der Menschenrechte beigetragen.37 Die Verbreitung der Menschenrechte lässt sich indessen nicht auf eine Geschichte der Expansion westlicher Werte reduzieren. Die Afrikanische Charta der Rechte des Menschen und der Völker (1981)38, von islamischen Staaten verabschiedete Menschenrechtsdokumente39 und die Einsetzung einer MenschenDeclaration of Human Rights: Genesis and Symbolic Dimensions of the Turn to Rights in International Law“, European Journal of International Law 19 (2008), 903–924. 33 Resolution 217 (III) vom 10. Dezember 1948, UN General Assembly Official Records, Part I, Resolutions (Doc A/810), 71; der Text wurde von 48 Staaten ohne Gegenstimme angenommen, bei acht Enthaltungen (Jugoslawien, Polen, Saudi-Arabien, Sowjetunion, Südafrika, Tschechoslowakei, Ukraine und Weißrussland). 34 Karl Josef Partsch, „Die Entstehung der europäischen Menschenrechtskonvention“, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 15 (1953/54), 631–660, 636–656; Simpson, Human Rights and the End of Empire, 650–675; Rainer Grote, „Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte der EMRK“, in: Oliver Dörr/Rainer Grote/Thilo Marauhn (Hgg.), EMRK/GG Konkordanz-Kommentar, Tübingen, 2. Aufl. 2013, Kapitel 1 Rn. 13. 35 Bei genauerer Betrachtung ergibt sich ein differenzierteres Bild, s. Jochen Frowein, „Die Europäische und die Amerikanische Menschenrechtskonvention – ein Vergleich“, Europäische Grundrechte-Zeitschrift 7 (1980), 442–449. 36 Vgl. etwa Klaus Stern, „Menschenrechte als universales Leitprinzip“, in: Detlef Merten/Hans-Jürgen Papier (Hgg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. 6,2, Heidelberg 2009 (= Menschenrechte als universales Leitprinzip), § 185 Rn. 44–48. 37 Zusammenfassung der Debatte bei Ludger Kühnhardt, Die Universalität der Menschenrechte, Bonn, 2. Aufl. 1991 (= Die Universalität der Menschenrechte), 133–141 und 231– 243; Declan O’Sullivan, „The History of Human Rights across the Regions: Universalism vs Cultural Relativism“, International Journal of Human Rights 2 (1998), 22–48; Eibe Riedel, „Universality of Human Rights and Cultural Pluralism“, in: ders., Die Universalität der Menschenrechte. Philosophische Grundlagen. Nationale Gewährleistungen. Internationale Garantien, hg. von Christian Koenig und Alexander Lorz, Berlin 2003, 139–162; Niels Petersen, „International Law, Cultural Diversity, and Democratic Rule: Beyond the Divide Between Universalism and Relativism“, Asian Journal of International Law 1 (2011), 149–163. 38 Zur Geschichte Rachel Murray, Human Rights in Africa: From the OAU to the African Union, Cambridge 2004, 1–48. 39 Siehe bspw. die Cairo Declaration on Human Rights in Islam of the Organisation of the Islamic Conference vom 5. August 1990, UN General Assembly doc. A/CONF.157/ PCAdd.18, 9. Juni 1993.
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rechtskommission der Association of Southeast Asian Nations (ASEAN)40 etwa zeigen, dass die Menschenrechte nicht auf den „Norden“ und den „Westen“ beschränkt sind. Die Verfassungen so verschiedener Staaten wie Afghanistan, Äthiopien, Kambodscha, Nicaragua, Ruanda, Rumänien und Tschad beziehen sich auf die AEMR. Verfassungs- und Obergerichte in Argentinien, Chile, Indien, Italien, den Philippinen und Tansania haben sie genutzt, um ihr Verfassungsrecht auszulegen.41 Wenn auch manche dieser Verfassungen postkolonialen Ursprungs sind42 oder auf Friedensverträge nach kriegerischen Auseinandersetzungen zurückgehen, ist es doch schwer zu bestreiten, dass die AEMR einen Teil des Verfassungsrechts und der Rechtspraxis vieler Staaten beeinflusst hat. Andererseits führen das Erfordernis innerstaatlicher Umsetzung und Unterschiede in der kulturellen Einbettung des Rechts zu verschiedenartigen Ausprägungen des Universalitätsanspruchs der Menschenrechte. So ist es denkbar, dass selbst die vereinheitlichende Kraft des Völkerrechts politischen und rechtlichen Widerständen begegnet, die für einen relativistischen Standpunkt sprechen. 2. Universelle Menschenrechte und staatliche Vorbehalte Abgesehen von ihrem Teilnehmerkreis machen zwei Elemente der internationalen Menschenrechtskonventionen deren Universalität aus. Zum einen liegt ihnen die Idee zugrunde, dass die öffentliche Gewalt für die Maßnahmen verantwortlich ist, mit denen sie Personen unter ihrer Herrschaft gegenübertritt. Man kann dies das konstitutionelle Element der Menschenrechtsverträge nennen. Zum zweiten sind sich die Mitgliedstaaten darin einig, dass es eine Form überstaatlicher Kontrolle und damit eine diskursive Bearbeitung von Verletzungsvorwürfen geben muss. Dies kann man als das völkerrechtliche Element des Menschenrechtsschutzes bezeichnen. Die Idee hinter beiden Elementen ist, dass der Staat gute Gründe angeben muss, wenn er in die Rechte Einzelner eingreift. Der genaue Umfang der Rechte und die Gründe, die Eingriffe rechtfertigen, sind indessen oft umstritten. Kompromisse in den Texten der internationalen 40 Hao Duy Phan, „T he Evolution towards an ASEAN Human Rights Body“, Asia Pacific Journal of Human Rights & the Law 9 (2008), 1–12; Terms of Reference for the Establishment of the ASEAN Intergovernmental Commission On Human Rights of 19–20 July 2009, abgedr. in International Legal Materials 48 (2009), 1162. 41 See Hurst Hannum, „T he Status of the Universal Declaration of Human Rights“, Georgetown Journal of International & Comparative Law 25 (1995/96), 287–397, 355 f.; Martin Nettesheim, „Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und ihre Rechtsnatur“, in: Detlef Merten/Hans-Jürgen Papier (Hgg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. 1, Heidelberg 2004, § 173 Tn. 29–32 m.w.N. 42 Christian Tomuschat, „Is Universality of Human Rights Standards an Outdated and Utopian Concept?“, in: Roland Bieber/Albert Bleckmann/Francesco Capotorti (Hgg.), Das Europa der zweiten Generation – Gedächtnisschrift für Christoph Sasse, Kehl/Strasbourg 1981, 585–609, 589.
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Konventionen deuten bereits auf solche Uneinigkeiten hin. Ein Beispiel ist die Definition der Folter in Artikel 1 Abs. 1 der UN-Konvention gegen die Folter (CAT), die körperliche Strafen ausschließt, wie sie in einigen Staaten üblich sind, welche für sich in Anspruch nehmen, die Scharia anzuwenden.43 Bekanntlich haben die Administration des Präsidenten George W. Bush und einige Juristen in den USA die Ansicht vertreten, dass bestimmte Verhörtechniken, für die in anderem Kontext bereits Verstöße gegen das Folterverbot festgestellt worden sind, gleichfalls nicht als dessen Verletzung gelten sollen.44 Weitere Zeichen der Uneinigkeit sind Memoranda of Understanding, Auslegungserklärungen und Vorbehalte, die Vertragsparteien der CAT und anderer Konventionen ihren Ratifikationserklärungen beigefügt haben. Viele davon zielen darauf ab, Konflikte mit staatlichen Verfassungen zu vermeiden oder haben Motive, die aus religiösem Recht abgeleitet werden.45 Solche einseitigen Erklärungen belegen, wie problematisch Bezüge auf die Existenz „regionaler“ Menschenrechtskonzepte sein können, womit im Kontext der UNO und der Menschenrechte immer ganze Kontinente gemeint sind. Es bedarf nur eines Blickes auf die Heterogenität der Vertragsparteien der Afrikanischen Charta, den Kulturunterschied zwischen den beiden Subkontinenten Amerikas oder das pluralistische Universum Asiens, um zu sehen, dass die Vorstellung einer „Region“ mit gleichen Wertvorstellungen fragwürdig ist. Selbst Europa, das in rechtlichen Texten und in der politischen Rhetorik häufig als „Wertegemeinschaft“ bezeichnet wird46, zeigt dies deutlich. So finden sich innerhalb des Europarates sehr unterschiedliche Vorstellungen über das Verhältnis von verfassten Religionsgemeinschaften und Staat. Das Spektrum reicht von sich als säkular verstehenden Staaten wie Frankreich und – traditionell – der Türkei bis hin zu Staatskirchen wie in Griechenland und Zypern. Therapeutisches Klonen, um ein anderes Beispiel zu nennen, wird in Deutschland als Problem der Menschenwürde angesehen, während es andere Staaten womöglich durch Forschungssubventionen fördern. Es gibt also unterschiedliche Präferenzen, die ihren Ursprung in der Geschichte, der kulturellen Orientierung und in den Wirtschaftssystemen der in den jeweiligen Verfassungsordnungen organisierten Gesellschaften haben. Aus einer wertorientierten Perspektive mag die Internationalisierung dann als Bedrohung ihrer kulturellen Substanz empfunden wer
43 Sadiq Reza, „Torture and Islamic Law“, Chicago Journal of International Law 8 (2007), 21–41, 34–38. 44 Siehe etwa Alan Dershovitz, „T he Torture Warrant“, New York Law School Law Review 48 (2003), 275–294; zur Diskussion solcher Vorstellungen aus völkerrechtlicher Perspektive Richard Bilder/Detlev Vagts, „Speaking Law to Power: Lawyers and Torture“, American Journal of International Law 98 (2004), 689–695. 45 Vgl. etwa Belinda Clark, „T he Vienna Convention Reservations Regime and the Convention on Discrimination against Women“, American Journal of International Law 85 (1991), 281–321. 46 Vgl. Stern, Menschenrechte als universales Leitprinzip.
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den. Zuweilen wird dem Konzept europäischer Menschrechte selbst mit Skepsis begegnet, nicht nur in der Form, die es im Rahmen der Europäischen Union angenommen hat, sondern auch in Gestalt der Rechtsprechung des EGMR. Der Grund kann darin liegen, dass man den eigenen Schutzstandard als höherwertig versteht, wie dies beim BVerfG der Fall ist, weil man andere Prioritäten setzt, wie Vorbehalte Großbritanniens und Polens zur Geltung der Grundrechte-Charta der EU nach dem Lissabonner Vertrag zum Ausdruck bringen, oder weil neuerdings wieder die staatliche Souveränität als Grenze der Menschenrechte aufgebaut wird wie in der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts Russlands zu Urteilen des EGMR.47 Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass bereits innerhalb einer Verfassungsordnung ein Pluralismus verschiedener Menschenrechtskonzeptionen existieren kann. Wie die Erfahrungen im Europarat zeigen, ist auch regionale Homogenität ein fragiles Konzept. Anscheinend können unterschiedliche Vorstellungen von den Menschenrechten nebeneinander bestehen. Es gibt Bereiche, bei denen sie einander überschneiden, und solche, in denen sie sich unterscheiden. Universalität muss nicht Einheitlichkeit bedeuten. Das Verhältnis zwischen staatlicher, regionaler und internationaler Ebene lässt sich, mit einer Anleihe bei Michael Walzer, als Relation zwischen „dick“ und „dünn“ beschreiben48: Während innerstaatliches Recht die „dicke“ Schicht rechtlicher Kultur darstellt, die voller eigener Voraussetzungen der Geschichte ihrer Gesellschaft ist, besteht die „dünne“ Schicht aus enttraditionalisierten Rechten und Pflichten, also Normen, die die Aufgabe erfüllen, absolute Kerngehalte der Menschenrechte zu schützen, für die die Staaten gegenüber anderen Staaten Verantwortung übernommen haben, mit denen sie sonst nicht allzu viel gemeinsam haben müssen.49 Die Unterschiede zwischen „dick“ und „dünn“ lassen sich deutlicher erkennen, wenn man das Verhältnis zwischen nicht-westlichen normativen Ordnungen und Menschenrechten betrachtet. Dieser Versuch wird im folgenden Abschnitt unternommen. Er soll der Frage nachgehen, wie viel sich über die 47 Verfassungsgericht der Russischen Föderation, Resolution No. 21–P/2015 auf Ersuchen von Angehörigen der Staatsduma, 14. Juli 2015, engl. Übersetzung von Maria Smirnova, http://transnational-constitution.blogspot.de/2015/08/russian-constitutional-court-deci sion.html. Der Russische Präsident unterzeichnete am 15. Dezember 2015 ein Gesetz, das die Verbindlichkeit eines EGMR-Urteils auf Antrag des Präsidenten von einer Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs abhängig macht, Zusammenfassung unter http://en.kremlin. ru/acts/news/50935 (06.08.2016). 48 Michael Walzer, T hick and T hin. Moral Argument at Home and Abroad, Notre Dame/ London 1994, 63–83. 49 Welche Rechte zu einem solchen Kernbestand gehören sollen, ist nicht nur in der Philosophie umstritten. Der Katalog, den John Rawls, The Law of Peoples, Cambridge, MA 1999, 65 vorschlägt (Recht auf Leben, Freiheit, Eigentum und formale Gleichheit), wird vor dem Hintergrund der AEMR kritisch betrachtet von Seyla Benhabib, „Ein anderer Universalismus: Einheit und Vielfalt der Menschenrechte“, Deutsche Zeitschrift für Philosophie 55 (2007), 501–519 (= Ein anderer Universalismus), 504.
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Offenheit anderer normativer Umgebungen als derjenigen der westlichen Verfassungsstaaten sagen lässt. Hierzu wird, einer durch die politische Tagesdebatte nahegelegten Intuition folgend, zunächst die Religion als Differenzierungskriterium gewählt, wenn sich dabei auch herausstellen wird, dass sie allein dafür nicht recht geeignet ist. 3. Menschenrechte und normativer Pluralismus: Die Konfrontation mit nicht-westlichen Konzepten der Rechte a. Islam Es wird immer wieder versucht, die Menschenrechte im Geiste des Islam zu rekonstruieren.50 Dafür wird die Ableitung allen Rechts von Gott angeführt und der naturrechtliche Charakter, den Rechte danach haben. Der Koran wird als Autorität herangezogen, um Rechte wie den Schutz von Leib und Leben, persönliche Freiheit, Eigentum oder das Recht auf Gemeinschaft zu begründen. Was derartige Rekonstruktionen problematisch macht, ist der Kontext, in dem Rechte dort formuliert werden. Der Mensch hat gegenüber der Gemeinschaft viele Pflichten, was zu einem rechtebasierten Ansatz in Spannung steht. Es gibt auch keine systematische Trennung zwischen Staat und Gesellschaft oder zwischen Staat und Religion. So ist der Sinn der modernen Menschenrechtsidee, eine letzte Schranke zum Schutz des Menschen vor der öffentlichen Gewalt zu errichten, nicht Teil der tradierten islamischen Rechtskonzeption. Allerdings zeigt dies auch, dass die Quellen des Islam kaum auf Einfluss auf die Organisation öffentlicher Gewalt berechnet sind, wenn sie ihr nicht sogar indifferent gegenüberstehen. Die Vielfalt der Staatsformen, deren Gesellschaften sich ganz oder mehrheitlich als muslimisch verstehen, scheint dies zu belegen. Sie können Republiken sein (bisher die Türkei), mehr oder weniger stabile Präsidialdemokratien (Indonesien, Iran, Mali, Pakistan, Tunesien), Oligarchien (Malaysia, Syrien) oder altsozialistische Einparteienstaaten (Algerien). Es gibt Varianten konstitutioneller Monarchien (Marokko, Jordanien), autokratische Regime (Saudi-Arabien, Brunei), tribale Scheichtümer (Emirate, Kuwait), komplizierte Arrangements diverser gesellschaftlicher Kräfte (Afghanistan, Libanon, Libyen) oder einfach Polizeistaaten im Gewande eines Präsidialsystems mit variabler politischer Orientierung (Ägypten).
50 Siehe bspw. Muhammad Zafrullah Khan, Islam and Human Rights, London 1967; Syed Abul A’la Mawdudi, Human Rights in Islam, London 1979; Recep Senturk, „Sociology of Rights: ‚I Am Therefore I Have Rights‘: Human Rights in Islam between Universalistic and Communalistic Perspectives“, Muslim World Journal of Human Rights 2 (2005), 1–31; Mohammad Hshim Kamali, The Right to Life, Security, Privacy and Ownership in Islam, Cambridge 2008; ders., Shari’ah Law – An Introduction, Oxford 2008, 199–223.
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Viele dieser Staaten haben sich völkerrechtlich an menschenrechtliche Konventionen gebunden.51 Wie diese Pflichten mit islamischem Rechtsdenken zu vereinbaren sind, ist umstritten. Die Ansichten sind sowohl im Hinblick auf die Koexistenz des Islam selbst mit den Menschenrechten als auch auf die Auslegung einzelner Garantien geteilt. Viele Rechtsordnungen haben sich der Scharia geöffnet, ebenso wie internationale Referenzdokumente mit Menschenrechten, die islamische Staaten angenommen haben.52 Eine allgemeine Unterordnung unter die Scharia scheint menschenrechtlichen Ansprüchen, insbesondere im Strafrecht und im Familienrecht, zu widersprechen. Das Problem ist aber in erster Linie die Unsicherheit über den Inhalt, auf den sich solche Vorbehalte beziehen. Islam und Scharia sind nicht homogene normative Ordnungen, sondern, wie wohl alle Religionen, theologischer wie rechtlicher Debatte und unterschiedlichen Praktiken zugänglich. Wenn Stellungnahmen aus der politischen Sphäre, sei es aus dem Osten oder dem Westen, die Ansicht kundtun, der Islam sei mit den Menschenrechten unvereinbar, so liegt dem oft ein Mangel an Differenzierung zwischen religiöser Lehre und politscher Praxis zugrunde. Politische Eliten berufen sich auf traditionale Regelhaftigkeiten, wenn es ihren Interessen dienlich ist. Dies folgt aber dann einer politischen Absicht und nicht notwendig einer reflektierten Rezeption islamischen Denkens.53 b. Hinduismus Ein anschauliches Beispiel für normativen Pluralismus ist die Koexistenz von Hinduismus und einer säkularen Verfassungsordnung in Indien. Was gesellschaftliche Praktiken betrifft, scheinen in ländlichen Gegenden archaische Normen aller Art ein dauerhaftes Leben zu führen, ob sie religiös inspiriert sind oder nicht. Vor allem das Kastensystem, das einen essentiellen Teil traditionellen hinduistischen Denkens ausmacht, steht in klarem Widerspruch zur zentralen Voraussetzung der Menschenrechte, dass alle Menschen gleich an Rechten geboren 51 Unter den Vertragsparteien des UN-Zivilpaktes finden sich u.a. Afghanistan, Ägypten, Algerien, Aserbaidschan, Irak, Iran, Jemen, Jordanien, Kuwait, Libanon, Libyen, Marokko, Niger, Somalia, Sudan, Syrien, Tunesien, Turkmenistan und Usbekistan, s. den Ratifikationsstand der universellen Menschenrechtsverträge unter www2.ohcr.org (06.08.2016). 52 Siehe bspw. die Cairo Declaration on Human Rights in Islam of the Organisation of the Islamic Conference vom 5. August 1990, UN General Assembly doc. A/CONF.157/ PCAdd.18, 9. Juni 1993. Artikel 24: „All the rights and privileges stipulated in this Declaration are subject to the Islamic Shari’ah.“ Weitere Nachweise bei Abdullahi Ahmed AnNa’im, „Human Rights in the Arab World: A Regional Perspective“, Human Rights Quarterly 23 (2001), 712–720. 53 Dazu Ann Elizabeth Mayer, Islam and Human Rights, Boulder, 4. Aufl. 2006; zum Verhältnis zwischen Islam, politischer Kultur und Menschenrechten im Vergleich zu nicht-islamischen Staaten des globalen Südens Daniel Price, „Islam and Human Rights: A Case of Deceptive First Appearances“, Journal of the Scientific Study of Religion 41 (2002), 213–225.
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sind.54 Daher ist es sehr fraglich, ob die hinduistische Philosophie mit den Menschenrechten vereinbar ist.55 Es gibt aber Elemente im politischen Denken und in der indischen Rechtsordnung, die in diese Richtung weisen. Die frühe politische Philosophie wird als ein Ursprung der interreligiösen Toleranz verstanden, sowohl in Form eines allgemeinen Rechtsprinzips als auch als Quelle der modernen konstitutionellen Monarchie.56 Seit dem 19. Jahrhundert beriefen sich politische Aktivisten gegenüber der Kolonialherrschaft und Privilegien britischer Staatsbürger auf englische Bürgerrechtsideen. Indiens erste Verfassung von 1850 führte individuelle Rechte auf, die aber gegenüber Indern erheblich eingeschränkt waren. Nach der Unabhängigkeit 1947 wurden diese Beschränkungen aus dem Verfassungstext (1948) herausgenommen und ein umfassender Grundrechtskatalog eingefügt. Zudem hat Indien die meisten völkerrechtlichen Verträge zum Schutz der Menschenrechte ratifiziert.57 c. Buddhismus Wie der Hinduismus scheint auch der Buddhismus keine tiefen Spuren in den Verfassungen von Staaten hinterlassen zu haben. In Laos endete sein Status als Staatsreligion 1975. In Sri Lanka genießt er gewisse Privilegien, ähnlich wie sie in anderen Verfassungen den Kirchen gewährt werden. Doch ist der Buddhismus als soziale Macht einflussreich, sei es als wichtige normative Orientierung für große Teile der Gesellschaft wie in Thailand und Nepal, sei es als bewegende Kraft hinter politischem Protest wie in Burma und Tibet. Man hat versucht, die AEMR im Sinne des Buddhismus zu erklären. In historischer Perspektive wird auf die Lehre vom „guten König“ in frühen Schriften hingewiesen, welche die Offenheit des Buddhismus gegenüber dem Menschenrechtsgedanken bezeuge.58 Andere führen Gegenargumente an. So sind zentrale
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David Keane, „Why the Hindu Caste System Presents a New Challenge for Human Rights“, in: Javaid Rehman/Susan Breau (Hgg.), Religion, Human Rights and International Law, Leiden/Boston 2007, 281–317. 55 In diesem Sinne S.V. Puntambekar, „T he Hindu concept of human rights“, in: U NESCO/Jacques Maritain (Hgg.), Human Rights: Comments and Interpretations, New York 1949, Nachdruck Westport, CT 1973, 195–198, 196 f.; dagegen Surya Prakash Sinha, „Human Rights: A Non-Western Viewpoint“, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 67 (1981), 76–91, 87. 56 Charles Henry Alexandrowicz, „Kautilyan Principles and the Law of Nations“, British Yearbook of International Law 41 (1965), 301–320, 312; Surya P. Subedi, „Are the Principles of Human Rights ‚Western‘ Ideas? An Analysis of the Claim of the ‚Asian‘ Concept of Human Rights from the Perspectives of Hinduism“, California Western International Law Journal 30 (1999), 45–69, 50 f. 57 Siebe oben Fn. 51. 58 Damien Keown, „Are T here ‚Human Rights‘ in Buddhism?“, in: Damien Keown/ Charles S. Prebish/Wayne R. Husted (Hgg.), Buddhism and Human Rights, Richmond 1998,
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Elemente des Buddhismus die Meditation und Enthaltsamkeit mit dem Ziel, eine andere Bewusstseinsebene zu erreichen. Die Vorstellung vom Menschen als aktives Subjekt, das am sozialen Leben teilhat, scheint zu diesem Denken nicht zu passen. Zwar kennt die buddhistische Ethik die Dimension des „Anderen“, dem es den Weg zur Erleuchtung weist, und eine Lehre von Prinzipien des Handelns. Doch ist der Mensch darin frei. Die Pflichten des „guten Königs“ führen auch nicht zu Rechten der Regierten. Manche, die den Buddhismus für die Besonderheit „asiatischer Werte“ anführen, um sie dem „Westen“ entgegen zu halten, wollen damit sagen, dass asiatische Gesellschaften nicht individualistisch, sondern an der Gemeinschaft orientiert sind und, zum Besten aller, auch diktatorisch regiert sein könnten.59 So ist Skepsis angebracht, wenn mit dem Ziel, die Universalität der Menschenrechte zu begründen, der Buddhismus als Beleg angeführt wird. Allerdings ist es auch schwer zu begründen, warum er als solcher zu ihnen in Widerspruch stehen sollte.60 d. Konfuzianismus Konfuzianisch geprägte Gesellschaften bieten weitere Beispiele widersprüchlicher normativer Ordnungen. Auch wenn der Konfuzianismus – in schwer messbarer Weise – als sehr einflussreich gilt, sind die politischen Systeme dieser Staaten sehr verschieden. Offenbar hat der Konfuzianismus die Staatsformen Chinas, Taiwans, Japans und der beiden koreanischen Staaten nahezu unberührt gelassen. Doch wird immer wieder gesagt, dass ihre normativen Ordnungen einige Elemente mit der konfuzianischen Philosophie gemeinsam haben. Die chinesische Kalligraphie soll vor dem 19. Jahrhundert weder für menschliche Rechte noch für Freiheit ein Zeichen gekannt haben.61 Eine Erklärung dafür ist, dass der Konfuzianismus, der die chinesische Philosophie durch Jahrhunderte geprägt hat, den Menschen als Teil eines Ganzen ansieht, das seine Identität erst konstituiert. Deshalb hat er gegenüber der Gemeinschaft zahlreiche Pflichten. Alter politischer Philosophie zufolge empfängt der Herrscher, der Kaiser von China, seine Autorität durch einen „Auftrag des Himmels“, der auch gewisse moralische Pflichten umfasst.62 Die Idee von angeborenen Rechten wirkt vor diesem Hintergrund aber fremd. Die politische Theorie und die Staatspraxis haben, von
15–41; Perry Schmidt-Leukel, „Buddhism and the Idea of Human Rights: Resonances and Dissonances“, Buddhist-Christian Studies 26 (2006), 33–49 (= Buddhism and the Idea of Human Rights). 59 Schmidt-Leukel, Buddhism and the Idea of Human Rights, 41. 60 Peter Junger, „Why the Buddha has no Rights“, in: Damien Keown/Charles S. Prebish/ Wayne R. Husted (Hgg.), Buddhism and Human Rights, Richmond 1998, 53–96, 56. 61 Kühnhard, Die Universalität der Menschenrechte, 193. 62 Joseph Needham, Science and Civilization in China, Bd. 2, History of Scientific Thought, Cambridge 1956, Nachdruck 1991, 547–550; dass der Konfuzianismus überschätzt und andere philosophische Denkweisen systematisch vernachlässigt werden, ist die These
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einer kurzen republikanischen Episode im frühen 20. Jahrhundert abgesehen63, keinen institutionellen Rahmen vorgezeichnet, in dem sich eine Vorstellung von Volkssouveränität oder einer Begrenzung der Macht hätte entfalten können. Diese Feststellung hat manche dazu geführt, zwischen vorrevolutionärem Denken und der kommunistischen Ideologie eine Kontinuität zu sehen. Diese These ist indessen bestreitbar.64 Zwar trifft es zu, dass die gegenwärtig geltende Verfassung der Volksrepublik China (1982) Grundrechte nur formal anerkennt, ihre Auslegung aber den – wie auch immer verstandenen – Interessen der Gesellschaft den Vorrang einräumt.65 Ob dies nun konfuzianisch ist, ist jedoch eine andere Frage.66 Es ist danach schwer zu bestimmen, wie offen der Konfuzianis mus gegenüber den Menschenrechten ist.67 Da seine Denkweisen allenfalls durch die Ideologie der Kommunistischen Partei gefiltert sind, wissen wir nur, dass das offizielle China ihnen mit Distanz begegnet. In Japan erkannte erstmals die Meji-Verfassung von 1889 nach einer langen Zeit des Feudalismus individuelle Rechte an. Die politische Philosophie dieser Zeit setzte sich jedoch nicht nur von der Idee natürlicher Rechte und Freiheiten ab, sondern auch vom bürgerlichen Rechtsstaat.68 Das politische Denken sah Neo-Konfuzianismus, Shintoismus und Nationalismus und damit die Macht und nicht das Recht als die entscheidende Kraft der innergesellschaftlichen Verhältnisse. Grundrechte waren allenfalls ein Geschenk, das der Kaiser seinen Untertanen machte. Sieht man von einer kurzen Phase in der politischen Philosophie der 1920er Jahre ab, kam die Menschenrechtsidee erst in der neuen Verfassung nach dem Zweiten Weltkrieg und unter amerikanischem Druck zur Geltung. Wenn auch der westliche Einfluss danach unbestreitbar ist, so wird
von Jung H. Lee, „Preserving One’s Nature: Primitivist Daoism and Human Rights“, Journal of Chinese Philosophy 2007, 598–612. 63 Joan Judge, „T he Concept of Popular Empowerment (Minquan) in the Late Qing: Classical and Contemporary Sources of Authority“, in: Theodore De Bary/Tu Weiming (Hgg.), Confucianism and Human Rights, New York 1997, 193–208. 64 Eduard Kroker, „Positives Recht und Naturrecht in China“, in: Eduard Kroker/T heodor Veiter (Hgg.), Rechtspositivismus, Menschenrechte und Souveränitätslehre in verschiedenen Rechtskreisen, Wien 1976, 130–157, 133; der angeblich totalitäre Charakter des Konfuzianismus wird bestritten von Craig Williams, „International Human Rights and Confucianism“, Asia-Pacific Journal of Human Rights & the Law 7 (2006), 38–66 (= International Human Rights and Confucianism), 47–59. 65 Die Neuorientierung der chinesischen Politik an einer Art Marktwirtschaft hat daran nicht viel geändert. 66 Zur Debatte über „Asian Values“ im Zusammenhang mit dem Konfuzianismus Williams, International Human Rights and Confucianism. 67 Dafür Julia Ching, „Human Rights: A Valid Chinese Concept?“, in: T heodore De Bary/Tu Weiming (Hgg.), Confucianism and Human Rights, New York 1997, 67–82; Wejen Chang, „Confucian Theory of Norms and Human Rights“, in: Theodore De Bary/Tu Weiming (Hgg.), Confucianism and Human Rights, New York 1997, 117–141. 68 Joseph Pittau, Political T hought in Early Meiji Japan 1869–1889, Cambridge, MA 1967; Kühnhard, Die Universalität der Menschenrechte, 175–192.
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doch angenommen, dass die Verfassung von 1945 mit anderen Quellen der japanischen Kultur besser in Einklang steht, insbesondere dem Buddhismus.69 Die normative Ordnung des heutigen Japan lässt sich wohl am ehesten als genuine Verbindung aus traditionalen Regeln und westlicher Wirtschafts- und Lebenswelt beschreiben. Dabei ist nicht zu übersehen, dass Japan beim Schutz individueller Rechte auf einen sehr hohen Standard verweisen kann. Aus einem Vergleich beider Länder ergibt sich nicht viel. China hat den UN-Zivilpakt nicht ratifiziert, ist aber vielen anderen Menschenrechtskonventionen beigetreten. Japan hat im Vergleich deutlich mehr Vertragspflichten übernommen und hält diese auch wesentlich gewissenhafter ein. Offenbar hat der Konfuzianismus wirklich wenig Einfluss auf die jeweiligen politischen Systeme gehabt; die zugrundeliegenden Ordnungsideen waren zunächst nicht autoch thon, der Kommunismus ebenso wenig wie der liberale Rechtsstaat. Unterhalb der Schicht der Verfassung und der förmlichen Rechtsnormen mag es Verständnisse individueller Rechte und ihrer Beziehung zu anderen Elementen der gesellschaftlichen Ordnung geben, die von der in Europa und den USA vorherrschenden Ethik und Moral abweichen und sie zu der jeweils sehr besonderen heutigen normativen Struktur geführt haben. Über die Vereinbarkeit traditionaler Normverständnisse mit den Menschenrechten sagt all dies aber nur so viel, als sie das Ergebnis einer Entwicklung sein kann, der keine fernöstliche Philosophie dauerhaft entgegensteht. e. Afrika Wie bereits angedeutet, haben viele afrikanische Staaten im Zuge der Dekolonia lisierung Verfassungen mit Garantien individueller Rechte angenommen, teils in eigenen Grundrechtskatalogen wie in der Verfassung Nigerias (1960), teils durch Verweis auf die AEMR wie in der Verfassung des Tschad (1958). Es ist oft gesagt worden, dass es einen speziell afrikanischen Zugang zu den Menschenrechten gebe, mit einer Betonung der Pflichten gegenüber der Gemeinschaft und einem ausgeprägten gruppenbezogenen Charakter der gewährleisteten Rechte. Der kollektive Einschlag vieler Garantien der Afrikanischen Charta der Rechte des Menschen und der Völker von Banjul ist dabei ein Standardargument.70 Bisher haben aber Studien über die Anthropologie und politische Theorie Afrikas keine Belege für eine Verwurzelung eines Menschenrechtsdenkens in den tradi
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John Peek, „Buddhism, Human Rights and the Japanese State“, Human Rights Quarterly 17 (1995), 527–540. 70 B. Obinna Okere, „T he Protection of Human Rights in Africa and the African Charter on Human and Peoples’ Rights: A Comparative Analysis with the European and American Systems“, Human Rights Quarterly 6 (1984), 141–159, 145; Richard N. Kiwanuka, „The Meaning of ‚People‘ in the African Charter on Human and Peoples’ Rights“, American Journal of International Law 82 (1988), 80–101, 82–84 m.w.N.
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tionalen normativen Ordnungen zutage gefördert.71 Mit Blick auf eine weniger weit zurückliegende Zeit kann man andererseits nicht behaupten, dass die Kolonialstaaten ihren in die Unabhängigkeit entlassenen Ländern ein reiches Erbe an rechtsstaatlicher Kultur und Respekt vor den Rechten Einzelner hinterlassen hätten; was auch immer ihre verfassungshistorischen Errungenschaften im 18. und 19. Jahrhundert gewesen sein mögen, ihre afrikanischen Kolonien ließen sie daran nicht teilhaben. Es ist vor diesem Hintergrund nicht unplausibel, dass die Besonderheiten der Banjul-Charta jüngeren Datums und aus einer Stimmung hervorgegangen sind, nach der sich mit Erlangung der Unabhängigkeit das Recht auf bürgerliche und politische Freiheit erfüllt hat, nun ein Neuanfang zu machen war, und dass der Weg in die Zukunft eine kollektive Anstrengung verlangte, der gegenüber die Belange des Individuums womöglich auch einmal zurückstehen mussten.72 Dass die Banjuler Version der Menschenrechte genuin „afrikanisch“ ist, bedeutet also nicht, dass sie politisch und rechtlich in den afrikanischen Staaten tief verwurzelt sein muss. Die politische Landschaft ist in den meisten von ihnen für die Verwirklichung der Menschenrechte nach wie vor nicht günstig. Für viele Staaten sind sie nur eine von vielen völkerrechtlichen Vertragspflichten, die oft aus rein politischen Gründen übernommen werden. So bilden verfassungsstaatliche Grundrechte und völkerrechtliche Verträge wenig mehr als weitere Schichten in einem pluralistischen Universum von Normen. Was davon seinen Weg in die Rechtspraxis findet, ist je nach Staat und innerhalb einer Rechtsordnung oft auch von Fall zu Fall verschieden.73 4. Schlussfolgerungen Die Debatte über den christlichen Charakter der Grund- und Menschenrechte hat gewisse Parallelen in einigen anderen Religionen. Auch die Einwände gegen solche Herleitungen ähneln sich. So stellt sich jeweils die Frage, wie religiöse Regeln von sozialen Gewohnheiten und von der politischen Kultur getrennt werden 71 Verallgemeinernde Beschreibungen „der“ traditionalen normativen Kultur Afrikas sind leicht zu finden, aber in ihrer Wirkung auf die Menschenrechte schwer zu belegen; s. bspw. Josiah A.M. Cobbah, „African Values and the Human Rights Debate: An African Perspective“, Human Rights Quarterly 9 (1987), 309–331, 320–325; Philippe Mastronardi, „Recht und Kultur: Kulturelle Bedingtheit und universaler Anspruch des juristischen Denkens“, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 61 (2001), 61–83, 64 f. (Einheit von Mensch und Natur; Familie und Clan statt Einzelner als Subjekte der Moral; Pflichten gegenüber den Ahnen als Motiv des Landbaus; Palaver und Ritual als Verfahren der Konfliktlösung usw.). 72 Vgl. Mutoy Mubiala, Le système régional Africain de protection des droits de l’homme, Brüssel 2005, 12–18. 73 Zur Wirkung der Banjul Charta vor staatlichen Gerichten Frans Viljoen, International Human Rights in Africa, Oxford 2007, 540–567.
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können. Religiös verwurzelte moralische und ethische Normen werden meist als Pflichten formuliert.74 Schriften, aus denen der menschenrechtliche Gehalt religiöser Verhaltenserwartungen abgeleitet wird, sind in Zeiten entstanden, zu denen es weder eine elaborierte Vorstellung des Staates noch eine Trennung zwischen Staat und Gesellschaft oder eine philosophische Forderung nach der Begrenzung oder Teilung staatlicher Gewalt gab. Wenn sich auch moralische Pflichten der Herrscher sprachlich zu Rechten umkehren lassen, begründen sie kaum jemals eine rechtliche Beziehung zwischen Bürgern und öffentlicher Gewalt; säkulares Recht kann sogar mit religiösen Geboten in Widerspruch stehen, ohne dass sich daraus außerhalb des forum internum Konsequenzen ergäben. Es ist daher eine zweifelhafte Methode, wenn versucht wird, aus der Religion Argumente im Streit zwischen Universalismus und Relativismus zu gewinnen. In der sozialen Wirklichkeit können verschiedene Normschichten koexistieren, selbst wenn sie zueinander in Widerspruch stehen. Staatliches Recht kann menschenrechtliche Pflichten in sich aufnehmen, auch wenn es ihnen in weiten Teilen nicht entspricht und auch keine Intention besteht, dies zu ändern. So ist ein paradoxer normativer Pluralismus möglich, in dem auf Dauer offen bleibt, wie sich seine verschiedenen Teile zueinander verhalten. Welche dieser Normen die höhere Legitimität für sich beanspruchen können, ist eine Frage der Perspektive. Vor diesem Hintergrund nehmen menschenrechtliche Gehalte in verschiedenen normativen Ordnungen je nach Wirksamkeit und Art der gleichfalls geltenden anderen Normen nahezu zwangsläufig unterschiedliche Gehalte an. Wenn dies zutrifft, stellt sich die Frage, warum diese unterschiedlichen Verständnisse und Wirkungen von Menschenrechtsnormen nebeneinander bestehen können und was die Relativität der Grund- und Menschenrechte für den Anspruch bedeutet, dass zumindest die „dünne“ Schicht der Menschenrechte aus universell gültigen Normen bestehe. Die Komplexität dieser Fragestellung wird noch erhöht, wenn die dritte Epoche ihrer Entterritorialisierung in den Blick genommen wird, die der These von der relativen Universalität eine weitere Dimension hinzufügt.
IV. Die dritte Phase: Die Entterritorialisierung der Grund- und Menschenrechte Die dritte Phase der Migration der Grundrechte ist eine Folge der wachsenden Relevanz transnationaler Akteure, die ihre menschenrechtlichen Erfolgsbilanzen zwar mit Blick auf exterritoriale Aktivitäten erstellen, diese aber an das Pub74 Zur jüdischen Religion im gegebenen Zusammenhang Asher Maoz, „Can Judaism Serve as a Source of Human Rights?“, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 45 (2004), 677–721, 680–721.
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likum richten, von dessen Votum sie abhängig sind. Diese Phase ist also durch mobile Standards gekennzeichnet, die an Akteure und nicht an Territorien gebunden sind. 1. Phänomene Das erste Phänomen in diesem Zusammenhang ist die Notwendigkeit exterritorialer Anwendung der Grund- und Menschenrechte durch staatliche Organe. Bisher hatten deutsche Gerichte nicht darüber zu entscheiden, ob die Grundrechte auch bei Auslandseinsätzen der Streitkräfte gelten. Einer schon älteren Rechtsprechung des BVerfG zufolge gilt die Koalitionsfreiheit auf Schiffen unter deutscher Flagge auch jenseits des deutschen Hoheitsgebietes, wenn auch nur in abgeschwächter Form, um ein Ausflaggen zu vermeiden.75 Allerdings stand hier nur eine Privatwirkung der Grundrechte zur Debatte, die an die Personalhoheit anknüpfen kann. Der EGMR hatte aus anderem Anlass über eine exterritoriale Wirkung der EMRK zu entscheiden. Diese tritt im Wesentlichen dann ein, wenn die Behörden eines Vertragsstaates exterritorial Verwaltungsakte erlassen, wie dies bei diplomatischen konsularischen Vertretungen der Fall sein kann, oder wenn sie die effektive Kontrolle ausüben, wie dies bei militärischer Besetzung geschieht.76 Auch in anderen Staaten stellt sich dieses Problem; so ist für die USA die extraterritoriale Geltung der Grundrechte gleichfalls begrenzt, doch sollen sie im Prinzip anwendbar sein, wenn dies nicht zu Ergebnissen führt, die als „impracticable and anomalous“ beschrieben werden.77 Ein mit den rechtlichen Grenzen für Truppeneinsätze im Ausland verwandtes Problem stellen die Bindungen internationaler Organisationen an die Menschenrechte dar.78 Wenn bei der Ausübung von Hoheitsgewalt in ihrem Namen 75 BVerfGE 92, 26, 41–44; grundlegend Rainer Hofmann, Grundrechte und grenzüberschreitende Sachverhalte, Berlin 1995. 76 Europäische Kommission für Menschenrechte, X/Deutschland, Yearbook of the European Convention of Human Rights 8 (1965), 158, (Konsulat in Marokko); EGMR, Loizidou/ Türkei, Ser. A 310, § 62 (1995) (türkische Besetzung von Nordzypern); Bankovic/Belgien u.a., Rep. 2001–XII, 333 Rn. 54 ff. (Luftangriff); Al-Sadoon/Vereinigtes Königreich, Appl. No. 61498/08, Urteil vom 30. Juni 2009, Rn. 84 ff. (britische Streitkräfte im Irak); andere Regeln gelten für Maßnahmen, die internationalen Organisationen zuzurechnen sind, s. Behrahmi/Frankreich, Application No 71412/01, Urteil vom 2. Mai 2007, Rn. 146 ff. (Peace- Enforcement mit Ermächtigung des UN-Sicherheitsrates). 77 Zur Rechtsprechung des US Supreme Court Gerald L. Neuman, „Extraterritorial Rights and Constitutional Methodology after Rasul v Bush“, University of Pennsylvania Law Review 153 (2005), 2073–2083; Note, „The Extraterritorial Constitution and the Interpretive Relevance of International Law“, Harvard Law Review 121 (2008), 1908–1929. Zu den Bindungswirkungen des UN-Zivilpaktes bereits Theodor Meron, „Extraterritoriality of Human Rights Treaties“, American Journal International Law 89 (1995), 78–82; allgemein Marko Milanovic, Extraterritorial application of human rights treaties, law, principles, and policy, Oxford 2011. 78 Andrew Clapham, Human Rights Obligations of Non-State Actors, Oxford 2006,
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in ihnen zurechenbarer Weise Menschen zu Schaden kommen, geht man inzwischen allgemein davon aus, dass die Menschenrechte anwendbar sind, wenn auch die Begründungen dafür variieren. Im Falle der Vereinten Nationen wird das Phänomen mit den vieldiskutierten Sanktionslisten sichtbar, die als sogenannte „targeted sanctions“ gegen der Unterstützung des Terrorismus verdächtige Personen verhängt werden; die Bindung wird hier über die Mitgliedstaaten hergestellt.79 Dagegen ist die Weltbank nach herrschender Auffassung unmittelbar an die Menschenrechte gebunden, wenn auch die Konstruktion der Bindung umstritten ist.80 Ein anderes Beispiel für die Akteure und eine nicht territorial gebundene Wirkung der Menschenrechte bietet die Entwicklungspolitik. Staatliche Einrichtungen stellen Standards von „good governance“ auf, von denen Entwicklungshilfe abhängig gemacht wird.81 Die Europäische Union ist verpflichtet zu garantieren, dass die zur Verfügung stehenden Mittel für die Förderung der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit eingesetzt werden. Internationale Geber wie die Weltbank dürfen sich zwar nicht in die inneren Angelegenheiten der Empfängerländer einmischen. Doch sind die üblichen Standards der Erfüllung ihrer Rechenschaftspflichten („accountability“) mit strukturellen Anforderungen der Geberinstitutionen an Praktiken guter Regierungsführung so eng verknüpft, dass sie einen Bestandteil ihrer Konditionalitäten bilden. Das Phänomen des Rechtstransfers steht hiermit in gewissem Zusammenhang. Die Bewegung des Law and Development der 1960er Jahre nahm an, dass wirtschaftliches Wachstum nur in Volkswirtschaften mit einem der freien Marktwirtschaft günstigen Rechtssystem möglich ist.82 Daher wurden Versuche unternommen, die innerstaatlichen Rechtsordnungen entsprechend zu beeinflussen. 109–194; Rainer Hofmann, „Die Rechtskontrolle von Organen der Staatengemeinschaft“, Berichte der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht 42 (2007), 1–41, 16–19; Cornelia Janik, Die Bindung internationaler Organisationen an internationale Menschenrechtsstandards, Tübingen 2012. 79 Allgemein dazu Frédéric Mégret/Florian Hoffman, „T he UN as a Human Rights Vio lator? Some Reflections on the United Nations Changing Human Rights Responsibilities“, Human Rights Quarterly 25 (2003), 314–342; zuletzt EGMR, Al-Dulimi/Schweiz, Application No. 5809/08, Urteil vom 21. Juni 2016. 80 Pierre Klein, „Les institutions financières internationales et les droits de la personne“, Revue Belge de Droit International 32 (1999), 97–114; Dana Clark, „The World Bank and Human Rights: The Need for Greater Accountability“, Harvard Human Rights Journal 15 (2002), 205–226. 81 Philipp Dann, „Grundfragen eines Entwicklungsverwaltungsrechts“, in: Christoph Möllers/Andreas Voßkuhle/Christian Walter (Hgg.), Internationales Verwaltungsrecht, Tübingen 2007, 7–48, 13–15. 82 Chantal T homas, „Max Weber, Talcott Parsons and the Sociology of Legal Reform: A Reassessment with Implications for Law and Development“, Minnesota Journal of International Law 15 (2006), 383–424; Kerry Rittich, „The Future of Law and Development: Second Generation Reforms and the Incorporation of the Social“, Michigan Journal of International Law 26 (2004), 199–243; David Trubek, „The Owl and the Pussy-Cat: Is there a Future for
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Später wurde der Transfer von Bestandteilen marktwirtschaftlicher Rechtsordnungen selbst zum Gegenstand der Auslandshilfe. Einige Staaten traten in einen Wettbewerb im Export des Handels-, Gesellschafts- und anderer Teile des Wirtschaftsrechts in die Länder des globalen Südens ein. Nach dem Niedergang des Staatssozialismus erweiterte sich der Exportkatalog um öffentlich-rechtliche bis hin zu verfassungsrechtlichen Produkten. Heute gehören Konzepte von Datenschutz, Verwaltungsverfahren oder Polizeiausbildung zum Standardrepertoire der Entwicklungsbürokratien. Das letzte Beispiel bieten private Akteure, die sich für die Menschenrechte stark machen.83 Transnationale Unternehmen haben ein gewisses Interesse daran, Standards etwa im Hinblick auf das Arbeitsrecht (Antidiskriminierung, Arbeitssicherheit, Arbeitszeiten usw.), die Produktsicherheit und das Umweltrecht anzunehmen. Manche Initiativen dieser Art sind rein privater Natur, andere das Ergebnis sogenannter public/private partnerships, gelegentlich im Zusammenwirken mit Nichtregierungsorganisationen, wieder andere wie der United Nations Global Compact sind unter der Schirmherrschaft internationaler Organisationen entstanden. Die Motive sind unterschiedlich, doch dürfte die Vermeidung von Kosten der Nichtbefolgung keine geringe Rolle spielen, die durch unterschiedliche Schutzniveaus und Anpassung an sonst drohende staatliche Vorschriften entstehen können. Auch die Verbrauchergewohnheiten ändern sich, so dass man annehmen kann, dass die Folgen von Menschenrechtsverletzungen für die Reputation von Firmen, Marken und Produkten einen wichtigen Motivationsfaktor für die Beteiligung an diesen Programmen bedeuten. 2. Menschenrechte als Mittel zum Zweck Nicht nur für private Gesellschaften gibt es solche Gründe, die Menschenrechte einzuhalten. Außenpolitik und Entwicklungshilfe müssen gegenüber den Parlamenten und der Wählerschaft verantwortet werden. Die Legitimität von Auslandseinsätzen der Streitkräfte, auch wenn sie im Rahmen der UNO oder der ‚Law and Development‘?“, Wisconsin International Law Journal 25 (2007), 235–242; Robert Schmidbauer, Law and Development – Dawn of a New Era? Manchester 2006. 83 Einführungen bei Karin Buhmann, „Regulating Corporate Social and Human Rights Responsibility at the UN Plane: Institutionalising New Forms of Law and Law-making Approaches?“, Nordic Journal of International Law 78 (2009), 1–52; Elena Pariotti, „International Soft Law, Human Rights and Non-state Actors: Towards the Accountability of Transnational Corporations?“, Human Rights Review 10 (2009), 139–155; zu systemtheoretischen Ansätzen Gunther Teubner, „The Anonymous Matrix: Human Rights Violations by ‚Private‘ Transnational Actors“, Modern Law Review 69 (2006), 327–346; Karl-Heinz Ladeur/Lars Viellechner, „Die transnationale Expansion staatlicher Grundrechte“, Archiv des Völkerrechts 46 (2008), 42–73, 62–72; aus politikwissenschaftlicher Perspektive Annegret Flohr/Lothar Rieth/Sandra Schwindenhammer/Klaus D. Wolf, The Role of Business in Global Governance: Corporations as Norm-Entrepreneurs, Basingstoke 2010.
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NATO stattfinden, wird zweifelhaft, wenn sie nicht ein Minimum an Verhaltenserwartungen erfüllen. So zielt das Bestehen auf der Beachtung von Grund- und Menschenrechten im Ausland immer auch auf die öffentliche Meinung im Herkunftsstaat. Wieweit diese Anforderungen dann tatsächlich der Bevölkerung im Einsatzgebiet zugutekommen, ist eine andere Frage. So müssen die Standards, die als Leitlinien auswärtigen politischen Handelns angegeben werden, und die ihrer Anwendung nicht notwendig identisch sein. Es spricht viel dafür, dass dies auch gar nicht möglich ist. Oben wurde festgestellt, dass mit dem Anspruch auf Universalität im Verhältnis zwischen internationalen Menschenrechten und innerstaatlichem Recht eine enttraditionalisierte, „dünne“ Rechtsschicht auf eine Normschicht traditionalen Ursprungs trifft und es hier zu Reibungen kommen kann, deren Intensität von der jeweiligen normativen Ordnung abhängt.84 Die dritte Welle der Migration der Rechte fügt dem das Phänomen hinzu, dass die Bindungskraft auch noch akteursspezifisch variieren kann, wenn auswärtige Staaten und Unternehmen tätig werden, auch wenn die jeweiligen Standards auf einem bestimmten Staatsgebiet wirken sollen. Vor diesem Hintergrund muss die Frage gestellt werden, wie legitim Erwartungen sind, die Grundrechtsstandards in anderen Staaten zu beeinflussen.
V. Die Legitimität der Menschenrechte: Mögliche Beziehungen zwischen Universalitätsanspruch und innerstaatlichem Recht 1. „Overlapping Consensus“? In der Diskussion über die kulturelle Relativität der Menschenrechte kann das Argument nicht vorgebracht werden, dass der Anspruch auf die Universalität der Menschrechte als solcher unberechtigt sei, weil er in strategischer Absicht erhoben werde. Wie ein Blick auf nicht-westliche politische Philosophien und auf die Verfassungsgeschichte erweist, beruht die Idee der Grund- und Menschenrechte zwar in der Tat auf Erfahrungen, die in anderen Teilen der Welt so nicht geteilt werden. Doch hat sich im 20. Jahrhundert gezeigt, dass die herrschenden politischen und kulturellen Praktiken auch dort einem Schutz individueller Rechte jedenfalls nicht konsequenter verschlossen sind, als dies in Europa lange der Fall war. Mit der Verbreitung der Menschenrechte durch völkerrechtliche Verträge hat zumindest formal eine Universalisierung stattgefunden, so dass die Menschenrechte mit innerstaatlichen Ordnungen koexistieren können, so widersprüchlich ihr wechselseitiges Verhältnis zuweilen auch sein mag.
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Siehe oben, Abschnitt III.
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Vor diesem Hintergrund haben manche Universalisten ihre Sichtweise modifiziert. So kann einem fundamentalen Relativismus entgegnet werden, dass auch dieser Standpunkt instrumentalisiert werden kann und seine Argumente von Akteuren genutzt werden, die ihrerseits die entgegengehaltenen „Werte“ gar nicht achten. Auch multikulturelle Gemeinschaften erkennen an, dass es Grenzen für die Variationsbreite moralischer Standpunkte und kulturübergreifend gültige Mindestregeln gibt.85 Daher wird vorgeschlagen, Mindeststandards der Menschenrechte zu identifizieren, die typischerweise überall auftretenden Verletzungshandlungen entgegengehalten werden und für die es keine oder nur sehr streng umgrenzte Ausnahmen gibt. Explizite Einwände gegenüber diesen Kerngehalten selbst sind selten, wenn auch nicht undenkbar, wie die Hinweise auf die Scharia, aber auch den Kampf gegen den Terrorismus illustrieren. Auch mit Blick auf scheinbar nicht hintergehbare Grundannahmen gibt es also Fälle, in denen über mögliche Ausnahmen keine Einigkeit besteht. Da die menschenrechtlichen Garantien nur in abstrakter Form umschrieben werden können, werden sie mit unterschiedlichen Gehalten konkretisiert. Das Problem der Relativität wirkt sich also zu einem erheblichen Grade als Auslegungsproblem aus. Der Mangel an Einigkeit im Verständnis ist aber kein Argument gegen die Universalität der Menschenrechte selbst. 2. Politischer und rechtlicher Diskurs Um den ideologischen Implikationen der Universalismus-/Relativismus-Debatte zu entgehen, wird der Dialog als Mittel vorgeschlagen, um Tiefe und Ausmaß der Verschiedenheit zu ergründen. Dialog ist ein Gebot des common sense86, entspricht aber auch rechts- und sozialphilosophischer Theorie87. Um solche Vorschläge im Prozess der Migration der Rechte einzuordnen, empfiehlt es sich, an der Unterscheidung zwischen Grund- und Menschenrechten anzuknüpfen. Grundrechte sind das Ergebnis politischer Prozesse, die von der Idee der Menschenrechte inspiriert sind. Das Ausmaß, in dem beide garantiert werden, ist eine Frage des politischen Willens, während ihre Einpassung in das innerstaatliche Rechtssystem eine Aufgabe der verfassungsmäßigen Ordnung und des rechtlichen Diskurses, also der gerichtlichen Praxis ist.88 Wie alle anderen Rechtsnor
85 Jack Donnelly, Universal Human Rights in T heory and Practice, Ithaca/London, 2. Aufl. 2003, 51–53 und 89–106. 86 Stephen Sedley, „Are Human Rights Universal, and Does it Matter?“, in: Stephan Breitenmoser/Bernhard Ehrenzeller/Marco Sassoli (Hgg.), Human Rights, Democracy and the Rule of Law: Liber Amicorum Luzius Wildhaber, Kehl 2007, 793–803, 800–803. 87 Benhabib, Ein anderer Universalismus, 505–507, mit Verweis auf den Diskurs als universelle Praxis der Begründung. 88 Zu einem prozeduralen, hermeneutisch-diskurstheoretisch begründeten Ansatz vgl. Irene Oh, „Approaching Islam: Comparative Ethics through Human Rights“, Journal of Religious Ethics 36 (2008), 405–423; allgemein Rainer Forst, Das Recht auf Rechtfertigung:
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men werden die Grundrechte nicht in der Natur des Menschen entdeckt oder aus ihr abgeleitet, sie erhalten ihre Wirksamkeit erst, wenn sie in sprachlicher Form formuliert werden. Sie erwachsen aus einem Prozess der Artikulation. Nur in der Praxis des Diskurses, in dem die Argumente für und gegen die jeweiligen Verständnisse verhandelt werden können, können konkrete Gehalte und Entscheidungen durch konsensuale Anerkennung legitimiert werden. Prozedural gesehen liegt die Darlegungs- und Beweislast für die Nichtbeachtung der Menschenrechte bei der öffentlichen Gewalt. Sie steht in der Pflicht, für die nötigen Einrichtungen und Verfahren zu sorgen. Mit der Übernahme auch völkerrechtlicher Pflichten ist all dies keine rein innerstaatliche Angelegenheit mehr. Vielmehr besteht diese Pflicht auch im Verhältnis zu den anderen Mitgliedstaaten entsprechender völkerrechtlicher Schutzsysteme und, soweit Menschenrechte, wie beim Recht auf Leben und dem Folterverbot der Fall, auch gewohnheitsrechtlich verankert sind, gegenüber der gesamten Staatengemeinschaft. Auf diese Weise haben völkerrechtlich verfestigte Menschenrechtsstandards teil an den universalistischen Visionen des 18. Jahrhunderts.
VI. Schluss In vielen Gesellschaften sind die Menschenrechte nicht mehr als ein Element in einem Geflecht koexistierender, zuweilen widersprüchlicher Werte und Normen. Bisher hat sich ein allgemein geteiltes Konzept der Universalität der Menschenrechte nicht herausbilden können. Politische Praxis, soziale Gewohnheiten, religiöse Regeln, innerstaatliches Recht aus mehreren historischen Epochen, in vielen Ländern auch mit Relikten sie früher beherrschender Rechtsordnungen, neuere Bedingungen der Marktwirtschaft und des Freihandels im Rahmen regionaler Wirtschaftsintegration sowie völkerrechtliche Verträge bilden die einzelnen Rechtsschichten. Manche dieser Normen haben nur symbolische Geltung, andere erweisen sich auch gegenüber geschriebenem Recht als robust. Dieses Phänomen konkurrierender Geltungsansprüche wird in der Rechtsethnologie als normativer Pluralismus beschrieben.89 Die dritte Generation migrierender Grundrechte trifft also auf eine bereits komplexe normative Struktur, und die sich aus ihr ergebende normative Relativität macht sie noch komplizierter. Die Wirkung der Menschenrechte kann da nur prozeduraler Art sein. Einerseits hat das Völkerrecht die nicht nur moralische, sondern auch rechtliche VerElemente einer konstruktivistischen Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt am Main 2007, 343–380. 89 Franz von Benda-Beckmann, „Recht und Entwicklung zwischen Forschung und Entwicklungspraxis“, in: ders./Keebet von Benda-Beckmann/Wolfram Heise/Michael Schönhuth (Hgg.), Recht und Entwicklung – Law and Development, Saarbrücken 2005, 39–52 m.w.N.
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mutung geschaffen, dass die Rechtfertigungslast beim Verletzer liegt. Auf der anderen Seite müssen menschenrechtsbasierte Herausforderungen an die bestehenden Ordnungen und Praktiken überzeugende Gründe bieten. Der Anspruch auf Universalität muss sich gegen die rechtliche Kultur durchsetzen können, gegen die er sich richtet. Dies führt zur Pflicht politischer Akteure, internationaler Organisationen, der Diplomatie und der Entwicklungsbürokratien, in einen politischen Dialog einzutreten, der sich auf die jeweiligen Umstände einlässt, statt sich allein auf eingefahrene Routinen und Formen zu verlassen. Um zu den Ausgangsbeispielen zurückzukehren: Ob innerstaatliche Gerichte die rechtsvergleichende Methode für die Auslegung des eigenen Rechts nutzbar machen, ist eine Frage der normativen Grundlage, auf der ihre Zuständigkeiten beruhen. Wenn es keinen rechtsförmlich verankerten Geltungsgrund auswärtiger Grund- und Menschenrechte gibt, besteht auch kein zwingender Grund, die eigene Praxis mit der anderer Staaten zu harmonisieren, solange Gerichtsentscheidungen nicht die Ebene des „dünnen“ Rechts missachten, die völkerrechtlichen Verträgen und dem Gewohnheitsrecht entstammt. Wie weit diese Schicht reicht, ist Gegenstand des judiziellen Dialogs, einer Form des Anwendungsdiskurses. Dabei darf es nicht allein um Selbstbehauptungen staatlicher Kompetenz reservate gehen. Historisch gewannen die Grundrechte ihre Autorität aus Ideen und Erfahrungen, wie sie in England, den Vereinigten Staaten und Frankreich kodifiziert worden sind. Diese Autorität war transnational in dem Sinne, dass diese Rechte zuerst von gesellschaftlichen Kräften herausgebildet wurden. Im Verlaufe ihrer rechtlichen Internationalisierung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert nahm das Ideal der Unabhängigkeit individueller Rechte von innerstaatlichen Rechtsordnungen seinerseits einen rechtlich bindenden Charakter an, wenn auch die Anwendung dieser Rechte zunächst an das Territorium der Staaten gebunden blieb, die diese Pflichten übernahmen. In der dritten Migrationsphase, deren Beginn mit der Globalisierung zusammenfällt, waren die Grund- und Menschenrechte nicht mehr ausschließlich territorial, sondern auch personal gebunden, so dass sie mit staatlichen Funktionsträgern, internationalen Organisationen, transnationalen Unternehmen, NGOs oder Akteuren der Entwicklungszusammenarbeit die Grenzen überschritten. Wo rechtlich internationalisierte Menschenrechte auf innerstaatliches Recht treffen, können sie nicht nur mit Beschränkungen individueller Freiheiten, sondern auch mit anderen Konzepten individueller Rechte kollidieren. Der Prozess der Bewältigung dieser Konflikte sollte nicht als Fortschrittsgeschichte gesehen werden, sondern als Ausdruck der Autorität des Rechts, die es letztlich aus sich selbst und einem menschlichen Grundbedürfnis und nur sekundär aus staatlichen Zuständigkeiten bezieht.
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1. Einleitung Das historisch gewachsene Korpus der Menschenrechte hängt in seiner Wirkungskraft von einer Vielzahl politischer Faktoren ab. Wenngleich es als globales, auf völkerrechtlichen Verträgen beruhendes Rechtsregime nicht mehr grundsätzlich in Frage steht, unterliegt es bei der Auflösung gesellschaftlich heikler Kollisionslagen doch heterogenen Interpretationen.1 In der Form von Grundrechten, die durch einzelne staatliche Rechtsordnungen zugesprochen werden, nehmen menschenrechtliche Gehalte im Rahmen verschiedener rechtlicher, politischer, sozialer, religiöser und kultureller Pfadabhängigkeiten unterschiedliche Gehalte an, zugleich treten die territoriale Begrenztheit solcher Rechte und ihr universeller Geltungsanspruch zueinander in ein spannungsreiches Verhältnis dynamischer Wechselwirkung.2 Damit ist allerdings noch nicht ausgemacht, ob der Prozess der Diffusion universalistischer menschenrechtlicher Prinzipien in positive Rechtsordnungen, in dem „eine enttraditionalisierte, ‚dünne‘ Rechtsschicht auf eine Normschicht traditionalen Ursprungs trifft“3, tatsächlich „nicht als Fortschrittsgeschichte“4 gelesen werden kann. Aus der Teilnehmerperspektive rechtsphilosophischer Argumentation – also in der Welt der Gründe – stellt sich diese Entwicklung in einem wesentlichen Bereich – dem Bereich der sogenannten „ersten Generation“ der Menschenrechte, insbesondere der Freiheits- und justiziellen Rechte – als gerichteter Prozess dar.5 Nimmt man den beobachtenden sozialwissenschaftlichen 1 Vgl. Christian Walter, „Normenbegründung als Lernprozess? Zur Tradition der Grund- und Menschenrechte“, in: Thomas Gutmann/Ludwig Siep/Bernhard Jakl/Michael Städtler (Hgg.), Von der religiösen zur säkularen Begründung staatlicher Normen. Zum Verhältnis von Religion und Politik in der Philosophie der Neuzeit und in rechtssystematischen Fragen der Gegenwart, Tübingen 2012, 269–293 sowie Stefan Kadelbach, „Die Migration der Menschenrechte“, in dem vorliegenden Band, 70 ff. (= Die Migration der Menschenrechte). 2 Dies zeigt der Beitrag von Stefan Kadelbach in dem vorliegenden Band. 3 Kadelbach, Die Migration der Menschenrechte, 79. 4 Kadelbach, Die Migration der Menschenrechte, 94. 5 Der Text führt im Folgenden Überlegungen fort, die in dem Beitrag „Normenbegründung als Lernprozess? Zur Tradition der Grund- und Menschenrechte“ (in: Thomas Gutmann/Ludwig Siep/Bernhard Jakl/Michael Städtler (Hgg.), Von der religiösen zur säkularen Begründung staatlicher Normen. Zum Verhältnis von Religion und Politik in der Philosophie
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Thomas Gutmann
Blick hinzu, zeigt sie sich als ein kollektiver Lernprozess normativer Modernisierung. Es ist schwer, dies nicht als „Fortschrittsgeschichte“ zu sehen. In jedem Fall kann die Entwicklung der Menschenrechte zu einem guten Teil als die intelligible Entfaltung von Prinzipien begriffen werden, ohne dass man sie deshalb teleologisch konstruieren oder geschichtsmetaphysisch überhöhen müsste.
2. Normative Modernisierung Jürgen Habermas zufolge kann die „Form des modernen Rechts […] als eine Verkörperung postkonventioneller Bewusstseinsstrukturen begriffen werden“6. Normative Modernisierung meint in diesem Sinn die Umstellung des Rechts (und der Moral) auf posttraditionale Modi der normativen Rechtfertigung. Die Reflexion der Rechtsphilosophie über die Frage, worin das Spezifikum modernen Rechts im Rahmen einer „Normativen Moderne“7 liegt, hebt vor allem auf eine Änderung der Anforderungen ab, die an die Begründung von Normen gerichtet werden. Dies wird gerade am Beispiel des Menschenrechtsdiskurses deutlich, der als der normative Kern modernen Rechts gelten kann. Menschenrechte sind jene Gehalte, „die gleichsam übrigbleiben, wenn die normative Substanz eines in religiösen und metaphysischen Überlieferungen verankerten Ethos durch den Filter posttraditionaler Begründungen hindurchgetrieben worden ist“8. Unterschiedliche „Kulturen“ und „Traditionen“ können mehr oder weniger freundliche Umweltbedingungen für die Adaption und Implementation des Menschenrechtsdiskurses bieten; das Konzept der Menschenrechte selbst ist jedoch ein paradigmatischer Ausdruck postkonventioneller Normenbegründung. Es lässt sich, wie auch Stefan Kadelbach zeigt9, mit den religiösen Traditionen zwar (in
der Neuzeit und in rechtssystematischen Fragen der Gegenwart, Tübingen 2012, 295–313) entwickelt wurden. 6 Jürgen Habermas, „Überlegungen zum evolutionären Stellenwert des modernen Rechts“, in: ders., Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus, Frankfurt am Main 1976, 260–267 (= Überlegungen zum evolutionären Stellenwert des modernen Rechts), 266. 7 Siehe hierzu näher T homas Gutmann, „Religion und Normative Moderne“, in: Ulrich Willems/Detlef Pollack/Thomas Gutmann/Helene Basu/Ulrike Spohn (Hgg.), Moderne und Religion. Kontroversen um Modernität und Säkularisierung, Bielefeld 2013, 447–488 (= Religion und Normative Moderne) und ders., „Zur Institutionalisierung der Normativen Moderne“, in: Aulis Aarnio/Thomas Hoeren/Stanley L. Paulson/Martin Schulte/Dieter Wyduckel (Hgg.): Positivität, Normativität und Institutionalität des Rechts. Festschrift für Werner Krawietz zum 80. Geburtstag, Berlin 2013, 471–494. 8 Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt am Main 1992 (= Faktizität und Geltung), 129. 9 Kadelbach, Die Migration der Menschenrechte, Abschnitt 3, „Menschenrechte und normativer Pluralismus: Die Konfrontation mit nicht-westlichen Konzepten der Rechte“, 80 ff.
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je spezifisch begrenzter Weise) vermitteln, aber aus keiner dieser Traditionen heraus begründen. Die Idee der Menschenrechte ist nicht voraussetzungslos, sondern im Rahmen normativer Diskurse historisch entstanden. Sie basiert auf der Figur des subjektiven Rechts als der „bedeutendste[n] Errungenschaft der neuzeitlichen Rechtsevolution“10 und setzt rechtstheoretisch den Übergang von Konzepten, deren Grundbegriff der der Pflicht ist, zu Vorstellungen voraus, die das Verhältnis des Einzelnen zur Rechtsordnung von einem Begriff des subjektiven Rechts aus konstruieren und den Status, als Rechtsperson Träger solcher Rechte zu sein, in wechselseitigen Anerkennungsverhältnissen fundieren.11 Man wird diesen Übergang trotz aller Vorarbeiten – zumal bei Thomas Hobbes12 und in der Naturrechtstheorie John Lockes – nicht vor jenem „Strukturwandel des Rechts, der sich […] am Ausgang des 18. Jahrhunderts vollzogen hat“13 (Krawietz), und damit nicht vor Kants initialer Setzung eines angeborenen Freiheitsrechts als fundamentales, absolutes individuelles Recht14 verorten können. Die normative Dynamik der Entwicklung der Grund- und Menschenrechte liegt in der geistesgeschichtlich seit dem 17. (und insbesondere seit dem 18.) Jahrhundert ausbuchstabierten Vorstellung, dass Rechtspersonen – in den Worten Ronald Dworkins – ein individuelles „Recht auf gleiche Achtung“15 zukommt.
10 Niklas Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1993 (= Das Recht der Gesellschaft), 291. 11 Jürgen Habermas, „Zur Legitimation durch Menschenrechte“, in: ders., Philosophische Texte, Bd. 4, Politische Theorie, Frankfurt am Main 2009, 298–312 (= Zur Legitimation durch Menschenrechte), 307; ders., „Kulturelle Gleichbehandlung – und die Grenzen des Postmodernen Liberalismus“, in: ders., Philosophische Texte, Bd. 4, Politische Theorie, Frankfurt am Main 2009, 209–285, 220. 12 In scharfer Wendung gegen alle früheren Naturrechtslehren stellt bereits Hobbes an den Anfang seiner Theorie den Grundsatz, dass der Mensch primär nicht durch Pflichten eingeschränkt, sondern Träger von subjektiven Freiheitsrechten sei. Dieser fundamentale Wechsel hin zu einer Orientierung an den natürlichen Rechten begründet die spezifisch neuzeitliche Naturrechtslehre und ist das Gründungsdokument eines Rechtsdenkens, das aus vorstaatlichen Freiheitsansprüchen des Einzelnen nicht zuletzt den Anspruch des Bürgers ableitet, vor dem Gesetz als Gleicher zu gelten. Zugleich wird die Staats- und Rechtsordnung auf den Schutz basaler, aber irdischer Interessen der Einzelnen verpflichtet. Siehe Thomas Hobbes, Leviathan or The Matter, Forme and Power of a Common Wealth Ecclesiasticall and Civil, London 1651 (= Leviathan). 13 Werner Krawietz, „Evolution des Rechts und der Menschenrechte“, in: Friedrich Kaulbach/Werner Krawietz (Hgg.), Recht und Gesellschaft. Festschrift für Helmut Schelsky zum 65. Geburtstag, Berlin 1978, 319–334, 327. 14 Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten (= MS), AA 06, 230. Kants Werke werden hier und im Folgenden nach der von der Preußischen Akademie der Wissenschaften herausgegebenen Akademie-Textausgabe von Kants gesammelten Schriften zitiert, Berlin 1900 ff., Nachdruck Berlin 1968. 15 Ronald Dworkin, Bürgerrechte ernstgenommen, Frankfurt am Main 1984, 298 ff.; ders., „Liberalism“, in: ders., A Matter of Principle, Oxford 1985, 181–204, 191. Siehe hierzu
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Darin begründet liegt als erste Ableitung ein Recht, nicht rechtlich diskriminiert zu werden. Mit diesem materiellen Prinzip eines egalitären normativen Individualismus, das in der Vernunftrechtstheorie ausdifferenziert wird, geht sein prozedurales Moment einher: Es führt zu der von Rainer Forst mit dem Schlagwort eines „Rechts auf Rechtfertigung“16 versehenen Annahme, dass jede Norm, die einer Rechtsperson die Gleichheit in der Freiheit verweigert, der Rechtfertigung durch gute Gründe bedarf, die nicht mehr einfach solche der Tradition oder der Religion sein können, sondern Bedingungen der Reziprozität und Allgemeinheit erfüllen müssen. Schon seit Hobbes wird die Begründung der leitenden Prinzipien von Recht und Staat nicht mehr auf die objektiven Urteile einer (bis dato primär theologisch angeleiteten) Vernunft überhaupt, sondern vielmehr vertragstheoretisch auf das Urteil und die Vernunft des jeweils handelnden Einzelnen („his own judgement and reason“17) gestützt. Damit gilt, dass jede Einschränkung der primären, gleichen subjektiven Freiheitsrechte des Einzelnen diesem gegenüber rechenschaftspflichtig wird. Während damit jede Form der Diskriminierung unter Rechtfertigungszwang gerät, verlieren gleichzeitig die Gründe, die zu ihrer Verteidigung vorgebracht werden können, ihr normatives Fundament. Mit dem kantischen Begriff des Rechts als „Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des andern nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann“18, werden positive Rechtsordnungen schließlich allein noch an dem Legitimitätskriterium des menschenrechtlichen Egalitarismus gemessen: Der Frage nämlich, ob es ihnen gelingt, die individuellen Freiheitssphären der einander strikt als Gleiche begegnenden Rechtspersonen kompatibel zu halten. Die Rechtsgesetze müssen damit aus der Freiheit derer hervorgehen, die ihnen gehorchen sollen. Der kantische Rechtsbegriff garantiert so den rechtlich nur durch das Kriterium der Universalisierbarkeit der Freiheitssphären beschränkbaren Schutz der persönlichen Freiheit, die Kant als das „einzige, ursprüngliche, jedem Menschen kraft seiner Menschheit zustehende Recht“19 und im gleichen Atemzug als Recht von Gleichen begreift.
auch Jack Donnelly, Universal Human Rights in Theory and Practice, Ithaca/London, 3. Aufl. 2013, 55 ff., 62 ff. 16 Rainer Forst, „Das grundlegende Recht auf Rechtfertigung. Zu einer konstruktivistischen Konzeption von Menschenrechten“, in: ders., Das Recht auf Rechtfertigung. Elemente einer konstruktivistischen Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt am Main 2007, 291–327 (= Das grundlegende Recht auf Rechtfertigung). 17 Hobbes, Leviathan, Kapitel 14. 18 Kant, MS, AA 06, 230. 19 Kant, MS, AA 06, 237.
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Die bürgerliche Gesetzgebung hat zu ihrem wesentlichen obersten Princip das natürliche Recht der Menschen, welches im statu naturali (vor der bürgerlichen Verbindung) eine bloße Idee ist, zu realisiren, d.i. unter allgemeine, mit angemessenem Zwange begleitete, öffentliche Vorschriften zu bringen, denen gemäß jedem sein Recht gesichert, oder verschafft werden kann.20
Kant thematisiert hierbei die Einheit des materiellen und des prozeduralen Prinzips des egalitären normativen Individualismus, macht er die Legitimität des Rechts doch zugleich davon abhängig, ob es die rationale Zustimmung der Normunterworfenen finden kann: „Denn das ist der Probirstein der Rechtmäßigkeit eines jeden öffentlichen Gesetzes: Ist nämlich dieses so beschaffen, daß ein ganzes Volk unmöglich dazu seine Einstimmung geben könnte […], so ist es nicht gerecht […].“21 Menschenrechte sind nach alledem jene normativen Gehalte, die übrigbleiben, weil sie unter den Rechtspersonen, die zugleich Autoren und Adressaten der von ihnen begründeten Normen sind, „niemand vernünftigerweise – also mit reziprok-allgemeinen Argumenten – zurückweisen kann.“22 Dieser Modus der Begründung bildet das Fundament der Normativen Moderne.23 Ein so verstandenes „Recht auf Rechtfertigung“ liegt auch dem universalen Gehalt der internationalen Menschenrechtskonventionen zugrunde, als dessen zwei Momente Stefan Kadelbach ein „konstitutionelles“ Element – die Idee, dass die öffentliche Gewalt für die Maßnahmen verantwortlich ist, mit denen sie Personen unter ihrer Herrschaft gegenübertritt – und ein „völkerrechtliche[s] Element“ – die Überzeugung, dass es eine Form überstaatlicher Kontrolle und damit eine diskursive Bearbeitung von Verletzungsvorwürfen geben muss – ausmacht: „Die Idee hinter beiden Elementen ist, dass der Staat gute Gründe angeben muss, wenn er in die Rechte Einzelner eingreift.“24 Die Evolution des modernen25 Rechts folgt so einer Logik der Enttraditionalisierung.26 Zum einen führt die fortschreitende Positivierung des Rechts27 als 20
Immanuel Kant, An Heinrich Jung-Stilling. Nach dem 1. März 1789, AA 11, 10. Immanuel Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, AA 08, 297. 22 Forst, Das grundlegende Recht auf Rechtfertigung, 306. 23 Zum Verhältnis von normativer und gesellschaftlicher Modernisierung siehe Gutmann, Religion und Normative Moderne. 24 Kadelbach, Die Migration der Menschenrechte, 77. 25 Siehe hierzu T homas Gutmann, „Rechtswissenschaft“, in: Friedrich Jaeger/Wolfgang Knöbl/Ute Schneider (Hgg.), Handbuch der Moderneforschung. Interdisziplinäre und internationale Perspektiven, Stuttgart/Weimar 2015, 216–230. 26 Paul Heelas/Scott Lash/Paul Morris (Hgg.), Detraditionalization. Critical Reflections on Authority and Identity, Cambridge 1996. 27 Niklas Luhmann, Rechtssoziologie, Opladen, 3. Aufl. 1987, 190 ff.; ders., „Positivität des Rechts als Voraussetzung einer modernen Gesellschaft“, in: ders., Ausdifferenzierung des Rechts, Frankfurt am Main 1981, 113–153, hier 143 f. 21
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Institutionalisierung der Beliebigkeit von Rechtsänderungen dazu, dass sich das moderne Recht im Prozess seiner eigenlogischen Ausdifferenzierung von seiner traditionsvermittelnden kulturellen Umwelt trennt.28 Im Recht werden normative Gehalte, die in der lebensweltlichen Kultur als implizite enthalten sind, zu expliziten und zugleich spezifischen Geltungsansprüchen ausdifferenziert, artikuliert, formalisiert, institutionell verfestigt29 und in Verfahren und Organisationen der Rechtssetzung und -anwendung zu Gegenständen der rationalen Rechtfertigung und/oder Entscheidung gemacht. In einem parallel verlaufenden Prozess ordnet das Recht seine Legitimations ressourcen mit Hilfe der grundlegenden Vorstellung des normativen Individualismus, der, in nationalen und internationalen Schüben seiner Konstitutionalisierung und Institutionalisierung, durch subjektive Rechte und Ansprüche abgesichert wird, die Freiheitsbereiche je individueller Lebensführung und Persönlichkeitsentwicklung garantieren. Letztlich lässt sich die gesamte Tradition der Menschenrechte und einer um den Begriff subjektiver Rechte zentrierten Rechtsstaatlichkeit aus dem substantiellen und dem prozeduralen Moment des normativen Individualismus – der Idee individueller Rechte auf gleiche Freiheit und des Rechts auf Rechtfertigung ihrer Beschränkungen – heraus rekonstruieren.30 Die Wirkung der Menschenrechte ist nach alledem zwar auch, aber nicht „nur prozeduraler Art“31, weil dem prozeduralen Moment des normativen Individualismus sein substantielles vorausliegt.
3. Das Beispiel gleicher Freiheit Es sind vor allem Formen kategorialer Diskriminierung, die hierdurch in den Fokus des Rechtfertigungszwangs geraten. Dieser setzt eine spezifisch moderne normative Dynamik in Gang, deren historische Realisierung sich durchaus angemessen als die Selbstverwirklichung einer Idee darstellen lässt, in der gute Gründe mit Notwendigkeit gute Gründe gebären. Das Recht auf gleiche Achtung wendet sich omniphor gegen die Strukturen seiner Missachtung. Seine Logik ist inklusiv, es zielt auf die Einbeziehung des anderen und damit aller anderen. Wenngleich die Entfaltung des Prinzips historisch schrittweise und nicht ohne Rückschläge erfolgt ist, hat der Anspruch des egalitären Universalismus von An28 Siehe zum Ganzen: T homas Gutmann, Recht als Kultur? Über die Grenzen des Kulturbegriffs als normatives Argument, Baden-Baden 2015, 21 ff. Zu den „Entbettungsprozessen“ der Moderne siehe Anthony Giddens, Modernity and Self-Identity. Self and Society in the Late Modern Age, Stanford 1991, 18 ff. 29 Habermas, Faktizität und Geltung, 146–151; Neil MacCormick, Institutions of Law: An Essay in Legal Theory, Oxford 2008; Massimo La Torre, Law as Institution, Dordrecht 2010. 30 Forst, Das grundlegende Recht auf Rechtfertigung, 293. 31 Kadelbach, Die Migration der Menschenrechte, 93.
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fang an Standards definiert, an denen sich die je verbliebenen Verstöße gegen ihn auf eben seiner Grundlage kritisieren ließen.32 Die im 18. Jahrhundert, auch noch bei Kant (und umso mehr in den sklavenhaltenden Vereinigten Staaten von Amerika des Jahres 1776) explizit oder stillschweigend mitgedachte Beschränkung aller oder bestimmter Bürger- und Menschenrechte auf freie, weiße, männliche (und ökonomisch unabhängige) citoyens konnte angesichts der egalitären Geltungsansprüche, die mit der Menschenrechtsforderung erhoben wurden, von vornherein nicht plausibel begründet werden. Wenn es keine guten Gründe dafür geben kann, Menschen wegen ihrer Hautfarbe in Sklaverei zu halten, gibt es auch keine dafür, Personen wegen ihres zweiten X-Chromosoms bürgerliche und politische (oder Menschen-) Rechte vorzuenthalten, sie von Schulen, Universitäten und freier Berufswahl auszuschließen. Das gleiche Verbot der freiheitsbeeinträchtigenden Ungleichbehandlung greift sodann im Hinblick auf religiöse und weltanschauliche Überzeugung, auf die ethnische Herkunft, die sexuelle Orientierung, Behinderung und Alter sowie potentiell auch im Hinblick auf jene diskriminierenden Formen von Exklusion und Ungleichheit, die von der sozialen Dynamik stets neu hervorgebracht bzw. von der Progression der Inklusionslogik neu „entdeckt“ werden.33 Die Geschichte der Menschenrechte ist eine Geschichte ihrer Extension34, weil und insoweit sich die Logik der Nichtdiskriminierung Bahn frisst. Diese Bahn mag schief sein, sie mag Brüche und Umwege – ja selbst dramatische Rückfälle wie den mörderischen Rassismus der Shoah – aufweisen, sie mag völkerrechtlich unter nationalen Vorbehalten stehen und mit zahllosen tradierten Rechtsschichten kollidieren, ihre Binnenlogik jedoch ist einsinnig. Diese zeigt zugleich, warum und auf welche Weise normative Ansprüche ihre eigene Durchsetzung begünstigen und auch gegen eine anders gerichtete Realität durchgehalten werden können. Niklas Luhmann kommentiert diese faktische Kraft des Normativen lakonisch mit dem Satz:
32 Nichts anderes meint Jürgen Habermas mit der Wendung: „Mit der ersten Menschenrechtserklärung ist ein Standard gesetzt worden, der die Flüchtlinge, die ins Elend Gestürzten, die Ausgeschlossenen, Beleidigten und Erniedrigten inspirieren und ihnen das Bewusstsein geben kann, dass ihr Leiden nicht den Charakter eines Naturschicksals hat. Mit der Positivierung des ersten Menschenrechts ist eine Rechtspflicht zur Realisierung überschießender moralischer Gehalte erzeugt worden, die sich in das Gedächtnis der Menschheit eingegraben hat.“ Jürgen Habermas, „Das Konzept der Menschenwürde und die realistische Utopie der Menschenrechte“, Deutsche Zeitschrift für Philosophie 58 (2010), 343–357 (= Das Konzept der Menschenwürde), 354. 33 Die Ausnahme bleiben die Staatsbürgerschaft und die durch sie beschränkten bürgerrechtlichen Gewährleistungen. Siehe hierzu Erhard Denninger, „Die Rechte der Anderen. Menschenrechte und Bürgerrechte im Widerstreit“, Kritische Justiz 42 (2009), 239–252. 34 Christoph Menke/Arnd Pollmann, Philosophie der Menschenrechte. Zur Einführung, Hamburg 2007, 99 ff.
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Die Geschichte der Menschenrechte, lanciert in einer Gesellschaft mit Sklaverei, mit massenhaften Enteignungen politischer Gegner, mit drastischen Einschränkungen der Religionsfreiheit, kurz: in der amerikanischen Gesellschaft um 1776, zeigt, daß es möglich ist.35
Die internationale Entwicklung der Grund- und Menschenrechte – der sogenannten „ersten Generation“, insbesondere der Freiheits- und justiziellen Rechte – ist Ausdruck dieses normativ gerichteten Prozesses. Das Grundgesetz der Bundesrepublik hat mit der Menschenwürde, den grundrechtlich garantierten Individualfreiheiten, den Prinzipien der Gleichheit, des Rechtsstaats, der Demokratie (und des Sozialstaats) wesentliche formale und materiale Gerechtigkeitsgehalte des neuzeitlichen Vernunftrechtsdenkens als leitende Normen des positiven Rechts inkorporiert.36 Die Geschichte der Praxis des deutschen Verfassungsrechts seit den 1960er Jahren ist die des schrittweisen Abbaus verbliebener Formen kategorialer Diskriminierungen.37 Entsprechendes geschah und geschieht auf der Ebene anderer, nicht nur westlicher, Nationalstaaten, im Bereich der Europäischen Union (etwa in der Grundrechtecharta38 und den Antidiskriminierungsrichtlinien39) und zugleich in der Entwicklung des völkerrechtlichen Menschenrechtsschutzes zu einem objektiven Rechtsregime. Dies alles beschreibt eine seit dem späten 18. Jahrhundert anhaltende, wenngleich keineswegs gerade verlaufende Entwicklung des Rechts, die sich als fortlaufender Konstitutionalisierungs- und Institutionalisierungsprozess von Grund- und Menschenrechten auf Freiheit und Gleichheit darstellt. Wir können gar nicht anders, als diese Normenentwicklung, jedenfalls was die Ebene ihres leitenden Prinzips, die egalitäre Logik der Nichtdiskriminierung, angeht, in normativer Hinsicht zumindest ex post als sinnhaft und kohärent und insofern als gerichteten Prozess zu interpretieren. Soweit die egalitäre Achtung vor den Einzelnen als Rechtspersonen heute reicht, ist sie, aus normativer Perspektive, d.h. mit Blick auf die Logik ihrer normativen Gründe, die Entfaltung eines einheitlichen Prinzips und nur als solche intelligibel. Die historische Entwicklung der (schrittweisen und schleppenden) 35
So Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 34 f. Robert Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, Freiburg 1992, 121; Ralf Dreier, „Der Rechtsstaat im Spannungsverhältnis zwischen Gesetz und Recht“, in: ders., Recht – Staat – Vernunft. Studien zur Rechtstheorie 2, Frankfurt am Main 1991, 73–94, 84; ders., „Der Begriff des Rechts“, in: ders., Recht – Staat – Vernunft. Studien zur Rechtstheorie 2, Frankfurt am Main 1991, 95–119, 105 ff. 37 Vgl. zum Beispiel des Familien- und Fortpflanzungsrechts Thomas Gutmann, „Mutterschaft zwischen ‚Natur‘ und Selbstbestimmung“, in: Anne Röthel/Bettina Heiderhoff (Hgg.), Regelungsaufgabe Mutterstellung: Was kann, was darf, was will der Staat? Frankfurt am Main 2016, 33–55. 38 Vgl. Hans Dieter Jarass, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Kommentar, München, 3. Aufl. 2016. 39 Vgl. Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (Hg.), Handbuch zum europäischen Antidiskriminierungsrecht, Luxemburg 2011. 36
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Verwirklichung des Prinzips egalitärer Grundrechte und Achtungsansprüche stellt sich retrospektiv als Fortschrittsgeschichte eines sich selbst korrigierenden Lernprozesses dar, der die Kriterien seiner Entfaltung von Anfang an besessen hat. Dies alles will nicht in Abrede stellen, dass die Entwicklung normativer Ordnungen von immer kontingenten historischen Erfahrungen, politischen Opportunitätsstrukturen und path dependencies abhängt und dass diese Entwicklung ebenso wie auch der Wandel normativer Legitimitäts- und Begründungskriterien als agonale Prozesse verstanden werden müssen, die sich im Modus von Macht, Hegemonie und Widerstand, als Kampf um Interpretationen und um Anerkennung realisieren. Dennoch wird man nicht umhinkönnen, in der Logik der Nichtdiskriminierung, dem Fundament der Menschenrechtsidee, ein normatives Prinzip zu sehen, das in der Lage war und ist, seine eigene Verwirklichung voranzutreiben. Die Gründe politischer Akteure, diese Entwicklung zu akzeptieren, mögen heterogen sein. Ihre zentrale Idee hingegen ist, anders als Stefan Kadelbach meint, jedoch in der Tat ein „einheitliches Konstrukt“.
4. Die Grenzen der rechtspositivistischen Perspektive Dass ein positivistischer rechtswissenschaftlicher Blick auf die nationale und internationale Entwicklung des Menschenrechtsregimes nicht verzichtbar ist, versteht sich von selbst. Ihm geraten allerdings zwei Perspektiven auf die Dynamik der Menschenrechte aus dem Blick, ohne die diese nicht hinreichend zu erfassen ist. Die erste ist die in dem vorliegenden Beitrag rekonstruierte Teilnehmerperspektive rechtswissenschaftlich-begründender Argumentation, die auf die innere Logik der normativen Gründe verweist, die die Idee der Menschenrechte (auf Freiheit und Gleichheit) seit jeher angetrieben hat. Diese Logik verbleibt jedoch auch im blinden Fleck philosophischer Analysen der Menschenrechtstradition, deren „glücklichem Positivismus“40 zufolge Menschenrechte in ihrer Geltung heute nicht länger begründet werden müssten41, weil in dem normativen Bestand an positivierten Menschenrechten, der in den völkerrechtlichen Verträgen des UNO-Systems garantiert sei, „die das Recht verpflichtende Gerechtigkeit […] de facto als Ergebnis von Aushandlungen“42 bereits vorliege. Daran ist richtig, dass der normative Bestand an Menschenrechten im internationalen System – das Resultat der von Kadelbach43 beschriebe40
Vgl. Michel Foucault, Die Archäologie des Wissens, Frankfurt am Main 1981, 182. Hans Jörg Sandkühler, Recht und Staat nach menschlichem Maß. Einführung in die Rechts- und Staatstheorie in menschenrechtlicher Perspektive, Weilerswist 2013 (= Recht und Staat), 106, 108, 132. 42 Sandkühler, Recht und Staat, 232. 43 Kadelbach, Die Migration der Menschenrechte, 70 ff. 41
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nen ersten und zweite Phase der Migration der Menschenrechte – beachtlich ist und wir uns auf diese normative Praxis beziehen und ihre inhärenten Gründe dabei immer wieder explizit machen können.44 Doch der weltweit beobachtbare Mechanismus des „zivilgesellschaftlichen Widerstand[s], der sich auf Normen des internationalen Rechts berufen kann“45, macht, wenn er den egalitären normativen Individualismus der Menschenrechte einklagt, immer zugleich auch jenes „Recht auf Rechtfertigung“ geltend, das die Menschenrechtsidee von jeher normativ angetrieben hat. Nicht nur muss, wie Florian Rödl46 im Anschluss an Ronald Dworkin zeigt, der Rechtsanwender um einer angemessenen Interpretation rechtlicher Normen willen auf jene vernunftrechtliche Begründung Rekurs nehmen, die das geltende Recht trägt. Vielmehr wird auch dort, wo sich Individuen und Gruppen weltweit und in zunehmendem Maß der Sprache subjektiver Rechte bedienen, immer aufs Neue jene Begründungsforderung wiederholt, auf die sich die Idee der Menschenrechte seit jeher gestützt hat. Mit der Idee subjektiver Menschenrechte steht ein Mechanismus bereit, mit dem sich immer neue Unrechtserfahrungen in Forderungen nach und Begründungen für Normen transformieren lassen.47 Nicht nur haben sich sehr unterschiedliche soziale Akteure seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert immer wieder derselben Form – der Forderung nach einer Zuschreibung, Anerkennung oder Respektierung von subjektiven Grund- und Menschenrechten – bedient, derselbe Mechanismus lässt sich auch heute allerorten aufzeigen. Es sind nach alledem nicht nur die autopoietischen Mühlen der völkerrechtlichen Verträge, Gerichtsentscheidungen und Debatten, die den Prozess der Migration und Diffusion der Menschenrechte weiter vorantreiben, vielmehr bleibt der überschießende Rest des vernunftrechtlich-philosophischen Begriffs von Menschenrechten in den emergenten Praktiken ebenso wirksam wie in den 44 Vgl. Charles R. Beitz, T he Idea of Human Rights, New York 2009 (= T he Idea of Human Rights), 8 f. und Allen Buchanan, The Heart of Human Rights, Oxford 2013 (= The Heart of Human Rights). Siehe zum Verständnis normativer Konzepte in diskursiven Praktiken allgemein Robert Brandom, Articulating Reasons: An Introduction to Inferentialism, Cambridge, MA 2000, Kapitel 2. Einige neuere Ansätze sind sich darüber einig, dass eine philosophische Analyse der als rechtliche Institutionen wirksamen Konzeptionen „Menschenrechte“ und „Menschenwürde“ zunächst an der juridischen Dimension anzusetzen hat, d.h. sie als spezifisch rechtliche Konzepte verstehen muss, vgl. Charles Beitz, The Idea of Human Rights, 197 ff.; Jacob Weinrib, Dimensions of Dignity. The Theory and Practice of Modern Constitutional Law, Cambridge 2016, 10 und 14 sowie Buchanan, The Heart of Human Rights, 3 ff. und 311. Siehe zur Debatte die vorzügliche Einführung von Rowan Cruft, S. Matthew Liao und Massimo Renzo, „The Philosophical Foundations of Human Rights. An Overview“, in dies. (Hgg.), Philosophical Foundations of Human Rights, Oxford 2015, 1–41. 45 Sandkühler, Recht und Staat, 450. 46 Florian Rödl, „Zur Kritik rechtspositivistischer Menschenrechtskonzeption“, im vorliegenden Band, 41. 47 Vgl. Beitz, T he Idea of Human Rights, xi: „[…] the language of human rights has become the common idiom of social criticism in global politics.“
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Diskursen. Die Verankerung des normativen Gehalts menschenrechtlicher Ansprüche in einer universalistischen Moral gleicher Achtungsansprüche garantiert jenes dynamische Verständnis, das die Verbreitung der Menschenrechte vorantreibt und „das die Bürger unserer eigenen, halbwegs liberalen Gesellschaften für eine immer intensivere Ausschöpfung der bestehenden Grundrechte und für die immer wieder akute Gefahr der Aushöhlung verbürgter Freiheitsrechte sensibilisiert.“48 Diese Verankerung bezeichnet zugleich den Ort, an dem sich eine Theorie der Menschenrechte positionieren muss, wenn sie dem Verdikt Matti Koskenniemis entgehen will, dass (Völker-) Rechtstheorie dazu verdammt ist, hilflos zwischen Apologie und Utopie zu oszillieren, sie also entweder nur die nackten Machtverhältnisse spiegelt oder sich in normativem Wunschdenken verliert, das keinen Bezug mehr zur politischen Praxis hat.49 Die zweite Perspektive auf die Dynamik der Menschenrechte, die einem nur positivistischen rechtswissenschaftlichen Blick entgeht, ist jene, die nur mit den Mitteln der Sozialwissenschaft beobachtbar ist. So legt die luhmannsche Systemtheorie zum einen nahe, dass unter Bedingungen funktionaler sozialer Differenzierung die Anstößigkeit bestimmter kategorialer50 Diskriminierungen, d.h. der Zuschreibung von Rollenasymmetrien durch nicht disponible externe Referenzen (vor allem Rasse, aber auch Religion und sexuelle Orientierung) „strukturell bedingt“51 ist und Diskriminierung in modernen Gesellschaften dysfunk tional wird. Zum anderen spricht vieles dafür, dass die simultane Teilnahme der Individuen an den verschiedenen systemischen Kommunikationen komplexer, funktional ausdifferenzierter Gesellschaften sich nur noch über garantierte subjektive Rechte koordinieren lässt. Es sind demnach subjektive Menschen- und Grundrechte, welche funktionale Differenzierung absichern, indem sie individuelle Freiheiten garantieren. Mit einem gänzlich anderen soziologischen Beobachtungsinstrument kann man mit Lawrence Friedman die sich globalisierende Kultur der Menschenrechte52 analysieren, die den Prozess der Diffusion universalistischer menschen
48 Habermas, Das Konzept der Menschenwürde, 356. Zur T hese der Fundierungsfunktion moralischer Menschenrechte für rechtlich anerkannte Menschenrechte auf nationaler und internationaler Ebene Carl Wellmann, The Moral Dimension of Human Rights, New York 2011. 49 Martti Koskenniemi, From Apology to Utopia. T he Structure of International Legal Argument, Cambridge 2005. Hierzu Thomas Gutmann, „Tra apologia ed utopia“, in: Massimo La Torre (Hg.), Tra apologia e utopia. Forma e decisione nel diritto internazionale (Il contributo di Martti Koskenniemi), Napoli 2013, 17–25. 50 Näher Volker H. Schmidt, „Comparing Inequalities. On a Difference That Makes a Difference“, in: Dan Soen/Melly Shechory/Sarah Ben-David (Hgg.), Minority Groups: Coercion, Discrimination, Exclusion, Deviance and the Quest for Equality, New York 2012, 3–16. 51 Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 581. 52 Lawrence M. Friedman, T he Human Rights Culture: A Study in History and Context, New Orleans 2011. Zu einer praxistheoretischen Analyse vgl. Joel R. Pruce (Hg.), The Social Practice of Human Rights, New York 2015. Siehe zu den Spezifika einer modernen Rechts
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rechtlicher Prinzipien in positive Rechtsordnungen zugleich erdet und vorantreibt. Mit etwas komplexeren Instrumenten wird die Logik dieses Prozesses auch in ihren Tiefenstrukturen sichtbar. Ein solches Instrument ist der world polity-Ansatz der von John W. Meyer begründeten Spielart des soziologischen Neoinstitutionalismus.53 Mit ihm lassen sich die Wechselwirkungen zwischen handlungsleitenden Ideen und den Akteuren, die sie vorantreiben, beschreiben und zeigen, wie globale Handlungsmodelle ihre Akteure selbst generieren. Meyers Doppelthese, dass globale Modelle es lokalen Akteuren erlaubten, sich auf sie zu berufen und die Modelle diese Akteure zugleich (mit-)produzierten, lässt sich exemplarisch an der Entwicklung der Menschenrechtsidee demonstrieren. Die von Meyer et al. nicht zuletzt im Anschluss an Durkheim und Weber begründete Theorierichtung stellt im Wesentlichen auf die empirisch nachweisbare Herausbildung „weltkulturell“ vermittelter Regeln und Handlungsmuster, ja einer „globalen kulturellen Konstruktion des modernen Akteurs“54 ab. Rationale (individuelle und soziale) Akteure seien unter dem herrschenden Paradigma einerseits gehalten, wissenschaftliches Wissen zu berücksichtigen und andererseits ihre Verantwortlichkeit unter Bezugnahme auf universelle Moralund Gerechtigkeitsprinzipien zu demonstrieren, wie dies beispielhaft etwa die Etablierung und Ausarbeitung eines weltweit gültigen Begriffs von Menschenrechten und seiner Implementierung in Rechtssystemen zeige.55 Die Entwicklung des internationalen Menschenrechtsregimes lässt sich so in makrosoziologischer Perspektive als exemplarisches Beispiel eines global institution building56 im Medium des Rechts analysieren – als globaler normativer Lernprozess, der
kultur Lawrence M. Friedman, „Is There a Modern Legal Culture“, Ratio Juris 7 (1994), 117–131. 53 Zum Überblick: Georg Krücken/Gili S. Drori (Hgg.), World Society. T he Writings of John W. Meyer, Oxford 2009; dazu Gutmann, Religion und Normative Moderne, 470 ff. 54 John W. Meyer/John Boli/George M. T homas/Francisco O. Ramirez, „Die Weltgesellschaft und der Nationalstaat“, in: John W. Meyer, Weltkultur. Wie die westlichen Prinzipien die Welt durchdringen, hg. von Georg Krücken, übers. von Barbara Kuchler, Frankfurt am Main 2005, 85–132, hier 114. 55 John W. Meyer/Ronald L. Jepperson, „Die ‚Akteure‘ der modernen Gesellschaft: Die kulturelle Konstruktion sozialer Agentschaft“, in: John W. Meyer, Weltkultur. Wie die westlichen Prinzipien die Welt durchdringen, hg. von Georg Krücken, übers. von Barbara Kuchler, Frankfurt am Main 2005, 47–84, hier 54–58. 56 Francisco Ramirez/John W. Meyer/Christine Min Wotipka/Gili S. Drori, Expansion and Impact of the World Human Rights Regime: Longitudinal and Cross-National Analyses Over the Twentieth Century, Institute for International Studies, Stanford University (Working Paper), Stanford, CA 2002. Von besonderem Interesse ist die Beobachtung Meyers, dass globale normative Lernprozesse durch Diffusion und Expansion von Prinzipien schneller auf der Ebene fundamentaler normativer Prinzipien vonstattengehen als auf der Regelebene (Elizabeth Heger Boyle/John W. Meyer, „Modern Law as a Secularized and Global Model: Implications for the Sociology of Law“, in: Georg Krücken/Gili S. Drori (Hgg.), World Society. The Writings of John W. Meyer, Oxford 2009, 320–343, 328).
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sich durch die Diffusion und Expansion von einheitlichen Prinzipien vermittelt.57 Dies gilt insbesondere für die von Kadelbach58 in die Zeit seit den 1990er Jahren datierte dritte Phase der Migration der Menschenrechte, welche durch verschiedene Arten von Rechtstransfers aus der Welt der „liberalen“ Staaten in andere Systeme gekennzeichnet ist, die von privaten und staatlichen Akteuren wie internationalen Organisationen, Entwicklungshilfeeinrichtungen, Wirtschaftsunternehmen, Anwaltskanzleien und NGOs ausgehen. Ein für uns besonders interessanter Aspekt des Meyer’schen Ansatzes liegt schließlich darin, dass er erklären kann, warum weltkulturelle Modelle (wie etwa die „dünne“ und entbettete, universalistische Rechtsschicht internationaler Menschenrechtsprinzipien), die ohnehin in der Form nicht vollständig realisierbarer Ideale auftreten, meist zunächst dysfunktional für die Gesellschaften sein können, in denen sie umgesetzt werden sollen, weshalb Entkopplungserscheinungen – also Divergenzen zwischen den formalen Modellen (der politischen und juridischen Programmatik bzw. der Selbstdarstellung der Akteure) und der tatsächlichen sozialen Praxis – eher die Regel als die Ausnahme darstellten.59 Dies erklärt das von Kadelbach beschriebene Phänomen, dass Menschenrechte in vielen Gesellschaften (noch) nicht mehr als nur ein Element in einem Geflecht koexistierender, zuweilen widersprüchlicher Werte und Normen sind und dass die in staatlichen Rechtsordnungen vorzufindende „dicke“ Schicht tradierter rechtlicher Kultur die „dünne“, enttraditionalisierte, universalistische und weltkulturell vermittelte Rechtsschicht internationaler Menschenrechtsprinzipien regelmäßig nur unter Reibungsverlusten in sich aufnehmen kann – aber dies immerhin auch dann, „wenn es ihr in weiten Teilen nicht entspricht und auch keine Intention besteht, 57 Siehe zu exemplarischen Studien zur Entwicklung der rechtlichen und politischen Gleichberechtigung von Frauen und ihrer Beteiligung an höherer Bildung sowie zur Liberalisierung des Rechts homosexueller Beziehungen: Nitza Berkovitch, From Motherhood to Citizenship: Women’s Rights and International Organizations, Baltimore/London 1999; Francisco O. Ramirez/Yasemin Soysal/Suzanne Shanahan, „The Changing Logic of Political Citizenship: Cross-national Acquisition of Women’s Suffrage Rights, 1890 to 1990“, American Sociological Review 62 (1997), 735–745; Karen Bradley/Francisco O. Ramirez, „World Polity and Gender Parity: Women’s Share of Higher Education 1965–1985“, Research in Sociology of Education and Socialization 11 (1996), 63–91; John W. Meyer/John Boli/George M. Thomas/Francisco O. Ramirez, „Die Weltgesellschaft und der Nationalstaat“, in: John W. Meyer, Weltkultur. Wie die westlichen Prinzipien die Welt durchdringen, hg. von Georg Krücken, übers. von Barbara Kuchler, Frankfurt am Main 2005, 85–132 (= Die Weltgesellschaft und der Nationalstaat), 96 und David John Frank/Elizabeth McEneaney, „The Individualization of Society and the Liberalization of State Policies on Same-Sexual Relations 1984–1995“, Social Forces 77 (1999), 911–943. 58 Kadelbach, Die Migration der Menschenrechte, 87. 59 Meyer/Boli/T homas/Ramirez, Die Weltgesellschaft und der Nationalstaat, 92–100. Siehe auch Emilie M. Hafner-Burton/Kiyoteru Tsutsui/John W. Meyer, „International Human Rights Law and the Politics of Legitimacy: Repressive States and Human Rights Treaties“, International Sociology 23 (2008), 115–141 zu dem Befund, dass und warum gerade repressive Staaten Menschenrechtsverträge unterzeichnen und ratifizieren.
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Thomas Gutmann
dies zu ändern“60. Der hierdurch entstehende „paradoxe normative Pluralismus […], in dem […] offen bleibt, wie sich seine verschiedenen Teile zueinander verhalten“61 (Kadelbach) ist zunächst also nicht mehr als ein Adaptionsphänomen im Prozess normativer Modernisierung. Als Leitbegriff eines vermittelnden, interdisziplinären Zugriffs auf das Phänomen der Normenentwicklung (auf der hier interessierenden Prinzipienebene) bietet sich das Konzept eines historischen Lernprozesses an. Gesellschaften lernen evolutionär, „indem sie Rationalitätsstrukturen, die in kulturellen Überlieferungen bereits ausgeprägt sind, ‚institutionell verkörpern‘, d.h. für die Reorganisation von Handlungssystemen nutzen.“62 Genau dies geschah und geschieht in der Dynamik der Konstitutionalisierungs- und Institutionalisierungsprozesse von Grund- und Menschenrechten im Recht (das, anders als die Moral, Lerneffekte in Institutionen speichern kann). Jede Festschreibung des erreichten Niveaus an Menschenrechten dient als Anknüpfungspunkt für neue Forderungen nach gleicher Freiheit, hier und anderenorts. Wie nicht zuletzt die große Zahl nichtwestlicher Akteure zeigt, die in nationalen und internationalen Politikfeldern Menschenrechte einfordern, dürfte die fortschreitende Durchsetzung der Standards des universalistischen menschenrechtlichen Egalitarismus am Ende vor allem dadurch erklärbar sein, dass dieser in besonderer Weise auf die Herausforderungen einer global ausgebreiteten sozialen Moderne antworten kann.63
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60 Kadelbach,
Die Migration der Menschenrechte, 87. Die Migration der Menschenrechte, 87. 62 Habermas, Überlegungen zum evolutionären Stellenwert des modernen Rechts, 260. 63 Habermas, Zur Legitimation durch Menschenrechte, 301. 61 Kadelbach,
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Die Dynamik der Menschenrechte
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Neoaristotelismus und Naturrecht
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Menschenrechtsbegründung zwischen klassischem und neuzeitlichem Naturrecht Arno Anzenbacher Im ersten Teil meiner Überlegungen geht es um das klassische Naturrecht, wobei ich mich auf die Position des Thomas von Aquin beziehe, die besonders durch ihren Einfluss auf die spanische Spätscholastik des 16. und 17. Jahrhunderts auf die Neuzeit einwirkte. Im zweiten Teil zeige ich, wo ich die zentrale Differenz zwischen klassischem und neuzeitlichem Naturrecht sehe. Im dritten geht es um einige Grundmotive des neuzeitlichen Naturrechts.
1. Das Naturrecht bei Thomas von Aquin
Während der Aquinate in früheren Schriften seine Ethik eher konventionell mit dem Begriffspaar synderesis und conscientia zu fundieren suchte1, setzt er in der Theologischen Summe ganz auf den Lex-naturalis-Ansatz. Folgen wir seiner Argumentation! Thomas sieht in Aufbau und Funktion von theoretischer und praktischer Vernunft eine Parallele: Beide gründen in unbeweisbaren, aus sich selbst einsichtigen Prinzipien (principia per se nota).2 Im Fall der theoretischen Vernunft geht es dabei um das Nichtwiderspruchsprinzip, das verbietet, etwas zugleich zu bejahen und zu verneinen. Es gründet in der Exklusion von Seiendem und Nicht-Seiendem, ens und non ens. „Wie ‚Seiendes‘ das Erste ist, was überhaupt erfasst wird, so ist ‚Gutes‘ das Erste, das die praktische Vernunft erfasst.“3 Denn alle Praxis agiert um eines Zieles, also um eines Gutes willen. Darum richtet sich alles Streben nach einem Gut. Analog zum Nichtwiderspruchprinzip ergibt sich so als erstes Prinzip der praktischen Vernunft: „Das Gute ist zu tun und zu befolgen und das Schlechte zu meiden.“4
1 So z.B. in T homas von Aquin, De veritate – Von der Wahrheit (lat./dt.), übers. und hg. von Albert Zimmermann, Hamburg 1986 (= De veritate), 16 und 17. 2 T homas von Aquin, Summa theologica, Die deutsche T homas-Ausgabe (lat./dt.), Bd. 13, Graz/Wien/Köln, 1933 ff. (= S.th.), I II 94, 2: utraque enim sunt quaedam principia per se nota. 3 T homas von Aquin, S.th. I II 94, 2: Sicut autem ens est primum quod cadit in apprehensione simpliciter, ita bonum est primum quod cadit in apprehensione practicae rationis. 4 T homas von Aquin, S.th. I II 94, 2: Hoc ergo est primum praeceptum legis, quod bonum est faciendum et prosequendum, et malum vitandum.
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Aber wie sind das bonum und das malum inhaltlich zu bestimmen? Thomas dürfte den Vorteil des Lex-naturalis-Ansatzes gegenüber seiner früheren Position darin gesehen haben, dass der alte Ansatz mit einem materialen Apriori arbeiten musste. Denn die Synderesis wurde gefasst als „ein natürlicher Habitus der ersten praktischen Prinzipien, welche die natürlichen Prinzipien des Naturrechts sind“5. Solche Prinzipien sind aber notwendig material. Im Lex-naturalis-Ansatz geht es Thomas jedoch darum, die formale Methode einer rein rationalen Vermittlung aufzuweisen, durch die bonum und malum inhaltlich bestimmt werden können, ohne dass ein materiales Apriori vorausgesetzt werden muss. Offenbar fasste er diese Vermittlungmethode als einen natürlichen, allgemein menschlichen Habitus, also als ein moralisches Apriori, das implizit in jeder individuellen Gewissensüberlegung und explizit in jeder ethischen Argumentation zur Anwendung kommt. Worin besteht diese Vermittlungsmethode? Die inhaltliche Bestimmung des bonum und malum durch die praktische Vernunft setzt nach Thomas einen anthropologischen Rekurs voraus. Sie hängt also vom Begriff des Menschen ab, den die Ratio sich bilden muss. Aus diesem Begriff oder Wesensverständnis der natura humana weist die Ratio jene natürlichen Inklinationen (inclinationes naturales) auf, die für den Menschen als Mensch notwendig der Fall sind, weil sie aus seinem Wesen folgen. Es geht also um die mit seinem Menschsein gegebenen natürlichen Interessen bzw. Bedürfnisse. Johannes Messner nannte sie „existentielle Zwecke“6, Wilhelm Korff „ein unbeliebig offenes System von Strebungen“7. Diese natürlichen Inklinationen beziehen sich auf Ziele bzw. Güter (bona humana), ohne die der Mensch nicht gut leben und sich entfalten kann. Nach Thomas „erfasst die Ratio alles das, wozu der Mensch eine natürliche Inklination hat, natürlicherweise als etwas Gutes, das darum im Handeln zu erstreben ist, und das Gegenteil davon als etwas Schlechtes, das man meiden muss“8. Er führt für dieses System der Inklinationen Beispiele an9: das Streben nach Selbsterhaltung, die Verbindung von Mann und Frau und die Erziehung der Kinder, die Inklination, die Wahrheit über Gott zu erkennen, in Gemeinschaft zu leben sowie die Unwissenheit zu meiden. Aufgabe der Ratio, sowohl im consilium des persönlichen Gewissens als auch in der Ethik bzw. Rechtsphilosophie als Wissenschaft, ist es, das System der natürlichen Inklinationen und ihrer bona humana aus dem Wesen des Menschen aufzuweisen und in eine Ordnung zu bringen, aus der sich dann die Ordnung der konkreten inhaltlichen
5 T homas von Aquin, De veritate, 16, 1.: habitus naturalis primorum principiorum operabilium , quae sunt naturalia principia iuris naturalis. 6 Johannes Messner, Das Naturrecht, Innsbruck, 5. Aufl. 1966, 43–63. 7 Wilhelm Korff, Norm und Sittlichkeit, Mainz 1973, 289. 8 T homas von Aquin, S.th. I II 94, 2: omnia illa ad quae homo habet naturlem inclinationem, ratio naturaliter apprehendit ut bona, et per consequens ut opere prosequenda, et contraria eorum ut mala et vitanda. 9 Ibid.
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Normen des Naturgesetzes ergibt, also der praecepta legis naturae. Soweit die Skizze des Ansatzes. Ich möchte diesen Ansatz gegen zwei verbreitete Missverstände präzisieren: Das eine versteht ihn als spezifisch theologisch bzw. als religionsbedingt, das andere als Basis eines starren, ungeschichtlichen Naturrechts. Zunächst zur theologischen Etikettierung! Nach Thomas ist die lex naturalis „Partizipation des ewigen Gesetzes in der vernünftigen Kreatur“10. Dabei fasst er das ewige Gesetz, die lex aeterna, als „den Plan der göttlichen Weisheit, durch den sie alle Handlungen und Bewegungen lenkt“11, also als Schöpfungsplan, Schöpfungsordnung und Providenz. Das Dasein Gottes als Schöpfer gilt Thomas als philosophisch aufweisbar und setzt darum keine Offenbarung voraus. Systematisch liefert die lex aeterna dem Lex-naturalis-Ansatz lediglich die Gewissheit, dass Kosmos ist und nicht Chaos, dass die Natur nicht zwecklos wirkt (natura non agit frustra) bzw. dass das Wirkliche vernünftig ist. Dabei betont Thomas, „dass niemand das ewige Gesetz zu erkennen vermag, wie es in sich selbst ist“12. Die menschliche Partizipation am ewigen Gesetz vollzieht sich ausschließlich durch die endliche Ratio, weswegen wir das ewige Gesetz immer nur beschränkt bzw. mehr oder weniger (plus vel minus) erkennen. Während die Providenz der lex aeterna die Tätigkeit der vernunftlosen Kreaturen unmittelbar durch deren natürliche Inklinationen regelt, etwa bei den Tieren durch natürliche Instinkte, „untersteht die vernünftige Kreatur in vollkommenerer Weise der göttlichen Providenz, sofern sie selbst an der Providenz partizipiert, indem sie für sich selbst und für andere vorsieht“13. Sie unterliegt also nicht nur dem ewigen Gesetz, sondern ist selbst gesetzgebend. Die praecepta legis naturae sind darum keine irgendwie vorgegebenen, subsumtionsallgemeinen Gesetze, etwa im Sinne naturwissenschaftlich verstandener Naturgesetze, sondern Artefakte der Ratio. Im Lex-naturalis-Ansatz sind das Naturgemäße und das Vernunftgemäße äquivalent, da einerseits die Ratio die spezifische Differenz der natura humana ist und wir andererseits die natura humana sowie deren natürliche Inklinationen nur insofern erkennen, als unsere Ratio sie aufweist.14 Das klassische Naturrecht ist also durchaus philosophisches Vernunftrecht. Die moralischen Gebote der positiven Offenbarung, also die lex divina, die biblisch in Dekalog und Bergpredigt zusammenge
10 T homas
von Aquin, S.th. I II 91, 2: participatio legis aeternae in rationali creatura.
11 T homas von Aquin, S.th. I II 93, 1: ratio divinae spientiae secundum quod es directiva
omnium actuum et motionum. 12 T homas von Aquin, S.th. I II 93, 2: quod legem aeternam nullus potest cognoscere secundum quod in seipsa est. 13 T homas von Aquin, S.th. I II 91, 2: Inter cetera autem rationalis creatura excellentiori quodam modo divinae providentiae subiacet, inquantum et ipsa fit providentiae particeps, sibi ipsi et aliis providens. 14 Dazu: T homas von Aquin, S.th. I II 19, 1–3.
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fasst sind, gehen nach Thomas nicht über die lex naturalis hinaus, sondern sind aus ihr abgeleitet.15 Das zweite Missverständnis fasst das klassische Naturrecht als starr und ungeschichtlich. Wie wir sahen, gehen nach Thomas die theoretische und die praktische Vernunft von ersten Prinzipien aus. Aber im Übergang von den Prinzipien zu den konkreten Konklusionen unterscheiden sie sich. Im Fall der theoretischen Vernunft findet sich dieselbe Wahrheit sowohl in den Prinzipien wie auch in den Konklusionen. „Aber die praktische Vernunft hat mit den Kontingenzen zu tun, in welchen sich Praxis vollzieht. Wenn also auch in den allgemeinen Prinzipien eine gewisse Notwendigkeit gegeben ist, so finden sich umso mehr Abweichungen, je mehr es um die Konkretionen geht.“16 So nimmt Thomas durchaus erste, in sich einsichtige praktische Prinzipien an, die als solche unveränderlich sind, etwa dass das Gute zu tun ist, dass man nach seinem Gewissen handeln und andern nicht schaden soll oder auch die Goldene Regel bzw. den Lex-naturalis-Ansatz als solchen. Auch sehr allgemeine materiale Normen wie das Verbot von Mord, Raub, Ehebruch und Lüge gelten als ziemlich allgemeinmenschlich. In den Konklusionen und Konkretionen jedoch bewirken soziale und kulturelle Kontingenzen vielfältige Ausnahmen und Sonderregelungen. So bedenkt Thomas etwa die Mitteilung Caesars, der Raub habe bei den Germanen nicht als Unrecht gegolten.17 Diese Offenheit für Veränderung betont er auch bezüglich der lex humana, also der positiven Rechtsordnung, deren Legitimität von ihrer Ableitbarkeit aus der lex naturalis und den Erfordernissen des bonum commune abhängt, wobei er allerdings dafür plädiert, Veränderungen nur dann vorzunehmen, wenn diese offenkundig für das allgemeine Wohl nützlich und erforderlich sind.18 Hier ist auf einen weiteren Aspekt hinzuweisen: Wir sahen bereits, dass die menschliche Ratio nach Thomas keinen Zugang zum absoluten Wissen der lex aeterna hat, sondern als endliche, perspektivische, partikulare Vernunft (ratio particularis) immer nur beschränkt an dieser partizipiert. Aber diese Partikularität ist in der Schöpfungsordnung vorgesehen. „Diese je besondere Hinordnung, die aus seiner Natur folgt, und diese partikuläre Vorstellung eines Sachverhalts, hat der Mensch von Gott als Wirkursache.“19 Er ist so geschaffen und gewollt, dass er in je bestimmter Kontextualität situiert ist und nur in dieser erkennen, wollen und handeln kann. Sein Wille ist dann gut, „wenn er [in dieser
15 T homas von Aquin, S.th. I II 100, 1: omne autem rationis humanae iudicium aliqualiter a naturali ratione derivatur: necesse est quod omnia praecepta moralia pertineant ad legem naturae. 16 T homas von Aquin, S.th. I II 94, 4: Sed ratio practica negotiatur circa contingentia, in quibus sunt operationes humanae: et ideo, etsi in communibus sit aliqua necessitas, quanto magis ad propria descenditur, tanto magis invenitur defectus. 17 T homas von Aquin, S.th. I II 94, 4: Ende der Responsio. 18 T homas von Aquin, S.th. I II 95–97, besonders 97, 2. 19 T homas von Aquin, S.th. I II 19, 10.
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seiner Kontextualität] das will, was Gott [der ihn in diese Kontextualität setzte] will, dass er es wolle“20. Prinzipieller kann man den Geschichtlichkeitsaspekt kaum betonen.
2. Die Differenz zwischen klassischem und neuzeitlichem Naturrecht Blickt man von Thomas aus auf Kant, so liegt die Differenz meines Erachtens nicht in der Andersartigkeit des Lex-naturalis-Ansatzes selbst, also nicht auf der Metaebene der von Thomas als universell gültig, also als apriorisch gefassten formalen Vermittlungsmethode der praktischen Vernunft, sondern in deren materialer Implementierung. Hier erweist sich Thomas als vorneuzeitlicher Denker und als ein Kind seiner Zeit. Der Lex-naturalis-Ansatz als Basis des klassischen Naturrechts lässt sich, wie ich meine, als solcher durchaus mit Kants „Grundlegung der Metaphysik der Sitten“ vereinbaren. Er ist als solcher formal. Sein Universalisierbarkeitsaspekt liegt im anthropologischen Rekurs. Befragte man Kants kategorischen Imperativ nach den Kriterien bzw. Bedingungen, von denen es abhängt, ob Handlungsmaximen als allgemeine Gesetze gelten können, so käme man rasch zu dem, was Thomas mit seinen inclinationes naturales und bona humana meinte. Die „Zwecke, die an sich Pflichten sind“21 in Kants Tugendlehre sind nächste Verwandte dieser inclinationes naturales. Aber inwiefern liegt die Differenz in der Implementierung des Ansatzes? Thomas hätte im Rahmen seiner Philosophie und seines Lex-naturalis-Ansatzes an sich die Möglichkeit zu folgender Argumentation gehabt: Er hätte davon ausgehen können, dass der Mensch auf Grund seines Wesens einen freien Willen (liberum arbitrium) besitzt. Diese innere, moralisch relevante Freiheit hat Thomas stets vertreten und mehrfach expliziert.22 An sich hätte er aus dieser Tatsache der inneren Freiheit eine natürliche Inklination aufweisen können, deren Ziel die äußere Freiheit als ein bonum humanum ist, also ein freiheitlicher sozialer Status als moralische und rechtliche Konsequenz der inneren Autonomie. Prinzipiell wäre er mit einer solchen Argumentation bei der Menschenrechtsidee des neuzeitlichen Naturrechts angekommen. Aber dieser Schritt war für ihn offenbar unmöglich. Angesichts der Dominanz und scheinbar alternativlosen Funktionsfähigkeit des Feudalsystems und der Verschränkung der noch nicht
20 Thomas von Aquin, S.th. I II 19, 10: Quia hanc propriam inclinationem consequentem
naturam, vel apprehensionem particularem huius rei habet res a Deo sicut causa effectiva. Unde consuevit dici quod conformatur, quantum ad hoc, vountas hominis voluntati divinae, quia vult hoc quod Deus vult eum velle. 21 Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten. Tugendlehre, hg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt am Main 1977, A 7–A 18. 22 Z.B. T homas von Aquin, S.th. I 83 oder I II 6.
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ausdifferenzierten Teilsysteme musste er die für das System konstitutive Differenz von Freien und Unfreien, liberi und servi, als vernünftig und legitim betrachten. Zudem schloss die tiefe Verschränkung von Politik, Recht, Wirtschaft und Religion noch weitgehend jene Individualisierung und Subjektstellung aus, welche die Voraussetzung eines freiheits- bzw. menschenrechtlichen Status bilden. Thomas sah zwar durchaus, dass das Naturrecht an sich schon auf Grund der spezifischen Gleichheit der Menschen sowohl das gemeinsame Eigentum an allem als auch die gleiche Freiheit aller nahelegt. Privateigentum (distinctio possessionum) und Unfreiheit (servitus) folgen also nicht aus der Natur des Menschen, sondern sind Konklusionen bzw. Festsetzungen der menschlichen Ratio, die sie „zum Nutzen des menschlichen Lebens“ vorsieht23, was er im ius gentium, also in den unter den Völkern verbreiteten Konklusionen des Naturrechts bestätigt sieht. Insofern kann er bezüglich des Verhältnisses von dominus und servus, aber ebenso auch von Mann und Frau weitgehend der alten Argumentation des Aristoteles folgen.24 Diese für seine Zeit typische Sichtweise änderte sich im Zuge des sozialen Wandels, des Aufstiegs des Bürgertums und der zunehmenden Disfunktionalität des Feudalsystems. Das wachsende, sich aus Universitäten und Schulen rekrutierende Bildungsbürgertum forderte kulturelle Freiheit gegenüber der kirchlich reglementierten Einheitskultur und der philosophisch-theologischen Dominanz der Scholastik sowie Freiheit für Wissenschaft und Kunst. In diesem Trend stehen Renaissance und Humanismus. In der devotio moderna und der Reformation artikulieren sich im Gegenzug zur kirchlich-ständischen Heilsvermittlung eine neue gottunmittelbare Individualisierung und Subjektstellung. – Dem gegenüber fordert das ebenfalls wachsende Besitzbürgertum ökonomische Freiheit, Befreiung von Reglementierungen durch die Zünfte, durch das feudale Lehenssystem sowie durch die von den Landesherrn verfügten Belastungen. Prinzipiell ging es dabei um die Freiheit der Person, uneingeschränkt über ihre Arbeitskraft und Kreativität zu verfügen, ferner um die Freiheit des Eigentums und schließlich um die des Vertrags, also um das Recht, frei Verträge über Eigentum und Arbeitskraft, also Kauf- und Arbeitsverträge zu schließen, womit sich menschenrechtlich die Weichen zum Frühkapitalismus abzeichneten. In dieser neuen Sicht folgt aus der Natur des in sich freien Menschen die natürliche Inklination zu einem freiheitsrechtlichen Status als bonum humanum und Rechtsanspruch, also die in den Begriffen der Freiheit und Gleichheit fokus
23 T homas
von Aquin, S.th. I II 94, 5 ad 3: Et hoc modo communis omnium possessio et omnium una libertas, dicitur esse de iure naturali: quia scilicet distinctio possessionum et servitus non sunt inductae a natura, sed per hominum rationem, ad utilitatem humanae vitae. 24 Z.B. T homas von Aquin, S.th. II II 57, 4. Vgl. Arno Anzenbacher, „Das Bild der Frau bei Thomas von Aquin“, in: Christian Spieß/Katja Winkler (Hgg.), Feministische Ethik und christliche Sozialethik, Münster 2008, 17–37.
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sierte neuzeitliche Menschenrechtsidee. Allerdings lässt sich die – für Thomas irreale – freiheits- bzw. menschenrechtliche Argumentation nicht einfach als das Resultat einer natürlichen Inklination neben anderen verstehen. Vielmehr tendiert sie notwendig dazu, die anderen Inklinationen zu dominieren, zu verwandeln, ja teilweise auszublenden. Denn sie nötigt dazu, die anderen Inklinationen und deren bona humana, etwa die von Thomas aufgezählten, freiheitlich zu konzipieren: Im Zuge der Entwicklung wird die ökonomische Selbsterhaltung zur freien, auf dem Eigentumsrecht basierenden Wirtschaftsform; Sexualität, Familie und Erziehung werden liberalisiert; die Erkenntnis der Wahrheit über Gott modifiziert sich zur Religions-, Gewissens- und Meinungsfreiheit; das Leben in Gemeinschaft wird auf den Boden der gleichen Freiheit aller gestellt und tendiert damit zu Bürgerrechten sowie zum demokratischen Rechtsstaat, und aus der Überwindung der Unwissenheit wird ein freiheitliches und chancengleiches Bildungssystem. Die Differenz zwischen klassischem und neuzeitlichem Naturrecht liegt, wie ich meine, in diesem Paradigmenwechsel, den ich als die – für Thomas irreale – freiheitsrechtliche Implementierung des Lex-naturalis-Ansatzes interpretierte, der als solcher diesen Implementierungsvarianten gegenüber offen ist. Der Menschenrechtsdiskurs und das neuzeitliche Naturrecht verdanken sich der Aufklärung. Man kann allerdings fragen, inwieweit das klassische Naturrecht Rechte kennt und zu begründen vermag, die sich notwendig aus dem Wesen und der Würde des Menschen ergeben, ohne die skizzierte freiheits- und gleichheitsrechtliche Implementierung des Lex-naturalis-Ansatzes vorauszusetzen, die dann dominant wurde. Diese Frage hat nicht zuletzt für die katholische Sozialethik Bedeutung. Denn die Genese der katholischen Soziallehre im 19. und ihre Entfaltung im 20. Jahrhundert erfolgten maßgeblich im Zuge einer an Thomas orientierten Neuscholastik. Man glaubte, mit dem Rückgriff auf das klassische Naturrecht und in Ablehnung des skizzierten Paradigmenwechsels eine Position beziehen zu können, die in den aktuellen sozialen Fragen des 19. und 20. Jahrhunderts zielführende Antworten bietet. Ohne ein Sympathisant der Neuscholastik zu sein, meine ich doch, dass gerade ihr sozialethischer Rekurs auf Thomas trotz mancher Schwächen auch durchaus Vorteile hatte. Ich denke dabei etwa an Heinrich Pesch, Gustav Gundlach, Oswald von Nell-Breuning, Johannes Messner, Eberhard Welty, Joseph Höffner und andere, die durchwegs neuscholastisch geprägt waren. Ohne hier auf Details einzugehen, lässt sich sagen, dass es in einer derartigen klassisch-naturrechtlichen Systematik zentral um die Begriffe „Person“ und „Gemeinwohl“ geht. Der anthropologische Rekurs auf die Person verweist einerseits auf die Frage nach dem Wesen des Menschen und das natural unbeliebige System seiner Inklinationen bzw. Bedürfnisse und andererseits auf die menschliche Sozialnatur, auf Grund derer das Wohl des Menschen nur in solidarischer Kooperation verwirklicht werden kann. Dieser Sachverhalt zeigt die
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prinzipielle Verschränkung von Einzelwohl (bonum proprium) und Gemeinwohl (bonum commune).25 Moralisch heißt das nach Thomas, dass „die Gutheit eines jeden Teils vom Verhältnis zu seinem Ganzen abhängt“26. Darum ist es unmöglich, dass ein Mensch, der Teil einer Bürgerschaft ist, gut ist, „wenn er sich nicht gegenüber dem Gemeinwohl gut verhält“27. Aber „auch das Ganze kann nicht gut bestehen, wenn es nicht aus ihm entsprechenden Teilen besteht“28. Dabei ist das bonum commune nicht einfachhin die Summe der bona propria, die sich aus den Eigeninteressen und den Bestrebungen der Gesellschaftsglieder ergeben. Es geht vielmehr darum, dass diese bona propria im bonum commune und final auf dieses hin vermittelt, organisiert und gefördert werden, so dass alle an ihm partizipieren und in ihm integriert sind. Das aber ist letztlich Aufgabe der Gesetzgebung, also der lex humana. Nach Thomas ist ein Gesetz nur auf Grund seiner Hinordnung auf das bonum commune legitim.29 Das Gemeinwohl ist Legitimationsgrund der gesamten Gesellschafts- und Rechtsordnung und damit Ziel aller Gerechtigkeit. Natürlich war Thomas selbst auch hier ein Kind seiner Zeit. Er fasste die gerechte Partizipation am bonum commune als standesgemäßes bonum proprium, das sich in Lehenswesen und Feudalsystem extrem ungleich vermittelt und konkretisiert. So trägt der Grundherr Verantwortung für das Wohl des hörigen Bauern. Das bonum proprium des schlechthin Armen erschöpft sich im Almosen, das man ihm gibt und auf das er ein Recht hat. Als gewissermaßen natürliche, allgemeinmenschliche Rechte könnte man vielleicht das Recht auf Leben nennen sowie Rechte im Bereich Ehe und Familie oder Rechte auf Schutz vor Raub und Gewalt. Wollte man bei Thomas ein Analogon zur Menschenrechtsidee suchen, so wäre es meines Erachtens am ehesten das Recht eines jeden auf Integration in das bonum commune. Meines Erachtens liegt hier ein wichtiger Punkt, wenn man die neuzeitliche Menschenrechtsidee auf das klassische Naturrecht bezieht. Natürlich haben die am klassischen Naturrecht orientierten Sozialethiker den alten Ansatz in vieler Hinsicht modernisiert und auf die Gegebenheiten ihrer Zeit bezogen. Der Kern der präpositiven Menschenrechtsidee lag aber für sie letztlich genau in diesem Recht auf Gemeinwohlintegration. Im Zentrum dieses Rechts stand weder die abstrakte Idee der Freiheit im Sinne des Liberalismus noch jene ebenso ab
25 Arthur Fridolin Utz, Sozialethik. I. Teil: Die Prinzipien der Gesellschaftslehre, Heidelberg 1958 bietet in Anhang I eine Zusammenstellung der Thomas-Texte zur Sozialnatur (341–350) und in Anhang II eine solche zum bonum commune (351–397). 26 T homas von Aquin, S.th. I II 92, 1 ad 3. 27 T homas von Aquin, S.th. I II 92, 1 ad 3. 28 T homas von Aquin, S.th. I II 92, 1 ad 3: Bonitas cuiuslibet partis consideratur in proportione ad suum totum […]. Cum igitur quilibet homo sit pars civitatis, impossibile est, quod […] sit bonus, nisi sit bene proportionatus bono communi; nec totum potest bene existere nisi ex partibus sibi proportionatis. 29 Z.B. T homas von Aquin, S.th. I II 90, 2: Et ideo omnis lex ad bonum commune ordinatur.
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strakte Idee der Gleichheit im Sinne des Sozialismus. Vielmehr ging es ihnen um das Recht auf jene bona humana, die sich im Sinne der inclinationes naturales aus dem Begriff des Menschen als Person aufweisen lassen und deren Ensemble den Inhalt des Gemeinwohls ausmacht. Dass Freiheit und Gleichheit zu diesem Ensemble gehören, war ihnen durchaus klar, aber eben nicht als abstrakt dominante Leitprinzipien. Schon bei Thomas verweist, wie wir sahen, das primäre Naturrecht auf das gemeinsame Eigentum an allem (communis omnium possessio) und die gleiche Freiheit aller (omnium una libertas), allerdings so, dass diese Optionen durch die menschliche Ratio in der Weise zu gestalten und zu regeln sind, dass sie sich gemeinwohlartig zum Nutzen des menschlichen Lebens (ad utilitatem humanae vitae) auswirken. Auf dieser Basis konnten die genannten Sozialethiker, aber auch die kirchliche Sozialverkündigung sowohl den liberalen Kapitalismus als auch die diversen sozialistischen Systeme kritisieren. Zum Teil nahmen sie damit die Liberalismuskritik der Kommunitaristen vorweg. In gewisser Hinsicht lässt sich die Gemeinwohlintegration als klassisch-naturrechtliches Analogon der Menschenrechtsidee vergleichen mit dem, was Hegel im Gegensatz zur abstrakten Freiheit die „konkrete Freiheit“30 nennt.
3. Neuzeitliches Naturrecht Werfen wir einen Blick auf den argumentativen Hintergrund der frühen neuzeitlichen Entwicklung, der zu den Menschenrechtserklärungen der amerikanischen und der französischen Revolution führte! Ein zentrales Anliegen der Aufklärung war es, die diversen Teilbereiche des tradierten Systems einer radikalen Destruktion zu unterwerfen, sie neu zu analysieren, ihre nicht weiter reduzierbaren Elemente aufzuweisen und wissenschaftlich stringent eine Neukonstruktion vorzuschlagen. So etwa führte der systematische Zweifel Descartes’ zum Cogito als Angelpunkt seines Rationalismus. Sozialphilosophisch ging es um die Destruktion des immer noch dominanten Gefüges aus Feudalismus, Verschränkung der Teilsysteme, Hierarchien und Privilegien. Als elementares Resultat dieser Destruktion ergab sich ziemlich konsensuell das durch Freiheit und Gleichheit charakterisierte naturzuständliche menschliche Individuum. Alles andere galt als künstliches historisches Konstrukt, das zur Disposition steht. Allerdings interpretierten die Autoren den Naturzustand und in seiner Konsequenz die kontraktualistische Neukonstruktion der Gesellschaft durchaus unterschiedlich. Die Freiheit, auf die rekurriert wurde, war primär gefasst als jene äußere Handlungsfreiheit, die nach der theoretischen Destruktion aller systemischen 30 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Werke in 20 Bd., Bd. 7, Frankfurt am Main 1986, § 260.
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Zwänge im fiktiven Naturzustand angesetzt wurde. In diesem Sinne galt Freiheit als ursprünglich und natürlich und allein auf Grund dieser Ursprünglichkeit und Natürlichkeit als rechtlich normativ für die neu zu gestaltende Gesellschaft. Die Begründung des Freiheitsrechts lag später, vor allem bei Kant, Fichte und Hegel in der moralisch relevanten Autonomie als Selbstbestimmung und in der darin begründeten spezifischen Würde des Menschen, woraus dann Freiheit als das „einzige, ursprüngliche, jedem Menschen, kraft seiner Menschheit, zustehende Recht“31 folgt. Auch beim Aquinaten gründete die an sich naturrechtlich geforderte omnium una libertas im liberum arbitrium. Für Empiristen wie Hobbes, Locke und Hume war jedoch Willensfreiheit in sich philosophisch unmöglich. Dann allerdings stellt sich die Frage nach der Differenz von Mensch und Tier bzw. nach der menschenrechtlichen Sonderstellung des Menschen und – in jüngster Zeit – nach dem Umgang mit dem Speziesismusvorwurf. In diesem Punkt war vor allem Rousseau ein Vorläufer Kants. Bezüglich der naturzuständlichen Gleichheit tendierten die klassischen Kontraktualisten übereinstimmend dazu, natural unbeliebige Ungleichheiten, etwa an Intelligenz oder Körperkraft, auszublenden oder zu minimieren. Das ist verständlich, galt es doch, alle Legitimationsgründe der ständischen Unterschiede und des Adels zu destruieren. Die Unerheblichkeit von Ungleichheiten zeigt sich etwa bei Hobbes schon darin, dass „der Schwächste stark genug [ist], den Stärksten zu töten“32. Er schreibt: „Was diese Gleichheit vielleicht unglaubwürdig erscheinen läßt, ist nur eine selbstgefällige Eingenommenheit von der eigenen Weisheit, von der fast alle Menschen annehmen, sie besäßen sie in höherem Maße als das gewöhnliche Volk.“33 Mit Recht wies Martha Nussbaum darauf hin, dass diese Egalisierungstendenz des alten, aber auch des zeitgenössischen Kontraktualismus notwendig Grenzen der Gerechtigkeit nach sich zieht, etwa wenn man an den Unterschied der Geschlechter, an Krankheit und Behinderung, Kinder und Alte oder an die Differenz der soziokulturellen oder nationalen Chancenlagen denkt.34 Dazu kommt eine signifikant individualistische Tendenz. Das elementare Resultat der Destruktion ist nicht die immer schon und wesentlich in familialen und sozialen Beziehungskontexten stehende oder unter deren Fehlen leidende Person, sondern das Individuum als solches, in der Sprache der aktuellen kommunitaristischen Kritik: das unencumbered self (Michael J. Sandel). Hier liegt auch heute noch ein wichtiges Problem, das die globale Akzeptanz des euro31
Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten. Rechtslehre, hg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt am Main 1977 (= Metaphysik der Sitten. Rechtslehre), AB 45. 32 T homas Hobbes, Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates, Frankfurt am Main 1984 (= Leviathan), 94. 33 Hobbes, Leviathan, 94. 34 Martha Nussbaum, Die Grenzen der Gerechtigkeit. Behinderung, Nationalität und Spezieszugehörigkeit, Frankfurt am Main 2010.
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päisch geprägten Menschenrechtsdenkens belastet. Die libertäre Behauptung des Vorrangs der individuellen Selbstbestimmung gegenüber traditionellen Ideen, sozialen Identitäten und Bindungen ist interkulturell keineswegs plausibel. Charles Taylor verweist auf eine weitere wichtige Tendenz des neuzeitlichen Naturrechts. Er nennt sie im Kontext des Neostoizismus von Justus Lipsius das „Eindringen der poietischen Einstellung in den Bereich der Praxis“35. So sehr der Aquinate im Sinne des klassischen Naturrechts die Rolle der Ratio in der Explikation der lex naturalis betonte, so offenkundig zielte bei ihm die Anstrengung der Ratio darauf ab, die natural unbeliebigen Inklinationen aufzuweisen, die sich ontologisch aus der natura humana ergeben und die personale Entfaltung bedingen. Letztlich ging es ihm darum, die aristotelische Naturteleologie mit ihren naturalen Konstanten auf die Praxis zu beziehen. Dagegen tendiert die Neuzeit dazu, diese Konstanten zu verflüssigen und der poietisch-technischen Vernunft verfügbar zu machen, ja sogar einen neuen Menschen zu schaffen. Dazu trug jenes wissenschaftliche Pathos bei, das etwa Francis Bacons „Novum organum scientiarum“ (1620) beseelte. Nach Descartes macht uns unser Wissen und Können zu „Herren und Eigentümern der Natur“36. Zwar nennt Hugo Grotius die natura humana „die Mutter des Naturrechts“37, in seinem Naturrechtsbegriff geht es jedoch nicht mehr um die teleologische Auslegung einer ontologischen Basis, die Freiheit fundiert und unbeliebige Ungleichheiten aufweist. Theologisch steht hinter dieser Poietisierung der Praxis einerseits das antiaristotelistische, ockhamistische Anliegen, die absolute Souveränität Gottes gegenüber aller Naturteleologie zu garantieren. Der Mensch als Ebenbild Gottes beansprucht auf Grund seines Wissens und Könnens analoge Souveränität. Andererseits blendet die aufgeklärte Theologie, etwa in der Spielart des „providentiellen Deismus“38, Gnade und Vorsehung Gottes aus der Geschichte aus und ersetzt sie durch die poietische Providenz des Menschen. Auf dieser Basis entwickelten die drei Klassiker des Kontraktualismus ihre Vorschläge zum Gesellschaftsvertrag, die in ihrer Verschiedenheit für die Begründungsdiskurse der Menschenrechte bis heute relevant sind. Hobbes argumentiert pessimistisch: Die gleiche absolute Freiheit des Naturzustands führt in die Aporie des Kriegs aller gegen alle. Nur wenn die Menschen gesellschaftsvertraglich den großen Leviathan zur Herrschaft ermächtigen, besteht die Aussicht eines in beschränkter Freiheit einigermaßen sicheren, friedlichen und gedeih
35 Charles Taylor, Ein säkulares Zeitalter, Frankfurt am Main 2009 (= Ein säkulares Zeitalter), 198, dazu: 197–213. 36 René Descartes, Discours de la Méthode, Von der Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und der wissenschaftlichen Forschung, übers. und hg. von Lüder Gäbe, Hamburg 1960, VI, 2. 37 Hugo Grotius, De iure belli ac pacis, hg. von Philip. C. Molhuysen, Clark, NJ 2005, Prolegomena 16. 38 Charles Taylor, Ein säkulares Zeitalter, 379–459.
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lichen Lebens. Angesichts der enormen Verwerfungen der letzten Jahre, etwa im Vorderen Orient und in Nordafrika, sollte man Hobbes nicht vorschnell als überholt abtun. Im Gegensatz zu ihm begründete Lockes Gesellschaftsvertrag den politischen und ökonomischen Liberalismus, die gewaltenteilige repräsentative Demokratie und die besitzindividualistisch geprägte Wirtschaft. Signifikant ist seine ihrem Anspruch nach naturrechtliche Koppelung von Freiheit und Eigentum: Freiheit ist zunächst das Eigentumsrecht an der eigenen Person und deren eigener Arbeit. Die ursprüngliche Akkumulation dieses Eigentums erfolgt durch die Mischung von Arbeit und herrenlosem Gut39, ein Argument, das dann Kant brillant kritisierte40. Rousseau sah, dass die starke individuelle Freiheit des L ocke’schen Gesellschaftsvertrags zu Vermachtungen und Ungleichheiten führt, die das sittliche Niveau der Gesellschaft pervertieren. Die Freiheit der einen wird zur Unfreiheit der andern. Sein Gesellschaftvertrag setzt auf die Etablierung einer sittlich-vernünftigen volonté générale durch direkte Demokratie. Ihre Herrschaft soll das Menschenrecht auf gleiche Freiheit auf seinen vernünftigen Begriff bringen und die individuelle Willkürfreiheit überwinden. Die diversen Sozialismen griffen vor allem auf Rousseaus Vorschlag zurück und zeigten zugleich, dass diese volonté générale ein repressiver Leviathan werden kann. Im Anschluss an das klassische Naturrecht, das die Spätscholastik des 16. und 17. Jahrhunderts der Neuzeit vermittelte, schuf das neuzeitliche Naturrecht des 17. und 18. Jahrhunderts die Basis des modernen Menschenrechtsdenkens, das zweifellos einen zentralen Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit darstellt. Auf dieser Basis entwickelten sich die sogenannten Menschenrechtsgenerationen, zunächst die Freiheitsrechte des negativen Status, die Bürgerrechte des aktiven, die sozialen Anspruchsrechte des positiven Status und schließlich die kollektiven Rechte. In jeder dieser Generationen differenzierten sich die Menschenrechte in eine Vielzahl von Einzelrechten aus, was vielleicht eine gewisse Hypertrophie des Menschenrechtsdenkens bewirkte. Dabei ergaben sich zwischen den diversen Menschenrechtsmaterien unvermeidliche Spannungen, in denen sich in vielfältiger Form der alte Gegensatz zwischen Hobbes, Locke und Rousseau fortsetzte, der sich in den kontraktualistischen Diskursen seit Rawls erneuerte. Man denke etwa an die Spannung zwischen bürgerlicher Freiheit und notwendiger Staatsmacht oder an jene zwischen Ungleichheit bewirkender ökonomischer Freiheit und dem Anspruch auf sozialen Ausgleich und Sicherheit oder an jene zwischen politisch-demokratischer Gleichheit und ökonomisch bedingter Vermachtung. Die UNO-Menschenrechtspakte von 1966 konnten nur in einer Dualität beschlossen werden, welche diese Spannungen gewissermaßen neutralisierte, hinter denen letztlich die großen Abstraktionen des neuzeitlichen Naturrechts stehen: Freiheit, Gleichheit und Individualität. 39
John Locke, Zwei Abhandlungen über die Regierung, Frankfurt am Main 1967, II. § 27. Metaphysik der Sitten. Rechtslehre, AB 84 f.
40 Kant,
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Meines Erachtens wäre es sozialethisch sinnvoll, angesichts derartiger Spannungen die Pointe des klassischen Naturrechts nicht aus dem Auge zu verlieren. Denn letztlich muss es ja darum gehen, die kontroversen menschenrechtlichen Facetten so in humane Kompromisse einzubringen, dass das möglich wird, was die alten Sozialethiker mit menschengerechter Gemeinwohlintegration meinten. Dazu scheint aber der anthropologische Rekurs auf die natural unbeliebigen Inklinationen bzw. Bedürfnisse der Person unverzichtbar zu sein, zu deren Bestimmung wir heute – anders als der Aquinate – natürlich auch alles das nützen können, was humanwissenschaftlich zur Verfügung steht. Aber ohne alle teleologische Reflexion auf Wesen und Bestimmung des Menschen kommen wir zu keiner konkreten Freiheit, sondern verzetteln uns im Austausch von Abstraktionen und poietischen Moden.
Literatur Anzenbacher, Arno, „Das Bild der Frau bei Thomas von Aquin“, in: Christian Spieß/ Katja Winkler (Hgg.), Feministische Ethik und christliche Sozialethik, Münster 2008, 17–37. Descartes, René, Discours de la Méthode, Von der Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und der wissenschaftlichen Forschung, übers. und hg. von Lüder Gäbe, Hamburg 1960. Grotius, Hugo, De iure belli ac pacis, hg. von Philip C. Molhuysen, Clark, NJ 2005. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Werke in 20 Bd., Bd. 7, Frankfurt am Main 1986. Hobbes, Thomas, Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates, Frankfurt am Main 1984 (= Leviathan). Kant, Immanuel, Die Metaphysik der Sitten, hg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt am Main 1977. Korff, Wilhelm, Norm und Sittlichkeit, Mainz 1973. Locke, John, Zwei Abhandlungen über die Regierung, Frankfurt am Main 1967. Messner, Johannes, Das Naturrecht, Innsbruck, 5. Aufl. 1966. Nussbaum, Martha, Die Grenzen der Gerechtigkeit. Behinderung, Nationalität und Spe zieszugehörigkeit, Frankfurt am Main 2010. Taylor, Charles, Ein säkulares Zeitalter, Frankfurt am Main 2009 (= Ein säkulares Zeitalter). Thomas von Aquin, De veritate – Von der Wahrheit (lat./dt.), übers. und hg. von Albert Zimmermann, Hamburg 1986 (= De veritate). – Summa theologica, Die deutsche Thomas-Ausgabe (lat./dt.), Graz/Wien/Köln, 1933 ff. (= S.th.). Utz, Arthur Fridolin, Sozialethik. I. Teil: Die Prinzipien der Gesellschaftslehre, Heidelberg 1958.
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Naturrechtliche Begründung von Menschenrechten? Ein Blick in die aristotelische Tradition Franz-Josef Bormann Das ambivalente Verhältnis der zeitgenössischen Moralphilosophie zur Idee gehaltvoller unveräußerlicher Menschenrechte (insbesondere i.S. sozialer und wirtschaftlicher Teilhaberechte) könnte den Versuch attraktiv erscheinen lassen, auf der Suche nach geeigneten Begründungsformen auch solche traditionellen Theoriemodelle einer kritischen Relecture zu unterziehen, die wie das sog. Naturrecht dem moralischen Alltagsbewusstsein weithin entschwunden sind und von nicht wenigen Ethikern regelmäßig für obsolet erklärt werden. Angesichts der historischen Vielgestaltigkeit naturrechtlicher Denkformen, die sich nicht nur hinsichtlich ihrer jeweiligen ontologischen und erkenntnistheoretischen Implikationen, sondern auch bezüglich des jeweils vorausgesetzten Naturverständnisses1 sowie des Umfangs der als naturrechtlich begründet vorgestellten Normbestände erheblich voneinander unterscheiden2, stellt sich dabei zunächst die Frage, ob es überhaupt möglich ist, dem schillernden Be
1 Wie weit das Bedeutungsspektrum des Naturbegriffs tatsächlich reicht, erhellt bereits aus den verschiedenen Gegenbegriffen zur ‚Natürlichkeit‘, wie sie etwa in den Kategorien des ‚technisch Hergestellten bzw. Gemachten‘, des ‚Zivilisatorischen‘, des ‚bloß Konventionellen‘, des ‚geschichtlich Veränderbaren‘, des ‚positiv Gesetzten‘, des ‚Übernatürlichen‘ oder auch des ‚Widernatürlich-Perversen‘ gegeben sind. Ganz offensichtlich changiert der Sinn des Naturbegriffs zwischen so unterschiedlichen Vorstellungen wie denen der Urwüchsigkeit bzw. Ursprünglichkeit, der Unveränderlichkeit, der Vorgegebenheit und Überpositivität, der Vernünftigkeit sowie der Normalität und Artgemäßheit. Einige Autoren – wie z.B. Platon – gebrauchen φύσις primär als ontologische Kategorie, die das bezeichnet, was eine Entität ihrem Wesen nach ist. Für andere Denker trägt der Naturbegriff eher normativ-praktische Züge, die angeben, wonach der Mensch seiner Vernunftnatur entsprechend in seinen Handlungen streben soll. Wieder eine andere Begriffsverwendung liegt dort vor, wo die Kategorie der Natürlichkeit einen bestimmten Erkenntnismodus bezeichnet, also primär epistemisch konnotiert ist. 2 Vgl. dazu Felix Flückiger, Geschichte des Naturrechts: I. Altertum und Mittelalter, Zollikon-Zürich 1954; Michael B. Crowe, The Changing Profile of Natural Law, Den Haag 1977; Reginaldo M. Pizzorni, Il Diritto Naturale dalle origini a S. Tommaso d’Aquino, Bologna 1978; Richard Tuck, Natural Right Theories, Cambridge 1979; Phillip Mitsis, „Na tural Law and Natural Right in Post-Aristotelian Philosophy. The Stoics and their Critics“, in: Wolfgang Haase (Hg.), Aufstieg und Niedergang der römischen Welt II, Bd. 36,7, Berlin 1994, 4812–4850; Friedo Ricken, „Art. Naturrecht I. Altkirchliche, mittelalterliche und römisch-katholische Interpretationen“, in: TRE, Bd. 24, Berlin 1994, 132–153 sowie Falk Wag
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griff des ‚Naturrechts‘ einigermaßen klare systematische Konturen zu verleihen. Einem definitorischen Vorschlag des früheren Münsteraner Moraltheologen Bruno Schüller zufolge3 zeichnet sich ein naturrechtlicher Denkansatz dadurch aus, dass er „die sittliche Forderung (1) für eine Sache der Erkenntnis hält, (2) diese Erkenntnis der Vernunft zuordnet und (3) ihren objektiven Geltungsgrund im Modus des Physei dikaion denkt“4. Dieser Interpretation zufolge begegnet uns im Naturrecht eine besondere Spielart des moralphilosophischen Kognitivismus, die ihren spezifischen Gegenstand in Gestalt elementarer Gerechtigkeitsforderungen auf deontologische Art und Weise – nämlich durch Rückgriff auf die menschliche Natur – zu begründen versucht. Um zu untersuchen, ob sich aus dem Zusammenspiel dieser drei Merkmale (kognitiver Ansatz, spezifischer Objektbereich i.S. des Kernbereichs der Gerechtigkeit und deontologische Begründungsstrategie) Einsichten gewinnen lassen, die sich im Kontext der zeitgenössischen Menschenrechtsdiskussion als fruchtbar erweisen könnten, werde ich im Folgenden zunächst einen kurzen Blick auf die historischen Naturrechtslehren von Aristoteles und Thomas von Aquin werfen. Im Anschluss daran soll der Umgang mit diesem klassischen Erbe in den zeitgenössischen gerechtigkeitstheoretischen Ansätzen von John Rawls, Amartya Sen und Martha Nussbaum rekonstruiert werden. Einige kurze abschließende Bemerkungen zu offenen Fragen und Desideraten künftiger Forschung in diesem Bereich beschließen meine Ausführungen.
1. Eine historische Erinnerung Zur Vermeidung möglicher Missverständnisse sei gleich zu Beginn betont, dass die folgenden Überlegungen keineswegs die historisch haltlose Behauptung aufstellen wollen, in den Werken von Aristoteles und Thomas begegne uns so etwas wie eine ‚Menschenrechtstheorie avant la lettre‘. Die ethischen Entwürfe beider Denker tragen insofern deutlich vormoderne Züge, als sie neben einer Vielzahl zeitbedingter Vorurteile (etwa gegenüber Fremden oder Frauen) einer Behandlung normativer Fragen verhaftet bleiben, der die für die moderne Menschenrechtsidee konstitutive subjekttheoretische Perspektive unveräußerlicher individueller Rechtsansprüche des einzelnen Individuums noch weithin fremd ist.5 Ungeachtet dieser unleugbaren Grenzen dürften ihre einschlägigen gerech
ner, „Art. Naturrecht II. Neuzeitliche und evangelische Interpretationen seit der Reformation“, in: TRE, Bd. 24, Berlin 1994, 153–185. 3 Vgl. Bruno Schüller, „Naturrecht und Naturgesetz“, in: Wilhelm Ernst (Hg.), Grundlagen und Probleme der heutigen Moraltheologie, Würzburg 1989 (= Naturrecht), 61–74. 4 Schüller, Naturrecht, 73. 5 Vgl. Brian Tierney, „Origins of Natural Rights Language. Texts and Contexts, 1150– 1250“, History of Political Thought 10 (1989), 615–646.
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tigkeitstheoretischen Reflexionen vor allem aufgrund ihres anthropologischen Reichtums und ihrer differenzierten Analyse menschlichen Strebens strukturell noch immer von großem Interesse sein. 1.1 Aristoteles Aristoteles entwickelt seine Überlegungen zum ‚Naturrecht‘ im Rahmen einer kognitivistischen Moraltheorie, die teleologische und deontologische Begründungselemente miteinander verbindet, ein differenziertes moralisches Kategoriensystem (aus Gütern, Haltungen, Beziehungen und Handlungen) entfaltet und die normativ entscheidende Vorstellung einer vollendeten Wesensnatur des Menschen mittels seines berühmten ἔργον-Argumentes handlungstheoretisch dynamisiert. Er bestimmt den Menschen dabei näherhin als ein strebendes Wesen, das unter der Leitung seiner Vernunft erst noch das werden muss, was es seiner Natur nach eigentlich ist und sein soll. Wie alle Lebewesen so unterliegt auch der Mensch der Spannung von bloßer ‚Anlage‘ (δύναμις) und aktiver ‚Vollendung‘ (ἐνέργεια). Die ‚Natur‘ wird hier also trotz vorausgesetzter Artkonstanz nicht statisch gedacht, sondern als eine dynamische Größe vorgestellt, die nur umrisshaft zu bestimmen ist und einen Spielraum möglicher Vollendungsgestalten eröffnet. Anders als die vernunftlosen Lebewesen, deren Selbstvollzug durch ererbte Verhaltensmuster determiniert ist, erreicht der Mensch die ihm eigene Erfüllung (εὐδαιμονία) allein durch eine Vermittlungsleistung der praktischen Vernunft. Zwar unterliegt auch er in seinem Streben bestimmten vorgegebenen artspezifischen Bedürfnissen und Antrieben, die sich aus seiner leib-seelischen Verfassung ergeben, doch vermögen diese Dispositionen die grundsätzliche Freiheitlichkeit und Verantwortlichkeit seines Handelns nicht aufzuheben, da es infolge der möglichen Konflikthaftigkeit der einzelnen partikularen Strebensziele stets eines praktischen Vernunfturteils bedarf, um die situativ richtige Entscheidung zu treffen. Grundlegend für das aristotelische Naturrechtsverständnis ist die im Rahmen seiner Gerechtigkeitstheorie entwickelte Unterscheidung zwischen dem ‚einfachhin Gerechten‘ (ἁπλῶς δίκαιον) und dem ‚politisch Gerechten‘ (πολιτικόν δίκαιον), das sich wiederum in das ‚natürliche‘ (φυσικόν) und das ‚gesetzliche‘ (νομικόν) Gerechte untergliedert.6 Beide Erscheinungsformen des ‚δίκαιον‘ verweisen auf die mangelnde Autarkie und die Gemeinschaftsbezogenheit des Einzelnen. Das ‚einfachhin Gerechte‘ hat seinen Sitz im Leben dort, wo Menschen sich entweder zu rein privaten Tauschgeschäften zusammentun oder elementare Lebensgemeinschaften (wie die zwischen Mann und Frau oder Herr und Sklave) 6 Vgl. Aristoteles, Ethica Nicomachea, Werke, Bd. 6, hg. von Franz Dirlmeier, Berlin, 10. Aufl. 1999 (= EN), V 10, 1134 a 25 f. b 18 f.
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bilden. Die im Zusammenhang mit dem ‚einfachhin Gerechten‘ einschlägigen Strebensziele bezeichnet Aristoteles auch als ‚einfachhin Güter‘ (ἁπλῶς ἀγαθά)7 oder als ‚natürliche Güter‘ (φύσει ἀγαθά)8, um anzudeuten, dass diese Güter elementaren Bedürfnissen entsprechen, die bei allen Menschen unabhängig von ihren besonderen Lebensumständen vorauszusetzen sind. Während es sich bei dem ‚einfachhin Gerechten‘ um eine bloße Vorform der Gerechtigkeit handelt, bezieht sich der Begriff des ‚politisch Gerechten‘ auf die Vollgestalt des δίκαιον, die dort gefragt ist, wo freie und gleiche Bürger auf Dauer in einem Gemeinwesen zusammenleben. Aristoteles zufolge ist der Mensch „von Natur aus ein politisches Lebewesen“9. Er geht also nicht in den zuvor erwähnten elementaren Gemeinschaftsformen auf, sondern bedarf der umfassenderen Ordnung einer Polis, um sein Wesen als Mensch zu entfalten. Solche ‚Wesensentfaltung‘ ist engstens mit einem vernünftigen praktischen Selbstvollzug des Menschen verbunden10, der seinerseits wiederum eines bestimmten politischen Rahmens bedarf. Um dauerhaft stabil zu sein, bedarf das Gemeinwesen einer moralischen Grundlage, die Aristoteles im ‚natürlich Gerechten‘ auf den Begriff bringt. Im Gegensatz zum bloß ‚gesetzlich Gerechten‘, das einen moralisch neutralen Gegenstandsbereich betrifft und seine Verbindlichkeit allein aus dem Faktum seiner positiven Festsetzung bezieht, ist unter dem φυσικόν δίκαιον ein der menschlichen Willkür entzogenes, universal geltendes ungeschriebenes Gesetz zu verstehen, das die Ausführung bestimmter Handlungen kategorisch verbietet11 und bezüglich der Verteilungsgerechtigkeit verlangt, jedem dasjenige zu gewähren, was seinem Wert (ἀξία) entspricht. Zur näheren Bestimmung dieses ‚Wertes‘ verweist Aristoteles auf die verschiedenen Verfassungstypen. Das ‚natürlich Gerechte‘ stellt ein übergeordnetes Ideal dar, das auf eine objektiv beste Verfassung verweist, die aber immer nur annäherungsweise entsprechend den jeweiligen Umständen verwirklicht werden kann. Aufgrund der Variabilität der Umstände unterliegt das verwirklichte φυσικόν δίκαιον zwangsläufig einer Veränderung, die jedoch die normative Geltung des Ideals keineswegs aufhebt. 1.2 Thomas von Aquin
Thomas hat in seiner Lehre vom natürlichen Sittengesetz (lex naturalis) wichtige Einsichten der aristotelischen und der stoischen Moraltheorie aufgenommen und weiterentwickelt. Interpretiert man die kurzen Ausführungen zur lex
7
Vgl. Aristoteles, EN V 2. Aristoteles, Ethica Eudemica, Werke, Bd. 7, hg. von Franz Dirlmeier, Berlin, 4. Aufl. 1984 (= EE), VIII 3, 1248 b 27. 9 Aristoteles, Politica, Werke, Bd. 9 (in 4 Teilbänden), hg. von Eckart Schütrumpf, Berlin 1991–2005, I 2, 1253 a 3. 10 Vgl. Aristoteles, EN I 6. 11 Vgl. Aristoteles, EN III 1, 1110 a 25–30. 8 Vgl.
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naturalis in S.th. I II 94, 2 vor dem Hintergrund seiner Lehre vom ‚notwendigen‘ bzw. ‚natürlichen Wollen‘ des Menschen, die das einende Band zwischen seiner Glücks-, Handlungs- und Naturrechtslehre bildet12, dann ergibt sich in etwa das folgende Bild: Thomas versteht unter dem bonum, das als Erstbegriff der praktischen Vernunft von allen Menschen spontan erkannt und gewollt wird, das bonum simpliciter, also das sog. ‚einfachhin Gute‘ des Menschen. Dieser Begriff verfügt mit der Vorstellung einer umfassenden, durch vernünftiges Handeln zu erwirkenden Realisierung des „äußersten Seinkönnens“13 des Menschen über einen komplexen, allerdings nur allgemein bestimmten Sinngehalt, der mit der ratio communis des Glücksbegriffs zusammenfällt. Trotz seiner weiteren Konkretionsbedürftigkeit handelt es sich bei dem Begriff des anzustrebenden und natürlicherweise immer schon gewollten ‚Guten‘ also um eine durchaus gehaltvolle Kategorie14, die deutlich macht, dass die thomanische Naturrechtslehre auf einer starken intuitionistischen Voraussetzung beruht, die erst sekundär durch diskursive Vernunftoperationen ergänzt wird. In einer absteigenden Gedankenbewegung versucht Thomas sodann, den Zusammenhang zu verdeutlichen, der zwischen dem ‚einfachhin Guten‘ und den verschiedenen partikularen Einzelgütern besteht, auf die die einzelnen spontanen Grundstrebungen des Menschen ausgerichtet sind. Zur ordnenden Klassifizierung dieser sog. inclinationes naturales bedient er sich des dreigliedrigen Stufenmodells der antiken Naturphilosophie, das den Menschen einmal als bloßes Substanzwesen, dann als belebtes Sinnenwesen und schließlich als spezifisches
12 Vgl. dazu Franz-Josef Bormann, Natur als Horizont sittlicher Praxis. Zur handlungstheoretischen Interpretation der Lehre vom natürlichen Sittengesetz bei Thomas von Aquin, Stuttgart 1999 (= Natur), bes. 119–143. 13 Vgl. Wolfgang Kluxen, „Ethik und Ethos“, Philosophisches Jahrbuch 73 (1965/6), 339– 355, 345. 14 Dieser Sachverhalt wird durch Arno Anzenbachers schon terminologisch von einer allzu kantianisierenden Interpretation abhängigen These verdunkelt, der Thomas der Summa Theologiae arbeite anders als in früheren Schriften mit der „formale[n] Methode einer rein rationalen Vermittlung […], durch die bonum und malum inhaltlich bestimmt werden können, ohne dass ein materiales Apriori vorausgesetzt werden muss“. Arno Anzenbacher, „Menschenrechtsbegründung zwischen klassischem und neuzeitlichem Naturrecht“, in diesem Band, 121–133 (= Menschenrechtsbegründung), 122. Zwar ist der Begriff ‚formal‘ insofern doppeldeutig, als er einerseits in Analogie zum ontologischen Formbegriff so viel wie ‚Gestalt gebend‘ und andererseits so viel wie ‚inhaltsleer‘ bedeuten kann, doch rückt Anzenbachers Diagnose einer „apriorisch gefassten formalen Vermittlungsmethode“ (Anzenbacher, Menschenrechtsbegründung, 125) mit seiner impliziten Deutung der Formalität im zweiten Sinne m.E. zu stark in Richtung einer kantischen Position, die im thomanischen Text selbst keine ausreichende Basis findet. Thomas arbeitet in S.th. I II 94, 2 mit einem zwar abstrakten, aber inhaltlich gefüllten Begriff des ‚Guten‘ und betont ausdrücklich die ‚Fundierungsfunktion‘ des Erstprinzips der praktischen Vernunft: „Et ideo primum principium in ratione practica est quod fundatur supra rationem boni, quae est, ‚Bonum est quod omnia appetunt‘. […] Et super hoc fundantur omnia alia praecepta legis naturae.“ Thomas von Aquin, Summa theologica, Die deutsche Thomas-Ausgabe (lat./dt.), Graz/Wien/Köln, 1933 ff. (= S.th.), I II 94, 2. Vgl. dazu auch Bormann, Natur, bes. 210–217.
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Vernunftwesen begreift. Obwohl Thomas erkennbar kein Interesse daran hat, eine vollständige Liste sämtlicher inclinationes naturales vorzulegen, ist seinen wenigen exemplarischen Äußerungen klar zu entnehmen, dass die Neigungen ein hierarchisch strukturiertes Beziehungsgefüge mit eindeutigen Bedingungsund Abhängigkeitsverhältnissen bilden, das auf die allgemeine Bestimmung menschlicher Vollendung bezogen ist. Die natürlichen Neigungen verweisen auf eine geordnete Pluralität elementarer Güter, deren Sicherung die verschiedenen naturgesetzlichen Einzelgebote übernehmen. Eine angemessene Interpretation des Verhältnisses von ratio practica und inclinationes naturales muss die beiden komplementären Extreme eines Rationalismus auf der einen und eines Naturalismus auf der anderen Seite vermeiden.15 Das Spezifikum der thomanischen Naturrechtslehre besteht gerade darin, dass sie die Vernunftnatur und die körperlich-leibliche Dimension des Menschseins nicht gegeneinander ausspielt, sondern in ihrer wechselseitigen Verschränkung zusammendenkt. Diese integrative Sichtweise führt zur Vorstellung der ‚Natur‘ als eines im praktischen Selbstvollzug des Menschen immer schon vorausgesetzten, jedoch nur allgemein umschriebenen Horizontes ganzheitlicher menschlicher Vollendung, der materialiter in der möglichst optimalen Entfaltung der menschlichen Handlungsfähigkeit als der charakteristischen Grundbefähigung des Menschen besteht und den praktischen Entscheidungsspielraum des Einzelnen meta-normativ begrenzt. Das Bild vom ‚Horizont‘ scheint geeignet, sowohl die Unbeliebigkeit der inclinationes naturales als auch die Gestaltungsoffenheit der damit umrissenen Handlungsfelder zum Ausdruck zu bringen.16 Der praktischen Vernunft obliegt es, diesen Horizont näher auszugestalten, indem sie die verschiedenen aus ihm entspringenden spontanen Handlungsimpulse zu einem bestimmten Handlungsentwurf konkretisiert, in einen komplexen Handlungszusammenhang integriert, zwischen konfligierenden Neigungszielen vermittelt, defizitäre oder pervertierte Tendenzen korrigiert und so auf dem Fundament der vielfältigen artspezifischen Dispositionen ein individuell stimmiges, situationsadäquates Handlungsgebäude errichtet. Insgesamt ist also festzuhalten, dass es eine ganze Reihe auffälliger Parallelen im aristotelischen und im thomanischen Verständnis des Naturrechts gibt: Für beide Denker besteht die Hauptfunktion des Naturrechts darin, grundlegende Gerechtigkeitsforderungen deontologisch abzusichern. Gemeinsam ist ihnen auch der dynamische Charakter des dabei vorausgesetzten Naturbegriffs,
15 Weder
ist es zulässig, die natürlichen Neigungen in rationalistischer Manier zur amorphen, unbegrenzt formbaren Materie herabzuwürdigen, noch vermag der naturalistische Versuch zu überzeugen, die praktische Vernunft zum bloßen Ableseorgan bzw. zur nachträglichen Ratifikationsinstanz naturaler Vorgaben zu degradieren. 16 Vgl. Wilhelm Korff, „Der Rückgriff auf die Natur. Eine Rekonstruktion der thomanischen Lehre vom natürlichen Gesetz“, Philosophisches Jahrbuch 94 (1987), 285–296, 287 sowie ders., Wie kann der Mensch glücken? München 1990‚ 50, 56 und 268.
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der die komplexe Bedürfnisnatur des Menschen ebenso berücksichtigt wie seine Vernunftbindung und dabei von einer allgemeinen Bestimmung menschlicher Vollendung ausgeht, die der weiteren Spezifizierung durch konkrete Vorstellungen eines guten Lebens bedarf.
2. Ein Blick in die zeitgenössische Gerechtigkeitstheorie Fragt man nach den möglichen Verbindungslinien zwischen einer aristotelisch inspirierten Naturrechtskonzeption und dem zeitgenössischen Projekt einer Begründung universaler Menschenrechte, dann lassen sich wenigstens zwei unterschiedlich akzentuierte – aber inhaltlich gleichwohl miteinander verwandte17 – Argumentationsstrategien voneinander unterscheiden: Die eine versucht über die Schärfung des Bedürfnisbegriffs jene grundlegenden Güter zu identifizieren18, die die notwendige Voraussetzung für ein menschenwürdiges Leben und eine gedeihliche Entwicklung des Menschen darstellen und sich daher als Bezugspunkte universaler Menschenrechte eignen. Die andere Strategie stellt den Begriff der ‚Fähigkeiten‘ in den Mittelpunkt ihrer gerechtigkeitstheoretischen Überlegungen, um zu gehaltvolleren und besser operationalisierbaren Formulierungen von Menschenrechten zu gelangen. Im Folgenden soll es vor allem um diese zweite Strategie gehen, wobei zunächst noch einmal die Ausgangsproblematik in der liberalen Gerechtigkeitskonzeption von John Rawls und dann die in mancher Hinsicht komplementären Anschlussüberlegungen von Amartya Sen und Martha Nussbaum zu skizzieren sind. 2.1 John Rawls Obwohl im Zuge der neueren rechtsphilosophischen Diskussion immer wieder über Chancen und Grenzen eines wenigstens minimalen Naturrechts nachgedacht worden ist19, geschah dies nirgends so ambitioniert wie in John Rawls’ 1971 erschienenem Hauptwerk A Theory of Justice20, das den Anspruch erhob, sowohl den Formalismus und den Intuitionismus in der Ethik überwinden, als auch
17 Vgl. Amartya Sen, T he Standard of Living. T he Tanner Lectures (Claire Hall, Cambridge 1985), hg. von Geoffrey Hawthorn, Cambridge 1987, 24 f. 18 Vgl. David Braybrooke, Meeting Needs, Princeton 1987; Garrett T homson, Needs, London 1987 sowie David Wiggins, „Claims of Need“, in: ders., Needs, Values, Truth. Essays in the Philosophy of Value (Aristotelian Society Series 6), Oxford 1987, 1–57. 19 Vgl. dazu die einschlägigen Arbeiten von Herbert L. A. Hart, Alan Gewirth, Joseph Raz, Ronald Dworkin sowie die Dokumentation der neueren Naturrechtsdebatte bei John Finnis (Hg.), Natural Law, Bd. 1 und 2, Ashgate 1991. 20 John Rawls, A T heory of Justice, Cambridge, MA 1971 (dt. Übers. auf der Grundlage eines vom Autor revidierten Textes: Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt am Main 1975 [5. Aufl. 1990]) (= Theorie).
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den verbreiteten teleologischen Theorien vor allem utilitaristischen Zuschnitts eine überzeugendere deontologische Alternative entgegenstellen zu können. Angesichts des Unvermögens utilitaristischer Ansätze, basale Grundrechte des Einzelnen hinreichend abzusichern, stellte sich Rawls selbst mit seiner eigenen Theorie demonstrativ in die Tradition naturrechtlichen Denkens, um der Idee der ‚Unverletzlichkeit‘ jeder Person21 eine stabile Grundlage zu verleihen. Geradezu programmatisch stellt er in diesem Sinne fest:
Die Theorie der Gerechtigkeit als Fairness hat also die kennzeichnenden Eigenschaften einer Naturrechtstheorie. Sie gründet nicht nur Grundrechte auf natürliche Eigenschaften, die sie von gesellschaftlichen Normen unterscheidet, sondern sie schreibt den Menschen auch Rechte gemäß den Grundsätzen der gleichen Gerechtigkeit zu, die ein besonderes Gewicht haben, gegen das sich andere Werte gewöhnlich nicht durchsetzen können. Einzelne Rechte sind zwar nicht absolut, doch das System der gleichen Freiheiten ist unter günstigen Bedingungen praktisch absolut.22
Rawls glaubte nicht nur, mittels seiner beiden lexikalisch geordneten Fairnessgrundsätze, von denen der erste die gleiche Verteilung der sog. Grundfreiheiten und der zweite die Voraussetzungen für legitime soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten regelt, den begriffslogisch notwendigen Vorrang des ‚Rechten‘ vor dem ‚Guten‘ sichern zu können. Er war auch davon überzeugt, dass sich seine dabei vorausgesetzte aristotelisch inspirierte Theorie des Guten23, die er zur Analyse der Grundgüter verwendete, als weithin zustimmungsfähig erweisen würde. Allein diese Erwartung sollte sich nicht erfüllen. Aus der Fülle der Einwände, die gerade Rawls’ Güterlehre auf sich gezogen hat, seien hier nur folgende vier Kritikpunkte herausgegriffen24: Abgesehen von der mangelnden Präzision des zentralen Begriffs der ‚Grundfreiheit‘ besteht ein erstes Problem in der offensichtlichen Inkonsistenz von Rawls’ Versuch, die vom ersten Fairnessprinzip geschützten Grundfreiheiten einerseits als ‚natürliche Rechte‘ individueller Personen zu verstehen und damit von positiven Rechten i. S. von „Gesetz und Herkommen“25 abzugrenzen, sie andererseits aber ganz selbstverständlich in den Gegenstandsbereich der distributiven Gerechtigkeit einzubeziehen. Die damit einhergehende Übersteigerung des Vertei
21 Rawls betont: „Eine noch so elegante und mit sparsamen Mitteln arbeitende Theorie muss fallengelassen oder abgeändert werden, wenn sie nicht wahr ist; ebenso müssen noch so gut funktionierende und wohlabgestimmte Gesetze und Institutionen abgeändert oder abgeschafft werden, wenn sie ungerecht sind. Jeder Mensch besitzt eine aus der Gerechtigkeit entspringende Unverletzlichkeit, die auch im Namen des Wohles der ganzen Gesellschaft nicht aufgehoben werden kann.“ Rawls, Theorie, 19. 22 Rawls, T heorie, 549 Anm. 30. 23 Vgl. Rawls, T heorie, 113. 24 Vgl. dazu die ausführliche Darstellung in Franz-Josef Bormann, Soziale Gerechtigkeit zwischen Fairness und Partizipation. John Rawls und die katholische Soziallehre, Freiburg 2006, 152–165. 25 Rawls, T heorie, 549 Anm. 30.
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lungsverständnisses steht im klaren Widerspruch zu jener Tradition abendländischen Naturrechtsdenkens, dessen legitimer Erbe zu sein Rawls beansprucht.26 Eng damit verbunden ist ein zweites Problem, das aus der antimeritokratischen Stoßrichtung des Rawlsschen Egalitarismus resultiert. Rawls leitet aus der Unverdientheit persönlicher Talente das moralische Recht der Gesellschaft zur weitgehenden Aneignung all jener Früchte ab, die aus dem individuellen Einsatz zur Entfaltung und Pflege eben dieser Begabungen resultieren.27 Die damit indirekt vollzogene Trennung zwischen einem Individuum und seinen Talenten unterminiert nicht nur die Einheit der Person und ihre moralische Verantwortung für die Entfaltung der eigenen Begabungen, sondern öffnet auch der gesellschaftlichen Ausbeutung bestimmter Individuen Tür und Tor, so dass der Verdacht nahe liegt, die Fairnesskonzeption verfalle letztlich demselben Fehler wie der Utilitarismus, zu dessen Vermeidung sie ja ursprünglich gerade entwickelt worden war.28 Eine dritte Schwäche betrifft die Unvollständigkeit und mangelnde Neutralität seiner Liste sog. social basic goods, die „Rechte und Freiheiten, Befugnisse und Chancen, Einkommen und Vermögen“ sowie das Gut der „Selbstachtung“29 umfasst und zusammen mit einem als ‚aristotelischen Grundsatz‘30 bezeichneten formalen Motivationsprinzip eine tragende Säule seiner Güterlehre insge26
Zur Hypertrophie des Rawlsschen Verteilungsbegriffs vgl. Wolfgang Kersting, Theorien der sozialen Gerechtigkeit, Stuttgart/Weimar 2000, 73. Die bloße Vorstellung, der Staat oder eine politische Institution verteile diese Freiheiten und Rechte an die Bürger, steht im denkbar stärksten Widerspruch zum Begriff eines ‚natürlichen Rechts‘, das auf nichts anderem als auf die unverlierbare innere Würde jedes einzelnen Menschen als Menschen und damit auf seinen Status als sittliches Subjekt gegründet ist. Die natürlichen Grundrechte werden dem Einzelnen nicht quasi gnadenhalber vom Staat verliehen oder gewährt, vielmehr gilt umgekehrt, dass der Staat und alle seine Organe diese Rechte unbedingt anzuerkennen und – soweit als möglich – für jedermann zu gewährleisten haben. Vgl. Otfried Höffe, „Überlegungsgleichgewicht in Zeiten der Globalisierung? Eine Alternative zu Rawls“, in: ders. (Hg.), John Rawls – Eine Theorie der Gerechtigkeit (Klassiker Auslegen 15), Berlin 1998, 271–293, 283f. Vgl. dazu auch Helmut Goerlich, „Rawls oder rationales Naturrecht“, Rechtstheorie 9 (1978), 485–503. 27 Konkret verlangt Rawls, „daß man die Verteilung der natürlichen Gaben in gewisser Hinsicht als Gemeinschaftssache betrachtet und in jedem Fall die größeren sozialen und wirtschaftlichen Vorteile aufteilt, die durch die Komplementaritäten dieser Verteilung ermöglicht werden“. Rawls, Theorie, 122. 28 Vgl. Robert Nozick, Anarchy, State, and Utopia, New York 1974, 198 und 219; David Gauthier, „Justice and Natural Endowment: Toward A Critique of Rawls’s Ideological Frame ooling“, work“, Social Theory and Practice 3 (1975), 3–26; Anthony T. Kronman, „Talent P Nomos XIII (1981), 58–79; Alan H. Goldman, „Real People, Natural Differences and the Scope of Justice“, Canadian Journal of Philosophy 17 (1987), 377–393; Andrew Kernohan, „Rawls and the Collective Ownership of Natural Abilities“, Canadian Journal of Philosophy 20 (1990), 19–28 sowie Samuel Scheffler, „Responsibility, Reactive Attitudes, and Liberalism in Philosophy and Politics“, Philosophy and Public Affairs 21 (1992), 299–323. 29 Rawls, T heorie, 83. 30 Vgl. Rawls, T heorie, 463–472.
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samt bildet. Der Eindruck, Rawls’ liberaler Ansatz begünstige eine individualis tische Auffassung vom Guten, missdeute Grundgüter zudem als bloß äußerliche Instrumente statt als echte Konstitutionselemente der angestrebten Vollendung und unterminiere mit seiner lexikalischen Vorrangregel de facto auch noch den Wert der als prioritär qualifizierten Freiheiten, hat massive Zweifel an der Plausibilität der Rawlsschen Güterlehre aufkommen lassen. Eine vierte Schwierigkeit besteht darin, dass Rawls’ binäre Logik von Gleichbzw. Ungleichverteilung weder der Heterogenität der betroffenen Güter noch der extrem unterschiedlichen Lebenssituation derjenigen Personen gerecht wird, die mit den einschlägigen Gütern versorgt werden sollen. In diesem Sinne hat Amartya Sen31 bereits 1979 die folgenreiche Frage aufgeworfenen, ob die Kategorie des ‚Grundgutes‘ überhaupt dazu geeignet sei, als semantische Leitwährung für die Gerechtigkeitsdiskussion zu fungieren, da sie eine Gleichheit von Lebenslagen voraussetze, die es in dieser Form gar nicht gebe.32 Neben Sen hat vor allem Martha Nussbaum versucht, die begrifflichen Koordinaten des zeitgenössischen Gerechtigkeitsdiskurses in Richtung einer Fähigkeiten-Ethik zu erweitern. Da beide Autoren jedoch im Laufe ihrer weiteren Entwicklung neben vielen Gemeinsamkeiten auch zu deutlich unterschiedlichen Alternativentwürfen gelangt sind, seien ihre für unsere Fragestellung wichtigsten Überlegungen jeweils getrennt voneinander rekonstruiert. 2.2 Amartya Sen Im umfangreichen Werk Sens, der gegenwärtig wie kein Zweiter ethische und wirtschaftswissenschaftliche Grundlagenreflexion souverän mit intensiver Politikberatung verbindet, hat sich im Laufe der Jahrzehnte eine Entwicklung vollzogen, die für das Nachdenken über die Begründung von Menschenrechten in wenigstens dreifacher Hinsicht von Bedeutung sein dürfte. Erstens ist Sen zunehmend zu der Überzeugung gelangt, dass sich eine in der Praxis brauchbare Theorie der Gerechtigkeit, „nicht ausschließlich auf die Charakterisierung vollkommen gerechter Gesellschaften [und ihrer institutionellen Grundstruktur] konzentrieren sollte“33. Da das Ziel philosophischer Reflexion s.E. darin besteht, verschiedene Versuche zur Verminderung von Ungerechtigkeit bzw. zur Beförderung von Gerechtigkeit vergleichend zu beurteilen, sei der utopische Entwurf vollkommener Gerechtigkeit nicht nur theoretisch unerreich
31 Amartya Sen, „Equality of What?“, in: Sterling McMurrin (Hg.), The Tanner Lectures on Human Values, Cambridge 1980, 195–220. 32 Vgl. dazu auch Gerald A. Cohen, „Equality of What? On Welfare, Goods and Capabilities“, in: Martha Nussbaum/Amartya Sen (Hgg.), The Quality of Life, Oxford 1993, 9–29 sowie Elizabeth Anderson, „What is the Point of Equality?“, Ethics 109 (1999), 287–337. 33 Amartya Sen, Die Idee der Gerechtigkeit, München 2010 (= Idee), 9.
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bar, sondern auch praktisch vollkommen überflüssig.34 An die Stelle des von ihm abgelehnten sog. transzendentalen Institutionalismus35 tritt daher ein komparatives Gerechtigkeitsverständnis, für das zwei Elemente konstitutiv sind: zum einen die Kategorie der Unparteilichkeit, die er den globalen Erfordernissen entsprechend als „offene Unparteilichkeit“36 bestimmt, und zum anderen die in der Theorie kollektiver Entscheidungen verwurzelte Fokussierung auf sog. ‚soziale Verwirklichungen‘37, die er im Unterschied zu utilitaristischen und welfaristischen Theorien nicht auf der Basis einer simplen Berechnung von Nutzen- oder Wohlfahrtssummen, sondern mit Hilfe der Parameter individueller Befähigungen und Chancen sowie substantieller Freiheiten analysiert. Ein zweiter wichtiger Aspekt seines Ansatzes betrifft die zunehmend prekäre Rolle der Deontologie in seiner Konzeption.38 Obwohl Sen weder eine Verteidigung der klassisch utilitaristischen „Standardversion des Konsequentialismus“39 beabsichtigt noch die Möglichkeit bestreitet, „dass ein genereller deontologischer Ansatz die Folgen einer Handlung mit berücksichtigt, selbst wenn er davon ausgeht, dass Pflichten unabhängig von ihren Konsequenzen erkannt werden müssen“40, ist sein Hauptinteresse doch erkennbar darauf gerichtet, den für den Konsequentialismus entscheidenden Ergebnis-Begriff so weiterzuent wickeln, dass „neben den ‚culmination outcomes‘, den einfachen Ergebnissen, die losgelöst von Prozessen, Aktivitäten und Relationen betrachtet werden, auch ‚comprehensive outcomes‘“ berücksichtigt werden, die angeben, „welche Handlungen, Vermittlungen, Prozesse und so weiter sich auf das Ergebnis ausgewirkt haben“41. Dieses umfassendere Folgen-Verständnis hat nun aber drittens auch erhebliche Auswirkungen auf Sens Versuch, mittels der Kategorie der ‚Fähigkeit‘ (ca
34 Sen erklärt dazu programmatisch: „So gravierend das Problem der Nichtexistenz einer identifizierbaren vollkommen gerechten sozialen Regelung sein mag, ist doch das entscheidende Argument […] nicht die Undurchführbarkeit, sondern die Redundanz der transzendentalen Theorie.“ Sen, Idee, 44; vgl. auch 127, 129 f. und 133 f. 35 Vgl. Sen, Idee, bes. 33–39 sowie 74, 295 und 437. 36 Vgl. Sen, Idee, 151–180. 37 Geradezu programmatisch stellt Sen fest: „Der in diesem Buch entwickelte Ansatz ist der Tradition der Theorie gesellschaftlicher Entscheidungen verpflichtet, die im achtzehnten Jahrhundert von Condorcet vorbereitet und in unserer Zeit von Kenneth Arrow fest verankert wurde, und konzentriert sich wie die Logik kollektiver Entscheidungen auf wertende Vergleiche zwischen verschiedenen sozialen Verwirklichungen.“ Sen, Idee, 438; vgl. dazu auch seine frühen Überlegungen in: Amartya Sen, Collective Choice and Social Welfare, San Francisco 1970. 38 Vgl. dazu Franz-Josef Bormann, „Verabschiedung der Deontologie in der Gerechtigkeitsbegründung? Einige Rückfragen an A. Sens Reaktion auf J. Rawls“, in: Adrian Hol deregger/Werner Wolbert (Hgg.), Deontologie – Teleologie, Freiburg 2012, 205–226. 39 Sen, Idee, 245. 40 Sen, Idee, 244. 41 Sen, Idee, 243; vgl. ders., „Maximization and the Act of Choice“, Econometrica 65 (1997), 745–779.
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pability) zu einer präziseren Bestimmung von Menschenrechten zu gelangen. Tatsächlich verweise nämlich die dem Menschenrechtsbegriff zugrundeliegende Vorstellung, „dass bestimmte Freiheiten (etwa die Freiheit von Folter oder die Freiheit, dem Hungertod zu entgehen) von entscheidender Bedeutung sind und dass es dementsprechend notwendig ist, soziale Verpflichtungen zum Fördern und Absichern dieser Freiheiten zu akzeptieren“42, auf zwei unterschiedliche begriffliche Bestandteile – nämlich den Chancen- und den Prozess-Aspekt der Freiheit –, die beide der näheren Präzisierung bedürften. Zumindest dem Chancen-Aspekt lasse sich insofern mit Hilfe der Kategorie der ‚Fähigkeit‘ (capability) eine genauere Kontur verleihen, als diese – anders als etwa die Rawlssche Grundgüter-Lehre – die jeweils individuellen Voraussetzungen des Akteurs zum tatsächlichen Vollzug bestimmter wertgeschätzter Handlungen und Seinszustände (functionings) in die Betrachtung einbeziehe und es so gestatte, von einem bloß formalen zu einem substantiellen Freiheitsverständnis voranzuschreiten, ohne sich deswegen in fragwürdige Endzustands-Betrachtungen zu verstricken. Sen sieht in den Menschenrechten „ethische Ansprüche, die sich konstitutiv mit der Wichtigkeit menschlicher Freiheit verbinden“, wobei „die kritische Überprüfung durch öffentlichen Vernunftgebrauch in offener Unparteilichkeit darüber entscheidet, ob ein Argument, das einen bestimmten Anspruch als ein Menschenrecht durchsetzen will, stichhaltig ist“43. Diese Deutung ist Sen zufolge zwar insofern durchaus verträglich mit einer universalistischen Perspektive, als „elementare Menschenrechte […] nicht von Staatsbürgerschaft und Nationalität abhängig sind und womöglich auch keine institutionelle Bindung an einen national bedingten Gesellschaftvertrag brauchen“44. Doch bedeutet dies s.E. keineswegs, „dass die zu solchen Rechten gehörenden Freiheiten unbedingt beachtet werden müssen“45 – wie etwa Ronald Dworkin46 und Thomas M. Scanlon47 meinen, die in diesen Rechten „unbedingte, alles übertrumpfende Ansprüche“48 sehen wollen. Sen behauptet, dass „das Ernstnehmen von Rechten uns abverlangt, anzuerkennen, dass es schlecht – manchmal furchtbar – wäre, wenn sie verletzt würden“49. Das impliziere aber genauso wenig die „Annahme, dass ein Anspruch, den wir als Recht anerkennen, immer jedes Gegenargument übertrumpfen müsse“50, wie aus der These, „dass man unterschiedliche auf Rech
42 Sen,
Idee, 385. Idee, 393. 44 Sen, Idee, 171 f. 45 Sen, Idee, 393 (Hervorhebung F.-J. B.). 46 Vgl. Ronald Dworkin, Taking Rights Seriously, Cambridge, MA 1977. 47 Vgl. T homas M. Scanlon, „Rights and Interests“, in: Kaushik Basu/Ravi Kanbur (Hgg.), Arguments for a Better World, Oxford 2009, 68–79, 68 f. 48 Sen, Idee, 388. 49 Sen, Idee, 387. 50 Ebd. 43 Sen,
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ten beruhende Ansprüche gegeneinander ‚abwägen‘ oder ‚gewichten‘ müsse“, zwingend die Unterstellung einer klaren hierarchischen „Rangordnung von Rechten“51 folge. Auch der Idee, konkrete möglichst umfassende Listen von Menschenrechten zu formulieren, steht Sen mit wachsender Skepsis gegenüber, da er nicht zu erkennen vermag, wie die jeweils variablen Anwendungskontexte in solchen Lis ten adäquat berücksichtigt werden könnten52, so dass das Aufstellen kanonischer Menschenrechtskataloge letztlich in der Gefahr stehe, den prinzipiell unabschließbaren Prozess des öffentlichen Vernunftgebrauchs durch dogmatische Formeln – wie etwa den von ihm ausdrücklich abgelehnten Rekurs auf den Natur-Begriff – zu unterlaufen. Obwohl sich die undogmatische Weite von Sens Verständnis öffentlicher Vernunft wohltuend von den problematischen Rawlsschen Einlassungen zu diesem Begriff unterscheidet53 und auch seine Deutung der Menschenrechte i.S. spezifischer Berechtigungen auf die Entwicklung ganz bestimmter Fähigkeiten (entitlements to capabilities) als wertvoller Beitrag zur Klärung der begrifflichen Grundlagen des Menschenrechtsdiskures anzuerkennen ist, provozieren seine Überlegungen zu folgenden drei kritischen Rückfragen: Erstens ist zumindest unklar, ob Sens besondere Form einer konsequentialis tischen Begründung stark genug ist, um die Unveräußerlichkeit basaler Menschenrechte zu sichern. Seine Beteuerung, dass die Menschenrechte „zu unseren stärksten Handlungsdeterminanten gehören sollten, statt ignoriert oder schnell beiseite geschoben zu werden“54, lässt m.E. mehr Fragen offen, als sie beantwortet. Dasselbe gilt für seine Verwendung des unklaren Begriffs der „grundlegende[n] Wichtigkeit“55 dieser Rechte. Denn wenn solche Rechte aus welchen Gründen auch immer letztlich doch noch ‚übertrumpft‘ werden können, dann kann von ihrer unbedingten kategorischen Geltung keine Rede mehr sein. Zweitens gibt uns Sen keine überzeugende Lösung für das Ordnungs- bzw. Vorrangproblem, das aus der Pluralität verschiedener Menschenrechte resultiert. Soll sein lakonischer Hinweis, die „mathematische Gewichtung gestatte […] vielfältige Gewichtungsverfahren, die Intensitäten, Umstände und Konsequenzen berücksichtigen, ohne dass sie uns in allen Fällen zwingen, einem Rechtstyp direkte ‚lexikalische‘ Priorität vor anderen zu geben“56, nicht auf eine letztlich 51 Sen,
Idee, 404. Vgl. Amartya Sen, „Human Rights and Capabilities“, Journal of Human Development 6 (2005), 151–166, bes. 157. 53 Vgl. dazu Franz-Josef Bormann, „‚Public reason‘ bei John Rawls“, in: ders./Bernd Irlenborn (Hgg.), Religiöse Überzeugungen und öffentliche Vernunft. Zur Rolle des Christentums in der pluralistischen Gesellschaft, Freiburg 2008, 237–266. 54 Sen, Idee, 388. 55 Sen, Idee, 389. 56 Sen, Idee, 404. 52
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willkürliche Entscheidung hinauslaufen, dann bedarf es eines plausiblen Beurteilungsmaßstabes, den uns Sen jedoch in Ermangelung einer idealen Theorie schuldig bleibt.57 Drittens erscheint unklar, wo die Grenzen jener Berechtigungen liegen sollen, die durch den Menschenrechtsbegriff gedeckt sind. Da Sen grundsätzlich bestreitet, „dass Meinungsverschiedenheiten über T heorien der Gerechtigkeit überzeugend zu schlichten wären, indem man sich auf Eigenschaften der menschlichen Natur besinnt“58, wäre näher zu klären, wie trennscharf seine Begriffe der ‚grundlegenden anthropologischen Bedeutung‘ und der ‚substantiellen Freiheit‘59 wirklich sind, um verschiedene Rechtsklassen überzeugend gegeneinander abzugrenzen und der Gefahr zu wehren, den Bereich der Menschenrechte auf der Grundlage seines weiten Freiheitsverständnisses allzu sehr auszudehnen. Der Umstand, dass Sen in der Aufzählung konkreter Menschrechte zwischen wenigen, im Grunde intuitiv basierten Rechtsansprüchen (etwa auf Ernährung, Unterbringung und medizinische Grundversorgung) einerseits und dem Hinweis auf die prinzipielle Offenheit von Menschenrechtskatalogen andererseits oszilliert, dürfte symptomatisch dafür sein, dass die Begrenzungsproblematik bei ihm noch nicht hinreichend gelöst ist.
2.3 Martha Nussbaum Wie Sen so ist zwar auch Nussbaum davon überzeugt, dass es nicht ausreicht, die Rawlssche Grundgüterlehre einfach um einige Kandidaten zu ergänzen. Ihres Erachtens ist Rawls’ Theorie nämlich nicht nur deshalb zu schwach, weil sein Pool von social basic goods die wirklich primären Güter gar nicht enthalte, sondern weil ihm die Bereitschaft fehle, „die verschiedenen Tätigkeiten näher zu bestimmen, zu deren Ausführung wir die Menschen befähigen wollen und die den Gütern erst ihren Sinn geben“60. Doch führt diese Einschätzung Nussbaum anders als Sen gerade nicht dazu, eine „ziemlich radikale neue Richtung in der Analyse der Gerechtigkeit zu
57 Zu einem ähnlichen Ergebnis gelangt auch Polly Vizard: „In particular, the ‚consequence-sensitive‘ approach will require principles and/or procedures to provide the basis for limitations and trade-offs and for establishing priorities in the context of resource and feasibility constraints.“ Polly Vizard, „The Contribution of Professor Amartya Sen in the Field of Human Rights“, CASEpaper 91 (Centre for Analysis of Social Exclusion, London School of Economics), January 2005, 1–55, 46. 58 Sen, Idee, 442. 59 Vgl. die Kritik von Susan Moller Okin, „Poverty, Well-being and Gender: What Counts, Who’s Heard?“, Philosophy and Public Affairs 31 (2003), 280–316, bes. 292. 60 Martha Nussbaum, „Die Natur des Menschen, seine Fähigkeiten und Tätigkeiten: Aristoteles über die distributive Aufgabe des Staates“, in: dies., Gerechtigkeit oder das gute Leben, Frankfurt am Main 1999 (= Natur des Menschen), 94.
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fordern“61, für die das Gegenüber zum Rawlsschen Ansatz konstitutiv ist. Da es Rawls „in seinem Politischen Liberalismus nicht so sehr um seine eigene Gerechtigkeitskonzeption, sondern eher um eine Familie liberaler Konzeptionen geh[e], unter denen seine eigene nur eine unter mehreren möglichen“62 sei, hofft Nussbaum zeigen zu können, dass ihr „Fähigkeitenansatz zu dieser Familie gehört“ und ihr Versuch, „ihn der Rawlsschen Konzeption zur Seite zu stellen, Rawls’ eigenes Anliegen eher vorantreibt als ersetzt“63. Ihr wohlwollend-differenziertes Verhältnis zu Rawls wird auch daran deutlich, dass sie ihre eigenen Reflexionen zum Fähigkeitenbegriff einerseits als bloß „partielle Theorie der sozialen Gerechtigkeit“64 verstanden wissen will, die der vielfältigen Ergänzung bedarf und sich problemlos in den größeren Rahmen des Liberalismus einordnen lässt, andererseits aber gerade im Blick auf die Begründung von Menschenrechten den Anspruch erhebt, auf diese Weise den engen Zusammenhang zwischen den Rechten der ersten und der zweiten Generation besser begründen zu können, als dies innerhalb der Rawlsschen Konzeption der Fall ist. Wichtigster Gewährsmann für dieses Unterfangen ist Aristoteles, wobei es Nussbaum weniger um eine genaue Rekonstruktion seiner historischen Position als vielmehr um eine sozialdemokratisch gewendete „liberale Form des Aristotelismus“ geht, „die den traditionellen politischen Rechten und Freiheiten eine wichtige Rolle zuschreibt“65. Fünf Eigentümlichkeiten ihrer Fähigkeiten-Konzeption, die „eng mit der Förderung der Menschenrechte verbunden“ ist und daher „eine Art von menschenrechtsbasiertem Ansatz“66 darstellt, seien im Blick auf unsere Leitfrage besonders hervorgehoben: Erstens die auf dem Argument der Gattungszugehörigkeit basierende Grundannahme, dass menschenrechtliche „Ansprüche in der Existenz einer Person als menschliches Wesen begründet sind – also nicht allein im tatsäch
61 Sen,
Idee, 12. Martha Nussbaum, Die Grenzen der Gerechtigkeit, Berlin 2010 (= Grenzen), 20. 63 Nussbaum, Grenzen, 20 f. In diesem Sinne stellt Nussbaum fest: „T he capability approach, as I have articulated it, is very close to Rawls’s approach using the notion of primary goods. We can see the list of capabilities as like a long list of opportunities for functioning, such that it is always rational to want them whatever else one wants. […] The primary differences between this capabilities list and Rawls’s list of primary goods are its length and definiteness, its refusal to make thing-like items like income and wealth goals in their own right, and in particular, […] its determination to place upon the list the social basis for several goods that Rawls has called ‚natural goods‘, such as ‚health and vigor, intelligence and imagination‘.“ Martha Nussbaum, Women and Human Development. The Fifth Annual Hesburgh Lectures on Ethics and Public Policy. Lecture One: In Defense of Universal Values, Notre Dame, February 1999 (= Women), 49. 64 Nussbaum, Grenzen, 398. 65 „Liberaler Aristotelismus. Klaus Taschwer im Gespräch mit Martha C. Nussbaum“, in: Martha Nussbaum, Vom Nutzen der Moraltheorie für das Leben, Wien 2000 (= Liberaler Aristotelismus), 89. 66 Nussbaum, Grenzen, 390. 62
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lichen Verfügen über eine rudimentäre Menge ‚elementarer Fähigkeiten‘ […], sondern in der Tatsache, daß eine Person in die Gemeinschaft der Menschen hineingeboren wird“67. Zweitens die naturrechtlich inspirierte Überzeugung, „daß die relevanten Ansprüche vorpolitisch und nicht das künstliche Ergebnis von Gesetzen und Institutionen sind“68. Drittens damit einhergehend der streng universale Charakter dieser Ansprüche, den Nussbaum gegen verschiedene Spiel arten des Relativismus verteidigt.69 Viertens die Sensibilität für einen notwendigen Pluralismus individueller Lebensentscheidungen und kultureller sowie situativer Besonderheiten, dem dadurch Rechnung getragen wird, dass nur die ‚Fähigkeiten‘ (capabilities), nicht aber die tatsächlichen Vollzüge (functionings) zum Anknüpfungspunkt von Rechtsansprüchen gemacht werden.70 Und fünftens der sog. schwache Essentialismus, der eine Alternative zu den komplementären Extrempositionen eines illiberalen Paternalismus einerseits und eines kulturalistischen Relativismus andererseits bieten soll.71 Mittels einer letztlich induktiven Verfahrensweise, die weder eine „ahistorische noch eine aprioristische Konstruktion“72 darstellt, sondern vielmehr die konvergenten reflexiven Selbstinterpretationen von Menschen vieler Zeiten und Orte auswertet73, möchte Nussbaum die „allgemeinen Umrisse“74 einer Konzeption freilegen, die es gestattet, die „menschliche Lebensform in ihrer 67 Nussbaum,
Grenzen, 391 f. Grenzen, 392. 69 Vgl. Martha Nussbaum, „Nicht-relative Tugenden: Ein aristotelischer Ansatz“, in: dies., Gerechtigkeit oder Das gute Leben, Frankfurt am Main 1999 (= Nicht-relative Tugenden), 227–264. 70 Vgl. Nussbaum, Women, 47. 71 Ausdrücklich erklärt Nussbaum: „Ich vertrete eine offen universalistische und ‚essentialistische‘ Konzeption. Diese Konzeption fordert uns auf, unser Augenmerk auf die Gemeinsamkeiten und nicht auf die Unterschiede zu richten (wenngleich sie diese […] nicht vernachlässigt) und einige Fähigkeiten und Tätigkeiten als wichtiger und zentraler für das menschliche Leben anzunehmen als andere. Die derzeitigen Hauptkontrahenten dieser Konzeption sind ‚Anti-Essentialisten‘ sowie Denker, die nicht von der Gleichheit, sondern von der Differenz […] ausgehen und nach Normen suchen, die in bezug auf einen lokalen Kontext und lokale Überzeugungen definiert werden.“ Martha Nussbaum, „Menschliche Fähigkeiten, weibliche Menschen“, in: dies., Gerechtigkeit oder Das gute Leben, Frankfurt am Main 1999 (= Menschliche Fähigkeiten), 178 f. 72 Nussbaum, Menschliche Fähigkeiten, 189. 73 Nussbaum stellt in diesem Sinne fest: „Wir haben keinen Fundus von völlig uninterpretierten ‚gegebenen‘ Daten, sondern wir haben Erfahrungskerne, von denen die Konstruktionen der verschiedenen Gesellschaften ausgehen. Es gibt keinen Archimedischen Punkt, keinen reinen Zugang zu einer gleichsam jungfräulichen – auch menschlichen – ‚Natur‘ an sich. Es gibt nur ein menschliches Leben in seiner gelebten Form. Aber in dem gelebten Leben stoßen wir auf Erfahrungen, die um bestimmte Schwerpunkte zentriert sind, welche vernünftige Ausgangspunkte für eine kulturübergreifende Reflexion abgeben.“ Nussbaum, Nicht-relative Tugenden, 260. 74 Nussbaum, Menschliche Fähigkeiten, 188. 68 Nussbaum,
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Grundstruktur“75 ebenso zu identifizieren wie die ihr korrespondierenden verteilungsrelevanten „menschlichen Grundfähigkeiten“76. Zu den wichtigsten Koordinaten einer humanen Lebensform zählt Nussbaum so unterschiedliche Phänomene wie Sterblichkeit, körperliche Verfasstheit (einschließlich der Bedürfnisse nach Essen und Trinken, Schutz, sexuelles Verlangen und Mobilität), die Fähigkeit zum Empfinden von Freude und Schmerz, kognitive Fähigkeiten (i.S. von Wahrnehmungs-, Vorstellungs- und Denkfähigkeit), die frühkindliche Entwicklung, die praktische Vernunft, die Erfahrung der Verbundenheit mit anderen Menschen, anderen Arten sowie mit der Natur, Humor und Spiel sowie schließlich die Erfahrung des Getrenntseins.77 Obwohl Nussbaum diese Aufstellung nur als eine „Arbeitshypothese“ verstanden wissen will, die „eine Diskussion in Gang setzen“78 soll, ist sie der Überzeugung, dass sich auf diesem Wege eine Liste der funktionalen Grundfähigkeiten des Menschen gewinnen lässt, zu der sie – in gewissen Variationen – vor allem die folgenden zehn Kandidaten rechnet: Die Fähigkeit zu leben (life), zu körperlicher Gesundheit und Integrität (bodily health and integrity), zum Gebrauch von Sinnen, Vorstellungskraft und Denkvermögen (senses, imagination and thought), zum Erleben grundlegender Emotionen (emotions), zum Gebrauch der praktischen Vernunft (practical reason), zum Zusammenleben mit anderen Menschen (affiliation) und Vertretern anderer Arten (other species), zum Spiel (play) sowie zur Kontrolle über seine eigene Umwelt (control over one’s environment).79 Um den rein formalen Charakter bestimmter vorherrschender Formen des Liberalismus zu überwinden, unterscheidet Nussbaum im Blick auf diese Fähigkeiten zwei unterschiedliche Schwellen: „eine Schwelle der Fähigkeit zur Ausübung von Tätigkeiten, unterhalb deren ein Leben so verarmt wäre, daß es überhaupt nicht mehr als menschliches Leben gelten könnte; und eine etwas höher anzusetzende Schwelle, unterhalb deren die für den Menschen charakteristischen Tätigkeiten so reduziert ausgeübt werden, daß wir das entsprechende Leben zwar als ein menschliches, nicht aber als ein gutes menschliches Leben bezeichnen würden“80. Da die letztgenannte Schwelle für den politischen Diskurs entscheidend sei, hat Nussbaum ihren Fähigkeiten-Begriff insofern noch weiter differenziert, als in lockerem Anschluss an Aristoteles drei moralisch relevante Fähigkeitsstufen i.S. unterschiedlicher Entwicklungsniveaus einer Fähigkeit voneinander unterschieden werden: basic capabilities, internal capabilities und combined 75 Nussbaum,
Menschliche Fähigkeiten, 190. Menschliche Fähigkeiten, 200. 77 Nussbaum, Menschliche Fähigkeiten, 190–196. 78 Nussbaum, Menschliche Fähigkeiten, 196. 79 Vgl. Martha Nussbaum, Women and Human Development. The Capability Approach, Cambridge 2000 (= Women and Human Development), 78–80. 80 Nussbaum, Menschliche Fähigkeiten, 197. 76 Nussbaum,
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capabilities. Während die elementaren ‚Grundfähigkeiten‘ als angeborene, aber noch wenig entwickelte Befähigungen allein deswegen einen Anspruch begründen, „weil sie vorhanden und in einem Zustand unzureichender Realisierung sind“81, handelt es sich bei den ‚internen Fähigkeiten‘ um durch Erziehung zu erwerbende höherstufige Befähigungen, die eng mit der Entwicklung guter charakterlicher Eigenschaften verbunden sind. Da dem Menschen jedoch trotz voll entwickelter interner Fähigkeit aufgrund bestimmter ungünstiger äußerer Umstände die Möglichkeit zur Aktivierung eben dieser Befähigungen fehlen kann, hat Nussbaum zunächst deren Ergänzung durch sog. ‚externe Fähigkeiten‘ gefordert und diesen Gedanken dann später durch den Begriff der ‚kombinierten Fähigkeiten‘82 präzisiert, um deutlich zu machen, dass der Schutz der Entwicklungschancen des Menschen eine politische Aufgabe darstellt und einer robusten rechtlichen Absicherung bedarf, die weit über die Bereitstellung bestimmter äußerer materieller Güter hinausgeht. Zur Beurteilung der Plausibilität ihres mittlerweile breit diskutierten Fähigkeitenmodells muss es an dieser Stelle genügen, kurz auf einige Stärken und Schwächen ihres Menschenrechtsverständnisses aufmerksam zu machen. Zunächst einmal ist es sicher eine große Stärke ihres Ansatzes, dass Nussbaum im Bemühen um eine plausible Menschenrechtsbegründung in weit stärkerem Maße als Rawls und Sen auf die aristotelische Ethik zurückgreift und damit eine Traditionslinie ins Spiel bringt, die sich vor allem durch ihren anthropologischen Reichtum auszeichnet. Ihre liberale Version der Anverwandlung aristotelischer Denkmotive hebt sich dabei wohltuend sowohl von jener kommunitaristischen Aristoteles-Interpretation ab, die uns bei Alasdair MacIntyre begegnet, als auch von der im Grunde naturalistischen Deutung Philippa Foots83, die in Ermangelung einer hinreichenden Unterscheidung zwischen dem spezifischen und dem moralisch guten menschlichen Leben, Ethik wider Willen tendenziell in Naturphilosophie auflöst84. In der Analyse der Grundstrukturen einer menschlichen Lebensform verweist Nussbaum demgegenüber zu Recht stets auf die herausragende Bedeutung nicht nur des für die Gerechtigkeitsfrage grundlegenden Gemeinschaftsbezuges menschlicher Existenz, sondern auch auf die organisierende Funktion der praktischen Vernunft85, so dass an der kognitiven Grundausrichtung ihrer Überlegungen kein Zweifel bestehen kann. 81 Nussbaum,
Die Natur des Menschen, 112. Vgl. Nussbaum, Women and Human Development, 84 Anm. 94. 83 Vgl. Philippa Foot, Natural Goodness, Oxford 2001 (dt. Übers.: Die Natur des Guten, Frankfurt am Main 2004). 84 Vgl. dazu Franz-Josef Bormann, „Naturrecht in neuem Gewand?“, in: Josef Schuster (Hg.), Zur Bedeutung der Philosophie für die Theologische Ethik, Fribourg 2010, 81–105, 96. 85 In diesem Sinne stellt Nussbaum fest: „Diese beiden Fähigkeiten [sc. Verbundenheit mit anderen Menschen bzw. Soziabilität und praktische Vernunft] verleihen dem menschlichen Leben gleichsam seine Architektur, da sie alle anderen Fähigkeiten strukturieren und durchdringen – die nur insoweit als wahrhaft menschliche gelten, wie sie in einem be82
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Auch ihr generelles Bemühen, die Kategorie der ‚Fähigkeit‘ für eine Präzisierung des Rechtsbegriffs fruchtbar zu machen, dürfte selbst dann begrüßenswert erscheinen, wenn nicht immer hinreichend klar wird, ob sich die von ihr aufgezeigten Leerstellen einer Rechte-Semantik dadurch tatsächlich beseitigen und die gesetzestechnisch notwendigen Schwellenwerte mittels der capabilityKategorie hinreichend präzise definieren lassen. Dasselbe gilt für ihren Versuch, die Vagheit von Sens’ einschlägigen Ausführungen zum Umfang der Menschenrechte durch listenartige Aufstellungen zu überwinden und dadurch den Prozess ihrer politischen Implementierung voranzutreiben. Daneben gibt es jedoch auch eine Reihe unübersehbarer Unzulänglichkeiten ihrer bisherigen Ausführungen, die freilich ganz unterschiedliche Aspekte ihrer Fähigkeiten-Konzeption betreffen: Ein erstes Problem besteht in der begrifflichen Heterogenität und mangelnden Präzision ihrer Überlegungen zur Grundstruktur einer ‚menschlichen Lebensform‘. Nussbaums Darstellung schwankt zwischen der Aufzählung einiger spezifisch humaner Fähigkeiten und einer Reihe sehr allgemein gefasster ‚Grenzen‘, die keineswegs nur für die Lebensform des Menschen charakteristisch sind. Phänomene wie ‚Sterblichkeit‘, ‚Körperlichkeit‘ oder ‚Getrenntheit‘ bedürfen der näheren Bestimmung, um die typische Signatur einer spezifisch menschlichen Existenzweise erfassen zu können. Eine zweite Schwierigkeit ergibt sich aus der offenkundigen Unvollständigkeit der von Nussbaum vorgelegten Fähigkeiten-Liste. So sucht man beispielsweise so grundlegende Phänomene wie die Fähigkeit zu ästhetischen Erlebnissen oder religiös-weltanschaulicher Sinnerschließung, deren Vorkommen in praktisch allen menschlichen Zivilisationsformen breit belegt ist, bei Nussbaum weithin vergeblich.86 Wieso aber sollte das Bedürfnis nach Schönheit und Sinnerfüllung weniger charakteristisch für ein menschliches Leben sein als dasjenige nach Humor und Spiel?87 Man gewinnt hier den Eindruck eines gewissen Eklektizismus, stimmten Maße durch diese beiden geleitet werden.“ Nussbaum, Nicht-relative Tugenden, 261. Vgl. dazu auch Martha Nussbaum, „Aristotle on Human Nature and the Foundations of Ethics“, in: James E. J. Altham/Ross Harrison (Hgg.), World, Mind, and Ethics, Cambridge 1995, 86–131. 86 Erst auf der zweiten Stufe der Konzeption des Menschen erwähnt Nussbaum im Rahmen der „Fähigkeit, seine Phantasie und sein Denkvermögen zum Erleben und Hervorbringen von geistig bereichernden Werken und Ergebnissen der eigenen Wahl“ neben der Literatur und der Musik auch die Religion, was auf ein ziemlich rationalistisches Religionsverständnis hindeutet. 87 Finnis zählt daher „aesthetic experience“ und „religion“ zu Recht ausdrücklich zu den „basic human goods“: vgl. John Finnis, Natural Law and Natural Rights, Oxford 1980, 87 f. und 89 f. sowie ders., Fundamentals of Ethics, Oxford 1983, 50 f. Weitere wichtige Leerstellen in Nussbaums Liste betreffen die eng mit der menschlichen Aggressivität verbundenen Phänomene des Strebens nach Kontrolle, Macht, Einfluss, Überlegenheit und Herrschaftssicherung. Auch die für eine humane Existenz so notwendigen Fähigkeiten der Askese und des Verzichts, die die komplementären Pole zu freudigem Gebrauch und Genuss bilden, werden mit keinem Wort erwähnt, obwohl sie sich doch angesichts der von Nussbaum ausdrück-
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der dadurch zusätzlich an Brisanz gewinnt, dass die Binnenbezüge zwischen den einzelnen Fähigkeiten letztlich nur unzureichend bestimmt werden.88 Dies dürfte seine Wurzel u.a. darin haben, dass ein klarer inhaltlicher Bezugspunkt für die Integration der verschiedenen Einzelfähigkeiten fehlt, der dem ‚guten Leben‘ erst sein charakteristisches Gepräge verleihen könnte. Ein möglicher Kandidat für einen solchen übergeordneten Bezugspunkt wäre m.E. die optimale Entfaltung der individuellen Handlungsfähigkeit, die Nussbaum zwar gelegentlich selbst erwähnt, aber m.W. nirgends systematisch entfaltet. Im Grunde begegnet uns bei Nussbaum daher dieselbe ungelöste Ordnungs- und Vorrangproblematik wie bei Sen – nur mit dem Unterschied, dass diese jetzt im Rahmen umfangreicher ausgearbeiteter Fähigkeiten-Listen in Erscheinung tritt. Eine dritte Schwierigkeit besteht in der Spannung zwischen der Betonung des vorpolitischen Charakters der Menschenrechte und dem weitgehenden Fehlen hinreichend differenzierter moralontologischer und moralepistemologischer Reflexionen, die auf eine möglichst vollständige Entflechtung normativer und metaethischer Fragestellungen verweist. Die wenigen Bemerkungen zu dem von Nussbaum ausdrücklich abgelehnten ‚metaphysischen Realismus‘ bzw. dem ihr offenbar näherstehenden sog. internen Realismus Hilary Putnams einerseits und zum epistemologischen Ideal eines ‚reflektiven Gleichgewichts‘ sowie zur Idee des ‚überlappenden Konsenses‘ im Rawlsschen Sinne deuten an, dass Nussbaum glaubt, ihre starken geltungstheoretischen Ansprüche weitgehend von starken ontologischen Unterfütterungen abkoppeln zu können – eine Strategie, die bekanntlich schon in Rawls’ Wende zum Politischen Liberalismus erhebliche Kritik auf sich gezogen hat. Nussbaums Behauptung des ‚freistehenden Charakters‘ der beiden zentralen Phänomene ‚Gemeinschaftsbezug‘ und ‚Rationalität‘ dürfte sich daher vor allem dann als präzisionsbedürftig erweisen, wenn es um die Formulierung des genauen Sinngehalts einzelner menschenrechtlicher Ansprüche und die Identifizierung konkreter Schwellenwerte geht, die für die gesetzliche Implementierung solcher Ansprüche unverzichtbar erscheint.
lich erwähnten ‚Knappheit‘ der materiellen – und wie man wohl hinzufügen darf, auch der immateriellen – Ressourcen, die eine allgemeine Grundlegung des menschlichen Lebens darstellt, beinahe von selbst aufdrängen. 88 Der berechtigte Hinweis Nussbaums auf die generell organisierende Funktion der praktischen Vernunft sagt als solcher noch nichts darüber aus, welche Bedingungsverhältnisse zwischen den einzelnen Gütern und Teilfähigkeiten bestehen und über welche unterschiedlichen Gestaltungsspielräume die Vernunft dabei in ihrer Ordnungsfunktion genau verfügt.
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3. Ausblick Überblickt man den Umgang mit dem aristotelischen Erbe in der zeitgenössischen Menschenrechtsdiskussion im Allgemeinen und dessen naturrechtlichen Implikationen im Besonderen am Beispiel der hier ausgewählten AutorInnen, dann drängt sich ein zwiespältiger Eindruck auf. Auf der einen Seite erweist sich dieses Erbe ganz offensichtlich als wesentlich vitaler und wirkmächtiger, als es die vielen – ideengeschichtlich zumeist naiven – Abgesänge auf ‚das Naturrecht‘ vermuten lassen würden. Der Umstand, dass sich ein einflussreicher Denker wie John Rawls selbst umstandslos in die Naturrechtstradition einreiht und dabei ganz selbstverständlich gegen alle diskursethischen Formalismen auf einer starken materialen Form der Deontologie insistiert89, spricht dabei eine ebenso eindeutige Sprache wie sein gleichzeitiges Bemühen, die epistemischen und politischen Einkleidungen dieser historischen Denkform den zeitgenössischen Erfordernissen entsprechend konstruktiv weiterzuentwickeln. Andererseits ist aber gerade im Werk von Amartya Sen und Martha Nussbaum auch nicht zu übersehen, wie sehr die verschiedenen Einzelelemente dieser Tradition auseinandertreten können. Während Sen aufgrund seiner globalen Perspektive ohnehin immer weniger daran interessiert ist, seine Theorie in einer einzigen – und damit zwangsläufig partikularen – kulturellen Tradition zu verankern, und in jüngster Zeit zunehmend dazu neigt, den deontologischen Charakter seiner Überlegungen immer weiter abzuschmelzen, findet sich bei Nussbaum zwar ein viel eindeutigerer und expliziterer Rückgriff auf das aristotelische Erbe, um die anthropologischen Engführungen der Rawlsschen Fairnesskonzeption zu überwinden, doch tritt dafür die Beschäftigung mit der Deontologie und dem naturrechtlichen Charakter ihres Fähigkeitenansatzes deutlicher in den Hintergrund. In einem Interview aus dem Jahre 1997 erzählt Nussbaum davon, Jürgen Habermas habe ihr vor einem Vortrag in Frankfurt gesagt: „Wenn Sie Aristoteles erwähnen, müssen Sie darauf hinweisen, daß Sie über den britischen, sozialdemokratischen Aristoteles sprechen und nicht den katholischkonservativen.“90 Nussbaum hat diesen Ratschlag insofern beherzigt, als sie angesichts von „Denkern wie Alasdair MacIntyre oder den Repräsentanten der Naturrechtslehre, die Aristoteles in einer völlig anderen Weise angeeignet haben“, stets betonte, dass „ihr Denken eine Form von Liberalismus ist“91. Ich habe weder ein Problem mit Nussbaums berechtigter Kritik an MacIntyre92 noch mit
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Vgl. Rawls’ Kontroverse mit Habermas: Jürgen Habermas, „Reconciliation Through the Public Use of Reason: Remarks on John Rawls’s Political Liberalism“, The Journal of Philosophy 3 (1995), 109–131; John Rawls, „Political Liberalism: Reply to Habermas“, The Journal of Philosophy 3 (1995), 132–180. 90 Nussbaum, Liberaler Aristotelismus, 89. 91 Ebd. 92 Vgl. dazu meine Überlegungen in Franz-Josef Bormann, Tugendethik versus Normen
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ihrer strikten Abgrenzung von jener freiheitsgefährdenden Spielart eines ‚thomistischen Naturrechts‘93, die etwa John Finnis und Germain Grisez – oder im deutschen Sprachraum Martin Rhonheimer repräsentieren94. Problematisch erscheint mir vielmehr, dass Nussbaum nicht hinreichend zwischen der (ihr offenbar weithin unbekannten) historischen Position des Thomas und den späteren thomistischen Entstellungen eben dieser Position unterscheidet und implizit unterstellt, die einzige vernünftige Alternative zur Abwehr der aufklärungsfeindlichen und illiberalen Tendenzen eines solchen Thomismus bestehe darin, Aristoteles durch die Brille eines inhaltlich angereicherten rawlsianischen Liberalismus zu lesen. Dies ist umso bedauerlicher, als Nussbaums eigener Fähigkeitenansatz sowohl im Blick auf die Auswahl wie im Blick auf die Verhältnisbestimmung der einzelnen Fähigkeiten im Grunde an demselben ungelösten Vorrang- und Abgrenzungsproblem laboriert, das uns auch in Sens Version des capability approach begegnet war. Es wäre daher zu klären, ob sich den klassischen Texten von Aristoteles oder Thomas von Aquin – insbesondere seinen einschlägigen Überlegungen zum ‚natürlichen Wollen‘ und zur Ordnung der inclinationes naturales – nicht durchaus hilfreiche Kriterien entnehmen ließen, die sich mutatis mutandis auch für die zeitgenössische Menschenrechtsdiskussion als fruchtbar erweisen könnten. Die Klärung dieser Frage stellt m.E. ein Desiderat künftiger Forschung dar, auf das hier lediglich hingewiesen werden soll, deren Ergebnis jedoch an dieser Stelle in keiner Weise präjudiziert werden kann.
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Zur Begründung der Menschenrechte im Fähigkeitenansatz Sebastian Laukötter 1. Einleitung
Im gegenwärtigen Menschenrechtsdenken erfährt der Fähigkeitenansatz (capability approach) zunehmend Aufmerksamkeit.1 Nicht nur im Bereich der internationalen Politik und Entwicklungspolitik, wo er seit einiger Zeit für die Formulierung eines Maßstabes menschlicher Entwicklung im Rahmen der Human Development Reports herangezogen wird, findet er viel Beachtung. Auch in der philosophischen Diskussion erzeugt der Ansatz eine erhebliche Resonanz, nicht zuletzt auch in der Diskussion über Menschenrechte und deren Begründung.2 Nicht nur die Vertreter des Ansatzes behaupten einen engen Zusammenhang von menschlichen Grundfähigkeiten und Menschenrechten – auch Kommentatoren, die von einem Wiedererstarken des Naturrechtsdenkens oder des Aristotelismus in der praktischen Philosophie sprechen, haben dabei häufig auch den Fähigkeitenansatz im Sinn.3 Vor diesem Hintergrund wird der Fähigkeitenansatz hier auf den Prüfstand gestellt, um zu untersuchen, was der Ansatz zu einer philosophischen Auseinandersetzung mit den Menschenrechten, insbesondere der Frage nach ihrer Begründung, beitragen kann. Dazu gilt es zunächst zu klären, was unter Menschenrechten und deren Begründung zu verstehen ist (2). Im Anschluss daran wird der Fähigkeitenansatz in seinen Grundzügen kurz skizziert (3), bevor im Weiteren dessen Potentiale für die Beantwortung von Begründungsfragen im Rahmen einer philosophischen Auseinandersetzung mit den Menschenrechten ausgelotet werden. Dazu werden die menschenrechtlichen Elemente in Amartya Sens (4) 1
Für hilfreiche Diskussionen danke ich Matthias Hoesch. darstellend und kritisch Henning Hahn, Globale Gerechtigkeit. Eine philosophische Einführung, Frankfurt am Main/New York 2009 (= Globale Gerechtigkeit); Regina Kreide, „Menschenrechte und globale Gerechtigkeit“, in: Arnd Pollmann/Georg Lohmann (Hgg.), Menschenrechte. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2012, 383–389. 3 Explizit etwa Franz-Josef Bormann, „Naturrechtliche Begründung von Menschenrechten? Ein Blick in die aristotelische Tradition“, in diesem Band, 135–159 (= Naturrechtliche Begründung), aber bspw. auch Hahn, Globale Gerechtigkeit. 2 Dazu
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und Martha C. Nussbaums (5) Variante des Fähigkeitenansatzes freigelegt und diskutiert. Dabei zeigt sich, dass der Fähigkeitenansatz als Menschenrechtsansatz gelesen werden kann. Zwar gibt er keine Antwort auf die Frage nach der Soll-Geltung der Menschenrechte, die sich aus dem Fokus auf menschliche Fähigkeiten ergibt – hierfür nimmt er theorieexterne Begründungsressourcen in Anspruch. Doch für die Begründung des Inhaltes der Menschenrechte formuliert der Ansatz Argumente, die einen sinnvollen Beitrag zur philosophischen Diskussion über die Menschenrechte darstellen können.
2. Was sind Menschenrechte und warum muss man sie begründen? Obwohl wir nach einer weit geteilten Auffassung in einer „Kultur der Menschenrechte“4 leben, herrscht über die Frage danach, was Menschenrechte sind, keineswegs Einigkeit – weder unter Philosophen5 noch im alltäglichen Sprachgebrauch. Manche verstehen unter Menschenrechten allein juridische Rechte – seien es in einzelstaatlichen Verfassungen und Gesetzen kodifizierte Rechte oder seien es völkerrechtliche Ansprüche –, andere sehen in ihnen moralische Rechte, die alle Menschen ganz unabhängig von deren rechtlicher Positivierung besitzen, und manche halten sie für Unsinn auf Stelzen, weil es so etwas wie natürliche und unveräußerliche Rechte – außer als hochtrabende Rhetorik – gar nicht gebe.6 Der Begriff ‚Menschenrechte‘ ist heute ein umbrella-term, unter den in ganz unterschiedlichen Verwendungskontexten ganz unterschiedliche Bedeutungen fallen, was nicht nur die Auseinandersetzung mit der Rhetorik der Menschenrechte so kompliziert macht und eine Ursache zahlreicher Missverständnisse in den verschiedenen Diskursen über die Menschenrechte ist, sondern auch den Bedarf einer philosophischen Aufklärung des Menschenrechtsbegriffs verdeutlicht.7 Um solchen Missverständnissen vorzubeugen, empfiehlt es sich deshalb, einige Unterscheidungen vorzunehmen. 4 Z.B. Richard Rorty, „Menschenrechte, Rationalität und Gefühl“, in: Susan Hurley/ Stephen Shute (Hgg.), Die Idee der Menschenrechte, Frankfurt am Main 1996, 144–167. 5 Z.B. Stefan Gosepath/Georg Lohmann, „Einleitung“, in: Stefan Gosepath/Georg Lohmann (Hgg.): Philosophie der Menschenrechte, Frankfurt am Main 1998, 7–28, die diesbezüglich von „tiefgreifenden Divergenzen“ (9) sprechen. 6 Die Rede von Menschenrechten als Nonsens auf Stelzen geht auf Bentham zurück: Jeremy Bentham, „Unsinn auf Stelzen, oder: Pandoras Büchse geöffnet“, in: ders., Unsinn auf Stelzen. Schriften zur Französischen Revolution, hg. von Peter Niesen, Berlin 2013, 137–186. 7 Eine solche philosophische Aufklärung des Begriffs der Menschenrechte kann hier nicht vorgenommen werden. An dieser Stelle geht es mir lediglich um die Einführung einiger basaler Unterscheidungen, die für den weiteren Gang der Analyse zu berücksichtigen sind. Zur Klärung des Begriffs der Menschenrechte siehe z.B. Christoph Menke/Arnd Pollmann (Hgg.), Einführung in die Philosophie der Menschenrechte, Hamburg 2007.
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Zuerst sind moralische und juridische Menschenrechte begrifflich auseinanderzuhalten, ohne dass damit schon eine Vorentscheidung über die Beziehung zwischen beiden getroffen wäre. Die Rede von moralischen Menschenrechten meint moralische Ansprüche, die allen Menschen allein aufgrund ihres Menschseins zukommen. Meist korrespondiert mit dieser Auffassung die Vorstellung einer Verpflichtung der gesamten Menschheit zu deren Garantie.8 Juridische Menschenrechte sind dagegen menschenrechtliche Normen des positiven Rechts, die etwa als Grundrechte in einzelstaatlichen Verfassungen oder als Menschenrechte im internationalen Recht verankert sind. Die Frage nach der Begründung der mit ihnen verbundenen Geltungsansprüche stellt sich für beide „Arten“ von Menschenrechten. Wer den allgemeinen moralischen Anspruch erhebt, dass alle Menschen über bestimmte moralische Rechte verfügen, denen Pflichten der gesamten Menschheit korrespondieren, muss dafür ebenso eine plausible Begründung anführen können, wie derjenige, der die Bedeutung der Menschenrechte im Recht erklären oder politisch für deren Verrechtlichung kämpfen will, auch wenn in der Logik des Rechts für die rechtliche Geltung selbst der Akt der Rechtsetzung als ausreichend betrachtet werden kann. Häufig wird die genannte Unterscheidung auch als die zwischen positiven und überpositiven oder vorpolitischen Menschenrechten bezeichnet. Wenn historisch etwa in Unabhängigkeitserklärungen, Menschenrechtsdeklarationen oder auch der Charta der Vereinten Nationen von natürlichen Rechten des Menschen die Rede ist, ist damit in der Regel gemeint, dass die darin formulierten moralischen Ansprüche unabhängig vom positiven Recht moralische Geltung beanspruchen (und als kritischer Maßstab desselben fungieren) können und deshalb als vorpolitisch zu verstehen sind. In einem stärkeren Sinne kann die Rede von natürlichen Rechten aber auch bedeuten, dass sich die fundamentalen menschenrechtlichen Ansprüche in irgendeiner Weise aus der Natur bzw. der Natur des Menschen ableiten lassen.9 Beide Verwendungsweisen von Naturrecht können zusammenfallen, müssen es aber nicht. Für Menschenrechtsbegründungen unter Rückgriff auf die Natur oder die Natur des Menschen stellt sich die Aufgabe, zu zeigen, wie sich aus dem Rekurs auf ein natürliches Faktum ein normativer Anspruch ergibt. Deshalb sehen sich Strategien zur Begründung der Soll-Geltung von Menschenrechten dem Verdacht des Sein-Sollen-Fehlschlusses ausgesetzt, den Pollmann so beschreibt: „The idea of rights which human beings should have just because they are human beings by nature seems to be odd, as this idea is notoriously aiming to
8
Z.B. Martha C. Nussbaum, Die Grenzen der Gerechtigkeit. Behinderung, Nationalität und Spezieszugehörigkeit, Berlin 2010 (= Grenzen); Amartya Sen, Die Idee der Gerechtigkeit, München 2010 (= Idee). 9 Letzteres Verständnis von Naturrecht legt etwa Bormann seinen Ausführungen im Beitrag zu diesem Band zugrunde (vgl. Bormann, Naturrechtliche Begründung).
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bridge a conceptual gap that is indeed unbridgeable in principle.“10 Damit stellt sich für Begründungen der Menschenrechte unter Rückgriff auf die Natur oder auch auf die Anthropologie die Frage danach, wo das Normative ins Spiel kommt, denn wir brauchen, wie es Ladwig formuliert, „mindestens ein gültiges moralisches Prinzip, um auf Menschenrechte schließen zu können. Ein solches Prinzip folgt aber jedenfalls nicht allein aus Sätzen über die menschliche Natur.“11 Die Frage nach der Begründung der Menschenrechte muss aber nicht zwingend als Frage nach der Begründung ihres Geltungsanspruchs verstanden werden. Sie kann auch als die Frage nach der Begründung ihres Inhalts verstanden werden. Das Spektrum möglicher Antworten auf diese Frage reicht in der philosophischen Literatur von einem menschenrechtlichen Minimalismus, der den Inhalt der Menschenrechte auf den Schutz negativer Freiheitsrechte beschränkt (Libertarianismus), bis zu umfassenden Konzeptionen sozialer Menschenrechte.12 Seit einiger Zeit spielen aristotelische Ansätze in der philosophischen Diskussion über Gerechtigkeit und auch über die Menschenrechte eine zunehmend prominente Rolle. Im Fähigkeitenansatz, der vor allem von Martha Nussbaum und Amartya Sen entwickelt wurde, finden sich Beiträge zu beiden Begründungsfragen, die sich mit Blick auf die Menschenrechte stellen.
3. Der Fähigkeitenansatz und die Menschenrechte Auch wenn Vertreter des Fähigkeitenansatzes den Anspruch erheben, dass dieser als Menschenrechtskonzeption verstanden werden kann, ist zu bedenken, dass der Ansatz nicht primär ein Menschenrechtsansatz oder eine Theorie der Menschenrechte ist. Entwickelt hat er sich – zunächst in den Arbeiten Amartya Sens – aus einer frühen Kritik an John Rawls’ Konzentration auf Grundgüter als Gegenstand gerechter Verteilung in dessen Eine Theorie der Gerechtigkeit.13 Bereits 1979 hat Sen in einem Artikel unter dem Titel Equality of What? darauf hingewiesen, dass die gleiche Verteilung von Grundgütern als Maßstab einer gerechten Güterverteilung innerhalb einer Gesellschaft deshalb problematisch
10 Pollmann, Arnd, „Human Rights Beyond Naturalism“, in: Marion Albers/T homas Hoffmann/Jörn Reinhard (Hgg.), Human Rights and Human Nature, Dordrecht 2014, 121– 136, hier: 122. 11 Bernd Ladwig, „Anthropologische Argumente in der menschenrechtlichen Moral“, in: Dirk Jörke/Bernd Ladwig (Hgg.), Politische Anthropologie. Geschichte – Gegenwart – Möglichkeiten, Baden-Baden 2009 (= Anthropologische Argumente), 245–270, 245. 12 Der Fähigkeitenansatz ist nur ein Beispiel für solche umfassenden Konzeptionen. Ausgehend von der Idee der egalitären Gerechtigkeit vertritt beispielsweise Gosepath eine weitreichende Konzeption sozialer Menschenrechte. Vgl. Stefan Gosepath, „Zu Begründungen sozialer Menschenrechte“, in: Stefan Gosepath/Georg Lohmann (Hgg.), Philosophie der Menschenrechte, Frankfurt am Main 1998, 146–187. 13 John Rawls, Eine T heorie der Gerechtigkeit, Frankfurt am Main 1979.
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ist, weil die gleiche Verteilung von Ressourcen keineswegs dazu führt, dass die Personen damit gleichermaßen zu einem Zustand gleicher effektiver Freiheit gelangen.14 Beispielsweise kann „[e]ine Person im Rollstuhl […] über dasselbe Einkommen und Vermögen verfügen wie ein Mensch, der ‚normal‘ mobil ist, und dennoch nicht die gleiche Fähigkeit haben, sich von Ort zu Ort zu bewegen.“15 Deshalb schlägt der Fähigkeitenansatz vor, die gerechte Verteilung von Gütern innerhalb einer Gesellschaft nicht an der Verteilungsgleichheit in Bezug auf Ressourcen, sondern in Bezug auf Verwirklichungschancen zu betrachten. Entsprechend sollte die Theorie der Gerechtigkeit nicht auf die gleiche Verteilung von Ressourcen schauen, sondern darauf, ob Personen in gleicher Weise über die effektive Freiheit verfügen, zu tun, was sie aus guten Gründen wertschätzen.16 Der Ansatz ist aber nicht nur aus einer Kritik am rawlsschen Gerechtigkeitsmodell entwickelt worden, sondern auch aus der Kritik an der Konzentration auf die utilitaristische Idee der Maximierung des Gesamtnutzens und die Idee der Messung der Entwicklung ökonomischer Indikatoren wie des Brutto-National-Einkommens im Bereich der Entwicklungsökonomie und der Entwicklungspolitik. Denn so wie die Konzentration des Utilitarismus auf die Maximierung des Gesamtnutzens noch nichts darüber aussagt, ob diese die Situation einzelner Personen verbessert oder verschlechtert, sagen auch ökonomische Kriterien wie die Entwicklung des Brutto-National-Einkommens eines Staates noch nichts darüber aus, ob sich mit einem Wachstum der Gesamtmenge auch die Situation der Einzelnen verbessert. Deshalb sollte man Entwicklung, so Sens Vorschlag, nicht allein auf der Grundlage solcher Indikatoren messen, sondern unter Rückgriff auf einen Maßstab, der die Dimension der Verbesserung der Lebenslagen der einzelnen Personen zu beurteilen erlaubt. Im Bereich der Entwicklungsökonomie und der Entwicklungspolitik hat der Fähigkeitenansatz enorme Wirkung entfaltet und dazu geführt, dass Entwicklung inzwischen von den Vereinten Nationen in den Human Development Reports weniger eindimensional als in der Orientierung an der Entwicklung des Brutto-National-Einkommens anhand eines am Fähigkeitenansatz orientierten Human Development Index bewertet wird, der die Dimension der individuellen effektiven Freiheit von Personen einzubeziehen versucht, indem er über die Entwicklung in Bezug auf unterschiedliche Parameter wie Bildung, Gesundheit, Lebenssituation etc. Auskunft gibt.
14 Vgl. Sen, Amartya, „Equality of What?“, in: ders., Choice, Welfare and Measurement, Oxford 1982, 353–369. 15 Nussbaum, Grenzen, 229 f. 16 Nach Nussbaum lautet die zentrale Frage für den Aristoteliker nicht: „‚Wieviel haben sie?‘, sondern: ‚Was können sie tun und sein?‘. Seiner Meinung nach leistet die Regierung keine gute Arbeit, wenn sie nicht jedes Mitglied der Gesellschaft zum guten Leben befähigt – auch wenn sie ihm viele Dinge gibt.“ Nussbaum, „Der aristotelische Sozialdemokratismus“, in: Martha C. Nussbaum, Gerechtigkeit oder Das gute Leben, Frankfurt am Main 1999, 24–85 (= Sozialdemokratismus), 37.
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Auch Martha C. Nussbaum hat ihre Variante des Fähigkeitenansatzes in kritischer Auseinandersetzung mit der rawlsschen Theorie der Gerechtigkeit formuliert. Ihre frühe Kritik setzt am formalen Charakter der rawlsschen Gerechtigkeitstheorie an und besagt, dass es zur Bestimmung der Güter einer gerechten Verteilung innerhalb einer Gesellschaft einer Konzeption des Guten bedürfe, die unter Rekurs auf die Natur des Menschen und dessen Fähigkeiten bestimmt werden müsse. Eine solche Konzeption des Guten versucht Nussbaum in ihren früheren Schriften im Anschluss an Aristoteles als „starke vage Konzeption des Guten“17 zu formulieren. Dabei gelangt Nussbaum zu einer Liste menschlicher Grundbefähigungen, die die Elemente eines guten menschlichen Lebens enthalte. Diese offene Liste zentraler menschlicher Fähigkeiten, die Nussbaum im Laufe ihrer Arbeiten entwickelt hat, umfasst
– „[d]ie Fähigkeit, ein menschliches Leben normaler Dauer bis zum Ende zu leben“, – „[d]ie Fähigkeit, bei guter Gesundheit zu sein“, – körperliche Integrität, – „[d]ie Fähigkeit, die Sinne zu benutzen, sich etwas vorzustellen, zu denken und zu schlussfolgern“, – „[d]ie Fähigkeit, Bindungen zu Dingen und Personen außerhalb unserer selbst aufzubauen“, – „[d]ie Fähigkeit, selbst eine persönliche Auffassung des Guten zu bilden und über die eigene Lebensplanung auf kritische Weise nachzudenken“ (wozu es des Schutzes der Gewissens- und Religionsfreiheit bedarf), – auf Zugehörigkeit bezogene Fähigkeiten, mit anderen zu leben, und über die Grundlagen der Selbstachtung zu verfügen, – die Fähigkeit, in Beziehung zu anderen Spezies zu leben, – die Fähigkeit zum Spiel – sowie Fähigkeiten zur politischen und inhaltlichen Kontrolle über die eigene Umwelt.18 Aus dem Aristotelismus ihrer früheren Arbeiten ergibt sich für Nussbaum, dass eine gerechte Gesellschaft dafür Sorge zu tragen hat, dass ihre Mitglieder über die Bedingungen eines guten Lebens verfügen, welche unter Rückgriff auf eine Liste menschlicher Grundbefähigungen zu bestimmen sind.19
17 Nussbaum,
Sozialdemokratismus, 45 ff. Vgl. Nussbaum, Grenzen, 112–114. Für die Entwicklung der Liste siehe insbesondere Martha C. Nussbaum, „Die Natur des Menschen, seine Fähigkeiten und Tätigkeiten: Aristoteles über die distributive Aufgabe des Staates“, in: Martha C. Nussbaum, Gerechtigkeit oder Das gute Leben, Frankfurt am Main 1999, 86–130; Martha C. Nussbaum, Women and Human Development. The Capabilities Approach, Cambridge 2000. 19 Zum Wandel der Begründung in Nussbaums Konzeption siehe unten, Abschnitt 5. 18
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Wichtig ist dabei, dass es im Fähigkeitenansatz, der sich in der Tradition liberaler Gerechtigkeitstheorien sieht, nicht um die tatsächlichen Tätigkeiten von Personen geht (functioning), also darum, ob sie aus ihren Möglichkeiten und Chancen das Richtige machen20, sondern allein um deren Fähigkeit (capability), Dinge zu tun, die sie aus gutem Grund wertschätzen, denn „[d]ie Freiheit, die Art unseres Lebens selbst zu bestimmen, ist ein Aspekt der Lebensqualität, den wir mit Grund hochschätzen.“21 Entsprechend kommt es für die Bewertung des Lebens als „gut“ oder gelingend nicht darauf an, dass Personen bestimmte Fähigkeiten auch realisieren, sondern darauf, dass sie die Möglichkeit dazu haben – der Fähigkeitenansatz versteht sich hier ganz deutlich als antipaternalistische Konzeption.22
4. Fähigkeiten und Menschenrechte bei Sen Mit Blick auf die Menschenrechte ist an Sens Variante des Fähigkeitenansatzes vor allem dessen anspruchsvolles Verständnis von Freiheit als effektiver Freiheit einer Person, zu tun, was sie aus guten Gründen wertschätzt, von Bedeutung, weil sich aus diesem Freiheitsverständnis als Grundlage von Rechtsansprüchen weitreichende positive Menschenrechtspflichten ergeben.23 Sen versteht die Menschenrechte als ethische Ansprüche. Menschenrechtserklärungen sind entsprechend „dem Inhalt nach starke Behauptungen über ethische Gebote. Sie verlangen, dass diese Gebote anerkannt werden, und weisen darauf hin, dass für die Verwirklichung der durch diese Rechte kenntlich gemachten Freiheiten etwas getan werden muss.“24 Menschenrechte sind gemäß diesem Verständnis An20 Gegen eine solche perfektionistische Lesart des Fähigkeitenansatzes hat sich Nussbaum immer verteidigt. Vgl. Martha C. Nussbaum, „Perfectionist Liberalism and Political Liberalism“, Philosophy and Public Affairs 39,1 (2011), 3–45. 21 Sen, Idee, 255. Fähigkeiten sollen so als Informationsschwerpunkt der Gerechtigkeitstheorie dienen: „In diesem Ansatz wird der individuelle Vorteil gemessen an der Befähigung einer Person, die Dinge zu tun, die sie mit gutem Grund hochschätzt.“ (Sen, Idee, 259) Deshalb müssen Tätigkeiten (functionings) und Fähigkeiten (capabilities) unterschieden werden: „Die Konzeption zielt nicht direkt darauf ab, Menschen dazu zu bringen, auf eine ganz bestimmte Weise zu funktionieren. Sie zielt vielmehr darauf ab, Menschen hervorzubringen, die zu bestimmten Tätigkeiten befähigt sind und die sowohl die Ausbildung als auch die Ressourcen haben, um diese Tätigkeiten auszuüben, falls sie dies wünschen.“ (Nussbaum, Sozialdemokratismus, 40 f.) 22 Zum Antipaternalismus des Fähigkeitenansatzes siehe Sebastian Laukötter, „Der Paternalismus-Einwand gegen den capabilities approach“, in: Michael Kühler/Alexa Nossek (Hgg.), Paternalismus und Konsequentialismus, Münster 2014, 161–177. 23 Vgl. Sen, Idee, 393. 24 Sen, Idee, 384 f. Ich beziehe mich hier vorrangig auf Sens Äußerungen zu den Menschenrechten in Die Idee der Gerechtigkeit. Die Ausführungen dort im Kapitel über „Menschenrechte und globale Imperative“ decken sich weitgehend mit Sens Ausführungen in
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sprüche aller Menschen, „die Ethik der Menschenrechte verlangt, dass die allen Menschen zugesprochenen Rechte auf Achtung für Freiheiten und entsprechende Verpflichtungen ethische Anerkennung finden müssen.“25 Zwar habe die Idee der Menschenrechte, wie Sen ihr attestiert, „etwas sehr Anziehendes“26, aber dennoch sei sie begründungsbedürftig, weshalb es nötig sei, sich „mit konzeptuellen Zweifeln an der Idee der Menschenrechte auseinanderzusetzen und ihr eine klare intellektuelle Grundlage [zu] geben, denn nur dann kann sie durchdachte und nachhaltige Loyalität beanspruchen.“27 Das Begründungsverständnis, das dafür in Anspruch genommen wird, lässt sich den T heorieoptionen ‚Naturrecht‘, ‚Vernunftrecht‘ und ‚Positivismus‘ allerdings nicht zuordnen. Vielmehr wird ‚Begründen‘ von Sen prozedural aufgefasst und an bestimmte normative Prinzipien gebunden, die als vorausgesetzt angenommen werden. In Sens Charakterisierung seines Ansatzes wird dies deutlich:
Im Denkansatz dieses Buches sind Menschenrechte ethische Ansprüche, die sich konstitutiv mit der Wichtigkeit menschlicher Freiheit verbinden, und die kritische Überprüfung durch öffentlichen Vernunftgebrauch in offener Unparteilichkeit entscheidet, ob ein Argument, das einen bestimmten Anspruch als ein Menschenrecht durchsetzen will, stichhaltig ist.28
Wie hier deutlich wird, behandelt Sen die Frage nach der Begründung der Soll-Geltung der Menschenrechte als prozeduralistisch auflösbares „Problem“ vor dem Hintergrund anerkannter Prinzipien des öffentlichen Vernunftgebrauchs und der Unparteilichkeit, die er an anderer Stelle aus seiner Rationa-
den Artikeln „Elements of a Theory of Human Rights“, Philosophy and Public Affairs 32,4 (2004), 315–356 und „Human Rights and Capabilities“, Journal of Human Development 6,2 (2005), 151–166. 25 Sen, Idee, 389. 26 Sen, Idee, 382. 27 Sen, Idee, 383. 28 Sen, Idee, 393 (Hervorhebung S.L.). Sen stellt die Frage nach der Begründung/Prüfung von Menschenrechtsansprüchen auch ganz explizit: „Wie können wir beurteilen, ob Ansprüche auf Menschenrechte akzeptabel sind, und wie einschätzen, welchen Herausforderungen sie sich womöglich stellen müssen? Wie würde man verfahren, um solche Ansprüche zu bestreiten – oder zu verteidigen? Indirekt habe ich mit meiner Definition der Menschenrechte (oder genauer, mit der ausdrücklichen Formulierung der impliziten Definition, auf der die Nutzung von Menschenrechten beruht) schon eine Teilantwort auf diese Frage gegeben. So wie andere ethische Thesen behaupten, dass ihre Annehmbarkeit durch unparteiische kritische Prüfung bestätigt werde, gehen auch Menschenrechtserklärungen implizit davon aus, dass die ethischen Ansprüche, auf die sie sich berufen, überzeugend genug sind, um offener, auf Informationen beruhender kritischer Überprüfung standzuhalten. Dazu gehört ein interaktiver Prozess kritischer Untersuchung mit offener Unparteilichkeit (einschließlich der Offenheit für Informationen, die unter anderem von anderen Gesellschaften kommen, und der Offenheit für Argumente von fern und nah), der Streitgespräche über Gehalt und Tragweite mutmaßlicher Menschenrechte zulässt.“ Sen, Idee, 412.
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litätskonzeption ableitet.29 Das ist keine Letztbegründung der Menschenrechte, sondern vor allem eine attraktive Strategie zur Verschiebung der argumentativen Beweislast in Richtung des Skeptikers in Bezug auf die Soll-Geltung moralischer Menschenrechte. Dass man die Vertreter bestimmter extremer Positionen auf diese Weise möglicherweise nicht überzeugen kann, hält Sen nicht für problematisch.30 Da Sen davon ausgeht, dass den Menschenrechten aber auch Pflichten der gesamten Menschheit zu deren Garantie korrespondieren, stellt sich darüber hinaus die Frage danach, wie diese begründet werden. Es scheint, dass nach seiner Auffassung die Wichtigkeit der Freiheiten für bestimmte Personen genügt, um anderen Gründe dafür zu geben, deren Realisierung zu unterstützen: „Wenn Freiheiten als wichtig gelten […], dann haben Menschen Grund zu fragen, welche Hilfe beim Schützen oder Fördern ihrer Freiheiten sie einander leisten sollten.“31 Eine Antwort auf die Frage danach, warum aus einem Grund zum Handeln eine Pflicht zum Handeln resultiert – und das wäre, wenn von Menschenrechten die Rede ist, nötig –, sucht man in Sens Überlegungen allerdings vergeblich. Sen argumentiert, dass mit der Anerkennung der Menschenrechte auch anerkannt sei, „dass jeder, der in der Lage ist, wirksam zur Prävention einer solchen Menschenrechtsverletzung beizutragen, einen guten Grund hat, dies auch zu tun – einen Grund, der bei der Entscheidung, was zu tun ist, ins Gewicht fallen muss.“32 Sen scheint es für intuitiv plausibel zu halten, dass hier aus dem Können ein Sollen folgt, doch genau dies wäre natürlich zu begründen. Weil dies nicht geschieht, bleibt diese Auffassung problematisch, denn entweder formuliert sie eine ziemlich anspruchsvolle moralische Forderung, ohne sie weiter zu begründen – das wäre die Ableitung einer Verpflichtung zur Erfüllung der Menschenrechte aus der bloßen Fähigkeit dazu – oder sie relativiert die Bedeutung des Rechtsbegriffs bzw. des Anspruchscharakters von Rechten, indem sie nicht deren Garantie, sondern lediglich deren nicht näher bestimmte Berücksichtigung (im Gegensatz zu deren Erfüllung) fordert. Wenn sich aus Sens Argumentation jedoch nur ergibt, dass Personen gute Gründe haben, menschenrechtlichen Ansprüchen Gewicht zu geben, bleibt die Frage offen, warum menschenrechtlichen Ansprüchen in Konfliktfällen Priorität gegenüber anderen Ansprüchen bzw. Gründen zukommen sollte.
29 Vgl.
Sen, Idee, Kap. 1–6. Sen, Idee, 413. 31 Sen, Idee, 399. An anderer Stelle heißt es: „Da eine Verletzung – oder Nicht-Verwirklichung – der Freiheiten, auf denen signifikante Rechte beruhen, ein Übel ist (oder eine schlechte soziale Verwirklichung), haben andere Menschen, die diese Verletzung nicht selbst bewirken, aber den Betroffenen helfen können, gute Gründe, zu erwägen, was sie in diesem Fall tun sollten.“ Sen, Idee, 399. 32 Sen, Idee, 400. 30 Vgl.
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Über Fragen bezüglich der Soll-Geltung der Menschenrechte und der korrespondierenden Pflichten zu deren Erfüllung hinaus hat Sens Variante des Fähigkeitenansatzes auch etwas zur Begründung des Inhalts der Menschenrechte zu sagen. Während ein libertarianisches Verständnis von Rechten allein die Abwehrfunktion liberaler Rechte betont, kann der Fähigkeitenansatz, wie ihn Sen formuliert, auf der Grundlage eines anspruchsvollen Freiheitsverständnisses für die „Plausibilität wirtschaftlicher und sozialer Rechte“33 argumentieren. Wenn in den Menschenrechten nämlich Freiheit nicht allein im Sinne der Abwesenheit von Eingriffen in persönliche Freiheiten verstanden werden soll, sondern in dem Sinne, dass Personen die substantielle Freiheit haben, zu tun, was sie aus guten Gründen wertschätzen, sind zahlreiche Voraussetzungen zu erfüllen, damit sie über Freiheit in diesem Sinne verfügen. Zu den entsprechenden Rechten, die für die Garantie der Freiheitsrechte nötig sind, gehören dann neben politischen Grundrechten auch Rechte wie „das Recht auf Arbeit, auf Bildung, Schutz vor Arbeitslosigkeit und Armut, das Recht, Gewerkschaften beizutreten, und sogar das Recht auf einen fairen, günstigen Arbeitslohn.“34
5. Fähigkeiten und Menschenrechte bei Nussbaum Wie Sen betont auch Nussbaum deutlich, dass sie den Fähigkeitenansatz als Menschenrechtsansatz versteht – er ist, wie Nussbaum formuliert, […] eng mit der Förderung der Menschenrechte verbunden. Tatsächlich ist er meines Erachtens eine Art von menschenrechtsbasiertem Ansatz. Die Fähigkeiten, die ich in meine Liste aufgenommen habe, umfassen ebenso wie die von Amartya Sen zur Illustration seines Ansatzes genannten Fähigkeiten viele jener Ansprüche, die auch von der Menschenrechtsbewegung betont werden: politische Freiheiten, die Vereinigungsfreiheit, die Freiheit der Berufswahl und eine Reihe ökonomischer und sozialer Rechte. Ebenso wie mit den Menschenrechten geht auch mit diesen Fähigkeiten […] eine Reihe von Entwicklungszielen einher, die auf vielschichtigen Vorstellungen des Menschen und der Moral beruhen. Tatsächlich decken die Fähigkeiten sowohl den Bereich der sogenannten Rechte der ersten Generation (politische und bürgerliche Freiheiten) als auch jenen der Rechte der zweiten Generation (ökonomische und soziale Rechte) ab.35
Vor diesem Hintergrund geht Nussbaum davon aus, dass die Menschenrechte erstens als vorpolitische Rechte zu verstehen sind36 und zweitens als Ansprüche 33 Sen,
Idee, 406. Idee, 407. 35 Nussbaum, Grenzen, 390 f. 36 Demnach vertrete „der Fähigkeitenansatz, wie Sen und ich [Nussbaum, S.L.] ihn entwickelt haben, die klare Position, daß die relevanten Ansprüche vorpolitisch und nicht bloß das künstliche Ergebnis von Gesetzen und Institutionen sind. Ein Staat, der diese Ansprüche nicht anerkennt, ist also ungerecht.“ Nussbaum, Grenzen, 392. 34 Sen,
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aller Menschen, die der gesamten Menschheit auch Verpflichtungen zu deren Förderung bzw. Erfüllung auferlegen.37 Um Träger dieser moralischen Rechte zu sein, genügt es, in die Gemeinschaft der Menschen geboren zu sein.38 Wie begründet Nussbaum diese Konzeption? Warum gelten die aus den menschlichen Fähigkeiten resultierenden Ansprüche, die auch als Menschenrechte verstanden werden können, für alle Menschen und warum steht die Menschheit in der Verpflichtung zu ihrer Garantie? Welche Rolle spielt der Nussbaums frühe Arbeiten prägende Rückgriff auf das aristotelische Denken für die Entwicklung dieses Menschenrechtsverständnisses und inwiefern ist die Begründung der damit verbundenen normativen Forderungen von Rekursen auf eine bestimmte Konzeption der Natur des Menschen abhängig? Welche Rolle spielt die Idee der menschlichen Würde, auf die Nussbaum den mit den Fähigkeiten verbundenen Anspruchscharakter in ihren jüngeren Arbeiten gründet? Und schließlich: Welche Konsequenzen ergeben sich aus dem Rückgriff auf den Fähigkeitenansatz für die Begründung bestimmter menschenrechtlicher Inhalte? Nussbaum wird oft als Vertreterin des Neoaristotelismus oder des Naturrechts gesehen.39 Diese Zuordnung resultiert vor allem aus der engen Bindung ihrer Theorie an die praktische Philosophie des Aristoteles und an Rekurse auf die Natur des Menschen, die in ihren frühen Arbeiten im Zentrum stehen, die aber auch in den jüngeren Arbeiten eine wichtige Rolle spielen. Den Bezug zur Natur des Menschen und damit den Fokus auf menschliche Fähigkeiten stellt Nussbaum her, um zu bestimmen, was das für den Menschen Gute ist, was wiederum nötig sei, um im Rahmen einer Gerechtigkeitstheorie zu bestimmen, was Gegenstand einer gerechten Verteilung ist. Aristotelisch ist an Nussbaums früher Argumentation zweierlei. Zum einen übernimmt sie, wenn auch nur in einem schwachen Sinne, teleologische Elemente der aristotelischen Theorie, indem sie ausgehend von den menschlichen Fähigkeiten und der Idee des Gedeihens (flourishing) dafür argumentiert, dass Menschen über die grundlegenden menschlichen Fähigkeiten auch verfügen sollten. Zum anderen übernimmt Nussbaum in ihren früheren Arbeiten von Aristoteles die Idee, dass die politische Gemeinschaft für die Erfüllung dieser basalen Ansprüche zu sorgen hat. Aber warum
37 „Ebenso wie die Menschenrechtskonzeptionen ist der Fähigkeitenansatz eine partielle Theorie der sozialen Gerechtigkeit. In meiner Version umfaßt er nicht nur eine Liste der zehn wesentlichen Fähigkeiten, sondern auch einen (sehr allgemein gehaltenen) minimalen Schwellenwert, der von der Weltgemeinschaft erreicht werden muß. Wie die Menschenrechtskonzeptionen betont dieser Ansatz, daß jeder einzelne Mensch auf der Welt Ansprüche auf diese zentralen Güter hat, und schreibt die Pflicht, diese Ansprüche zu verwirklichen, der Menschheit als ganzer zu.“ Nussbaum, Grenzen, 398 f. 38 Nussbaum, Grenzen, 391 f. 39 Für eine Zuordnung Nussbaums zum Neoaristotelismus vgl. z.B. Matthias Hoesch/ Margit Wasmaier-Sailer, „Die Begründung der Menschenrechte: eine Skizze der gegenwärtigen Debatte“, in diesem Band, 1–26.
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folgt aus der Vorstellung von der Existenz typisch menschlicher Fähigkeiten, dass diese realisiert werden sollten bzw. dass aus ihnen Ansprüche resultieren?40 Um eine Antwort auf die genannten Fragen zu finden, gilt es zunächst kurz zu klären, wie die Begründung der Ansprüche von Personen in Nussbaums Konzeption unter Rückgriff auf eine bestimmte Konzeption des Guten funktioniert. Zuerst entwickelt Nussbaum ihre Konzeption – zunächst noch nicht im Vokabular der Menschenrechte und auf den einzelnen Staat bezogen – in Auseinandersetzung mit Aristoteles, dessen Position sie weiterzuentwickeln beansprucht.41 Gemäß Aristoteles, dessen Auffassung sich Nussbaum zu eigen macht, besteht die Aufgabe des Staates darin, „jedem Bürger die materiellen, institutionellen und pädagogischen Bedingungen zur Verfügung zu stellen, die ihm einen Zugang zum guten menschlichen Leben eröffnen und ihn in die Lage versetzen, sich für ein gutes Leben und Handeln zu entscheiden.“42 Akzeptiert man die zunächst nicht weiter begründete aristotelische Prämisse, dass die Aufgabe des Staates hierin besteht, gilt es dann zur Bestimmung des Inhalts der Gerechtigkeit zu klären, was denn unter einem guten menschlichen Leben zu verstehen ist. Dazu schlägt Nussbaum vor, eine „starke vage Konzeption des Guten“43 zu entwickeln. Ausgehend von der Idee, dass es „konstitutive[] Bedingungen des Menschen“ bzw. eine „Grundstruktur der menschlichen Lebensform“44 gibt, die u.a. durch Sterblichkeit, den menschlichen Körper, die Fähigkeit zum Erleben von Freude und Schmerz, bestimmte kognitive Fähigkeiten, praktische Vernunft und Verbundenheit mit anderen Menschen45 gekennzeichnet sind, entwickelt Nussbaum ihre Liste der „Grundfähigkeiten des Menschen“46, die auf der Grundlage der konstitutiven Bedingungen des Menschen (auf diese Bedingungen bezogene) grundlegende menschliche Ansprüche formuliert.47 40 Kritisch dazu etwa Markus Düwell, „Fähigkeiten – Rechte – Menschenwürde. Ethische Begründung und anthropologische Dimensionen der Menschenwürde bei Martha Nussbaum und Alan Gewirth“, in: Jan C. Joerden/Eric Hilgendorf/Felix Thiele (Hgg.), Menschenwürde und Medizin. Ein interdisziplinäres Handbuch, Berlin 2013, 99–118 (= Fähigkeiten). 41 Nussbaum beansprucht, eine Leerstelle in der aristotelischen Tradition, die keine Begründung von Rechten liefere, zu füllen: „Both Sen and I stated from the start that the capabilities approach needs to be combined with a focus on rights. Sen wrote about rights as central goals of public policy throughout the period during which he developed the approach. I stressed from the start that Aristotle’s theory was grossly defective because it lacked a theory of the basic human rights, especially rights to be free from government interference in certain areas of choice.“ Martha C. Nussbaum, „Capabilities and Human Rights“, Fordham Law Review 66,2 (1997), 273–300 (= Capabilities), 276. 42 Nussbaum, Sozialdemokratismus, 24. 43 Nussbaum, Sozialdemokratismus, 45 ff. 44 Nussbaum, Sozialdemokratismus, 49. 45 Für diese hier nur unvollständig wiedergegebene Liste siehe Nussbaum, Sozialdemokratismus, 49–57. 46 Nussbaum, Sozialdemokratismus, 57. 47 Vgl. oben, Abschn. 3.
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Wie begründet Nussbaum diese Grundfähigkeiten des Menschen? Die Begründung der Grundfähigkeiten basiert ja gewissermaßen auf einem Rückgriff auf die Natur des Menschen. Doch diese Konzeption des Menschen ist, wie Nussbaum sie verstanden wissen will, keineswegs auf eine „metaphysische Biologie“ gestützt, sondern im Wesentlichen das Ergebnis komplexer interpretatorischer Tätigkeit48: Die starke vage Theorie ist nicht in dem Sinne metaphysisch, wie die Liberalen argwöhnen. Es handelt sich um eine Theorie, die nicht unabhängig vom Selbstverständnis und von den Werturteilen der Menschen in der Gesellschaft formuliert wurde; es ist auch eine Theorie, die sich nicht einer einzigen metaphysischen oder religiösen Tradition verdankt. Statt dessen betrachtet sie die Dinge stark wertend und von einem innerhistorischen Standpunkt aus; darüber hinaus möchte sie so umfassend wie möglich sein und die Grundlage dafür schaffen, daß die Menschen sich über religiöse und metaphysische Unterschiede hinweg als Mitglieder sehr verschiedener Traditionen erkennen und anerkennen können. Wie wir sehen werden, ist der Ausgangspunkt der Theorie eine Konzeption des Menschen. Aber diese Konzeption fußt keineswegs auf einer ‚metaphysischen Biologie‘ (wie einige Kritiker des Aristoteles behauptet haben), sondern auf gemeinsamen Mythen und Geschichten unterschiedlicher Zeiten und Orte, Geschichten, die sowohl den Freunden als auch den Fremden erklären, was es bedeutet ein Mensch und nicht etwas anderes zu sein. Diese Konzeption ist das Ergebnis eines Prozesses der Selbstinterpretation und Selbstvergewisserung, der sich mehr auf die von solchen Geschichten hervorgebrachte Phantasie stützt als auf wissenschaftliche Vernunft. […] Die Grundidee der starken vagen Theorie ist, daß wir uns Geschichten von der allgemeinen Form und Struktur des menschlichen Lebens erzählen. […] Die Idee ist, daß wir eine vage Vorstellung davon teilen, was es bedeutet, als Mensch in der Welt zu leben […].49
48 In diese Richtung geht auch Pauer-Studers Deutung der Nussbaum’schen Begründungsabsicht: Demnach geht es Nussbaum „nicht darum, Normen aus Aussagen über Fakten herzuleiten und die Ethik auf diese Weise im Empirischen zu verankern. Ihr Ziel ist die Ausarbeitung einer Theorie, die dem Umstand Rechnung trägt, daß spezifische Bedingungen unseres Menschseins – daß wir etwa verletzbare Wesen mit einer begrenzten Lebenszeit sind, deren Überleben von einer Reihe externer Faktoren abhängt – für die Ethik und moralische Ansprüche und Verpflichtungen relevant sind.“ (Herlinde Pauer-Studer, „Einleitung“, in: Martha C. Nussbaum, Gerechtigkeit oder Das Gute Leben, Frankfurt am Main 1999, 7–23, hier: 10) Auch diese Formulierung Nussbaums ist diesbezüglich aufschlussreich: „Im Fall von Menschen rät der Fähigkeitenansatz davon ab, Normen direkt aus Tatsachen der menschlichen Natur abzuleiten. Natürlich sollten wir so viel wie möglich über die angeborenen Fähigkeiten von Menschen in Erfahrung bringen, denn das wird uns bei der Identifikation der Chancen und Risiken helfen, mit denen wir konfrontiert sind. Gleich zu Beginn müssen wir jedoch die angeborenen Vermögen der Menschen bewerten und uns fragen, welche davon gut und welche für die Idee eines achtbaren und gelingenden, also menschenwürdigen Lebens wesentlich sind. Unser Ansatz geht demnach von Anfang an nicht nur mit einer Bewertung, sondern mit einer ethischen Bewertung einher. […] Zur Konzeption des Gedeihens gehört eine immer schon evaluative und ethische Dimension, der zufolge bestimmten Tendenzen entgegenzutreten nicht nur mit einem gedeihlichen Leben vereinbar, sondern vielleicht sogar für es erforderlich ist.“ (Nussbaum, Grenzen, 496 f.) 49 Nussbaum, Sozialdemokratismus, 46 f.
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Nussbaum muss in dieser Weise argumentieren, um dem Vorwurf des Sein-Sollen-Fehlschlusses zu entgehen.50 Dass aus der Natur des Menschen normativ etwas folgt und dass die bestimmten Tätigkeiten entsprechenden Fähigkeiten des Menschen als Grundlage von Ansprüchen akzeptiert werden und andere nicht, ergibt sich daraus, dass der Analyse eine wertende Dimension hinzugefügt wird. Damit hängt die Akzeptanz der Begründung von der Akzeptanz der in Anspruch genommenen Wertungen ab und es ist zu differenzieren, inwiefern der Rückgriff auf die „Natur des Menschen“ einen Beitrag zur Begründung liefert. Solche anthropologischen Elemente können wohl etwas zur Begründung von Inhalten der Menschenrechte beitragen, deren Soll-Geltung im oben genannten „anspruchsvollen“ Sinne erklären sie aber nicht.51 Auf die inhaltliche Begründung solcher grundlegenden Ansprüche kommen wir weiter unten mit Blick auf die Menschenrechte zurück. Zuvor sei allerdings noch kurz die Frage in den Blick genommen, was in Nussbaums Konzeption dann für die Begründung der Soll-Geltung der Menschenrechte bleibt, wenn es, wie hier argumentiert, nicht der Rückgriff auf eine bestimmte Natur des Menschen ist. Meine These ist, dass sich Nussbaums Begründung der Soll-Geltung im Zuge der Entwicklung ihrer Konzeption wandelt. Während man die Begründung der Soll-Geltung in den früheren aristotelischen Texten als assoziative, relationale oder politische Begründung bezeichnen kann (Gerechtigkeitsverpflichtungen resultieren aus der Qualität bestimmter Beziehungen, in denen Personen zueinander stehen), weshalb hier eine besondere Verpflichtung des Staates zur Erfüllung der basalen Ansprüche besteht, wechselt die Begründung durch die Inanspruchnahme der Idee der Menschenwürde in Nussbaums späteren Arbeiten auf ein humanitäres Fundament.52 In Die Grenzen der Gerechtigkeit, dem zentralen Text dieser späten Phase, nimmt Nussbaum ein Personenverständnis in Anspruch, das davon ausgeht, dass sich die mit der menschlichen Würde verbundenen Ansprüche nicht aus bestimmten besonderen Fähigkeiten wie etwa der Vernunft (von denen die Zuschreibung von Personalität abhängen könnte) ergeben, sondern aus der „Existenz einer Person als menschliches Wesen“ selbst. Entsprechend
50
Vgl. Düwell, Fähigkeiten. In einem ähnlichen Sinne versucht auch Ladwig Rückgriffe auf die Anthropologie für die Diskussion über die Menschenrechte fruchtbar zu machen. Vgl. Ladwig, Anthropologische Argumente. 52 Zur Unterscheidung zwischen assoziativen und humanitären Ansätzen vgl. etwa Simon Caney, „Humanity, Associations, and Global Justice: In Defence of Humanity-Centred Cosmopolitan Egalitarianism“, The Monist 94,4 (2011), 506–534 (= Humanity): „According to associational approaches, the scope of all principles of distributive justice is determined by who belongs to a particular given association.“ (Caney, Humanity, 506) Humanitäre Ansätze gehen dagegen davon aus, dass „the scope of some principles of distributive justice is not determined by membership of any association.“ (Caney, Humanity, 507) 51
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[…] vertritt der Fähigkeitenansatz die Auffassung, daß Ansprüche in der Existenz einer Person als menschliches Wesen begründet sind – also nicht allein im tatsächlichen Verfügen über eine rudimentäre Menge ‚elementarer Fähigkeiten‘, so zentral diese für eine präzisere Bestimmung sozialer Verpflichtungen auch sein mögen, sondern in der Tatsache, daß eine Person in die Gemeinschaft der Menschen hineingeboren wird.53
Zwar erlaubt die Qualifikation einer Person als Träger von Ansprüchen durch die Spezieszugehörigkeit dem Fähigkeitenansatz auch die Ansprüche etwa von Menschen mit Behinderungen in einer Weise zu berücksichtigen, wie es andere Menschenrechtskonzeptionen nicht können, nämlich direkt und nicht bloß indirekt54, doch eine zentrale Frage, die sich gerade für die Begründung der Menschenrechte stellt, nämlich diejenige danach, was wir normativ ergänzen müssen, wenn wir von der faktischen Spezieszugehörigkeit zur normativen Forderung übergehen wollen, dass alle Mitglieder der Gattung Mensch über Menschenrechte verfügen, wird hier nicht beantwortet. Die Würdekonzeption ist allein auf die Vorstellung der intuitiven Überzeugungskraft der Würdeidee gestützt, was vor dem Hintergrund unterschiedlicher Konzeptionen menschlicher Würde zumindest nicht als starke Begründung gelten kann. Für den Status bzw. die Stärke der Begründung ergeben sich hier zwei Konsequenzen: Wenn man Nussbaum in dem Sinne interpretiert, dass die Menschenrechtsbegründung und vor allem die Begründung der korrespondierenden Gerechtigkeitspflichten zu deren Erfüllung von der politischen Begründung abhängen, dann gibt es für ein menschenrechtliches Verständnis der Fähigkeiten eine Begründungslücke zwischen den Pflichten des einzelnen Staates und den Pflichten der gesamten Menschheit zur Garantie der Menschenrechte, wie Nussbaum sie in ihren späteren Arbeiten annimmt. Außerdem ist bei dieser Lesart ganz unklar, welche Rolle Individuen als nicht-staatliche Akteure für die Erfüllung der Menschenrechte spielen und wie ihre Verpflichtung, wenn sie nicht auf der humanitären Moral beruht, begründet ist. Akzeptiert man dagegen die These einer humanitären Begründung der Menschenrechtspflichten, darf man die Erwartung an die Stärke der Begründung nicht sehr hoch hängen, da Nussbaum ihr in seinen Konsequenzen sehr anspruchsvolles Würdeverständnis nicht weiter begründet, sondern lediglich als intuitiv einleuchtend postuliert. Akzeptiert man aber die Begründung der Soll-Geltung der Menschenrechte – egal auf welcher der beiden Grundlagen – und die Möglichkeit des Rückgriffs auf Nussbaums anthropologische Strategie zur Identifikation menschlicher Grund
53 Nussbaum,
Grenzen, 391 f. Nussbaum spricht in diesem Zusammenhang auch von einer Speziesnorm: „Wie bereits betont, vertrete ich ein evaluatives Verständnis der Speziesnorm. Normen lassen sich nicht einfach an der tatsächlichen Natur ablesen. Wenn wir aber der festen Überzeugung sind, daß eine bestimmte Fähigkeit für ein menschenwürdiges Leben wesentlich ist, dann gibt uns das einen sehr starken moralischen Grund, ihr Gedeihen zu fördern und Hindernisse zu beseitigen.“ Nussbaum, Grenzen, 472. 54 Vgl. dazu Nussbaum, Grenzen, Kap. 2 und 3.
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befähigungen, ergeben sich vor diesem Hintergrund weitreichende Möglichkeiten zur inhaltlichen Konkretisierung der Menschenrechte, insbesondere der sozialen Menschenrechte. Zwei Thesen sind diesbezüglich in Nussbaums Überlegungen zentral und scheinen plausibel. Zum einen kann Nussbaum gegen enge Menschenrechtskonzeptionen der „negativen Freiheit“, die davon ausgehen, dass die Menschenrechte lediglich Einmischungen verbieten55, plausibel machen, dass die Erfüllung basaler Rechte eben auch positive Pflichten impliziert. Zum anderen ergibt sich aus Nussbaums Analyse eine gute Begründung des Zusammenhangs zwischen den Menschenrechten der ersten und der zweiten Generation. Die Frage danach, ob „[…] politische und bürgerliche Rechte zeitlich vor und unabhängig von der Sicherung sozialer und ökonomischer Rechte gesichert werden […]“ können, ist aus Sicht des Fähigkeitenansatzes klar mit „Nein“ zu beantworten. Nussbaum macht am Beispiel der Meinungsfreiheit deutlich, warum hier keine strikte Trennung zwischen den beiden Bereichen möglich ist, wenn sie darauf verweist,
daß eine adäquate Theorie der Meinungsfreiheit auch die ökonomische Verteilung berücksichtigen muss (etwa die Verteilung von Bildungschancen); selbst wenn man nicht an die wechselseitige begriffliche Abhängigkeit der beiden Sphären glaubt, könnte man die Auffassung vertreten, daß Meinungsfreiheit und politische Freiheit auch in entwickelten Gesellschaften materielle Voraussetzungen haben.56
Das ist natürlich keine für den Fähigkeitenansatz spezifische Einsicht, doch nach Nussbaums Auffassung trägt der Fähigkeitenansatz hier auch etwas Eigenes zum Verständnis des Zusammenhangs von Freiheitsrechten und sozialen Rechten bzw. materialen Voraussetzungen bei, nämlich das Verständnis von Freiheiten als Fähigkeiten (im Gegensatz zu Freiheit als Abwesenheit von Einmischung): „Der Fähigkeitenansatz betont durchgehend die materiellen Aspekte aller menschlichen Güter, indem er unsere Aufmerksamkeit auf das lenkt, was die Menschen tatsächlich zu tun und zu sein in der Lage sind. Alle Grundfreiheiten werden als Fähigkeiten definiert, etwas zu tun.“57 Um Personen dazu zu befähigen, „etwas zu tun“, das sie wertschätzen, kommt es darauf an, sowohl die internen als auch die externen Komponenten der Fähigkeiten zu berücksichtigen: [A] citizen who is systematically deprived of information about religion does not really have religious liberty, even if the state imposes no barrier to religious choice. On the other hand, internal conditions are not enough: women who can think about work outside the home, but who are going to be systematically denied employment on account of sex, or 55 Mag sein, dass solche Positionen in der philosophischen Diskussion über die Menschenrechte eher die seltene Ausnahme bilden (Libertarianismus). Für das Menschenrechtsverständnis im Rahmen der internationalen Politik spielen sie immer noch eine gewichtige Rolle. 56 Nussbaum, Grenzen, 396. 57 Nussbaum, Grenzen, 397 (Hervorhebungen S.L.).
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beaten if they try to go outside, do not have the right to seek employment. In short, to secure a right to a citizen in these areas is to put them in a position of capability to go ahead with choosing that function if they should so desire.58
Ob ein Recht tatsächlich „erfüllt“ ist, hängt nämlich (wenn man dieser Auffassung folgt) davon ab, ob Personen über die entsprechenden Fähigkeiten verfügen (ob sie diese auch realisieren, ist dagegen – auch mit Blick auf die Überprüfung des Vorliegens von Rechten – nicht entscheidend). Damit wird schließlich auch deutlich, was der Fähigkeitenansatz mit Blick auf die Auseinandersetzung mit den Menschenrechten (und deren Begründung) leistet, denn er stellt uns einen Maßstab zur Verfügung, um zu bestimmen, was wirklich notwendig ist, um das Recht einer Person zu garantieren. Er stellt klar, daß dies positive materielle und institutionelle Unterstützung erfordert und der Verzicht auf Eingriff seitens der Regierung nicht ausreicht.59
6. Fazit Die Frage nach der Begründung der Menschenrechte im Fähigkeitenansatz erfordert nicht zuletzt aufgrund der teilweise inflationären Berufung auf denselben als Menschenrechtsansatz eine differenzierte Antwort. Zur Begründung der Soll-Geltung der Menschenrechte greifen sowohl Sen als auch Nussbaum auf Theorieressourcen zurück, die außerhalb des Fähigkeitenansatzes liegen und nicht eigens begründet, sondern vor allem unter Rekurs auf geteilte Intuitionen gestützt werden. Während Sen seine Konzeption vor allem auf das Fundament eines gehaltvollen Freiheitsverständnisses stellt und jegliche weitere inhaltliche Konkretisierung der Menschenrechte dem öffentlichen Vernunftgebrauch überlässt, kann Nussbaums Verständnis der Menschenrechte vor dem Hintergrund des Fähigkeitenansatzes zumindest in einem vorsichtigen Sinne als Weiterführung der naturrechtlichen Tradition verstanden werden. Zwar findet sich
58 Nussbaum, Capabilities, 293. Zu internen und externen Fähigkeiten: „Das aristotelische Programm zielt auf die Herausbildung von zwei Arten von Fähigkeiten ab: interne und externe. Die internen Fähigkeiten sind Eigenschaften (des Körpers, des Geistes und des Charakters), die es einem Menschen ermöglichen, sich für die Ausübung verschiedener von ihm geschätzter Tätigkeiten zu entscheiden. Externe Fähigkeiten sind interne Fähigkeiten plus der externen materiellen und sozialen Bedingungen, die dafür sorgen, daß dem Individuum die Entscheidung für diese geschätzte Tätigkeit überhaupt offen steht. Die internen Fähigkeiten werden vor allem durch das Erziehungswesen, das Gesundheitswesen und angemessene Arbeitsverhältnisse gefördert. Aber der Gesetzgeber muß in allererster Linie sicherstellen, daß ein fähiger Mensch die Chance hat, entsprechend dieser Fähigkeit zu leben und zu handeln. Und dies macht es notwendig, den Arbeitsverhältnissen und den persönlichen und sozialen Lebensumständen der Menschen eine weitergehende und etwas anders geartete Aufmerksamkeit zu schenken.“ Nussbaum, Sozialdemokratismus, 63. 59 Nussbaum, Grenzen, 394.
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der Grund für die Soll-Geltung der Menschenrechte auch in Nussbaums Variante des Fähigkeitenansatzes nicht im Rekurs auf die Natur des Menschen – eine Bestimmung ihres Inhaltes kommt aber um einen Rückgriff auf eine auf die menschliche Natur rekurrierende Bestimmung des für den Menschen Guten nicht umhin, auch wenn umstritten bleibt, ob ein globaler übergreifender Konsens über die Liste menschlicher Grundfähigkeiten, die sich aus einer solchen Analyse ergeben, möglich ist.60 Die eigentliche Stärke des Fähigkeitenansatzes für die Diskussion über die Menschenrechte wird aber sowohl bei Sen als auch bei Nussbaum dann deutlich, wenn man ihre Argumentation für den engen Zusammenhang von Freiheitsrechten und sozialen Rechten betrachtet, gemäß der Freiheitsrechte und soziale Menschenrechte nicht zu trennen sind. Selbst diejenigen, die skeptisch sind, ob sich ein Konsens über Nussbaums umfassende Liste menschlicher Grundfähigkeiten erzielen lässt und ob der Rekurs auf eine evaluative Konzeption der menschlichen Natur dabei zulässig ist, werden sich Sens Argumentation dafür, dass die effektive Freiheit von Personen nicht allein durch die Gewährung negativer Freiheiten erreicht werden kann, sondern weitreichende gesellschaftliche Güterverteilungen erfordert, kaum entziehen können.
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60 Nussbaum selbst geht von dieser Möglichkeit aus (vgl. Nussbaum, Grenzen, 408 ff.). Kritiker wie bspw. Düwell (vgl. Düwell, Fähigkeiten) sind diesbezüglich dagegen sehr skeptisch.
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„Nicht zu viel – nicht zu wenig!“ Begründungsaufgaben im Rahmen der internationalen Menschenrechtskonzeption Georg Lohmann 1. Einleitung1 Klassisch naturrechtliche Begründungen der Menschenrechte verstehen diese als vorstaatliche, naturrechtlich oder vernunftrechtlich begründete Menschenrechte, die mit einem absoluten Anspruch die Positivierung der Rechte dominieren. Nun gibt es sicherlich unterschiedliche Versionen einer naturrechtlichen Auffassung der Menschenrechte2, doch beginnen sie, mit der einen oder anderen Begründung, mit der Vorstellung, dass die Menschenrechte gewissermaßen „entdeckt“ werden, weil sie „immer schon“ in der „Natur des Menschen“ oder durch die Vernunft des Menschen „absolut“, d.h. losgelöst und unabhängig von seinem Tun und Wollen, „gegeben“ sind. Gegen diese, in diesem Sinne durch einen absoluten Anspruch charakterisierten Vorstellungen3 der Menschenrechte versuchen diese Überlegungen zu argumentieren. Für sie sind „die“ Menschenrechte keine ewige (absolute) Idee. Sie sind vielmehr in unterschiedlichen Situationen historisch erkämpfte Antworten auf gravierende Unrechtserfahrungen oder drohende Gefährdungen einzelner Menschen. Sie sind in gemeinsamen Entscheidungen politisch erklärte und gewollte, rechtlich verfasste und moralisch begründbare Rechtskonstruktionen. Sie sind daher durch Überlegungen und Sachverhalte in den differenten Dimensionen der Politik und Historie, des Rechts und der Moral zu behandeln.4 Wir finden sie in 1 Im Folgenden habe ich Überlegungen, die ich an anderer Stelle vorgelegt habe, auf die Problematik einer naturrechtlichen Begründung der Menschenrechte hin ausgerichtet; einzelne Passagen habe ich überarbeitet übernommen von Georg Lohmann, „Was muss man wie bei den ‚Menschenrechten‘ begründen?“, in: Daniela Demko/Gerd Brudermüller/Kurt Seelmann (Hgg.), Menschenrechte. Begründung – Bedeutung – Durchsetzung, Würzburg 2015, 23–43 (= Was muss man wie begründen). 2 Siehe als ein jüngstes Beispiel Michael Boylan, Natural Human Rights: A T heory, Cambridge 2014. 3 Auch sonst bin ich skeptisch gegen absolute Ansprüche in der Ethik, siehe Georg Lohmann, „Ethik der radikalen Endlichkeit“, Information Philosophie 1 (2014), 5–11 (= Ethik der radikalen Endlichkeit). 4 Ich habe seit Georg Lohmann, „Menschenrechte zwischen Moral und Recht“, in: Stefan Gosepath/Georg Lohmann (Hgg.), Philosophie der Menschenrechte, Frankfurt am Main
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der Geschichte in ganz unterschiedlichen Entwürfen und institutionellen Ausprägungen vor, und ich möchte drei Konzeptionen vorschlagen: von den nationalen Konzeptionen am Ende des 18. Jahrhunderts (Virginia/Unabhängigkeitserklärung in Nordamerika; Revolution in Frankreich) können wir die gegenwärtig dominierende internationale Konzeption seit der Gründung der Vereinten Nationen (1945) unterscheiden. Strittig ist, ob Globalisierungen und global governance schließlich transnationale Konzeptionen von Menschenrechten („Konstitutionalisierung der Völkerrechts“) entwickeln oder normativ wünschenswert erscheinen lassen.5 Aus diesen systematisch und historisch unterschiedlichen Konzeptionen lässt sich ein allgemeines Konzept6 der Menschenrechte hermeneutisch gewinnen, das ohne Essentialismus allgemeine Charakteristika der Menschenrechte zusammenfasst und damit auch zur Diskussion stellt. Danach, so ein weithin geteilter, aber auch umstrittener Vorschlag, sind Menschenrechte, formal gesehen, universelle, egalitäre, individuelle, kategorische und fundamentale „subjektive Rechte“. Inhaltlich beziehen sich die einzelnen Menschenrechte auf ganz unterschiedliche Rechtsinhalte, die zumeist auf historisch konkrete Gefährdungen und Unrechtserfahrungen der Menschen zurückgehen, die in den Konzeptionen jeweils in unterschiedlichen, offenen Listen aufgeführt sind und nur schwer unter inhaltlichen Gesichtspunkten geordnet werden können.7 Begründungsaufgaben beziehen sich auf diese Charakteristika eines Konzepts der Menschenrechte. Philosophen neigen dazu, Begründungsaufgaben für die allein wichtigen zu halten. Berufsbedingt haben sie einen Begründungstunnelblick auf alles, und wie wir amüsiert feststellen können, rufen im Dunkel des Begründungstunnels ganz unterschiedliche Tritagonisten des Begründungsgeschäfts: „Hier! Heureka! Ich hab sie gefunden!“, und der Tunnel hallt vom ewigen Wetteifer unterschiedlicher Begründer. Zum Glück bleibt da vieles im Dunkeln, insbesondere die Hy1998, 62–95 auf die moralischen, rechtlichen und politischen, nicht auf einander reduzierbaren Dimensionen der Menschenrechte hingewiesen; ausführlicher Georg Lohmann, „Zur moralischen, juridischen und politischen Dimension der Menschenrechte“, in: Hans Jörg Sandkühler (Hg.), Recht und Moral, Hamburg 2010, 135–150. Vergleichbare Auffassungen jetzt auch bei: Rainer Forst, „Die Rechtfertigung der Menschenrechte und das grundlegende Recht auf Rechtfertigung. Eine reflexive Argumentation“, in: Gerhard Ernst/Stephan Sellmaier (Hgg.), Universelle Menschenrechte und partikulare Moral, Stuttgart 2010, 63– 96 (= Die Rechtfertigung der Menschenrechte), 63 f.; und Samantha Besson, „The Law in Human Rights Theory“, Zeitschrift für Menschenrechte 7/1 (2013), 120–151. 5 Dazu Georg Lohmann, „Menschenrechte und transnationale Demokratisierungen. Überforderungen oder Erweiterungen der Demokratie?“, in: Michael Reder/Mara-Daria Cojocaru (Hgg.), Zukunft der Demokratie, Stuttgart 2014, 64–77. 6 Dabei beziehe ich mich auf die Unterscheidung von Konzept und Konzeptionen, vgl. John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt am Main 1971, 5. 7 Siehe Georg Lohmann, „Individuelle Freiheitsrechte, politische Teilnahmerechte, soziale Teilhaberechte“, in: Arnd Pollmann/Georg Lohmann (Hgg.), Menschenrechte. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart/Weimar 2012, 219–223.
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bris einiger Kolleginnen und Kollegen, die aus ihrem rein philosophischen Begründungsansatz sich eine eigene Konzeption der Menschenrechte basteln und dann die Menschenrechte, die dazu nicht passen, schlicht als irrelevant, weil ja nach ihrer Meinung unbegründet, verwerfen. Licht am Ende des philosophischen Tunnels versprechen aber allein die Konfrontationen mit der historischen Wirklichkeit, und es ist deshalb immer ratsam, Begründungsfragen der Menschenrechte zunächst einmal von den gegebenen Menschenrechtsdokumenten aus zu thematisieren. Erst im Licht der Erkenntnisvielfalt der unterschiedlichen Wissenschaften, und ausgehend von den rechtlichen Konkretisierungen und politischen Praktiken der Menschenrechtsinstitutionen in Gesellschaft und Kultur sollte m.E. die Philosophie auf ihr Spezialgeschäft: Begriffe zu explizieren und Behauptungen zu überprüfen und zu begründen, nicht verzichten. Sie folgt damit einem Anspruch, der im Menschenbild der Menschenrechte selbst angelegt ist. Jemand, der als Träger von Menschenrechten anerkannt ist und der sich bewusst ist, Menschenrechte zu haben, verlangt, dass ihm Begründungen gegeben werden können, wenn er zu etwas verpflichtet werden soll, und erklärt sich bereit, seine eigenen rechtlichen Ansprüche anderen gegenüber zu begründen.8 Menschenrechte sind daher nicht ohne Begründungen zu explizieren, aber sie sind nicht schon deshalb existent, weil sie philosophisch begründet werden können. Ich will die Begründungsaufgaben der normativen Behauptungen, die mit den Menschenrechten, wie sie in der internationalen Konzeption der Menschenrechte seit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR 1948) gegeben sind, behandeln. Ich verstehe im Folgenden „begründen“ in einem weiten Sinne, erstens als Explikation eines Vorbegriffs, dann zweitens und drittens in der Angabe und Überprüfung von Beweggründen (Motiven) und Rechtfertigungsgründen (Gründen im engeren Sinn). Motive erheben einen nur subjektiven Anspruch, können partikulare Beweggründe nur für ein Subjekt oder eine Gemeinschaft sein, Gründe erheben einen objektiven Anspruch und können transsubjektiv für alle in vergleichbaren Situationen Rechtfertigungsgründe sein. Zu begründen in diesem Sinne sind daher zuerst die normativen Behauptungen, die formal mit dem Konzept der Menschenrechte verbunden sind: Dass alle Menschen in der gleichen Weise als Individuen und nur weil sie Menschen sind, Menschenrechte haben, und dass die Menschenrechte in Politik, Recht und Moral „fundamental“ sind. Zweitens müssen die jeweiligen Inhalte der konkreten Menschenrechte begründet werden. Dazu müssen sie zunächst als vereinbar mit den obigen formalen Ansprüchen eines Menschenrechts als solchem aufgezeigt werden, um dann bezüglich ihres konkreten Gehalts als so bedeutsam oder wichtig begründet zu werden, dass sie nicht mit Mitteln des einfachen Rechts geschützt, sondern auf
8 Das ist der Ansatzpunkt von Rainer Forst, Kritik der Rechtfertigungsverhältnisse, Frankfurt am Main 2011, bes. 53 ff.
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die höhere Rechtsstufe von Menschenrechten „gesetzt“ werden und in den Kanon der Menschenrechte verdienen aufgenommen zu werden. Sind schon diese Begründungsaufgaben komplex, so wird die Lage noch ungemütlicher, wenn gefragt wird, wer denn wie zu was durch die jeweiligen Menschenrechte verpflichtet ist. Allgemein gilt im Rahmen der internationalen Menschenrechte: direkte Adressaten der korrespondierenden Pflichten sind nicht, wie man aus einer moralisch verengten Sicht glauben könnte, alle anderen einzelnen Menschen, sondern sind erstens der jeweilige Staat, und wenn dieser seine Pflichten nicht angemessen erfüllt, zweitens subsidiär die Staatengemeinschaft (gemäß den entsprechenden Menschenrechtsverträgen). Beide Pflichtadressaten haben drittens schließlich Pflichten, dafür zu sorgen, dass die Menschen untereinander sich menschenrechtskonform verhalten. Dafür ein oft zitiertes Beispiel: Wenn ich meinen Nachbarn ermorde, ist dies zunächst nicht eine Verletzung seiner Menschenrechte (z.B. auf Leben), sondern schlicht ein einfachrechtlich zu bestrafendes Verbrechen – und übrigens deswegen nicht weniger abscheulich. Wenn aber mein Staat nichts unternimmt, wenn ich meinen Nachbarn aus rassistischen Gründen ermorde, so verletzt mein Staat die Menschenrechte meines Nachbarn, z.B. nicht aus rassistischen Gründen diskriminiert oder gar getötet zu werden. Diese (im deutschen Recht „Drittwirkung“ genannte) „horizontale Wirkung“ der Menschenrechte ist sehr wichtig, z.B. auch, wenn gefragt wird, ob auch internationale Unternehmen durch die Menschenrechte verpflichtet werden können.9 Und zu welcher Art von Pflichten verpflichten die Menschenrechte? Zunächst einmal sind es Rechtspflichten (im kantischen Sinne), d.h. rechtlich erzwingbare Pflichten, die sich auf äußeres Verhalten beschränken. Dann ist lange angenommen worden, dass nur Unterlassungspflichten, sogenannte „negative“ Pflichten mit den Menschenrechten korrespondieren. Seit den 1980er Jahren aber mehrten sich die Stimmen, die zeigten, dass auch Hilfs-, Schutz- und Gewährleistungspflichten, also sogenannte „positive“ Pflichten, mit den Menschenrechten verbunden sind10, so dass heute allgemein anerkannt ist, dass mit den Menschenrechten eine „Pflichten-Trias“ korrespondiert: „to respect, to protect, and to help or fulfill“, d.h. mit den Menschenrechten verbunden sind Achtungs-, Schutzund Hilfs- oder Gewährleistungspflichten.11 Im Einzelnen sind freilich die genauen Bestimmungen dieser Pflichtentrias höchst umstritten, und auch hier konkurrieren unterschiedliche Begründungen „auf das Schärfste“ miteinander. 9 Dazu Klaus Günther, „Menschenrechte zwischen Staaten und Dritten“, in: Nicole Deitelhoff/Jens Steffek (Hgg.), Was bleibt vom Staat? Demokratie, Recht und Verfassung im globalen Zeitalter, Frankfurt am Main 2009, 259–280. 10 Insbesondere seit Henry Shue, Basic Rights. Subsistence, Affluence and US Foreign Policy, Princeton, 2. Aufl. 1986. 11 Siehe Corinna Mieth, „Unterlassungs-, Schutz- und Hilfspflichten“, in: Arnd Pollmann/Georg Lohmann (Hgg.), Menschenrechte. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart/ Weimar 2012, 224–228.
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Ich will mich daher, angesichts der Vielfalt der Begründungsaufgaben, im Rahmen dieses Beitrages auf einige wenige Herausforderungen beschränken. Mit Bezug auf das Thema des Bandes will ich zunächst fragen: Was war die Rolle naturrechtlicher Begründungen in nationalen Konzeptionen der Menschenrechte? (2) Ich will dann die gegenwärtige internationale Konzeption der Menschenrechte mit Ausblick auf eine transnationale skizzieren (3), um dann zu zeigen, warum in der internationalen Konzeption naturrechtliche Begründungen zu viel, rein politische Auffassungen der Menschenrechte aber zu wenig an Begründungen leisten, und deshalb eine Objektivität, aber nicht Absolutheit beanspruchende Begründungsvariante gewählt werden sollte (4). Mit dieser begründungstheoretischen Ernüchterung bleiben freilich noch genug philosophische Kopfschmerzen übrig, wie ein Blick auf die noch ausstehenden Begründungsprobleme zeigen kann. Ich schließe daher mit einem Ausblick auf die Herausforderungen, die die Geschichtlichkeit der Menschenrechte mit sich bringt (5).
2. Zu naturrechtlichen Begründungen in den nationalen Menschenrechtskonzeptionen „Natürlich“ greifen die ersten Entwürfe der Menschenrechte auf Vorläuferideen, auf komplexe und eher uneinheitlich verlaufende Begriffsgeschichten und Entwicklungen in kulturellen, religiösen, politischen, rechtlichen, sozialen und philosophischen Kontexten zurück. Sie sind situiert in historischen Wandlungsprozessen von Werten und normativen Ideen, sozialen und kulturellen Praktiken und gesellschaftlich-politischen Institutionen.12 Vorstellungen und Vorbegriffe von so etwas wie „Menschenrechten“ entstehen historisch in Umbruchssituationen und angesichts von gravierenden Herausforderungen durch neue oder neu bewusst gemachte Gräueltaten und Gefährdungen, die menschliche Herrschaft Menschen angetan oder angedroht haben.13 Aber als eine hinreichend eigenständige Konzeption sind Menschenrechte systematisch und historisch erst in 12 Im Anschluss an Talcott Parsons T heorie der „Wertegeneralisierung“ entwirft Hans Joas eine Genealogie der Menschenrechte als wechselseitiges und konflikthaftes Zusammenspiel von Werten, sozialen Praxen und Institutionen, siehe Hans Joas, Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte, Berlin 2011 (= Die Sakralität der Person), 251 ff. Zu meiner Kritik an Joas’ Konzeption dieser Genealogie siehe Georg Lohmann, „Nicht affektive Ergriffenheit, sondern öffentlicher Diskurs. Sakralisierte Person oder säkulare Menschenwürde als Basis der Menschenrechte?“, in: Hermann-Josef Große Kracht (Hg.), Der moderne Glaube an die Menschenwürde. Philosophie, Soziologie und Theologie im Gespräch mit Hans Joas, Bielefeld 2014, 13–27. 13 Exemplarisch sind Kämpfe gegen Leibeigenschaft, gegen Sklaverei, Folter, religiöse Unterdrückung und politische Knechtschaft etc., siehe z.B. Matthias Kaufmann, „Frühe Neuzeit“, in: Arnd Pollmann/Georg Lohmann (Hgg.), Menschenrechte. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart/Weimar 2012, 13–20.
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den revolutionären, demokratischen einzelstaatlichen Verfassungen im Ausgang des 18. Jahrhunderts festzustellen. In Nordamerika (1776) und in Frankreich (1789) sind die ersten Menschenrechtserklärungen im Zusammenhang mit revolutionären Gründungsakten zugleich Bestandteile der ersten modernen demokratischen Verfassungen.14 In diesen, wie ich sie nennen möchte, „nationalen“ Konzeptionen binden sie als verfassungsrechtliche Bürgerrechte die politischen Gewalten (Legislative, Exekutive und Judikative) der gerade gegründeten Demokratien an die Beachtung der Bürger- und Menschenrechte und machen so deren fundamentalen und auch universellen Anspruch geltend. In Wirklichkeit aber genügen sie den egalitären und universellen Ansprüchen der Menschenrechte nicht und schließen – zwar nicht begrifflich, aber faktisch – Sklaven, Frauen und nicht-weiße Menschen weitgehend von der Trägerschaft der Menschenrechte aus. Warum dann aber der universelle Anspruch der Menschenrechte? Dafür gibt es unterschiedliche historische Motive und allgemeinere Rechtfertigungsgründe. Historisch unterscheiden sich die Situationen in Nordamerika und Frankreich. Das „gute Volk von Virginia“ und die „Vertreter der Vereinigten Staaten von Amerika“ suchen nach Begründungen, sich vom englischen Mutterland loszu lösen, und können dazu auf das auch in England als common law schon weitgehend akzeptierte liberale Naturrecht in der Tradition von John Locke zurückgreifen. Die „Vertreter des französischen Volkes“ in der Nationalversammlung konkurrieren mit dem Absolutheitsanspruch des französischen Königs und benutzen implizit eine durch Rousseau und die Physiokraten geprägte Naturrechtslehre zur Begründung ihrer revolutionären Souveränität. Jürgen Habermas hat in einem frühen Aufsatz15 diese Unterschiede in den Motivationen und Konzeptionen der naturrechtlichen Begründungen dieser bürgerlichen Revolutionen herausgearbeitet. Im amerikanischen Fall dominiert eine liberale Konzeption des Naturrechts, nach der die deklarierten Menschenrechte vorstaatliche, „natürliche Rechte“ sind, die extern die politischen Gewalten des neuen Staats regulieren, im französischen Fall dominiert eine republikanische Variante des Naturrechts, nach der im Konstitutionsprozess selbst, in der Bildung des „allgemeinen Willens“, die universellen Menschenrechte erst gesetzt werden. Durch die naturrechtlichen Begründungen der Menschenrechte werden in beiden Fällen die Positionen der politischen Gegenseiten überboten, die jeweils besonderen, 14 Siehe Hauke Brunkhorst, „Die amerikanische Unabhängigkeitserklärung und die Virginia Declaration of Rights von 1776“, in: Arnd Pollmann/Georg Lohmann (Hgg.), Menschenrechte. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart/Weimar 2012, 91–98 (= Die amerikanische Unabhängigkeitserklärung); ders., „Die Französische Revolution und die Erklärung der Rechte des Menschen und des Bürgers von 1789“, in: Arnd Pollmann/Georg Lohmann (Hgg.), Menschenrechte. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart/Weimar 2012, 99–105. Siehe auch Christoph Menke/Francesca Raimondi (Hgg.), Die Revolution der Menschenrechte, Frankfurt am Main 2011. 15 Jürgen Habermas, „Naturrecht und Revolution“, in: ders., Theorie und Praxis, Frankfurt am Main 1990, 89–127.
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revolutionären Motive werden überhöht und der Rechtfertigungs„raum“ über die je nationale besondere Situation auf alle Menschen ausgedehnt. Die unterschiedlichen naturrechtlichen Begründungen der Menschenrechte sind daher politisch, nicht philosophisch motiviert. Die Menschenrechte gelten auf diese Weise als durch die Natur des Menschen gegebene, angeborene, ewige, vorkonstitutionelle Rechte, die zugleich – (noch) kompatibel mit den traditionell christlichen Naturrechtsvorstellungen – als von Gott gegebene Rechte16 verstanden werden. „Natur“ und „Gott“ fungieren als externe Quellen der Rechte und in diesem Sinne sind die Menschenrechte absolute Rechte, die unabhängig von den menschlichen Entscheidungen die Konstitution und die politische Praxis bestimmen sollen. Wichtig für die spätere Entwicklung ist, dass die Menschenrechte hier weder explizit noch implizit mit Bezug auf einen Begriff von „Würde“ begründet werden. Der universelle Anspruch der deklarierten Rechte wird daher politisch gesetzt und naturrechtlich abgestützt und benötigt zu seiner Bestimmung eine jeweils bestimmte, durch den jeweiligen Verfassungs- und Gesetzgeber vollzogene demokratische Meinungs- und Willensbildung und politische Gewaltenteilung.17 Der naturrechtlich begründete, universelle und fundamentale Anspruch der Menschenrechte, an den die verfassungsgebenden Prozesse der neu gegründeten Demokratien diese gebunden haben, steht daher von Beginn an in einer Spannung zu dem notwendigen Partikularismus der einzelstaatlich gefassten, konkreten demokratischen Selbstbestimmung.18 Politisch vermittelt wird diese Spannung zwischen Universalismus und Partikularismus durch die zweifache Rolle, die der Begriff der Nation in der Konstitution moderner Demokratien spielt.19 Als eine Nation von gleichen Staatsbürgern bindet eine nationale Demokratie sich an den universellen Gehalt der Menschenrechte, als eine Nation von Volksgenossen artikuliert sie ein partikulares gemeinsames Schicksal und eine kulturelle Wertegemeinschaft, im Unterschied (in nationalistischen Versionen auch in Gegnerschaft) zu anderen Nationen. Gleichwohl bleibt der politisch gesetzte, rechtlich gefasste und naturrechtlich begründete universelle Anspruch der Menschenrechte ein provokativer Stachel. Zunächst scheint er historisch-politisch seine normative Kraft zu verlieren, wie man z.B. an der noch lange anhaltenden Beibehaltung der Sklaverei in Nordamerika und an der Niederschlagung des revolutionären Sklavenaufstandes in Haiti durch französische Truppen, bei dem die Sklaven sich auf die gerade deklarierten Menschenrechte der Franzö16
So z.B. Amerikanische Unabhängigkeitserklärung 1776: „göttliches Gesetz“. Das zeigt sehr gut Brunkhorst, Die amerikanische Unabhängigkeitserklärung. 18 Siehe dazu Georg Lohmann, „Demokratie und Menschenrechte, Menschenrechte und Demokratie“, Jahrbuch für Recht und Ethik 19 (2011), 145–162. 19 Jürgen Habermas, „Inklusion – Einbeziehen oder Einschließen? Zum Verhältnis von Nation, Rechtsstaat und Demokratie“, in: ders., Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie, Frankfurt am Main 1996, 154–184, 128 ff. und 154 ff. 17
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sischen Revolution beriefen, sehen kann. Im Fortgang der Geschichte aber ist der moralisch (naturrechtlich) begründete Universalitätsanspruch für die Verwirklichung der Menschenrechte, ihre Universalisierung und Egalisierung, von großer, auch politischer Bedeutung und lässt sich durch politische und rechtliche Entscheidungen nicht normativ außer „Geltung“ setzen.
3. Von der internationalen Konzeption der Menschenrechte zu einer transnationalen? Von diesen nationalen Konzeptionen unterscheidet sich die gegenwärtig dominante internationale Konzeption der Menschenrechte, die nach dem Zweiten Weltkrieg im Rahmen des Völkerrechts durch die Vereinten Nationen (VN) als Bestandteil des internationalen Rechts geschaffen wurde. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR) von 1948 ist einer internationalen Deklaration souveräner Staaten geschuldet. In der Folge verursacht sie eine „stille Revolution des Völkerrechts“20, durch die – zumindest dem prinzipiellen Anspruch nach, wenn auch oftmals nicht faktisch – der verfasste Menschenrechtsschutz eines Staates nun „im Rahmen seiner bestehenden völkerrechtlichen Verpflichtungen zu einer internationalen Angelegenheit (international concern) geworden“21 ist. Der universelle Anspruch der Menschenrechte wird daher zunächst auf der internationalen Ebene des Völkerrechts formuliert und erhoben. Er wird ohne eine konstitutive demokratische Willensbildung formuliert und institutionalisiert22, weil er zunächst nur den Vertragsabschlüssen souveräner Staaten im Rahmen des Völkerrechts entspringt. Historisch ist diese universelle und internationale Ausrichtung des Menschenrechtsschutzes zuerst den Siegermächten und dann den Vertragsstaaten der VN gewissermaßen gegen ihren anfänglichen und auch später beibehaltenen Widerstand gegen die Menschenrechte, mit dem sie ihre nationale Souveränität verteidigen wollten, abgerungen worden.23 Es waren international ausgerichtete NGOs, die aus ganz unterschiedlichen Eigeninteressen heraus eine transnationale und universelle Menschenrechtserklärung für die neue Friedensordnung gefordert haben. Auf Seiten der engagierten Zivilgesellschaft motivieren dabei ganz unterschiedliche Auffassungen von 20 Eckhart Klein, Menschenrechte. Stille Revolution des Völkerrechts und Auswirkungen auf die innerstaatliche Rechtsanwendung, Baden-Baden 1997. 21 Eckhart Klein, „Die völkerrechtliche Entwicklung nach 1948“, in: Arnd Pollmann/ Georg Lohmann (Hgg.), Menschenrechte. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart/Weimar 2012, 123–128. 22 Zwar wird er in einzelstaatlichen Verfassungen in Gestalt von Grundrechten übernommen, aber häufig nur zum Teil und mit Abwandlungen. 23 Siehe hierzu jetzt informativ Jan Eckel, Die Ambivalenz des Guten, Göttingen 2014 (= Die Ambivalenz des Guten), 47 ff., 91 ff.
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Menschenrechten (naturrechtliche, christliche, jüdische, sozialistische, philosophisch-personalistische, antikolonialistische und weitere) die Forderungen nach einem völkerrechtlich verankerten universellen Menschenrechtsschutz, auf Seiten der Gründungsstaaten der VN wird dagegen die nationale Souveränität und das nun neu interpretierte Selbstbestimmungsrecht der Völker gesetzt. Erst nach und nach, und mitbestimmt durch die schließlich erfolgreichen Dekolonisationen, wird den in der AEMR rhetorisch eingeräumten „Manifest-Rechten“24 eine auch völkerrechtlich verbindliche Form (in den Internationalen Menschenrechtspakten von 1966 über bürgerliche und freiheitliche Rechte (IPbfR) und über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (IPwskR)) gegeben, allerdings mit bis heute immer noch skandalös schwachen Durchsetzungsmechanismen und -institutionen. Dafür aber dürfen die Menschenrechte nicht auf bloß reine mo ralische Rechte reduziert werden, sondern sie müssen von vornherein in den nicht aufeinander reduzierbaren Dimensionen der Politik, des Rechts und der Moral konzipiert werden. Neu in dieser internationalen Konzeption ist das Auftauchen des Menschenwürdebegriffs.25 Zunächst wird dieser nur miterwähnt („Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren“, Art.1, AEMR), dann aber, wie im Deutschen Grundgesetz, als begründende und motivierende Basis für das Haben von Menschenrechten weiter bestimmt. So formulieren 1966 die Vertragsstaaten jeweils in den Präambeln der Internationalen Pakte über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte die „Erkenntnis, dass sich diese Rechte aus der dem Menschen innewohnenden Würde herleiten“. Die historisch neue Bezugnahme auf den Würdebegriff im Kontext von Menschenrechten hat offenbar ganz unterschiedliche Motive, die sich aus unterschiedlichen philosophischen Positionen speisten.26 Historisch nicht richtig scheint die rückblickende Interpretation 24 O’Neill reserviert diesen Ausdruck zunächst nur für sogenannte „positive Rechte“, denen keine klar bestimmten und durchsetzbaren Pflichten entsprechen, siehe Onora O’Neill, Tugend und Gerechtigkeit, Berlin 1996, 174 ff., doch wird der Ausdruck zunehmend für alle bloß deklaratorischen, nicht einklagbaren und durchsetzbaren Rechte verwendet. 25 Siehe eine Übersicht bei: Charles R. Beitz, „Human Dignity in the T heory of Human Rights: Nothing But a Phrase?“, Philosophy & Public Affairs 41/3 (2013), 259–290. 26 Die historische Forschung dazu steht am Anfang; ich kann hier nur auf einige hinweisen: Horst Dreier, „Die Grundrechte. Artikel 1“, in: ders. (Hg.), Grundgesetz. Kommentar, Tübingen, 2. Aufl. 2004, 143–161; Eckel, Die Ambivalenz des Guten, weist auf christliche Motive in Amerika (54), auf Verlautbarungen des Kreisauer Kreises (71), auf Pius XII. und auf eine sachlich ähnliche Verwendung des Personbegriffes in der Vorgeschichte der AEMR hin (77 f.). Dazu auch Hans Joas, Die Sakralität der Person, 265 ff; Joas weist auch auf Ernst Troeltsch, „Naturrecht und Humanität in der Weltpolitik“, in: ders., Schriften zur Politik und Kulturphilosophie (1918–23), Kritische Gesamtausgabe, Bd. 15, hg. von Gangolf Hübinger und Johannes Mikuteit, Berlin 2002, 493–512 hin. Insbesondere ist aber Hermann Broch zu nennen, der in seiner „Völkerbund-Resolution“ von 1937 die Menschenrechte schon als in der Menschenwürde begründet anspricht, siehe Hermann Broch, Menschenrechte und Demokratie, Frankfurt am Main 1978, 31–73; dazu Arnd Pollmann, „Heimkehr aus der Sklaverei. Der Schriftsteller Hermann Broch als vergessener Vordenker des völkerrechtlichen
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zu sein, dass die neue Verwendung des Begriffs „Würde“ in der Gründungsphase der VN schon durch das Entsetzen über den Holocaust motiviert war.27 M.E. sollte diese These aber, wenn sie als Entsetzen über die „Verbrechen gegen die Menschheit“ verstanden wird, weil sie der Sache nach einleuchtend wäre, noch genauer historisch und philosophisch untersucht werden. Wie immer die konkreten Motive auch beschaffen sein mögen, seit den internationalen Menschenrechtspakten von 1966 fungiert „Menschenwürde“ als Begründung dafür, dass Menschen, die nicht eigene Staatsbürger sind, gleichwohl als Träger von Rechten in allen Staaten der Welt anerkannt werden müssen. „Menschenwürde“ gibt damit souveränen Staaten einen normativen und völkerrechtlich verbindlichen Grund, Nicht-Staatsbürger als gleiche Träger von Rechten anzuerkennen. Der rechtlich gleiche Wertstatus, der mit der Anerkennung jedes Menschen in seiner Menschenwürde ihm zugeschrieben wird, „bürgt“ so für das Haben von Rechten.28 Er verlangt zudem ein Rechtssystem, in der alle nicht nur als Träger ihrer Rechte gleich sind, sondern alle auch in der gleichen Weise (Mit-)Autoren ihrer Rechte sind. Die „neu“ interpretierte Menschenwürde enthält daher einen republikanischen (oder demokratischen) Anspruch, wie Menschenrechte bestimmt werden soll(t)en29 und geht damit normativ weit über den damaligen und gegenwärtigen Stand völkerrechtlicher Institutionen hinaus. Wie aber nun der universelle Anspruch der Menschenrechte mit Hilfe eines Begriffs von Menschenwürde zu begründen ist, bleibt einerseits eine moralisch zu lösende Aufgabe, anderseits bleibt aber offen, wie dieser republikanische Anspruch politisch mit dem je besonderen Partikularismus demokratischer Selbstbestimmung und rechtlich mit den völkerrechtlichen Verträgen zu vermitteln ist. Im Völkergewohnheitsrecht und in den allgemeinen Rechtsprinzipien sind zwar weitere Rechtsquellen des Völkerrechts anzuerkennen, die durchaus uni
Zusammenhangs von Menschenrechten und Menschenwürde“, in: Marten Breuer/Astrid Epiney/Andreas Haratsch/Stefanie Schmahl/Norman Weiß (Hgg.), Der Staat im Recht. Festschrift für Eckart Klein zum 70. Geburtstag, Berlin 2013, 1235–1252. 27 Ich muss deshalb meine Auffassung in Georg Lohmann, „Menschenwürde als ‚soziale Imagination‘. Über den geschichtlichen Sinn der Deklaration der Menschenrechte und Menschenwürde nach 1945“, in: Nikolaus Knoepffler/Peter Kunzmann/Martin O’Malley (Hgg.), Facetten der Menschenwürde, Freiburg/München 2011, 54–74 korrigieren. 28 Georg Lohmann, „Menschenwürde und Staatsbürgerschaft“, MenschenRechtsMagazin 2 (2012), 155–168. 29 Georg Lohmann, „Menschenwürde als ‚Basis‘ von Menschenrechten“, in: Jan C. Joerden/Eric Hilgendorf/Felix Thiele (Hgg.), Menschenwürde und Medizin. Ein interdisziplinäres Handbuch, Berlin 2013, 179–194. Das ist in vielen Hinsichten der Interpretation ähnlich, die Rainer Forst dem Würdebegriff im Kontext der Menschenrechte gibt, siehe Forst, Die Rechtfertigung der Menschenrechte, 63–96, insbes. 87 f.; Rainer Forst, „Der Grund der Kritik. Zum Begriff der Menschenwürde in sozialen Rechtfertigungsordnungen“, in: Rahel Jaeggi/Tilo Wesche (Hgg.), Was ist Kritik? Frankfurt am Main 2009, 150–164; zu den Unterschieden siehe unten.
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verselle und grundlegende Impulse zur Geltung bringen können (jus cogens).30 Die daraus erwachsenden Interpretationsprobleme bleiben aber zunächst in der Hand von Experten, die als beauftragte Vertreter einzelner souveräner Staaten die internationalen Menschenrechtsregime gestalten und weiterentwickeln31, und die dabei bestenfalls durch demokratische Entscheidungen in den einzelnen Staaten, oftmals unzureichend, kontrolliert werden. Zugleich entwickelt sich ein unterschiedlich gestaltetes nationales, regionales und internationales Gerichtswesen des Menschenrechtsschutzes.32 Und schließlich sind die Kontrolle und die Weiterentwicklung der Menschenrechte den Aktivitäten von weitgehend auf Meinungsbildungen beschränkten nationalen und transnationalen Öffentlichkeiten überlassen, die als „schwache“ Öffentlichkeiten durch naming, blaming and shaming zwar politischen, rechtlichen und moralischen, appellativen Druck machen und Einfluss gewinnen können, aber nicht schon Bestandteile „starker“ Öffentlichkeiten33 transnationaler Willensbildungen sind. Gleichwohl könnte man mit etwas Optimismus sagen: Die Menschenrechte sind gegenwärtig (im Rahmen der internationalen Konzeption) in vielen Staaten der Welt auf der einen Seite verfasste Grundrechte in einem (mehr oder weniger) demokratischen Gemeinwesen, auf der andern Seite aber Normen des internationalen Völkerrechts34, die auch nicht-demokratische Staaten (in unterschiedlicher Weise) binden. Zugleich entwickeln sich, angestoßen und herausgefordert durch die vielen Prozesse einer ungesteuerten Globalisierung, transnationale, regionale und globale Formen der politischen Regelung, die zumeist durch Vereinbarungen zwischen Regierungsvertretern, Experten und transnationalen Unternehmen und Organisationen zustande kommen. Diese Formen transnationaler governance geschehen ohne demokratische Mitwirkung der Betroffenen und sie sind vielfach auch nur indirekt und selektiv durch einzelstaatliche demokra30
Siehe Jan Sieckmann, „Fundamentalität, Unveräußerlichkeit, Unteilbarkeit“, in: Arnd Pollmann/Georg Lohmann (Hgg.), Menschenrechte. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart/Weimar 2012, 165–170 (= Fundamentalität). 31 Zum Beispiel in den General Comments, siehe Deutsches Institut für Menschenrechte (Hg.), Die „General Comments“ zu den VN-Menschenrechtsverträgen, Baden-Baden 2005. 32 Siehe Anna Goppel, „Internationale Gerichtsbarkeit“, in: Arnd Pollmann/Georg Lohmann (Hgg.), Menschenrechte. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart/Weimar 2012, 401–406. 33 Zu der Unterscheidung von „schwachen“ und „starken“ Öffentlichkeiten siehe Nancy Fraser, „Rethinking the Public Sphere. A Contribution to the Critique of Actually Existing Democracy“, in: Craig Calhoun (Hg.), Habermas and the Public Sphere, Cambridge 1992, 109–142; insbesondere aber: Hauke Brunkhorst, Solidarität. Von der Bürgerfreundschaft zur globalen Rechtsgenossenschaft, Frankfurt am Main 2002, 184–236. Siehe auch Georg Lohmann, „National and International Public Spheres and the Protection of Human Rights“, Yearbook for Eastern and Western Philosophy 1 (2016), 219–229. 34 Georg Lohmann, „Menschenrechte zwischen Verfassung und Völkerrecht“, in: Marten Breuer/Astrid Epiney/Andreas Haratsch/Stefanie Schmahl/Norman Weiß (Hgg.), Der Staat im Recht. Festschrift für Eckart Klein zum 70. Geburtstag, Berlin 2013, 1175–1188.
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tische Legalisierungen gedeckt und kontrollierbar.35 Hier entstehen nun Forderungen und Ansätze für eine dritte, eine transnationale Konzeption der Menschenrechte, in denen die demokratische Konstitution von Menschenrechten sich auch in transnationalen Verhältnissen Geltung verschaffen soll. Paradigmatisch dafür ist das Menschenrechtsregime in der Europäischen Gemeinschaft36 mit seinen vorerst gescheiterten Versuchen einer Europäischen Verfassung. Wie aber kann und soll der universelle Gehalt der Menschenrechte mit dem scheinbar notwendigen Partikularismus demokratischer Selbstbestimmung in diesen transnationalen Verhältnissen vermittelt werden?37 Und wie sollen und können die auch hier auftretenden Begründungsanforderungen eingelöst werden?
4. Zu den Begründungsaufgaben der internationalen Konzeption der Menschenrechte Ich beginne mit einem aktuellen Problem. Im neuen Menschenrechtsrat (MRR) der VN in Genf verteidigen westliche liberale Staaten den unbedingten, egalitären und individuellen Universalismus der Menschenrechte gegen Änderungsversuche und gravierende Umdeutungen einer Reihe von anderen Staaten.38 Das zeigt, dass heute, angesichts der 193 Mitgliedsstaaten der VN, die Begründungsprobleme vielfältig und komplizierter geworden sind. Zunächst einmal spricht der Pluralismus der Kulturen und die Unterschiedlichkeit der staatlichen Strukturen dafür, Begründungen der Menschenrechte möglichst ohne „starke“, d.h. metaphysische oder religiöse Prämissen auskommen zu lassen. Da sie für alle Menschen auf der Welt akzeptabel sein müssen, sollten sie möglichst „sparsam“ sein, d.h. nur das voraussetzen, was unbedingt für eine Begründung notwendig ist. Deshalb empfehlen sich eine Reihe von Vorüberlegungen. Zunächst kann man fragen: Benötigt man überhaupt Begründungen? Reicht es nicht aus, sich auf einen herrschenden politischen Konsens zu verlassen?39 Drei Möglichkeiten sind denkbar: 35 Henrik Enderlein/Sonja Wälti/Michael Zürn (Hgg.), Handbook on Multi-Level Governance, Cheltenham 2010. 36 Anne Peters/Tilmann Altwicker, Europäische Menschenrechtskonvention, München 2012. 37 Siehe dazu die Vorschläge von Jürgen Habermas, der seiner ursprünglichen Frage „Hat die Konstitutionalisierung des Völkerrechts noch eine Chance?“, in: ders., Der gespaltene Westen, Frankfurt am Main 2004, 113–193, nun mit Hilfe der Idee einer „gespaltenen Souveränität“ eine neue und differenzierte Fassung gibt, siehe Jürgen Habermas, Zur Verfassung Europas, Frankfurt am Main 2013, 66 ff. 38 Daniela Karrenstein, Der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen, Tübingen 2011. 39 Siehe auch Christoph Menke/Arnd Pollmann, Philosophie der Menschenrechte. Zur Einführung, Hamburg 2007 (= Philosophie der Menschenrechte), 42 ff.
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1) Es gibt die eine, ethisch umfassende und absolute Begründung für den Menschenrechtsuniversalismus, wie sie in der Tradition des Naturrechts, aber auch des Vernunftrechts, zum Beispiel im Anschluss an Kant, vorgelegt wurde. Wenn die natur- und vernunftrechtlichen Begründungen akzeptabel wären, würden sie m.E. zu viel begründen. Entweder müssten sie überhistorische Quellen der Rechtfertigung unterstellen wie „absolute Werte“ oder eine absolut gesetzte Natur- oder Vernunftkonzeption, was aus begründungstheoretischen Gründen mit Skepsis40 zu sehen ist, oder aber sie begründeten zugleich eine den Menschenrechten spezifische Lebensform als ethisch umfassend, was angesichts des vernünftigen Pluralismus von wertgeprägten Lebensformen eine zu weitgehende Folge wäre.41 In beiden Varianten könnten die implizierten Absolutheitsansprüche keine Abwägungen zulassen und müssten fordern, dass Parlamente oder Vertreter politischer Staaten einfach die absolut begründeten Ansprüche in Gesetze und legale Rechte gießen, wie in einem Kaffeeautomat, bei dem oben die Begründungsmünze eingegeben und unten das fertige Menschenrecht entnommen werden kann. Eigentlich könnten wir dann auf politische Willensbildung und rechtliche Form verzichten und die ganze Sache den Moralphilosophen überlassen. 2) Versteht man die Menschenrechte als ein rein politisches Projekt42, erscheinen Begründungen eher redundant, da mit dem internationalen Recht (und der Globalisierung) auch die Menschenrechte universell werden und Begründungen bestenfalls ergänzende Funktionen haben, eigentlich aber überflüssig sind oder nur pragmatisch gesehen werden.43 Eine solche Position ist freilich in der Gefahr, zu wenig zu begründen, da sie unmittelbar abhängig wäre von sich ändernden Mehrheitsverhältnissen (siehe oben) und den qualitativen Universalismus der Menschenrechte gegen andere partikulare oder selektive Auffassungen nicht mehr begründet beanspruchen könnte. Sie unterschätzt darüber hinaus den den Menschenrechten immanenten Begründungsanspruch44 und verwan40
Mich überzeugen hier die Argumente von Ernst Tugendhat, Vorlesungen über Ethik, Frankfurt am Main 1993, 65 ff. 41 Eine vergleichbare Kritik an ethisch-umfassenden Begründungen, exemplarisch bezogen auf James Griffin, On Human Rights, Oxford 2008, findet sich bei Forst, Die Rechtfertigung der Menschenrechte, 72 ff. 42 Siehe dazu John Rawls, Das Recht der Völker, Berlin 2002; Michael Ignatieff, Die Politik der Menschenrechte, Hamburg 2002; Charles Beitz, The Idea of Human Rights, Oxford 2009; Josef Raz, „Human Rights without Foundations“, in: Samanta Besson/John Tasioulas (Hgg.), The Philosophy of International Law, Oxford 2010, 321–338; differenzierter Regina Kreide, „Menschenrechte als Platzhalter. Eine politische Menschenrechtskonzeption zwischen Moral und Recht“, Zeitschrift für Menschenrechte 2 (2013), 80–100. 43 In diese Richtung auch Stefan Gosepath, „Universalität der Menschenrechte – ein Erklärungsansatz“, in: Günter Nooke/Georg Lohmann/Gerhard Wahlers (Hgg.), Gelten Menschenrechte universal? Begründungen und Infragestellungen, Freiburg/Basel/Wien 2008, 195–203. 44 Rainer Forst hat grundsätzlich Recht, dass die Menschenrechte auf einem moralisch
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delt die Menschenrechte in reine Mittel der internationalen Politik oder in paternalistische, aus politischen Machtinteressen begründete „Gaben“. 3) Deshalb empfiehlt sich eine vermittelnde „dritte Position“: Es wird nicht darauf verzichtet, die normativen Ansprüche der Menschenrechte moralisch zu begründen, es wird aber dabei erstens ein Pluralismus der Begründungsmöglichkeiten eingeräumt und zweitens wird der objektive Anspruch nicht durch eine absolute Konzeption eingelöst. Diese Option passt auch besser zum Pluralismus der Kulturen in der Welt und eröffnet Möglichkeiten, von unterschiedlichen Voraussetzungen aus und gegenüber unterschiedlichen kulturellen Positionen die normativen Ansprüche der Menschenrechte zu begründen.45 Ich wähle die letzte Auffassung, d.h. einmal, ich muss eine solche befriedigende und befriedende Begründung vorlegen, kann es aber zweitens offenlassen, ob es nicht auch noch andere Begründungsvorschläge gibt. Einig aber müssen wir uns darüber sein, was begründet werden muss. Zunächst, in Hinsicht auf das zu verteidigende Konzept der Menschenrechte: die formalen Ansprüche aller Menschenrechte auf Universalität (1), Egalität (2), Individualität (3), Kate gorizität (4) und Fundamentalität (5); dann in Bezug auf den Inhalt einzelner Menschenrechte: ihren je konkreten Gehalt und die Art des Zusammenhangs der inhaltlich differenten Menschenrechte. Zwar sind formale und inhaltliche Aspekte der normativen Ansprüche auch in einem Zusammenhang zu sehen (siehe unten), doch kann man die einzelnen Bestimmungen auch analytisch getrennt behandeln. Ich kann im Rahmen dieses Beitrages nur noch kurz andeuten, wie ich mir die Einlösung dieser Begründungsaufgaben vorstelle, und werde mich dabei auf die Punkte konzentrieren, für die traditionell naturrechtliche Begründungen gebucht sind. Insgesamt möchte ich eine negativistische Begründungsstrategie vorschlagen. D.h. ich versuche jeweils die Gegenpositionen zu den fünf formalen Charakteristika als unbegründet aufzuzeigen. Dabei bediene ich mich des Begründungsprinzips der Unparteilichkeit. Ich habe an anderen Stellen diesen Unparteilichkeitsansatz ausgeführt46 und kann daher hier nur die „Ergebnisse“ andeuten. begründbaren Anspruch auf Rechtfertigung basieren, aber m.E. ist das selbst kein „Recht auf Rechtfertigung“ (kursiv v.Vf.). Forst spricht selbst an einigen Stellen von „Grundanspruch“, an anderen von „moralischem Recht“ (z.B. Forst, Die Rechtfertigung der Menschenrechte, 64), aber man sollte zwischen „moralischem Anspruch“, „moralischem Recht“ (und „legalem Recht“), was Forst, soweit ich sehe, nicht hinreichend macht, unterscheiden; siehe zu diesen Unterschieden Georg Lohmann, „Welchen Status begründet die Menschenwürde?“, Rechtsphilosophie. Zeitschrift für Grundlagen des Rechts 2 (2015), 170–186, 171 ff. 45 Diese Auffassung vertritt auch Amy Gutmann, „Einleitung“, in: Michael Ignatieff, Die Politik der Menschenrechte, Hamburg 2002, 7–27, 17 ff. 46 Siehe Georg Lohmann, „Unparteilichkeit in der Moral“, in: Klaus Günther/Lutz Wingert (Hgg.), Die Öffentlichkeit der Vernunft und die Vernunft der Öffentlichkeit. Festschrift für Jürgen Habermas, Frankfurt am Main 2001, 434–455; Georg Lohmann, „Zur Verständigung über die Universalität der Menschenrechte. Eine Einführung“ und: „Zu einer relationalen Begründung der Universalisierung der Menschenrechte“, beide in: Günter Nooke/
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Zu (1) und (2): Eine unparteilich nicht begründbare Ungleichbehandlung oder Partikularisierung der Menschenrechte kann nicht akzeptiert werden und deshalb und insoweit gilt ein universeller und egalitärer Anspruch als begründet.47 Man kann auch sagen, wenn eine Ungleichbewertung oder -behandlung nicht unparteilich begründet werden kann, dann ist eine „primäre Diskriminierung“48 moralisch gesehen nicht erlaubt. Auf diese Weise erscheint der moralische, egalitäre Universalismus der Menschenrechte nicht als Startpunkt des Begründungsspiels, sondern er wird generiert und erscheint in einem offenen Begründungsspiel als begründetes Resultat. Insofern begründet diese Auffassung nicht den Universalismus der Menschenrechte, sondern reformuliert und begründet den Prozess der Universalisierung und Egalisierung der Menschenrechte.49 Das ist auch, angesichts des Pluralismus der Weltreligionen und unterschiedlicher kultureller Traditionen, eine besser durchführbare und erfolgversprechende Auffassung.50 Zu (3): Auf eine ähnliche Weise kann ich den dritten formalen Anspruch der Menschenrechte, dass nur Individuen Träger von Menschenrechten sein können, gegen Gegenpositionen, die nur Mitglieder von spezifischen Gemeinschaften oder Gemeinschaften selbst als Träger von Menschenrechten sehen, verteidigen.51 Warum aber sollen die Menschenrechte im erläuterten Sinne individuelle Rechte sein? In der Antwort auf diese Frage spielen auch die Motive für die Erkämpfung von Menschenrechten eine große Rolle. Die schlimmsten Gräueltaten und die größten Barbareien haben Menschen, insbesondere in totalitären Staaten, sich angetan, indem sie den einzelnen, in seiner Körperlichkeit unersetzbar gegeben Menschen, aus allen sozialen und rechtlichen Bezügen ausgeschlossen haben und ihn so, auf seine nackte Körperlichkeit reduziert, misshandelt, gequält und getötet haben. Alle Schmerzen und alles Leiden von Menschen, und seien sie auch noch so intellektuell hervorgerufen, haben einen Bezug auf diese für den Einzelnen, solange er lebt, nicht ersetzbare Körperlichkeit. Diese AuffasGeorg Lohmann/Gerhard Wahlers (Hgg.), Gelten Menschenrechte universal? Begründungen und Infragestellungen, Freiburg/Basel/Wien 2008, 47–60, 218–228. 47 Ausführlicher in Georg Lohmann, „Kulturelle Besonderung und Universalisierung der Menschenrechte“, in: Gerhard Ernst/Stephan Sellmaier (Hgg.), Universelle Menschenrechte und partikulare Moral, Stuttgart 2010, 33–47. 48 Dieses Konzept findet sich zuerst bei Ernst Tugendhat, Vorlesungen über Ethik, Frankfurt am Main 1993, 375 f. 49 So auch Menke/Pollmann, Philosophie der Menschenrechte. 50 Siehe auch Georg Lohmann, „Interkulturalismus und ‚cross-culture‘“, in: Arnd Pollmann/Georg Lohmann (Hgg.), Menschenrechte. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart/ Weimar 2012, 210–215. 51 Siehe Georg Lohmann, „Individuelle Menschenrechte und Pflichten zugunsten von Gemeinschaften“, in: Philippe Brunozzi/Sarhan Dhouib/Walter Pfannkuche (Hgg.), Transkulturalität der Menschenrechte: Arabische, chinesische und europäische Perspektiven, Freiburg/München 2013, 147–170 (= Individuelle Menschenrechte und Pflichten).
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sungen sind selbst Ergebnis eines (blutigen) historischen Lernprozesses und haben zu dem modernen, aufgeklärten Menschenbild geführt, das den modernen Menschenrechten zu Grunde liegt. Wenn Hegel schreibt: „Meinem Körper von anderen angetane Gewalt, ist Mir angetane Gewalt“52, so drückt er damit den historischen Startpunkt für diese dem Individualismus der Menschenrechte zugrundeliegende Motivation aus: Geschützt durch Menschenrechte soll der einzelne, individuelle Mensch gerade dann und dort sein, wenn und wo er am verletzlichsten ist.53 Mit dem Anspruch, dass Menschenrechte individuelle Rechte sind, wird diese historisch motivierte Erfahrung mit aufgenommen. Das ist zugleich auch eine einseitige und damit auch riskante Sicht des Menschen. Menschen können ohne Gemeinschaftsbeziehungen nicht leben; sie sind in diesen ebenso wie in ihrer Körperlichkeit verletzbar. Der Individualismus der Menschenrechte verlangt aber, dass die notwendigen Gemeinschaftsbeziehungen nur in dem Maße geschützt sind, wie sie mit der freien Selbstbestimmung aller Einzelnen kompatibel sind. Die Menschenrechte entwickeln deshalb eine (nur) spezielle Sicht auf Theorien des Gemeinwohls. Wenn daher an einigen wichtigen Stellen der AEMR auf Gemeinschaften und Pflichten des Einzelnen gegenüber seinen Gemeinschaften, insbesondere Familie, Bezug genommen wird, so ist das immer so zu verstehen, dass die gemeinschaftsbezogenen Pflichten nur unter der Bedingung akzeptiert werden sollen, dass die gleichen Rechte aller Einzelnen respektiert werden.54 Die Menschenrechte formulieren daher keine umfassende Theorie eines gemeinschaftlichen Guten. Das hat auch zur Folge, dass sie durchaus, und gegen die Auffassung, dass sie als „Trümpfe“ (R. Dworkin) alle anderen normativen Erwägungen ausstechen, in bestimmten Situationen abwägbar sind und nicht immer das letzte Wort haben. Zu (4): Das berührt nun zugleich die vierte der formalen Charakteristika des Konzepts Menschenrechte: Sie sollen ja kategorisch für jedes Individuum gelten. „Kategorisch“ hat hier die Bedeutung von „unbedingt“, zugleich aber ist damit gemeint: Wenn ein Wesen unter die Kategorie „Mensch“ fällt, dann sind ihm ohne weitere Bedingungen Menschenrechte zuzusprechen; es handelt sich also um eine gewissermaßen paradoxe Bestimmung einer „bedingten Unbedingheit“55. Weitere Umschreibungen dessen, was mit „kategorisch“ hier gemeint ist, sind: „angeboren“ und „innewohnend“, „unverfügbar“ und „unveräußerlich“. Warum aber sollen Rechte, die ja üblicherweise in einem positivier
52 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Werke in 20 Bd., Bd. 7, Frankfurt am Main 1969–71, § 48. 53 Zu den historischen Prozessen, die deshalb zum Menschenrecht auf Unverletzlichkeit des Körpers geführt haben, siehe auch Sibylle van der Walt/Christoph Menke (Hgg.), Die Unversehrtheit des Körpers, Frankfurt am Main/New York 2007. 54 Siehe ausführlich Lohmann, Individuelle Menschenrechte und Pflichten. 55 Siehe auch Georg Lohmann, „Die Menschenrechte fordern eine bedingte Unbedingtheit. Eine Replik auf Raymond Geuss“, Zeitschrift für Menschenrechte 1 (2014), 160–167.
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ten Rechtssystem nur an anerkannte Rechtsgenossen verliehene Rechte sind, in diesem Sinne „kategorisch“ sein? Im Rahmen der nationalen Konzeptionen der Menschenrechte gab es hierauf naturrechtliche oder vernunftrechtliche Begründungen. Menschenrechte galten als vorstaatlich begründete Rechte, die aus einer als absolut konzipierten Instanz: „Natur“ oder „Vernunft“, gewissermaßen vertikal abgeleitet werden konnten. Die internationale Konzeption der Menschenrechte kann aber, obwohl sie einige traditionell naturrechtliche Formulierungen wie „angeborene Rechte“ gebraucht, nicht mehr als eine in der Tradition des Naturrechts stehende Konzeption verstanden werden. Meines Erachtens – doch dazu gibt es sicherlich begründete Gegenmeinungen –, sind die möglichen Begründungen der Menschenrechte der internationalen Konzeption horizontal zu verstehen, d.h., es gibt keine irgendwie geartete höhere, absolute Instanz, aus der die Menschenrechte „abzuleiten“ wären, sondern die normativen Behauptungen, die mit Menschenrechten verbunden sind, müssen sich auf einer Ebene zwischen den Menschen, durch Argumentationen, in denen jeder in der gleichen Weise als Argumentationspartner (und Bürger) zählt, begründen lassen.56 Um das Problem der kategorischen Zuschreibung der Menschenrechte für alle Menschen zu lösen, verwendet die internationale Konzeption den neu aufgenommenen und uminterpretierten Begriff der „Menschenwürde“. Sie nimmt damit, zunächst scheinbar noch ganz analog zu einer naturrechtlichen Argumentation, ebenfalls, um das Paradox einer „bedingten Unbedingtheit“ zu „lösen“, auf eine zweite, vorgelagerte und begründende Ebene Bezug. Damit hätte sich aber das Paradox nur verschoben, denn auch die Menschenwürde soll ja jedem Menschen, nur weil er Mensch ist, zukommen. Nun ist es meines Erachtens nicht zwingend, den historisch „neuen“ Begriff der „Menschenwürde“, der sich von den vielen unterschiedlichen Begriffen sozialer, besonderer Würden und von Begriffen (zumeist ethisch oder theologisch verstandener) allgemeiner Würden unterscheidet57, in einem naturrechtlichen Sinne zu verstehen. Die internationale Völkergemeinschaft hat mit der AEMR, vor dem Hintergrund der Barbarei der Weltkriege und der Kolonialmächte und, wie man rückblickend ergänzend hinzufügen kann, motiviert durch das Entsetzen über die „Verbrechen gegen die Menschheit“ (crimes against humanity), politisch erklärt und in völkerrechtlichen Verträgen ausgeführt, dass sich die Menschenrechte „aus der dem Menschen innewohnenden Würde herleiten“ (gleich56 Ähnliche Überlegungen kennzeichnen auch den „nachmetaphysischen“ Ansatz bei Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, Frankfurt am Main 1992, 151 ff. Und auch darin kann ich mit Rainer Forst übereinstimmen, der ebenfalls diese „horizontale“ Weise des Rechtfertigungsspiels betont, siehe Forst, Die Rechtfertigung der Menschenrechte, 70 f. und Lohmann, Ethik der radikalen Endlichkeit. 57 Siehe zu diesen Unterscheidungen Georg Lohmann, „Was umfasst die ‚neue‘ Menschenwürde der internationalen Menschenrechtsdokumente?“, in: Daniela Demko/Kurt Seelmann/Paolo Becchi (Hgg.), Würde und Autonomie, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Beihefte 142, Stuttgart 2015, 15–39 (= Was umfasst die „neue“ Menschenwürde?).
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lautend in den Präambeln des IPbpR und IPwskR von 1966). Meines Erachtens macht die immer noch naturrechtliche klingende Verwendung des Wortes „innewohnend“ (inherent) unkenntlich, dass es sich in Wahrheit um einen performativen Akt handelt, durch den eine politisch erklärte, vertragsrechtlich verfasste Wertschätzung jedes Menschen in Kraft gesetzt wird, die für das Haben von Menschenrechten ohne weitere Bedingungen bürgen soll.58 Sie kann als eine Selbstbindung zwischen Gleichen verstanden werden, die in Übereinstimmung mit dem horizontalen Begründungsmodell rekonstruiert werden kann. Ich bin mir bewusst, dass hier zahlreiche Fragen offen sind, und habe versucht, das an anderen Stellen weiter auszuführen.59 Zu (5): Noch komplizierter erscheint die Begründung des Anspruches der Fundamentalität. Zunächst will ich versuchen, seine Bedeutung zu explizieren. Auf die daran anzuschließenden Darlegungen der jeweiligen Begründungen kann ich nur sehr abstrakt und allgemein verweisen. „Fundamentalität ist eine relationale Eigenschaft“60, ihre Explikation erfordert daher immer die Angabe von etwas anderem, woraufhin ein fundierender Anspruch besteht und begründet werden soll und das Fundierende dem Fundierten vorgezogen werden soll oder muss. Fundamentalität in diesem Sinne führt zu Aussagen über Abwägungen, die begründet werden müssen. Wenn, wie hier vertreten, keine absoluten Begründungen der Menschenrechte behauptet werden, dann kann der fundamentale Anspruch der Menschenrechte nicht in einem absoluten Sinne verstanden werden, so als ob Menschenrechte in jeder Abwägung mit andern Gesichtspunkten vorgezogen werden müssten oder aber allen anderen Belangen immer schon vorgeordnet seien. Zudem wird man den fundamentalen Anspruch von „Menschenrechten als solchen“ (a) unterscheiden müssen von dem fundamentalen Anspruch einzelner Menschenrechte (b). Zu (5a): Ich verstehe unter dem fundamentalen Anspruch der Menschenrechte ihrer Form nach, dass sie in moralischer Hinsicht diejenigen Rechte bezeichnen, die wir gegenüber jedermann rechtfertigen können.61 Sie sind so „moralische Rechte“, die moralisch notwendig allen in der gleichen Weise müssen zugeschrieben werden können. In rechtlicher Hinsicht verstehe ich unter dem fundamentalen Anspruch, was Alexy „ihre Priorität gegenüber dem positiven Recht“62 nennt, d.h. ihre rechtliche Funktion als übergeordnete Rechtsnormen 58 Georg Lohmann, „Die rechtsverbürgende Kraft der Menschenwürde. Zum menschenrechtlichen Würdeverständnis nach 1945“, Zeitschrift für Menschenrechte, 4/1 (2010), 46–63. 59 Siehe zuletzt Lohmann, Was muss man wie begründen. 60 Sieckmann, Fundamentalität, 165. 61 Siehe auch Robert Alexy, „Die Institutionalisierung der Menschenrechte im demokratischen Verfassungsstaat“, in: Stefan Gosepath/Georg Lohmann (Hgg.), Philosophie der Menschenrechte, Frankfurt am Main 1998, 244–264 (= Die Institutionalisierung der Menschenrechte), 251. 62 Alexy, Die Institutionalisierung der Menschenrechte, 252.
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(Grundrechte oder basic rights), die in Abwägungssituationen einfachem Recht vorgezogen werden müssen. In politischer Hinsicht ist mit der Fundamentalität der Menschenrechte gemeint, dass sie als historisch gesetzte, in Verfassungen aufgenommene Grundlagen für legitime politische Herrschaft fungieren. Diese Erläuterungen gelten für alle Menschenrechte ihrer Form nach. Zu (5b): Häufig wird unter dem fundamentalen Anspruch der Menschenrechte der jeweilige fundamentale Charakter einzelner Menschenrechte, ihr „Gegenstand“63 verstanden. Dann ergeben sich Abwägungsfragen bezüglich der Gewichtung der Menschenrechte untereinander64, ob einige Menschenrechte grundlegender als andere sind oder ob wir einen Kernbereich von Menschenrechten, die fundamental in diesem Sinne sind, von einem Randbereich von Menschenrechten unterscheiden können, die bei den prinzipiell möglichen Konflikten zwischen Menschenrechten nachgeordnet zu beachten wären.65 Hier sind nun nicht nur die Begründungsansätze relevant, die die Menschenrechte durch die Angabe von grundlegenden Interessen oder Fähigkeiten der Menschen66 begründen wollen, sondern auch Versuche, die mit Bezug auf mögliche Würdeverletzungen eine Unterscheidung vorschlagen zwischen „einfachen“ Menschenrechtsverletzungen und solchen, die zugleich eine Menschenwürdeverletzung darstellen.67
5. Ausblick Es ist durch das Obige vielleicht klar geworden, dass ich hier zwar noch explizieren kann, was man begründen muss, aber nicht mehr ausführen kann, wie diese Begründungen im Einzelnen auszusehen haben. Nehmen wir aber einmal an, dass ich zumindest erläutern konnte, was hinsichtlich des Konzeptes 63
So auch Alexy, Die Institutionalisierung der Menschenrechte, 251. Siehe dazu auch Georg Lohmann, „Die Menschenrechte: unteilbar und gleichgewichtig? – Eine Skizze“, in: Georg Lohmann/Stefan Gosepath/Arnd Pollmann/Claudia Mahler/ Norman Weiß, Die Menschenrechte: unteilbar und gleichgewichtig? Potsdam 2005, 5–20. 65 Vgl. dazu statt anderer Alexy, Die Institutionalisierung der Menschenrechte, 252 f.; Sieckmann, Fundamentalität, 167. 66 Zu Begründungsversuchen durch die Angabe von grundlegenden Fähigkeiten siehe z.B. Martha Nussbaum, Frontiers of Justice. Disability, Nationality, Species Membership, Cambridge, MA 2006.; für einen interessenbasierten Ansatz siehe Bernd Ladwig, „Anthropologische Argumente in der menschenrechtlichen Moral“, in: Dirk Jörke/Bernd Ladwig (Hgg.), Politische Anthropologie. Geschichte – Gegenwart – Möglichkeiten, Baden-Baden 2009, 245–269. 67 Siehe Markus Stepanians, „Gleiche Würde, gleiche Rechte“, in: Ralf Stoecker (Hg.), Menschenwürde. Annäherungen an einen Begriff, Wien 2003, 43–63. Exemplarisch habe ich das versucht in Georg Lohmann, „Menschenrechte- und Menschenwürdeverletzungen in der Zuwanderungsgesellschaft“, in: Georg Lohmann/Petra Follmar Otto (Hgg.), Menschenrechte in der Zuwanderungsgesellschaft, Potsdam 2014, 7–20. 64
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der Menschenrechte und bezogen auf die internationale Konzeption zu begründen ist und vielleicht zumindest andeuten konnte, wie ich mir die Begründungen der normativen Behauptung, dass alle individuellen Menschen kategorische und gleiche Menschenrechte haben, vorstelle, und zumindest im Ansatz den Anspruch der Fundamentalität erläutern konnte, so ist ja das weite Feld der Begründungen der konkreten einzelnen und unterschiedlichen Menschenrechte nur gestreift worden.68 Die Menschenrechte sind, das ist vielleicht deutlich geworden, in einem viel radikaleren Sinne, als das bisher häufig angenommen worden ist, historische, kontingent entstandene Konstruktionen und Projekte. Diese Sicht wird auch durch neuere historische Arbeiten zur komplexen Geschichte der Menschenrechte belegt.69 Sie sind, insbesondere was den Kanon der einzelnen Menschenrechte betrifft, ein historisch offenes Projekt. Aber gerade weil ihre begrifflich notwendige rechtliche Fassung von politisch legitimen Mehrheitsentscheidungen abhängig ist, kann auf den davon unabhängigen, weil durch politische und rechtliche Entscheidungen nicht ersetzbaren moralischen Begründungsanspruch nicht verzichtet werden. Er kann freilich auch nicht mehr, wie in der Tradition des Naturrechts geschehen, in einer absoluten und externen Weise eingelöst werden. In der internationalen Konzeption der Menschenrechte werden diese Begründungsaufgaben, statt auf naturrechtlichem Wege, durch den performativ gesetzten Begriff einer neu interpretierten „Menschenwürde“ angegangen und gebündelt. Grundlegend drückt die allen Menschen zugeschriebene „Menschenwürde“ die prinzipielle Gleichwertigkeit und den gleichen rechtlichen Status aller Menschen aus und macht deren grundlegende Achtung (Wertschätzung und Respekt) zum normativen Gehalt der Menschenwürde.70 Sie verdeutlicht zweitens mit der Annahme, dass alle Menschen ihr Leben in überlegender, freier Selbstbestimmung führen können, die normative Erwartung, wie Menschen ihrer Menschenwürde gemäß sollen leben können. Und sie erläutert mit der Bezugnahme auf einen „angemessenen Lebensstandard“ oder die Bedingungen eines gesicherten Leben-könnens, worum es bei der Wertschätzung und deklarierten Anerkennung der „Menschenwürde“ geht: insgesamt um ein Leben in Würde, 68 Einen Überblick über die unterschiedlichen Begründungsmöglichkeiten geben die Artikel in Arnd Pollmann/Georg Lohmann (Hgg.), Menschenrechte. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart/Weimar 2012. Zu meinen eignen Arbeiten (wie zu Meinungs freiheit, Religionsfreiheit, Folter, Todesstrafe, angemessene Umwelt, Minderheitenschutz, sozialen und kulturellen Menschenrechten, Bildung, Menschen mit Behinderungen, Kindern u.a.m.) verweise ich aber hier nur auf die Literaturangaben auf meiner homepage: www.georglohmann.de. 69 Z.B.: Stefan-Ludwig Hoffmann (Hg.), Human Rights in the Twentieth Century, Cambridge 2011; Stefan-Ludwig Hoffmann (Hg.), Moralpolitik. Geschichte der Menschenrechte im 20. Jahrhundert, Göttingen 2010; und jetzt das bedeutende Buch von Eckel, Die Ambivalenz des Guten. 70 Siehe Lohmann, Was umfasst die „neue“ Menschenwürde?
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das jedem Menschen, nur weil er Mensch ist, in der gleichen Weise und selbstverantwortlich zusteht. Die Begründung der einzelnen Menschenrechte ist aber nicht so zu verstehen, als ob man sie aus irgendeinem substantiellen Oberbegriff „ableiten“ könnte. Sie werden auch nicht durch eine Liste von Grundbedürfnissen oder Fähigkeiten des Menschen vorgegeben, sondern sie sind immer Resultat der Verarbeitung komplexer Erfahrungen von Verletzungen und Gefährdungen, rechtlichen Fassungen und politischen Entscheidungen und – natürlich – moralischen Überprüfungen. Einzelne Menschenrechte „existieren“ aber nicht schon dann, wenn ein Moralphilosoph sie als moralisch gut begründete Ansprüche hinstellt, sondern erst, wenn sie auch durch politischen Beschluss auf internationaler Ebene in eine rechtlich gültige Form gebracht werden. Im Augenblick haben wir deshalb auch eine Reihe von problematischen Ausweitungen der Menschenrechte.71 Weil sie auf den Schutz des vereinzelt Einzelnen spezialisiert sind, müssen die Menschenrechte dabei in Kauf nehmen, dass sie nicht überall, z.B. wenn es um Friedenssicherung zwischen den Staaten geht oder wenn bestimme Umweltfragen zu lösen sind, die einzigen Gesichtspunkte sind, nach denen in Abwägung mit anderen Wertungsgesichtspunkten entschieden werden kann. Sie sind damit aber nicht einem prinzipienlosen und opportunistischen Relativismus ausgeliefert. Sie fordern nämlich, dass solche Abwägungen unter der Bedingung ablaufen, dass die gleichen politischen und sonstigen Rechte aller Einzelnen beachtet werden, d.h. dass sie entweder Resultat eines politischen demokratischen Prozesses sind oder zumindest die Vermutung stützen, dass sie es hätten sein können. „Die“ Menschenrechte formulieren daher keine umfassende Theorie des Guten und deshalb haben sie – ganz gegen eine oft geäußerte Auffassung – auch nicht das letzte Wort in allen normativen Fragen. Das kränkt vielleicht unser Vertrauen ins Unbedingte, aber es macht uns auch bewusst, wie „endlich“ alles Menschenwerk ist.
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– „Was umfasst die ‚neue‘ Menschenwürde der internationalen Menschenrechtsdokumente?“, in: Daniela Demko/Kurt Seelmann/Paolo Becchi (Hgg.), Würde und Autonomie, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Beihefte 142, Stuttgart 2015, 15–39 (= Was umfasst die „neue“ Menschenwürde?). – „National and International Public Spheres and the Protection of Human Rights“, Yearbook for Eastern and Western Philosophy 1 (2016), 219–229. Menke, Christoph/Pollmann, Arnd, Philosophie der Menschenrechte. Zur Einführung, Hamburg 2007 (= Philosophie der Menschenrechte). Menke, Christoph/Raimondi, Francesca (Hgg.), Die Revolution der Menschenrechte, Frankfurt am Main 2011. Mieth, Corinna, „Unterlassungs-, Schutz- und Hilfspflichten“, in: Arnd Pollmann/Georg Lohmann (Hgg.), Menschenrechte. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart/Weimar 2012, 224–228. Nussbaum, Martha, Frontiers of Justice. Disability, Nationality, Species Membership, Cambridge, MA 2006. O’Neill, Onora, Tugend und Gerechtigkeit, Berlin 1996. Peters, Anne/Altwicker, Tilmann, Europäische Menschenrechtskonvention, München 2012. Pollmann, Arnd/Lohmann, Georg (Hgg.), Menschenrechte. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart/Weimar 2012. Pollmann, Arnd, „Heimkehr aus der Sklaverei. Der Schriftsteller Herrmann Broch als vergessener Vordenker des völkerrechtlichen Zusammenhangs von Menschenrechten und Menschenwürde“, in: Marten Breuer/Astrid Epiney/Andreas Haratsch/Stefanie Schmahl/Norman Weiß (Hgg.), Der Staat im Recht. Festschrift für Eckart Klein zum 70. Geburtstag, Berlin 2013, 1235–1252. Rawls, John, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt am Main 1971. – Das Recht der Völker, Berlin 2002. Raz, Josef, „Human Rights without Foundations“, in: Samanta Besson/John Tasioulas (Hgg.), The Philosophy of International Law, Oxford 2010, 321–338 Shue, Henry, Basic Rights. Subsistence, Affluence and US Foreign Policy, Princeton, 2. Aufl. 1986. Sieckmann, Jan, „Fundamentalität, Unveräußerlichkeit, Unteilbarkeit“, in: Arnd Pollmann/Georg Lohmann (Hgg.), Menschenrechte. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart/Weimar 2012, 165–170 (= Fundamentalität). Stepanians, Markus, „Gleiche Würde, gleiche Rechte“, in: Ralf Stoecker (Hg.), Menschenwürde. Annäherungen an einen Begriff, Wien 2003, 43–63. Troeltsch, Ernst, „Naturrecht und Humanität in der Weltpolitik“, in: ders., Schriften zur Politik und Kulturphilosophie (1918–23), Kritische Gesamtausgabe, Bd. 15, hg. von Gangolf Hübinger und Johannes Mikuteit, Berlin 2002, 493–512. Tugendhat, Ernst, Vorlesungen über Ethik, Frankfurt am Main 1993. Walt, Sibylle van der/Menke, Christoph (Hgg.), Die Unversehrtheit des Körpers, Frankfurt am Main/New York 2007.
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Vernunftrechtliche Ansätze in der kantischen Tradition
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Möglichkeiten und Grenzen einer vernunftrechtlichen Begründung der Menschenrechte Oliver Sensen Einleitung Was sind die Aussichten für eine vernunftrechtliche Begründung der Menschenrechte? Kann ein einzelner Mensch nur durch sein Denken zu der Ansicht gelangen, dass andere Menschen absolute Rechte haben, die man anerkennen muss? Diesen Fragen werde ich in diesem Kapitel nachgehen. Dabei geht es mir nicht darum, für eine bestimmte Art von Rechten (z.B. Abwehrrechte, soziale oder kollektive Rechte usw.) zu argumentieren, sondern um den absolut verpflichtenden Charakter der Rechte als solchen. Auch geht es mir nicht um die faktischen Ansprüche, die man rechtlich von einer Institution (z.B. von einem Staat) einklagen kann, sondern um ein moralisches Recht, das man unabhängig von dem jeweiligen Staat oder der internationalen Rechtslage von einem anderen Menschen fordern kann. Schließlich geht es mir auch nicht um eine vollständige Bewertung aller historischen Versuche des Vernunftrechts, wie es im deutschen Raum z.B. von Pufendorf, Wolff oder Kant vertreten wurde. Stattdessen untersuche ich vier Hauptansätze, die auch heute so noch vertreten werden. Im ersten Abschnitt stelle ich die Ansätze kurz vor, um danach (in den Abschnitten 2–6) die Stärken und Schwächen dieser Ansätze zu analysieren.
Abschnitt 1: Vier Arten der Vernunftbegründung Wie genau kann man mit der Vernunft einen absoluten Anspruch begründen, der allen Menschen unabhängig von ihrer Hautfarbe, Herkunft, sozialen Stellung oder ihrem Geschlecht zukommt und unveräußerlich sowie immer gültig ist? Ich unterscheide vier Hauptarten: (i) Es könnte sein, dass die Vernunft eine Eigenschaft in der Welt erkennt, die dem Träger für sich betrachtet zukommt. Ein Beispiel für so eine intrinsische Eigenschaft wäre ein Wert anderer Menschen, die sie unabhängig von allen Beziehungen für sich besitzen. Wenn man zudem mit der Vernunft einsehen kann, dass allen Menschen so ein objektiver Wert zukommt, dann könnte man
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mit der Vernunft ihre Rechte begründen. Diesen Ansatz werde ich ‚Moralischen Realismus‘ nennen. (ii) Alternativ könnte es sich bei dem, was die Vernunft in der Welt einsieht, nicht um eine intrinsische Eigenschaft, sondern um eine externe Relation handeln. Ein Beispiel dafür ist eine Zweck-Mittel-Beziehung. So beginnt z.B. die Präambel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der UNO mit der Aussage, dass „die Anerkennung der angeborenen Würde und der gleichen und unveräußerlichen Rechte aller Mitglieder der Gemeinschaft der Menschen die Grundlage von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden in der Welt bildet“1. Wenn das stimmt, so muss der, der Frieden und Freiheit will, einsehen, dass man sein Ziel nur dadurch erreicht, dass man anderen Menschen Rechte zugesteht. Könnte man den Frieden auch anders sichern, so bräuchte es nicht die Anerkennung der Rechte. In diesem Ansatz ist der Grund der Rechte somit nicht eine intrinsische Werteigenschaft, sondern eine extrinsische Relation. Diesen Ansatz nenne ich eine ‚prudentielle Begründung‘ der Menschenrechte. (iii) In den ersten beiden Varianten richtete sich die Vernunfteinsicht auf einen Tatbestand, der unabhängig vom Handelnden in der Welt besteht. Eine dritte Möglichkeit besteht darin, dass die Vernunfteinsicht von etwas im Handelnden selber den Ausgang nimmt. Vielleicht kann die Vernunft einsehen, dass man sich selber wertschätzen muss, und daraus schließen, dass man auch andere wertschätzen und ihnen Rechte zugestehen sollte. Diese Art der Argumentation bezeichne ich pauschal als ‚Bedingungsargumente‘, da sie eine Bedingung für das aufdecken wollen, was der Handelnde will. (iv) Als vierte Variante werde ich den Ansatz untersuchen, nach dem es sich bei der Vernunftbegründung nicht um etwas handelt, das man erst in einem Schritt einsehen muss – sei es als externer oder interner Sachbestand –, sondern als etwas, das die Vernunft aus sich heraus direkt und unmittelbar vorschreibt. Ein solcher Fall wäre z.B., wenn es sich bei der Moral um ein angeborenes oder konstitutives Prinzip der Vernunft handelt. Auf Grund der unmittelbaren Beziehung zur eigenen Vernunft nenne ich dies die ‚apriorische Begründung‘. Meine Behauptung ist nicht, dass es sich bei diesen vier Ansätzen um alle möglichen oder alle wirklich vertretenen handelt.2 Aber es sind vier Hauptansätze, die so auch heute noch vertreten werden. Was sind die jeweiligen Aussichten, die Menschenrechte zu begründen?
1 UNO, Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, http://www.ohchr.org/EN/UDHR/ Pages/Language.aspx?LangID=ger/2016–10–14. 2 Gibt es noch weitere Möglichkeiten? Im weitesten Sinne könnte man auch die Diskursethik als eine Begründung durch die Vernunft auffassen. Zu deren Aussichten siehe den Beitrag von Matthias Hoesch, „Universalität und Priorität der Menschenrechte in diskurs ethischen Begründungsmodellen“, in diesem Band, 277–302.
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Abschnitt 2: Moralischer Realismus Auf den ersten Blick sollte es verwundern, dass ich den Moralischen Realismus unter der Rubrik ‚Vernunftrecht‘ diskutiere. Im klassischen Sinne kommt der Realismus nämlich ohne Vernunft im engeren Sinne aus. Die Ansicht, es gebe intrinsische und insbesondere nicht-natürliche Werteigenschaften, die das Fundament der Moral bilden, wurde meist nicht durch die Vernunft begründet. G.E. Moore z.B. vertritt die These, dass man diese Eigenschaften durch eine nicht-natürliche Intuition erkennen könne3, was einem Sehen und nicht einer Vernunfttat gleichkommt. Ähnlich argumentiert Scheler, dass man die Werte fühlen könne4, was im engeren Sinne auch nicht auf der Vernunft beruht. Dennoch hat der Moralische Realismus insofern Ähnlichkeit mit dem Vernunftrecht, als dass jeder selbst den absoluten Wert des Menschen einsehen könne. Zudem hätten Wesen, die nicht über Vernunft im weitesten Sinne verfügen, wohl auch im Moralischen Realismus nicht die Fähigkeit, den Wert des Menschen intuitiv zu erkennen. Drittens kann man auch deswegen hier den Moralischen Realismus behandeln, da er oft Kant zugeschrieben wird5, und Kant gilt als ein Hauptvertreter des Vernunftrechts. Ich habe an anderer Stelle argumentiert, dass Kant kein Vertreter eines Moralischen Realismus ist6; hier geht es mir um die systematischen Aussichten dieser Position. Man könnte also die Position vertreten, dass allen Menschen ein (nicht-natürlicher) objektiver Wert zukommt, den man einsehen kann, wenn man über ein gewisses Maß an Rationalität verfügt, und dass der Besitz des Wertes die Menschenrechte begründet. So ein Wert wird heutzutage oft ‚Würde‘ genannt, vom Duden als „Achtung gebietender Wert, der dem Menschen innewohnt“7, definiert. Die Vor- und Nachteile einer solchen Position sind hinlänglich bekannt. Gegen eine solche Position werden vor allem zwei Argumente ins Feld geführt.8 Das erste Argument verweist auf die faktischen Unterschiede von moralischen Ansichten in verschiedenen Kulturen und zu verschiedenen Zeiten. Wenn jeder vernünftige Mensch die gleiche moralische Realität einsehen kann, warum unterscheiden
3
Vgl. G.E. Moore, Principia Ethica, hg. von Thomas Baldwin, Cambridge, 25. Aufl. 1993. Vgl. Max Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, hg. von Maria Scheler, Bonn, 7. Aufl. 2005. 5 Vgl. z.B. Dieter Schönecker/Allen Wood, Kants „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“, Paderborn/München/Wien/Zürich, 2002, 146 und Rae Langton, „Objective and Unconditional Value“, Philosophical Review 116 (2007), 157–185 (= Unconditional Value). 6 Siehe Oliver Sensen, Kant on Human Dignity, Berlin 2011 (= Kant on Dignity); für eine kritische Beurteilung meines Ansatzes siehe Margit Wasmaier-Sailer, „Die Bedeutung von Kants Würdeverständnis für die Begründung der Menschenrechte“, in diesem Band, 231–253. 7 Günther Drosdowski, Duden Etymologie. Herkunftswörterbuch der deutschen Sprache, Mannheim/Wien/Zürich, 2. Aufl. 1997, 821. 8 Siehe John Leslie Mackie, Ethics. Inventing Right and Wrong, Harmondsworth, 4. Aufl. 1981, 36–42. 4
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sich dann unsere moralischen Ansichten und warum respektieren sich Menschen kaum untereinander? Das zweite Argument behauptet, dass die Natur von Werten und die Art, sie zu erkennen, ganz anders sei als alles andere, was wir normalerweise um uns herum erleben. Diese seien absonderlich, und es stellt sich die Frage, warum wir berechtigt sind, solche Eigenschaften anzunehmen. Ein moralischer Realist hat verschiedene Möglichkeiten, auf diese Einwände zu reagieren. Gegen den ersten Einwand könnte er erwidern, dass es ganz allgemeine Regeln gebe, die universell gelten, und dass kulturelle Unterschiede erst auf der Ebene der Anwendung aufträten. Keine Gesellschaft könne z.B. ohne ein Tötungsverbot bestehen, doch werde es in verschiedenen Kulturen unterschiedlich angewandt. So wenden einige Gesellschaften dieses Verbot auf ungeborenes Leben an, andere aber nicht. Zudem könnte der moralische Realist erwidern, dass es moralische Experten gebe, die die Werte besser erkennen könnten als andere. Vielleicht braucht es wie in anderen Bereichen Training und Erziehung, um die volle moralische Kapazität zu entwickeln. Gegen das zweite Argument, den Einwand der Absonderlichkeit, könnte der moralische Realist zum einen darauf verweisen, dass in diesem Sinne auch andere Dinge absonderlich seien: mathematische Entitäten wie z.B. Zahlen oder physikalische Phänomene wie Superstrings oder Quarks sind ganz anders als alles andere, was wir kennen. Auch sie kann man nicht einfach mit den fünf Sinnen erfassen, aber sie sind die beste Erklärung für andere Dinge, die wir sehen. Dementsprechend ist die Annahme von moralischen Werteigenschaften vielleicht die beste Erklärung dafür, dass Leute spontan anderen helfen oder vor Ungerechtigkeiten zurückschrecken. Zudem kann der moralische Realist dem Einwand so begegnen, dass er ihn akzeptiert, aber darauf verweist, dass Moral eben ganz anders sei als alles andere, was wir kennen. Beide Seiten können also versuchen, die Beweislast der jeweils anderen Partei zuzuschieben, ohne dass es unbedingt einen klaren Sieger gibt. Meiner Ansicht nach wird die Position des moralischen Realisten aber noch zusätzlich dadurch geschwächt, dass er scheinbar einen Kategorienfehler begeht. Denn die Frage, die es zu beantworten gilt, ist, warum ein Anspruch des Opfers dem Handelnden eine Pflicht auferlegt. Die Frage aber, warum ich verpflichtet bin, ist eine Frage der ersten Person. Diese beantwortet der moralische Realist mit dem Verweis auf einen Sachbestand in der dritten Person, dass es außer mir einen Wert gebe. Es ist aber nicht klar, wie mich eine externe Eigenschaft in der ersten Person verpflichten kann. Wenn z.B. ein Naturschützer sagt, dass eine Zecke – trotz des fehlenden Nutzens und potentiellen Schadens – einen absoluten Wert habe, warum verpflichtet einen diese Eigenschaft, die Zecke zu schützen? Der moralische Realist hat also das Problem, dass er neue, nicht weiter erklärbare metaphysische Eigenschaften einführt, ohne dass sie die eigentliche Frage beantworten.9 Auch 9
Vgl. Colin McGinn, Problems in Philosophy, Oxford, 3. Aufl. 1998, 16.
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dieses Argument widerlegt nicht den moralischen Realisten10, verlagert aber die Beweislast auf seine Seite. Das sind m.E. die Aussichten dieser Position, absolute Menschenrechte zu begründen.
Abschnitt 3: Die pragmatische Begründung Im klassischen Naturrecht, wie es z.B. von Samuel Pufendorf vertreten wurde, hat die Vernunft eine andere Rolle. Demnach kann jeder Mensch die gesellschaftlichen Notwendigkeiten, zu denen man soziales Verhalten und die Menschenrechte zählen könnte, durch vernünftige Überlegungen selbst einsehen.11 Pufendorf betont, dass der Mensch ein endliches und verletzliches Wesen ist, das nicht nur in der Kindheit auf die Hilfe anderer angewiesen ist. Gegen die unsozialen Tendenzen des Menschen, wie z.B. Hass, Neid und Missgunst, kann er mit der Vernunft erkennen, dass alle sozial sein sollten, um auch von anderen diese Hilfe zu bekommen. Auf eine ähnliche Weise argumentiert Onora O’Neill. Das moralische Prinzip, aus dem man auch die Forderung der Menschenrechte ableiten kann, löse ein Koordinationsproblem. Wenn man Streit, Misskommunikation und letztlich Isolation zwischen einer Vielzahl von endlichen vernünftigen Wesen vermeiden will, so sollte man die Rechte anderer anerkennen. Man könne das Moralprinzip aus dieser gesellschaftlichen Notwendigkeit erkennen, und man solle ihm auch deswegen Folge leisten.12 Auch diese Begründung wird oft Kant zugeschrieben. So könnte man argumentieren, dass das Prinzip, aus dem Rechte abgeleitet werden, schon aus Klugheit und Eigeninteresse erkannt werden kann.13 Als Beleg für diese Interpretation kann man Kants berühmte Stelle der Teufel anführen, wo es heißt, dass selbst selbstsüchtige Wesen das Problem der Staatsverfassung lösen könnten: Nun ist die republikanische Verfassung […] dermaßen daß viele behaupten, es müsse ein Staat von Engeln sein, weil Menschen mit ihren selbstsüchtigen Neigungen einer Verfassung von so sublimer Form nicht fähig wären. […] Das Problem der Staatserrichtung ist, so hart wie es auch klingt, selbst für ein Volk von Teufeln (wenn sie nur Verstand haben) auflösbar […].14 10
189.
Für eine Verteidigung siehe Russ Shafer-Landau, Moral Realism, Oxford 2003, 165–
11
Vgl. Samuel Pufendorf, On the Duty of Man and Citizen According to Natural Law, hg. von James Tully, Cambridge 1991 (= Duty of Man), 27–32. 12 Vgl. Onora O’Neill, Constructions of Reason, Cambridge 1989, 3–27. 13 Vgl. T homas Pogge, „Is Kant’s Rechtslehre a ‚Comprehensive Liberalism‘?“, in: Mark Timmons (Hg.), Kant’s Metaphysics of Morals, Oxford 2002, 133–158. 14 Immanuel Kant, Zum Ewigen Frieden (= ZeF), AA 08, 366. Alle Kant-Stellen beziehen sich auf die Akademie-Ausgabe von Kants Gesammelten Schriften, Berlin 1902 ff. und geben
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An anderer Stelle habe ich argumentiert15, dass sich die Teufelspassage nicht auf die Begründung bezieht, warum das Rechtsgesetz gültig ist, sondern nur auf die Frage der Motivation, warum man dem Vernunftgebot Folge leisten soll. Kant unterscheidet bekannterweise die Rechtslehre von der Sittenlehre. Die Sittenlehre oder Moral im engeren Sinne fordert von dem Handelnden nicht nur, dass er das Richtige tut, sondern es auch aus einer bestimmten Gesinnung heraus tut.16 Das Recht hingegen stellt keine Anforderung an das Motiv. Man soll an der roten Ampel anhalten, aber man kann es nur deswegen tun, um einen Strafzettel zu vermeiden. In der Teufelspassage werden die selbstsüchtigen Wesen als mit Verstand ausgestattet dargestellt. Aufgrund des Verstands wissen sie, was richtig ist. Selbst wenn sie aber nur selbstüchtige Motivationen haben, können sie sich zu einem Staat zusammenfassen, der von dem Verstand gefordert wird. Kant versteht den Verstand nicht als ein selbstsüchtiges Instrument der Klugheit, sondern der Verstand ist schon a priori mit Regeln ausgestattet, zu denen auch der Pflichtbegriff gehört: „So ist es z.B. ein Grundsatz der moralischen Politik: daß sich ein Volk zu einem Staat nach den alleinigen Rechtsbegriffen der Freiheit und Gleichheit vereinigen solle, und dieses Princip ist nicht auf Klugheit, sondern auf Pflicht gegründet.“17 Insofern die Teufel Verstand haben, stehen sie unter dem apriorischen Moralgesetz.18 Die Passage bezieht sich nur auf ihre Motivation. Diese Unterscheidung zwischen Gültigkeit und Motiv macht m.E. auch die Aussichten des pragmatischen Ansatzes deutlich, die Menschenrechte zu begründen. Der pragmatische Ansatz kann nicht begründen, warum man verpflichtet ist, so etwas wie Rechte anzuerkennen, sondern gibt nur eine Regel der Klugheit an die Hand. Diese Regel ist nur unter bestimmten kontingenten Bedingungen gültig, nicht absolut in allen Fällen. Zum einen ist sie von bestimmten Wünschen des Handelnden abhängig. So setzt sie voraus, dass der Handelnde Frieden und Zusammenleben will. Wenn das nicht der Fall ist, fällt auch das Mittel weg. Man kann sich aber leicht Situationen vorstellen, in denen diese Wünsche nicht die obersten Ziele von Menschen sind. Auf der einen Seite scheint der Wunsch nicht immer bei Menschen gegeben, die sich in einer stärkeren Position wähnen. Zum anderen würden einige Menschen in der Not lieber ihre Rechte aufgeben, falls sie dafür überleben können. Man kann den Wunsch auf friedliches Zusammenleben zwar als allgemein verbreitet annehmen, er hat aber mitunter nicht die oberste Priorität.
Sigle/Band/Seitenzahl an. Nur die Verweise auf die Kritik der reinen Vernunft (= KrV) verweisen auf die Seitenzahlen der originalen A- und B-Edition. 15 Siehe Oliver Sensen, „Kant“, in: Gerald Gaus/Fred D’Agostino (Hgg.), T he Routledge Companion to Social and Political Philosophy, London 2012, 103–113. 16 Vgl. Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (= GMS), AA 04, 390. 17 Kant, ZeF, AA 08, 378. 18 Siehe dazu Abschnitt 5 unten.
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Aus diesem Grund stützt sich auch Pufendorf letztlich auch nicht auf das Klugheitsargument, um moralische Forderungen zu begründen, sondern er betont, dass es noch eines weiteren Arguments bedarf, um den verpflichtetenden Charakter von sozialen Forderungen zu gewährleisten. Dazu verweist Pufendorf auf Gott, der letztlich die Regeln, die der Mensch durch Klugheit einsehen könne, erst verbindlich mache.19 Da diese Begründung aber letztlich nicht auf der Vernunft, sondern der Existenz Gottes beruht, lasse ich sie hier beiseite.
Abschnitt 4: Bedingungsargumente Eine dritte Art, wie man die Menschenrechte nur durch die Vernunft begründen könnte, sind Argumente, die mit Bedingungsverhältnissen arbeiten. Diese Art der Argumentation wird gerade in der gegenwärtigen englischsprachigen Literatur heiß diskutiert. Es gibt unterschiedliche Versionen des Arguments, aber allen scheint gemeinsam, dass sie von etwas ausgehen, das der Handelnde will, und dann zunächst auf die eigene (faktische) Wertschätzung des Handelnden schließen, ehe sie in einem zweiten Schritt auf die (geforderte) Wertschätzung anderer abzielen. Auch hier berufen sich die Autoren oft auf Kant und vor allem auf die folgende Kant-Stelle: Der Grund dieses Princips ist: die vernünftige Natur existiert als Zweck an sich selbst. So stellt sich notwendig der Mensch sein eigenes Dasein vor […]. So stellt sich aber auch jedes andere vernünftige Wesen sein Dasein, zufolge eben desselben Vernunftgrundes, der auch für mich gilt, vor; also ist es zugleich ein objektives Princip […].20
Wenn man „Zweck an sich“ als einen werthaften Status denkt, dann kann man die Stelle so lesen, dass sich jeder als wertvoll ansieht, und man deshalb auch alle anderen als werthaft ansehen muss.21 Allerdings sagt Kant, dass es noch eine Begründung dafür gibt, warum man sich und andere als Zweck an sich ansehen soll. Was wäre dieser Grund? Soweit ich sehe, gibt es in der Literatur drei Gruppen von Lösungsansätzen: (i) Der erste Ansatz besagt, dass man seinen eigenen Wert als eine (objektive) intrinsische Eigenschaft erkennt, die dann auch jedem anderen Wesen mit den gleichen Eigenschaften zukommt (frühe Korsgaard). (ii) Der zweite Ansatz versucht die Kluft zwischen Selbst und Anderen aufzuheben: In der Erkenntnis meines Wertes gehe es nicht um meinen Wert, sondern ganz allgemein um ein Wesensmerkmal, das allen zukommt (späte Korsgaard, Nagel). (iii) Im dritten Ansatz verbindet man den eigenen Wert direkt mit einem Rechtsanspruch: Was mir werthaft ist, fordere ich als Recht von anderen und er19 Pufendorf,
Duty of Man, 36. GMS, AA 04, 429. 21 Für eine alternative Lesart der Stelle siehe Sensen, Kant on Dignity, 96–113. 20 Kant,
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kenne, dass andere den gleichen Grund haben, etwas als Recht zu fordern (Gewirth, Steigleder). Im Folgenden werde ich die drei Ansätze kurz auf ihre Aussicht der Menschenrechtsbegründung untersuchen. Meine These ist dabei, dass keiner der drei den Schritt vom eigenen Wert zu dem von anderen plausibel begründen kann.
(i) Der Wert des Menschen als intrinsische Eigenschaft Das wohl einflussreichste Bedingungsargument hat Christine Korsgaard in ihrem Aufsatz: „Kant’s Formula of Humanity“22 vorgestellt. Das erste Argument kann noch als Aufweis für einen Moralischen Realismus verstanden werden23, und man kann es kurz wie folgt zusammenfassen: 1) Korsgaard geht von der Ansicht aus, dass nicht-vernünftige Wesen nur dann einen Wert haben, wenn sie von Menschen geschätzt werden. Demnach hätte z.B. eine Kutsche nur dann einen Wert, wenn wir sie für gewisse Anlässe (für Hochzeiten usw.) wertschätzen. Wenn wir aber andere Dinge bevorzugen, z.B. eine Limousine, verliert die Kutsche ihren Wert. 2) Die menschliche Vernunft suche eine Erklärung, die den bedingten Wert der Dinge fundieren kann. 3) Die Suche ende in den Zwecken, die sich die Menschen setzen, und für die die Dinge Mittel sind. 4) Menschen könnten nur dann diesen Wert konferieren, wenn sie selber einen absoluten Wert haben: „we find that the unconditioned condition of the goodness of things is rational nature […] To play this role, however, rational nature must itself be some thing of unconditional value.“24 5) Da alle Menschen durch ihre Zwecke Wert übertragen könnten, hätten alle einen absoluten Wert, und man solle alle Menschen respektieren. Das Argument sieht dann etwa wie folgt aus: 1) Dinge haben nur einen Wert als Mittel. 2) Die Vernunft fragt nach der unbedingten Bedingung dieses Werts. 3) Sie findet sie in den Zwecken, die sich Menschen setzen. 4) Menschen können nur die Bedingung für bedingten Wert sein, wenn sie selbst unbedingten Wert besitzen. 5) Da alle Menschen diesen unbedingten Wert besitzen, soll ich alle respektieren. Was sind die systematischen Aussichten dieses Arguments? Man kann schon gleich den ersten Schritt des Arguments kritisieren, da möglicherweise manche Dinge selbst auch dann einen Wert haben, wenn sie keiner wertschätzt (z.B. die Gesundheit, die Umwelt oder Kunstwerke). Doch auch wenn man den ersten 22 In: Christine Korsgaard, Creating the Kingdom of Ends, Cambridge 1996 (= Kingdom of Ends), 106–132. 23 Siehe Christine Korsgaard, „Motivation, Metaphysics, and the Value of the Self: A Reply to Ginsborg, Guyer, and Schneewind“, Ethics 109 (1998), 49–66, 63 f. (= Value of the Self). 24 Korsgaard, Kingdom of Ends, 123.
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Schritt zugesteht, so ergeben sich spätestens im vierten Schritt schwerwiegende Probleme. Denn um die Bedingung für die Eigenschaft einer Sache zu sein, muss man nicht die gleiche Eigenschaft in einem unbedingten Sinn besitzen. Wenn etwas z.B. nur dann lustig ist, wenn es für Menschen lustig ist, so heißt das nicht, dass der Mensch an sich lustig ist. Oder wenn nur ein Ausschuss einen Titel verleihen kann, so folgt daraus nicht, dass dieser Ausschuss selber diesen Titel besitzt.25 Wenn der vierte Schritt gültig wäre, so wäre es zum fünften nicht weit. Denn wenn ein einzelner Mensch nur deshalb einen absoluten Wert hat, weil er sich Zwecke setzt, so hätten auch alle anderen Menschen Wert, da auch sie sich Zwecke setzen. Aber der vierte Schritt ist nicht schlüssig. Wenn eine Kutsche nur dann Wert hat, wenn sie von Menschen wertgeschätzt wird, so heißt das nur, dass die Kutsche nützlich ist. Wenn aber etwas für jemand nützlich ist, so folgt daraus nicht, dass der Nutznießer einen absoluten Wert hat. Feuchtigkeit kann für Pflanzen nützlich sein, und der Mensch, der dem Huhn Futter zuwirft, ist für das Huhn nützlich.26 Das Argument scheitert.27 Korsgaard selbst scheint sich solcher Probleme bewusst zu sein28, und sie hat ihr ursprüngliches Argument später modifiziert. (ii) Der Wert des Menschen als zugeschriebene Eigenschaft Selbst wenn das vorherige Argument scheitert, so gibt es andere Bedingungsargumente, die eventuell die Menschenrechte begründen können. Die Probleme des vierten Schritts im Argument des vorherigen Abschnitts können vermieden werden, wenn man nicht behauptet, dass der Mensch einen absoluten Wert hat, sondern dass er sich als wertvoll ansehen muss.29 Diesen Gedanken kann man vielleicht so plausibel machen: Wenn man etwas wertschätzt, z.B. ein Brotmesser, um Brot zu schneiden, so scheint das vorauszusetzen, dass man sich selbst als wichtig ansieht. Denn warum sollte man sich etwas zu essen machen, wenn man absolut unbedeutend ist? Das modifizierte Argument könnte dann so aussehen: 1) Dinge haben nur den Wert als Mittel. 2) Die Vernunft fragt nach der unbedingten Bedingung dieses Werts. 3) Sie findet sie in den Zwecken, die sich der Mensch setzt. 4) Wenn ein Mensch sich Zwecke setzt, so sieht er sich selber als werthaft an. 5) Wenn ich mich als werthaft ansehe, habe ich auch Grund, andere so zu betrachten. 25
Vgl. Samuel Kerstein, Kant’s Search for the Supreme Principle of Morality, Cambridge 2002, 59. 26 Vgl. Kants Vorlesung Naturrecht Feyerabend, AA 27, 1319. 27 Für eine ausführlichere Diskussion siehe Sensen, Kant on Dignity, 55–69. 28 Siehe Korsgaard, Value of the Self, 62–64. 29 Vgl. Christine Korsgaard, T he Sources of Normativity, Cambridge 1996 (= Sources), 122–125.
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Was sind die Aussichten für dieses Argument? Die ersten drei Prämissen sind gegenüber dem vorherigen Argument gleichgeblieben und teilen deswegen dieselben Probleme, aber auch Stärken. Der vierte Schritt hat an Plausiblität gewonnen. Denn er behauptet lediglich, dass man sich als werthaft ansehen muss, nicht, dass man wirklich Wert hat. Auch dieser Schritt kann noch bezweifelt werden. Er funktioniert sehr viel besser, wenn man etwas für sich will (z.B. Nahrung usw.). Der Schritt ist aber weniger plausibel, wenn man etwas Unpersönliches will. Wenn z.B. ein Naturschützer die Auffassung vertritt, dass ein Ökosystem ohne Menschen existieren sollte, so ist nicht klar, dass er sich in diesem Schritt selbst wertschätzt. Aber selbst wenn man zugesteht, dass Menschen hauptsächlich deswegen etwas wertschätzen, weil sie sich selber für wichtig halten, so führt der vierte Schritt nicht weit. Denn dass sich jeder selbst als wichtig ansieht, ist in Ethikdiskussionen nicht kontrovers. Es ist die These des Egoismus. Zudem schwächt der vierte Schritt den fünften. Wenn Klaus sich als wichtig ansieht und Peter sich als wichtig ansieht, so folgt daraus nicht, dass sie sich auch gegenseitig als wichtig ansehen müssen. Wenn zwei Egoisten aufeinandertreffen, führt das nicht notwendig zur Ethik. Der Egoismus alleine begründet nicht, warum ich andere achten und ihre Rechte anerkennen soll. Es fehlt also der entscheidende Schritt, und es bedarf noch zusätzlicher Argumente, um das eigentliche Ziel zu erreichen.30 Hierbei gibt es wiederum verschiedene Versuche, um die Lücke zu schließen. Der Hauptansatz ist, die Unterscheidung zwischen sich und anderen aufzuheben. Das ginge z.B. in einer psychologischen Hinsicht. So könnte man argumentieren, dass man, wenn man Schmerz vermeiden will, nicht darauf achtet, dass es der eigene Schmerz ist, sondern dass Schmerz als solcher aufhören solle, wo immer er auftritt.31 Dagegen kann man aber einwenden, dass das nicht notwendig so ist. Es mag sein, dass manche Leute in gewissen Situationen so denken, aber es ist durchaus vorstellbar, dass andere es mit einer Rückbindung an sich selber verbinden: mein Schmerz soll aufhören. Die Gefahr des Egoismus ist also noch nicht gebannt. Eine zweite Strategie, um den Unterschied von Selbst und Anderen aufzuheben, verweist auf Wittgensteins Privatsprachenargument, um zu argumentieren, dass es keine privaten Gründe gebe.32 Die These ist dabei, dass es sich bei moralischen Gründen nicht um private mentale Phänomene handele, sondern dass Gründe immer kommunizierbar und offen sein müssen. Wenn die Gründe, sich selbst wertzuschätzen, immer mitteilbar sein müssen, dann werde die Kluft zwischen einem selbst und anderen aufgehoben. Dagegen kann man aber einwen
30 Für
eine gründlichere Analyse dieses Arguments siehe Sensen, Kant on Dignity, 69–75. 31 Vgl. T homas Nagel, T he View from Nowhere, Oxford 1986, 156–162; Korsgaard, Sources, 250. 32 Vgl. Korsgaard, Sources, 136–145.
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den, dass das Argument höchstens die Kommunizierbarkeit der Gründe, ihre sprachliche Verständlichkeit, betrifft, nicht aber schon für sich einen moralischen Grund liefert, den anderen wertzuschätzen.33 Wenn z.B. zwei Frauen denselben Mann lieben, so sind ihre Gründe mitteilbar und verständlich, aber sie führen nicht dazu, dass eine ihre Bemühungen aufgibt. Das Argument lässt also noch genau das unbewiesen, was es zu zeigen gilt: dass man andere achten und ihnen absolute Rechte zugestehen soll. Zudem schwächt es die Sicht, dass Menschen wirklich werthaft sind, da es nur behauptet, dass man sich so ansehen muss. Was aber bedeutet das für den Extremfall, in dem sich jemand z.B. während einer schweren Depression nicht selber wertschätzt? Heißt das, dass dann andere ihn nur als Mittel behandeln dürfen?34 Aus diesen Gründen halte ich die bisher diskutierten Bedingungsargumente für nicht stark genug, um die Menschenrechte aufzuzeigen. Aber es gibt noch zumindest eine weitere Version des Arguments. (iii) Das Recht des Menschen als emphatische Forderung Schon vor Korsgaard hat Alan Gewirth ein beachtenswertes Bedingungsargument vorgelegt.35 Etwas vereinfacht ausgedrückt, besagt das Argument, (1) dass man gewisse Güter (z.B. Leben, Freiheit, Nahrung etc.) als notwendig ansehen müsse, um überhaupt handeln zu können. (2) Wenn man also handeln will oder muss, so müsse man den Schutz dieser Güter auch von anderen fordern. (3) Da aber auch jeder andere den Schutz dieser Güter aus dem gleichen Grund, der auch für mich gilt, fordern müsse, so zwinge mich die logische Konsistenz, auch anderen den Anspruch zuzugestehen.36 Die Schritte sehen dann so aus: 1) Es gibt Güter, die für den Menschen notwendige Bedingungen für das Handeln sind. 2) Als Mensch muss man handeln. 3) Deswegen muss man als Mensch den Schutz der Güter von anderen fordern. 4) Gleichzeitig hat man Grund, auch allen anderen als Menschen die Forderung zuzugestehen. 5) Man soll die notwendigen Ansprüche anderer anerkennen. Das Problem dieses Arguments scheint zu sein, dass man nur zu etwas gelangt, was Menschen (in der Regel) sehr stark wollen. Aber auch eine emphatische For33 Raymond
Geuss, „Morality and Identity“, in: Christine Korsgaard, The Sources of Normativity, Cambridge 1996, 189–199, 198; Allan Gibbard, „Morality as Consistency in Living: Korsgaard’s Kantian Lectures“, Ethics 110 (1999), 140–164, 163. 34 Vgl. Langton, Unconditional Value, 180–185. 35 Siehe Alan Gewirth, Reason and Morality, Chicago 1978. 36 Vgl. auch Klaus Steigleder, „Gewirth und die Begründung der normativen Ethik“, Zeitschrift für Philosophische Forschung 51 (1997), 251–267 (= Gewirth).
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derung stellt noch kein moralisches Recht dar, das anderen eine Verpflichtung auferlegt.37 Wenn z.B. zwei Menschen die gleiche Stelle wollen, um Nahrung kaufen zu können, so legt dieser Anspruch allein dem einen keine Verpflichtung auf, dem anderen zu helfen. Um die Ergebnisse zusammenzufassen: So attraktiv die Versuche sind, von der (faktischen) Wertschätzung für sich selber auf die geforderte Wertschätzung anderer zu schließen, so scheint dieser Schritt nicht wirklich zu gelingen. Man setzt genau das voraus, was es erst noch zu beweisen gilt: dass man auch andere achten und ihnen Rechte zugestehen soll. Was es braucht, um das zu bewerkstelligen, so scheint mir, ist so etwas wie eine Forderung, nicht nur nach seinem eigenen Interesse zu handeln, sondern sich auf einen verallgemeinerbaren Standpunkt zu stellen, indem man nach objektiv notwendigen Regeln handelt (z.B. Gesundheit zu erhalten und Nahrung zu haben). Ein Beispiel für so eine Forderung ist Kants Kategorischer Imperativ.38 Meine bisherige These ist, dass die drei oben diskutierten vernunftrechtlichen Begründungen diesen Imperativ nicht hervorbringen, sondern selbst auf ihn angewiesen sind. Kant selber, so werde ich argumentieren, begründet den Imperativ auf eine vierte Weise.
Abschnitt 5: Moralische Forderungen als apriorisches Prinzip Die bisherigen Argumente hatten die Gemeinsamkeit, dass sie hauptsächlich darauf aus waren, einen Wert des Menschen zu etablieren, der dann seine Rechte begründen kann. Diesen Wert könne man entweder direkt einsehen oder als Bedingung für etwas anderes, was man möchte, erschließen. In beiden Fällen wurde die Vernunft als epistemisches Hilfsmittel gesehen, die Tatsache des Wertes einzusehen. In diesem Abschnitt werde ich zunächst argumentieren, dass Kant die Begründung anders strukturiert. Zum einen, so meine Interpretation, ist für Kant die Vernunft nicht Hilfsmittel, eine zusätzliche Tatsache einzusehen, sondern sie schreibt dem Menschen etwas direkt und unmittelbar vor. Zudem gebietet sie keinen Wert, aus dem dann ein Gebot abgeleitet werden kann, sondern sie schreibt ein Gebot vor, aus dem sich nachher ableiten lässt, was wertvoll ist. Dabei geht es mir hier nicht um Kants spezifische Ausführungen zum angeborenen Recht der Menschheit39, sondern ganz allgemein um die Forderung, die berechtigten Ansprüche anderer zu achten. Im letzten Abschnitt (Abschnitt 6) werde ich dann auf die systematischen Aussichten seiner Position reflektieren.
37
Vgl. Steigleder, Gewirth, 254, 264. Kant, GMS, AA 04, 424. 39 Vgl. Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten (= MS), AA 06, 237 f. 38 Vgl.
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Für Kant ist die Forderung, andere zu achten und ihre Ansprüche anzuerkennen, ein kategorischer Imperativ. Die Forderung ist immer gültig und verstattet keine Ausnahmen. Sie lautet: „Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“40 Als unbedingte und notwendige Forderung muss sie a priori aus der eigenen Vernunft entspringen, denn Notwendigkeit und strikte Allgemeinheit sind Anzeichen, dass sie nicht aus der Erfahrung gewonnen wurde, sondern a priori in der Vernunft liegt. Erfahrung gibt uns nur eine begrenzte Anzahl von Fällen und verifiziert nur, dass etwas der Fall ist, nicht, dass es notwendig so sein muss.41 Dementsprechend entspringt für Kant auch der kategorische Imperativ, andere zu achten, der reinen Vernunft: „Dieses Princip der Menschheit […] ist nicht aus der Erfahrung entlehnt: erstlich wegen seiner Allgemeinheit, […] mithin es aus reiner Vernunft entspringen muß.“42 Deswegen muss das Gebot nicht erst durch einen Vernunftschluss gewonnen werden, sondern jeder steht schon unmittelbar unter diesem Gesetz: „Denn vernünftige Wesen stehen alle unter dem Gesetz, daß jedes derselben sich selbst und alle andere niemals bloß als Mittel, sondern jederzeit zugleich als Zweck an sich selbst behandeln solle.“43 Man kann es sich so vorstellen, als ob das Moralprinzip angeboren wäre. Dabei geht es aber nicht darum, dass es von der Natur oder einem eingepflanzten Sinn eingehaucht wurde44, denn dann hätte die Natur auch ein anderes Prinzip geben können und es wäre nicht absolut notwendig.45 Stattdessen versteht Kant es als etwas, was unsere eigene Vernunft spontan hervorbringt: „so gibt die Vernunft nicht demjenigen Grunde, der empirisch gegeben ist, nach, […] sondern macht sich mit völliger Spontaneität eine eigene Ordnung nach Ideen, […] nach denen sie so gar Handlungen für notwendig erklärt“46. Die Vernunft schreibt demnach dieses Gesetz vor, sobald man überlegt, was zu tun ist.47 Dadurch ist für Kant das Gesetz das Produkt von dem, was die Vernunft tut, nicht eine Einsicht einer externen Tatsache: „Reine Vernunft ist für sich allein praktisch und giebt (dem Menschen) ein allgemeines Gesetz, welches wir das Sittengesetz nennen.“48 Aus diesem Gebot leitet Kant dann nachher Aussagen über Wert oder Rechte ab.49 Mit ‚Gut‘ oder ‚Wert‘ bezeichnet Kant das, was die Vernunft als notwendig erkennt: „der Wille ist ein Vermögen, nur dasjenige zu wählen, was die Vernunft 40 Kant,
GMS, AA 04, 429. Kant, KrV, B3 f. 42 Kant, GMS, AA 04, 430 f. 43 Kant, GMS, AA 04, 433. 44 Vgl. Kant, GMS, AA 04, 425. 45 Vgl. Kant, KrV, B167 f. 46 Kant, KrV, A548/B576. 47 Vgl. Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft (= KpV), AA 05, 29 f. 48 Kant, KpV, AA 05, 31. 49 Vgl. Kant, KpV, AA 05, 62; GMS, AA 04, 436. 41 Vgl.
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[…] als praktisch nothwendig, d. i. als gut, erkennt.“50 Wenn die Vernunft etwas als Mittel vorschreibt, z.B. die Treppe zu nehmen, um aus dem brennenden Gebäude zu fliehen, so handelt es sich um einen hypothetischen Imperativ und die Tat ist relativ gut. Schreibt sie aber etwas als unter allen Umständen notwendig vor, z.B. nicht zu betrügen, so handelt es sich um einen kategorischen Imperativ, und die Tat ist absolut gut.51 ‚Gut‘ und ‚Wert‘ beziehen sich in Kants Gebrauch damit immer nur auf Handlungen und den Charakter einer Person, nicht auf den Menschen als solchen: Das Gute oder Böse wird also eigentlich auf Handlungen […] bezogen, und sollte etwas schlechthin […] gut oder böse sein […], so würde es nur die Handlungsart, die Maxime des Willens und mithin die handelnde Person selbst als guter oder böser Mensch, nicht aber eine Sache sein, die so genannt werden könnte.52
Kant vertritt bekanntermaßen die Position, dass nur ein guter Wille einen absoluten Wert hat53, und dass man sich diesen Wert nur selber geben kann, indem man moralisch gut ist.54 Das heißt nicht, dass man nach Kant andere nur dann achten soll, wenn sie einen moralisch guten Willen haben – selbst der Kriminelle verdient Respekt als Mensch55 –, aber es deutet an, dass Kant die Pflicht, andere zu achten, nicht durch einen Wert begründet. Zudem – und das scheint uns ebenso revolutionär – stellt Kant dieses Gebot vor das Recht des anderen, d.h. der andere kann von mir ein Recht einklagen, indem er mich an meine Pflicht erinnert, dem Moralgesetz zu folgen: Dies geschieht dadurch, daß der andere, vermöge seines Rechts, dem Subject seine Pflicht, d.i. das moralische Gesetz nach welchem er handeln soll, vorstellt. Macht diese Vorstellung Eindruck in ihm, so bestimmt er seinen Willen nach einer Idee der Vernunft, er macht sich durch seine Vernunft diejenige Vorstellung, die in ihm schon vorher lag und durch den andern nur rege gemacht ist, und bestimmt sich nach dem moralischen Gesetz.56
Kant stellt damit die Pflicht des Handelnden vor das Recht des Opfers: „Wir kennen unsere eigene Freiheit (von der alle moralische Gesetze, mithin auch alle Rechte sowohl als Pflichten ausgehen) nur durch den moralischen Imperativ […], aus welchem nachher […] der Begriff des Rechts, entwickelt werden kann.“57 Indem er das Recht aus der Pflicht entwickelt, ordnet Kant das Recht der Pflicht nach. Nur auf diese Weise kann es so etwas wie eine Pflicht anderen gegenüber 50 Kant,
GMS, AA 04, 412. Kant, GMS, AA 04, 414. 52 Kant, KpV, AA 05, 60. 53 Vgl. Kant, GMS, AA 04, 393. 54 Vgl. Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft (= KU), AA 05, 208, 443. 55 Vgl. Kant, MS, AA 06, 463. 56 Immanuel Kant, Vorlesung Metaphysik der Sitten Vigilantius, AA 27, 521. 57 Kant, MS, AA 06, 239. 51 Vgl.
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überhaupt geben: „Denn ich kann mich gegen Andere nicht für verbunden erkennen, als nur so fern ich zugleich mich selbst verbinde: weil das Gesetz, kraft dessen ich mich für verbunden achte, in allen Fällen aus meiner eigenen praktischen Vernunft hervorgeht […].“58 Wie kann ich zu etwas, z.B. ein Recht des anderen anzuerkennen, absolut verpflichtet sein? Kant argumentiert, dass das nur möglich ist, wenn ich durch ein Gesetz meiner eigenen Vernunft gebunden bin. Diese Quelle des Moralgesetzes nennt Kant ‚Autonomie‘; er beschreibt sie als die Quelle, welche „die constitutiven Principien a priori enthält; […] die Vernunft, welche ohne Vermittlung irgend einer Lust, woher sie auch komme, praktisch ist […].“59 Wenn man den Grund, warum man z.B. die Rechte anderer achten soll, nicht in dieser Quelle sieht, so kommt Heteronomie dabei heraus: Wenn der Wille irgend worin anders als in der Tauglichkeit seiner Maximen zu seiner eigenen allgemeinen Gesetzgebung […] das Gesetz sucht, das ihn bestimmen soll, so kommt jederzeit Heteronomie heraus […]: ich soll etwas thun darum, weil ich etwas anderes will.60
Der Grund, warum Heteronomie keine Verpflichtung ergibt, ist, dass wir moralische Verbindlichkeit als absolut notwendig und strikt allgemein ansehen. Wir sollen etwas tun, ob wir es wollen oder nicht: Jedermann muß eingestehen, daß ein Gesetz, wenn es moralisch, d. i. als Grund einer Verbindlichkeit, gelten soll, absolute Nothwendigkeit bei sich führen müsse; daß das Gebot: du sollst nicht lügen, nicht etwa bloß für Menschen gelte, andere vernünftige Wesen sich aber daran nicht zu kehren hätten […].61
Wenn man aber die Quelle der Moral in etwas anderem sucht, z.B. in einem Gefühl, einem externen Wert oder Gesetzen, die von den Eltern oder der Gesellschaft stammen, so ist man durch ein Gefühl oder Interesse gebunden. Das Gesetz der Eltern z.B. ist nur dann bindend, wenn man nicht bestraft werden will: Denn wenn man sich nur einem Gesetz (welches es auch sei) unterworfen dachte: so mußte dieses irgend ein Interesse als Reiz oder Zwang bei sich führen […] man bekam niemals Pflicht, sondern Nothwendigkeit der Handlung aus einem gewissen Interesse heraus […] alsdann mußte der Imperativ jederzeit bedingt ausfallen und konnte zum moralischen Gebote gar nicht taugen.62
Gefühle sind relativ und kontingent: „Aus einem Gefühl einer Empfindung, die bey jedem Geschöpf verschieden sein kann, kann kein allgemein gültiges Gesetz für alle denkende Creaturen hergeleitet werden und so muß auch das moralische 58 Kant,
MS, AA 06, 417 f. KU, AA 05, 196 f. 60 Kant, GMS, AA 04, 441. 61 Kant, GMS, AA 04, 389. 62 Kant, GMS, AA 04, 432 f. 59 Kant,
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Princip beschaffen sein.“63 Gefühle können also keine universelle und absolute Verpflichtung ergeben. Um so etwas wie absolute Rechte zu haben, müssen sie demnach in der Autonomie des Handelnden begründet sein: „alle Heteronomie der Willkür gründet dagegen nicht allein gar keine Verbindlichkeit, sondern ist vielmehr […] der Sittlichkeit […] entgegen.“64 Kants Argument ist mit dem Verweis auf die Autonomie aber noch nicht vollständig. Denn bisher hat er nur bedingt argumentiert: Wenn es so etwas wie absolute Verpflichtung (die Rechte anderer anzuerkennen) gibt, dann muss die Forderung aus der eigenen Vernunft entspringen. Aber man muss auch zeigen, (i) dass es das Moralgesetz wirklich gibt, und (ii) dass man ihm Vorrang vor anderen Dingen geben soll. Kants Argumentation hat sich zwischen der Grundlegung und der zweiten Kritik leicht verändert. Hier geht es mir nicht um eine gründliche Interpretation von allen Kant-Stellen65, sondern um die Bewertung seines Hauptarguments, das er als letztes vorträgt und das am aussichtsreichsten zu sein scheint. (i) In einem ersten Schritt muss Kant zunächst zeigen, dass es das Moralgesetz überhaupt gibt. Warum soll man denken, dass uns unsere eigene Vernunft so ein Gesetz auferlegt? Der Kerngedanke von Kants Antwort ist uns schon oben begegnet. Das Gesetz soll absolut notwendig sein; Notwendigkeit ist aber ein Zeichen, dass etwas seinen Ursprung a priori in unseren rationalen Fähigkeiten hat, denn Erfahrung kann diese Notwendigkeit nicht liefern.66 Umgekehrt wissen wir von analytischen Urteilen, dass die Vernunft Notwendigkeit aufzeigen kann.67 Wenn man also zeigen kann, dass ein Element unseres Bewusstseins notwendig ist, so muss es einen apriorischen Ursprung haben. Das gilt gleichermaßen für die theoretische und praktische Philosophie: „Wir können uns reiner praktischer Gesetze bewußt werden, eben so wie wir uns reiner theoretischer Grundsätze bewußt sind, indem wir auf die Nothwendigkeit, womit sie uns die Vernunft vorschreibt, und auf Absonderung aller empirischen Bedingungen, dazu uns jene hinweiset, Acht haben.“68 In seinem Argument geht es Kant also zunächst darum zu zeigen, dass das Moralgesetz notwendig ist. Dazu verwendet er ein Gedankenexperiment, bei dem alle Neigungen für eine Handlungsalternative sprechen, die Vernunft aber die andere Alternative gebietet. In Kants Beispiel verlangt ein Fürst, dass man falsches Zeugnis gegen einen unschuldigen und rechtschaffenen Mann ablegt. 63
Immanuel Kant, Ethikvorlesung Mrongovius II, AA 29, 625. KpV, AA 05, 33. 65 Für einen ersten Versuch siehe Oliver Sensen, „Die Begründung des Kategorischen Imperativs“, in: Dieter Schönecker (Hg.), Kants Begründung von Freiheit und Moral in Grundlegung III, Paderborn 2015, 233–258 (= Kategorischer Imperativ). 66 Vgl. noch einmal Kant, KrV, B3 f. 67 Vgl. Immanuel Kant, Über eine Entdeckung, nach der alle neue Kritik der reinen Vernunft durch eine ältere entbehrlich gemacht werden soll, AA 08, 228 f. 68 Kant, KpV, AA 05, 30. 64 Kant,
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Da es sich nicht um die Analyse eines wirklichen Falls, sondern um ein Gedankenexperiment handelt, kann man das Beispiel so konstruieren, dass keine Neigung für die Verweigerung der Falschaussage spricht. Nehmen wir an, dass man für die Falschaussage belohnt wird und bei Verweigerung mit dem eigenen Leben bestraft wird. Man kann zudem annehmen, dass man nicht sonderlich moralisch ist, nicht an eine Belohnung nach dem Tod glaubt usw. Dennoch behaupten wir, dass die Falschaussage ungerecht und moralisch falsch ist. Der Mann ist unschuldig. Dadurch dass das Moralgesetz notwendig ist – es drängt sich auf, selbst wenn es gegen alle Neigungen ist –, kann man also schließen, dass es seinen Ursprung nicht in den Neigungen, sondern a priori in der Vernunft haben muss. Nur so kann es Notwendigkeit geben. (In der Galgenpassage geht Kants Argument noch weiter, aber dort geht es ihm darum, die Freiheit aufzuweisen.) (ii) Selbst wenn man Kants Antwort auf die erste Frage zustimmt, bleibt noch eine weitere Frage: „Warum aber soll ich mich denn diesem Princip unterwerfen“69? Bisher hat Kant nur argumentiert, dass es zwei Einflüsse auf den Willen gibt. Wir sind durch Neigungen beeinflusst, können aber auch durch das Moralgesetz bestimmt werden: „der Wille ist mitten inne zwischen seinem Princip a priori, welches formell ist, und zwischen seiner Triebfeder a posteriori, welche materiell ist, gleichsam auf einem Scheidewege […].“70 Wenn das stimmt und es das Moralgesetz wirklich gibt, so bleibt noch die Frage, warum ich nicht einfach den Neigungen folgen, sondern dem Moralgesetz Vorzug geben soll. Wenn man bei dem vorherigen Gedankenexperiment des Galgens bleibt, so gibt es Fälle, in denen die moralische Handlung den eigenen Neigungen großen Abbruch tun würde. Vielleicht verliert man dadurch sogar sein Leben. Warum soll man denn auch dann moralisch sein? Kants Antwort ist, dass die Vernunft die moralische Forderung als wichtiger ansieht, da diese „Gesetze ihn unmittelbar und kategorisch angehen“71. Die Neigungen sind relativ und kontingent.72 Selbst in der eigenen Person wechseln sie ständig. Was man jetzt sehr stark will, kann im nächsten Moment schon gleichgültig sein. Dagegen gilt das Vernunftgebot immer und fordert unbedingt. Wenn man das Gebot gegen die Neigungen abwägen könnte, so würde die Vernunft die Neigungen unterordnen. Kant drückt das auch so aus, dass die Vernunft das „eigentliche Selbst“73 sei. Das sollte man aber nicht so verstehen, dass die Vernunft von sich aus einen höheren Wert besitzt oder die Neigungen nicht zum Menschen gehören. Wie wir oben gesehen haben, geht Kant nicht von einem Wert aus, um die Moral zu fundieren, und er betrachtet die Neigungen als an sich 69 Kant,
GMS, AA 04, 449. GMS, AA 04, 400. 71 Kant, GMS, AA 04, 457. 72 Vgl. GMS, AA 04, 442; KpV, AA 05, 26. 73 Kant, GMS, AA 04, 457, 461. 70 Kant,
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gut.74 Es geht ihm dagegen nur darum, dass die Vernunft die Neigungen als kontingent und weniger wichtig einstuft. Das Gesetz interessiere uns, „weil es für uns als Menschen gilt, da es aus unserem Willen als Intelligenz, mithin aus unserem eigentlichen Selbst, entsprungen ist: was aber zur bloßen Erscheinung gehört, wird von der Vernunft notwendig der Beschaffenheit der Sache an sich untergeordnet.“75
Abschnitt 6: Die Aussichten der apriorischen Begründung Wie plausibel ist Kants Ansatz? Dass es das Kantische Moralgesetz tatsächlich gibt (i), sollte eigentlich nicht weiter kontrovers sein. Es gibt sogar empirische Befunde, die die Existenz eines solchen Gesetzes nahelegen. Zum einen hat jede Gesellschaft so etwas wie Normen der Fairness76, und Kants Kategorischer Imperativ scheint gerade das zu gebieten. Kant erläutert den Inhalt des Gesetzes so, dass man – wie beim Schwarzfahren – keine Ausnahmen zu Regeln machen soll, die alle anderen beachten sollen.77 Zum anderen scheinen auch Kants Grundannahmen – dass Moral allgemein und notwendig ist – angeboren zu sein. So unterscheiden schon Kleinkinder im vierten Jahr zwischen moralischen Normen, die allgemein gelten und verallgemeinerbar sind, und bloßen Konventionen.78 Dazu scheint auch ganz allgemein die Fähigkeit, Normen zu erlernen und um ihrer selbst willen zu befolgen, angeboren zu sein.79 Das beinhaltet auch spezifischere Inhalte, wie z.B. ein Tötungsverbot oder Gebote der Hilfeleistung. Es gibt also empirische Anzeichen, dass es so etwas wie einen Kategorischen Imperativ – ein Gebot der Fairness, das Verallgemeinerbarkeit und die Befolgung von unbedingten Geboten um ihrer selbst willen fordert und zu Verboten der Tötung und Geboten der Hilfeleistung führt – tatsächlich gibt. Die kontroversere Frage ist, ob dieses Gebot aus der reinen Vernunft entstammt oder nicht vielmehr erlernt wurde. Wenn man der Ansicht ist, dass es beim Menschen angeboren ist, wie einige dieser Studien nahelegen, so könnte es aber noch immer sein, dass das Gebot in der Geschichte der menschlichen Gattung durch einen Evolutionsprozess erlernt wurde und nur für das heutige Individuum angeboren ist. So scheinen Studien zu belegen, dass nicht nur Schimpan74 Vgl. Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, AA 06, 58. 75 Kant, GMS, AA 06, 461; für eine ausführlichere Darstellung des Gedankens siehe Sensen, Kategorischer Imperativ. 76 Vgl. Stephen Darwall, T he Second-Person Standpoint, Cambridge/MA 2006, 175, 173. 77 Vgl. Kant, GMS, AA 04, 424. 78 Vgl. Shaun Nichols, Sentimental Rules, Oxford 2004, 5 f. 79 Siehe Chandra Sripada/Stephen Stich, „A Framework for the Psychology of Norms“, in: Peter Carruthers/Stephen Laurence/Stephen Stich (Hgg.), The Innate Mind, Bd. 2, Culture and Cognition, Oxford 2007, 280–302.
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sen ein Gebot der Fairness kennen, sondern z.B. auch Fledermäuse.80 Wenn das Gebot also auch bei Tieren weit verbreitet ist und wir nicht allen diesen Tieren im kantischen Sinn Vernunft zuschreiben wollen, so entstammt dieses Gebot eventuell nicht der Vernunft. Allerdings sind die Ergebnisse nicht eindeutig, denn es gibt auch Befunde, dass Tiere sich nur bei Ungerechtigkeiten sich selber gegenüber beschweren und nicht bei Ungerechtigkeiten, die Dritten gegenüber verübt werden.81 Wenn das stimmt, dann kommt mit dem Menschen etwas Neues hinzu. Man erkennt und kümmert sich unparteilich um Fairness. Wenn es erst mit dem Menschen auftaucht, so legt das nahe, dass es an etwas liegt, was dem Menschen eigen ist: seiner Vernunft. Das Bisherige belegt natürlich nicht, dass Kant Recht hat. Es könnte sein, dass das Gebot prudentiell gewonnen wurde, wie ich es oben in Abschnitt 3 dargestellt hatte, und im Verlauf der Evolution internalisiert wurde. Mitunter war es einfach zum Überleben vorteilhaft, wenn sich Menschen auch für die Fairness Unbeteiligter einsetzten. Diese Frage muss hier offen bleiben. Es bedarf empirischer Studien, die untersuchen, ob es den Unterschied zwischen Menschen und Tieren wirklich gibt, und es bedarf philosophischer Arbeit, was eventuelle Unterschiede bedeuten. Nehmen wir z.B. an, dass sich herausstellt, dass sich Tiere für ihre Kinder einsetzen, aber nicht für entfernter verwandte Artgenossen. Wäre das ein Beispiel von unparteiischer Anteilnahme oder doch nur Eigeninteresse? Aber ich habe zumindest so viel dargelegt, dass Kants Position nicht unplausibel ist, sondern als ein sinnvoller Kandidat für die Erklärung der Menschenrechte betrachtet werden muss. Die schwierigere Frage, um Kants Position zu bewerten, ist die zweite (ii), warum man dem Moralgesetz folgen solle. Nehmen wir an, dass meine Vernunft den Kategorischen Imperativ unbedingt gebietet. Woher weiß ich, dass das ein sinnvolles Gebot ist? Aus welchem Grund soll ich dem Gesetz auch dann Folge leisten, wenn es meinem Glück Abbruch tut? Kant sieht in dieser Frage die Grenze der praktischen Philosophie: Es ist aber auch eine ebenso wesentliche Einschränkung eben derselben Vernunft, dass sie weder die Notwendigkeit dessen, was da ist, oder was geschieht, noch dessen, was geschehen soll, einsehen kann, wenn nicht eine Bedingung, unter der es da ist, oder geschieht, oder geschehen soll, zum Grunde gelegt wird.82
80
Vgl. Jesse Prinz, The Emotional Construction of Morals, Oxford 2008, 249–252. Vgl. David Wilson/Edward Wilson, „Rethinking the Theoretical Foundation of Sociobiology“, The Quarterly Review of Biology 82 (2007), 327–348 sowie Samuel Bowles/Herbert Gintis, „The Evolutionary Basis of Collective Action“, in: Donald Wittman/Barry Weingast (Hgg.), The Oxford Handbook of Political Economy, Oxford 2006, 951–967. 82 Kant, GMS, AA 04, 463.
81
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Wir wollen einen Grund, warum wir moralisch handeln sollen (z.B. dass es das Glück befördert), da wir immer nach einem Grund fragen. Aber den kann es nicht geben, da die Moral nach unserer eigenen Vorstellung ja gerade unbedingt sein soll. Da wir auf der einen Seite einen Grund für moralisches Verhalten haben wollen, scheint uns die prudentielle Begründung der Menschenrechte sehr plausibel. Die Einhaltung der Menschenrechte verspricht Frieden und Freiheit – wenn eine ausreichende Anzahl von Menschen mitmachen. Diese letzte Einschränkung, dass genügend Menschen Rechte achten müssen, damit man Frieden und Freiheit genießen kann, stärkt aber wieder Kants Position. Denn die allgemeine Befolgung der Menschenrechte scheint nur dann gesichert, wenn der einzelne Mensch nicht vor jeder Tat immer fragt, ob ihm diese Einzeltat Frieden und Freiheit bringt, sondern wenn Menschen moralische Gebote aus Pflicht um ihrer selbst willen befolgen.83 Aus diesen Gründen scheint mir eine Vernunftbegründung der Menschenrechte dann am aussichtsreichsten zu sein, wenn man die kantische Unbedingtheit mit dem Sinn der prudentiellen Begründung verbindet. Aus der Perspektive des Handelnden muss die Moral unbedingt sein. Vor der Tat darf der Einzelne nicht nach dem Nutzen der Handlung fragen, oder er kommt vielleicht zu dem Urteil, dass Mord und Lügen dieses Mal nützlicher wären. Aber in der unbeteiligten philosophischen Reflexion auf den allgemeinen Sinn der Moral gibt die prudentielle Begründung eine Antwort, die die Moral nicht nur als absolute Forderung, sondern auch als sinnvoll darstellt: Moral ist auch nützlich. Keine der beiden Begründungen, so scheint es, kann für sich alleine befriedigen. Aber das schließt nicht aus, dass sie aus diesen unterschiedlichen Perspektiven zusammen fungieren können. Die Moral ist nicht nur nützlich, um Frieden zu sichern, sondern sie ist auch unmittelbar fordernd. Sie fordert aber nicht einfach blind, sondern sie hat einen konkreten Bezug zu der Natur des Menschen und seiner Geschichte. Nur weil etwas nützlich ist, heißt es noch nicht, dass es auch moralisch verpflichtend ist: Mitunter können Vorbehalte und Abschottung nützlich sein. Nur weil es etwas gibt, heißt es noch nicht, dass es auch sinnvoll ist. Eventuell haben wir angeborene Phobien, die nicht mehr sinnvoll sind. Zusammen können die kantische und die prudentielle Begründung beiden Anliegen gerecht werden und sich gegenseitig stärken. Das, so scheint mir, sind die besten Aussichten für eine vernunftrechtliche Begründung der Menschenrechte.84
83
Vgl. Richard Joyce, The Myth of Morality, Cambridge 2002, 138–148. Ich bedanke mich bei den beiden Herausgebern sowie den Teilnehmern der Konferenz in Münster für hilfreiche Kommentare. 84
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Die Bedeutung von Kants Würdeverständnis für die Begründung der Menschenrechte Margit Wasmaier-Sailer 1. Kants Würdebegriff – kein Fundament für die Menschenrechte? Die Generalversammlung der Vereinten Nationen begründete die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948 damit, dass „die Anerkennung der angeborenen Würde und der gleichen und unveräußerlichen Rechte aller Mitglieder der Gemeinschaft der Menschen die Grundlage von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden in der Welt bildet“ (Präambel). In gleicher Weise beruft sich auch das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949 auf die unantastbare Würde des Menschen als Grund von „unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten“ (Art. 1 Abs. 2). Beide Dokumente stehen ein für den Schutz der Menschenrechte, und beide Dokumente tun dies im Angesicht der Würde des Menschen. Das in diesen Dokumenten zugrundegelegte Würdekonzept als der normative Kern der Menschenrechtskataloge wurde von vielen Gelehrten auf Immanuel Kant zurückgeführt.1 Eben dieser Rezeptionszusammenhang zwischen dem zeitgenössischen Würdebegriff auf der einen Seite und Kants Ethik auf der anderen Seite wurde in jüngster Zeit von unterschiedlichen Standpunkten aus problematisiert: Kants Würdebegriff scheint als normatives Fundament der Menschenrechte nicht oder zumindest nicht uneingeschränkt geeignet zu sein. Zwei Einwände gegen eine nicht näher qualifizierte Inanspruchnahme von Kants Würdebegriff für die Begründung der Menschenrechte möchte ich im Folgenden näher beleuchten. Der eine Einwand bezieht sich auf das „Exklusionspotential“2 des kantischen Würdekonzepts: Dieser von Thomas Gutmann vorgebrachte Einwand stützt sich auf eine Kant-Interpretation, derzufolge Kant nur Personen Würde zuschreibt, gleichzeitig aber nicht alle Menschen als Personen betrachtet.3 Dass alle Men
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Vgl. Oliver Sensen, Kant on Human Dignity, Berlin/Boston 2011 (= Kant on Human Dignity), Fußnote 161. 2 T homas Gutmann, „Würde und Autonomie. Überlegungen zur Kantischen Tradition“, Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik 15 (2010), 3–34 (= Würde und Autonomie), 6. 3 Vgl. Gutmann, Würde und Autonomie, 6. Nach Gutmann teilt die Mehrzahl der Interpreten dieses Verständnis der kantischen Moralphilosophie. Vgl. Gutmann, Würde und Autonomie, 9.
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schen unterschiedslos zu achten sind, scheint von diesem Würdekonzept her nicht gewährleistet zu sein. Der andere Einwand stellt in Frage, dass Kants Würdebegriff das Begründungspotential hat, das die Verfasser der einschlägigen Menschenrechtsdokumente und auch viele Kant-Exegeten in ihm sehen. Dieser insbesondere von Oliver Sensen erhobene Einwand zielt auf die Unvereinbarkeit einer wertethischen Auffassung der menschlichen Würde, wie sie in den zitierten Dokumenten begegnet, mit den erkenntnistheoretischen und moralphilosophischen Voraussetzungen von Kants Ethik. Sensen behauptet, dass dem Begriff der Würde bei Kant kein legitimatorisches Gewicht zukomme: „As such dignity is not a concept that carries any justificatory weight.“4 Mein Aufsatz stellt den Versuch dar, Kants Würdeverständnis gegen diese beiden Einwände für die Begründung der Menschenrechte zu rehabilitieren. Im Hinblick auf den ersten Einwand ist für die Universalität des kantischen Würdebegriffs zu argumentieren, im Hinblick auf den zweiten Einwand für die Vereinbarkeit materialer Annahmen mit dem kantischen Primat des Rechten vor dem Guten. Dass die kantische Ethik trotz – vielleicht auch gerade in – ihrer säkularen Gestalt in der Tradition der christlichen Lehre von der Gottebenbildlichkeit steht, vermag meines Erachtens beide Einwände zu beantworten: Das in dieser Tradition stehende Würdekonzept ist eine Sinnkategorie von universeller Reichweite. Als Sinnkategorie steht es nicht in Konkurrenz zum Formalismus von Kants Ethik, sondern erschließt überhaupt erst die Geltung des moralischen Gesetzes. Anders gesagt: Das moralische Gesetz gilt unabhängig von der Vorstellung menschlicher Würde, aber diese Vorstellung vermag den tieferen Sinn des Gesetzes zu erhellen. Als Sinnkategorie von universeller Reichweite ist es nicht auf Menschen mit bestimmten Eigenschaften beschränkt, sondern auf das Wesen Mensch überhaupt bezogen. Zunächst aber sollen die beiden Einwände nacheinander skizziert werden.
2. Einwand I: Das Exklusionspotential des kantischen Würdebegriffs Gutmann gehört zu denjenigen, die Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes in der Tradition des kantischen Denkens sehen.5 Er sieht in der Selbstzweckformel des Kategorischen Imperativs „das Urbild des Prinzips des Respekts für Personen“6 und „den gemeinsamen Kerngedanken der gegenwärtigen Kantischen Spielarten der Moral- und Rechtsphilosophie“7. Das Würdekonzept des deutschen oder auch 4 Sensen,
Kant on Human Dignity, 173. Vgl. Gutmann, Würde und Autonomie, 5 f. 6 Gutmann, Würde und Autonomie, 7. 7 Gutmann, Würde und Autonomie, 7. 5
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internationalen Rechts geht für Gutmann also im Wesentlichen auf die Selbstzweckformel des Kategorischen Imperativs zurück. In seinem Aufsatz Würde und Autonomie. Überlegungen zur Kantischen Tradition beleuchtet er das, was er für die „Schattenseite dieses Rezeptionszusammenhangs“8 hält: „Ein Blick auf die beiden Basistexte seiner Moralphilosophie, die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten von 1785 und die drei Jahre später erschienene Kritik der praktischen Vernunft, belegt, dass für Kant keineswegs alle Menschen Personen sind und als solche Anspruch auf Achtung besitzen.“9 Nach Gutmann reserviert Kant den Würdebegriff für Personen – unter Personen aber verstehe er Menschen, die sich „durch freie und rationale Handlungsfähigkeit“10 auszeichneten. Sollte es zutreffen, dass Kant nur Personen Würde zuspricht und nicht alle Menschen für Personen hält, hätte dies katastrophale Konsequenzen: Die kantische Moral würde einen erheblichen Teil der Menschheit aus der moralischen Gemeinschaft und damit aus der durch Rechte und Pflichten bestimmten Gemeinschaft ausschließen: „Kleinkinder etwa, schwer geistig behinderte, demente oder gar dauerhaft komatöse Menschen“11. Wie Gutmann zu dem höchst ambivalenten Ergebnis kommt, dass Kants Würdebegriff die Basiskategorie des deutschen Grundgesetzes und gleichzeitig in fataler Weise diskriminierend ist, soll im Folgenden kurz dargestellt werden. Gutmanns Deutung stützt sich auf die Stellen, in denen Kant die Vernunft und nur sie allein mit dem Prädikat der Würde auszeichnet: Der Mensch im System der Natur (homo phaenomenon, animal rationale) ist ein Wesen von geringer Bedeutung und hat mit den übrigen Thieren, als Erzeugnissen des Bodens, einen gemeinen Werth (pretium vulgare). […] Allein der Mensch, als Person betrachtet, d.i. als Subject einer moralisch-praktischen Vernunft, ist über allen Preis erhaben; denn als ein solcher (homo noumenon) ist er nicht blos als Mittel zu anderer ihren, ja selbst seinen eigenen Zwecken, sondern als Zweck an sich selbst zu schätzen, d.i. er besitzt eine Würde (einen absoluten innern Werth), wodurch er allen andern vernünftigen Weltwesen Achtung für ihn abnöthigt, sich mit jedem Anderen dieser Art messen und auf den Fuß der Gleichheit schätzen kann.12
Würde kommt nach Kant dem Menschen zu, insofern er vernunftbegabt und damit zur Sittlichkeit fähig ist. Entsprechend heißt es an einer anderen Stelle: „Also ist Sittlichkeit und die Menschheit, so fern sie derselben fähig ist, dasje-
8 Gutmann,
Würde und Autonomie, 6. Würde und Autonomie, 6. 10 Gutmann, Würde und Autonomie, 8. 11 Gutmann, Würde und Autonomie, 13. 12 Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten (= MS), AA 06, 434.22–435.05. Kants Werke werden hier und im Folgenden nach der von der Preußischen Akademie der Wissenschaften herausgegebenen Akademie-Textausgabe von Kants gesammelten Schriften zitiert, Berlin 1900 ff., Nachdruck Berlin 1968. 9 Gutmann,
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nige, was allein Würde hat.“13 Weiter heißt es: „Autonomie ist also der Grund der Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur.“14 Liest man diese und vergleichbare Stellen unter der Annahme, dass Kant die Menschheit nach ihrer Vernunftbegabung kategorisiert, dann scheint nur der Teil der Menschheit Würde zu besitzen, der vernunftbegabt ist. Dass Kant Vernunftbegabung und Personalität gleichsetzt15, legt dann die Deutung nahe, dass Personen ein Teil der Menschheit sind – nämlich der vernunftbegabte Teil. Insofern Kant unter einer Person dasjenige Subjekt versteht, „dessen Handlungen einer Zurechnung fähig sind“16, scheint zudem die faktische Zurechnungsfähigkeit eine Voraussetzung der menschlichen Würde zu sein. Vor diesem Hintergrund gelangt Gutmann zu folgender Interpretation von Kants Würdebegriff: „Würde liegt nach Kant in der aktuellen Fähigkeit zur vernünftigen (moralischen) Selbstbestimmung. Sie, und nur sie, definiert den Status ‚Person‘ bzw. ‚moralisches Subjekt‘, und über diese Fähigkeit verfügen nicht alle Menschen.“17 Der faktische Vernunftbesitz wird unter diesen Voraussetzungen zum Kriterium der Würde und ist somit ausschlaggebend für die Zugehörigkeit zur moralischen Gemeinschaft der Menschen. Dass Kant den Grund der menschlichen Würde in der Fähigkeit zur Selbstgesetzgebung sieht, wird auch von anderen Kant-Exegeten exklusivistisch interpretiert. Dieter Schönecker etwa gibt zu bedenken, dass „Autonomie durchaus in Graden, Teilen oder sogar nur potentiell auftreten kann (man denke an Embryonen, Neugeborene oder schwer geistig Behinderte)“18. Eine kantische Lösung dieses Problems werde nicht einfach sein.19 Dieser Hinweis lässt erkennen, dass Schönecker davon ausgeht, dass Kant eine binäre Einteilung der Menschheit in „vernunftbegabt“ und „nicht vernunftbegabt“ vornimmt und mit dieser Aufteilung eine Statuszuordnung verknüpft. Auch Martha Nussbaum hängt dieser Deutung an, wenn sie gegen Vertrags theorien in der kantischen Tradition einwendet: „Kantianische Bürger könnten ex post gute Gründe dafür finden, Menschen mit Beeinträchtigungen Achtung und Inklusion zu gewähren; das Problem ist, daß der vertragstheoretische Rahmen ex ante im Urzustand ein solches Vorgehen verhindert.“20 Kants Begriff der Person stehe in einer langen, direkt auf die griechischen und römischen Stoiker 13
Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (= GMS), AA 04, 435.07–09. GMS, AA 04, 436.06–07. 15 Vgl. Kant, GMS, AA 04, 428.21–22. 16 Kant, MS, AA 06, 223.24–25. 17 Gutmann, Würde und Autonomie, 13. 18 Dieter Schönecker/Allen W. Wood, Kants „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“. Ein einführender Kommentar, Paderborn/München/Wien/Zürich, 3. Aufl. 2007 (= Kants Grundlegung), 149. 19 Vgl. Schönecker, Kants Grundlegung, 149. 20 Martha C. Nussbaum, Die Grenzen der Gerechtigkeit. Behinderung, Nationalität und Spezieszugehörigkeit, übers. von Robin Celikates und Eva Engels, Frankfurt am Main 2010 (= Die Grenzen der Gerechtigkeit), 183. 14 Kant,
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zurückgehenden Tradition, in der Personalität mit Vernunft identifiziert werde, und zu dieser zähle ganz zentral die Befähigung zu moralischen Urteilen.21 Wenn nur Menschen eine Würde zuerkannt wird, die aktuell in der Lage sind, moralische Urteile zu fällen, und wenn nur ihnen wohldefinierte Rechte zugestanden werden, dann ist dies in der Tat ein Befund, mit dem eine Begründung der Menschenrechte aus der kantischen Tradition heraus schwer wird umgehen können. Mit Gutmann und Nussbaum glaube ich, dass die im 20. Jahrhundert ausgearbeiteten Gesellschaftstheorien kantischen Zuschnitts tatsächlich in diese Sackgasse geraten sind: Sie machen die Vernunftfähigkeit zum Kriterium der Partizipation an der gesellschaftlichen Ordnung, schließen von dieser gesellschaftlichen Ordnung gleichzeitig aber all diejenigen Menschen aus, die nicht vollständig im Besitz der Vernunft sind.22 Auch wenn ich glaube, dass diese Dia gnose für die Vertragstheorie von Rawls und die Diskurstheorie von Habermas zutrifft, bin ich der Auffassung, dass die eben skizzierte Kant-Interpretation, die von Rawls und Habermas ja geteilt wird, bedeutende Argumente gegen sich hat: Kants Fokus auf die Vernunft wird im Rahmen dieser Interpretation als Ausschlusskriterium missverstanden.
3. Einwand II: Die begründungstheoretische Irrelevanz des kantischen Würdebegriffs Während sich der erste Einwand dagegen richtet, den kantischen Würdebegriff eins zu eins für die Begründung der Menschenrechte in Anspruch zu nehmen23, richtet sich der zweite Einwand dagegen, diesen überhaupt für die Begründung 21
Vgl. Nussbaum, Die Grenzen der Gerechtigkeit, 186. Gutmann etwa zeigt auf, „dass sich die ambivalente Struktur der Kantischen Ethik – Begründung einer außerordentlich starken und bewehrten (und im Übrigen egalitären) moralischen Position hinreichend vernünftiger Menschen einerseits, Ausschluss nichtauto nomer Menschen aus der moralischen Welt im engeren Sinn andererseits – auch in den wichtigsten Weiterentwicklungen der Kantischen Ethik wiederfindet.“ (Gutmann, Würde und Autonomie, 14) Er zeigt dies für die von Jürgen Habermas entwickelte Diskursethik, die Vertragstheorie von John Rawls und den ethischen Kontraktualismus Thomas Scanlons. Vgl. Gutmann, Würde und Autonomie, 14–16. In ähnlicher Weise diagnostiziert Nussbaum der Vertragstheorie von Rawls, das Thema körperlicher oder geistiger Behinderungen nicht hinreichend integrieren zu können: „Rawls’ Vertragsparteien werden durchweg als rationale Erwachsene dargestellt, die an nähernd gleiche Bedürfnisse haben und zu ‚normaler‘ Kooperation und Produktivität in der Lage sind. […] Aufgrund dieser Konzeption der Person spart Rawls aus der vorgestellten grundlegenden politischen Entscheidungssituation die menschliche Erfahrung schwerer Formen körperlicher oder geistiger sowie zeitweiliger oder dauerhafter Bedürftigkeit und Angewiesensein aus.“ Nussbaum, Die Grenzen der Gerechtigkeit, 157 f. 23 Gutmann schlägt vor, den kantischen Würdebegriff im Rahmen von Kants Rechtslehre zu rekonstruieren. Insofern Kant in der Rechtslehre von einem angeborenen – und 22
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der Menschenrechte in Anspruch zu nehmen. Ausgehend von der Beobachtung, dass der Begriff der Würde ausgerechnet in den Passagen von Kants Werk, in denen es um die Begründung der Moral gehe, keine Rolle spiele24, gelangt Oliver Sensen in seiner Studie Kant on Human Dignity zu dem Ergebnis, dass dieser in Kants Ethik – entgegen einer weit verbreiteten Auffassung – keine legitimatorische Funktion erfülle.25 In einer breit angelegten Argumentation führt er den Nachweis, dass Kant nicht als der Gewährsmann des zeitgenössischen Würdeverständnisses gelten könne: The question of the significance of Kant’s conception of dignity arises because today there are high hopes placed on the conception of human dignity. Dignity is an important part of the justification of human rights in United Nations documents, and it is the cornerstone of the constitution for many states […]. For a justification of this idea people mostly turn to Kant. In contrast, I have argued that dignity is a secondary concept in Kant’s moral philosophy. He uses the term to express the idea that morality is more important than other forms of behavior. But by itself it does not ground any moral requirement.26
Die Menschenrechtsbegründung der Vereinten Nationen beruht nach Sensen auf einem wertethischen Würdebegriff: „In this context human dignity is often assumed to be an inherent value all human beings possess; as such, it is thought to be a value that grounds the requirement to respect other human beings.“27 Die Forderung, andere Menschen zu achten und ihre Rechte zu respektieren, werde mit der Würde des Menschen als einem allen Menschen innewohnenden absoluten Wert begründet.28 Eben dieses wertethische Würdeverständnis sei mit Kants Ansatz jedoch nicht vereinbar: Es sei nicht vereinbar mit dessen moralphilosophischer These vom Primat des Rechten vor dem Guten, und es sei nicht vereinbar mit dessen erkenntnistheoretischer These, dass wir eine über die sinnliche Wahrnehmung hinausgehende Realität, wie es die Würde des Menschen sei, gar nicht erkennen könnten.
damit allen Menschen zukommenden – Freiheitsrecht ausgehe, und insofern das Recht als Schutz äußerer Handlungsfreiheit weitaus geringere Anforderungen an die Rationalität der in ihrer Freiheit zu schützenden Akteure stelle, sei Kants Rechtslehre im Vergleich zu dessen Morallehre – der Morallehre im engeren Sinn – nämlich wesentlich inklusiver. Vgl. Gutmann, Würde und Autonomie, 27–29. 24 „It is striking that dignity plays no role where Kant addresses the justification of morality, e.g., in the Third Section of the Groundwork, in the derivation of the Formula of Humanity (GMS 4:427–429), in the second Critique, in summaries of his position in the introduction to the Metaphysics of Morals, in his essay ‚Theory and Practice‘, nor in his Lectures on Ethics.“ Sensen, Kant on Human Dignity, 144. 25 Vgl. Sensen, Kant on Human Dignity, 144. 26 Sensen, Kant on Human Dignity, 202. 27 Sensen, Kant on Human Dignity, 1. 28 „Today dignity is widely conceived of as an inherent value property on the basis of which one can claim respect from others: One is justified in making this claim because of one’s intrinsic and objective preciousness.“ Sensen, Kant on Human Dignity, 148 f.
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Sensen beruft sich vor allem auf das zweite Hauptstück der „Analytik der reinen praktischen Vernunft“.29 Kant argumentiert dort für die These, dass „der Begriff des Guten und Bösen nicht vor dem moralischen Gesetze […], sondern nur […] nach demselben und durch dasselbe bestimmt werden müsse.“30 Werde der Grund des Gesetzes nämlich in einem Gegenstand des Willens als einem von uns begehrten Guten – sei es in der Glückseligkeit, in der Vollkommenheit, im moralischen Gefühl oder im Willen Gottes – gesucht, so mache man die Moral vom subjektiven Gefühl der Lust und damit von empirischen Bedingungen abhängig. Nie aber könne aus einem vom Willen begehrten Objekt und damit aus einem dem Willen äußerlichen Grund ein a priori allgemein gebietendes moralisches Gesetz entspringen31: „alle Heteronomie der Willkür gründet […] nicht allein gar keine Verbindlichkeit, sondern ist vielmehr dem Princip derselben und der Sittlichkeit des Willens entgegen.“32 Sensens Interpretation zufolge begründet Kant die moralphilosophische These vom Primat des Rechten vor dem Guten mit der erkenntnistheoretischen These, dass ein Gefühl – als einzig möglicher Zugang zum Guten33 – aufgrund seiner Zugehörigkeit zum Bereich des Sinnlichen ein allgemein gültiges Gesetz nie erfassen könne. Wenn aber kein von uns als das Gute identifiziertes Objekt des Willens der Grund des moralischen Gesetzes sein könne, dann auch nicht eine metaphysische Werteigenschaft, wie es die Würde des Menschen sei:
Kant rules out any possible conception of the good as being prior to and independent of the moral law because it would yield heteronomy (cf. KpV 5:64, GMS 4:441). The idea is not that there is a value ‚autonomy‘ that would be violated. Kant’s point is rather that even if there were a divine command or – I may add – a metaphysical value property, one still would have to give an account of how one can discern this value, and why one should be motivated to follow it. Kant’s answer is that it would have to be a feeling of pleasure by which one discerns the value and by which one would be motivated to follow it. Pleasure, however, is contingent and subjective, and cannot ground a necessary and universal moral law (cf. KpV 5:64).34
Wenn Kant jegliches Objekt des Willens – und damit auch Werteigenschaften wie die Würde des Menschen – als Grund des allgemeingültigen moralischen Gesetzes ausschließt, dann lässt sich die Argumentation, dass die Verpflichtung 29 Sensen,
Kant on Human Dignity, 18–25. Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft (= KpV), AA 05, 62.37–63.04. 31 Vgl. Kant, KpV, AA 05, 64.06–65.04. 32 Kant, KpV, AA 05, 33.09–11. 33 „I take it that Kant would make the following point: If the good is – by assumption – not a natural property that can be detected by one of the five senses (e.g., if value is conceived of as a non-natural property one cannot see, feel, hear, touch or smell), then the only remaining avenue for sensibility to receive the object is a feeling of pleasure.“ Sensen, Kant on Human Dignity, 19. 34 Sensen, Kant on Human Dignity, 18. Vgl. ebd., 25. 30
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zur Achtung jedes Menschen in der menschlichen Würde gründet, nicht auf Kant zurückführen: „The common view in the literature, according to which Kant bases the requirement to respect others on an absolute inner value they possess, cannot be literally true. Kant does not seem to have a conception of absolute value that is prior to or independent of the moral law.“35 Nun sei die Pflicht, jeden Menschen zu respektieren, ein Grundzug von Kants Ethik: „It is c entral to Kant’s moral philosophy that one should always respect all other human beings.“36 Der Grund hierfür liege für Kant jedoch nicht im Wert des Menschen, sondern darin, dass die Vernunft es in Gestalt des Kategorischen Imperativs von uns fordere: „The imperative does not have to be grounded in a normative r eality (e.g., a value). Rather it is the first normative reality.“37 Eine Begründung der Menschenrechte müsste nach Sensens Interpretation also vom Kategorischen Imperativ ausgehen. Es bleibt nach der Bedeutung von Kants Würdebegriff im Rahmen dieser Interpretation zu fragen. Sensen schließt nicht nur aus, dass dem Würdebegriff in Kants Ethik eine Begründungsfunktion zukommt; er schließt auch aus, dass dieser bei Kant überhaupt ein werttheoretisches Profil hat. Unter der Voraussetzung, dass Kants Ethik grundsätzlich nicht im Sinne einer Werttheorie aufzufassen ist, wäre es in der Tat inkonsistent, wenn Kant einzelne Konzepte wie das der Würde dann doch werttheoretisch verstehen würde. Nach Sensen ist Kant ein Vertreter des auf Cicero zurückgehenden traditionellen Würdekonzepts, das er folgendermaßen umschreibt:
Human dignity, in the traditional conception, is in the first place the answer to the theoretical question of the place of human beings in the universe. According to this paradigm, human beings are distinguished from the rest of nature in virtue of certain capacities they have, particularly reason and freedom. The term ‘dignity’ is used to express this special position or elevation. Only in a further step does human dignity gain moral relevance: Through the introduction of a further moral premise, one is said to have a duty to realize fully one’s initial dignity. This second stage I shall therefore call ‘realized dignity’, and the first stage ‘initial dignity’. The traditional paradigm then uses a two-fold conception of dignity.38
Nach dem traditionellen Paradigma besteht die Würde des Menschen darin, dass er aufgrund seiner Vernunftbegabung und Moralfähigkeit über die gesamte Natur erhaben ist. Laut Sensen hat diese Aussage zur Stellung des Menschen im Universum für sich genommen keine moralischen Implikationen. Moralisch bedeutsam werde dieser Würdebegriff erst durch die weitergehende Aussage, dass in der Befähigung des Menschen auch eine Verpflichtung liege: die Ver35 Sensen,
Kant on Human Dignity, 51. Kant on Human Dignity, 11. 37 Sensen, Kant on Human Dignity, 117. 38 Sensen, Kant on Human Dignity, 153. 36 Sensen,
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pflichtung, dieser Würde tatsächlich gerecht zu werden und sie auf diese Weise überhaupt erst im vollen Maß zu realisieren. Das traditionelle Verständnis unterscheidet demnach eine angeborene von einer erst zu erwerbenden Würde.39 Erstere komme dem Menschen aufgrund seines Menschseins zu, letztere manifestiere sich in einem sittlich geführten Leben. Eben dieser Würdebegriff aber unterscheide sich fundamental von dem zeitgenössischen Würdebegriff, wie er in den Rechtsdokumenten des 20. Jahrhunderts vorausgesetzt werde. Sensen arbeitet vier Unterschiede heraus: 1. Während der zeitgenössische Würdebegriff auf eine inhärente Werteigenschaft referiere, referiere der traditionelle Würdebegriff auf die hervorgehobene Stellung des Menschen im Universum. Würde sei im traditionellen Paradigma ein Statusbegriff und keine Werteigenschaft. Es gehe hier um eine Relation, nicht um eine Entität im Sinne eines metaphysischen Realismus. 2. Im Gegensatz zum zeitgenössischen Würdebegriff sei der traditionelle Würdebegriff zweistufig. 3. Während es im zeitgenössischen Paradigma vor allem um die Rechte des Menschen gehe, gehe es im traditionellen Paradigma um seine Pflichten. 4. Habe ersteres die Würde des anderen im Blick, liege der Fokus des letzteren auf der Realisierung der eigenen Würde durch sittliche Vervollkommnung.40 Wenn Kants Würdebegriff sich nicht in das zeitgenössische Begründungsmodell implementieren lässt, weil er weder in Inhalt noch in Funktion mit dem Würdebegriff der Gegenwart in Deckung zu bringen ist, was ist dann die Bedeutung der 111 Stellen, in denen Kant den Begriff der Würde gebraucht? 41 Was ist insbesondere die Bedeutung der acht Stellen, in denen Kant Würde und Wert miteinander in Beziehung setzt, wie es der zeitgenössische Würdebegriff tut? 42 Sensen stellt sich diese Frage im letzten Abschnitt seines Buches selbst: What then is the relevance of Kant’s conception of dignity – as I interpret it – for moral philosophy? Kant’s views do not fulfill all the hopes that are placed on it by proponents of the contemporary paradigm of dignity. Kant does not propose a value on which moral philosophy can be based. Instead, Kant reminds us that we do not directly perceive a value that would induce respect. Rather respect for others is a task that is required of us. Kant’s conception of dignity is important because it emphasizes our sense that this task is nobler and more sublime than the selfish pursuit of our own desires.43
39 Vgl. auch Oliver Sensen, „Kants Begriff der Menschenwürde“, in: Franz-Josef Bormann/Christian Schröer (Hgg.), Abwägende Vernunft. Praktische Rationalität in historischer, systematischer und religionsphilosophischer Perspektive, Berlin/New York 2004, 220– 236. Hier besonders: 221–224. 40 Vgl. Sensen, Kant on Human Dignity, 161–164. Sensen führt den Nachweis, dass Kants Würdebegriff dem traditionellen Verständnis entspricht. Vgl. Sensen, Kant on Human Dignity, 164–172. 41 Vgl. Sensen, Kant on Human Dignity, 177. 42 Vgl. Sensen, Kant on Human Dignity, 180. 43 Sensen, Kant on Human Dignity, 211 f.
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Die Bedeutung von Kants Würdebegriff scheint demzufolge darin zu liegen, dass er die Bedeutung eines tugendhaften Lebens unterstreicht, indem er auf den Rang des Menschen im Universum und auf die Erhabenheit eines diesem Rang entsprechenden Lebens hinweist. Eine Begründungslast aber vermag dieser Würdebegriff nach Sensen nicht zu tragen. Ich glaube, dass diese Einschätzung zu kurz greift: Sie unterschätzt die Bedeutung, die der zweistufige Würdebegriff als säkulare Variante der Theorie von der Gottebenbildlichkeit des Menschen in Kants Denken aufs Ganze gesehen hat. Und sie beruht auf einem allzu eindimensionalen Begründungsbegriff.
4. Die Würde der Menschheit und die Würde des guten Willens Ich möchte im Folgenden die These ausarbeiten, dass das zweistufige Würdekonzept der Tradition in Kants Denken eine tragende Rolle spielt. Es findet seine Entsprechung in der von Irenäus von Lyon entwickelten Unterscheidung von der Gottebenbildlichkeit und Gottähnlichkeit des Menschen, die in der christlichen Tradition über Klemens und Origenes sehr wirkmächtig geworden ist.44 Über einen Menschen, dessen Seele der Geist fehlt, sagt Irenäus: „Fehlt aber der Seele der Geist, dann ist ein solcher Mensch nur psychisch, und da er fleischlich geblieben ist, wird er unvollkommen sein; er trägt zwar das Bild Gottes in seinem Körper, aber die Ähnlichkeit mit Gott nimmt er nicht an durch den Geist.“45 Irenäus gewinnt seine systematische Unterscheidung einer ursprünglichen Gott ebenbildlichkeit und einer erst zu erringenden Gottähnlichkeit aus Gen 1,26, wo es heißt: „Dann sprach Gott: Laßt uns Menschen machen als unser Abbild, uns ähnlich.“46 Auch wenn die Bibelstelle den systematischen Gehalt, den Irenäus in ihr sieht, eigentlich nicht hergibt47, hat Irenäus mit dieser Unterscheidung doch einen wichtigen Beitrag zu einer theologischen Anthropologie geleistet: Geschöpflichkeit und Vollendung des Menschen können nun unabhängig voneinander gedacht werden. Auch der Mensch, der sündigt, bleibt Gottes Abbild; er fällt durch die Sünde nicht aus der ursprünglichen Gottesbeziehung heraus. Der Mensch aber, der den Geist wirken lässt, ist Gott in besonderer Weise nahe – er ist ihm ähnlich. Mit dieser Unterscheidung wird sowohl das Menschsein als solches als auch sein Heiligsein als exemplarisches Menschsein geadelt. In dem hier vorlie
44 Vgl.
Thomas Pröpper, Theologische Anthropologie, Bd. 1, Freiburg 2011 (= Theologische Anthropologie), 213–224. Besonders 214, 223. 45 Irenäus von Lyon, Gegen die Häresien, übers. von Ernst Klebba, München 1912, V 6,1. 46 Die Bibel. Altes und Neues Testament. Einheitsübersetzung, Freiburg/Basel/Wien 1980. 47 Vgl. Pröpper, T heologische Anthropologie, 215.
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genden Kontext ist nun entscheidend, dass diese Unterscheidung sehr früh mit dem Würdekonzept in Verbindung getreten ist. So heißt es bei Origenes: Das höchste Gut, zu dem die Vernunftwesen insgesamt streben, und das auch das Ziel von allem heißt, wird von vielen Philosophen folgendermaßen definiert: das höchste Gut sei, Gott ähnlich zu werden, soweit es möglich ist. Aber dies ist, wie ich glaube, weniger von ihnen selbst erfunden als aus den heiligen Büchern übernommen. Denn hierauf weist vor allen (anderen) Mose hin, wenn er bei dem Bericht über die erste Erschaffung des Menschen sagt (Gen. 1,26): ‚Und Gott sprach: Lasset uns den Menschen machen nach unserem Bild und unserer Ähnlichkeit.‘ Und er fügt hinzu (Gen. 1,27 f.): ‚Und Gott schuf den Menschen, nach dem Bilde Gottes schuf er ihn, als Mann und Weib schuf er sie, und segnete sie.‘ Dass er hier sagt: ‚nach dem Bilde Gottes schuf er ihn‘ und von der ‚Ähnlichkeit‘ schweigt, deutet auf nichts anderes hin, als dass (der Mensch) zwar die Würde des ‚Bildes‘ bei der ersten Schöpfung empfing, die Vollendung der ‚Ähnlichkeit‘ ihm aber für das Ende aufgespart ist; er sollte sich selbst durch eigenen Eifer diese Ähnlichkeit durch Nachahmung Gottes erwerben; nachdem ihm zu Anfang die Fähigkeit zur Vervollkommnung kraft der Würde des ‚Bildes‘ gegeben war, sollte er schließlich am Ende selber durch eigenes Wirken die vollkommene ‚Ähnlichkeit‘ verwirklichen.48
Origenes spricht von der Würde des Bildes einerseits und der Vollendung der Ähnlichkeit andererseits: Habe der Mensch erstere kraft seines Geschöpfseins, so erlange er letztere durch die Nachahmung Gottes, also durch sittliche Vervollkommnung. Die Verknüpfung der irenäischen Unterscheidung mit dem Würdebegriff scheint in den kantischen und nachkantischen Theologien ein selbstverständlicher Zusammenhang gewesen zu sein. Der Dogmatiker und Origenes-Kenner Franz Anton Staudenmaier etwa schreibt:
Die Bestimmung des Menschen besteht darin, sich nach der Idee seines Wesens, nach dem vollständigen Begriff seiner göttlichen Ebenbildlichkeit, d.i. nach der ganzen Summe der in ihn von Gott gelegten Anlagen zu erkennen und sofort mit Freiheit zu vollziehen. Besteht in der gottgefälligen Entwicklung der gesammten Anlagen nach den in sie eingeschlossenen Verhältnissen zur Gottheit und zur Welt zugleich die Aehnlichkeit mit Gott; so ruhet in Beidem zumal die Würde des Menschen […].49
Ganz im Sinne der Tradition versteht Staudenmaier die Gottebenbildlichkeit des Menschen als Anlage zu einem gottgefälligen Leben, die Gottähnlichkeit aber als Entfaltung und Verwirklichung dieser Anlage. Die Würde des Menschen besteht nach Staudenmaier „in der lebendigen Einheit des Ebenbildes und der Aehnlichkeit Gottes.“50 Dem Würdebegriff liegt eine dynamische Anthropologie
48 Origenes,
Vier Bücher von den Prinzipien, hg. von Herwig Görgemanns u. Heinrich Karpp, Darmstadt, 3. Aufl. 1992, III 6,1. 49 Franz Anton Staudenmaier, Die christliche Dogmatik, Bd. 3, Freiburg 1848 (= Christliche Dogmatik), 490. (Hervorhebungen getilgt). 50 Staudenmaier, Christliche Dogmatik, 496.
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zugrunde: Anlage und Realisierung sind demnach unterscheidbar, aber nicht trennbar.51 Auch der Moraltheologe und Kant-Kenner Johann Michael Sailer versteht Würde im Sinne des Akt-Potenz-Schemas: Die erworbene Würde des Menschen besteht darinn, daß er die Anlagen zum Guten, die die angebohrne Würde ausmachen, in Fertigkeiten zum Guten verwandelt. Der Unterschied zwischen Anlage und Fertigkeit ist reell. So ist z.B. die Vernunftfähigkeit angebohrne Menschenwürde, diese geht in erworbene über, wenn der Mensch wirklich vernünftig denkt, vernünftig begehrt und verabscheut, vernünftig handelt, und vernünftig duldet.52
Der Würdebegriff der Moderne steht offensichtlich ganz im Zeichen des von Cicero geprägten und von den Kirchenvätern auf die Lehre von der Gottebenbildlichkeit bezogenen Paradigmas.53 Daran, dass Kant es selber vertreten hat, kann kein Zweifel bestehen. Sensen kann für seine Interpretation des kantischen Würdebegriffs auf eine breite Textbasis verweisen.54 Es genügt daher, hier einige Stellen aus Kants Werk exemplarisch herauszugreifen. Schon in den 70er Jahren gebraucht Kant den zweistufigen Würdebegriff der Tradition, wenn er schreibt: „Die würde der Menschlichen Natur liegt blos in der freyheit […] Aber die würde eines Menschen (würdigkeit) beruht auf dem Gebrauch der freyheit, da er sich alles Guten würdig macht.“55 Liegt die Würde der Menschheit in der Freiheit und damit in der Moralfähigkeit begründet, so hängt die Würde des einzelnen vom Gebrauch seiner Freiheit ab. Dieser Unterschied zwischen einer allgemeinmenschlichen Würde und einer besonderen moralischen Würde begegnet auch in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, wo Kant im Rahmen seiner Überlegungen zur Selbstzweckhaftigkeit des Menschen den Schluss zieht: „Also ist Sittlichkeit und die Menschheit, so fern sie derselben fähig ist, dasjenige, was allein Würde hat.“56 Wenig später heißt es: Man kann aus dem kurz vorhergehenden sich es jetzt leicht erklären, wie es zugehe: daß, ob wir gleich unter dem Begriffe von Pflicht uns eine Unterwürfigkeit unter dem Gesetze denken, wir uns dadurch doch zugleich eine gewisse Erhabenheit und Würde an derjenigen Person vorstellen, die alle ihre Pflichten erfüllt. Denn so fern ist zwar keine Erhabenheit an ihr, als sie dem moralischen Gesetze unterworfen ist, wohl aber so fern sie in Ansehung eben desselben zugleich gesetzgebend und nur darum ihm untergeordnet ist. 51 Vgl. hierzu Margit Wasmaier-Sailer, „Die Origenes-Rezeption in der theologischen Anthropologie Franz Anton Staudenmaiers“, in: Alfons Fürst/Christian Hengstermann (Hgg.), Autonomie und Menschenwürde. Origenes in der Philosophie der Neuzeit, Münster 2012, 235–251. Besonders 242–245. 52 Johann Michael Sailer, Glückseligkeitslehre aus Vernunftgründen, mit Rücksicht auf das Christenthum, Bd. 1, München 1787, 78. 53 Die Zitate der beiden T heologen können dies exemplarisch verdeutlichen. 54 Vgl. Sensen, Kant on Human Dignity, 177–180. 55 Immanuel Kant, Reflexion 6856, AA 19, 181. 56 Kant, GMS, AA 04, 435.07–09.
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Auch haben wir oben gezeigt, wie weder Furcht noch Neigung, sondern lediglich Achtung fürs Gesetz diejenige Triebfeder sei, die der Handlung einen moralischen Werth geben kann. Unser eigener Wille, so fern er nur unter der Bedingung einer durch seine Maxi men möglichen allgemeinen Gesetzgebung handeln würde, dieser uns mögliche Wille in der Idee ist der eigentliche Gegenstand der Achtung, und die Würde der Menschheit besteht eben in dieser Fähigkeit, allgemein gesetzgebend, obgleich mit dem Beding, eben dieser Gesetzgebung zugleich selbst unterworfen zu sein.57
Kant spricht hier einerseits von der Würde derjenigen Person, „die alle ihre Pflichten erfüllt“58, andererseits von der „Würde der Menschheit“59, die nach Kant vor der ganzen Natur dadurch ausgezeichnet ist, dass sie sich zur Moral, unter der sie steht, selbst verpflichten kann. Im Zusammenhang mit letzterer spricht Kant auch von der „angebornen“60 oder „ursprünglichen Würde“61. Es ließe sich zeigen, dass Kant nicht nur in den zitierten Stellen, sondern auch an allen anderen Stellen seines Werks, in denen er sich nicht des aristokratischen Würdebegriffs bedient, dem traditionellen Paradigma folgt.62 Ich teile also Sensens Interpretation von Kants Würdebegriff. Anders als Sensen gehe ich jedoch davon aus, dass der zweistufige Würdebegriff in Kants Denken eine tragende Rolle spielt – als Subtext seiner gesamten praktischen Philosophie. Auch wenn er vergleichsweise selten vorkommt und in Begründungszusammenhängen keine Funktion zu haben scheint, dürfte unbestritten sein, dass es sich um einen Spitzenbegriff in Kants Denken handelt. In der auszeichnenden Kraft dieses Begriffs dürfte der Grund liegen, warum man sich im 20. Jahrhundert bei der Abfassung der Menschenrechtsdokumente auf ihn berief. Der systematische Ort des Würdebegriffs bei Kant lässt sich anhand folgender Stelle aus der Grundlegung deutlich machen. Im Kontext der Abgrenzung dessen, was inneren Wert und damit Würde hat, von dem, was relativen Wert und damit bloß einen Preis hat, fragt Kant, was der moralischen Denkungsart Würde verleihe und sie über allen Preis erhebe63:
57 Kant,
GMS, AA 04, 439.35–440.13. GMS, AA 04, 440.02. 59 Kant, GMS, AA 04, 440.11. 60 Kant, MS, AA 06, 420.22. Vgl. Sensen, Kant on Human Dignity, 168. 61 Immanuel Kant, Der Streit der Fakultäten, AA 07, 73.03. Vgl. Sensen, Kant on Human Dignity, 168. 62 „I claim that – setting aside passages where Kant uses the aristocratic conception of dignity – his usage of ‚dignity‘ always conforms to the traditional paradigm of dignity. The 41 passages in which Kant talks about the dignity of all human beings refer to the first stage of the traditional conception, i.e., a capacity that elevates human beings over the rest of nature. The 31 times when Kant refers to dignity in relation to morality, he emphasizes the duty to make a certain use of one’s freedom, i.e., to realize one’s dignity fully.“ Sensen, Kant on Human Dignity, 180. 63 Vgl. Kant, GMS, AA 04, 434.31–435.28. 58 Kant,
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Und was ist es denn nun, was die sittlich gute Gesinnung oder die Tugend berechtigt, so hohe Ansprüche zu machen? Es ist nichts Geringeres als der Antheil, den sie dem vernünftigen Wesen an der allgemeinen Gesetzgebung verschafft und es hiedurch zum Gliede in einem möglichen Reiche der Zwecke tauglich macht, wozu es durch seine eigene Natur schon bestimmt war, als Zweck an sich selbst und eben darum als gesetzgebend im Reiche der Zwecke, in Ansehung aller Naturgesetze als frei, nur denjenigen allein gehorchend, die es selbst giebt und nach welchen seine Maximen zu einer allgemeinen Gesetzgebung (der es sich zugleich selbst unterwirft) gehören können. Denn es hat nichts einen Werth als den, welchen ihm das Gesetz bestimmt. Die Gesetzgebung selbst aber, die allen Werth bestimmt, muß eben darum eine Würde, d.i. unbedingten, unvergleichbaren Werth, haben, für welchen das Wort Achtung allein den geziemenden Ausdruck der Schätzung abgiebt, die ein vernünftiges Wesen über sie anzustellen hat. Autonomie ist also der Grund der Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur.64
Das, was der Tugend Würde verleihe, sei die Teilhabe an der allgemeinen Gesetzgebung, die Teilhabe an dem, was nach Kant das Sittliche ausmacht. Insofern Kant nicht nur die Würde der sittlich guten Gesinnung, sondern auch die in der Natur des Menschen liegende Bestimmung zu dieser Gesinnung thematisiert, integriert er auch hier beide Stufen des traditionellen Würdekonzepts. Entscheidend für den vorliegenden Zusammenhang aber ist die zweite Hälfte des Abschnitts, in dem Kant das Gesetz zum Maß allen Wertes erklärt: „[…] es hat nichts einen Werth als den, welchen ihm das Gesetz bestimmt.“65 Wenn aber die als Gesetzgebung verstandene Sittlichkeit allen Wert bestimmt, kann sie selbst nicht ein Wert unter anderen sein. Sie ist nach Kant auch nicht einfach ein Wert höherer Ordnung, sondern ein letzter Wert. Kant spricht von einem „unbedingten, unvergleichbaren Werth“ 66. Und um diesen Status zu markieren, gebraucht er den Begriff der Würde: Das Gesetz und mit ihm die sittlich gute Gesinnung als dessen Exemplifizierung hat nicht einfach einen Wert, sondern als wertsetzende Instanz eine Würde. Anders als Sensen67 denke ich, dass aus Kants Sicht nicht erst die erworbene, sondern schon die ursprüngliche Würde moralische Implikationen hat, insofern die Moralfähigkeit des Menschen – das Definiens seiner ursprünglichen Würde – keine moralisch indifferente Größe ist. Nach Kant ist die Würde der Menschheit nicht durch irgendwelche Fähigkeiten, sondern durch die Fähigkeit zur Moral definiert. Im Lichte der sittlich guten Gesinnung als dem Inbegriff der Würde wird überhaupt erst deutlich, worin die Würde der Menschheit besteht: Sie besteht genau darin, dass die Menschheit zur Sittlichkeit befähigt ist.
64 Kant,
GMS, AA 04, 435.29–436.07. GMS, AA 04, 436.01–02. 66 Kant, GMS, AA 04, 436.03–04. 67 Vgl. Sensen, Kant on Human Dignity, 153. 65 Kant,
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5. Antwort auf Einwand I: Eine universelle Teleologie Wie lässt sich vor diesem Hintergrund Gutmanns Einwand widerlegen, Kants Würdebegriff schließe einen Teil der Menschheit von der allen Menschen zukommenden Achtung aus? Kant – das ist deutlich geworden – operiert mit dem auf Cicero zurückgehenden zweistufigen Würdebegriff. Dieser Würdebegriff aber schreibt sich in eine universelle Teleologie der Freiheit ein, nach der der Mensch als über die Natur erhabenes Wesen zur Sittlichkeit bestimmt ist. Allein in dieser Bestimmung liegt für Kant die „Würde der Menschheit“ 68. Als angeborene Würde ist sie dem Menschen immer schon mitgegeben. Sie kommt ihm aufgrund seines Menschseins zu und ist von daher eine „unverlierbare Würde“ 69. In der sittlich guten Gesinnung erfüllt sich nach Kant die Bestimmung des Menschen. Der Mensch erlange durch sie eine Erhabenheit und Würde, die über die angeborene Würde hinausgehe: Kant spricht von der „Würde der Tugend“70 – er sieht in ihr einen Spiegel der „Würde des Gesetzes“71. Diese Würde ist nicht einfach schon mit dem Menschsein gegeben. Sie muss nach Kant ganz im Gegenteil hart erkämpft werden: „Was der Mensch im moralischen Sinne ist oder werden soll, gut oder böse, dazu muß er sich selbst machen oder gemacht haben.“72 Das traditionelle Würdekonzept ist als Antwort auf die Frage nach der Bestimmung des Menschen zu lesen. Diese Frage aber ist per definitionem universeller Natur: Sie hat den Menschen als solchen im Blick und nicht etwa nur einen Teil der Menschheit. Wie viele seiner Zeitgenossen hat auch Kant sich diese Frage gestellt.73 Die Religionsschrift etwa kann als Abhandlung zu genau dieser Frage gelesen werden, ist ihr Grundthema doch die Wiederherstellung der ursprünglichen Anlage zum Guten. Letztlich verfolgt Kant darin das Projekt einer theologischen Anthropologie, reformuliert es jedoch unter säkularen Vorzeichen. Kant nimmt – das macht allein schon die Rede von der angeborenen Würde deutlich – eine allgemeinmenschliche Perspektive ein. Der Logik dieser Perspektive folgend, abstrahiert er von der Frage, ob ein Mensch zu vernünftigem Denken und 68 Kant,
GMS, AA 04, 440.11. MS, AA 06, 436.11–12. Vgl. Sensen, Kant on Human Dignity, 179. 70 Kant, MS, AA 06, 483.03. 71 Kant, KpV, AA 05, 147.17–18. 72 Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, AA 06, 44.15–16. 73 „Die sittliche Bestimmung des einzelnen Menschen und der Menschheit im Ganzen ist das dirigierende Zentrum der Kantischen Philosophie. Die drei Kritiken (1781 bis 1790) und mit ihnen die übrigen Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, zur Rechtsphilosophie, Ethik und Aufklärung sehen in der Beantwortung der Frage nach der ‚ganzen Bestimmung‘ oder dem Endzweck der Menschen das eigentliche Thema und Interesse unserer Vernunft und damit der philosophischen Reflexion. Diese prägnante Zielbestimmung ist nicht das Ergebnis einer isolierten Überlegung, sondern entsteht aus dem Zusammendenken vieler tradierter Systeme und avancierter Zeitgenossen […].“ Reinhard Brandt, Die Bestimmung des Menschen bei Kant, Hamburg, 2. Aufl. 2009, 7. 69 Kant,
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moralischem Handeln überhaupt in der Lage ist. Die Frage nach der Vernunftfähigkeit behinderter oder dementer Menschen stellt sich ihm ebensowenig wie die Frage nach der Vernunftfähigkeit ungeborenen Lebens.74 Dass diese Frage bei Kant als Thema nicht auftaucht, liegt nicht nur daran, dass er nicht um die Entwicklungen wusste, die die Medizin einige Jahrhunderte nach ihm nehmen würde. Es liegt vor allem daran, dass sein hermeneutischer Zugang zur Würde des Menschen nicht die Unterschiede zwischen den Menschen, sondern deren Gemeinsamkeit zum Gegenstand der Untersuchung macht. Wie aber hat man dann mit den Stellen zu verfahren, in denen Kant die Würde des Menschen von der „aktuellen Fähigkeit zur vernünftigen (moralischen) Selbstbestimmung“75 abhängig zu machen scheint? Gutmanns Rekonstruktion von Kants Würdebegriff geht aus von der Selbstzweckformel, die den Personbegriff in den Mittelpunkt rückt: „Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“76 Dieser Formel des Kategorischen Imperativs legt er Kants Definition von Personen als vernünftigen und zurechnungsfähigen Wesen zugrunde: „Person ist dasjenige Subject, dessen Handlungen einer Zurechnung fähig sind. Die moralische Persönlichkeit ist also nichts anders, als die Freiheit eines vernünftigen Wesens unter moralischen Gesetzen […].“77 Diese Rekonstruktion78 erweckt den Eindruck, dass die Forderung, niemanden bloß als Mittel, sondern jederzeit zugleich als Zweck zu brauchen, nur auf Menschen bezogen ist, die tatsächlich im Besitz der Vernunft und daher im vollen Maße zurechnungsfähig sind, dass also nur diese Menschen – und nicht etwa auch Menschen, die nicht voll zurechnungsfähig sind – zu achten sind. Der Eindruck trügt. Versteht man Kants Aussagen zum Personbegriff nämlich aus ihrem Kontext heraus, ergibt sich ein anderes Bild: Kant gewinnt den Begriff der Person als eines vernünftigen Wesens nämlich in Abgrenzung zu Sachen und nicht etwa in Abgrenzung zu Menschen, die nicht oder nur teilweise zurechnungsfähig sind:
Person ist dasjenige Subject, dessen Handlungen einer Zurechnung fähig sind. Die moralische Persönlichkeit ist also nichts anders, als die Freiheit eines vernünftigen Wesens unter moralischen Gesetzen (die psychologische aber bloß das Vermögen, sich der Identität 74 „Kant is not concerned with hard human cases, e.g., young infants or elderly demented.“ Sensen, Kant on Human Dignity, Fußnote 103. „Gerade wegen der Unverzichtbarkeit des Kantischen Begründungsmodells für die normativen Grundlagen des liberalen Rechtsstaats sollte das gravierende Problem des moralischen Status nicht hinreichend autonomer Menschen, das Kant sich nicht bewusst vorgelegt hat [Hervorhebung, M.W.S.], ernst genommen werden […].“ Gutmann, Würde und Autonomie, 17 f. Gutmann verweist auf Ernst Tugendhat, Vorlesungen über Ethik, Frankfurt am Main 1993, 188. 75 Gutmann, Würde und Autonomie, 13. 76 Kant, GMS, AA 04, 429.10–12. 77 Kant, MS, AA 06, 223.24–26. 78 Vgl. Gutmann, Würde und Autonomie, 6–14.
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seiner selbst in den verschiedenen Zuständen seines Daseins bewußt zu werden), woraus dann folgt, daß eine Person keinen anderen Gesetzen als denen, die sie (entweder allein, oder wenigstens zugleich mit anderen) sich selbst giebt, unterworfen ist. Sache ist ein Ding, was keiner Zurechnung fähig ist. Ein jedes Object der freien Willkür, welches selbst der Freiheit ermangelt, heißt daher Sache (res corporalis).79
Wenn Kant zwischen vernünftigen und vernunftlosen Wesen unterscheidet80, geht es ihm nicht um einen Unterschied zwischen Menschen im Hinblick auf ihre Vernunftfähigkeit, sondern um die ontologische Differenz zwischen Subjekt und Ding. Die Bestimmung der Person als eines Subjekts, „dessen Handlungen einer Zurechnung fähig sind“81, ist daher nicht exklusivistisch zu verstehen. Kant hat, wenn er von Personen als zurechnungsfähigen Subjekten spricht, alle Menschen im Blick.82 Den Menschen ganz unabhängig von den konkreten Gegebenheiten durch seine Zurechnungsfähigkeit zu definieren, liegt in der Konsequenz eines Menschenbildes, das ein „zur intelligibelen Welt gehöriges Wesen“83 als frei betrachtet. Die Zugehörigkeit zur intelligiblen Welt ist für Kant aber ein Wesenszug des Menschen.84 Der Begriff der Person hat für ihn also die gleiche Extension wie der Begriff des Menschen. Dem kantischen Würdekonzept ist daher nicht anzulasten, dass es einen Teil der Menschheit nicht berücksichtigt oder gar ausschließt. Es ist ganz im Gegenteil nur von seinem universellen Geltungsanspruch her verstehbar.85 79 Kant,
MS, AA 06, 223.24–34. „Die Wesen, deren Dasein zwar nicht auf unserm Willen, sondern der Natur beruht, haben dennoch, wenn sie vernunftlose Wesen sind, nur einen relativen Werth, als Mittel, und heißen daher Sachen, dagegen vernünftige Wesen Personen genannt werden, weil ihre Natur sie schon als Zwecke an sich selbst, d.i. als etwas, das nicht bloß als Mittel gebraucht werden darf, auszeichnet, mithin so fern alle Willkür einschränkt (und ein Gegenstand der Achtung ist).“ Kant, GMS, AA 04, 428.18–25. 81 Kant, MS, AA 06, 223.24–25. 82 Gutmann sieht, dass Kant Personen von Sachen abgrenzt, zieht aus dieser begrifflichen Unterscheidung aber nicht die Konsequenz, dass Kant alle Menschen – unabhängig von ihren faktischen Fähigkeiten – als Personen betrachtet. Vgl. Gutmann, Würde und Autonomie, 20 f. 83 Kant, GMS, AA 04, 452.31. 84 „Als ein vernünftiges, mithin zur intelligibelen Welt gehöriges Wesen kann der Mensch die Causalität seines eigenen Willens niemals anders als unter der Idee der Freiheit denken; denn Unabhängigkeit von den bestimmenden Ursachen der Sinnenwelt (dergleichen die Vernunft jederzeit sich selbst beilegen muß) ist Freiheit. Mit der Idee der Freiheit ist nun der Begriff der Autonomie unzertrennlich verbunden, mit diesem aber das allgemeine Princip der Sittlichkeit, welches in der Idee allen Handlungen vernünftiger Wesen eben so zum Grunde liegt, als das Naturgesetz allen Erscheinungen.“ Kant, GMS, AA 04, 452.31–453.02. 85 Insofern sich Gutmanns T hese wesentlich auf die Kant-Interpretation von Allen W. Wood und Onora O’Neill stützt, richtet sich mein Argument gleichermaßen gegen deren Lesart von Kants Personbegriff. Vgl. v.a. Allen W. Wood, „Kant on Duties Regarding Nonrational Nature“, Proceedings of the Aristotelian Society, Supplementary Volumes 72 (1998), 80
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6. Antwort auf Einwand II: Sinn und Geltung Wie lässt sich von meiner Kant-Interpretation her der Einwand beantworten, die Menschenrechte könnten deswegen nicht mit Kants Würdebegriff begründet werden, weil dieser in Kants Denken keine legitimatorische Funktion habe? Gegen diese von Sensen vorgetragene These habe ich bereits geltend gemacht, dass Kant den Begriff der Würde im Sinne einer normativen Letztinstanz gebraucht. Durch die Rede von der „Würde des Gesetzes“86 erklärt Kant das Gesetz, durch die Rede von der „Würde der Tugend“87 erklärt er die Tugend zum Maßstab des Guten. Es geht bei beidem um ein- und dasselbe: Was das Gesetz auf der Ebene der Prinzipien ist, ist die Tugend auf der Ebene des Charakters. Wenn von der Würde des Gesetzes oder der Würde der Tugend die Rede ist, geht es um die zweite Stufe von Kants Würdebegriff – die Sittlichkeit als Inbegriff oder Vollgestalt der Würde. Wie aber verhält es sich mit der ersten Stufe von Kants Würdebegriff? Welchen normativen Status hat die Rede von der „Würde der Menschheit“88 in Kants Werk?
Allein der Mensch, als Person betrachtet, d.i. als Subject einer moralisch-praktischen Vernunft, ist über allen Preis erhaben; denn als ein solcher (homo noumenon) ist er nicht blos als Mittel zu anderer ihren, ja selbst seinen eigenen Zwecken, sondern als Zweck an sich selbst zu schätzen, d.i. er besitzt eine Würde (einen absoluten innern Werth), wodurch er allen andern vernünftigen Weltwesen Achtung für ihn abhöthigt, sich mit jedem Anderen dieser Art messen und auf den Fuß der Gleichheit schätzen kann.89
Nicht erst die Fülle der Tugend, sondern bereits die bloße Moralfähigkeit ist Achtung gebietend. Die in der wesensmäßigen Moralfähigkeit des Menschen liegende Würde gebietet nach Kant die Achtung der Menschheit in der eigenen Person und in der Person eines jeden anderen: „Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“90 Sensens These, in Kants Denken habe die Würde der Menschheit für sich genommen keine moralische
189–210. Onora O’Neill, „Kant on Duties Regarding Nonrational Nature“, Proceedings of the Aristotelian Society, Supplementary Volumes 72 (1998), 211–228. Wood und O’Neill ringen um eine Strategie, wie Menschen, die nach ihrer Kant-Interpretation nicht Personen im Vollsinn des Wortes sind, auf der Grundlage von kantischen Überlegungen dennoch in die moralische Gemeinschaft der Menschen integriert werden können. Nach meiner Interpretation bedarf es einer solchen Strategie nicht, weil sich ihr zufolge das von Wood und O’Neill empfundene Problem innerhalb des kantischen Denkens gar nicht stellt. 86 Kant, KpV, AA 05, 147.17–18. 87 Kant, MS, AA 06, 483.03. 88 Kant, GMS, AA 04, 440.11. 89 Kant, MS, AA 06, 434.32–435.05. 90 Kant, GMS, AA 04, 429.10–12.
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Relevanz91, kann vor diesem Hintergrund nicht überzeugen. Was Achtung gebietet und Gleichheit begründet, ist normativ relevant. Wie aus der folgenden Stelle hervorgeht, ist die Menschheit für Kant sogar von höchster Bedeutung – sie ist wie das Gesetz eine normative Letztinstanz: Gesetzt aber, es gäbe etwas, dessen Dasein an sich selbst einen absoluten Werth hat, was als Zweck an sich selbst ein Grund bestimmter Gesetze sein könnte, so würde in ihm und nur in ihm allein der Grund eines möglichen kategorischen Imperativs, d.i. praktischen Gesetzes, liegen. Nun sage ich: der Mensch und überhaupt jedes vernünftige Wesen existirt als Zweck an sich selbst, nicht bloß als Mittel zum beliebigen Gebrauche für diesen oder jenen Willen, sondern muß in allen seinen sowohl auf sich selbst, als auch auf andere vernünftige Wesen gerichteten Handlungen jederzeit zugleich als Zweck betrachtet werden.92
Kant stuft das Dasein des Menschen und vernünftiger Wesen überhaupt als absolut werthaft ein: Der Mensch – wie überhaupt jedes vernünftige Wesen – existiere als Zweck an sich selbst. In einem damit erklärt er das Dasein des Menschen und allgemein das Dasein vernünftiger Wesen zu einer letzten normativen Instanz: In ihnen und nur in ihnen liege der Grund eines möglichen kategorischen Imperativs. Die Begründung des Kategorischen Imperativs mit der Selbstzweckhaftigkeit des Menschen scheint dem kantischen Primat des Rechten vor dem Guten – der These also, dass „der Begriff des Guten und Bösen nicht vor dem moralischen Gesetze […], sondern nur […] nach demselben und durch dasselbe bestimmt werden müsse“93 – jedoch völlig zuwiderzulaufen, führt sie dessen Gültigkeit doch auf einen dem Gesetz äußerlichen Maßstab zurück. Angesichts der drohenden Aporie schlägt Sensen vor, die Selbstzweckhaftigkeit des Menschen als metaphysische und nicht als normative Kategorie zu interpretieren: „Kant uses ‚end in itself‘ as the ground of the imperative in a descriptive sense. An end in itself is not by itself a normative entity.“94 Der Ausdruck „Zweck an sich selbst“ bedeute, dass der Mensch nicht vollständig durch die Gesetzmäßigkeiten der Natur bestimmt – nicht ein Mittel zu deren Zwecken –, sondern frei – eben „Zweck an sich selbst“ – sei.95 Interpretiert man die Selbstzweckhaftigkeit des Menschen als metaphysischen – und nicht als normativen – Grund des Gesetzes, erscheint Kants Rede vom einzigmöglichen Grund eines kategorischen Imperativs konsistent mit der normativen Unhintergehbarkeit des Gesetzes. Ich halte diesen Interpretationsschritt jedoch für reduktionistisch. Wie auch immer man Kants Wertsprache auffasst, sie zeigt in jedem Fall einen normativen Status an. Dass Kant vom Dasein des Menschen als einem absoluten Wert spricht
91
Vgl. Sensen, Kant on Human Dignity, 153. GMS, AA 04, 428.03–11. 93 Kant, KpV, AA 05, 62.37–63.04. 94 Sensen, Kant on Human Dignity, 100. 95 Vgl. Sensen, Kant on Human Dignity, 103. 92 Kant,
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und die Selbstzweckhaftigkeit des Menschen in den Kontext dieser Wertaussage stellt, lässt eine wertneutrale Lesart der Selbstzweckhaftigkeit des Menschen nicht zu. Freilich bleibt dann das Problem bestehen, wie das Gesetz gleichzeitig begründet werden und doch selbst letzter Grund sein kann. Ich möchte mit einem Vorschlag schließen, wie sich der Primat des Gesetzes mit der Begründung des Gesetzes durch die Selbstzweckhaftigkeit – bzw. die Würde96 – des Menschen möglicherweise vereinbaren lässt. Wenn Kant einerseits auf das Gesetz, andererseits auf den Menschen als normativer Letztinstanz rekurriert, dann begibt er sich nur dann nicht in einen Widerspruch, wenn Gesetz und Mensch in je eigener Weise maßgebend sind, wenn sie als normative Instanzen zueinander also nicht in Konkurrenz stehen. Dies wäre dann der Fall, wenn das Gesetz geltungsmäßig zwar unhintergehbar, in seinem tiefsten Sinn aber erst durch den Bezug auf die menschliche Existenz97 erfasst wäre. Es wäre mit anderen Worten dann der Fall, wenn das Gesetz, um zu gelten, keiner Begründung bedürfte, aber doch im Lichte der menschlichen Würde erst voll verstehbar wäre. In diesem Fall würde das Gesetz tatsächlich für sich stehen, und doch wäre der Auszeichnung des Menschen als absolut werthaft Rechnung getragen. Die Unterscheidung einer geltungsmäßigen und einer sinngebenden Letztinstanz wird plausibel, wenn man sich vor Augen führt, dass man die Geltung eines Gesetzes anerkennen kann, auch wenn man dessen Sinn nicht ganz versteht. Kant selbst thematisiert diesen Unterschied, wenn er Tugend und Heiligkeit voneinander abgrenzt: Tugendhaft ist, wer seine Pflicht erfüllt – heilig ist, wer seine Pflicht gerne erfüllt.98 Die volle Verinnerlichung des Gesetzes ist Kant zufolge nur demjenigen möglich, dem sich der Sinn des Gesetzes in seiner ganzen Dimension erschlossen hat.99 Ich glaube, dass Kant die Menschheit in diesem Sinne als Grund des Gesetzes betrachtet: Das menschliche Dasein erschließt die Gültigkeit des Kategorischen Imperativs. 96 Kant expliziert den Begriff vom „Zweck an sich selbst“ durch den Begriff der Würde und durch die Rede von einem absoluten inneren Wert. Vgl. Kant, GMS, AA 04, 435.02–04, 436.03–04 und MS, AA 06, 435.01–02. 97 Ich sehe hier der Einfachheit halber von der Existenz vernünftiger Wesen überhaupt ab, zu denen neben den Menschen ja auch Gott und die Engel zu rechnen sind. 98 Vgl. Kant, KpV, AA 05, 84.27–35. 99 „Ein vollkommen guter Wille würde […] unter objectiven Gesetzen (des Guten) stehen, aber nicht dadurch als zu gesetzmäßigen Handlungen genöthigt vorgestellt werden können, weil er von selbst nach seiner subjectiven Beschaffenheit nur durch die Vorstellung des Guten bestimmt werden kann. Daher gelten für den göttlichen und überhaupt für einen heiligen Willen keine Imperativen; das Sollen ist hier am unrechten Orte, weil das Wollen schon von selbst mit dem Gesetz nothwendig einstimmig ist.“ Kant, GMS, AA 04, 414.01–08. Vollkommen durch die Vorstellung des Guten bestimmt, ist im heiligen Willen kein Widerstreben gegen das Gesetz. Auf den vorliegenden Kontext angewandt: Die vollkommene Erkenntnis des Guten bedingt das uneingeschränkte Wollen des Guten. Das Gesetz gilt vor und nach der Erkenntnis des Guten, aber mit der Erkenntnis des Guten erschließt sich sein ganzer Sinn.
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7. Der zeitgenössische und der kantische Würdebegriff Welche Bedeutung kann der kantische Würdebegriff in den Menschenrechtsbegründungen unserer Zeit haben? Mit Gutmann und gegen Sensen würde ich den zeitgenössischen Würdebegriff in der Tradition des kantischen Denkens verorten. Mein Bild von diesem Rezeptionszusammenhang ist folgendes: Was bei Kant als normativer Spitzenbegriff sachlich gesehen am Ende steht, haben die Verfasser der Menschenrechtserklärungen zum Ausgangspunkt ihrer Überlegungen genommen. Kant argumentiert nicht vom Würdebegriff her, sondern auf den Würdebegriff hin. Er entfaltet seine Ethik im Horizont der sinngebenden Kraft dieses Begriffs. Indem die Menschenrechtserklärungen des 20. Jahrhunderts die Würde des Menschen zum Fundament der Menschenrechte erklärten, haben sie diese Gedankenbewegung umgekehrt. Der Status des Begriffs als einer normativen Letztinstanz blieb dabei erhalten. Im Zuge dieser Umkehrung hat sich Kants Würdebegriff jedoch auch abgeschliffen – insbesondere verlor sich das Bewusstsein von seiner inneren Teleologie. Der zeitgenössische Würdebegriff lebt demzufolge von Intuitionen des kantischen Würdebegriffs, macht diese Intui tionen aber nicht mehr im vollen Umfang bewusst. Im Ergebnis ist er gegenüber dem kantischen Würdebegriff unterkomplex. Dies findet einen Widerhall in der – sicherlich zu weit gehenden – These, der zeitgenössische Würdebegriff sei bedeutungsleer.100 Eine Rückbesinnung auf Kants Konzeption und ihre Vorläufer könnte einer Bedeutungsentleerung entgegenwirken. Wie ich in den vorhergehenden Abschnitten gezeigt habe, sehe ich die Herausforderung nicht in dem von Gutmann diagnostizierten Exklusionspotential. Ich sehe sie auch nicht in dem von Sensen diagnostizierten Missverständnis. Ich sehe die eigentliche Herausforderung darin, Kants Würdebegriff als sinnstiftende Kategorie für die Gegenwart zu erschließen und für die Begründung der Menschenrechte fruchtbar zu machen. Hierfür wäre einerseits das Verhältnis von angeborener und erworbener Würde, andererseits das Verhältnis von Würde und Gesetz genauer zu klären. Dies konnte im Rahmen dieses Aufsatzes nur andeutungsweise in den Blick genommen werden. Kants Würdebegriff als Sinnkategorie von universaler Reich
100 „Die Berufung auf Menschenwürde ist zumeist von argumentativer Hilflosigkeit überschattet. Menschenwürde gerät zur diffusen Metapher für das Allerheiligste der Moral, von dem man nicht recht weiß, ob es groß und erhaben oder leer und lächerlich ist.“ Matthias Kettner, „Menschenwürde als Begriff und Metapher“, Diskussionspapier des Hamburger Instituts für Sozialforschung (1994), 7–45. http://www.his-online.de//fileadmin/user_ upload/pdf/bibliothek/bestand/Downloads_Diskussionspapiere/000-0-00000-0194-0.pdf (12.01.2016). „Wenn man sich mit dem Begriff der Menschenwürde beschäftigt, wird man unvermeidlich irgendwann mit dem Vorwurf konfrontiert werden, beim Begriff der Menschenwürde handle es sich um einen unbrauchbaren und leeren Begriff, auf den man besser ersatzlos verzichten würde.“ Peter Schaber, Menschenwürde, Stuttgart 2012, 84.
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weite zu verstehen, eröffnet die Möglichkeit, Kants Votum für den Primat des Rechten vor dem Guten im Kontext einer Ethik zu verorten, die am Menschen Maß nimmt.
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Die Bedeutung von Kants Würdeverständnis für die Begründung der Menschenrechte
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Eine diskursethische Begründung der Menschenrechte* Adela Cortina 1. Einführung Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen von 1948 ist aus rechtsgeschichtlicher Perspektive vielleicht das wichtigste historische Ereignis überhaupt.1 Zum ersten Mal wird universell erklärt, dass alle Menschen allein aufgrund der Tatsache, Menschen zu sein, Rechte besitzen, die von allen Staaten und Personen anerkannt werden müssen. Es handelt sich nicht darum, dass Menschen Rechte gewährt werden, weil sie Mitglieder einer politischen Gemeinschaft sind, sondern dass jede politische Gemeinschaft dazu verpflichtet ist, diese Rechte anzuerkennen, da jeder Mensch Subjekt dieser Rechte ist. Die Erklärung von 1948 wurde zum erfolgreichsten Projekt, das die Menschheit gemeinsam angegangen ist. Aus dieser Erklärung gingen die im Jahr 2000 verkündeten und dann 2005 ratifizierten Millenniums-Entwicklungsziele hervor sowie die 2015 erklärten Ziele für Nachhaltige Entwicklung, die bis 2030 umgesetzt werden sollen, und andere Projekte der Vereinten Nationen wie der Global Compact zwischen Unternehmen und der UNO, das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen, internationale Rechtsnormen und Projekte zur Gestaltung einer kosmopolitischen Gesellschaft. Man könnte sagen, dass wir zum ersten Mal in der Geschichte über ein globales Bewusstsein darüber verfügen, dass es unerlässliche Mindeststandards an Gerechtigkeit gibt, auf die man nicht verzichten kann, ein Bewusstsein davon, welche Mindestrechte jede Person wegen der bloßen Tatsache hat, ein Mensch zu sein. Zudem wissen wir, dass dieser Inhalt, ausgehend von neuen Erfahrungen, ausgeweitet werden kann. Ich glaube, dass Kant, wäre ihm die Erklärung von 1948 bekannt gewesen, in ihr – mehr noch als in der Französischen Revolution – die Erscheinung des moralischen Fortschritts der Menschheit gesehen hätte.2 Denn die Erkenntnis, dass jeder Mensch, weil er ein Mensch ist, das Subjekt von Rechten ist, die weltweit ge* Übersetzt von Carsten Regling. 1 Diese Untersuchung ist Teil des Proyecto de Investigación Cientifica y Desarollo Tecnológico FFI2016–76753–C2–1–P, finanziert vom Ministerio de Economía y Competiti vidad, und der Forschungsgruppe PROMETEO/2009/085 der Generalitat Valenciana. 2 Immanuel Kant, Der Streit der Fakultäten, AA 07, 85. Kants Werke werden hier und im Folgenden nach der von der Preußischen Akademie der Wissenschaften herausgegebenen
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schützt sein müssen, verlangt die Schaffung einer kosmopolitischen Gesellschaft, die der Traum einer aufgeklärten Vernunft wie der kantischen ist.3 Dennoch weisen die Menschenrechte eine Vielzahl von Problemen auf: Wie ist das Konzept der Menschenrechte genauer zu verstehen; was ist ihre Natur; ist es möglich, sie rational zu begründen; welche Liste von Menschenrechten ist am angemessensten; warum bestehen Widersprüche zwischen den Rechten ein und derselben Liste; sind sie ethnozentristisch oder dienen als ideologische Entschuldigung für die Intervention in bestimmte Länder, sodass ihre Verteidigung nur ein Vorwand wäre; wie garantiert man ihren Schutz?4 All diese Probleme sind wesentlich, in dieser Untersuchung beziehen wir uns jedoch vor allem auf eines von ihnen: die Möglichkeit einer rationalen Grundlage der Menschenrechte. Natürlich ist diese Frage eng mit dem Problem des Konzeptes und der Natur der Menschenrechte verbunden sowie mit der Möglichkeit, ausgehend von der Moraltheorie eine Liste der Menschenrechte zu erstellen. In diesem Beitrag wollen wir uns jedoch auf die Frage konzentrieren, inwieweit es möglich ist, Menschenrechte rational zu begründen.5 Dies werden wir ausgehend von der Diskursethik tun, dabei aber über Apel und Habermas hinausgehen, da sie keine auf der Diskursethik basierende philosophische Begründung der Menschenrechte liefern, obwohl dies – meiner Meinung nach – möglich ist. Mein Vorschlag steht in einer Reihe mit denen von Benhabib oder Forst, die ebenfalls der Diskursethik folgen, weicht aber in wesentlichen Punkten davon ab. Der Beitrag folgt daher den folgenden Schritten: Eine Analyse des Status der Menschenrechte (Abschnitt 2); eine Begründung der Menschenrechte auf Grundlage der Diskursethik (Abschnitte 3 bis 6); und Antworten auf Einwände und Schlussfolgerung (Abschnitt 7).
2. Der Status der Menschenrechte Eine angemessene Theorie der Menschenrechte darf diese weder als gesetztes Recht im Sinne des Rechtspositivismus noch als natürliches Recht im Sinne des Naturrechts verstehen.
Akademie-Textausgabe von Kants gesammelten Schriften zitiert, Berlin 1900 ff., Nachdruck Berlin 1968. 3 Zu den verschiedenen aktuellen Positionen hinsichtlich der Möglichkeit eines globalen Rechts aus kosmopolitischer Perspektive siehe Gillian Brock, Global Justice. A Cosmopolitan Account, Oxford 2009. 4 Zu einigen der Aporien im Zusammenhang mit den Menschenrechten siehe Anna Yeatman/Peg Birmingham (Hgg.), The Aporia of Rights. Explorations in Citizenship in the Era of Human Rights, New York 2014. 5 Zum Konzept der Menschenrechte siehe Antonio E. Pérez Luño, Derechos humanos, Estado de Derecho y Constitución, Madrid 1984, 21–51. Zu verschiedenen Modellen der Begründung siehe ebd., 132–184; Rowan Cruft/S. Matthew Liao/Massimo Renzo (Hgg.), Philosophical Foundations of Human Rights, Oxford 2015.
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Die Menschenrechte sind keine gesetzten Rechte, da sie in diesem Fall ihren Anspruch auf Universalität verlieren würden und nur für die politischen Gemeinschaften gelten würden, die sie in ihrer konkreten Gesetzgebung zu Grundrechten erklärt haben. Auch wenn die Menschenrechte historisch entstanden sind und ihre konkrete Gestalt sich historisch entwickelt hat, beanspruchen sie doch stets eine Universalität, die sie von gesetzten Rechten unterscheidet. Sie werden auch nicht gewährt, sondern sie kämpfen darum, anerkannt zu werden. Diese doppelte Forderung von Universalität und Anerkennung scheint für die naturrechtliche Position zu sprechen: Aus naturrechtlicher Perspektive sind die natürlichen Rechte „älter“ als der Gesellschaftsvertrag und verlangen daher ihre Anerkennung. Ich bin jedoch der Meinung, dass die Menschenrechte auch keine natürlichen Rechte sind und dass das Naturrecht mindestens zwei unüberwindbare Probleme aufwirft: 1) „Ein Menschenrecht haben“ ist keine Aussage, die zur deskriptiven Sprache gehört, es ist keine Qualität, die Teil der Beschreibung eines Wesens ist, weder aus empirischer noch aus metaphysischer Sicht. Aus empirischer Sicht ist es keine natürliche Eigenschaft, und in diesem Sinne hat ein Neoaristoteliker wie MacIntyre recht, wenn er behauptet, dass es Menschenrechte genauso wenig gibt wie Hexen oder Einhörner. MacIntyres Meinung nach kann man sie nur als nützliche Fiktion betrachten.6 Aber es ist auch keine metaphysische, mit ontologischer Wirklichkeit ausgestattete Eigenschaft, denn Rechte sind von Natur aus etwas Konventionelles. Folgt man der Hegel’schen Denkweise, gehören Rechte nicht zur Ebene der Natur, sondern zu der der intersubjektiven Anerkennung: Es muss eine Gesellschaft existieren, die bereit ist, sie anzuerkennen. Daher kann man sagen, dass sie zwar nicht relativ, aber relational sind: Sie stehen in Beziehung zur Intersubjektivität.7 2) Spricht man von natürlichen Rechten, schwebt das Prädikat „natürlich“ in einem mehrdeutigen Bereich zwischen biologischer und metaphysischer Ebene. Versteht man es im ersten Sinn, hätte es keine normative Kraft, denn aus einem biologischen „Es ist“ folgt weder ein moralisches noch ein rechtliches „Es soll“. Versteht man es im zweiten Sinn, hätte es normative Kraft, jedoch nur für diejenigen, die eine bestimmte metaphysische Anthropologie billigen, und nicht für alle Mitglieder pluralistischer Gesellschaften, in denen es verschiedene umfassende Doktrinen des Guten – um mit Rawls zu sprechen – oder verschiedene Ethiken des Maximalen gibt, um einen Ausdruck zu verwenden, den ich in den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts geprägt habe.8 6
Alasdair MacIntyre, After Virtue. A Study in Moral Theory, London, 2. Aufl. 1985, 69. Charles Taylor, „Atomism“, in: ders., Philosophy and the Human Sciences: Philosophical Papers II, Cambridge 1985, 187–210. 8 Adela Cortina, Ética mínima, Madrid 1986; Adela Cortina, Covenant and Contract. Politics, Ethics and Religion, Leuven 2003, 99 ff.; John Rawls, Political Liberalism, New York 1993 (= Political Liberalism). 7
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Aus all dem lässt sich folgern, dass man, um die Natur der Menschenrechte zu erklären, nach der Möglichkeit einer Alternative zu den beiden erwähnten Begründungen suchen muss.
3. Die Möglichkeit, Menschenrechte rational zu begründen Hat man einmal sowohl den rechtlichen Positivismus als auch das substantialistische Naturrecht ausgeschlossen, bleiben nur zwei Optionen: Entweder setzt man die Menschenrechte mit ethischen Forderungen gleich, die ihren Ursprung im Konzept der menschlichen Würde haben, oder sie beruhen auf einer formalen oder Verfahrensrationalität, die mit den verschiedenen Ethiken des Maximalen kompatibel ist. 3.1. Menschenwürde Die Begründung der Menschenrechte anhand des Konzeptes der Würde wird in der Erklärung von 1948 aufgenommen, und auch die Wiener Erklärung der Weltmenschenrechtskonferenz hält daran fest.9 Ihre mobilisierende Wirkung ist zweifellos eine wichtige Motivation für diese Art der Verteidigung der Menschenrechte. Die Erklärung der Menschenrechte hat jedoch nicht den Anspruch einer philosophischen Begründung. Um eine solche philosophische Begründung zu finden, wäre es nötig zu erklären, was die Grundlage der Würde ist, denn Würde ist kein deskriptives, mit ontologischem Rang verbundenes Prädikat, sondern eines, das mit Werten zu tun hat, ein axiologisches Prädikat. Kant begründet die Würde mit dem Wert autonomer Menschen, doch dafür muss er auf eine Metaphysik der Sitten zurückgreifen.10 Erstaunlicherweise beschäftigt sich Habermas seit einiger Zeit mit dem Begriff der Würde und behauptet, dass es schon immer eine enge Verbindung zwischen Menschenrechten und menschlicher Würde gegeben habe; er geht so weit zu konstatieren, dass die Menschenwürde die moralische Quelle sei, „aus der sich die Gehalte aller Grundrechte speisen“11.
9 Beitz hält fest, dass die Tatsache, dass das Konzept des Menschen mit einer inhärenten Würde eine wesentliche Moralvorstellung ist, die zu manchen Gerechtigkeitskonzepten besser passt als zu anderen, kein Hindernis dafür sei, die Menschenrechte als einen „common concern“ anzusehen. Charles Beitz, „Human Rights and the Law of Peoples“, in: Deen K. Chatterjee (Hg.), The Ethics of Assistance, Cambridge 2004, 193–214 (= Human Rights and the Law of Peoples), 280. 10 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA 04, 434. 11 Jürgen Habermas, Zur Verfassung Europas. Ein Essay, Frankfurt 2011, 13–38.
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So interessant diese Betrachtungen auch sein mögen, lässt sich sagen, dass Habermas in Wirklichkeit 1) von der Würde als einer „moralischen Quelle“ der Menschenrechte spricht, nicht einer Grundlage; 2) auf eine enge Verbindung zwischen beiden Konzepten hinweist, aber innerhalb seiner Diskurstheorie nicht aufzeigt, warum man Menschen so etwas wie Würde zugestehen muss; 3) einräumt, dass der Begriff der Würde die Motivation ist, an einer „realistischen Utopie“ zu arbeiten. Meines Erachtens ist der Schutz der Menschenrechte in der Diskursethik und -theorie jedoch keine Utopie, sondern eine Forderung nach Gerechtigkeit, die wie eine regulative Idee in dem Sinne, wie Kant den ewigen Frieden verstanden hat, funktioniert. Kant sagt, dass niemand von einem theoretischen Standpunkt aus sicher sein kann, dass wir eine Situation des ewigen Friedens erreichen werden; es könne sich aber auch niemand des Gegenteils sicher sein. Dennoch verlangt die praktische Vernunft, am Frieden zu arbeiten, denn sie „spricht […] in uns ihr unwiderstehliches veto aus: Es soll kein Krieg sein; […] denn das ist nicht die Art, wie jedermann sein Recht suchen soll.“12 Meiner Meinung nach ist eine Situation, in der die Menschenrechte geschützt sind, eine regulative, von den Diskursvoraussetzungen verlangte Idee; doch im Gegensatz zu Kants Vorstellung ist diese regulative Idee den transzendentalpragmatischen Bedingungen der Rede verhaftet. 3.2. Verfahrensethik Was die Möglichkeiten einer Verfahrensethik betrifft, scheinen sich seit einiger Zeit zwei Alternativen anzubieten: 1) Die sogenannte „politische Konzeption“ der Menschenrechte, die Autoren wie Rawls, Pogge, Joshua Cohen, Ignatieff, Kenneth Baynes oder Jean L. Cohen vertreten.13 2) Die Diskursethik, zu deren Vertretern neben ihren Begründern u.a. Forst, Kettner, Benhabib, Bohman und ich selbst zählen. Die politische Konzeption ist meines Erachtens gut geeignet, die Möglichkeiten eines politischen Gebrauchs der Menschenrechte auf internationaler und globaler Ebene zu verdeutlichen, da sie erlaubt, die Menschenrechte in Richtlinien des internationalen Rechts zu verwandeln, die es ermöglichen, die Verteidigung dieser Rechte auf globaler Ebene zu institutionalisieren.14 Doch sie beansprucht nicht, eine philosophische Begründung zu liefern. Sie ist eher eine Hermeneu12
Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten, AA 06, 354. Für eine genaue Darstellung dieser auf Rawls zurückgehenden Denkrichtung siehe Jean L. Cohen, „Rethinking Human Rights, Democracy, and Sovereignty in the Age of Globalization“, Political Theory 36 (2008), 578–606. Vgl. John Rawls, Political Liberalism und John Rawls, „The Law of Peoples“, in: ders., Collected Papers, hg. von Samuel Freeman, Harvard, MA 1999, 529–564. 14 Kenneth Baynes, „Discourse Ethics and the political conception of human rights“, Ethics & Global Politics 2 (2009), 1–21 (= Discourse Ethics and Human Rights). 13
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tik der Kohärenz als eine kritische Hermeneutik, weshalb sie sich auch den konkreten historischen Umsetzungen gebeugt hat. Aus meiner Sicht hat sie folgende Beschränkungen: 1) Sie scheint sich von normativen Rechtfertigungen entfernt zu haben. 2) Ihre Hermeneutik der Kohärenz verhindert, die Menschenrechte als Forderung an nicht-liberale Länder zu präsentieren. 3) Sie präsentiert deflationäre Ansprüche von Menschrechten, da sie durch die Verringerung der Anzahl von Rechten größtmöglichen Konsens erzielen will. Dies ist das Problem des Funktionalismus. 4) Auch wenn einige ihrer Verteidiger darauf bestehen, dass die politische Funktion nicht alle Ansprüche der Menschenrechte erschöpft, rechtfertigt die Theorie selbst nicht, dass dies so ist.
Daher möchte ich eine philosophische Begründung der Menschenrechte auf Basis einer besonderen Diskursethik vorschlagen, die grundsätzlich die folgenden Möglichkeiten bietet: 1) Sie beabsichtigt, die Menschenrechte mithilfe einer Verfahrensrationalität zu begründen, die mit dem Pluralismus der Ethiken des Maximalen und der umfassenden Doktrinen des Guten kompatibel ist.15 Doch im Gegensatz zur klassischen Diskursethik erkennt dieser Prozeduralismus an, dass er axiologisch nicht neutral, sondern von Werten wie den folgenden durchdrungen ist: Freiheit, verstanden als Autonomie, um an den Diskursen teilzunehmen und die Geltungsansprüche der Rede zu akzeptieren oder abzulehnen; Gleichheit in Bezug auf die Möglichkeit der Teilhabe; und Solidarität im Kontext der Sprachnetze.16 2) Diese Begründung ermöglicht die Vermittlung zwischen Universalität und Geschichte, das heißt zwischen universellen Ansprüchen, der historischen Ent deckung dieser Ansprüche und der Gestaltung der konkreten Rechte in den je weiligen konkreten historischen Situationen. Diese konkrete Gestaltung müssen die Beteiligten realisieren, indem sie die Regeln des praktischen Diskurses befolgen. 3) Diese Begründung ermöglicht folglich die Vermittlung zwischen Transzendentalität und Geschichte. Damit hat man eine Antwort auf die Kritik von B aynes, der mit folgenden Worten auf eine Unklarheit der Diskursethik in Habermas’ Ansatz hinweist: „Are human rights derived in a strong sense from the conditions of ‚communicative freedom‘ or are they developed from the participants’ own reflection upon their ongoing and continuously changing practices and institutions?“17 Oder, um es mit den Worten von Flynn zu sagen: „The issue
15 Adela Cortina, „Diskursethik und Menschenrechte“, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 76 (1990), 37–49 (= Diskursethik und Menschenrechte). 16 Adela Cortina, Justicia cordial, Madrid 2010 (= Justicia cordial), Kapitel 8. 17 Baynes, Discourse Ethics and Human Rights, 1.
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is whether Habermas can simultaneously maintain a strong co-originality thesis [of human rights and popular sovereignty] and a strong defense of the universal validity of human rights […].“18 Meines Erachtens sind die konkreten Listen der Menschenrechte historisch konstruiert, um die moralischen Forderungen, die die kommunikative Praxis aufwirft, interpretieren zu können. In der Rangordnung der ratio cognoscendi beginnt die Reihenfolge mit den verschiedenen Generationen der Rechte, die seit der Moderne historisch anerkannt wurden und von konkreten Kontexten abhängen. Ihre rationale Gültigkeit hängt jedoch nicht von historischen Entscheidungen ab, sondern von den Präsuppositionen des Diskurses über die konkreten Rechte; Präsuppositionen, die auf moralische Forderungen hinweisen. Dementsprechend wäre die Reihenfolge in der Rangordnung der transzendentalen ratio essendi: moralische Forderungen – Menschenrechte als moralische Rechte, proklamiert in den konkreten Erklärungen – Grundrechte, aufgenommen in die konkreten Verfassungen. Transzendentalität und Geschichte beziehen sich gegenseitig aufeinander, wie eine kritische Hermeneutik zeigt: In der Rekonstruktion der Bedingungen der Gültigkeit der Argumentation offenbaren sich die transzendentalen Forderungen, doch diese Forderungen verlangen historische Interpretationen, die die Listen der Menschenrechte bilden. Habermas hat recht, wenn er sagt, dass die Moraltheorie keinen Zusammenhang zwischen den Rechten aufzeigt, sondern dass dies die konkreten Erklärungen tun. Doch die Grundlage der Verteidigung ihrer Legitimität ist transzendental. 4) Mein Vorschlag vertritt ein dualistisches Konzept der Menschenrechte, das heißt, es versteht sie als moralische Forderungen, deren Umsetzung mittels konkreter Institutionen garantiert sein muss. Dazu gehört das Recht der Nationalstaaten, das die Menschenrechte als Grundrechte aufnehmen muss, das Völkerrecht und das Weltbürgerrecht. In dem Punkt, dass die Menschenrechte auf ihre Positivierung drängen, um ihren Schutz zu garantieren, stimme ich mit Habermas überein. Im Übrigen bin ich in zwei Hinsichten anderer Meinung: (a) Sobald die Menschenrechte zu verfassungsmäßigen Grundrechten werden, erlangen sie einen neuen Status, die Form des Rechts. „Vor“ der Positivierung haben wir moralische Forderungen, die durch ihre Verkündung zu Menschenrechten werden und die die Rechtsform annehmen, sobald sie positiv als Grundrechte gesetzt werden. (b) Ihr Inhalt als moralische Rechte erschöpft sich nicht in ihrer Rechtsform. Wie Sen richtig sagt, sind Menschenrechte keine „Rechte auf der Warte18 Jeffrey Flynn, „Habermas on Human Rights: Law, Morality, and Intercultural Dia logue“, Social Theory and Practice 29 (2003), 431–457, 443.
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bank“, die darauf harren, positiv gesetzt zu werden, sondern moralische Rechte, die auf verschiedene Weise verteidigt werden können: durch Erklärungen, durch rechtliche Positivierung und durch Agitation.19 5) Der „Ort“ der Menschenrechte ist der der Intersubjektivität und der Anerkennung, wodurch sich die Diskursethik von dem Vorwurf des westlichen Individualismus befreit.20
4. Die Bedingungen des Diskurses und der Deliberation In seiner Reflexion über Menschenrechte schlägt Habermas eine Rekonstruktion der historischen Verbindung zwischen individueller und politischer Autonomie vor, zwischen Menschenrechten und Volkssouveränität.21 Meiner Meinung nach nähert Habermas sich aus Furcht vor einem vermeintlichen „Menschenrechtsfundamentalismus“, der dem demokratischen Willen moralische Rechte aufzwingt, dem an, was ich „die Hermeneutik der Kohärenz“ von Rawls nennen würde, denn in Wirklichkeit scheint auch Habermas’ Vorschlag in dem Versuch zu bestehen zu rekonstruieren, wie sich Gesellschaften mit liberaler Demokratie selbst begreifen. Deshalb besteht er nicht auf der Begründung, sondern auf der Erarbeitung von konkreten Rechtslisten, und diese Erarbeitung kann ihm zufolge nicht von den Moraltheorien, sondern nur von realen Diskursen geleistet werden. Doch er nimmt diese realen Diskurse über die konkreten Menschenrechte nicht als Ausgangspunkt, um ihre rationale Grundlage zu suchen, was er meines Erachtens tun müsste. Denn kann es nicht geschehen, dass in den realen Diskursen Entscheidungen getroffen werden, die sich gegen die Bedingungen richten, die der Argumentation darüber, welche moralischen Forderungen die Form von Menschenrechten annehmen sollen, Sinn und Geltung verleihen? In eine ähnliche Gefahr läuft Sen, wenn er es ablehnt, eine Liste von Berechtigungen oder Rechten zu entwerfen, da dies seines Erachtens den Wert der Demokratie schmälern würde, und stattdessen vorschlägt, dass durch eine offene Deliberation entschieden wird, welches die grundlegenden Rechte und Berechtigungen sind. „In the approach pursued in this work“, sagt er ausdrücklich,
19
Amartya Sen, „Elements of a Theory of Human Rights“, Philosophy and Public Affairs 32 (2004), 315–356 (= Elements of a Theory of Human Rights); Amartya Sen, „Human Rights and Capabilities“, Journal of Human Development 6 (2005), 151–166 (= Human Rights and Capabilities). 20 Flynn, Habermas on Human Rights, 451. 21 Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt 1992 (= Faktizität und Geltung), Kap. III.
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human rights are ethical claims constitutively linked with the importance of human freedom, and the robustness of an argument that a particular claim can be seen as a human right has to be assessed through the scrutiny of public reasoning, involving open impartiality.22
Obwohl es hinsichtlich einer normativen Analyse der Menschenrechte Unterschiede zwischen Habermas und Sen gibt, stimmen beide darin überein, dass die Entscheidung, was zu den Menschenrechten zählt, dem demokratischen Diskurs und der demokratischen Deliberation überlassen sein muss. Wenn die Betroffenen (in diesem Fall alle Menschen) das Recht haben, darüber zu beratschlagen, ist es jedoch meiner Meinung nach notwendig, dass die Beratschlagung oder der Diskurs unter Bedingungen stattfinden, die verhindern, dass ein pragmatisch-praktischer Widerspruch zwischen dem Ergebnis der Beratschlagung und den pragmatischen Voraussetzungen, die dem Ergebnis Sinn und Geltung verleihen, entsteht. Diese Voraussetzungen stellen das kritische Element dar, das es ermöglicht, zwischen einem sich ernsthaft entwickelnden Diskurs und einem manipulierten oder Scheindiskurs zu unterscheiden. Wie Apel treffend formuliert, wenn er die Tatsache der Argumentation zum Ausgangspunkt der transzendentalen Betrachtung nimmt, ist die grundlegende Struktur der diskursethischen Basis: „Als ernsthaft Argumentierende“ haben wir bestimmte Voraussetzungen „notwendigerweise immer schon […] anerkannt“23. Tatsächlich hat jeder, der ernsthaft argumentiert – in diesem Fall über konkrete Menschenrechte –, auf pragmatische Weise bestimmte Bedingungen vorausgesetzt. Und man kann dem Inhalt dieser Bedingungen nicht widersprechen, ohne der Argumentation Sinn und Geltung zu entziehen. Daher ist der Ausgangspunkt meiner Begründung die Tatsache der Argumentation über die Gerechtigkeit der Normen. In diesem Beitrag werde ich mich jedoch auf den Diskurs über die Geltung der Menschenrechte konzentrieren.24 Dieser Diskurs verlangt einen Rückgriff auf das Prinzip der Universalisierung, nicht anders als bei moralischen Normen, denn er entspricht universalisierbaren Interessen.
5. Die pragmatischen Rechte Die Diskurse darüber, welche moralischen Forderungen als Menschenrechte betrachtet werden sollen, können zwei Formen annehmen: 1) Entweder eine Gruppe von gesellschaftlichen Vertretern trifft die Entscheidungen, indem sie 22
Amartya Sen, The Idea of Justice, London 2009, 365–366 (= The Idea of Justice). Apel, „Diskursethik als Verantwortungsethik – eine postmetaphysische Transformation der Ethik Kants“, in: Gerhard Schönrich/Yasushi Kato (Hgg.), Kant in der Diskussion der Moderne, Frankfurt am Main 1996, 326–359, hier 334 f. 24 Siehe auch Cortina, Diskursethik und Menschenrechte. 23 Karl-Otto
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darüber mutmaßt, „was alle wollen könnten“ – dies ist die Form, die im Bereich der internationalen Politik tatsächlich vorkommt. 2) Oder die Teilnehmer, in diesem Fall sämtliche Menschen, treten in Dialog, wobei sie sich an die Regeln des praktischen Diskurses halten, die Habermas in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts mithilfe von Robert Alexys Normen entwickelt hat.25 In beiden Fällen ähneln die Menschenrechte moralischen Normen, da 1) sie sich auf jede Person als solche beziehen, und 2) ihre Rechtfertigung – nach dem Prinzip der Universalisierung – auf moralischen Argumenten beruht, weil sie im Interesse aller Betroffenen formuliert werden.26 Das Spezifische der Diskursethik ist, dass Diskurse unter Beteiligung aller Betroffenen stattfinden und dabei die Normen des praktischen Diskurses befolgt werden, zu denen grundsätzlich die folgenden gehören27: 1) Regeln einer Minimallogik oder Forderungen nach Konsistenz. 2) Pragmatische Voraussetzungen, die nötig sind, wenn die Argumentationen als Prozesse der Verständigung, die eine kooperative Suche nach der Wahrheit beinhalten, verstanden werden. Auf dieser Ebene kommt es zu Regeln, die einen ethischen Inhalt haben und Beziehungen reziproker Anerkennung voraussetzen. 3) Regeln, die die Struktur einer idealen, gegen Repression und Ungleichheit immunisierten Gesprächssituation bilden, und zwar in dem Maße, in dem sich der argumentative Diskurs wie ein Kommunikationsprozess darstellt, der starke Bedingungen erfüllen muss, um zu einem rational motivierten Konsens zu gelangen. In diesem dritten Bereich müssen die folgenden Regeln befolgt werden: 3.1) Jedes der Sprache und Handlung fähige Subjekt darf an den Diskursen teilnehmen. 3.2) Jeder darf Aussagen hinterfragen, Aussagen zu den Diskursen hinzufügen und seine Positionen, Anliegen und Bedürfnisse äußern. 3.3) Kein Sprecher darf – innerhalb wie außerhalb der Diskurse – mit Zwang daran gehindert werden, innerhalb von Diskursen die Rechte 3.1 und 3.2 wahrzunehmen. Aus diesen Regeln folgt, dass eine Norm nur durch Verständigung der Teilnehmer eines Diskurses zustande kommen kann, wenn das Prinzip der Universalisierung gilt. Zudem kann die Diskursethik ein Prinzip „D“ begründen, 25
Robert Alexy, „Eine Theorie des praktischen Diskurses“, in: Willi Oelmüller (Hg.), Normenbegründung, Normendurchsetzung, Paderborn 1978, 22–58; Jürgen Habermas, Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt 1983 (= Moralbewusstsein), 97 ff. 26 Flynn, Habermas on Human Rights, 434. 27 Habermas, Moralbewusstsein, 97 ff.
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das besagt, dass Normen nur dann gültig sind, wenn sie „die Zustimmung aller Betroffenen als Teilnehmer eines praktischen Diskurses finden (oder finden könnten).“28 Diese Diskursregeln sind keine Konventionen, sondern unvermeidliche Voraussetzungen29. Wenn also – in unserem Fall – jemand herausfinden möchte, welche Art von moralischen Forderungen als Menschenrechte betrachtet werden können, hat er auf pragmatische Weise bereits akzeptiert, an einem praktischen Diskurs teilzunehmen, in dem die Betroffenen in der Lage sein müssen, diese Rechte geltend zu machen, da sie auf pragmatische Weise bereits „vorher“ über sie verfügen. Ohne die Absicht, diese pragmatischen Rechte ernsthaft zu akzeptieren, mangelt es den Diskursen und Konsensen an Sinn und Geltung. Daher ist es richtig, dass die konkreten Menschenrechte mittels konkreter, historisch verorteter Diskurse entwickelt werden müssen. Aber es ist genauso richtig, dass es eine unumgängliche Voraussetzung gibt, um derart an den Diskursen zu partizipieren, dass man das angestrebte Ziel erreicht (nämlich das Ziel, eine Verständigung zu erlangen): dass die Dialogpartner bereit sind, diese Rechte, die ich „pragmatische Rechte“ genannt habe, zu respektieren. Die pragmatischen Rechte auf Teilnahme an den Diskursen über alle Normen, die einen betreffen, um Interessen, Wünsche und Sorgen vorzutragen und bei den endgültigen Entscheidungen mitzuwirken, sind Voraussetzungen, ohne die das Ergebnis des Diskurses keine Gültigkeit besitzt. Allerdings sind wir mit diesen Feststellungen weder über den Bereich der Logik des praktischen Diskurses hinausgelangt, noch haben wir über Menschenrechte gesprochen.
6. Menschenrechte als Voraussetzung für die Möglichkeit, pragmatische Rechte auszuüben Im Grunde genommen scheint die Diskursethik keine Begründung der Menschenrechte anzubieten, sondern nur die Forderung, dass die „pragmatischen Rechte“ der tatsächlichen oder potentiellen Diskursteilnehmer, die von den Diskursen über das Gerechte betroffen sind, respektiert werden. Diese Rechte würden sich aus eben diesen Diskursregeln ergeben, doch ihre Reichweite könnte die Grenzen des Diskurses nicht überschreiten. Sie könnten nicht zu einer Orientierung für das Handeln werden. So scheint Habermas das Problem zu verstehen, wenn er behauptet, dass es nicht klar ist, ob die in den Diskursen vorausgesetzten transzendentalpragmatischen Forderungen unmittelbar vom Diskurs auf die Handlungssphäre übertra28 Habermas, 29 Habermas,
Moralbewusstsein, 103. Moralbewusstsein, 98–100.
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gen werden können. Habermas versteht den Diskurs als einen Bereich, der sich von den Zwängen des alltäglichen Lebens befreit, um sich für die Stärke des besten Arguments zu öffnen und nicht von Motiven, die außerhalb des Diskurses stehen, beeinflusst zu werden. Daher sind die wesentlichen Normen des Rechts und der Moral nicht Teil des Gebiets der Moraltheorie, sondern müssen in konkreten Handlungskontexten entschieden werden, wobei berücksichtigt werden muss, dass die historischen Umstände ihr eigenes Licht auf die praktisch-moralischen Grundgedanken werfen.30 Das Einzige, was für ihn feststeht, ist, dass in diesen Fällen die Diskurse rund um die rechtlichen und moralischen Normen transzendental voraussetzen, was ich „pragmatische Rechte“ genannt habe. Ich stimme mit Habermas überein, dass es der Vorteil einer prozeduralen Theorie der praktischen Vernunft ist, dass nicht sie es ist, die fundamentale Normen mit moralischem oder rechtlichem Inhalt festlegen muss. Genau dies ist ein Charakteristikum der formalen Theorien der praktischen Vernunft seit Kant. Im konkreten Fall der Menschenrechte hat dieser Prozeduralismus große Vorteile, da es nicht die Moraltheorie ist, die damit betraut ist, eine Liste von Menschenrechten zu entwickeln. Dass eine Moraltheorie eine Liste von Menschenrechten entwickelt, kann nur zwei Konsequenzen haben, die beide unerwünscht sind: dass die Liste nicht von allen Mitgliedern einer pluralistischen Gesellschaft akzeptiert wird und dass die gelegentlich herrschende Skepsis, die große Zahl von bestehenden Listen einer Überprüfung unterziehen zu können, zunimmt. Trifft es wirklich zu, dass im alltäglichen Leben jede beliebige Entscheidung getroffen werden kann und die Moraltheorie kein Kriterium der Kritik anbietet? Das träfe im Fall der realen Diskurse zu, auf die sich die Diskursethik bezieht, und auch in dem Vorschlag von Amartya Sen, über Fähigkeitslisten durch eine öffentliche Deliberation zu entscheiden.31 Deshalb müssen wir im Prozess der Reflexion einen Schritt weiter gehen. Tatsächlich gibt es aber bei der ergebnisoffenen öffentlichen Deliberation, von der Sen spricht, wie auch im Falle realer Diskurse, von denen die Diskursethik spricht, ein entscheidendes Kriterium für die Gültigkeit der erzielten Ergebnisse: Es darf kein performativer Widerspruch bestehen zwischen den getroffenen Entscheidungen und den Bedingungen, die die Ausführung der pragmatischen Rechte ermöglichen, weil es diese pragmatischen Rechte sind, die dem Eintritt in eine Deliberation über die Richtigkeit der Regeln Sinn verleihen. Ein faktischer Konsens, bei dem entschieden würde, eine dieser Bedingungen zu verletzen, würde zugleich gegen die Voraussetzungen des Verfahrens verstoßen, das
30 Habermas, Moralbewusstsein, 96; Jürgen Habermas, „Zur Architektonik der Diskursdifferenzierungen. Kleine Replik auf eine große Auseinandersetzung“, in: ders., Diskursethik. Philosophische Texte, Frankfurt 2009, 435–450, 441 ff. 31 Sen, Elements of a T heory of Human Rights; ders., Human Rights and Capabilities; ders., The Idea of Justice; ders., „Human Rights and the Limits of Law“, Cardozo Law Review 27 (2006), 2913–2927.
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zu dem Konsens geführt hat, womit die Entscheidung ungerecht wäre und es zu einem performativ-praktischen Widerspruch käme. Nicht alles ist den konkreten Entscheidungen der konkreten Diskurse unterworfen. Die Entscheidungen, die gegen die Rechte der möglichen Betroffenen verstoßen, die mit – wirklicher oder potentieller – kommunikativer Fähigkeit ausgestattet sind, sind ungerecht und irrational. Daraus folgt, dass die faktischen Übereinstimmungen über die Menschenrechte, die in internationalen Erklärungen und den Verfassungen der konkreten Länder anerkannt werden müssen, diese vorausgesetzten Rechte respektieren und sie, je nach Umständen des einzelnen Falls, historisch zu konkretisieren versuchen müssen. Wenden wir die transzendentale Reflexion auf die Möglichkeitsbedingungen der Ausführung der pragmatischen Rechte an, stoßen wir auf eine moralische Forderung, die erfüllt sein muss, damit die pragmatischen Rechte angewandt werden können: die Forderung, dass jeder Betroffene als ein unentbehrlicher Gesprächspartner bei allen Fragen, die ihn betreffen, berücksichtigt werden muss. Es handelt sich dabei um eine ethische Forderung, denn sie entspringt der Notwendigkeit einer gegenseitigen Anerkennung der Dialogpartner. Sie ist nicht bloß eine logische Forderung, sondern umfasst auch die moralischen Werte Freiheit – verstanden als Autonomie –, Gleichheit und Solidarität. Die Forderung nach Anerkennung ist ethisch und nicht nur logisch. In diesem Punkt weiche ich von Habermas’ Vorschlag in Faktizität und Geltung ab, wenn er, seine Position aus Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln korrigierend, behauptet, das Diskursprinzip (D) sei nicht ethisch, sondern gegenüber Moral und Recht neu tral.32 Meines Erachtens hat in diesem Punkt Apel recht: Das Diskursprinzip ist bereits ein ethisches Prinzip, da die Notwendigkeit gegenseitiger Anerkennung nicht nur logischer Natur ist.33 Im Rahmen seines Versuchs, die Menschenrechte mit der Diskursethik zu begründen, spricht Forst von einem Prinzip der Rechtfertigung in jeder konkreten Gemeinschaft.34 Und Benhabib spricht, Hannah Arendt folgend, von dem Recht, Rechte zu haben.35 Meiner Meinung nach ist der Schlüssel dieser Begründung, dass sich jeder, der sich ernsthaft für die Gerechtigkeit der Normen und dafür interessiert, welche Rechte als „menschlich“ zu betrachten sind, gezwungen 32 Habermas,
Faktizität und Geltung, 138 ff. Apel, „Auflösung der Diskursethik? Zur Architektonik der Diskursdifferenzierung in Habermas’ Faktizität und Geltung. Dritter, transzendentalpragmatisch orientierter Versuch, mit Habermas gegen Habermas zu denken“, in: ders., Auseinandersetzungen in Erprobung des transzendentalpragmatischen Ansatzes, Frankfurt 1998, 727–837, Punkt 1.2. 34 Rainer Forst, „T he Right to Justification. Elements of a Constructivist T heory of Justice“, Constellations 6 (1999), 35–56 (= The Right to Justification). 35 Seyla Benhabib, „Another Universalism: On the Unity and Diversity of Human Rights“, Proceedings and Addresses of the American Philosophical Association 81 (2007), 7–32 (= Another Universalism). 33 Karl-Otto
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sieht, die gleiche Freiheit zur dialogischen Partizipation der Betroffenen sowie die unerlässliche Solidarität, um ihre Verwundbarkeit zu schützen, anzuerkennen. Diese transzendentale Forderung wurde historisch in der naturrechtlichen Tradition durch Listen natürlicher Rechte und später in den Menschenrechtserklärungen, vor allem der von 1948, interpretiert. Wie eine hermeneutisch-kritische Annäherung an diese Erklärungen zeigt, haben diejenigen, die sie verfassten, historisch interpretiert, in welchen moralischen Rechten sich die Forderung eines jeden Diskursteilnehmers, Interpret der ihn betreffenden Rechtsfragen zu sein, konkretisiert. Diese moralischen Rechte haben den Namen „Menschenrechte“ erhalten und spiegeln sich als Grundrechte in den Verfassungen der verschiedenen Länder wider. Grundsätzlich handelt es sich dabei um die folgenden Bereiche von Rechten: 1) Das Recht auf Leben der mit kommunikativer Fähigkeit ausgestatteten Lebewesen kann von den Entscheidungen der Diskurse betroffen sein, da Partizipation, ohne zu leben, nicht möglich ist. Die Entscheidung, einem der möglichen Betroffenen das Leben zu nehmen, nimmt den Ergebnissen des Diskurses Sinn und Geltung. 2) An zweiter Stelle müssen die Diskursteilnehmer unter Bedingungen der Rationalität partizipieren können, da die Entscheidungen nur Sinn und Geltung besitzen, wenn sie nicht durch einen Zwang außerhalb des Diskurses zustande kommen. Die Betroffenen müssen sich von der Stärke des besten Arguments leiten lassen können, also demjenigen Argument, das universalisierbare Interessen verteidigt. Daher benötigen sie Gewissens- und Ausdrucksfreiheit, das Recht auf Information, die Freiheit, sich zu vereinigen und zu versammeln, und das Recht, an den Entscheidungen zu partizipieren, die in der jeweiligen politischen Gemeinschaft getroffen werden. Das heißt, die sogenannten „Bürgerrechte und politischen Rechte“ sollen die rationale Teilnahme derjenigen schützen, die daran interessiert sind, gemeinsam herauszufinden, welche Rechte wir „menschlich“ nennen können, sie mit den geeigneten moralisch-rechtlichen Formulierungen auszustatten und die entsprechenden Institutionen zu ihrem Schutz zu schaffen. 3) Die Diskursteilnehmer müssen über materielle und kulturelle Grundlagen verfügen, ohne die es die notwendigen Bedingungen der Gleichheit nicht gibt, da die Betroffenen sonst nicht unter Bedingungen der Gleichheit miteinander sprechen. Diese Forderungen haben die historische Form ökonomischer, sozialer und kultureller Rechte angenommen. Es waren konkrete Handlungskontexte, in denen die internationale Gemeinschaft entschieden hat und weiterhin entscheidet, ob das Recht auf diese materiellen Bedingungen sich im Recht auf Arbeit, auf eine Arbeitslosenversicherung, auf eine angemessene Gesundheitsversorgung, auf Wasser, das eine knappe, aber lebensnotwendige Ressource ist, auf Kredit in marktwirtschaftlichen Ge-
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sellschaften, in denen Kredit unverzichtbar für das Leben ist, oder auf grundlegende Bürgerrechte, ohne die es keine wirkliche Freiheit gibt, konkretisiert. Die Debatte geht sogar so weit zu fragen, ob es ein Recht auf Demokratie gibt.36 Zweifellos bedingen die historischen Umstände und deren konkrete Notwendigkeiten die Anerkennung der konkreten Rechte, jedoch ausgehend von transzendentalen Forderungen der Kommunikation, die in den konkreten Handlungskontexten nicht geleugnet werden können.
7. Erwiderung auf Einwände und Schlussfolgerung Eine Begründung der Menschenrechte anhand der Diskursethik hat den Vorteil des Prozeduralismus und des Konstruktivismus, auf die sie sich beruft: Sie ist keine eigenständige Doktrin und berücksichtigt daher anthropologische Begründungen, die auf verschiedenen umfassenden Lehren vom Guten oder Ethiken des Maximalen beruhen. Andererseits ist ihre Grundlage die Vernunft, aber es ist keine „reine Vernunft“, sondern eine „unreine Vernunft“, die sich historisch formt, die aus der Geschichte lernt.37 Dies ist die Richtung, die man meines Erachtens – über Apel und Habermas hinausgehend – aus der Diskursethik herausziehen kann und die zum Teil mit Autoren wie Rainer Forst, für den das Recht auf Rechtfertigung ein Grundrecht darstellt, oder Seyla Benhabib, die das Recht auf kommunikative Freiheit als Grundrecht verteidigt, übereinstimmt.38 Gleichwohl stößt eine Begründung der Menschenrechte anhand der Diskursethik, wie ich sie vorgeschlagen habe, auf Kritik. Zum Schluss meines Beitrags werde ich mich mit wichtigen Kritikpunkten auseinandersetzen, wie sie Robert Alexy und Matthias Hoesch geäußert haben. 7.1. Der Einwand Robert Alexys Robert Alexy akzeptiert zwar die Begründung der Menschenrechte anhand der Diskursethik, jedoch nur unter bestimmten Voraussetzungen.39 Seiner Meinung nach können die Menschenrechte auf Regeln des praktischen Diskurses gegrün36 Charles Beitz, „Human Rights as a Common Concern“, American Political Science Review 95 (2001), 269–282; Beitz, Human Rights and the Law of Peoples. 37 Jesús Conill, Ética hermenéutica, Madrid 2006. 38 Forst, T he Right to Justification; Benhabib, Another Universalism. 39 Robert Alexy, „Eine diskurstheoretische Konzeption der praktischen Vernunft“, in: Robert Alexy/Ralf Dreier (Hgg.), Rechtssystem und praktische Vernunft = Legal System and Practical Reason. Verhandlungen des 15. Weltkongresses für Rechts- und Sozialphilosophie (IVR) in Göttingen, August 1991, Bd. 1, Göttingen 1991, 11–29 (= Konzeption der praktischen Vernunft), 25 ff.
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det werden, vorausgesetzt, wir fügen der objektiven Gültigkeit der Diskursregeln die Prämisse hinzu, dass alle Diskursteilnehmer an ihrer Richtigkeit interessiert sind.40 Ist dies der Fall, können „bestimmte Menschenrechte sich als diskursiv notwendig und ihre Negationen sich als diskursiv unmöglich erweisen.“ Und er nennt ausdrücklich Rechte wie die von mir erwähnten: „mindestens“, schreibt er, das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit[,] die Rechte auf Integrität der Person, auf grundsätzliche Handlungsfreiheit, auf Glaubens-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit, […] auf grundsätzliche Gleichbehandlung und auf Teilnahme am Prozeß der politischen Willensbildung. Ferner […] auch minimale soziale Grundrechte.41
Meines Erachtens ist dagegen einzuwenden, dass jeder Versuch einer philosophischen Begründung, der zwangsläufig theoretisch sein muss, das Interesse derjenigen voraussetzen muss, die über die Richtigkeit des Vorschlags debattieren. Die Kategorie der Begründung ist nicht die der Motivation. Deshalb musste Kant auf das Gefühl der Achtung als Handlungsmotiv zurückgreifen. Es ist jedoch nicht dieser Punkt, der mich an dieser Stelle interessiert, sondern Alexys Kritik an der Begründung der Menschenrechte, die ich vor einigen Jahren entworfen habe42 und die ich in diesem Aufsatz erweitern und vertiefen möchte. Einerseits sagt Alexy, dass ich stärkere Implikationen akzeptiere als er; andererseits aber auch, dass er ein Stück weit mit mir übereinstimmt.43 Wichtiger ist jedoch, dass ich seiner Meinung nach versuche, die Menschenrechte durch einen direkten Schluss diskurstheoretisch zu begründen.44 Diese Kritik ist unangemessen, da mein Vorschlag nicht darin besteht, die Menschenrechte direkt aus den Diskursregeln zu folgern, so als würde ich die Regeln deduktiv auf die historischen Vereinbarungen der Menschenrechte anwenden. Meine Methode ist in keiner Weise deduktiv, sondern der Vorschlag einer transzendentalpragmatischen Rekonstruktion der Bedingungen, die unerlässlich sind, damit die historischen Diskurse über die Menschenrechte und die moralischen Normen Sinn und Geltung besitzen. Bei diesen Bedingungen tauchen Forderungen auf, die man nicht negieren kann, ohne sich in Widersprüche zu verstricken, denn leugnet man sie, ist es unmöglich, die pragmatischen Rechte zu respektieren, ohne die der Diskurs weder Sinn noch Geltung hat. Meines Erachtens haben diese Forderungen historisch in einem Typ von moralischen Rechten Gestalt angenommen, der den Namen „Menschenrechte“ erhalten hat. Es handelt sich daher um keine unmittelbare Folgerung, sondern eine transzendentalpragmatische Rekonstruktion der Bedingungen der praktischen Diskurse.
40 Alexy,
Konzeption der praktischen Vernunft, 26. Konzeption der praktischen Vernunft, 26. 42 Cortina, Diskursethik und Menschenrechte. 43 Alexy, Konzeption der praktischen Vernunft, 26, Fußnote 72. 44 Alexy, Konzeption der praktischen Vernunft, 27, Fußnote 69. 41 Alexy,
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Andererseits denke ich – und hier gehe ich weiter als Habermas und Alexy –, dass diese Voraussetzungen der Argumentation sehr wohl normative Bedeutung für das alltägliche Leben haben, da sie das Orientierungskriterium für die Gestaltung der konkreten Rechte sind. Die konkreten Rechte können nicht in Widerspruch zu den Voraussetzungen der Argumentation stehen. Und schließlich versteht Alexy meine Feststellung, die Diskursteilnehmer müssten als Personen anerkannt werden, dahingehend, dass die Diskursregeln als „Rederegeln“ lediglich fordern, „den anderen im Diskurs als gleichberechtigten Partner zu behandeln. Daraus folgt noch nicht, daß der andere schlechthin, also auch im Bereich des Handelns, als Person anerkannt werden muss.“45 In diesem Punkt stimmt er mit Apel überein, der sagt: Alle der sprachlichen Kommunikation fähigen Wesen müssen als Person anerkannt werden, da sie in all ihren Handlungen und Äußerungen potentielle Diskussionspartner sind und die unbegrenzte Rechtfertigung des Denkens auf keinen Diskussionspartner und auf keinen seiner potentiellen Diskussionsbeiträge verzichten kann.46
Anschließend weist er jedoch darauf hin, dass es diese Forderung nach wechselseitiger „Anerkennung von Personen als Subjekten der logischen Argumenta tion“47 ist, die den Diskurs über die „Ethik der Logik“48 bestimmt. Wie jedoch bereits erwähnt, ist meiner Meinung nach die unerlässliche gegenseitige Anerkennung nicht nur die Anerkennung einer logisch-formalen Fähigkeit, sondern auch die der Fähigkeit zur gleichen Autonomie der Dialogpartner und – wegen ihrer Verwundbarkeit – der Notwendigkeit von Solidarität. Diese Anerkennung, die ich – über das Logisch-Formale hinaus – „herzlich“ genannt habe, ist die Anerkennung wesentlicher Züge dessen, was wir historisch mit dem Begriff „Person“, mit dem bestimmte spezifische Pflichten verbunden sind, anerkannt haben.49 Diese gegenseitige herzliche Anerkennung der Dialogpartner als Personen kann sehr wohl eine Motivation für die aktive Verteidigung der Menschenrechte sein, eine Verpflichtung zum Handeln. 7.2. Drei Einwände von Matthias Hoesch Die kritischen Einwände, die Matthias Hoesch in seinem – in diesem Band publizierten – Aufsatz Universalität und Priorität der Menschenrechte in diskursethischen Begründungsmodellen50 äußert, beziehen sich im Wesentlichen auf drei Punkte: 45 Alexy,
Konzeption der praktischen Vernunft, 25 f. Karl-Otto Apel, Transformation der Philosophie, Bd. 2, Frankfurt 1973 (= Transformation), 400. 47 Apel, Transformation, 400. 48 Apel, Transformation, 400. 49 Adela Cortina, Ética de la razón cordial, Oviedo 2007 (= Ética de la razón cordial). 50 Matthias Hoesch, „Universalität und Priorität der Menschenrechte in diskursethischen Begründungsmodellen“, in diesem Band, 277–302. 46
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1) Laut Hoesch ist mein Vorschlag in erster Linie unplausibel, weil er einen Konsens in einem realen Diskurs zu erfordern scheint, um die Menschenrechte als moralische Rechte zu verankern. Und genauso ist es: Ich behaupte, dass die Menschenrechte moralische Rechte sind, jedoch erst seit dem Moment, in dem sie durch eine historisch realisierte Erklärung wie beispielsweise die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 als solche anerkannt werden. Doch wenn dies so ist, meint Hoesch, dann wäre die Natur der moralischen Rechte der Natur der positiven Rechte sehr ähnlich, und sie könnten erst eingefordert werden, wenn sie durch historische Erklärungen anerkannt worden wären. Stattdessen ist es laut Hoesch möglich, von moralischen Rechten zu sprechen, ohne dass sie in realen Diskursen vereinbart worden sein müssen, da sie ihren Ursprung im Konzept der subjektiven Rechte haben. Auf diese Kritik möchte ich folgendermaßen antworten: In meinem Vorschlag habe ich sorgfältig darauf geachtet, zwischen den Ausdrücken moralische Forderung und Menschenrecht zu unterscheiden. Der Unterschied besteht in der gesellschaftlichen Anerkennung, die den Übergang von subjektivem Anspruch zu gesellschaftlicher Akzeptanz in der Weise erklärt, dass dieser Anspruch legitim und die Gesellschaft dazu verpflichtet ist, diesen anzuerkennen. Der Moment der expliziten Anerkennung durch einen Konsens, ausgedrückt in Form einer öffentlichen Erklärung, die später ratifiziert werden kann, ist dabei wesentlich. Gewiss hat es im Laufe der Geschichte anthropologische Vorschläge gegeben, Fähigkeiten zu skizzieren, die Menschen ausüben können müssen, um ein erfülltes Leben zu führen, und Forderungen an die Gesellschaft zu stellen, die diese Ausübung ermöglichen sollen. Diese Forderungen sind moralische Forderungen, und die entsprechenden Anthropologien streben häufig nach Universalität.51 Diese moralischen Forderungen beruhen jedoch auf verschiedenen umfassenden Doktrinen des Guten, und die Forderungen widersprechen sich häufig. Wie kann eine Person oder eine Gruppe von Personen die Erfüllung einer Forderung, die nicht als Recht anerkannt wurde, als ein Recht reklamieren? Natürlich kann sie dies faktisch tun und damit Pionierarbeit leisten, doch der Katalog der Menschenrechte muss fest umrissen und in Erklärungen anerkannt sein. Andernfalls kann es zu end- und sinnlosen Forderungen kommen, und die als „Menschenrechte“ bezeichneten Rechte können an Kraft verlieren. Historisch ist Folgendes geschehen: In den faktischen Erklärungen kam es zu einer Vermengung von Faktizität und Geltung. Die historische Tatsache der Erklärungen verlangte es, über ihre Geltung und rationale Grundlage nachzu-
51 Paul Ricœur, „Capabilities and Rights“, in: Séverine Deneulin/Mathias Nebel/Nicholas Sagovsky (Hgg.), Transforming Unjust Structures. The Capability Approach, Dordrecht 2006, 17–26; Cortina, Justicia cordial.
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denken und ihre innere Rationalität zu rekonstruieren, indem Geschichte und Transzendentalität miteinander verbunden werden. Im Gegensatz zum positiven Recht besitzen die Menschenrechte eine fordernde Kraft, obwohl sie in vielen Ländern nicht in die Gesetzbücher und nicht einmal in internationale Verträge aufgenommen wurden und obwohl einige Länder – wie im Fall des Islam – ihre eigenen Listen von Menschenrechten haben. 2) Der zweite, mit dem ersten zusammenhängende Einwand besteht in der Behauptung, dass mein Vorschlag den Anspruch auf Universalität der Menschenrechte in Frage stellt, da die Universalität nur ausgehend von einer Erklärung gültig sei, die nicht alle Menschen und nicht alle Länder billigen. Meines Erachtens muss man jedoch zwischen dem Anspruch auf Universalität einer Erklärung, einem ethischen Kodex oder jedem anderen objektiven moralischen Instrument und seiner faktischen Billigung unterscheiden. Die Erklärungen, Gesetzbücher und anderen Instrumente sind Ereignisse, finden in der Geschichte statt, doch zugleich haben sie den Anspruch auf Universalität, und deshalb sind wir verpflichtet, diesen Anspruch rational zu begründen, ihn rational annehmbar zu machen. 3) Der letzte Einwand von Hoesch besteht darin, dass mein Vorschlag der Begründung nicht erlaubt, alle Rechte, die derzeit in den Menschenrechtskatalogen stehen, als Menschenrechte zu rekonstruieren. Zum Beispiel würde die Folter die gefolterte Person nicht daran hindern, wieder an Diskursen teilzunehmen, sobald die Folter beendet ist; und daher sei es offenbar der Gedanke der menschlichen Würde, der dem Verbot der Folter zugrunde liegt, und nicht die Idee praktischer Diskurse. Diese Kritik ist zweifellos tiefgehend, und ich möchte sie im Folgenden angemessen beantworten. Es ist richtig, dass die Inhalte der historisch anerkannten Menschenrechte nicht zwangsläufig mit dem Ziel zustande gekommen sind, Fähigkeiten von Personen zu stärken, die sie brauchen, um unter rationalen Bedingungen Diskurse führen zu können. Stattdessen sind sie in den verschiedenen westlichen sozialen und politischen Kulturen entstanden, deren wichtigste Prämissen verschiedene umfassende Doktrinen des Guten sind, einige davon religiös, andere metaphysisch, wieder andere politisch.52 Es ist jedoch genauso richtig, dass sich die praktische Rationalität, die ihren Ursprung in diesen Kulturen hat, ausgehend von den Bedingungen des tatsächlichen und potentiellen intersubjektiven Diskurses und der gegenseitigen Anerkennung der Dialogpartner entwickelt, bei denen es sich um Personen handelt und die so bewertet werden müssen, wie es ihnen zusteht. Die Inhalte werden durch die negative Erfahrung des Leidens offenbart, vom Kampf um Anerkennung: als sich historisch wandelnde Ablehnung dessen, was ein erfülltes menschliches Leben verhindert. Die heuristische Aufgabe der in die Geschichte eingeschriebenen Rationalität ist von einem emanzipatorischen 52 Rawls,
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Interesse geleitet, die Dialogpartner von dem zu befreien, was sie daran hindert, sich als Personen zu verwirklichen (Verwundbarkeit), und was sie davon abhält, Intersubjektivität zu schützen (Solidarität).53 Dies ist der Grund, warum ich es für notwendig erachte, die Diskursethik zu einer Ethik der „herzlichen Vernunft“ weiterzuentwickeln, die anerkennt, dass die Diskursteilnehmer autonom und verwundbar sind und der Gerechtigkeit wie des Mitleids bedürfen.54
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53 Jürgen Habermas, „Gerechtigkeit und Solidarität“, in: Wolfgang Edelstein/Gertrud Nunner-Winkler (Hgg.), Zur Bestimmung der Moral, Frankfurt 1986, 291–318. 54 Cortina, Ética de la razón cordial.
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Universalität und Priorität der Menschenrechte in diskursethischen Begründungsmodellen Matthias Hoesch Die Geltung der Menschenrechte wird im Commonsense wie in der akademischen Debatte unter anderem1 mit zwei Eigenschaften verbunden: Erstens gelten Menschenrechte universal. Das heißt, dass Menschenrechte allen Menschen allein aufgrund ihres Menschseins zukommen, und dass ihre Geltung prinzipiell von allen Menschen einsehbar ist. Damit ist unter anderem eine örtliche und auch eine gewisse zeitliche Universalität verbunden: Einerseits haben Menschenrechte einen kulturübergreifenden Geltungsanspruch. Andererseits gilt, dass sich Menschenrechte, wenngleich in einem bestimmten Sinn erst historisch ‚entstanden‘, in einem stärkeren Maße der Wandelbarkeit entziehen als andere moralische Normen. Im deutschen Rechtssystem spiegelt sich dies etwa in der Ewigkeitsklausel (Art. 79 GG), mit der die Grundrechte – also das positivrechtliche Abbild der Menschenrechte im Grundgesetz – einer Veränderung durch demokratischen Beschluss entzogen sind. Zweitens genießen Menschenrechte, was ich hier mit dem Begriff Priorität bezeichnen möchte: Kommt es zu Konflikten zwischen Ansprüchen verschiedener Menschen oder Gruppen von Menschen, so muss in der Regel zunächst die Beachtung der Menschenrechte sichergestellt werden, bevor weitere Ansprüche Berücksichtigung finden können.2 Wenngleich strittig bleibt, ob diese Priorität absolut zu verstehen ist3, dem Schutz der Menschenrechte also immer Vorrang gegenüber anderen Gütern einzuräumen ist, bestreitet kaum jemand dessen prinzipielle Priorität. Diese zeigt sich im geltenden Recht etwa darin, dass die in der Verfassung enthaltenen Grundrechte höherrangiges Recht darstellen und ihr 1 Folgt man Lohmann, so sind die weiteren Kennzeichen von Menschenrechten deren Egalität, Individualität und Kategorizität. Vgl. Georg Lohmann, „‚Nicht zu viel – nicht zu wenig!‘ Begründungsaufgaben im Rahmen der internationalen Menschenrechtskonzeption“, in diesem Band, 181–205 (= Begründungsaufgaben). 2 Lohmann bezeichnet diesen Aspekt als „Fundamentalität“; vgl. Lohmann, Begründungsaufgaben, 194, 198 f. 3 Vgl. Lohmann, Begründungsaufgaben, Abschnitt 4, ad (5), 198 f. Teils wird der absolute Vorrang auf den Schutz der Menschenwürde beschränkt; vgl. Thomas Gutmann, „Struktur und Funktion der Menschenwürde als Rechtsbegriff“, Angewandte Philosophie 1 (2014), 49–74, 57.
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‚Kernbereich‘ nur durch andere Grundrechte eingeschränkt werden darf, nicht aber aufgrund von einfachen Rechtsnormen. Dabei scheint die Priorität der Menschenrechte nicht einfach auf einer graduellen Dringlichkeit ihrer Einhaltung zu beruhen. Zwar müssen wir im Fall von Menschenrechtskollisionen wichtigere von weniger wichtigen Menschenrechten unterscheiden und insofern innerhalb der Menschenrechte graduelle Abstufungen zulassen. Wenn wir aber danach fragen, ob ein bestimmtes Recht in den Menschenrechtskanon aufgenommen werden sollte, möchten wir wissen, ob dieses Recht eine gewisse Linie überschreitet, welche die Menschenrechte von anderen Ansprüchen scheidet, wobei den Rechten auf der einen Seite der Linie Priorität vor den Rechten auf der anderen Seite zukommt. Wenngleich die Geltung der Menschenrechte durch die Eigenschaften Universalität und Priorität noch nicht umfassend charakterisiert ist und man diese zugleich noch genauer differenzieren könnte, können die beiden Merkmale zusammengenommen bereits ausreichend eine wichtige Funktion von Menschenrechten erklären: Die Kombination der beiden Eigenschaften Universalität und Priorität ergibt in einem gewissen Sinne einen anti-konsequentialistischen4 Zug der Menschenrechte. Im nationalen wie im internationalen Bereich gelten sie als (moralische oder rechtliche) Mindestbedingungen – in Nussbaums Worten als ‚side-constraints‘5 – politischen Handelns: Welche sozialen oder ökonomischen Güter auch immer angestrebt werden, es müssen zunächst die Grundrechte aller Menschen Berücksichtigung finden, bevor die angestrebten Güter optimiert werden dürfen. Ethische Theorien der Menschenrechtsbegründung setzen sich oft zum Ziel, diese beiden Eigenschaften zu rekonstruieren, d.h. innerhalb einer moralphilosophischen Argumentation aufzuzeigen, dass und weshalb Menschenrechte universal und mit Priorität gelten. Gelingt ihnen das (zumindest in den Augen ihrer Verfechter), so ist dies mit zwei gegenläufigen ‚Bedürfnisbefriedigungen‘ verbunden: Zum einen freut es den Philosophen, wenn er zeigen kann, dass der intuitiv für normativ angemessen gehaltene Commonsense einer rationalen Überprüfung standhält und Skeptikern deshalb mit Argumenten entgegengetreten wer
4 Damit möchte ich nicht behaupten, dass der Konsequentialismus per se keine Menschenrechte begründen kann. Diese haben aber auch innerhalb von konsequentialistischen Theorien für Einzelfälle eine gewisse anti-konsequentialistische Wirkung, etwa wenn nach der regelkonsequentialistischen Variante Menschenrechte im Einzelfall zum Ausblenden der Konsequenzen führen, was im Hinblick auf ihre allgemeine Befolgung auf die bestmöglichen Konsequenzen führt. Allerdings muss in einem konsequentialistischen Rahmen die Geltung der Menschenrechte weniger strikt konzipiert werden als in konkurrierenden Modellen; vgl. Matthias Hoesch/Martin Sticker, „Parfit über Kantianismus und Konsequentialismus“, in: Matthias Hoesch/Sebastian Muders/Markus Rüther, Worauf es ankommt. Derek Parfit in der Diskussion, Hamburg 2017 (im Erscheinen). 5 Vgl. Martha Nussbaum, „Capabilities and Human Rights“, Fordham Law Review 66 (1997), 273–300 (= Capabilities), 300.
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den kann. Zum anderen ‚ehrt‘ es aber auch den Theorietypus, in dessen Rahmen die Menschenrechtsbegründung erfolgreich durchgeführt werden konnte: Ethische Theorien, die basale Überzeugungen des Commonsense enthalten oder gar erklären können, sind attraktiver als Theorien, denen dies nicht gelingt. In diesem Sinne hat etwa Rawls mit der Idee eines ‚Überlegungsgleichgewichts‘ gefordert, Theorien fallenzulassen oder wenigstens zu modifizieren, wenn sie sehr basalen moralischen Überzeugungen entgegenstehen.6 Vertreter der Diskursethik, die in jüngerer Zeit dem Projekt einer Menschenrechtsbegründung nachgegangen sind, betonen v.a. die erste der beiden genannten Eigenschaften, um gegenüber konkurrierenden Modellen – insbesondere naturrechtlichen Ansätzen und Theorien eines internationalen Konsenses – die Relevanz der Diskursethik herauszustellen. Demnach sei es im Rahmen der Diskursethik (und möglicherweise sogar nur dort) möglich zu erklären, weshalb Menschenrechte kulturübergreifend gelten und diese Geltung auch prinzipiell allen Menschen rational einsehbar gemacht werden kann.7 Der begründungstheoretische Vorteil der Diskursethik wird aber erst dann vollends deutlich, wenn die zweite Eigenschaft, die Priorität gegenüber moralischen Forderungen anderer Art, zusätzlich Berücksichtigung findet: Nur wenn erklärt werden kann, weshalb Menschenrechten Vorrang vor moralischen Normen anderer Art eingeräumt werden muss, liegt tatsächlich eine Menschenrechtsbegründung in einem spezifischen Sinn vor, und nicht nur eine bloße universalistische Moralbegründung. Um das Potential der Diskursethik in dieser Hinsicht herausstellen zu können, möchte ich drei Varianten einer diskursethischen Begründung der Menschenrechte kritisch diskutieren: die an der Idee von Bürgerrechten orientierte Konzeption von Jürgen Habermas, die auf dem „Recht auf Rechtfertigung“ aufbauende Strategie von Rainer Forst und schließlich die am Menschenrechtsdiskurs ansetzende Begründung von Adela Cortina. Im Anschluss möchte ich skizzieren, wie aus meiner Sicht eine Konzeption auszusehen hätte, mit der die Universalität und die Priorität der Menschenrechte ihre beste Fundierung finden würde. Um dieser Fokussierung willen stelle ich die Frage zurück, inwieweit die Diskursethik als Moralphilosophie überhaupt überzeugt und ob zutrifft, dass mit diskursethischen Mitteln selbst dem Menschenrechtskritiker das Zugeständnis
6
John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt am Main 1975. Vgl. Adela Cortina „Eine diskursethische Begründung der Menschenrechte“, in diesem Band, 255–276 (= Eine diskursethische Begründung); Rainer Forst, Das Recht auf Rechtfertigung, Frankfurt am Main 2007 (= Das Recht auf Rechtfertigung); Rainer Forst, „Die Rechtfertigung der Menschenrechte und das grundlegende Recht auf Rechtfertigung. Eine reflexive Argumentation“, in: Gerhard Ernst/Stephan Sellmaier (Hgg.), Universelle Menschenrechte und partikulare Moral, Stuttgart 2010, 63–96 (= Die Rechtfertigung der Menschenrechte) und Rainer Forst, „Achtungsmoral und Diskursethik“, in: Georg Lohmann/Arnd Pollmann (Hgg.), Handbuch Menschenrechte, Stuttgart 2012, 198–204. 7
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der Geltung der Menschenrechte abgerungen werden kann. Im Zuge meiner Argumentation soll aber zumindest anklingen, wie sich dieser Anspruch bei den genannten Autoren jeweils niederschlägt. Über alle diskutierten Positionen hinweg haben dabei selbstverständlich die Überlegungen des ‚Vaters‘ der Diskursethik, Jürgen Habermas, zentrale Relevanz. Dies bedeutet für meine Darstellung der Habermas’schen Position, dass ich auf eine Skizzierung des Grundgedankens der Diskurstheorie nicht völlig verzichten möchte. Die Positionen von Forst und Cortina können demgegenüber etwas zugespitzter behandelt werden, und auch für die Skizze meines eigenen Vorschlags setze ich die Plausibilität der diskurs ethischen Prämisse, dass der Geltungssinn moralischer Normen auf ihre diskursive Begründbarkeit abzielt, unhinterfragt voraus.
1. Menschenrechte im Schnittpunkt von Diskurstheorie und Rechtsform Die Habermas’sche Diskursethik, die insbesondere in Diskursethik. Notizen zu einem Begründungsprogramm (1983) entfaltet wird, nimmt ihren Ausgangspunkt bei zwei Diagnosen. Zum einen konstatiert Habermas, dass die traditionellen Formen, die Geltung der Moral ‚metaphysisch‘ zu begründen, in der Moderne ihre Überzeugungskraft verloren haben: Mit Rekurs auf Gott, auf eine normativ strukturierte Schöpfung oder auf andere metaphysische Annahmen lässt sich heute keine Moral mehr als allgemeinverbindlich ausweisen. Zum anderen verfehlten relativistische und expressivistische Deutungen der Moral, wie sie als Reaktion auf die Überzeugungskrise der Metaphysik entstanden sind, einen wesentlichen Charakterzug der Moral: Wer die Bezugnahme auf moralische Normen als Ausdruck subjektiver Handlungsempfehlungen analysiert, wird dem Phänomen nicht gerecht, dass sich Akteure in der sozialen Wirklichkeit in einer Weise auf Normen berufen, die voraussetzt, dass diesen Normen objektive Gültigkeit zukommt. Wenn wir jemanden wegen eines moralischen Vergehens tadeln, dann möchten wir damit nicht sagen, dass uns sein Verhalten nicht gefällt; sondern wir möchten ausdrücken, dass er sich unabhängig von unseren persönlichen Vorlieben falsch verhalten hat. Aus den beiden Diagnosen ergibt sich als moralphilosophische Kernaufgabe die Beantwortung dieser Frage: Wenn der Geltungssinn der Normen nicht darin bestehen kann, dass diese aus vermeintlich wahren metaphysischen Überzeugungen abgeleitet werden können, wie kann er dann gefasst werden, ohne dass sein objektiver Charakter aufgegeben werden muss? Habermas sieht die Lösung in der Idee diskursiver Begründbarkeit: Wer sich auf eine moralische Norm berufe, der bringe implizit zum Ausdruck, dass er der Meinung sei, dass diese Norm in einem praktischen Diskurs konsensfähig wäre. Normen sind daher nicht im eigentlichen Sinn ‚wahr‘ oder ‚falsch‘ (als könnten sie aus wahren Sätzen über die
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Welt abgeleitet werden), sondern ‚richtig‘ oder ‚nicht richtig‘. Der Geltungssinn unserer Berufung auf konkrete moralische Normen bestehe in nichts weiterem als dem Anspruch, diese Normen diskursiv begründen zu können. Wenn ein praktischer Diskurs eine rationale Wahl von Normen ermöglichen soll, muss es möglich sein, dass aus zunächst widerstreitenden Ansichten argumentativ ein Konsens erreicht werden kann. Wenn jeder auf seinem Standpunkt oder auf der für ihn gewinnbringendsten Regel beharren würde, wäre ein Konsens nicht möglich. Um ein Verfahren zu definieren, wie der Konsens gefunden werden kann, führt Habermas den Universalisierungsgrundsatz ein, dem zufolge gilt, dass „die Folgen und Nebenwirkungen, die sich jeweils aus ihrer allgemeinen Befolgung für die Befriedigung der Interessen eines jeden Einzelnen (voraussichtlich) ergeben, von allen Betroffenen akzeptiert“8 werden können. Wenn dieser Grundsatz von allen zugestanden werden muss, dann wäre diskursive Begründbarkeit kein leerer Begriff, sondern tatsächlich eine Quelle normativer Objektivität. Dass der Universalisierungsgrundsatz dieser Anforderung genügt, soll die berühmte These vom performativen Widerspruch des Moralskeptikers beweisen. Habermas zufolge gerät in einen performativen Widerspruch, wer selbst Geltungsansprüche erhebt, aber die Bedingungen verständigungsorientierter Argumentation zurückweist. Diese Bedingungen sind laut Habermas aber hinreichend, um den Universalisierungsgrundsatz abzuleiten. Möchte sich der moralische Skeptiker nicht als Diskursverweigerer jeglicher verständigungs orientierter Kommunikation entziehen, müsse er daher den Universalisierungsgrundsatz zugestehen. Daher gelte als ‚diskursethischer Grundsatz‘, dass „nur die Normen Geltung beanspruchen dürfen, die die Zustimmung aller Betroffenen als Teilnehmer eines praktischen Diskurses finden (oder finden könnten)“9. Welche Normen das sind, kann Habermas zufolge der Philosoph nicht am Schreibtisch herausfinden. Nur in realen Diskursen der Betroffenen könne sich zeigen, welche Normen letztlich konsensfähig sind. Zusammengefasst bringen wir also, wann immer wir uns auf eine moralische Norm berufen, implizit zum Ausdruck, dass wir der Meinung sind, dass diese Norm in einem idealen Diskurs die Zustimmung aller Betroffenen finden würde. Dies bildet gewissermaßen den diskursethischen Rahmen, innerhalb dessen sich alle nachstehend diskutierten Positionen bewegen. Wie oben bemerkt, kann ich hier der Frage nicht nachgehen, inwieweit Habermas’ Argumentation den moralischen Skeptiker im Dialog überzeugen wird oder ob – über Habermas’ eigenen Anspruch hinausgehend – sogar eine Form von Letztbegründung vorliegt,
8 Jürgen Habermas, „Diskursethik. Notizen zu einem Begründungsprogramm“ (1983), in: ders., Diskursethik. Philosophische Texte, Bd. 3, Frankfurt am Main 2009, 31–115 (= Diskursethik), 60. 9 Habermas, Diskursethik, 94.
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wie zuweilen vermutet wird10. In meinem Zusammenhang entscheidend ist dagegen, dass Habermas im Zuge seiner späteren Zuwendung zur Rechtsphilosophie, die ihn vor allem die Differenz von Recht und Moral in den Blick nehmen lässt, überraschenderweise davon ausgeht, dass der zitierte diskursethische Grundsatz neutral gegenüber der Form von Normensystemen zu verstehen sei.11 Spezifiziere man ihn für die Form der Moral, so werde er zu einem Moralprinzip. Beziehe man ihn auf die Form des Rechts, so nehme er die Gestalt des Demokratieprinzips an. Mit Blick auf die Begründung von Menschenrechten besteht Habermas’ Kernaussage nun darin, dass ausschließlich die Verschränkung des Diskursprinzips mit der Rechtsform eine Basis für deren Rechtfertigung abgebe, nicht aber das Moralprinzip. Bevor ich mich den Gründen für diese Beschränkung zuwende, sei die Herleitung der Menschenrechte kurz skizziert.12 Zunächst führt Habermas die Form des Rechts auf funktionale Erfordernisse zurück: Dass die Befolgung von Normen nicht mehr nur moralisch eingefordert, sondern mit Mitteln des Rechts durchgesetzt wird, sei nicht selbst wiederum moralisch begründet, sondern lediglich auf die Funktionsweise moderner Gesellschaften zurückzuführen und solle insbesondere das Problem moralischer Motivation lösen. Das Recht müsse aber so beschaffen sein, dass es möglich bleibt, dem Recht aus moralischen Gründen zu folgen. Durch den Wegfall geteilter metaphysischer Annahmen, die etwa naturrechtliche Vorstellungen stützen konnten, gebe es nur noch eine Möglichkeit, diese Bedingung zu erfüllen: Die Adressaten des Rechts müssen sich als dessen Autoren verstehen können. Die Volkssouveränität wird deshalb zum alleinigen legitimitätsverbürgenden Prinzip. Der funktionale Aspekt des Rechts führe allerdings dazu, dass Volkssouveränität keinen Konsens erfordere, sondern Mehrheitsentscheidungen zulässig sind. Volkssouveränität kann aber nicht so verstanden werden, als könne jeder beliebige Inhalt durch Mehrheitsbeschluss legitimes Recht werden, sondern muss sich aus der Logik demokratischer Entscheidungen heraus selbst begrenzen. Aus dem Gedanken der Volkssouveränität folge, dass sichergestellt werden muss, dass jeder Adressat des Rechts sich am demokratischen Prozess beteiligen kann. Man kann sich aber nur beteiligen, wenn bestimmte äußere Gegebenheiten erfüllt sind, die einen überhaupt erst in die Lage versetzen, sich in die Delibera10
Wiederholt etwa von Karl-Otto Apel und Matthias Kettner. Jürgen Habermas , Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt am Main 1992 (= Faktizität und Geltung), 138. 12 Ich folge Habermas, Faktizität und Geltung, 151–165 und Jürgen Habermas, „Über den internen Zusammenhang von Rechtsstaat und Demokratie“, in: ders., Die Einbeziehung des Anderen, Frankfurt am Main 1999, 293–305. Eine ausführlichere, aber gleichwohl konzise Darstellung des Gedankengangs findet sich in Klaus Günther, „Liberale und diskurstheoretische Deutungen der Menschenrechte“, in: Wilfried Brugger/Ulfried Neumann/Stephan Kirste (Hgg.), Rechtsphilosophie im 21. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2008, 338–359. 11
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tion einbringen zu können – dazu gehören materielle Güter ebenso wie Bildung und die rechtlichen Grundlagen der Diskursteilnahme. Aus der Bedingung, dass jeder sich beteiligen können muss, leitet Habermas deshalb fünf Gruppen von Menschenrechten – Freiheitsrechte, Rechte der Mitgliedschaft, justizielle Rechte, politische Teilhaberechte und soziale Rechte – ab. Diese Menschenrechte können aber wiederum nur im positiven Recht Gestalt annehmen, wenn sie vom souveränen Volk spezifiziert, konkretisiert und schließlich ‚beschlossen‘ werden. Weil sich im nachmetaphysischen Zeitalter niemand mehr auf das Naturrecht oder ähnliches berufen kann, um die Geltung eines bestimmten Menschenrechtskatalogs zu postulieren, ist der demokratische Beschluss die einzige Form, wie Menschenrechte in Geltung gesetzt werden können. In diesem Sinne gilt, dass sich „Menschenrechte und Volkssouveränität wechselseitig voraussetzen“13: – Volkssouveränität setzt Menschenrechte voraus, denn ein Volk kann nur souverän sein, wenn Menschenrechte die Ausübung der möglichen Mitgesetzgeberschaft aller Bürger garantieren. – Menschenrechte setzen aber zugleich Volkssouveränität voraus, denn es kann (im nachmetaphysischen Zeitalter, in dem nicht mehr auf ein Naturrecht verwiesen werden kann) Menschenrechte nur geben, wenn sie vom souveränen Volk in die Welt gesetzt werden. Diese Art ‚Gleichursprünglichkeit‘ von Menschenrechten und Volkssouveränität sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Demokratieprinzip das alleinige legitimatorische Fundament der Argumentation bildet: Legitimes Recht entsteht in erster Linie durch das demokratische Verfahren und ist nur in einem davon abgeleiteten Sinn an Menschenrechte gebunden.14 Versuchen wir, mit Blick auf die beiden Merkmale Universalität und Priorität ein kurzes Zwischenfazit aus der Habermas’schen Menschenrechtsbegründung zu ziehen. Habermas gelingt es, die Priorität der Menschenrechte in angemesse13 Habermas,
Faktizität und Geltung, 112. Düwell („Demokratie als Teil der Menschenrechte. Über den Zusammenhang von Demokratie, Menschenrechten und Zukunftsverantwortung“, in: Falk Bornmüller/T homas Hoffmann/Arnd Pollmann (Hgg.), Menschenrechte und Demokratie. Georg Lohmann zum 65. Geburtstag, Freiburg 2013, 223–239, 231) macht geltend, dass jeder, der die Demokratie aus normativen Gründen bejaht, zugleich ein Konzept der Menschenwürde bejahen muss und insofern auch die Geltung von Menschenrechten, die direkt aus der Menschenwürde folgen, annehmen muss. Die These der Gleichursprünglichkeit sei daher falsch; Menschenrechte hätten einen normativen Vorrang. Düwell versteht dabei m.E. Menschenrechte als moralische Rechte, während Habermas sie als positive Rechte fasst. Geht man davon aus, dass sich das positive Recht nicht einfach an vorgegebenem Naturrecht zu orientieren hat, muss man mit Habermas bejahen, dass nur demokratische Wege (wie etwa die Abstimmung über eine Verfassung oder deren nachträgliche stillschweigende Billigung durch das Volk) Menschenrechte in die Welt setzen können. 14 Marcus
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ner Weise zu rekonstruieren: Weil die Menschenrechte die Bedingung der Möglichkeit demokratischer Entscheidungen darstellen, können sie von demokratischen Entscheidungen nicht einfach außer Kraft gesetzt werden. Alles, was in einer Demokratie geltendes Recht werden soll, muss vielmehr der Überprüfung der Konformität mit den Menschenrechten Stand halten. Dies ist besonders mit Blick auf soziale Güter, die von der Mehrheit für wichtig erachtet werden, von Bedeutung. Anders sieht es mit der Universalität aus: Habermas versteht Menschenrechte als Bürgerrechte, die genau derjenige hat, der Mitglied eines bestimmten demokratischen Staates ist. Damit geht seine Argumentation an dem vorbei, was ich oben als Kennzeichen der Menschenrechte dargestellt habe, nämlich dass es sich um Rechte handelt, die jedem einfach aufgrund seines Menschseins zukommen. Habermas versucht diesen Mangel zu beheben, indem er auf den Status einer Weltbürgerschaft verweist, der in einer künftigen Staatsordnung einzurichten wäre und als Ideal schon jetzt eine eingeschränkte Wirksamkeit entfalten könne. Zu Recht wird überwiegend angenommen, dass die bloße Idee eines solchen nicht existierenden Status das Problem nicht beheben kann. Aufgrund dieses Standardeinwands ist Habermas’ Menschenrechtsbegründung oft zurückgewiesen worden.15 Dabei wird der entscheidende Mangel darin gesehen, dass Habermas, indem er sich auf die Diskurstheorie des Rechts beschränkt, die moralische Seite der Menschenrechte vollständig unberücksichtigt lasse: Habermas situiere Menschenrechte demnach von vornherein in rechtsförmig organisierten, partikularen Gemeinschaften, anstatt die Menschheit im Ganzen als moralische Gemeinschaft in den Blick zu nehmen. Um die Reichweite beurteilen zu können, die dieser Kritik an der mangelnden Universalität der Menschenrechte zugesprochen werden sollte, sind daher die Gründe, die Habermas zu der spezifischen ‚Architektonik‘ der Theorie bewegen, sowie seine jüngeren Ergänzungen der Menschenrechtsbegründung16 etwas genauer in den Blick zu nehmen. Für die Einschränkung des Menschenrechtsbegriffs auf die Rechtsform bringt Habermas nach meiner Deutung drei zwar zusammenhängende, aber der Art nach sehr unterschiedliche Argumente vor. Das erste ist ein begriffliches: Menschenrechte seien aufgrund der Tatsache, dass es sich um ‚Rechte‘ handelt, keine bloß moralischen Ansprüche, sondern notwendigerweise Ansprüche, die im po
15 Nur als Beispiel: Georg Lohmann, „Menschenrechte zwischen Moral und Recht“, in: ders./Stefan Gosepath (Hgg.): Philosophie der Menschenrechte, Frankfurt am Main 1998, 62–95 (= Menschenrechte zwischen Moral und Recht), 75 f.; Cortina, in diesem Band; auch Forst (Das Recht auf Rechtfertigung, 317) wirft Habermas vor, dass eine wesentliche Dimension der Menschenrechte in seiner Rekonstruktion außen vor bleibt. 16 Jürgen Habermas, „Das Konzept der Menschenwürde und die realistische Utopie der Menschenrechte“, Deutsche Zeitschrift für Philosophie 58/3 (2010), 343–357 (= Das Konzept der Menschenwürde).
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sitiven Recht festgeschrieben sein müssen. Menschenrechte seien „von Haus aus juridischer Natur“17. Dieses Argument ist in seiner Tragweite sehr begrenzt: In der Debatte ist es üblich geworden, Menschenrechte als ‚moralische Rechte‘ zu verstehen, also als starke moralische Ansprüche, die zwar im positiven Recht Berücksichtigung finden sollten, aber auch dann als ‚claim rights‘ existieren, wenn ein Staat sie nicht gewährt oder die öffentliche Ordnung zusammengebrochen ist, und die auch denjenigen zukommen, die keinem Staat angehören.18 Um zu zeigen, dass Menschenrechte nicht in diesem Sinn als moralische Rechte verstanden werden sollten, bringt Habermas aber ein zweites Argument, das sich auf das Verhältnis von Recht und Moral bezieht. Durch den Wegfall der traditionellen Legitimierungmuster politischer Herrschaft insbesondere naturrechtlicher und religiöser Art sei in der Moderne als einzige Form, politische Herrschaft zu legitimieren, das Demokratieprinzip übrig geblieben. Aus dieser Diagnose zieht Habermas einen radikalen Schluss: Menschenrechte dürften aus diesem Grund auf keinen Fall so verstanden werden, dass sie der Moral entspringen und dem demokratischen Gesetzgeber dann als äußere Grenzen entgegentreten, an die er seine Entscheidungen ‚anpassen‘ muss – in einem solchen Bild gäbe es neben der Legitimationsquelle der Volkssouveränität noch eine zweite, moralische Quelle politischer Legitimität. Vielmehr könne es Menschenrechte nur geben, wenn diese aus der internen Logik der Demokratie selbst folgen.19 Gleichwohl muss Habermas davon ausgehen, dass moralische Ansprüche prinzipiell ins positive Recht einfließen können und dies auch sollen: Für die demokratische Begründung von Normen können selbstverständlich auch für Habermas „moralische Gründe eine wichtige Rolle spielen, in vielen Fällen sogar den Ausschlag geben“20. Wichtig ist Habermas lediglich, dass sie nur vermittelt 17
Jürgen Habermas, „Kants Idee des ewigen Friedens – aus dem historischen Abstand von 200 Jahren“, in: ders., Die Einbeziehung des Anderen, Frankfurt am Main 1999, 192–236, 222. 18 Mit Lohmann (Menschenrechte zwischen Moral und Recht) gesprochen, haben Menschenrechte eine moralische und eine juridische Seite. Andere Autoren verstehen Menschenrechte direkt als moralische Rechte. In diesem Sinn formuliert etwa Nussbaum, „the very point of rights language“ bestehe darin, „that human beings are entitled to certain t ypes of treatment whether or not the state in which they happen to live recognizes this fact“ (Nussbaum, Capabilities, 274). Ob zwischen Lohmanns Auffassung und dieser direkten Redeweise ein Unterschied besteht, kann hier unberücksichtigt bleiben. 19 Cortina bezeichnet dies etwas überspitzt als „Angst vor einem mutmaßlichen Menschenrechtsfundamentalismus“ (Eine diskursethische Begründung, 262). Habermas scheint es eher um die ‚Reinheit‘ der demokratischen Legitimation politischer Herrschaft angesichts eines ethischen Pluralismus zu gehen. 20 Jürgen Habermas, „Zur Architektonik der Diskursdifferenzierung. Kleine Replik auf eine große Auseinandersetzung“, in: ders., Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze, Frankfurt am Main 2005, 84–105 (= Architektonik der Diskursdifferenzierung), 88. Vgl. Habermas, Faktizität und Geltung, 139.
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durch den demokratischen Prozess, nicht aber als äußere Schranke der Demokratie Bedeutung erlangen können: Die am demokratischen Prozess Beteiligten sind angehalten, das Recht unter anderem unter Berücksichtigung moralischer Argumente zu gestalten. Wer sich in den Diskurs einbringt, vertritt zwar auch, aber nicht ausschließlich seine eigenen Interessen, und trägt (zumindest der Idee nach) immer auch moralische Argumente vor. Offenbar in diesem Sinn führt Habermas später den Begriff der Menschenwürde ein: Die Menschenwürde sei die moralische (!) Quelle, aus der sich die Gehalte aller Grundrechte speisen21; sie bilde eine „begriffliche Brücke zwischen dem moralischen Gehalt der gleichen Achtung für jeden und der Rechtsform der Menschenrechte“22. Dies soll an der oben dargestellten Konzeption der Menschenrechtsbegründung allerdings nichts ändern23: Menschenrechte seien nicht schon – wie moralische Normen – dadurch vorhanden, dass im Sprachspiel der Akteure darauf Bezug genommen wird, sondern müssten „ungeachtet ihrer rein moralischen Begründung demokratisch ‚erklärt‘“24 werden. Zwar hält Habermas damit an seiner älteren Theorie fest, der zufolge Menschenrechte ihren Ort nur in der Diskurstheorie des Rechts finden können. Aber es stellt sich doch die Frage, ob Habermas mit dem Konzept der Menschenwürde nicht letztlich eine Art moralischer Begründung der Menschenrechte vorgelegt hat, die dem, was in der Debatte um die Begründung der Menschenrechte diskutiert wird, vollends genügt. Dass Menschenrechte letztlich ihre positiv-rechtliche Gestalt im demokratischen Verfahren erlangen sollen, werden die meisten Teilnehmer der Debatte nicht bestreiten; und mit dem Konzept der Menschenwürde wäre möglicherweise ein moralisches Pendant zu den juridischen Menschenrechten eingeführt, aus dem sich moralische Rechte ableiten ließen. Gegenüber der rein rechtsimmanenten Menschenrechtstheorie hätte diese zusätzliche Komponente den unschätzbaren Vorteil, dass sie die Idee der Universalität der Menschenrechte zumindest auf dieser moralischen Ebene abbilden würde. Allerdings bleibt diese Komponente bei Habermas absichtlich rudimentär.25 Weder finden sich moralphilosophische Überlegungen zum Status der Menschenwürde, noch erfolgt eine Ableitung moralischer Rechte aus dem Begriff der Würde. Dies hängt mit Habermas’ drittem Argument dafür zusammen, dass Menschenrechte nur aus einer Verschränkung von Rechtsform und Dis
21 Habermas,
Das Konzept der Menschenwürde, 345. Das Konzept der Menschenwürde, 348. Anm. 23 Das betont Habermas ausdrücklich (Das Konzept der Menschenwürde, 348 Anm.). 24 Habermas, Das Konzept der Menschenwürde, 347. 25 Es darf nicht verschwiegen werden, dass Habermas in „Das Konzept der Menschenwürde“ offen lassen möchte, ob der Rekurs auf die Menschenwürde als Brücke zwischen Moral und Recht etwas an der deflationistischen Lesart des Diskursprinzips ändere, die ich sogleich anhand der Auseinandersetzung mit Apel darstellen werde. Faktisch lässt sich allerdings keinerlei Anzeichen entdecken, dass Habermas seine Position diesbezüglich tatsächlich ändern wollte. 22 Habermas,
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kursprinzip erwachsen können, nicht aber aus einem moralischen Diskurs. Habermas zweifelt daran, dass aus dem Moralprinzip ohne Durchführung realer Diskurse substantiell gehaltvolle Ansprüche abgeleitet werden können. Das Moralprinzip ist demnach dazu da, moralische Normen, die in der Sittlichkeit moralischer Gruppen vorgefunden werden, im Falle ihrer Erosion überprüfen zu können, mehr aber nicht. Direkte Schlussfolgerungen auf moralische Normen oder Ansprüche ließen sich aus dem Moralprinzip dagegen nicht ziehen. Trifft dies zu, kann es in Moralsystemen keine übergeordneten Ansprüche geben, die aus dem ‚gewöhnlichen‘ Verfahren der Konsensfindung herausfallen. Und das wäre für das Projekt einer Menschenrechtsbegründung in doppelter Weise relevant: Erstens ließen sich Menschenrechte, die im oben erläuternden Sinn als moralische Rechte verstanden werden, niemals ‚philosophisch‘ begründen, sondern könnten immer nur in konkreten moralischen Normensystemen vorgefunden werden. Zweitens würde genau dies aber auch für das Konzept der Menschenwürde gelten, dem Habermas die entscheidende Begründungslast seiner Menschenrechtskonzeption auflädt: Auch Menschenwürde wäre demnach ein Prinzip, das zwar vorgefunden, aber nicht weiter philosophisch begründet werden kann. Habermas konstatiert dementsprechend in seinem einflussreichen Aufsatz über das Würdekonzept in der Menschenrechtsentwicklung auch nur in deskriptiver Form, dass der Begriff der Menschenwürde im Laufe der historischen Entwicklung der Menschenrechte den entscheidenden Background abgegeben habe, ohne die moralische Tragweite dieses Begriffs selbst weiter zu hinterfragen oder zu fundieren.26 Die Skepsis gegenüber der Idee, substantielle moralische Gehalte aus dem Moralprinzip selbst ableiten zu wollen, wird von Habermas insbesondere in der Auseinandersetzung mit Karl-Otto Apel begründet. Habermas und Apel teilen noch die Annahme, dass der Diskurs, welcher der Überprüfung moralischer Normen dienen soll, an „unausweichliche […] pragmatische […] Voraussetzungen“27 geknüpft ist, sodass jeder am Diskurs Beteiligte diese zugestehen muss, will er sich nicht aus dem Diskurs verabschieden und oder gar dessen Auflösung herbeiführen. Zu diesen Voraussetzungen gehört insbesondere, dass niemand, der einen relevanten Beitrag leisten könnte, von der Teilnahme ausgeschlossen werden darf; dass alle die gleiche Chance haben müssen, Beiträge zu leisten; und dass keine äußeren Zwänge vorliegen dürfen, sodass nur der ‚zwanglose Zwang‘ des besseren Arguments übrig bleibt.28 Apel versucht nun, diese Diskursvoraussetzungen selbst in moralische Normen umzumünzen: Jeder Diskursteilnehmer müsse „Grundnormen“ anerkennen, deren Geltung überhaupt erst sicherstelle, dass weitere Normen im Dis26
Vgl. Habermas, Das Konzept der Menschenwürde. Architektonik der Diskursdifferenzierung, 89. 28 Vgl. ebd. 27 Habermas,
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kurs gerechtfertigt werden können. Diese Grundnormen stellen für Apel sogar letztbegründete moralische Normen dar.29 Apels Ansatz würde daher durchaus Raum geben für die Ableitung von zumindest einigen Menschenrechten, denjenigen nämlich, die mit den genannten Diskursvoraussetzungen in Verbindung gebracht werden können.30 Habermas wehrt sich gegen dieses Vorgehen. Sein entscheidendes Argument besagt, dass die Diskursvoraussetzungen nur im Diskurs eingefordert werden können, aber nicht in der alltäglichen Lebenspraxis. Ganz im Gegenteil sind wir in der Regel berechtigt, uns von den anspruchsvollen Erfordernissen des Diskurses zu befreien, wenn wir in konkreten Handlungssituationen Entscheidungen treffen müssen. Der Diskurs ist die Ausnahmesituation, die wir herbeiführen, wenn die in der Sittlichkeit aufgehobenen Normen angezweifelt worden sind; der Regelfall ist aber, dass wir uns an den Normen orientieren, die wir in der Sittlichkeit bereits vorfinden und nicht erst durch Argumente ins Leben rufen.31 Damit hat sich der Zweifel bestätigt: Zwar könnte Habermas’ Theorie zulassen, dass zusätzlich zur Menschenrechtsbegründung innerhalb der Diskurstheorie des Rechts, die die Geltung der Grundrechte immer nur für die Mitglieder bestimmter Demokratien aufzeigen kann, eine moralische Quelle eingeführt wird, die – wie es etwa das Konzept der Menschenwürde tut – die universale Geltung der Menschenrechte abbilden kann. Aber dieses Konzept wird bei Habermas nicht weiter rekonstruiert oder diskursethisch begründet. Ob sich in moralischen Gemeinschaften ein Konzept der Menschenwürde herausbildet oder nicht, ist demnach eine rein faktische Frage. Ob sich ein solches Konzept herausbilden sollte, oder ob es gut oder richtig war, dass es sich herausgebildet hat, kann mit Habermas nicht allgemeingültig beantwortet werden. Habermas’ Theorie kann daher nur dann die Priorität der Menschenrechte erklären, wenn er ihre Geltung auf eine partikulare Rechtsgemeinschaft begrenzt. Seine universalistische Moraltheorie sieht dagegen keine Normen vor, denen von Haus aus Priorität zuzusprechen wäre.
29 Apel spricht daher von dem „Nachweis der Unbestreitbarkeit der Anerkennung bestimmter universaler und formalprozeduraler Grundnormen einer Diskursethik durch jeden, der argumentiert“. Karl-Otto Apel, Auseinandersetzungen, Frankfurt am Main 1998, 682. 30 Apel selbst geht noch viel weiter, indem er nicht nur die Sicherung der Möglichkeit von Diskursen als moralische Forderung a priori begründen möchte, sondern sogar die Annäherung der Gesellschaft an ideale Diskurse. Vgl. z.B. Karl-Otto Apel, „Ist die Ethik der idealen Kommunikationsgemeinschaft eine Utopie?“, in: Wilhelm Voßkamp (Hg.), Utopieforschung, Stuttgart 1982, 325–355. 31 Vgl. Habermas, Architektonik der Diskursdifferenzierung, 90 f. Habermas lässt in dem Aufsatz zur Menschenwürde ausdrücklich offen, ob das Konzept der Menschenwürde an seiner Argumentation gegen Apel etwas ändern könnte (vgl. Das Konzept der Menschenwürde, 348). Da er auf der anderen Seite aber, wie schon erwähnt, an seiner Menschenrechtsbegründung festhalten möchte, ist nicht zu sehen, dass er tatsächlich eine moralische und damit universalistische Menschenrechtsbegründung für möglich hält.
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Blicken wir daher auf die diskursethische Alternativkonzeption einer Begründung der Menschenrechte, die Rainer Forst vorgelegt hat, um zu prüfen, ob sich die Universalität und die Priorität der Menschenrechte dort besser wiederfinden lassen.
2. Menschenrechte und das Recht auf Rechtfertigung Rainer Forsts Ausgangspunkt ist die These, dass jeder Person ein Recht auf Rechtfertigung zukomme, d.h. dass man alle Handlungen und Normen vor denjenigen rechtfertigen können muss, die von ihnen oder ihren Folgen betroffen sind. Kernelemente des Rechtfertigungsprozesses sind dabei die Kriterien der Reziprozität und der Allgemeinheit. Das Reziprozitätskriterium bedeute einerseits, dass niemand einen Anspruch erheben darf, den er anderen, die sich in der gleichen Situation befinden, verweigert; und andererseits, dass niemand die eigene Perspektive als den Perspektiven der anderen überlegen behandeln darf. Das Allgemeinheitskriterium ziele darauf ab, dass Gründe, die zur Rechtfertigung vorgebracht werden, von allen geteilt werden können müssen. In Verbindung mit der Tatsache eines ethischen Pluralismus folgt daraus, dass insbesondere keine ethischen Argumente vorgebracht werden dürfen, die eine strittige Konzeption des guten Lebens voraussetzen.32 Bevor ich auf Forsts Menschenrechtsbegründung eingehe, lohnt ein kurzer Blick auf die Differenz zu Habermas’ Version der Diskursethik. Herauszustellen ist dabei erstens, dass Forst die Geltung der Moral nicht auf unhintergehbare Voraussetzungen allein des kommunikativen Handelns zurückführen möchte, sondern ein Konzept praktischer Vernunft voraussetzt. Dass sich Menschen wechselseitig das Recht auf Rechtfertigung zusprechen müssen, sei eine Voraussetzung, die Menschen aufgrund ihrer praktischen Vernunft teilen bzw. nicht zurückweisen können (was sogleich noch an einem Beispiel vorgeführt wird). Wesen, die verständigungsorientiert miteinander kommunizieren können, sind laut Forst hingegen nicht automatisch auch moralische Wesen.33 Die zweite Differenz, die selten explizit gemacht wird, betrifft das Verhältnis von Diskurs und Alltagswelt. Zieht Habermas hier eine strikte Trennung und sieht in den Normen, die in der Sittlichkeit einer Gemeinschaft enthalten sind, den direkten Referenzpunkt des moralischen ‚Sprachspiels‘, so fallen bei Forst beide Aspekte stärker zusammen. Wann immer jemand handelt und dabei andere affektiert, so scheint Forst anzunehmen, muss er prinzipiell bereit sein, auf Verlangen Gründe dafür anzugeben, die die genannten Kriterien erfüllen. An
32
Vgl. Forst, Die Rechtfertigung der Menschenrechte, 72. Forst grenzt sich dabei ausdrücklich von Apel ab; aber auch im Vergleich mit der Habermas’schen Theorie dürfte mindestens eine Akzentverschiebung festzustellen sein. Vgl. Forst, Das Recht auf Rechtfertigung, 308. 33
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dererseits kann sich jeder stets – und nicht nur in Diskurssituationen, in denen man die Handlungssphäre ohnehin schon verlassen hätte – auf sein Recht auf Rechtfertigung berufen, wenn er sich ungerecht behandelt fühlt und Gründe für die Handlungen der anderen einfordert. Wie funktioniert nun Forsts Menschenrechtsbegründung? Hypothetischer Ausgangspunkt ist – gleichsam ex negativo – eine moralische Gemeinschaft, die sich in den Menschenrechtsdiskurs kritisch einbringt und die Geltung der Menschenrechte (oder auch nur bestimmter Menschenrechte) für ihre Kultur bestreiten möchte.34 Forst fragt nach den Bedingungen, unter denen eine solche Gemeinschaft diesen Anspruch im Menschenrechtsdiskurs einlösen kann (wobei vorausgesetzt wird, dass der Anspruch nicht von vornherein als illegitim abgewiesen werden kann, weil sonst eine repetitio principii vorläge). Der Anspruch könne genau dann moralisches Gewicht zugesprochen bekommen, wenn er als Ausfluss der kulturellen Integrität der Gemeinschaft angesehen werden kann, wenn also mit der Menschenrechtskritik nicht nur Machtverhältnisse verteidigt werden sollen, sondern Überzeugungen vorgebracht werden, die ihre Mitglieder aus freien Stücken bejahen. Nur in diesem Fall könne man Menschenrechte für die eigene Kultur als von außen ‚aufgedrückte‘ Moralvorstellungen zurückweisen, die den eigenen, historisch gewachsenen und von allen bejahten Werten zuwiderlaufen. Jeder Sprecher einer solchen Gemeinschaft, der im Menschenrechtsdiskurs die Geltung der Menschenrechte für seine Kultur zurückweist, muss daher stellvertretend für das Kollektiv sprechen können, muss also die zumindest implizite Zustimmung der Mitglieder der Gesellschaft voraussetzen. „Das Argument für externen Respekt setzt interne Akzeptanz voraus.“35 Der internen Akzeptanz entspricht aber direkt das Recht eines jeden Mitglieds, die herrschende Kultur und ihr Normensystem anzuzweifeln und Gründe einzufordern, die die Normen dem Mitglied gegenüber rechtfertigen. Aus dem Anspruch des Sprechers der Gemeinschaft, im interkulturellen Diskurs Einwände gegen Menschenrechte vorzubringen, folgt damit unmittelbar, dass der Sprecher den Mitgliedern des Kollektivs, das er nach außen vertritt, das Recht auf Rechtfertigung zuerkennen muss; andernfalls wäre die eigene Argumentation entwertet bzw. als bloßes Machtspiel entlarvt. Dass jeder Person damit ein Recht auf Rechtfertigung eingeräumt werden muss, ist für Forst der Sinn des Begriffs der Menschenwürde. Anders als bei Habermas wird der Begriff der Menschenwürde daher aus den Grundlagen der Theorie abgeleitet und nicht nur als Konzept eingeführt, das faktisch in den ethischen Vorstellungen moderner Gesellschaften explizit oder implizit vorhanden ist:
34
Für die folgende Argumentation vgl. Forst, Das Recht auf Rechtfertigung, 294–304. Die Rechtfertigung der Menschenrechte, 296.
35 Forst,
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Der Begriff der ‚Würde‘, der im Zentrum der Idee der Menschenrechte steht, ist somit kein metaphysisch oder ethisch begründeter, der mit einer Konzeption des guten Lebens verbunden wäre. Die Würde einer Person zu achten heißt vielmehr, sie als jemanden anzuerkennen, dem oder der gegenüber für Handlungen oder Normen, die ihn oder sie auf relevante Weise betreffen, angemessene Gründe geschuldet werden.36
Vom Konzept der Würde bzw. vom Recht auf Rechtfertigung ausgehend möchte Forst „reflexiv“ Menschenrechte begründen. Das bedeutet, „dass die Idee der Rechtfertigung selbst in Bezug auf ihre normativen Implikationen rekonstruiert wird“37. Forst unterscheidet dabei einen moralischen von einem politischen Konstruktivismus: Während der politische – ähnlich wie bei Habermas – die Grundsätze einer konkreten politischen Ordnung rekonstruiert, nimmt der moralische Konstruktivismus „Fragen in der moralischen Gemeinschaft aller Menschen“38 in den Blick. Was den politischen Konstruktivismus betrifft, reicht es anzumerken, dass Forst im relevanten Sinn die oben erläuterte Idee der „Gleichursprünglichkeit“ von Demokratie und Menschenrechten nicht bestreiten möchte.39 Wie ich oben erläutert habe, widerstreitet die Idee einer moralischen Menschenrechtsbegründung dieser Idee nicht notwendigerweise, denn auch der Verfechter einer moralischen Begründung kann zugestehen, dass Menschenrechte nur im demokratischen Verfahren positiv-rechtliche Gestalt erlangen sollen. Entscheidend ist hier dagegen der moralische Konstruktivismus, denn nur er wird dem Merkmal der Universalität gerecht. Die große Schwierigkeit, die ich in Forsts Ansatz sehe, besteht in dem Anspruch, vom Recht auf Rechtfertigung ausgehend eine Liste von konkreten Menschenrechten abzuleiten, die einerseits inhaltlich bestimmter sind als das Recht auf Rechtfertigung selbst, andererseits aber nicht mit der Gesamtheit moralischer Forderungen überhaupt zusammenfallen. Dabei droht ein Dilemma: Auf der einen Seite könnte man gegen diesen Versuch einwenden, dass das Recht auf Rechtfertigung ein formales Recht darstelle und insofern genauso wie Habermas’ Moralprinzip keine substantiellen moralischen Bestimmungen enthalte; dass also nur durch den Rechtfertigungsprozess selbst substantiell gehaltvolle Ansprüche entstehen können, die gewissermaßen außerhalb des Kompetenzbereichs des Philosophen liegen. Gesteht man auf der anderen Seite zu, dass aus dem Recht auf Rechtfertigung substantielle moralische Gehalte abgeleitet werden können, so steht die Frage im Raum, warum diese Gehalte mit dem zusammenfallen sollten, was man gemeinhin unter Menschenrechten versteht. Wenn sich substantielle Gehalte ableiten lassen, müssten diese den gesamten Umfang universal gültiger Normen umfassen, und eine Priorität menschenrechtlicher Ansprüche ließe sich nur noch mithilfe weiterer Annahmen zeigen. 36 Forst,
Die Rechtfertigung der Menschenrechte, 87. Die Rechtfertigung der Menschenrechte, 71. 38 Forst, Das Recht auf Rechtfertigung, 311. 39 Vgl. Forst, Das Recht auf Rechtfertigung, 316 f. 37 Forst,
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Meines Erachtens gerät Forsts Theorie in das zweite Horn dieses Dilemmas. So schreibt er etwa, auf der „Basis dieses Grund-Rechts“, also des Rechts auf Rechtfertigung, würden Menschenrechte als diejenigen Rechte begründet, „die niemand vernünftigerweise – also mit reziprok-allgemeinen Argumenten – zurückweisen kann“40. An anderer Stelle formuliert er, dass Menschenrechte diejenigen Rechte seien, „die einer Person nicht vernünftigerweise vorenthalten werden können, ohne ihr Recht auf Rechtfertigung zu verletzen – in welchem sozialen Kontext auch immer“41. Nun scheint aber zuzutreffen, dass das Recht auf Rechtfertigung immer dann verletzt wird, wenn nach Normen gehandelt wird, die nicht die Zustimmung aller Betroffenen finden können – was wiederum das Kriterium für moralische Normen schlechthin darstellt. Jede Handlung, die einer nicht allgemein zustimmungsfähigen Norm folgt, wäre daher zugleich eine Menschenrechtsverletzung. In der späteren Version seiner Menschenrechtsbegründung weicht Forst leicht von diesen Formulierungen ab: Er stellt klar, dass es im Rahmen des Rechts auf Rechtfertigung zwei Wege gebe, die Menschenrechte substantiell zu bestimmen: Erstens gehe es darum, „die Bedingungen auszubuchstabieren, die den Status eines sozial und politisch anerkannten Rechtfertigungssubjektes ausmachen“42. Offensichtlich sollen also Rechte als Bedingung der Möglichkeit eingeführt werden, überhaupt den Status eines Subjektes, dem gegenüber andere Rechtfertigungspflichten innehaben, ausüben und behalten zu können. Solche Rechte wären deshalb meines Erachtens nicht Ergebnis des Rechtfertigungsverfahrens, sondern diesem vorgeordnet (was nicht ausschließt, dass sie in einem Diskurs höherer Ebene thematisiert, angezweifelt und neu formuliert werden könnten). Damit wäre klar, warum diesen Rechten Priorität zukommt. Zweitens seien aber auch „die Aspekte des menschlichen Lebens festzulegen, die durch Grundrechte zu schützen bzw. zu ermöglichen sind, welche Personen im moralischen Sinne einander nicht vorenthalten dürfen“43. Daher enthalten Menschenrechte über diejenigen Rechte hinaus, die ihren Status als Rechtfertigungssubjekte ausmachen, auch noch „die substantiellen Rechte, die innerhalb solch einer Struktur niemand anderen vernünftigerweise verweigern kann, ohne die Forderung nach Wechselseitigkeit und Allgemeinheit zu verletzen“44. Diese Strategie zielt nicht mehr auf Rechte ab, die dem Rechtfertigungsverfahren vorgeordnet sind, sondern auf solche, die sich mit Notwendigkeit als Ergebnis des Rechtfertigungsverfahrens einstellen werden. Damit wird die ältere Fassung der Bestimmung der Menschenrechte auf diesem zweiten Weg komplett weitergeführt.
40 Forst,
Das Recht auf Rechtfertigung, 306. Das Recht auf Rechtfertigung, 312. 42 Forst, Das Recht auf Rechtfertigung, 88. 43 Ebd. 44 Forst, Das Recht auf Rechtfertigung, 90. 41 Forst,
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Auf den zweiten Weg trifft deshalb der vorgebrachte Einwand erneut zu: Nach diesem Verständnis umfassen Menschenrechte den gesamten universalen Kern der Moral, und nicht nur Rechte, die sich auf basale menschliche Bedürfnisse beziehen. Nehmen wir als Beispiel etwa den Umgang mit natürlichen Ressourcen. Kein Mensch kann aus moralischer Perspektive einen privilegierten Anspruch auf Eigentum an natürlichen Ressourcen erheben. Zwar lassen sich reziproke und allgemeine Gründe dafür vorbringen, weshalb Profite aus natürlichen Ressourcen nicht egalitär verteilt werden sollten – etwa, weil die Bewohner rohstoffreicher Gebiete ökologische Risiken beim Abbau der Rohstoffe übernehmen und daher einen größeren Anteil an ihnen einfordern können. Aber gleichwohl sehe ich nicht, dass irgendwelche moralischen Argumente denkbar sind, die dafür sprechen würden, den Profit ausschließlich den Förderstaaten zuzusprechen oder einzelnen Menschen die Profite aus natürlichen Ressourcen komplett vorzuenthalten. Vertritt man eine an die Ergebnisse von Rechtfertigungsverfahren anknüpfende Theorie, wird man mit Gosepath deshalb die Schlussfolgerung ziehen müssen, dass die Verteilung von natürlichen Ressourcen ein Menschenrechtsthema ist.45 Dies wäre aber, denkt man an das Prioritäts-Merkmal, eine merkwürdige Annahme: Die Tatsache, dass rohstoffreiche Staaten den erzielten Profit nicht der gesamten Menschheit zukommen lassen, dürfte kaum die mit Menschenrechtsverletzungen normalerweise verbundenen Kriterien erfüllen. Aus diesem Grund möchte Forst diese Schlussfolgerung ausdrücklich zurückweisen. Er grenzt Menschenrechte explizit von einem weiten Begriff der Gerechtigkeit ab, wobei Fragen zur Verteilung natürlicher Rohstoffe diesem weiten Begriff zuzuordnen seien.46 Dies ist aber von seiner Menschenrechtsbegründung nicht gedeckt. Denn Forst kann im Rahmen seiner Theorie nicht sinnvoll erklären, warum Foltern eine Menschenrechtsverletzung darstellt, das Vorenthalten der Profite aus natürlichen Ressourcen aber nicht. Ziehen wir Bilanz in Hinblick auf die beiden Aspekte Universalität und Priorität. Forsts Theorie kann das Merkmal der Universalität angemessen rekonstruieren: Er versteht Menschenrechte als Rechte, die „ein jeder Mensch als Mensch beanspruchen kann“47, und weist damit Habermas’ Beschränkung der Menschenrechte auf Staatsbürger zurück. Insbesondere macht Forst geltend, dass in seiner Konzeption Menschenrechte kulturübergreifend Geltung bean
45 Gosepath legt anfangs offen, dass er seinen Ansatz in eine Konzeption gegenseitiger Rechtfertigung in Forsts Sinne einbettet (Stefan Gosepath, „Zur Begründung sozialer Menschenrechte“, in: ders./Georg Lohmann (Hgg.): Philosophie der Menschenrechte, Frankfurt am Main 1998, 146–187, 151 f.), und bringt später ausdrücklich natürliche Ressourcen ins Spiel (ebd., 176). Menschenrechte zielen laut Gosepath insofern auf das „Ganze der Gerechtigkeit“ (ebd., 181). 46 Forst, Das Recht auf Rechtfertigung, 325. 47 Forst, Das Recht auf Rechtfertigung, 305.
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spruchen können, ohne dass sie deshalb als von außen aufgezwungene Moralvorstellung angesehen werden dürfen. Problematisch bleibt aber die Frage, warum Menschenrechten Priorität zukommen sollte. Zwar kann das Recht auf Rechtfertigung klarerweise einen Vorrang vor allen anderen Rechten beanspruchen, weil es gewissermaßen die Grundlage aller Normativität darstellt. Aber dieses Meta-Recht hat noch keine direkten Implikationen für tatsächliche Normensysteme. Indem Forst den Fokus der Menschenrechte nicht auf diejenigen Rechte beschränkt, die den Status von Personen als Rechtfertigungssubjekten sichern, begibt er sich der Möglichkeit, vom Recht auf Rechtfertigung ausgehend einen abgegrenzten Bereich von Menschenrechten abzuleiten, der Vorrang vor den konkreten Rechtfertigungsverfahren beanspruchen könnte. Zweifellos ließe sich innerhalb seiner Theorie eine Unterscheidung einführen zwischen wichtigen Rechten, die als Menschenrechte bezeichnet werden, und weniger wichtigen Rechten, die dann der Gerechtigkeit im weiten Sinn angehören. Aber die Theorie kann mittels ihrer dargestellten Grundlagen nicht erklären, was die einen Rechte wichtiger macht als die anderen und weshalb die einen Rechte Priorität vor den anderen genießen sollten. Betrachten wir abschließend eine ähnliche Variante der diskursethischen Menschenrechtsbegründung, die diesem Problem Rechnung tragen könnte.
3. Menschenrechte als Ausdruck von diskurskonstitutiven Werten Adela Cortina, die bereits seit den 1980er Jahren – und damit länger als Habermas selbst – an einer diskursethischen Menschenrechtsbegründung arbeitet48, lehnt sich in ihrer Konzeption im Vergleich zu Forst viel stärker an die Habermas’schen Grundlagen an, was die Unterscheidungen von Moral und Recht, Handlungssphäre und Diskurs angeht. Anders als Habermas versteht sie Menschenrechte jedoch als moralische Rechte. Sie teilt dagegen seine oben erläuterte These, dass moralische Normen nur durch tatsächliche Diskurse gerechtfertigt werden können und nicht allein durch philosophische Deliberation. Aus diesem Grund muss sich über die Geltung von Menschenrechten laut Cortina in realen Moral-Diskursen ein Konsens bilden, damit davon gesprochen werden kann, dass sie ‚existieren‘. Als solche Diskurse seien die Menschenrechtsdiskurse der letzten Jahrzehnte zu verstehen, die zu den einschlägigen Menschenrechtserklärungen des internationalen Rechts geführt haben.
48 Vgl. insbesondere Adela Cortina, „Diskursethik und Menschenrechte“, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 76/1 (1990), 37–49 (= Diskursethik und Menschenrechte).
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Diese realen Diskurse seien auf der einen Seite also notwendig, um Menschenrechte zu ‚schaffen‘, und insofern könne der Philosoph nicht vollkommen losgelöst von realen Diskursen eine hieb- und stichfeste Menschenrechtsbegründung vorlegen. Andererseits sind die Menschenrechte, die sich in realen Diskursen ergeben, ihrem Inhalt nach für Cortina auch nicht willkürlich von den Beteiligten wählbar. Um dies zu begründen, entfaltet Cortina in Anlehnung an Habermas zunächst eine Theorie sog. ‚pragmatischer Rechte‘, die im Diskurs allen Betroffenen gleiche Chancen eröffnen, ihre Position einzubringen. Solche pragmatischen Rechte würden aber – wie auch Habermas herausstellt – nur innerhalb des Diskurses gelten49, und nicht in der Handlungssphäre. Sie allein können daher noch keine Menschenrechtsbegründung darstellen. Dennoch lasse sich aus ihnen eine gehaltvolle moralische Norm ableiten, die über die Reichweite des Diskurses selbst hinausragt: Als Bedingung der Möglichkeit der Ausübung von pragmatischen Rechten ergebe sich nämlich die „moralische Forderung“, dass jede Partei in allen Fragen, die sie betreffen, als „unentbehrlicher Gesprächspartner“50 berücksichtigt werden muss. Diese Forderung bringe ethische Werte zum Ausdruck, die die wechselseitige Anerkennung als Personen konstituieren: Autonomie, Gleichheit und Solidarität.51 Die Pointe der Argumentation besteht nun darin, dass das Ergebnis des Menschenrechtsdiskurses nicht in einen pragmatischen Widerspruch zu den Voraussetzungen des Diskurses geraten darf52: Ein jedes Ergebnis des Diskurses müsse mit der genannten moralischen Forderung und mit den drei Grundwerten in Einklang stehen. Dies gelte nicht nur für Menschenrechtsdiskurse, sondern grundsätzlich. Aber die historischen Menschenrechtserklärungen seien nun so zu verstehen, dass in ihnen bewusst festgelegt werden sollte, auf welchen grundlegenden moralischen Rechten die moralische Forderung nach Berücksichtigung aller Betroffenen als Diskursteilnehmer beruht.53 Menschenrechtsdiskurse sind gewissermaßen Diskurse über Rechte, die ausbuchstabieren, was es heißt, als unentbehrlicher Gesprächspartner zu gelten. Debattiert man über Menschenrechte und versucht einen Konsens zu erreichen, so steht nach dem genannten Grundsatz fest, dass das Ergebnis des Diskurses nicht in Widerspruch zu der Forderung geraten darf. Das Ergebnis von Menschenrechtsdiskursen kann daher von den am Diskurs Beteiligten, sieht man von Details ab, nicht so oder so festgelegt werden, sondern bewegt sich innerhalb eines relativ engen Korridors von konkreten Rechten, die den Diskursbedingungen nicht widersprechen.
49
Anders noch in Cortina, Diskursethik und Menschenrechte, 44. Eine diskursethische Begründung, 267. 51 Diese T hese ist nah an Forsts Deutung des Würdebegriffs. Anders als Forst geht Cortina allerdings davon aus, dass die Diskursethik ‚materielle Werte‘ mit sich bringe. 52 Vgl. Cortina, Eine diskursethische Begründung, 263, 266 f. 53 Vgl. Cortina, Eine diskursethische Begründung, 266 f. 50 Cortina,
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Entscheidend scheint zu sein, ob es Cortina gelingt nachzuweisen, dass die vorgeschlagene Theorie eine rationale Basis von Menschenrechten begründen kann, die außerhalb des Diskurses Geltung beanspruchen. Denn zunächst sieht es so aus, als würde nur dann ein pragmatischer Widerspruch zwischen dem Ergebnis des Diskurses und den Diskursbedingungen vorliegen, wenn einigen Teilnehmern für die Dauer des Diskurses grundlegende Rechte abgestritten werden. Dagegen scheint sich kein solcher Widerspruch zu ergeben, wenn Grundrechte für die Dauer des Diskurses eingeräumt, für die Handlungssphäre aber abgestritten werden. Cortina ist deshalb darum bemüht aufzuzeigen, dass Menschen nur dann die für den Diskurs erforderlichen rationalen Kompetenzen entwickeln können, wenn sie auch außerhalb des Diskurses entsprechende Bedingungen vorfinden. Nur wer außerhalb des Diskurses die Erhaltung seines Lebens gesichert sieht sowie über Bildungschancen, Meinungsfreiheit und eine kulturelle Basis verfügt, kann im Diskurs vollwertig als gleichberechtigter Gesprächspartner auftreten.54 Das Beweisziel ist damit erreicht: Sobald es Menschenrechtsdiskurse gibt, steht fest, dass in diesen Diskursen nur solche Rechte ‚beschlossen‘ werden können, die im Einklang damit stehen, dass Menschen als potentielle Diskurspartner angesehen werden und insofern entsprechende Kompetenzen entfalten können. Wenden wir uns nun unserer Ausgangsfrage zu: Wie steht es um die beiden Merkmale Universalität und Priorität in dieser Form einer diskursethischen Menschenrechtsbegründung? Weil in Menschenrechtsdiskursen bewusst Rechte debattiert werden, die uns qua Menschsein zukommen, werden auch die Ergebnisse dieser Diskurse alle Menschen umfassen. Von Menschenrechtsdiskursen sind alle betroffen, und wenn jeder Betroffene als ein potentieller unverzichtbarer Gesprächspartner anzusehen ist, würde ein jedes Menschenrechtsprinzip, das nicht universal ausformuliert wird, in Widerspruch zur Voraussetzung geraten. In einem gewissen Sinn wird die Universalität der Menschenrechte also plausibel erklärt. Priorität haben diese Rechte, weil jede andere im Diskurs vorgeschlagene Norm mit denjenigen Rechten verträglich sein muss, deren Nichtbeachtung einen pragmatischen Widerspruch zu den Bedingungen der Möglichkeit des Diskurses darstellen würde. Der Menschenrechtsdiskurs formuliert gewissermaßen Rechte, die sicherstellen, dass künftig kein Diskursergebnis mehr in einen Widerspruch zu seinen Bedingungen gerät. Was auch immer künftig als moralisch bedeutsam ausgewiesen wird, es ist dem ‚Wert‘ von Menschenrechten nachgeordnet. Ist damit eine plausible Variante einer diskursethischen Rekonstruktion der Menschenrechte gefunden? An Cortinas Ansatz erscheint zweifelhaft, ob ein tatsächlicher Konsens in einem realen Diskurs nötig ist, um Menschenrechte als
54
Vgl. Cortina, Eine diskursethische Begründung, 271.
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moralische Rechte zu etablieren. Folgt man Cortina, dann sind mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 – überspitzt gesagt – von heute auf morgen Menschenrechte als moralische Rechte ‚erklärt‘ worden. Dieses Modell scheint sehr stark an die Struktur positiver Rechte anzuknüpfen, und es lässt sich sogar die Struktur der „Gleichursprünglichkeit“ wiederfinden: Die Idee des Diskurses erfordert Menschenrechte, und diese können wiederum nur im Diskurs in die Welt gesetzt werden. Es erscheint mir aber unplausibel, dass moralische Rechte in einem ähnlichen Sinn ‚erklärt‘ werden müssen wie positives Recht. Moralische Rechte stellen abstrakte berechtigte Ansprüche dar, die gegenüber anderen eingefordert werden können, die aber keine klar definierte, überprüfbare Gestalt annehmen müssen, wie wir es aus dem positiven Recht kennen. Es ist aus diesem Grund nicht nötig, die Ergebnisse realer Menschenrechtsdiskurse abzuwarten, um Menschenrechte als moralische Ansprüche geltend zu machen. Diese Überlegung ist für das Universalitätsmerkmal nicht irrelevant. Wie gesagt, wird dieses Merkmal in einem Sinn von Cortina angemessen rekonstruiert: Menschenrechte gelten ab dem Zeitpunkt eines erzielten Konsenses im internationalen Menschenrechtsdiskurs. In einem anderen Sinn ist das Universalitätsmerkmal aber nicht mehr erfüllt: Temporale Universalität ist in Gefahr, wenn man die Rolle realer Diskurse so stark interpretiert wie Cortina, denn sie gelten eben erst ab einem bestimmten Zeitpunkt. Folgt man dagegen dem in der Literatur überwiegend verwendeten Begriff von Menschenrechten als moralischen Rechten, so ist deren Geltung zwar nicht völlig unabhängig von historischen Entwicklungen. Eine ‚historische‘ Bedingung, unter der die Existenz von moralischen Rechten steht, ist etwa die Entstehung eines Konzepts von subjektiven Rechten überhaupt – nach einer häufig vertretenen Meinung kennen antike Moralsysteme nur den Begriff der Pflicht, nicht aber den des subjektiven Rechts.55 Aber wenn das Konzept des subjektiven Rechts einmal – implizit oder explizit – in Moralsystemen verankert ist, lässt sich problemlos von moralischen Rechten sprechen, ohne dass diese in realen Diskursen ausgehandelt und womöglich gar schriftlich fixiert werden müssten. Mir scheint daher eine Konzeption angemessener zu sein, innerhalb derer man nicht darauf warten muss, dass Menschenrechte in realen Diskursen thematisiert werden, um davon sprechen zu können, dass sich Menschen auf moralische Rechte berufen, die ihnen zukommen, bloß weil sie Menschen sind.
55 Lohmann,
Menschenrechte zwischen Moral und Recht, 87.
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4. Schlussfolgerung: Menschenrechte als Sicherung der Möglichkeit der Teilnahme an Diskursen Führen wir die Argumentationslinien zusammen: Sollen im Rahmen einer diskursethischen Menschenrechtsbegründung die Merkmale der Universalität und Priorität rekonstruiert werden, so sind Menschenrechte – als moralische Rechte aufzufassen, die allen Menschen ungeachtet einer Staatszugehörigkeit zukommen (so in Übereinstimmung mit Cortina und Forst gegen Habermas) – als Rechte aufzufassen, die Priorität genießen, weil sie in irgendeiner Form die Bedingung der Möglichkeit von Diskursen beschreiben (so in Übereinstimmung mit Cortina und Habermas gegen Forst) – als Rechte aufzufassen, die nicht konkret ausbuchstabiert oder fixiert sein müssen (gegen Cortina), aber doch inhaltlich über ein bloßes „Recht auf Rechtfertigung“ hinausgehen (so mein Ergebnis der Forst-Diskussion, welches zugleich unvereinbar mit Habermas’ Skepsis gegenüber substantiellen moralischen Schlussfolgerungen aus dem Diskursprinzip ist). Eine Menschenrechtsbegründung, die diesen Bedingungen genügt, könnte etwa die folgende Form annehmen: Diskursethische Prämisse: Wenn wir auf (irgendwelche) moralische Normen verweisen, besteht der Geltungssinn dieser Praxis darin, dass wir unterstellen, dass diese moralische Norm in einem realen Diskurs die Zustimmung aller Betroffenen finden kann. Moralische Dimension dieser Prämisse: Ganz egal wer von einer Norm betroffen ist, müssen die Teilnehmer der moralischen Praxis sicherstellen, dass ein solcher Diskurs möglich sein könnte, denn anders würden wir uns der Möglichkeit berauben, den Geltungssinn moralischer Normen einlösen zu können, wenn diese in Frage gestellt werden. Wir sind also in der Lebenswelt von den strengen Diskursregeln befreit, müssen aber gleichzeitig in der Lebenswelt dafür sorgen, dass ein Übergang in den Diskurs mit allen Betroffenen möglich bleibt. Universalitätsbedingung: Prinzipiell können alle Menschen von moralischen Normen betroffen sein. Schlussfolgerung: Wir sind, wann immer wir uns auf die Praxis des Sich-Berufens auf moralische Normen einlassen, dazu verpflichtet, jeden Menschen als potentiellen Teilnehmer eines Diskurses zur Rechtfertigung dieser Normen anzusehen und seine mögliche Teilnahme zu sichern. Übergang von Pflichten zu Rechten: Dieser Pflicht korrespondiert das Recht jedes Menschen, als potentieller Diskursteilnehmer die Möglichkeit zu haben, sich die nötigen Voraussetzungen der Teilnahme anzueignen. Daraus erwach-
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sen Freiheitsrechte, politische Teilhaberechte, soziale und kulturelle Rechte als Menschenrechte im Sinne von moralischen Rechten. Diskurse über Menschenrechte: Obwohl die Geltung der Menschenrechte deshalb den ‚normalen‘ normativen Diskursen vorausgeht, ist selbstverständlich, dass auch diese diskursiv angezweifelt werden können. Über ihre Reichweite und ihre genaue Gestalt, aber auch über die Frage, unter welchen besonderen Umständen sie ihre Priorität verlieren, wird in der Regel Streit bestehen. Dies ist aber kein Einwand gegen das diskursethische Verständnis von Menschenrechten: Diskurse über Menschenrechte sind dieser Sicht zufolge Diskurse mit einer selbstbezüglichen Struktur und damit quasi Diskurse höherer Ordnung: Sie sind spezielle Diskurse über die Sicherstellung der Möglichkeit von Diskursen im Allgemeinen. Moralische Forderung nach Kodifizierung der moralischen Rechte: Diese moralischen Rechte können nur dann eine angemessene Wirkung entfalten, wenn sie ins positive Recht einfließen. Bürger konkreter demokratischer Staaten sind daher moralisch verpflichtet, die Aufnahme von Menschenrechten in die Verfassung auf demokratischem Weg einzufordern. Parallele Begründung von Bürgerrechten: Bürgerrechte können zusätzlich und parallel zu dieser Argumentation mit Habermas’ Konzept der Gleich ursprünglichkeit oder mit Forsts ‚politischem Konstruktivismus‘ begründet werden, ohne dass dies in Spannung zu der moralischen Begründung der Menschenrechte geriete. Dies ist freilich nur die grobe Skizze eines diskursethischen Arguments, das in vieler Hinsicht der weiteren Erläuterung bedürfte. Aber die grundlegende Idee, wie sich die Merkmale der Universalität und der Priorität der Menschenrechte diskursethisch rekonstruieren lassen, dürfte ausreichend sichtbar werden. Wie zielführend erscheint eine solche Argumentation im Hinblick auf die Begründung der Menschenrechte? Abschließend sei je ein vorteilhafter und ein problematischer Aspekt genannt. Wie oben schon erläutert, kann ich hier die Plausibilität der Diskursethik selbst nicht ausreichend in den Blick nehmen. Es liegt aber auf der Hand, dass der diskursethische Ansatz den Menschenrechtsskeptiker stärker in Bedrängnis bringen wird als viele konkurrierende Modelle, die auf eine Minimalmoral oder einen überlappenden Konsens verweisen.56 Zu den wenigen Theoriefamilien, die überhaupt darauf abzielen, es der Diskursethik in dieser Hinsicht gleichzutun, gehört der transzendentalpragmatische Ansatz, den Alan Gewirth in die Debatte eingeführt hat. Dieser rekonstruiert als Bedingung der Möglichkeit beliebigen Handelns, dass der Akteur sich selbst Grundrechte zusprechen muss; er würde sich in einem bestimmten Sinn selbst widersprechen, wenn er mit je
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Vgl. auch den Beitrag von Cortina in diesem Band.
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der Handlung von Grundfreiheiten Gebrauch machte und zugleich davon ausginge, dass er nicht auch ein Recht auf diese Freiheiten hätte. Gewirth fügt nun die Annahme ein, dass sich der Akteur diese Rechte mit Rekurs auf eine seiner Eigenschaften zuschreiben muss, der irgendwie begründen soll, warum er diese Rechte hat. Die einzige Eigenschaft, die hierfür in Frage komme, sei jedoch die des Mensch-Seins, denn bei Rückführung auf jede andere Eigenschaft müsste er annehmen, dass er die Rechte verlieren würde, sobald er die Eigenschaft verlöre. Er muss laut Gewirth also annehmen, dass er die fraglichen Rechte habe, weil er ein Mensch sei. Daraus folge, dass jeder Akteur auch allen anderen Menschen die gleichen Rechte zusprechen müsse.57 Dieser Ansatz kann die Universalität und möglicherweise auch die Priorität der Menschenrechte nicht weniger gut erklären als der diskursethische. Aber der Übergang von dem Beanspruchen eines Freiheitsraumes für sich selbst zum Respektieren dieses Freiraums anderen gegenüber scheint mir in dieser Theorie eine Schwierigkeit zu bereiten. Die Argumentation lebt von der Annahme, dass ich mir Rechte zusprechen muss, bloß weil ich ein potentieller Akteur bzw. ein Mensch bin. Doch lässt sich das nicht ausreichend zeigen: Es ließe sich jede essentielle Eigenschaft und jedes essentielle Eigenschaftsbündel von mir als Substitut für das „Mensch-Sein“ einfügen, um der Argumentation von Gewirth gerecht zu werden. Salopp gesagt, könnte ich mir die Grundrechte zusprechen, weil ich ich bin. Daraus ließe sich weder ableiten, dass ich die Rechte respektieren muss, die andere sich selbst zuschreiben, noch, dass andere die von mir eingeforderten Rechte respektieren müssen. Daher ist der diskursethische Ansatz in dieser Hinsicht äußerst attraktiv, denn das Element intersubjektiver Verbindlichkeit ist diskurstheoretisch abgesichert. Auf der anderen Seite steht zu befürchten – und damit zu dem problematischen Aspekt –, dass er bei weitem nicht alle Rechte als Menschenrechte rekonstruieren kann, die wir heute in Menschenrechtskatalogen finden – und das gilt auch für solche, die wir zum Kern des Menschenrechtsdenkens überhaupt rechnen. Das griffigste Beispiel ist wahrscheinlich das Folterverbot: Wird Folter angewendet, um Informationen zur weiteren Verbrechensbekämpfung zu erpressen oder um Straffällige für eine kurze Zeit intensiv zu bestrafen, so wird die künftige Teilnahme des Gefolterten an Diskursen dadurch nicht unmöglich gemacht. Dem Folterverbot scheint eher ein Begriff der Würde zugrunde zu liegen, in dem sich wesentlich die Intuition niederschlägt, dass den Menschen eine bestimmte Form von ‚Ehre‘ auszeichnet, die Erniedrigungen wie etwa das Foltern grundsätzlich unzulässig macht. Aus Sicht der Diskursethik wäre dies meines Erachtens ein ethischer Begriff, der sich aus den moralphilosophischen Grundlagen nicht a priori ableiten lässt und über die Idee der Erhaltung eines Rechtferti
57 Alan Gewirth, „T he Basis and Content of Human Rights“, Nomos 23 (1981), 119–147; hier: 130 f.
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gungssubjekts – welche in unterschiedlicher Form den Theorien von Habermas, Forst, Cortina sowie meinem Vorschlag zugrunde liegt – deutlich hinausgeht.
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Hoesch, Matthias/Sticker, Martin, „Parfit über Kantianismus und Konsequentialismus“, in: Matthias Hoesch/Sebastian Muders/Markus Rüther (Hgg.), Worauf es ankommt. Derek Parfit in der Diskussion, Hamburg 2017 (im Erscheinen). Lohmann, Georg, „Menschenrechte zwischen Moral und Recht“, in: ders./Stefan Gosepath (Hgg.), Philosophie der Menschenrechte, Frankfurt am Main 1998, 62–95 (= Menschenrechte zwischen Moral und Recht). – „‚Nicht zu viel – nicht zu wenig!‘ Begründungsaufgaben im Rahmen der internationalen Menschenrechtskonzeption“, in: Margit Wasmaier-Sailer/Matthias Hoesch (Hgg.), Die Begründung der Menschenrechte. Kontroversen im Spannungsfeld von positivem Recht, Naturrecht und Vernunftrecht, Tübingen 2017, 181–205 (= Begründungsaufgaben). Nussbaum, Martha, „Capabilities and Human Rights“, Fordham Law Review 66 (1997), 273–300 (= Capabilities). Rawls, John, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt am Main 1975.
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Autorenverzeichnis Anzenbacher, Arno, Prof. Dr. Emeritierter Professor für Christliche Anthropologie und Sozialethik, Katholisch-Theologische Fakultät der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz Bormann, Franz-Josef, Prof. Dr. Professor für Moraltheologie, Katholisch-Theologische Fakultät der Eberhard Karls Universität Tübingen Cortina, Adela, Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Professorin für Ethik und Politische Philosophie, Universidad de Valencia, und Direktorin des Forschungsprojekts „Éticas aplicadas y Democracia“ Gutmann, Thomas, Prof. Dr. Professor für Bürgerliches Recht, Rechtsphilosophie und Medizinrecht, Sprecher der Kolleg-Forschergruppe „Normenbegründung in Medizinethik und Biopolitik“ und Mitglied des Exzellenzclusters „Religion und Politik“, Westfälische Wilhelms-Universität Münster Hoesch, Matthias, Dr. Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Exzellenzcluster „Religion und Politik“, z.Zt. Vertretung der Professur für praktische Philosophie, Westfälische W ilhelms-Universität Münster Kadelbach, Stefan, Prof. Dr. Professor für Öffentliches Recht, Europarecht und Völkerrecht, Co-Direktor des Wilhelm Merton-Zentrums für Europäische Integration und Inter nationale Wirtschaftsordnung, Mitglied des Exzellenzclusters „Normative Orders“, Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main Laukötter, Sebastian, Dr. Mitarbeiter der Kolleg-Forschergruppe „Normenbegründung in Medizinethik und Biopolitik“, Westfälische Wilhelms-Universität Münster Lohmann, Georg, Prof. Dr. Emeritierter Professor für Praktische Philosophie, Otto-von-Guericke- Universität Magdeburg
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Autorenverzeichnis
Rödl, Florian, Prof. Dr. Professor für Bürgerliches Recht, Arbeits- und Sozialrecht, Freie Universität Berlin Sensen, Oliver, Ph.D. Associate Professor, Tulane University, und Vizepräsident der North American Kant Society Wasmaier-Sailer, Margit, PD Dr. Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Exzellenzcluster „Religion und Politik“, Westfälische Wilhelms-Universität Münster, 2016–2017 Vertretung der Professur für Philosophische Grundfragen der Theologie, Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt Wittreck, Fabian, Prof. Dr. Professor für Öffentliches Recht, Rechtsphilosophie und Rechtssoziologie, Mitglied des Exzellenzclusters „Religion und Politik“, Westfälische W ilhelms-Universität Münster
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Personenregister Alexy, Robert 22, 57, 198, 264, 269–271 Anschütz, Gerhard 30 Anzenbacher, Arno 16, 20, 139 Apel, Karl-Otto 22, 256, 263, 267, 269, 271, 282, 286–289, 301 Arendt, Hannah 267 Aristoteles 20, 44, 126, 136–138, 149, 151 f., 155 f., 166, 171–173 Arrow, Kenneth 145 Astorga, Christina A. 49 Augustinus 44, 65 Austin, John 33, 35 Bacon, Francis 131 Baynes, Kenneth 259 Beitz, Charles R. 3, 110, 189, 193, 258 Benedikt XVI./Ratzinger, Joseph 14 Benhabib, Seyla 79, 256, 259, 267, 269 Bentham, Jeremy 9, 162 Bilder, Richard 78 Blake, Michael 50 Bohman, James 259 Böckenförde, Ernst-Wolfgang 50 Bormann, Franz-Josef 20, 53, 163 Brandom, Robert 110 Braun, Johann 54 Brezger, Jan 50 Brieskorn, Norbert 54 Broch, Hermann 189 Brunkhorst, Hauke 187 Buchanan, Allen 110 Bush, George W. 78 Caesar 124 Cardozo, Benjamin 67 Cassin, René 75 Cicero 46, 238, 242, 245 Chernyk, Svitlana 68 Cohen, Jean L. 259 Cohen, Joshua 259 Condorcet 145
Cortina, Adela 8, 22 f., 294–296 Cruft, Rowan 110 Davidson, Donald 40 Dershovitz, Alan 78 Descartes, René 129, 131 Dreier, Horst 29, 48, 50, 189 Durkheim, Émile 112 Düwell, Marcus 7, 172, 178, 283 Dworkin, Ronald 30, 41, 103, 110, 141, 146, 196 Eckel, Jan 188 f. Eidam, Lutz 55, 57 f. Elkins, Zachary 68 Fichte, Johann Gottlieb 130 Finnis, John 141, 153, 156 Flynn, Jeffrey 260 Follesdal, Andreas 10 Foot, Philippa 152 Forst, Rainer 8, 23, 104, 182 f., 190, 193 f., 197, 256, 259, 267, 269, 279 f., 284, 289– 295, 298 f., 301 Fraser, Nancy 191 Friedman, Lawrence 111 Frowein, Jochen 76 Geismann, Georg 51 Gewirth, Alan 7, 16, 141, 216, 219, 299 f. Ginsburg, Tom 68 Gosepath, Stefan 164, 193, 293 Griffin, James 5, 11, 193 Grisez, Germain 156 Grotius, Hugo 3, 15 f., 131 Gundlach, Gustav 127 Günther, Klaus 282 Gusy, Christoph 73 Gutmann, Amy 194 Gutmann, Thomas 9, 19, 22, 231–235, 245–247, 251
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Personenregister
Habermas, Jürgen 7, 10, 16 f., 22 f., 37, 102, 107, 155, 186, 192, 197, 235, 256, 258–267, 269, 271, 279–291, 293–295, 298 f., 301 Hafner-Burton, Emilie M. 113 Hahn, Henning 161 Hart, Herbert L.A. 30, 33, 47, 61, 141 Hartwig, Matthias 49 Hassemer, Winfried 46 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 129 f., 196, 257 Hellgardt, Alexander 55 Helmholz, Richhard H. 44 Henkel, Michael 54 Herms, Eilert 53 Hobbes, Thomas 44, 103 f., 130–132 Hoerster, Norbert 10, 29, 50 Hoesch, Matthias 10, 22, 269, 271–273 Höffe, Otfried 10, 16 Höffner, Joseph 127 Hofmann, Hasso 45, 54 Hollerbach, Alexander 44 Hume, David 130 Ignatieff, Michael 193, 259 Irenäus von Lyon 240 Jellinek, Georg 70 Jestaedt, Matthias 37 Joas, Hans 13, 185, 189 Kadelbach, Stefan 19, 102, 105, 109, 113 f. Kant, Immanuel 7, 9 f., 16 f., 20, 22, 103– 105, 107, 125, 130, 132, 193, 209, 211, 213–216, 220–228, 231–240, 242–252, 255, 258 f., 266, 270 Kelsen, Hans 30, 33, 57 Kern, Andrea 36 Kersting, Wolfgang 143 Kettner, Matthias 251, 259, 282 Kirste, Stephan 51, 54 Kissling, Christian 53 Klemens von Alexandrien 240 Korff, Wilhelm 122 Korsgaard, Christine 215–217, 219 Koskenniemi, Martti 111 Krawietz, Werner 103 Kreide, Regina 161, 193
Küchenhoff, Günther 51 Küng, Hans 12 Ladwig, Bernd 10, 174, 199 Laukötter, Sebastian 21 Lecheler, Helmut 48 Lee, Jung H. 84 Leichsenring, Jan 14, 53 Liao, S. Matthew 110 Lipsius, Justus 131 Locke, John 3, 11, 103, 130, 132, 186 Lohmann, Georg 2, 5 f., 9, 21, 185, 191, 277, 285 Luhmann, Niklas 107 f., 111 MacIntyre, Alasdair 152, 155, 257 Maliks, Reidar 10 Maoz, Asher 87 Mayer-Maly, Theodor 54 Menke, Christoph 2, 6, 162, 195 f. Merks, Karl-Wilhelm 53 Meron, Theodor 88 Messner, Johannes 49, 53, 122, 127 Meyer, John W. 112 f. Mirabeau 67 Montesquieu 40 Moore, George Edward 211 Mose 241 Nagel, Thomas 8, 215 Nell-Breuning, Oswald von 127 Nickel, James 2 Nussbaum, Martha 17, 20 f., 130, 136, 141, 144, 148–156, 162, 164–167, 170– 178, 199, 234 f., 278, 285 Okin, Susan Moller 148 O’Neill, Onora 189, 213, 247 f. Origenes 240 f. Parfit, Derek 10 Parsons, Talcott 185 Pauer-Studer, Herlinde 173 Paulson, Stanley L. 47 Pesch, Heinrich 127 Peters, Anne 68 Pius XII. 189 Platon 44, 135
Personenregister
Pogge, Thomas 10, 259 Pollmann, Arnd 2, 6, 11, 162 f., 189, 195, 200 Pufendorf, Samuel 209, 213, 215 Puntambekar, S.V. 82 Putnam, Hilary 154 Radbruch, Gustav 32, 47 Ratzinger, Joseph 14 Rawls, John 3, 10, 12 f., 16, 20, 79, 132, 136, 141–144, 146–149, 152, 154–156, 164–166, 182, 193, 235, 257, 259, 262, 279 Raz, Joseph 141, 193 Renzo, Massimo 110 Rhonheimer, Martin 53, 156 Risse, Mathias 11 Rödl, Florian 15, 18, 46, 54, 110 Roosevelt, Eleanor 75 Rorty, Richard 13 Rousseau, Jean-Jacques 130, 132, 186 Sailer, Johann Michael 242 Sandel, Michael J. 130 Sauter, Johann 44 Scanlon, Thomas M. 146, 235 Scheler, Max 211 Schockenhoff, Eberhard 49, 53 Schönecker, Dieter 234 Schüller, Bruno 136 Seifert, Josef 49 Sen, Amartya 20 f., 136, 141, 144–148, 152–156, 161, 164–170, 172, 177 f., 261– 263, 266 Sensen, Oliver 7, 10, 21 f., 232, 236–240, 242–244, 248 f., 251 Shafer-Landau, Russ 213 Shue, Henry 5, 184 Siep, Ludwig 9 Sinha, Surya Prakash 82 Somló, Felix 30 Staudenmaier, Anton 241
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Steigleder, Klaus 7, 216 Stern, Klaus 48, 76 Sticker, Martin 10 Talbott, William 10 Tanner, Klaus 53 Tasioulas, John 11 Taylor, Charles 131 Thoma, Richard 30 Thomas von Aquin 20, 45 f., 53, 121–131, 133, 136, 138–140, 156 Troeltsch, Ernst 189 Ungern-Sternberg, Antje von 73 Utz, Arthur Fridolin 43, 53 Vagts, Detlev 78 Vetter, Reinhold 49 Vizard, Polly 148 Volkmann, Uwe 55 Waldstein, Wolfgang 54 Walt, Sibylle van der 196 Walzer, Michael 19, 79 Wapler, Friederike 47 Wasmaier-Sailer, Margit 22, 211 Weber, Max 57, 112 Weinrib, Jacob 110 Wellmann, Carl 111 Welty, Eberhard 127 Wendland, Matthias 55 Westerman, Pauline C. 56 Williams, Craig 84 Willoweit, Dietmar 54 Wittgenstein, Ludwig 218 Wittreck, Fabian 14 f., 18 f., 33, 46–48, 50 f., 56, 58 Wolf, Erik 44 Wolff, Christian 209 Wood, Allen W. 247 f. Zimmermann, Andreas 68
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Sachregister Afrika 76, 78, 85 f., 132 Allgemeine Erklärung der Menschen rechte/AEMR 22, 48, 67, 75–77, 79, 82, 85, 183, 188 f., 196 f., 210, 231, 255, 272, 297 Amerikanische Erklärungen 70–70, 76, 182, 186 f. Aristotelismus/Neoaristotelismus 17, 20, 149, 161, 166, 171 Auschwitz siehe Holocaust bonum humanum 122, 125–127, 129 bonum proprium 128 bonum commune/Gemeinwohl 124, 127– 129, 133, 196 Buddhismus 82 f., 85 Bundesverfassungsgericht/BVerfG 10, 32, 55, 67–69, 74, 79, 88 capability approach siehe Fähigkeiten ansatz Deontologie 136 f., 140, 142, 145, 155 Diskursethik 210, 235, 255–302 – Diskursbedingungen 262–264, 270, 273, 281, 282 f., 290, 295 f., 298 – Diskursteilnehmer/Teilnahme am Dis kurs 23, 77, 264 f., 268, 270 f., 274, 281, 283, 286, 287, 295 f., 298, 300 Egalitarismus 143, 164, 235, 277, 293 – egalitärer normativer Individualismus 19, 104 f., 110 – egalitäre Geltung der Menschenrechte 8, 104–109, 114, 182, 186, 192, 194 f. – gleiche Freiheit 40, 106, 114, 126 f., 129, 132, 142, 268 EGMR siehe Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
EMRK siehe Europäische Menschen rechtskonvention Ethischer Pluralismus/normativer Plura lismus 80 f., 87, 93, 114, 285, 289 Europäische Menschenrechtskonvention/ EMRK 30, 39, 48 f., 68, 74, 76, 88 Europäischer Gerichtshof für Menschen rechte/EGMR 49, 68, 74, 79, 88 Fähigkeitenansatz/capability approach 17, 20 f., 141, 144–147, 149–156, 161 f., 164–178, 199, 201, 266, 272 Französische Revolution 70 f., 129, 182, 186–188, 255 GG siehe Grundgesetz Gemeinwohl siehe bonum commune Gerechtigkeit 1, 4 f., 20, 57, 73, 105, 108 f., 112, 128, 130, 136–138, 140–149, 152, 164–167, 171 f., 174 f., 210, 231, 255, 258 f., 263, 265, 267, 274, 293 f. – Gerechtes Recht 29 f., 35 f. Gottebenbildlichkeit/Gottähnlichkeit 22, 131, 232, 240–242 Grundgesetz/GG 22, 32, 39, 40, 46, 48, 51, 55 f., 73 f., 108, 189, 231–233, 277 Güterverteilung 11, 138, 142 f., 144, 164– 166, 171, 176, 178, 293 Hinduismus 81 f. Holocaust/Auschwitz/Shoa 57, 107, 190 inclinationes naturales/natürliche Inklinationen 122 f., 125–127, 129, 131, 133, 139 f., 156 Innerstaatliches Recht 19, 67, 74 f., 77, 79, 89, 91–94 Internationale Menschenrechtspakete/ UN-Menschenrechtspakte – über bürgerliche und freiheitliche Rechte/Zivilpakt 76, 132, 189
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Sachregister
– über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte/Sozialpakt 76, 132, 189, 198 Islam 76, 80 f., 273 Katholizismus 14, 18, 51–53, 57, 73, 127, 155 Konfuzianismus 83–85 Kontraktualismus 10, 129–132, 235 lex divina 123 lex humana 124, 128 Menschenrechte – Begriff der Menschenrechte 1–5, 7, 10, 15, 23, 48, 75, 110, 112, 146, 148, 162, 284, 297 – Menschenrechtsdiskurs 7 f., 20, 22 f., 43, 102, 127, 279, 290, 294–297 – Menschenrechtsrat 192 – Migration der Menschenrechte 19, 67– 70, 73, 75, 87, 91–94 – relativer Universalismus der Men schenrechte 19, 76 – Schutz der Menschenrechte 3, 38, 77, 79, 82, 85, 91, 103, 108, 188 f., 191, 231, 256, 259, 261, 277 – Universalismus der Menschenrechte 4 f., 8, 12, 15, 18–20, 22 f., 48, 67–69, 71, 73 f., 76, 77, 79, 81, 83, 87, 91–94, 101, 104, 105 f., 111, 113 f., 125, 138, 141, 146, 182, 186–190, 192–195, 212, 232, 245, 247, 255, 257, 260 f., 263 f., 271 f., 273, 277–279, 281, 283 f., 286, 288 f., 291, 293, 296–300 – Verbreitung der Menschenrechte 69, 76, 91, 111 – Verletzung der Menschenrechte 31, 36 f., 77 f., 90, 92, 105, 169, 184, 199, 201, 292 f. Menschenwürde – Begriff der Menschenwürde 7, 10 f., 22, 189 f., 251, 197, 201, 286 f., 290 – Schutz der Menschenwürde 5, 43, 277 Minderheitenschutz 5, 75, 200
Natürliche Inklinationen siehe inclinationes naturales Naturalismus/naturalistisch 22, 140, 152 Naturrecht – Begriff des Naturrechts 3, 15, 18, 31 f., 35, 43 f., 136, 163 – aristotelisches/neoaristotelisches Naturrecht 15, 17, 20, 31, 137, 155, 161, 164, 171 – klassisches Naturrecht 20, 45, 121–131, 181, 213 – Naturrecht und Theologie/ Katholizismus 14, 51–53, 58, 80, 187 – neuzeitliches Naturrecht 20, 45, 103, 121–133 – thomistisches Naturrecht 15, 18, 51, 53, 140, 156 NGOs 69, 94, 113, 188 Normativer Pluralismus siehe ethischer P luralismus Overlapping Consensus/überlappender Konsens 12 f., 91, 154, 299 Pragmatische Rechte 263, 265–267, 270, 295 Realismus – metaphysischer Realismus 154, 239 – moralischer Realismus 3, 16, 210–213, 216 Recht auf Rechtfertigung 8, 23, 104–106, 110, 194, 269, 279, 289–292, 294, 298 Rechtspositivismus 13–19, 29–39, 41, 43, 46–48, 50, 56–58, 109, 256, 258 – Zerrbild des Rechtspositivismus 16, 29–31, 37 Religion 80–82, 86 f., 104, 108, 111, 123, 126 f., 153, 166, 176, 195, 200 Scharia 78, 81, 92 Sein-Sollen-Fehlschluss 50, 163, 174 Shoah siehe Holocaust social basic goods 143, 148
Sachregister
Sozialpakt siehe Internationale Menschenrechtspakte über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte Stoa 44, 234 Teleologie 15, 38, 41, 102, 131, 133, 137, 142, 171, 245, 251 Theologie 14, 49, 81, 104, 123, 126, 136, 197, 240, 242, 245 Überlappender Konsens siehe Overlapping Consensus UN-Menschenrechtspakte siehe Inter nationale Menschenrechtspakte UNO siehe Vereinte Nationen Utilitarismus 9, 35 f., 142 f., 145, 165 Vereinte Nationen/UNO 3, 48, 76, 78, 89 f., 109, 163, 165, 182, 188–190, 192, 210, 231, 236, 255
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Vernunftrecht – Begriff des Vernunftrechts 14–17 – kantisches Vernunftrecht 18, 31, 193, 209, 211 – neuzeitliches Vernunftrecht 51, 108, 209 Völkerrecht 4, 30, 32, 48, 68 f., 74 f., 77 f., 81 f., 86, 91, 93 f., 101, 105, 107–110, 162, 182, 188–191, 197, 261 Wert des Menschen 21, 138, 209–211, 215–220, 233, 236–239, 248–250, 258 Würdebegriff 22, 187, 189 f., 197, 211, 31– 236, 238–246, 248, 251, 258 f., 286, 291, 300 (s. auch Menschenwürde) Zivilpakt siehe Internationale Menschen rechtspakte über bürgerliche und freiheitliche Rechte Zweiter Weltkrieg 14, 48, 75, 84, 188