Die medizinische Zwangsbehandlung Minderjähriger im Spannungsfeld nationaler Grund- und internationaler Menschenrechte: Zulässigkeit und Grenzen ärztlicher Maßnahmen gegen den Willen von Kindern und Jugendlichen [1 ed.] 9783428581177, 9783428181179

Nienke Stamer befasst sich in der vorliegenden Ausarbeitung mit der rechtlichen Möglichkeit von Zwangsbehandlungen gegen

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German Pages 246 Year 2020

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Die medizinische Zwangsbehandlung Minderjähriger im Spannungsfeld nationaler Grund- und internationaler Menschenrechte: Zulässigkeit und Grenzen ärztlicher Maßnahmen gegen den Willen von Kindern und Jugendlichen [1 ed.]
 9783428581177, 9783428181179

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Schriften zum Bürgerlichen Recht Band 512

Die medizinische Zwangsbehandlung Minderjähriger im Spannungsfeld nationaler Grund- und internationaler Menschenrechte Zulässigkeit und Grenzen ärztlicher Maßnahmen gegen den Willen von Kindern und Jugendlichen

Von

Nienke Stamer

Duncker & Humblot · Berlin

NIENKE STAMER

Die medizinische Zwangsbehandlung Minderjähriger im Spannungsfeld nationaler Grund- und internationaler Menschenrechte

Schriften zum Bürgerlichen Recht Band 512

Die medizinische Zwangsbehandlung Minderjähriger im Spannungsfeld nationaler Grund- und internationaler Menschenrechte Zulässigkeit und Grenzen ärztlicher Maßnahmen gegen den Willen von Kindern und Jugendlichen

Von

Nienke Stamer

Duncker & Humblot · Berlin

Die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel hat diese Arbeit im Jahre 2019 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2020 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: 3w+p GmbH, Rimpar Druck: CPI buchbücher.de Gmbh, Birkach Printed in Germany ISSN 0720-7387 ISBN 978-3-428-18117-9 (Print) ISBN 978-3-428-58117-7 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Mein besonderer Dank gilt meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Rudolf MeyerPritzl, für die ausgezeichnete Betreuung des Dissertationsprojektes. Er hat die Arbeit durch seine wertvollen Ratschläge gefördert, mir aber gleichzeitig inhaltliche Freiheit bei der Bearbeitung gewährt. Ich bin ihm ebenfalls für die stets gegebene Gesprächsbereitschaft sehr dankbar. Ebenso möchte ich mich bei ihm und all meinen Kolleginnen und Kollegen am Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Römisches Recht, Europäische Privatrechtsgeschichte der Neuzeit und Rechtsvergleichung sowie am Hermann Kantorowicz-Institut für juristische Grundlagenforschung für die schöne Zeit bedanken, die ich als wissenschaftliche Mitarbeiterin dort verbracht habe. Ich werde diese Zeit immer in sehr guter Erinnerung behalten. Zudem möchte ich mich bei Herrn Prof. Dr. Werner Schubert für die zügige Erstellung des Zweitgutachtens und die hilfreichen Anregungen bedanken. Ganz besonders danke ich meinen Eltern, Peter und Nicola Stamer, sowie meinem Bruder, Finn Stamer, und meinen Großeltern, Joachim und Antje Dobs, die mich immer gefördert haben und mir ein ganz besonderer Rückhalt waren. Ohne ihren Zuspruch und ihr Vertrauen hätte ich meine Pläne nicht verwirklichen können. Diese Arbeit ist meiner Großmutter gewidmet, die die Veröffentlichung nicht erleben konnte. Von ganzem Herzen danke ich auch meinem Lebensgefährten Dr. Julian Lutzebäck, der mich stets bei der Entstehung der Arbeit begleitet hat. Er war mir nicht nur ein unschätzbar wertvoller Rückhalt, sondern hat als unermüdlicher Motivator sowie als fachlich bereichernder Diskussionspartner und Ratgeber erheblich zum Gelingen der Arbeit beigetragen. Kiel, im Juni 2020

Nienke Stamer

Inhaltsverzeichnis 1. Teil Einleitung

17

2. Teil Grundlagen

21

A. Begriff der Zwangsmaßnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 I. Legaldefinition i. S. v. § 1906 a Abs. 1 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 1. Der natürliche Wille . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 2. Widerspruch zu dem natürlichen Willen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 3. Offene und verdeckte Zwangsmaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 4. Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 II. Übertragung auf das Kindschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 B. Grundrechtliche Ausgangslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27

3. Teil Zulässigkeit und Grenzen einer Zwangsmaßnahme de lege lata

30

A. Ambulante Zwangsmaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 I. Ausgangslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 1. Vertretung im Rahmen der Personensorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 2. Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 a) Kindeswohl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 b) Anerkennung von Eigenzuständigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 aa) Zwangsbehandlung von einwilligungsfähigen Kindern . . . . . . . . . . . . . 34 bb) Zwangsbehandlung von einwilligungsunfähigen Kindern . . . . . . . . . . . 36 II. Gesetzgeberische Wertungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 1. Regelung zur Beschneidung und Sterilisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 2. Medizinrechtliche Spezialgesetze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 a) Regelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 b) Rückschlüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40

8

Inhaltsverzeichnis 3. Anträge auf Sozialleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 4. Beachtung wachsender Fähigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 5. Gewaltfreie Erziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 6. Rechtsgeschäftliche Willenserklärungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 a) Abschluss des Behandlungsvertrags . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 b) Einwilligung in eine medizinische Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 aa) Anwendbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 bb) Wertungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 7. Weitere Wertungen aus Teilmündigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 8. Gesetzgebungsvorhaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 III. Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 1. Entscheidung des RG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 2. Entscheidungen des BGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 a) Urteil vom 5.12.1958 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 b) Urteil vom 16.11.1971 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 c) Urteil vom 10.10.2006 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 3. Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 IV. Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 V. Fallbeispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 1. Fall A . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 2. Fall B . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 3. Fall C . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 4. Rechtliche Einordnung der Fallbeispiele de lege lata . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 VI. Bewertung der Rechtslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60

B. Zwangsmaßnahmen im Rahmen einer Unterbringung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 I. Zivilrechtliche Unterbringung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 1. Ausgangslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 a) Regelung des § 1631 b BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 b) Weitergehende Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 2. Analoge Anwendung von betreuungsrechtlichen Vorschriften . . . . . . . . . . . . . . 65 3. Fallbeispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 a) Fall D . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 b) Fall E . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 c) Rechtliche Einordnung der Fallbeispiele de lege lata . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 4. Bewertung der Rechtslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 II. Unterbringung im Maßregelvollzug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 1. Rechtsprechung des BVerfG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69

Inhaltsverzeichnis

9

2. Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 a) Rechtliche Würdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 aa) Vereinbarkeit mit der UN-BRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 (1) Auslegung der UN-BRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 (2) Handlungsbedarf für das deutsche Rechtssystem? . . . . . . . . . . . . . . 76 bb) Bewertung der Voraussetzungen einer Zwangsbehandlung . . . . . . . . . . 78 b) Praktische Würdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 3. Umsetzung in den Bundesländern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 a) Zwangsbehandlung zum Schutz Dritter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 aa) Einzelne Regelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 bb) Verfassungsmäßigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 b) Zwangsbehandlung aufgrund einer Lebensgefahr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 aa) Gesetzgebungskompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 bb) Formelle und materielle Anforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 4. Unterbringung in der Sicherungsverwahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 a) Grundsätze bzgl. der Zwangsbehandlung innerhalb der Sicherungsverwahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 b) Umsetzung in den einzelnen Bundesländern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 5. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 III. Öffentlich-rechtliche Unterbringung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 1. Beschluss des BVerfG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 2. Umsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 a) Allgemeine Mängel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 b) Probleme im Umgang mit Minderjährigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 C. Medizinische Zwangsmaßnahmen im Strafvollzug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 D. Schlussbetrachtung der aktuellen Rechtslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99

4. Teil Erforderlichkeit einer Regelung

101

A. Ausstrahlungswirkung der Beschlüsse des BVerfG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 I. Vergleich mit dem Betreuungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 1. Übertragung auf Zwangsbehandlungen im Rahmen einer betreuungsrechtlichen Unterbringung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 a) BGH, Beschluss v. 1.2.2006 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 b) BGH, Beschluss v. 20.6.2012 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 2. Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 a) Grundrechtswirkung im Betreuungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104

10

Inhaltsverzeichnis b) Rechtsprechung des BVerfG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 II. Übertragung auf die Vormundschaft, Pflegschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 III. Übertragung auf die Elternschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 IV. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111

B. Erforderlichkeit aufgrund von Schutzpflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 I. BVerfG, Beschl. v. 26.7.2016 – 1 BvL 8/15 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 II. Schutzpflichten im Rahmen der medizinischen Zwangsbehandlung . . . . . . . . . . . 115 1. Schutzpflicht in Bezug auf das Selbstbestimmungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 a) Herleitung über Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 b) Herleitung über Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 c) Herleitung über Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 aa) Schutz Minderjähriger vor Zwangsbehandlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 bb) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 2. Schutzpflicht in Bezug auf die allgemeine Handlungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . 120 3. Schutzpflicht in Bezug auf das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit 120 4. Schutzpflicht in Bezug auf die Wächterstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 5. Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 C. Vorbehalt des Gesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 I. Eingriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 1. Kindeswohlgefährdende Handlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 2. Partielle Mündigkeitsregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 II. Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 D. Erforderlichkeit aufgrund eines Verstoßes gegen Art. 3 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . 131 E. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132

5. Teil Zulässigkeit und Grenzen von Zwangsmaßnahmen de lege ferenda

134

A. Verfassungsrechtliche Anforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 I. Spannungsfeld Elternrecht und Wächteramt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 1. Konturierung des Kindeswohls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 a) Grundrechte des Kindes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 aa) Lösungswege nach dem Bundesverfassungsgericht . . . . . . . . . . . . . . . . 137 bb) Lösungsideen der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 cc) Eigene Position . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 b) Einfluss des Völkerrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 2. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144

Inhaltsverzeichnis

11

II. Grundrechte von Minderjährigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 III. Völkerrechtliche Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 1. Europäische Menschenrechtskonvention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 a) Recht auf Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 b) Folter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 c) Faires Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 d) Achtung des Privat- und Familienlebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 aa) Schutz der Selbstbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 bb) Eltern-Kind-Verhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 e) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 2. EU-Grundrechtecharta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 3. Die UN-Kinderrechtskonvention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 a) Bindungswirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 b) Diskriminierungsverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 c) Vorrangige Berücksichtigung des Kindeswohls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 d) Recht auf Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 e) Mitspracherechte, Meinungsäußerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 f) Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 g) Verbot der Gewaltanwendung und schlechter Behandlung . . . . . . . . . . . . . . 161 h) Fürsorge für Kinder mit Behinderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 i) Recht auf Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 aa) Wertungen für die allgemeine medizinische Behandlung . . . . . . . . . . . . 163 bb) Wertungen für die Beschneidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 j) Unterbringung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 k) Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 aa) Wertungen für die medizinische Zwangsbehandlung . . . . . . . . . . . . . . . 170 bb) Vereinbarkeit mit Grundgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 cc) Reformbedarf des deutschen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 4. Die UN-Behindertenrechtskonvention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 a) Rechtmäßigkeit von Zwangsbehandlungen Erwachsener . . . . . . . . . . . . . . . 173 b) Anforderungen an die Rechtmäßigkeit von Zwangsbehandlungen . . . . . . . . 175 aa) Meinungsäußerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 bb) Handlungsfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 cc) Folter und Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 c) Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 IV. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 B. Herleitung eines Reformvorschlags . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 I. Zwangsmaßnahmen an Einwilligungsfähigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 1. Grundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179

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Inhaltsverzeichnis 2. Bestimmen der Einwilligungsfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 a) Individuelle Bestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 b) Weitergehende Kriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 c) Gerichtliches Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 d) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 3. Möglichkeit einer Patientenverfügung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 4. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 II. Zwangsmaßnahmen an Einwilligungsunfähigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 1. Allgemeine Grundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 a) Vorschläge der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 b) Eigene Vorschläge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 aa) Einführung des Gefahrenbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 bb) Partizipation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 cc) Verhältnismäßigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 dd) Beschneidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 ee) Erläuterung besonderer Konstellationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 (1) Behandlung psychischer Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 (2) Primäre Präventionsmaßnahmen (Impfungen) . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 2. Veto-Rechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 3. Genehmigungsvorbehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 a) Zwangsmaßnahmen innerhalb einer Unterbringung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 b) Ambulante Zwangsmaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 aa) Grundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 bb) Ambulante Zwangsbehandlung psychisch Kranker . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 cc) Besondere Schwere des Eingriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 4. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 III. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 IV. Rechtliche Einordnung der Fallbeispiele de lege ferenda . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 1. Fall A . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 2. Fall B . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 3. Fall C . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 4. Fall D und E . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214

6. Teil Schlussbetrachtung

216

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243

Abkürzungsverzeichnis a. A. a. F. Abs. AcP AMG Anm. AöR Art. Begr. Beschl. BGB BGH BGHZ BGT BT-Drs. BtPrax BVerfG BVerfGE DGPPN DNotZ DÖV DVBL EGMR EMRK f./ff. FamFG FamRZ Fn. FPR FS FuR GA GesR GG Hrsg. i. S. v. i. V. m. JA

andere Ansicht alte Fassung Absatz Archiv für civilistische Praxis Arzneimittelgesetz Anmerkung Archiv des öffentlichen Rechts Artikel Begründer Beschluss Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgerichtshof Sammlung der Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen Betreuungsgerichtstag Drucksache des Deutschen Bundestags Betreuungsrechtliche Praxis Bundesverfassungsgericht Sammlung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde Deutsche Notar-Zeitschrift Die Öffentliche Verwaltung Deutsches Verwaltungsblatt Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Europäische Menschenrechtskonvention folgend/e Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit Zeitschrift für das gesamte Familienrecht Fußnote Familie Partnerschaft Recht. Interdisziplinäres Fachjournal für die Praxis Festschrift Familie und Recht Goltdammer’s Archiv für Strafrecht GesundheitsRecht Grundgesetz Herausgeber im Sinne von in Verbindung mit Juristische Arbeitsblätter

14 JAmt JGG JR JStVollzG Jura JuS JVollzG JVollzGB JZ KH LG Lit. MedR MPG MRM MRVG MVollzG NJOZ NJW NStZ NVwZ NZFam NZS OLG Psychiat Prax PsychKG PsychKHG RDG RdJB RG RGZ RKEG Rn. R&P S. SGB StGB Str. SVVollzG TPG u. a. UBG UN-BRK UN-KRK VersR VVDStRL ZErb ZfJ

Abkürzungsverzeichnis Das Jugendamt – Zeitschrift für Jugendhilfe und Familienrecht Jugendgerichtsgesetz Juristische Rundschau Jugendstrafvollzugsgesetz Juristische Ausbildung Juristische Schulung Justizvollzugsgesetz Justizvollzugsgesetzbuch Juristen Zeitung Das Krankenhaus Landgericht litera Medizinrecht Medizinproduktgesetz MenschenRechtsMagazin Maßregelvollzugsgesetz Maßregelvollzugsgesetz Neue Juristische Online-Zeitschrift Neue Juristische Wochenschrift Neue Zeitschrift für Strafrecht Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht Neue Zeitschrift für Familienrecht Neue Zeitschrift für Sozialrecht Oberlandesgericht Psychiatrische Praxis Psychisch-Kranken-Gesetz Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz Rechtsdepesche für das Gesundheitswesen Recht der Jugend und des Bildungswesens Reichsgericht Sammlung der Entscheidungen des Reichsgerichts Gesetz über die religiöse Kindererziehung Randnummer Recht und Psychiatrie Satz Sozialgesetzbuch Strafgesetzbuch strittig Gesetz über den Vollzug der Sicherungsverwahrung Transplantationsgesetz unter anderem Unterbringungsgesetz Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen Übereinkommen über die Rechte des Kindes Versicherungsrecht Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer Zeitschrift für die Steuer- und Erbrechtspraxis Zentralblatt für Jugendrecht

Abkürzungsverzeichnis ZIS ZKJ ZNotP ZPO ZRP ZStW

Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik Zeitschrift für Kindschaftsrecht und Jugendhilfe Zeitschrift für die Notarpraxis Zivilprozessordnung Zeitschrift für Rechtspolitik Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft

15

1. Teil

Einleitung „Die Freiheit eines Menschen liegt nicht darin, dass er tun kann, was er will, sondern, dass er nicht tun muss, was er nicht will.“1

Wann darf einem Menschen diese von Rousseau umschriebene Freiheit im Rahmen von medizinischen Entscheidungen genommen werden? In Bezug auf Erwachsene hat das Bundesverfassungsgericht bereits festgestellt, dass einem Menschen die „Freiheit zur Krankheit“ zusteht und eine ärztliche Behandlung demnach grundsätzlich nicht gegen seinen Willen erzwungen werden darf.2 Doch wie gestaltet sich die Sachlage im Umgang mit Kindern und Jugendlichen? Wie sollten Ärzte3 beispielsweise agieren, wenn ein Kind lebensnotwendige Medikamente verweigert? Wie ist zu verfahren, wenn ein Minderjähriger eine Routineuntersuchung ablehnt? Darf ein Mediziner eine nicht dringliche, bis zur Volljährigkeit aufschiebbare Operation gegen den Willen eines Jugendlichen vornehmen, wenn dessen Eltern, Vormünder oder Pfleger die Behandlung wünschen? Vor all diesen Fragen können Ärzte in ihrem täglichen Berufsleben stehen. Allein in Hamburg haben die zuständigen Behörden im Jahre 2016 insgesamt 103 Fälle von Zwangsmaßnahmen in Kinder- und Jugendpsychiatrien registriert.4 Hinzu kommt, dass Zwangsbehandlungen nicht nur ein spezifisches Phänomen der geschlossenen Unterbringung darstellen. Auch außerhalb von Kinder- und Jugendpsychiatrien sind Fälle zu verzeichnen, in denen ärztliche Maßnahmen nach den Wünschen der gesetzlichen Vertreter gegen den Willen eines Kindes durchgeführt werden sollen. So berichtet beispielsweise Tautz von einem Fall, in dem ein 15-Jähriger trotz guter Heilungschancen eine lebensnotwendige Chemotherapie entgegen dem Willen

1 Das Zitat wird Jean-Jacques Rousseau zugeschrieben. Diese Übersetzung findet ihren Ursprung in seinem Werk „Les rêveries du promeneur solitaire“, S. 112. Dort heißt es: „Je n’ai jamais cru que la liberté de l’homme consistât à faire ce qu’il veut, mais bien à ne jamais faire ce qu’il ne veut pas, […].“ 2 BVerfG, Beschl. v. 7.10.1981 – 2 BvR 1194/80 = BVerfGE 58, 208 (226) = NJW 1982, 691 (693). Ausnahmen von diesem Grundsatz knüpfen an die Einwilligungsunfähigkeit eines Menschen. Dies ist beispielsweise bei § 1906 a BGB der Fall. 3 In dieser Arbeit wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit das generische Maskulinum verwendet. Dieses bezieht sich jedoch immer zugleich auf männliche, weibliche und anderweitige Geschlechteridentitäten. 4 BT-Drs. 18/11741, S. 11.

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1. Teil: Einleitung

seiner Eltern verweigerte.5 Doch wie verhält sich ein Mediziner in solchen Konstellationen gesetzestreu? Den „Halt einer klaren Formulierung“6 wird ein Arzt im BGB vergebens suchen, da der Gesetzgeber bisher eine Entscheidung zum Umgang mit medizinischen Fragestellungen bei der Behandlung Minderjähriger hinausgeschoben hat.7 Es wird weder explizit normiert, wann Minderjährige in eine Heilbehandlung selbstständig einwilligen können, noch, unter welchen Maßgaben eine ärztliche Maßnahme gegen ihren Willen durchgeführt werden kann. Obwohl eine Zwangsmaßnahme in erheblicher Weise das Recht auf körperliche Unversehrtheit und das Selbstbestimmungsrecht gemäß Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG berührt, sah der Gesetzgeber bisher von einer Regelung dieses Rechtsbereiches ab.8 Weder für die behandelnden Ärzte noch für die gesetzlichen Vertreter oder gar die Kinder ist aufgrund der bisherigen Rechtslage erkennbar, welche Befugnisse und Rechte ihnen zukommen. Die Gefahr, die das Fehlen einer Regelung hervorruft, scheint auf der Hand zu liegen: Regelungslücken öffnen die Tür, um verfassungsrechtliche Schranken zu übergehen. In der Literatur wird daher seit geraumer Zeit eine gesetzliche Normierung der Prämissen einer medizinischen Behandlung von Minderjährigen gefordert.9 Der Ruf nach einer Veränderung beinhaltet zugleich die These, dass de lege lata Defizite existieren. Das bloße Vorhandensein der geschilderten Regelungslücken im Hinblick auf die Behandlung von Kindern und Jugendlichen deutet hingegen noch nicht auf derart signifikante Mängel hin, die den Gesetzgeber zu einem Handeln veranlassen müssten, da der Jurist durch anerkannte Auslegungsmethoden über hilfreiches Werkzeug verfügt, um vorhandene legislative Lücken zu schließen. Voraussetzung hierfür ist allerdings, dass sich zumindest Normen finden lassen, die das Potential haben, mittels einer Auslegung den Bereich der medizinischen Zwangsbehandlungen näher zu spezifizieren. Hierfür könnten zum Beispiel die Regelungen zum Behandlungsvertrag gemäß §§ 630 a ff. BGB oder Vorschriften aus dem Kindschaftsrecht wie beispielsweise § 1626 Abs. 2 BGB oder § 1631 Abs. 2 BGB herangezogen werden. Darüber hinaus könnten auch medizinrechtliche Spezialgesetze – so zum Beispiel § 40 Abs. 4 AMG – wichtige Wertungen für die medizinische Zwangsbehandlung von Kindern und Jugendlichen enthalten. Die vorliegende Arbeit befasst sich mit dieser Problematik, indem eine Analyse der Rechtslage de lege lata vollzogen wird. Können Regelungen – insbesondere aus verwandten Rechtsgebieten – der Aufgabe gerecht werden, den Umgang mit ärzt5

Tautz, in: Therapieverweigerung bei Kindern und Jugendlichen, S. 29. Eberbach, MedR 1986, 14 (14). 7 Lediglich in Spezialbereichen lassen sich spezifische Regelungen finden (z. B. §§ 40 IV AMG, 20 IV MPG). Es fehlt jedoch an einer umfassenden gesetzlichen Regelung. 8 Bisherige Gesetzesvorhaben (BT-Drs. 7/2060, S. 4; BT-Drs. 8/111, S. 3) scheiterten. 9 So beispielsweise Hoffmann, NZFam 2015, 985 (989); Lorenz, NZFam 2017, 782 (788); Schwedler, NJOZ 2014, 1 (3); Strätling/Scharf/Wedel/Eisenbart/Schmucker, in: Passive Sterbehilfe, S. 94; Taupitz, Gutachten A zum 63. Deutschen Juristentag, A 67. 6

1. Teil: Einleitung

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lichen Maßnahmen gegen den Willen eines Kindes vorzugeben? Welche Vorgehensweise präferieren darüber hinaus die Rechtsprechung und Literatur? Der Debatte um eine Modifikation des Kindschaftsrechts könnten ferner die aktuellen Entwicklungen im Betreuungsrecht neuen Auftrieb verleihen. Ähnlich wie im Minderjährigenrecht sah der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des Instituts der Betreuung im Jahre 1992 bewusst von einer gesetzlichen Normierung der Befugnisse des Betreuers im Hinblick auf die Einwilligung in eine medizinische Zwangsmaßnahme ab.10 Während demzufolge im Betreuungsrecht lange Zeit umstritten war, ob und wann eine medizinische Zwangsbehandlung rechtmäßig ist, haben das Bundesverfassungsgericht und der Bundesgerichtshof die rechtlichen Rahmenbedingungen im Jahre 2011 und 2012 neu justiert. Nach Ansicht der Karlsruher Richter ist die Einwilligung des Betreuers in eine Zwangsmaßnahme ohne hinreichend bestimmte gesetzliche Grundlage unzulässig.11 Der Gesetzgeber war somit aufgefordert, das Betreuungsrecht um eine konkrete Befugnisnorm für die Einwilligung des Betreuers zu ergänzen. Dieser Forderung wurde durch die Schaffung von § 1906 a BGB entsprochen. Kann das Kindschaftsrecht angesichts dieser Rechtsprechung eine ähnliche Zukunft erwarten? Sollte auch dieses um eine konkrete Norm zum Umgang mit ärztlichen Maßnahmen gegen den Willen eines Minderjährigen ergänzt werden? Lassen sich die Leitgedanken der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts12 und des Bundesgerichtshofs13 zur Zwangsbehandlung im Maßregelvollzug und im Betreuungsrecht auf das Minderjährigenrecht übertragen? Die Beantwortung dieser Fragestellung stellt einen weiteren wesentlichen Schwerpunkt der Arbeit dar. Neben den Wertungen der höchstrichterlichen Judikatur könnten ebenso allgemeine verfassungsrechtliche Grundsätze – speziell die Schutzpflichtenlehre – zu der Annahme führen, dass eine Norm zum Umgang mit Zwangsbehandlungen von Kindern und Jugendlichen erforderlich ist. Abschließend fließt auch die Rechtslage de lege ferenda in die Untersuchung ein. Wie könnte eine Regelung zur Behandlung gegen den Willen von Kindern und Jugendlichen aussehen? Eine Antwort auf diese Frage kann nur das Grundgesetz geben. Zu beachten ist jedoch, dass aufgrund der internationalen Verflechtungen eine grundrechtliche Betrachtungsweise allein nicht genügt. Ein weiterer Fokus liegt vielmehr auf der Erörterung, inwiefern die UN-Kinderrechtskonvention, die UNBehindertenrechtskonvention sowie die Europäische Menschenrechtskonvention das Kindschaftsrecht beeinflussen können. 10

BT- Drs. 11/4528, S. 71, 72, 141. BVerfG, Beschl. v. 23.3.2011 @ 2 BvR 882/09 = BVerfGE 128, 282 = NJW 2011, 2113; BVerfG, Beschl. v. 12.10.2011 @ 2 BvR 633/11 = BVerfGE 129, 269 = NJW 2011, 3571; BGH, Beschl. v. 20.6.2012 @ XII ZB 99/12 = BGHZ 193, 337 = NJW 2012, 2967. 12 BVerfG, Beschl. v. 23.3.2011 @ 2 BvR 882/09 = BVerfGE 128, 282 = NJW 2011, 2113; BVerfG, Beschl. v. 12.10.2011 @ 2 BvR 633/11 = BVerfGE 129, 269 = NJW 2011, 3571. 13 BGH, Beschl. v. 20.6.2012 @ XII ZB 99/12 = BGHZ 193, 337 = NJW 2012, 2967. 11

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1. Teil: Einleitung

Zusammenfassend ist das Ziel der vorliegenden Arbeit nicht nur eine ausführliche Darstellung der Rechtslage de lege lata sowie die Skizzierung aktueller Entwicklungen, sondern ebenfalls der Entwurf von Reformvorschlägen für einen Rechtsbereich, der nahezu ungeregelt ist und dem trotz des Fortschrittes im Betreuungsrecht aktuell nicht die gebührende Aufmerksamkeit geschenkt wird.

2. Teil

Grundlagen A. Begriff der Zwangsmaßnahme Da der Terminus der Zwangsmaßnahme den Dreh- und Angelpunkt der vorliegenden Untersuchung darstellt, ist einleitend eine Eingrenzung dieses Ausdrucks geboten.

I. Legaldefinition i. S. v. § 1906 a Abs. 1 BGB Eine nähere Bestimmung der Zwangsmaßnahme ermöglicht das Betreuungsrecht. Nach § 1906 a Abs. 1 BGB liegt eine solche bei einer Untersuchung des Gesundheitszustandes, einer Heilbehandlung oder einem ärztlichen Eingriff vor, der dem natürlichen Willen des Betreuten widerspricht. Diese Definition erfährt durch die Gesetzgebungsmaterialien und die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts1, in denen sich dieses mit der Rechtmäßigkeit von Behandlungen gegen den Willen eines Patienten auseinandergesetzt hat, eine weitere Konkretisierung. Aus § 1906 a Abs. 1 BGB folgt zunächst, dass die Zielrichtung der Behandlung unbeachtlich ist.2 Die medizinische Indikation nimmt einer ärztlichen Maßnahme demnach nicht den Zwangscharakter.3 Als Anknüpfungspunkt fungiert nach dem eindeutigen Wortlaut des Gesetzes ausschließlich der Wille des Patienten. Ob eine Einwilligung des Betreuers vorliegt, ist für die Beurteilung des Zwangscharakters somit irrelevant.4

1 Insbesondere BVerfG, Beschl. v. 23.3.2011 @ 2 BvR 882/09 = BVerfGE 128, 282 = NJW 2011, 2113. 2 BVerfG, Beschl. v. 23.3.2011 @ 2 BvR 882/09 = BVerfGE 128, 282 (300) = NJW 2011, 2113 (2114). 3 Ebenda. 4 BVerfG, Beschl. v. 23.3.2011 @ 2 BvR 882/09 = BVerfGE 128, 282 (301) = NJW 2011, 2113 (2114).

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2. Teil: Grundlagen

1. Der natürliche Wille Weiterhin muss die Behandlung dem natürlichen Willen des Betreuten widersprechen. Die Definition der medizinischen Zwangsbehandlung5 wurde in der Literatur vor allem aufgrund des Merkmals des natürlichen Willens und der damit einhergehenden weiten Interpretationsmöglichkeit kritisiert.6 In der Tat kann die fehlende Präzision des Begriffs kaum bestritten werden. In dem Gesetzentwurf, der der Norm zugrunde liegt, lässt sich nur eine vage Eingrenzung des Ausdruckes finden. Zwar wird auf die Gesetzgebungsmaterialien zu § 1905 BGB verwiesen,7 jedoch fehlt es auch dort an einer Präzisierung. Es lässt sich lediglich entnehmen, dass der natürliche Wille keine Einsichts- und Urteilsfähigkeit impliziert.8 Der Patient muss demgemäß nicht die Bedeutung und Tragweite der Behandlung verstehen.9 Es genügt, wenn der Betreute einen Willen äußern und willensgetragen handeln kann.10 In der Literatur wird darüber hinaus eine reflektierte, und nicht bloß reflexhafte Willensäußerung gefordert.11 Allzu hohe Anforderungen sollten an diese Willensbildung zum Schutz des Patienten allerdings nicht gestellt werden.12 Die Ansicht, der Patient müsse zusätzlich auch das Für und Wider seiner Entscheidung gegeneinander abwägen und die Folgen seiner Entscheidung überblicken können,13 ist daher abzulehnen. Ansonsten würden die Voraussetzungen, die an eine Zwangsbehandlung nach § 1906 a BGB gestellt werden, bereits im Vorfeld Abstufungen erfahren. Dadurch würde man Freiräume schaffen, durch die die Regelung des § 1906 a BGB umgangen wird. Es reicht daher aus, wenn der Patient die Behandlung bewusst ablehnt. Nicht entscheidend ist, aus welchen Motiven die Verweigerungshaltung des Betreuten erfolgt.14 Dies resultiert bereits aus dem Wortlaut des § 1906 a Abs. 1 BGB,

5

Wenn von dem Begriff der Zwangsbehandlung die Rede ist, dann erfasst der Terminus nach hier vertretenem Verständnis auch die Zwangsernährung, wenngleich dies auch in der Literatur umstritten ist: Steinert, in: Verantwortung und Zurechnung, S. 175. 6 Kritisch beispielsweise Beckmann, JZ 2013, 604 (606). 7 BT-Drs. 17/11513, S. 7. 8 BT-Drs. 11/4528, S. 143. 9 Lipp, in: Gewalt und Psyche, S. 91. 10 Mayer, Medizinische Maßnahmen an Betreuten, S. 57. 11 Bauer, in: Prütting/Wegen/Weinreich, BGB, § 1906 a Rn. 14; Engels, in: Prütting, FAKomm Medizinrecht, § 1906 Rn. 18; Grotkopp, BtPrax 2013, 83 (85); Heide, Medizinische Zwangsbehandlung, S. 146; Lipp, FamRZ 2013, 913 (920); ders., in: Gewalt und Psyche, S. 91; Spickhoff, Medizinrecht, § 1906 a BGB Rn. 4. 12 Posselt-Wenzel, Medizinische Eingriffe, S. 118. 13 Kieß, in: Jurgeleit, BetreuungsR, § 1906 a Rn. 9. 14 Bienwald, in: Bienwald/Sonnenfeld/Harm, BetreuungsR, § 1905 Rn. 46; Schwab, in: Münchener Kommentar BGB, § 1905 Rn. 18.

A. Begriff der Zwangsmaßnahme

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welcher nicht auf die Beweggründe des Patienten abstellt. Dafür spricht weiterhin der Zweck der Vorschrift: Eine Zwangsbehandlung beeinträchtigt das Selbstbestimmungsrecht und das Recht auf körperliche Unversehrtheit gemäß Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG und ist aus diesem Grund an besondere Kriterien geknüpft. Eine solche Grundrechtsbeeinträchtigung wird jedoch nicht aufgrund der jeweiligen Motivlage des Patienten gemildert. Um einen hohen Grundrechtsschutz zu gewährleisten, dürfen demzufolge die Beweggründe des Patienten keinen Einfluss auf den Anwendungsbereich des § 1906 a BGB nehmen. 2. Widerspruch zu dem natürlichen Willen Über die natürliche Willensbildung hinaus postuliert § 1906 a Abs. 1 BGB, dass die Behandlung dem Entschluss des Betreuten widerspricht. Dies ist dann anzunehmen, wenn der Patient seinen natürlichen Willen nicht mehr durchsetzen kann und dieser mithin „gebrochen“ wird.15 An die Form der Äußerung der Verweigerung sind keine hohen Anforderungen zu stellen.16 Jede Offenlegung der Ablehnung ist demnach ausreichend.17 Ein innerer Vorbehalt des Betreuten genügt indessen nach allgemeiner Ansicht nicht.18 Der Patient muss seine Verweigerungshaltung also zumindest zu erkennen geben.19 Dies kann durch verbale oder nonverbale Art – beispielsweise Gesten oder Gebärden – erfolgen.20 Jegliches Verhalten, das auf einen ablehnenden Willen schließen lässt, indiziert die Annahme eines Zwangscharakters.21 Fraglich bleibt jedoch, wie solche Konstellationen zu bewerten sind, in denen der Patient zunächst seine Ablehnung erkennen lässt, diese Haltung aber nach einer Einwirkung des Arztes aufgibt. Teilweise werden in der Literatur auch solche Fälle im Rahmen des § 1905 BGB wegen der leichten Beeinflussbarkeit mancher Patienten als Zwangsbehandlung bezeichnet.22 Dem ist allerdings entgegen zu halten, dass die spezifischen Voraussetzungen, die an die Rechtmäßigkeit einer ärztlichen Maßnahme gegen den Willen eines Betreuten gestellt werden, im Wesentlichen auf Da der Gesetzgeber im Hinblick auf den natürlichen Willen bei § 1906 a auf die Gesetzgebungsmaterialien zu § 1905 BGB verweist (BT-Drs. 11/4528, S. 143), kann auch die Literatur zu § 1905 ausgeschöpft werden. 15 Tietze, Ambulante Zwangsbehandlungen, S. 53; Schweitzer, FamRZ 1996, 1317 (1320). 16 Heide, Medizinische Zwangsbehandlung, S. 145. 17 BT-Drs. 11/4528, S. 143. 18 Dodegge, in: Zwangsbehandlung bei Selbstgefährdung, S. 18; ders., NJW 2013, 1265 (1266); Grengel/Roth, ZRP 2013, 12 (15). 19 BT-Drs. 17/11513, S. 7. 20 Heide, Medizinische Zwangsbehandlung, S. 146; Lipp, in: Gewalt und Psyche, S. 91; Marschner, in: Jürgens BetreuungsR, § 1905 Rn. 7; Schwab, in: Münchener Kommentar BGB, § 1905 Rn. 18. 21 Schwab, in: Münchener Kommentar BGB, § 1906 Rn. 44. 22 Posselt-Wenzel, Medizinische Eingriffe, S. 118.

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2. Teil: Grundlagen

eine erhebliche Beeinträchtigung des Rechts auf freie Selbstbestimmung zurückzuführen sind. Dem Selbstbestimmungsrecht wird hingegen Genüge getan, wenn der Patient nach einem Gespräch sein Einverständnis erteilt. Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts ist eine Zwangsbehandlung daher nicht gegeben, wenn ein freies, auf der Grundlage der gebotenen ärztlichen Aufklärung erteiltes Einverständnis vorliegt.23 Anders stellt sich die Sachlage lediglich bei der Ausübung unzulässigen Drucks – wie beispielsweise einer Drohung – dar.24 Für dieses Ergebnis spricht zudem die Formulierung des § 1906 a Abs. 1 Nr. 4 BGB, die einen Überzeugungsversuch für die Rechtmäßigkeit einer Zwangsbehandlung voraussetzt. Die Wortwahl einer „versuchten“ Überzeugung deutet im Umkehrschluss darauf hin, dass der Gesetzgeber eine Zwangsbehandlung nur bei einem gescheiterten Einwirken auf den Patienten annimmt. Entscheidend ist im Ergebnis demzufolge der zeitlich zuletzt geäußerte Wille.25 3. Offene und verdeckte Zwangsmaßnahmen Die Bedingung eines Widerspruchs zu dem natürlichen Willen birgt allerdings eine gewisse Missbrauchsgefahr: Sie kann Mitarbeiter von psychiatrischen Krankenhäusern, Behinderteneinrichtungen und Altenheimen dazu verleiten, die jeweiligen Patienten nicht über die Medikamentenvergabe zu informieren, indem Arzneimittel heimlich – beispielsweise im Rahmen der Essensausgabe – verabreicht werden. Tatsächlich wurde diese Vorgehensweise in der Vergangenheit bedauernswerter Weise nicht selten angewendet.26 Das Landgericht Lübeck hatte sich erst im Jahre 2014 mit der Frage auseinanderzusetzen, ob eine heimliche Medikamentenverabreichung eine Zwangsbehandlung darstellt.27 In dem der Entscheidung zugrundeliegenden Sachverhalt gab der Patient zuvor allerdings unmissverständlich zum Ausdruck, dass er keinerlei Arzneimittel einnehmen möchte.28 Dennoch wurden ihm über die Nahrungsaufnahme die notwendigen Medikamente zugeführt.29 Das Landgericht legte fest, dass in derart gelagerten Fällen eine Zwangsmaßnahme vorliege.30 Aufgrund der Tatsache, dass ein ablehnender Wille von den ärztlichen Akteuren vernommen worden ist, erscheint der Beschluss des Landgerichts Lübeck wenig überraschend. Zwar machte der Patient mangels Kenntnis nicht unmittelbar im 23 BVerfG, Beschl. v. 23.3.2011 @ 2 BvR 882/09 = BVerfGE 128, 282 (301) = NJW 2011, 2113 (2114). 24 Ebenda. 25 Schwab, in: Münchener Kommentar BGB, § 1906 Rn. 45. 26 Eicken/Ernst/Zenz, Fürsorglicher Zwang, S. 69; Pardey, in: Heilung erzwingen, S. 81; Weber/Leeb, BtPrax 2014, 119 (119). 27 LG Lübeck, Beschl. v. 23.7.2014 – 7 T 19/14 = BeckRS 2014, 16582. 28 Ebenda. 29 Ebenda. 30 Ebenda.

A. Begriff der Zwangsmaßnahme

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Zeitpunkt der Medikamentenaufnahme einen entgegenstehenden Willen deutlich, ein solcher war jedoch zuvor festzustellen. Schwieriger gestalten sich Konstellationen, in denen der natürliche Wille des Betreuten vor einer Behandlung nicht erfasst wurde. Im Rahmen derart gelagerter Sachverhalte sollte das Vorliegen einer (verdeckten) Zwangsbehandlung ebenfalls bejaht werden, da auch hier ein möglicherweise entgegenstehender Wille überwunden wird.31 Bei der verdeckten Arzneimittelvergabe wird sich lediglich eines anderen Mittels zur Überwindung des Widerstandes bedient:32 Hierbei wird dieser nicht durch eine körperliche Gewalteinwirkung überwunden, sondern durch eine Täuschung. Für eine Gleichsetzung der offenen und verdeckten Zwangsanwendung sprechen darüber hinaus Wertungsgesichtspunkte. Dem Menschen wird in Fällen der verdeckten Medikamentenverabreichung die Subjektqualität abgesprochen, indem er nur noch als Objekt eines möglichst reibungslosen Arbeitsablaufes angesehen wird.33 Bereits um der Menschenwürde der Patienten Rechnung zu tragen, sollte eine solche heimliche Medikamentengabe unter den Anwendungsbereich des § 1906 a BGB fallen. Sähe man diese Vorgehensweise nicht als Zwangsbehandlung an, so würden zudem Anreize geschaffen werden, durch eine Täuschung, die besonderen Bedingungen, die an eine Zwangsbehandlung nach § 1906 a BGB gestellt werden, zu umgehen. Dies würde wiederum eine Beschneidung der Rechtsschutzmöglichkeiten des Patienten und zugleich eine Verletzung der Garantie effektiven Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 GG darstellen;34 denn wer eine Behandlung gegen seinen Willen nicht erkennen kann, der kann sich gegen diese auch nicht rechtlich zur Wehr setzen. Im Ergebnis sind der offene und der verdeckte Zwang somit gleichzusetzen. 4. Kritik Der Begriff der Zwangsbehandlung i. S. v. § 1906 a Abs. 3 BGB kann schlussendlich durch die Gesetzgebungsmaterialien und die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts näher konkretisiert werden. Aus grundrechtlicher Sicht begegnet diese Definition dennoch Kritik, da sich der Gesetzgeber für ein Ablehnungsmodell entschieden hat: Der Kernpunkt der Beurteilung einer Zwangsbehandlung liegt im Widerspruch zu dem natürlichen Willen eines Patienten. Äußert der Betreute einen solchen Willen jedoch nicht, so handelt es sich ausweislich der Gesetzge-

31

Dodegge, in: Wunsch und Wille der Betroffenen, S. 78; Eicken/Ernst/Zenz, Fürsorglicher Zwang, S. 69; Milzer, DNotZ 2014, 95 (97); Tietze, Ambulante Zwangsbehandlungen, S. 53. 32 Tietze, Ambulante Zwangsbehandlungen, S. 53. 33 Heide, Medizinische Zwangsbehandlung, S. 188; Hesse, in: Praxisbuch forensische Psychiatrie, S. 344. 34 Heide, Medizinische Zwangsbehandlung, S. 188.

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2. Teil: Grundlagen

bungsmaterialien nicht um eine ärztliche Zwangsmaßnahme.35 Es ist demnach unerheblich, ob der Betroffene keinen Willen äußern kann oder möchte.36 Der Gesetzgeber nimmt damit zugleich wenig überzeugend an, dass sich ein Patient verbal oder nonverbal wehren wird, wenn er mit dem ärztlichen Eingriff nicht einverstanden ist.37 Ein solcher Ansatz erfolgt allerdings zu undifferenziert: Es sind durchaus Konstellationen denkbar, in denen der Betreute innere Vorbehalte gegen eine ärztliche Maßnahme hegt, diese aber nicht zum Ausdruck bringt.38 In solchen Situationen des „Erduldens oder Erleidens“39 einer Behandlung können die spezifischen Voraussetzungen, die an eine Einwilligung des Betreuers in eine Zwangsbehandlung nach § 1906 a BGB gestellt werden, umgangen werden. Dies erscheint insofern fragwürdig, als eine ärztliche Maßnahme, die ein Betreuter erduldet, nicht weniger Zwang aufweist als eine solche, der zuvor widersprochen worden ist. Der Patient, der beispielsweise nicht das Vertrauen hat, seinen natürlichen Willen zu äußern, wird eine medizinische Maßnahme als nicht weniger gravierend empfinden als ein Patient, der sich einer ärztlichen Maßnahme körperlich widersetzt.40 Zudem wird ein Spezifikum der Unterbringung übersehen: Unabhängig davon, ob der Betreute seinen entgegenstehenden Willen nicht äußern will, sind ferner Fälle denkbar, in denen dieser aufgrund starker Medikamente gar nicht in der Lage ist, einen entgegenstehenden Willen zu äußern.41 Wie eine „chemische Zwangsjacke“42 kann eine auf Dauer angelegte Medikation, die in geschlossenen Unterbringungen nicht selten zum Einsatz kommt, mithin zum Aufgeben des Widerstandes führen. Um jedoch auch in solchen Konstellationen den betreuten Patienten einen Schutz zu gewähren, ist es nach hier vertretener Ansicht sinnvoller, ein sog. Zustimmungsmodell zu etablieren, welches das Vorliegen einer Zwangsbehandlung von dem Einverständnis des Betreuten und nicht dessen Widerstand abhängig macht.43 Erklärt der Patient nicht explizit im Vorfeld der ärztlichen Maßnahme sein Einverständnis, liegt im Zweifel eine medizinische Zwangsbehandlung vor. Damit unterlägen Sachverhalte, in denen der Betreute eine Behandlung lediglich erduldet, den besonderen Anforderungen des § 1906 a BGB. 35

BT-Drs. 17/11513, S. 7. Müller-Engels, in: Bamberger/Roth/Hau/Poseck, § 1906 a Rn. 9. 37 Bienwald, in: Bienwald/Sonnenfeld/Harm, BetreuungsR, § 1905 Rn. 44. 38 Dodegge, in: Zwangsbehandlung bei Selbstgefährdung, S. 18. 39 Ebenda. 40 Dodegge, in: Zwangsbehandlung bei Selbstgefährdung, S. 18. 41 Pollähne, in: Gewalt und Psyche, S. 22. 42 Fegert, in: Freiheitsentziehende Maßnahmen in Jugendhilfe und Kinder- und Jugendpsychiatrie, S. 243. 43 Auch die Zentrale Ethikkommission der Bundesärztekammer sprach sich dafür aus, eine Zwangsbehandlung unabhängig von der Äußerung des Willens anzunehmen, wenn die ärztliche Maßnahme dem natürlichen Willen des Patienten widerspricht: Deutsches Ärzteblatt 2013, 1334 (1335). 36

B. Grundrechtliche Ausgangslage

27

Dass dieser Weg in der Praxis aufgrund der höheren Voraussetzungen nicht nur Zuspruch erfahren wird, dürfte vorhersehbar sein. Zweifelsfrei mag sich das Ablehnungsmodell als der praktikablere Weg erweisen, da insbesondere die Einholung einer Genehmigung i. S. v. § 1906 a Abs. 2 BGB eine zeitaufwendige Zusatzaufgabe darstellt. Dennoch ist dies unerlässlich, um einen höheren Schutz vor Zwangsbehandlungen zu erzielen. Es darf nicht außer Acht gelassen werden, dass in grundrechtlich sensiblen Bereichen die Praktikabilität und Zeitersparnis nicht als wesentliche Kriterien fungieren dürfen. Da jede Behandlung gegen den Willen eines Patienten mit einer schwerwiegenden Grundrechtsbeeinträchtigung einhergeht, muss ein höherer Aufwand den Ärzten durchaus zugemutet werden.

II. Übertragung auf das Kindschaftsrecht Unabhängig von der zuvor aufgeworfenen Kritik, die die Bestimmung einer Zwangsbehandlung nach § 1906 a Abs. 1 BGB betrifft, bezieht sich diese Definition nach dem Wortlaut nur auf das Betreuungsrecht. Für eine ärztliche Maßnahme gegen den Willen eines Patienten sollten im Kindschaftsrecht jedoch dieselben Maßstäbe herangezogen werden.44 Es existieren keine vernünftigen Gründe, um eine Zwangsbehandlung von Volljährigen anders zu determinieren als eine medizinische Maßnahme gegen den Willen eines Kindes. Immerhin handelt es sich um eine ähnliche Sachlage: Jede Behandlung gegen den Willen eines Patienten verletzt dessen Recht auf körperliche Unversehrtheit und freie Selbstbestimmung i. S. v. Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG.45 Ob einem Patienten aufgrund seiner erheblichen Schutzbedürftigkeit ein Betreuer oder ein Elternteil, Vormund oder Pfleger zur Seite steht, ist für die Beurteilung des Zwangscharakters unerheblich. Im Ergebnis ist daher auch im Kindschaftsrecht hinsichtlich der Frage, was unter einer Zwangsbehandlung zu verstehen ist, auf § 1906 a Abs. 1 BGB zu verweisen.

B. Grundrechtliche Ausgangslage Bevor sich die Untersuchung dem derzeitigen Umgang mit Zwangsbehandlungen von Kindern und Jugendlichen widmet, soll ein kurzer Überblick über das Fundament der aktuellen Rechtslage gegeben werden: die grundrechtliche Ausgangsposition. Wie bereits erörtert, geht jede Zwangsbehandlung mit einer Beeinträchtigung des Rechts auf Selbstbestimmung sowie des Rechts auf körperliche Unversehrtheit

44

S. 74.

Hoffmann, NZFam 2015, 985 (986); Götz, in: Zwangsbehandlung bei Selbstgefährdung,

45 BVerfG, Beschl. v. 23.3.2011 @ 2 BvR 882/09 = BVerfGE 128, 282 (300) = NJW 2011, 2113 (2114).

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2. Teil: Grundlagen

gemäß Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG einher.46 Findet eine Behandlung gegen den Willen eines Kindes im Rahmen einer öffentlich-rechtlichen Unterbringung statt, kommt die abwehrrechtliche Seite von Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG unmittelbar zur Geltung. Anders gestaltet sich die Rechtslage bei Zwangsbehandlungen innerhalb von privatrechtlichen Beziehungen, da ein Abwehrrecht bei fehlender staatlicher Intervention leerläuft.47 Dies bedeutet allerdings nicht, dass dem Staat in Bezug auf private Rechtsverhältnisse keinerlei Einfluss zukäme. Vielmehr ist diesbezüglich ein komplexes Geflecht aus verfassungsrechtlichen Rechten, die eine hoheitliche Intervention verbieten können, sowie aus staatlichen Pflichten zu verzeichnen, die wiederum ein Handeln geradezu postulieren können. Ein Grundrecht kann somit nicht nur die Abwehr von Eingriffen in den Schutzbereich beanspruchen, sondern gleichzeitig verlangt es nach staatlichem Schutz.48 Es lässt sich demnach unmittelbar aus den Grundrechten eines Kindes ein staatlicher Schutzauftrag ableiten.49 Sofern als gesetzlicher Vertreter eines Minderjährigen kein Vormund oder Pfleger handelt, sondern dessen Eltern, erwächst aus Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG in Form des Wächteramtes eine weitere konkrete Schutzpflicht zugunsten des Kindes.50 Diese erfordert immer dann ein Eingreifen des Staats, wenn eine Kindeswohlgefährdung droht. Die aus den Grundrechten eines Kindes hergeleiteten Schutzpflichten können jedoch mit dem Elternrecht aus Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG in Konflikt geraten. Da dieses die selbstbestimmte Pflege und Erziehung des Kindes garantiert und somit ebenso die Sorge für das physische Wohl erfasst,51 unterfällt auch die medizinische Behandlung dem Elterngrundrecht. Die legislative Begrenzung der Zulässigkeit von medizinischen Zwangsbehandlungen zum Schutz von Kindern und Jugendlichen birgt demgemäß stets die Gefahr eines unzulässigen Eingriffs in das Elternrecht. Die unterschiedlichen Zielrichtungen der Schutzpflichten verstärken dieses Spannungsfeld aus Elternrecht und Kindesgrundrechten. Einerseits kann die aus 46

Dass ein Recht auf medizinische Selbstbestimmung existiert, wird in Literatur und Rechtsprechung nicht bestritten. Über dessen Herleitung herrscht allerdings Uneinigkeit: s. hierzu näher 4. Teil B. II. 1. 47 Höhnberg, Rechtsfähigkeit und Handlungsfähigkeit, S. 85. Ausführlichere Darlegungen zur Grundrechtsgeltung im Rahmen der Betreuung lassen sich im 4. Teil A. I. 2. b) finden. 48 Zur näheren Herleitung von Schutzpflichten s. 4. Teil B. I. 49 Langenfeld/Wiesner, in: Verantwortlich handeln, S. 54. 50 Brosius-Gersdorf, in: Dreier, GG, Art. 6 Rn. 175; v. Coelln, in: Sachs, GG, Art. 6 Rn. 69; Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 30; Erichsen, Jura 1997, 85 (86); Krings, Grund und Grenzen grundrechtlicher Schutzpflichten, S. 146; Robbers, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 6 Rn. 241; Ruffert, Vorrang der Verfassung, S. 153; Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, S. 211; Unruh, Zur Dogmatik der grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 27; Wapler, Kinderrechte und Kindeswohl, S. 176; Wyttenbach, Grund- und Menschenrechtskonflikte, S. 89. 51 Coester-Waltjen, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 6 Rn. 63.

B. Grundrechtliche Ausgangslage

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Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG resultierende Schutzpflicht zugunsten der physischen Unversehrtheit den Staat dazu auffordern, hilfsbedürftigen Menschen notfalls auch gegen ihren Willen Schutz durch ärztliche Versorgung zu gewähren.52 Andererseits kann die ebenfalls aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG hergeleitete Schutzpflicht zugunsten des Selbstbestimmungsrechts den Staat verpflichten, die autonomen Entscheidungen eines Menschen zu schützen. Die vermeintlich gegensätzlichen Pole zwischen der Beachtung eines selbstbestimmten Willens sowie der Wahrung der Fürsorge müssen daher bei jeder medizinischen Maßnahme gegen den Willen eines Menschen zusammengeführt werden. Während demgemäß durchaus Konstellationen denkbar sind, in denen eine Zwangsbehandlung bei Kindern aufgrund ihrer Schutzbedürftigkeit angezeigt ist, bleibt gleichzeitig zu hinterfragen, ob sich mit zunehmender Reife eines Minderjährigen dessen Recht auf Selbstbestimmung durchsetzen muss. Dem Gesetzgeber obliegt mithin bei der Ausgestaltung der medizinischen Zwangsbehandlung die Herausforderung einer schwierigen „Gratwanderung zwischen Autonomie und Fürsorge“53. Dieses Konstrukt aus Kindesgrundrechten, Elternrechten und den Schutzpflichten stellt die Grundlage einer gesetzlichen Regelung zur Ausgestaltung der medizinischen Zwangsbehandlung dar. Es stellt sich nunmehr die Frage, ob der Gesetzgeber diesem Komplex de lege lata gerecht geworden ist.

52 BVerfG, Beschl. v. 26.7.2016 – 1 BvL 8/15 = BVerfGE 142, 313 (336 f.) = NJW 2017, 53 (55). 53 Damm, Bundesgesundheitsblatt 2016, 1075 (1075).

3. Teil

Zulässigkeit und Grenzen einer Zwangsmaßnahme de lege lata A. Ambulante Zwangsmaßnahmen Eine Zwangsbehandlung kann sowohl im Rahmen einer Unterbringung als auch ambulant vollzogen werden. Zunächst wird untersucht, unter welchen Umständen eine ambulante Behandlung gegen den Willen von Kindern und Jugendlichen nach der derzeitigen Rechtslage rechtmäßig ist.

I. Ausgangslage 1. Vertretung im Rahmen der Personensorge Gemäß § 1626 Abs. 1 S. 1 BGB haben Eltern die Pflicht und das Recht, für das minderjährige Kind zu sorgen. Dies gilt gemäß § 1793 Abs. 1 S. 1 BGB auch für die Vormundschaft. Das Recht und die Pflicht zur Sorge erfasst gemäß § 1626 Abs. 1 S. 2 BGB neben der Vermögenssorge ebenfalls die Personensorge. Hierbei handelt es sich um die Sorge für alle persönlichen Angelegenheiten des Kindes.1 Damit wird grundsätzlich auch der Teilbereich der medizinischen Behandlung von der Fürsorge der gesetzlichen Vertreter erfasst.2 Sofern die Eltern oder der Vormund an der Personensorge gehindert sind, kann diese Aufgabe gemäß § 1909 Abs. 1 BGB ebenso einem Pfleger zukommen. Jegliche Fragen rund um die Rechtmäßigkeit einer ärztlichen Maßnahme können somit die Elternschaft, Vormundschaft und Pflegschaft gleichermaßen tangieren. Das vom Gesetz zugewiesene Recht zur Personensorge könnte den Eindruck erwecken, gesetzlichen Vertretern sei die Einleitung und Verweigerung einer ärztlichen Maßnahme uneingeschränkt möglich. Diese These ist jedoch in zweierlei Hinsicht verfehlt.

1

Götz, in: Palandt, § 1626 Rn. 8. Huber, in: Münchener Kommentar BGB, § 1626 Rn. 34; Zorn, Das Recht der elterlichen Sorge, Rn. 283. 2

A. Ambulante Zwangsmaßnahmen

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2. Grenzen a) Kindeswohl Zum einen beschränkt bereits das Erfordernis der Zweckmäßigkeit die gesetzliche Vertretungsmacht.3 Gemäß § 1627 Abs. 1 S. 1 BGB erfolgt die Ausübung der elterliche Sorge zum Wohl des Kindes. Die gesetzlichen Vertreter sind folglich bereits aufgrund der einfachgesetzlichen Ausgestaltung im Rahmen der medizinischen Versorgung verpflichtet, im Sinne des Kindeswohls zu handeln. Kommen sie dieser Aufgabe nicht nach, ist gemäß § 1666 BGB ein Eingreifen des Familiengerichts möglich. Allerdings ist weitestgehend ungeklärt, inwiefern die Anwendung einer medizinischen Zwangsbehandlung überhaupt geeignet ist, eine Kindeswohlgefährdung zu begründen. Während die Versagung von medizinischen Maßnahmen wie beispielsweise die Verweigerung einer ärztlich indizierten Bluttransfusion aus religiösen Motiven das Wohl eines Kindes gefährdet,4 so wurde die Durchführung von ärztlichen Maßnahmen gegen den Willen eines Minderjährigen bislang noch nicht Gegenstand der Judikatur. Darüber hinaus liegt eine Gefahr für das Kind im Gegensatz zur Verweigerung von Heilbehandlungen durch die Eltern nicht auf der Hand, da medizinische Zwangsbehandlungen in der Regel eine Steigerung des körperlichen Wohlbefindens bezwecken. Diskutabel wäre lediglich, ob die Ausübung von Zwang aufgrund der erheblichen Belastung, die die Überwindung eines Willens hervorruft, das seelische Wohl des Minderjährigen gefährden kann oder inwiefern medizinisch nicht indizierte Maßnahmen ein Risiko für das körperliche Wohl eines Minderjährigen darstellen. Nach der derzeitigen Rechtslage sind an die Bejahung einer Kindeswohlgefährdung hohe Voraussetzungen zu stellen. Eine solche postuliert eine gegenwärtige, in solchem Maß vorhandene Gefahr, dass sich beim weiteren Geschehensverlauf eine erhebliche Schädigung des geistigen, seelischen oder körperlichen Wohls des Kindes mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt.5 Da die Definition einen gewissen Interpretationsspielraum eröffnet, bleibt der durch § 1666 BGB garantierte Schutz bei der Anwendung von Zwang zumindest nicht ausnahmslos verwehrt. Ob eine Behandlung gegen den Willen eines Kindes tatsächlich dazu führen kann, eine erhebliche Schädigung des geistigen, seelischen oder körperlichen Wohls anzunehmen, müsste schließlich anhand der jeweiligen Gegebenheiten des Einzelfalls – insbesondere der Art der Maßnahme und der psychischen Kondition des Kindes – erörtert werden. b) Anerkennung von Eigenzuständigkeiten Neben der Begrenzung durch das Kindeswohlprinzip erfährt die gesetzlich zugewiesene Vertretungsmacht Schranken, wenn die Rechtsordnung Kindern oder 3 4 5

Scherer, FamRZ 1997, 589 (591). OLG Celle, Beschl. v. 21.2.1994 – 17 W 8/94 = NJW 1995, 792 (793). Götz, in: Palandt, § 1666 Rn. 8.

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3. Teil: Zulässigkeit und Grenzen einer Zwangsmaßnahme de lege lata

Jugendlichen eigene Zuständigkeiten zubilligt.6 Im Kontext der medizinischen Zwangsbehandlung könnten sich derartige Eigenzuständigkeiten aus den Vorschriften zum Behandlungsvertrag gemäß §§ 630 a ff. BGB ergeben. Ein Arzt ist gemäß § 630 d Abs. 1 S. 1 BGB vor jeder Durchführung einer medizinischen Maßnahme verpflichtet, die Einwilligung des Patienten einzuholen.7 Wird dies versäumt, so macht sich der Mediziner gegebenenfalls gemäß § 280 Abs. 1 BGB und § 823 Abs. 1 BGB schadensersatzpflichtig, da die Vornahme eines ärztlichen Eingriffs ohne Einwilligung des Patienten nicht nur eine Vertragsverletzung darstellt, sondern zugleich erfolgt nach gefestigter Rechtsprechung mit jedem ärztlichen Eingriff eine Gesundheitsschädigung.8 Über die zivilrechtliche Haftung kann sich ein Arzt ebenfalls wegen Körperverletzungs- oder gar Tötungsdelikten strafbar machen.9 Die Einwilligung des Patienten ist hingegen nach allgemeiner Ansicht als Rechtfertigungsgrund zu qualifizieren, sodass ein Mediziner bei Wahrnehmung seiner Pflicht aus § 630 d Abs. 1 BGB einer Strafbarkeit und Schadensersatzpflicht entgehen kann.10 Sofern der Patient einwilligungsunfähig ist, muss gemäß § 630 d Abs. 1 S. 2 BGB die Einwilligung eines hierzu Berechtigten – beispielsweise seines gesetzlichen Vertreters – eingeholt werden. Allerdings definiert § 630 e Abs. 1 S. 2 BGB nicht, wann ein Patient als einwilligungsfähig anzusehen ist. Aus den Gesetzgebungsmaterialien geht jedoch hervor, dass hierbei eine Einsichts- und Urteilskraft vorauszusetzen ist.11 Das Einsichtsvermögen und die Urteilskraft eines Patienten müssen demnach ausreichen, um die vorherige Aufklärung zu verstehen sowie den Nutzen einer Behandlung gegen deren Risiken abzuwägen, sodass eine eigenverantwortliche Entscheidung getroffen werden kann.12 Damit können grundsätzlich auch Kinder und Jugendliche – je nach Reifegrad – einsichts- und urteilsfähig sein. Ausweislich des Gesetzentwurfs der Bundesregierung kommt es auf die Umstände des Einzelfalles an, ob die gesetzlichen Vertreter, gegebenenfalls der Minderjährige allein oder gemeinsam mit seinen Vertretern in die medizinische Maßnahme einwilligen müssen.13 Durch diese Aussage entwertet sich jedoch zugleich die für sich genommen so eindeutige Regelung des § 630 d BGB, da aus dem Gesetzentwurf nicht deutlich wird, wie die Umstände des Einzelfalles das Einwilligungserfordernis beeinflussen 6

Huber, in: Münchener Kommentar BGB, § 1626 Rn. 29. Die Einwilligung wird nach allgemeiner Auffassung nicht als rechtsgeschäftliche Verfügung begriffen. §§ 104 ff., 182 ff. finden demgemäß keine unmittelbare Anwendung. Es ist vielmehr auf die sog. Einwilligungsfähigkeit des Betroffenen abzustellen: Wagner, in: Münchener Kommentar BGB, § 630 d Rn. 9. 8 Wagner, in: Münchener Kommentar BGB, § 823 Rn. 911. 9 Seit einer Entscheidung des Reichsgerichtes fasst die Rechtsprechung einen ärztlichen Eingriff als Körperverletzung auf: RG, Urt. v. 31.5.1894 – 1406/94 = RGSt 25, 375. 10 Wagner, in: Münchener Kommentar BGB, § 823 Rn. 912. 11 BT-Drs. 17/10488, S. 23. 12 Ebenda. 13 Ebenda. 7

A. Ambulante Zwangsmaßnahmen

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können. Wer diesbezüglich die Flexibilität loben möchte, die der Gesetzgeber dem Rechtsanwender an die Hand gegeben hat, der verkennt, dass eine solche die Einladung zur Überschreitung von verfassungsrechtlichen Grenzen darstellt. Man hat Ärzten keine einzelfallabhängige Handhabung geboten, sondern stattdessen wurde eine konkrete Entscheidung auf das Wartegleis geschoben. Erstaunlich ist zudem, dass in den Gesetzgebungsmaterialien ausschließlich auf einen Aufsatz von Nebendahl verwiesen wird.14 Es entsteht der Eindruck, als hätte man sich mit der vorhandenen Literatur kaum auseinandergesetzt. Während aus den Gesetzgebungsmaterialien noch hervorgeht, dass die Umstände des Einzelfalls entscheiden, ob die gesetzlichen Vertreter oder der Minderjährige in die medizinische Maßnahme einwilligen müssen, vertritt Nebendahl die Ansicht, dass ein Minderjähriger bis zur Volljährigkeit unter keinen Umständen eigenständig in eine Behandlung einwilligen könne.15 Seine Ansicht stimmt daher nicht mit der in den Gesetzgebungsmaterialien manifestierten Auffassung überein. Wie lässt sich ein solch erratischer Kurs der Bundesregierung erklären? Es liegt die Annahme nahe, dass es sich hierbei schlichtweg um eine defizitäre legislative Sorgfalt handelt. Nur in einem einzigen Satz wird im Rahmen des Gesetzentwurfs auf den Umgang mit Kindern und Jugendlichen hingewiesen. Der bloße Verweis, dass es hierbei auf die Umstände des Einzelfalls ankomme, ist aufgrund der offenen Formulierung für behandelnde Ärzte nicht nur nichtssagend, sondern führt aufgrund der Bezugnahme auf einen Aufsatz von Nebendahl überdies noch zu Widersprüchen. Anstatt Autoren zu zitieren, die das Einwilligungserfordernis tatsächlich von verschiedenen Gegebenheiten abhängig machen,16 wurde auf einen Rechtswissenschaftler Bezug genommen, der die im Gesetzentwurf aufgestellte These gerade nicht stützt. Was bleibt, ist ein bitterer Nachgeschmack: Eine Norm, mit der man sich im Hinblick auf den Umgang von Minderjährigen nur oberflächlich auseinandergesetzt hat, soll eine Regelungswirkung für einen grundrechtlich besonders sensiblen Bereich entfalten. Die fehlende Präzision ist auch insofern bedauerlich, als dem Gesetzgeber durchaus eine Alternative zur Seite stand: Die Beschlussempfehlung des 14

BT-Drs. 17/10488, S. 23. Nebendahl, MedR 2009, 197 (202). Lediglich bei banalen Routineeingriffen wird nach dessen Ansicht vermutet, dass der Minderjährige zur Erklärung der Einwilligung von den Sorgeberechtigten ermächtigt ist: MedR 2009, 197 (203). 16 Coester-Waltjen entwickelte beispielsweise ein Stufenmodell zur Einwilligungszuständigkeit: Coester-Waltjen, MedR 2012, 553 (559). Eberbach und Hollmann machen die Entscheidungsbefugnisse von der Intensität des Eingriffs abhängig: Eberbach, MedR 1986, 14 (15); Hollmann, Aufklärungspflicht des Arztes, S. 69. Lenckner verwehrt Minderjährigen eine alleinige Einwilligung bei dem Vorliegen von sachfremden Gründen: ZStW 72 (1960), 446 (463). Peschel-Gutzeit plädiert ebenso für eine Möglichkeit der Zwangsbehandlung von einwilligungsfähigen Minderjährigen bei dringend indizierten Maßnahmen: Peschel-Gutzeit, in: Staudinger BGB, § 1626 Rn. 96. 15

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3. Teil: Zulässigkeit und Grenzen einer Zwangsmaßnahme de lege lata

Ausschusses für Gesundheit schlug beispielsweise eine Ergänzung des § 630 d BGB vor, nach der Minderjährige selbst in eine ärztliche Maßnahme einwilligen können, soweit sie einwilligungs- und urteilsfähig sind.17 Ein solcher Zusatz hätte im Gegensatz zur vagen Formulierung des Gesetzentwurfs Rechtsklarheit geschaffen. aa) Zwangsbehandlung von einwilligungsfähigen Kindern Rechtsunsicherheiten entstehen für den Arzt nicht nur im Hinblick auf die Einwilligung in eine ärztliche Maßnahme, sondern darüber hinaus ließ das Gesetz Fragen rund um die Behandlung gegen den Willen eines Kindes nahezu außer Acht. Es wird in § 630 d BGB ausschließlich ein Teilaspekt der medizinischen Zwangsbehandlung aufgegriffen: Wenn ein Minderjähriger ab einer bestimmten Einsichtsfähigkeit eigenständig in eine medizinische Maßnahme einwilligen kann, muss e contrario vermutet werden, dass keine Behandlung gegen seinen Willen erfolgen darf. Allerdings könnte die kritikwürdige Formulierung des Gesetzentwurfs, die nicht nur Unklarheiten, sondern daneben Widersprüche beinhaltet, den zuvor aufgestellten Umkehrschluss revidieren. Zur Erinnerung: Ausweislich des Gesetzentwurfs der Bundesregierung kommt es auf die Umstände des Einzelfalles an, ob die gesetzlichen Vertreter, gegebenenfalls der Minderjährige allein oder auch der Minderjährige und seine Vertreter gemeinsam in die medizinische Maßnahme einwilligen müssen.18 Das mögliche zusätzliche Erfordernis der Einwilligung der gesetzlichen Vertreter revidiert die Vermutung der Unzulässigkeit von Zwangsbehandlungen ab der Einwilligungsfähigkeit eines Jugendlichen jedenfalls nicht, da die Durchführung einer Behandlung nur gerechtfertigt werden kann, wenn daneben die Einwilligung des einwilligungsfähigen Minderjährigen vorliegt. Eine Zwangsbehandlung ist demnach nicht zulässig. Es existieren aber Unsicherheiten in Bezug auf die nach den jeweiligen Gegebenheiten mögliche alleinige Einwilligungszuständigkeit der gesetzlichen Vertreter des Kindes. Gemäß den Gesetzgebungsmaterialien kann ein gesetzlicher Vertreter nach den Umständen des Einzelfalls eigenständig in eine Behandlung des Kindes einwilligen. Sollte es dem Vertreter möglich sein, in eine Behandlung trotz Einsichtsfähigkeit des Jugendlichen eigenständig einzuwilligen, müsste die Möglichkeit der Zulässigkeit von Zwangsbehandlungen bejaht werden. Ein solches Ergebnis kann jedoch offensichtlich nicht gewollt sein: Eltern, Vormünder oder Pfleger könnten einem einwilligungsfähigen Minderjährigen Zwangsmaßnahmen oktroyieren. Dieses Resultat bliebe bereits grundrechtlich betrachtet kritisch zu hinterfragen. Ferner stünde eine solche Möglichkeit in Widerspruch zu § 630 d BGB. Ein einziger Satz aus den Gesetzgebungsmaterialien, dessen Unstimmigkeiten noch dazu bereits aufgezeigt worden sind, sollte nicht die Regelung des § 630 d Abs. 1 BGB entkräften. Hätte der Gesetzgeber die Erlaubnis einer Zwangsbehandlung von einwilligungsfähigen Kindern und Jugendlichen bezweckt, so hätte es einer konkreten Ergänzung des § 630 d BGB bedurft. Es bleibt daher zu 17 18

BT-Drs. 17/11710, S. 25. Ebenda.

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vermuten, dass sich der Gesetzgeber ausschließlich auf die Bewertung der Einsichtsund Urteilsfähigkeit bezog. Nur wenn ein Minderjähriger noch nicht einwilligungsfähig ist, können seine gesetzlichen Vertreter eigenständig in eine ärztliche Maßnahme einwilligen. Damit besteht für die Zwangsbehandlung von einwilligungsfähigen Kindern und Jugendlichen zumindest ein gewisses Maß an Rechtsklarheit. De lege lata ist die Zulässigkeit von Zwangsbehandlungen bei einsichtsfähigen Jugendlichen nicht mit der Rechtslage nach § 630 d Abs. 1 BGB vereinbar. Trotz dieser Rechtssicherheit ist die Tatsache, dass eine in Bezug auf den Umgang mit Kindern und Jugendlichen nicht durchdachte Norm eine Wirkungskraft für einen aus grundrechtlicher Sicht besonders sensiblen Bereich entfaltet, kritisch zu würdigen. Zudem kann anhand der vagen Formulierung die Frage, ob eine alleinige Einwilligung des Minderjährigen ab Einwilligungsfähigkeit ausreicht oder ob daneben auch die Einwilligung seiner gesetzlichen Vertreter notwendig ist, nicht beantwortet werden. Die Beurteilung der Einwilligungsfähigkeit birgt für den Mediziner darüber hinaus faktische Probleme, da aus dem Gesetz nicht hervorgeht, welche Kriterien im Hinblick auf die Bestimmung der Urteilsfähigkeit heranzuziehen sind.19 Für den Arzt besteht folglich die Gefahr einer unzutreffenden rechtlichen Beurteilung. Liegen die Tatbestandsmerkmale einer Zwangsbehandlung vor, weil die gesetzlichen Vertreter eine Behandlung wünschen, obwohl das Kind eine solche verweigert, stellt sich für den Arzt folgendes Risiko dar: Führt er die Behandlung durch, weil er das Kind irrtümlich für einsichtsunfähig gehalten hat, so entsteht mangels Einwilligung des Patienten ein Haftungs- sowie Strafbarkeitsrisiko. Vollzieht er eine ärztliche Maßnahme hingegen nicht, weil er den Minderjährigen fälschlicherweise als einwilligungsfähig einstufte, kann aus der Verletzung einer Garantenpflicht eine Schadensersatzpflicht oder Strafbarkeit resultieren.20 Dem Arzt muss mithin bei Vorliegen einer Meinungsverschiedenheit zwischen dem gesetzlichen Vertreter und dem Kind ein schwieriger Spagat zwischen der Gefahr einer nicht korrekten Einholung der Einwilligung und der Verletzung einer Garantenpflicht gelingen.21 Zu berücksichtigen wäre hierbei jedoch, dass ein Mediziner bei der falschen Beurteilung der Einsichtsfähigkeit aufgrund eines Erlaubnistatbestandsirrtums strafrechtlich entschuldigt sein könnte.22 Auch im Zivilrecht kann es wegen eines solchen Irrtums am Verschulden fehlen.23 Dennoch handelt es sich für den Arzt aufgrund der vagen und unvollständigen Formulierungen des Gesetzgebers und des damit einhergehenden Haftungsrisikos um eine äußerst belastende Rechtslage; zumal eine solche von 19

Schwedler, MedR 2013, 652 (655). Ulsenheimer, in: Therapieverweigerung bei Kindern und Jugendlichen, S. 82. 21 Zu berücksichtigen wäre hierbei, dass ein Arzt einen Patienten mangels allgemeiner Berufspflicht auch ablehnen kann. Ausgenommen sind hiervon Notfälle: Hecker, MedR 2001, 224 (224); Quaas, in: Quaas/Zuck/Clemens, Medizinrecht, § 13 Rn. 52. 22 Odenwald, Die Einwilligungsfähigkeit im Strafrecht, S. 69. 23 Wagner, in: Münchener Kommentar BGB, § 823 Rn. 73. 20

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3. Teil: Zulässigkeit und Grenzen einer Zwangsmaßnahme de lege lata

Rechtsunsicherheit geprägte Ausgangslage nicht aufgrund der bloßen Irrtumsregelungen entschärft werden kann. Es darf nicht in Vergessenheit geraten, dass eine grundrechtliche Beeinträchtigung der Rechte des Kindes oder der Eltern zurückbleibt, auch wenn ein Arzt einer Strafbarkeit oder Schadensersatzpflicht durch die Irrtumsregelungen entgehen kann. bb) Zwangsbehandlung von einwilligungsunfähigen Kindern Hinzu kommt, dass sich die zuvor genannten Haftungsrisiken ausschließlich auf die Zwangsbehandlung von (vermeintlich) Einwilligungsfähigen beziehen. Keinerlei Anhaltspunkte bietet das Gesetz für medizinische Maßnahmen gegen den Willen eines einwilligungsunfähigen Kindes. Ist in diesem Bereich eine Grenzziehung der Personensorge der gesetzlichen Vertreter erforderlich? Darf eine Zwangsmaßnahme beispielsweise bei aufschiebbaren Behandlungen durchgeführt werden?24 Bezieht sich die Personensorge nur auf medizinisch indizierte Maßnahmen?25 Steht dem Minderjährigen gar unter gewissen Umständen ein Veto-Recht zu?26 Auf all diese Fragen lässt sich im Gesetz keine Antwort finden. Obliegt es somit der persönlichen Moral des Arztes, wann Behandlungen gegen den Willen eines Kindes durchgeführt werden können? Oder ist er vielmehr verpflichtet, nach dem Willen der Eltern eine solche Behandlung vorzunehmen? In der Literatur wird vermutet, dass Eltern mangels anderweitiger Regelung ärztliche Eingriffe auch gegen den Willen des einsichtsunfähigen Kindes veranlassen dürfen.27 Letztendlich fällt es daher wohl in den Entscheidungsbereich der behandelnden Ärzte, ob sie eine medizinische Maßnahme auch gegen den Willen der Kinder durchführen. Bedenkt man allerdings, dass die Gratwanderung der Wahrung der von Hippokrates gelehrten Fürsorgeverpflichtung28, nach der ein Patient vor Schädigung bewahrt werden soll, und des Selbstbestimmungsrechtes eines Menschen schon im Umgang mit Erwachsenen den Mediziner vor enorme Beurteilungsschwierigkeiten führt, so warten im Kindschaftsrecht aufgrund der Lückenhaftigkeit des Gesetzes kaum zu bewältigende Herausforderungen. Letztlich bleibt die Frage offen, ob einem Arzt dieses Maß an Rechtsunklarheit zugemutet werden kann oder ob eine gesetzliche Modifikation vonnöten ist.

24 Dagegen plädieren beispielsweise Belling, FuR 1990, 68 (74); Golbs, Das Vetorecht eines einwilligungsunfähigen Patienten, S. 196. 25 Kern vertritt zumindest die Ansicht, dass eine Zwangsbehandlung bei medizinisch nicht indizierten Maßnahmen nicht erlaubt ist: Kern, NJW 1994, 753 (756). 26 So beispielsweise Bernsmann/Geilen, in: Wenzel, Handbuch des Fachanwalts Medizinrecht, Kap. 4 Rn. 431; Böhmker, Die Entscheidungskompetenz des minderjährigen Patienten, S. 196; Coester-Waltjen, MedR 2012, 553 (559). 27 Dodegge/Zimmermann, PsychKG NRW, § 18 Rn. 6. 28 Abgedruckt bei: Koch, Der Eid des Hippokrates, S. 32.

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II. Gesetzgeberische Wertungen Möglicherweise vereinfacht sich die Situation eines Mediziners, wenn die verbleibende Lückenhaftigkeit des Gesetzes mithilfe von gesetzgeberischen Wertungen geschlossen werden könnte. Die Literatur verwendet die nahezu grenzenlose Bandbreite an Wertungsmöglichkeiten aufgrund von Normen aus dem BGB oder Spezialgesetzen des Medizinrechts regelmäßig zur Untermalung ihrer individuellen Ansichten zur Zukunft des Kindschaftsrechts. Doch können Regelungen ohne jeglichen konkreten Bezug zur allgemeinen ärztlichen Behandlung der Aufgabe gerecht werden, Fragen rund um den Umgang mit Zwangsbehandlungen an Kindern zu beantworten? Diese Problematik verdient eine nähere Betrachtung. 1. Regelung zur Beschneidung und Sterilisation Zwar mangelt es dem BGB an einer Regelung, welche die besonderen Voraussetzungen der Zulässigkeit einer Behandlung von Kindern und Jugendliche normiert, es werden jedoch zumindest spezifische medizinische Maßnahmen – namentlich die Sterilisation und die Beschneidung – geregelt. So bestimmt § 1631 c S. 1 BGB, dass eine Einwilligung der Eltern in eine Sterilisation des Kindes nicht erlaubt ist. Aus § 1631 d Abs. 1 S. 1 BGB geht ferner hervor, dass die Personensorge ebenso das Recht umfasst, in die Beschneidung eines nicht einsichts- und urteilsfähigen männlichen Kindes einzuwilligen. Im Umkehrschluss ist den gesetzlichen Vertretern eine solche Einwilligung ab dem Zeitpunkt der Einsichtsfähigkeit des Minderjährigen nicht gestattet. Doch welche Wertungen ergeben sich aus diesen Regelungen für medizinische Maßnahmen jenseits der Beschneidung und Sterilisation? Dürfen Eltern trotz des entgegenstehenden Willens eines einsichtsunfähigen Kindes in die Beschneidung einwilligen? Ergibt sich aus der Normierung des Verbotes der Einwilligung in eine Sterilisation und in eine Beschneidung ab Einsichts- und Urteilsfähigkeit e contrario, dass bei allen anderen medizinischen Maßnahmen Eltern infolge ihrer Vertretungsmacht in eine Behandlung ohne Mitwirkung des Kindes einwilligen können? Wenn die Einwilligung des gesetzlichen Vertreters bei einem Minderjährigen ab Einsichts- und Urteilsfähigkeit ohnehin nicht zulässig wäre, wäre die Regelung des § 1631 d Abs. 1 S. 1 BGB schließlich obsolet. Oder kann § 1631 d BGB hingegen wegen der Stärkung der Rechte eines Kindes ab einem bestimmten Reifegrad entnommen werden, dass einsichts- und urteilsfähige Minderjährige grundsätzlich selbst in ärztliche Behandlungen einwilligen können?29 Dann wäre im Umkehrschluss eine medizinische Zwangsbehandlung nicht erlaubt. Eine Auslegung anhand des Wortlauts von § 1631 d BGB erscheint für sich genommen wenig zielführend, da Rückschlüsse – wie zuvor aufgeführt – in verschiedene Richtungen möglich sind. 29 So die Schlussfolgerung von Brückner, Das medizinische Selbstbestimmungsrecht Minderjähriger, S. 97 und Hoffmann, NZFam 2015, 985 (986).

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3. Teil: Zulässigkeit und Grenzen einer Zwangsmaßnahme de lege lata

Zu konkreteren Ergebnissen könnte jedoch die historische Auslegung anhand der Gesetzgebungsmaterialien führen. Aus dem Gesetzentwurf, der § 1631 d BGB zugrunde liegt, geht hervor, dass ein entgegenstehender Wille des Kindes auch vor dem Eintritt der Einwilligungsfähigkeit jedenfalls zu berücksichtigen ist: „Der Wille des betroffenen Jungen ist, sofern er schon gebildet werden kann, in die Entscheidung über die Vornahme einer Beschneidung einzubeziehen, insbesondere im Hinblick darauf, dass der Eingriff später nicht rückgängig gemacht werden kann (vgl. auch Deutscher Ethikrat, Pressemitteilung vom 23. August 2012: ,Anerkennung eines entwicklungsabhängigen Vetorechts des betroffenen Jungen‘). Angesichts der bereits im geltenden Recht vorhandenen Sicherungen des Kindeswillens muss dieser Aspekt aber nicht durch eine ausdrückliche Regelung aufgegriffen werden. Da der Regelungsvorschlag nur Beschneidungen an nicht einsichts- und urteilsfähigen und damit nicht einwilligungsfähigen männlichen Kindern erfasst, gilt die Regelung nur für solche Kinder, die aufgrund ihres Entwicklungsstandes noch nicht in der Lage sind, Wesen, Bedeutung und Tragweite des mit der Beschneidung verbundenen Eingriffs in ihre körperliche Unversehrtheit zu erfassen. Auch unterhalb der Schwelle von Einsichts- und Urteilsfähigkeit ist ein ernsthaft und unmissverständlich zum Ausdruck gebrachter entgegenstehender Wille des (nicht einwilligungsfähigen) männlichen Kindes aber nicht irrelevant: Mit Blick auf § 1626 Absatz 2 Satz 2 und § 1631 Absatz 2 BGB sind die Eltern in einer solchen Situation gehalten, sich mit dem entgegenstehenden Kindeswillen auseinanderzusetzen.“30

Zwei Aspekte erscheinen an der Begründung des Bundestags besonders zweifelhaft: Zum einen stellt der Umgang mit einem entgegenstehenden Willen einen – wenn nicht sogar den – wesentlichen Aspekt für die Praxis dar, sodass die Frage aufgeworfen werden muss, warum der Gesetzgeber einen solch relevanten Umstand nicht explizit in § 1631 d BGB eingefügt hat. Zwar mag die Rechtslage in Bezug auf Beschneidungen von einwilligungsfähigen Jungen relativ eindeutig sein; denn wenn Eltern bereits nicht in die Zirkumzision selbst einwilligen können, dann kann erst recht keine Zwangsbeschneidung durchgeführt werden.31 Eine Regelung zur Beschneidung gegen den Willen eines einsichtsunfähigen Jungen fand in § 1631 d BGB allerdings keinen Niederschlag. Dies ist zu bedauern, da die derzeitige Rechtslage, wie sich an späterer Stelle noch zeigen wird,32 besonders im Hinblick auf § 1626 Abs. 2 BGB und § 1631 Abs. 2 BGB eben nicht in der Lage ist, eine hinreichende Sicherung des Kindeswillens zu garantieren. Zu bedauern ist ferner, dass sich der Gesetzgeber – ähnlich wie in den Gesetzgebungsmaterialien zum Behandlungsvertrag – erneut recht vage hielt: Es wird zwar deutlich, dass der Wille des einsichtsunfähigen Kindes nicht „irrelevant“ und in die Entscheidung „einzubeziehen“ ist, sowie, dass sich Eltern mit dem entgegenstehenden Kindeswillen „auseinandersetzen“ müssen; es resultiert aus den Formulierungen hingegen nicht ausdrücklich das Verbot einer Zirkumzision bei entgegenstehenden Willen des einwilligungsunfähigen Kindes. Wenn bereits die Regierung in 30 31 32

BT-Drs. 17/11295, S. 18. Götz, in: FS Coester-Waltjen, S. 99. S. hierzu 3. Teil A. II. 4., 5.

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dem § 1631 d BGB zugrundeliegenden Gesetzentwurf nicht die Courage aufbringt, sich ausdrücklich gegen die Möglichkeit einer Beschneidung und mithin gegen eine medizinisch nicht indizierte Maßnahme zu positionieren, die dem Kindeswillen widerspricht, dann kann erst recht nicht angenommen werden, dass derzeit die Unzulässigkeit ärztlicher Zwangsbehandlungen im Rahmen von allgemeinen medizinischen Untersuchungen oder Heilbehandlungen bezweckt wird. Ohnehin eignet sich die Regelung eines speziellen Sachverhaltes nicht, um Rückschlüsse auf Grundsatzentscheidungen zu ziehen, da eine Sonderregelung nur eine spezifische Rechtsfrage umreißt. Ein ganzheitliches gesetzgeberisches Konzept kann damit im Ergebnis aufgrund der Regelungen der Beschneidung und Sterilisation nicht hergeleitet werden. 2. Medizinrechtliche Spezialgesetze a) Regelungen Im Gegensatz zum BGB weisen Spezialgesetze zum Medizinrecht – wie das Arzneimittelgesetz (AMG), Medizinproduktgesetz (MPG) und Transplantationsgesetz (TPG) – ein großes Spektrum an Regelungen zum Umgang mit Kindern und Jugendlichen auf. So wird beispielsweise in § 40 Abs. 4 AMG festgehalten, unter welchen Modalitäten eine klinische Prüfung von Arzneimitteln an Minderjährigen erfolgen kann. Nach § 40 Abs. 4 Nr. 3 AMG ist hierbei der entgegenstehende Wille des Kindes zu beachten. Eine mit Zwang durchsetzbare Forschung soll demnach unabhängig vom Reifegrad des Kindes nicht erfolgen. Darüber hinaus ist gemäß § 40 Abs. 4 Nr. 3 AMG neben der Einwilligung des gesetzlichen Vertreters zusätzlich die Einwilligung des Minderjährigen vonnöten, soweit er in der Lage ist, Wesen, Bedeutung und Tragweite der Maßnahme zu erkennen und seinen Willen hiernach auszurichten. Eine ähnliche Regelung lässt sich auch im MPG finden, welches die Hürden der klinischen Prüfung von Medizinprodukten normiert. Auch § 20 Abs. 4 MPG postuliert neben der Einwilligung des gesetzlichen Vertreters die Einwilligung des Minderjährigen, sofern dieser einwilligungsfähig ist. Das TPG regelt ebenfalls den Umgang mit Kindern und Jugendlichen: Nach § 8 a S. 1 Nr. 4 TPG ist die Entnahme von Knochenmark bei minderjährigen Personen nur zulässig, wenn das Kind nicht die Ablehnung der ärztlichen Maßnahme erklärt hat. Darüber hinaus ist gemäß § 8 a S. 1 Nr. 5 TPG neben der Einwilligung des gesetzlichen Vertreters die Einwilligung des Minderjährigen erforderlich, sofern er die Bedeutung und Tragweite der Maßnahme erfassen kann. Für die Organspende zum Zwecke der Rückübertragung verlangt § 8 c Abs. 1 Nr. 1 TPG alternativ entweder die Einwilligung des einwilligungsfähigen Kindes oder gemäß Abs. 2 die Einwilligung des gesetzlichen Vertreters.

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3. Teil: Zulässigkeit und Grenzen einer Zwangsmaßnahme de lege lata

Medizinrechtliche Spezialgesetze weisen demgemäß im Vergleich zum BGB eine ganze Bandbreite an Regelungen zur Einbeziehung Minderjähriger in eine medizinische Maßnahme auf. Letztendlich hat der Gesetzgeber damit bei der Ausgestaltung des AMG, MPG und des TPG eine Problematik beachtet, die er im Rahmen des BGB offengelassen hat. Doch welche Schlussfolgerungen lassen die speziellen Regelungen des Medizinrechtes zu? b) Rückschlüsse Dies wird in der Literatur unterschiedlich beurteilt. Teilweise wird aus § 40 Abs. 4 AMG gefolgert, risikoreiche Behandlungen dürften nicht ohne den Willen des minderjährigen Kindes durchgeführt werden.33 Eine Zwangsbehandlung sei in derartigen Fällen demgemäß nicht zulässig.34 Für Nebendahl wiederum deuten die Spezialgesetze darauf hin, dass Kinder und Jugendliche bei entsprechender Urteilskraft in Fragen der medizinischen Versorgung und Heilbehandlung einzubeziehen seien.35 Diese Rückschlüsse erscheinen allerdings unter mehreren Aspekten wenig überzeugend: Das AMG, MPG und TPG weisen zwar eine gewisse sachliche Nähe zur allgemeinen Heilbehandlung auf, Schlussfolgerungen sollten daraus jedoch nicht gezogen werden. Dies könnte bereits dem Umstand geschuldet sein, dass diese vor allem durch gemeinschaftsrechtliche Vorgaben geprägt worden sind.36 Da der nationale Gesetzgeber im Bereich der allgemeinen medizinischen Behandlung fernab von Arzneimitteltests und Organspenden nicht zur Umsetzung von europarechtlichen Vorgaben gezwungen ist, eignen sich Regelungen, die auf Richtlinien beruhen, gerade nicht für Rückschlüsse, weil sich hierin nicht der eigenständige Wille des Gesetzgebers widerspiegelt. Dem könnte entgegengehalten werden, dass unionsrechtliche Richtlinien lediglich allgemeine Schutzanforderungen anführen. Sie sind ferner nur hinsichtlich des Ziels verbindlich, sodass den nationalen Gesetzgebern ein gewisser Handlungsspielraum zusteht.37 Während die Union daher die bloße Richtung angibt, entschied sich der Bundestag für den konkreten Kurs. Dies stellt ebenso die Umsetzung des AMG unter Beweis: Aus Art. 4 c) der § 40 Abs. 4 AMG zugrunde 33

Belling, FuR 1990, 68 (71); Bernard, Der Schwangerschaftsabbruch, S. 105; Kothe, AcP 185 (1985), 105 (145). 34 Ebenda. 35 Nebendahl, MedR 2009, 197 (200). 36 Die jetzige Fassung des § 40 Abs. 4 AMG ist im Wesentlichen auf die europäische Richtlinie 2001/20/EG zurückzuführen. Auch § 20 IV MPG beruht auf der Richtlinie 90/385/ EWG und Richtlinie 93/42/EWG. Darüber hinaus hat auch die Verordnung über Kinderarzneimittel (VO EG Nr. 190/2006) den Bereich der klinischen Prüfung an Kindern und Jugendlichen geprägt. § 8 a TPG wurde vor allem durch das Übereinkommen über Menschenrechte und Biomedizin des Europarates vom 4. April 1997 beeinflusst. 37 Geismann, in: v. Groeben /Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, Art. 288 AEUV Rn. 41.

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liegenden Richtlinie38 folgt lediglich der Appell, den Wunsch des Minderjährigen zu berücksichtigen. Fragen rund um die Einwilligungsfähigkeit werden allerdings offen gelassen. Diesbezüglich wies der deutsche Gesetzgeber deutlich mehr Entscheidungsfreudigkeit auf, indem er kumulativ zu der Einwilligung des Vertreters auch die Einholung der Einwilligung des Minderjährigen als Voraussetzung normierte, sofern das Kind in der Lage ist, Wesen, Bedeutung und Tragweite der klinischen Prüfung zu erkennen. Aus den Gesetzgebungsmaterialien geht weiterhin hervor, dass ein Minderjähriger in der Regel ab der Vollendung des 16. Lebensjahrs als einwilligungsfähig anzusehen ist.39 Diese vom deutschen Gesetzgeber vorgenommene Konkretisierung würde die Tür zur Zulässigkeit von Schlussfolgerungen wieder öffnen, da er die wesentlichen Entscheidungen in Bezug auf die Selbstständigkeit eines Kindes eigenständig schloss. Im Ergebnis wurde § 40 Abs. 4 AMG weniger durch europarechtliche Vorgaben geprägt, sondern vielmehr vom eigenen Handlungsspielraum des nationalen Gesetzgebers. Das Hauptargument gegen die Zulassung von Rückschlüssen beruht hingegen auf dem Spezialcharakter der Gesetze.40 Spezialgesetze weisen im Gegensatz zu einer allgemeinen Regelung einen spezifischen Sinn und Zweck auf, der keine Verallgemeinerung beanspruchen darf.41 Das AMG, MPG und TPG regeln vielmehr ganz bewusst nur einen Teilbereich des Medizinrechts. Dies ermöglicht jedoch nicht die Herleitung von Wertungen für allgemeine Behandlungen, da die Sachlage hier nicht mit der klinischen Forschung oder der Entnahme von Knochenmark vergleichbar ist. Bei der klinischen Prüfung von Arzneimittel- oder Medizinprodukten steht im Gegensatz zur allgemeinen medizinischen Behandlung nicht die Heilung des Patienten im Vordergrund, sondern die Wirksamkeit eines Produkts.42 Hätte der Gesetzgeber für die allgemeine medizinische Behandlung dem AMG, MPG oder TPG ähnelnde Regelungen in Betracht gezogen, so stünde ihm die Möglichkeit zur gesetzlichen Normierung offen, da ihm die Problematik rund um die Einbeziehung Minderjähriger in ärztliche Maßnahmen bekannt war. Im Ergebnis eignen sich somit medizinrechtliche Spezialgesetze nicht für die Herleitung von Rückschlüssen. 3. Anträge auf Sozialleistungen Weitere Wertungen entnehmen Teile der Literatur zudem dem Sozialgesetzbuch. Nach § 36 Abs. 1 S. 1 SGB I ist es einem Minderjährigen ab Vollendung des 15. Lebensjahres möglich, Anträge auf Sozialleistungen zu stellen sowie entgegenzunehmen. Aus dieser Norm wird von einigen Autoren geschlossen, dass Minder38 39 40 41 42

Richtlinie 2001/20/EG. BT-Drs. 15/2109, S. 31. Rehborn/Schäfer, in: 25 Jahre Arbeitsgemeinschaft, S. 261. Brückner, Das medizinische Selbstbestimmungsrecht Minderjähriger, S. 94. Nebendahl, MedR 2009, 197 (200).

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3. Teil: Zulässigkeit und Grenzen einer Zwangsmaßnahme de lege lata

jährige ab einem bestimmten Alter ebenso im Bereich der ärztlichen Behandlung Alleinentscheidungsrechte hätten.43 Diese These ist hingegen mangels einer vergleichbaren Interessenlage zu kritisieren. Während die Geltendmachung von Sozialleistungen nur ökonomische Aspekte betrifft, handelt es sich bei der Einwilligung in eine ärztliche Maßnahme um eine persönlichkeitsbezogene Entscheidung.44 § 36 SGB I liegt ausschließlich die Idee zugrunde, dass die Geltendmachung von Sozialleistungen in der Regel nicht mit Gefahren einhergeht.45 Anders stellt sich die Sachlage hingegen bei der Einwilligung in Operationen oder andere gravierende ärztliche Maßnahmen dar, weil diesbezüglich ein im Vergleich zur Geltendmachung von Sozialleistungen wesentlich höheres Maß an Einsichtsfähigkeit erwartet wird.46 Zudem gewährt § 36 SGB I Jugendlichen nur einen relativ geringen Handlungsspielraum, da gemäß § 36 Abs. 2 S. 1 SGB I die durch Abs. 1 S. 1 gewonnene Handlungsfreiheit des Minderjährigen durch bloße Erklärung der gesetzlichen Vertreter wieder eingeschränkt werden kann.47 Es überzeugt daher nicht, einer Norm, die einem Jugendlichen keine Handlungsfreiheit gegen den Willen der Eltern gewährt, den allgemeinen Rechtsgedanken zu entnehmen, Kindern und Jugendlichen kämen im Rahmen von medizinischen Behandlungen Alleinentscheidungsrechte zu. Damit ist zu resümieren, dass auch dem SGB I keine Wertung für die allgemeine medizinische Behandlung entnommen werden kann. Möglicherweise lassen sich jedoch noch weitere Normen aus dem BGB finden, aus denen Rückschlüsse gezogen werden können. 4. Beachtung wachsender Fähigkeiten Potentiell käme hierfür § 1626 Abs. 2 BGB in Betracht. Nach S. 1 der Vorschrift sollen Eltern die wachsenden Fähigkeiten sowie das zunehmende Bedürfnis des Kindes zu selbstständigen und verantwortungsbewussten Handeln berücksichtigen. Darüber hinaus fällt ihnen gemäß § 1626 Abs. 2 S. 2 BGB die Aufgabe zu, mit dem Kind, soweit es nach dessen Entwicklungsstand angezeigt ist, Fragen der elterlichen Sorge zu besprechen und Einvernehmen anzustreben. Doch welche Wertung kann § 1626 Abs. 2 BGB für die medizinische Zwangsbehandlung entnommen werden? Implizieren diese Regelungen zugleich die Pflicht, im Rahmen einer ärztlichen Maßnahme einen Konsens zu erzielen, sodass eine medizinische Zwangsbehandlung unzulässig ist? Um diese Frage beantworten zu können, muss zunächst diskutiert werden, welcher Charakter der Norm zukommt: Handelt es sich um eine bloße Richtschnur oder erwächst aus § 1626 Abs. 2 BGB zugleich eine Pflicht? 43 44 45 46 47

Kothe, AcP 185 (1985), 105 (148); Lilge, SGB I, § 36 Rn. 35; Wölk, MedR 2001, 80 (84). Coester, FamRZ 1985, 982 (986). Spickhoff, in: Münchener Kommentar BGB, Vor § 104 Rn. 30. Schmitt, Die Handlungsfähigkeit im Sozialrecht, S. 112. Nebendahl, MedR 2009, 197 (200 f.).

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Der Wortlaut der Norm („streben […] Einvernehmen an“) spricht deutlich gegen eine Verbindlichkeit. Anstatt zu manifestieren, dass ein Einvernehmen erzielt werden muss, fordert der Gesetzgeber die gesetzlichen Vertreter lediglich zur Mitgestaltung des Kindes bei Angelegenheiten der elterlichen Sorge auf.48 Ein Pflichtcharakter in Form des Verlustes des Entscheidungsrechts kann § 1626 Abs. 2 BGB demzufolge nicht beigemessen werden.49 Auch der Rechtsausschuss des Bundestages sah in der Regelung einen bloßen Grundsatz, der eine Entscheidung gegen den Willen des Kindes dennoch zuließe.50 Es ist daher überzeugender, die Norm als bloßes „Leitbild“51 zu verstehen, das aufgrund eines mangelnden Pflichtcharakters für Ausnahmen zugänglich ist.52 Die Norm bezweckt folglich ausschließlich, das Kind in eine Entscheidung einzubeziehen und ein Einvernehmen zu forcieren.53 In einem Streitfall gebührt dem Willen der Eltern dennoch Vorrang.54 Die von einigen Stimmen in der Literatur55 erhoffte „Zweikampfarena“56 zur Austragung eines Eltern-Kind-Konfliktes, die eine Meinungsverschiedenheit zugunsten des Kindes entscheidet, sucht man in § 1626 Abs. 2 BGB somit vergeblich. Vielmehr spiegelt die Regelung das unentschlossene Verhalten des Gesetzgebers im Rahmen der ärztlichen Behandlung von Minderjährigen wider: Durch eine möglichst vage Formulierung wird durch Anerkennung der Selbstständigkeit des Minderjährigen mit zunehmendem Alter versucht, dem Zeitgeist gerecht zu werden, gleichzeitig aber versäumt, eine konkrete Entscheidung zur Ausgestaltung der ElternKind-Beziehung zu treffen. 5. Gewaltfreie Erziehung Eventuell ermöglicht § 1631 Abs. 2 BGB Rückschlüsse für den Umgang mit medizinischen Zwangsbehandlungen. Nach § 1631 Abs. 2 S. 1 BGB haben Kinder ein Recht auf eine gewaltfreie Erziehung. Der weite Wortlaut könnte zugleich ein Verbot medizinischer Maßnahmen gegen den Willen eines Kindes beinhalten. Im48

Nebendahl, MedR 2009, 197 (200). Pauly, Die rechtlichen Rahmenbedingungen der Sterbehilfe, S. 89. 50 BT-Drs. 8/2788, S. 34. 51 Fink, in: Heilmann, Praxiskommentar Kindschaftsrecht, § 1626 Rn. 19; Simon, JuS 1979, 752 (753). 52 Huber, in: Münchener Kommentar BGB, § 1626 Rn. 62. 53 Gleixner-Eberle, Die Einwilligung in die medizinische Behandlung, S. 324. 54 Gleixner-Eberle, Die Einwilligung in die medizinische Behandlung, S. 324; Scherer, FamRZ 1997, 589 (591); Schmid, in: Schulz/Hauß, Familienrecht, § 1626 Rn. 8; Wölk, MedR 2001, 80 (83). 55 So geht Lippert beispielsweise davon aus, dass eine verfassungskonforme Auslegung der Norm für eine Alleinentscheidung des Minderjährigen im Bereich der medizinischen Behandlung spricht: Lippert, Probleme der Einwilligungsfähigkeit Minderjähriger, S. 134, 135. 56 Schwerdtner, NJW 1999, 1525 (1526). 49

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merhin versteht man Gewalt strafrechtlich als physisch wirkenden Zwang zur Überwindung eines geleisteten oder erwarteten Widerstandes,57 sodass nach dieser Definition auch die medizinische Zwangsbehandlung unter den Gewaltbegriff zu subsumieren wäre. Tatsächlich wird in der Literatur zum Teil aus § 1631 Abs. 2 S. 1 BGB geschlussfolgert, jegliche Form des Zwanges sei untersagt.58 Dafür spräche, dass der Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages im Jahre 1979 ein generelles Gewaltverbot noch ablehnte, weil ein Handeln gegen den Willen des Kindes zu dessen Wohl erforderlich sein könne.59 Gleichwohl hat sich der Gesetzgeber im Rahmen von § 1631 Abs. 2 S. 1 BGB – trotz der anfänglichen Zweifel – für ein generelles Gewaltverbot entschieden, sodass sich zunächst der Eindruck eines besonders weiten Verständnisses des Gewaltbegriffes erhärtet. Demgegenüber ist anzuführen, dass sich das Gewaltverbot nach dem der Norm zugrunde liegenden Wortlaut nur auf die Erziehung bezieht. Maßnahmen der Pflege zum Schutz des Kindes bleiben damit unberührt.60 Ferner wollte der Gesetzgeber den Terminus der Gewalt ohnehin nicht über alle Maßen ausweiten: Entgegen dem Vorschlag der Fraktion BÜNDNIS 90/Die GRÜNEN hat sich der Bundestag gegen die Aufnahme eines Verbotes der Verletzung der körperlichen Integrität positioniert.61 Insgesamt erscheint es daher nicht überzeugend, aus § 1631 BGB Rückschlüsse auf den Umgang mit Kindern und Jugendlichen im Bereich einer ärztlichen Behandlung zu ziehen. 6. Rechtsgeschäftliche Willenserklärungen Einen aussichtsreichen Weg, um die Lücken, die durch die „gesetzgeberische Regelungsabstinenz“62 hervorgerufen worden sind, zu schließen, könnten die §§ 104 ff. BGB darstellen. a) Abschluss des Behandlungsvertrags Die Vorschriften beziehen sich auf die Nichtigkeit von Willenserklärungen, die ein Geschäftsunfähiger oder beschränkt Geschäftsfähiger abgibt und gelten damit zumindest unmittelbar für den Abschluss eines Behandlungsvertrags.63 Gemäß § 105 Abs. 1 i. V. m. § 104 Nr. 1 BGB sind Willenserklärungen eines Kindes, wel57

Fischer, StGB, § 240 Rn. 8. Pardey, in: Heilung erzwingen, S. 80. 59 BT-Drs. 8/2788, S. 35. 60 Salgo, in: Staudinger BGB, § 1631 Rn. 84; Schwab, Familienrecht, § 66 Rn. 804; Ziegler, in: Weinreich/Klein, Familienrecht, § 1631 Rn. 4. 61 BT-Drs. 14/1247, S. 8. 62 Damm, MedR 2015, 231 (233). 63 Spickhoff, FamRZ 2018, 412 (414). 58

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ches das 7. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, nichtig, sodass dieses bis dahin unter keinen Umständen einen Behandlungsvertrag abschließen kann. Ab der Vollendung des 7. Lebensjahres kommt es gemäß § 107 BGB für die Wirksamkeit von eigenständig abgegebenen Willenserklärungen darauf an, ob diese lediglich rechtlich vorteilhaft sind. Für die Frage, inwiefern ein Behandlungsvertrag nach § 630 a BGB rechtlich nachteilhaft sein kann, empfiehlt sich eine Differenzierung zwischen Kassen- und Privatpatienten. Ein Privatpatient kann zwar von der Krankenversicherung die Kosten einer Behandlung erstattet bekommen, da sich der Vergütungsanspruch des Arztes jedoch gegen den Patienten selbst richtet, ist der Abschluss für einen Privatpatienten rechtlich nachteilhaft.64 Ein Minderjähriger, der privat versichert ist, kann demzufolge grundsätzlich nicht eigenständig einen Behandlungsvertrag schließen, sodass die Zustimmung seiner Eltern gemäß § 107 BGB vonnöten ist.65 Auch eine Anwendung von § 110 BGB kann ein solches Ergebnis nicht modifizieren, weil eine derartige Erweiterung des einstigen „Taschengeldparagraphen“ zweckwidrig wäre.66 Im Ergebnis ist daher die Zustimmung des gesetzlichen Vertreters für den Abschluss eines Behandlungsvertrags zwischen Arzt und minderjährigem Privatpatienten erforderlich.67 Anders gestaltet sich die Rechtslage im Hinblick auf minderjährige Kassenpatienten: Ausweislich der Gesetzgebungsmaterialien „überlagert“ in diesem Fall das Recht der gesetzlichen Krankenversicherung das Privatrecht.68 Dies führt zu einer Umwandlung des synallagmatischen Behandlungsvertrags in einen einseitig verpflichtenden Vertrag, durch den der Arzt zwar die medizinischen Maßnahmen schuldet, den Patienten hingegen keine Vergütungspflicht trifft.69 Da im Grundsatz keine nachteiligen Nebenpflichten ersichtlich sind,70 stellt sich der Abschluss für

64

Lauf/Birck, NJW 2018, 2230 (2230); Reuter, Der Abschluss des Arztvertrages, S. 165. Katzenmeier, in: Bamberger/Roth/Hau/Poseck, BeckOK BGB, § 630 a, Rn. 94; Lauf/ Birck, NJW 2018, 2230 (2230); Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht, Rn. 126; Spickhoff, Medizinrecht, § 630 a BGB Rn. 33; ders., FamRZ 2018, 412 (415). 66 Spickhoff, FamRZ 2018, 412 (415). 67 Böhmker, Die Entscheidungskompetenz des minderjährigen Patienten, S. 58. 68 BT-Drs. 17/10488, S. 18. 69 Ebenda. Ausgenommen sind hiervon lediglich wenige Konstellationen wie beispielsweise die unkoordinierte Mehrfachinanspruchnahme eines Vertragsarztes nach § 64 Abs. 4 SGB V. S. hierzu näher Spickhoff, FamRZ 2018, 412 (415 f.). 70 Die meisten Nebenpflichten wie beispielsweise die Kooperationspflicht nach § 630 c BGB stellen bloße Obliegenheiten dar, die keinen rechtlichen Nachteil begründen können: Lauf/Birck, NJW 2018, 2230 (2232 ff.). Von diesem Grundsatz könnten lediglich Bestelltermine ausgenommen werden, da die Nichteinhaltung eines Termins von Seiten des Patienten ein Ausfallhonorar des Arztes auslösen kann: Spickhoff, FamRZ 2018, 412 (416). 65

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einen Minderjährigen, der gesetzlich versichert ist, als rechtlich vorteilhaft dar, sodass es einer Zustimmung seiner gesetzlichen Vertreter in der Regel nicht bedarf.71 Letztendlich kann ein Jugendlicher, der gesetzlich versichert ist, im Gegensatz zu einem Privatpatienten ohne Mitwirkung der gesetzlichen Vertreter einen Behandlungsvertrag abschließen. Man mag von dieser Ungleichbehandlung halten, was man möchte, derzeit entspricht dieser rechtliche Lösungsweg jedenfalls dem gesetzgeberischen Willen.72 b) Einwilligung in eine medizinische Behandlung Von der Problematik um den Abschluss eines Behandlungsvertrags bleibt die Frage zu trennen, welchen Einfluss §§ 104 ff. BGB auf die rechtfertigende Einwilligung respektive auf die medizinische Zwangsbehandlung haben. Der Bereich der Einwilligung in eine ärztliche Maßnahme ist insofern eng mit medizinischen Zwangsbehandlungen verknüpft, als ein Patient, der selbstständig in eine Maßnahme einwilligen kann, e contrario auch nicht gegen seinen Willen behandelt werden darf. Offen bleibt dann allenfalls die Frage, ob ein Minderjähriger, der noch nicht in eine medizinische Maßnahme einwilligen darf, unter allen Umständen zwangsbehandelt werden kann oder ob sich hierbei Ausnahmen ergeben. Bevor sich die Untersuchung diesen Einzelaspekten widmet, bleibt jedoch zu klären, ob die §§ 105 ff. BGB überhaupt auf die Einwilligung Anwendung finden. aa) Anwendbarkeit Eine Willenserklärung i. S. v. §§ 105 ff. BGB ist jede private Willensäußerung, die gewollt auf das Hervorbringen eines rechtlichen Erfolges gerichtet ist.73 Bei einer Einwilligung handelt es sich hingegen nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung um die bloße Gestattung einer tatsächlichen Handlung.74 Der BGH verneint daher überzeugend die Anwendung der §§ 105 ff. BGB auf die Einwilligung in eine ärztliche Maßnahme.75 Auch einer Analogie wurde aufgrund der fehlenden vergleichbaren Sachlage eine Absage erteilt: „Eine analoge Anwendung erscheint jedoch nur insoweit geboten, als es der Zweck des Gesetzes: der Schutz des Minderjährigen, verlangt. Der Minderjährige kann aber eines besonderen gesetzlichen Schutzes entraten, wenn er nach seiner geistigen und sittlichen Reife die Bedeutung und Tragweite des Eingriffs und seiner Gestattung zu ermessen vermag.“76 71 Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht, Rn. 126; Lauf/Birck, NJW 2018, 2230 (2233); Reuter, Der Abschluss des Arztvertrages, S. 234. 72 Kritisch hierzu Gernhuber/Coester-Waltjen, Familienrecht, § 57 Rn. 80. 73 Mugdan, Die gesamten Materialien zum BGB, Einführung und Allgemeiner Teil, S. 421. 74 BGH, Urt. v. 5.12.1958 – VI ZR 266/57 = BGHZ 29, 33 (36) = NJW 1959, 811 (811). 75 Ebenda. 76 BGH, Urt. v. 5.12.1958 – VI ZR 266/57 = BGHZ 29, 33 (36) = NJW 1959, 811 (811).

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Die Entscheidung des BGH ist aus grundrechtlicher Sicht durchaus zu begrüßen, da zwischen der Vornahme eines Rechtsgeschäfts und der Einwilligung in einen Eingriff in die körperliche Integrität eklatante Unterschiede bestehen. Im Gegensatz zu einem Rechtsgeschäft steht bei einer Einwilligung nicht die Herbeiführung eines rechtlichen Erfolges im Vordergrund, sondern die Erlaubnis, in die körperliche Integrität einzugreifen.77 Die grundrechtliche Relevanz ist demgemäß im Bereich der medizinischen Behandlungen deutlich höher. Trotz dieser bedeutsamen Argumente blieb die Ansicht des BGH aufgrund der fehlenden Anwendung der §§ 105 ff. BGB in der Literatur nicht ohne Kritik.78 Allerdings hat der Gesetzgeber mit Einführung der Regelungen zum Behandlungsvertrag gemäß §§ 630 a ff. BGB den jahrzehntelang aufkeimenden Meinungsverschiedenheiten um die Anwendung der §§ 105 ff. BGB respektive die Rechtsnatur der Einwilligung endgültig einen Riegel vorgeschoben und damit zugleich die Auffassung des BGH bestätigt. Aus den §§ 630 a ff. BGB zugrunde liegenden Gesetzgebungsmaterialien ist gerade nicht zu schließen, dass die Einwilligung eine rechtsgeschäftliche Handlung darstellt. Zudem wird nicht auf die Regelungen der §§ 105 ff. BGB verwiesen. Vielmehr wird festgehalten, dass eine Einwilligung rein dogmatisch gesehen einerseits zur Wahrung des Selbstbestimmungsrechts des Patienten im Sinne der zivilrechtlichen Konkretisierung der Verfassungsgarantie auf freie Entfaltung der Persönlichkeit und Achtung der persönlichen Würde des Patienten legitimiere und andererseits für Fragen der Rechtswidrigkeit eines Eingriffes im Rahmen des Deliktsrechts von tragender Bedeutung sei.79 Auch aus dem § 1906 BGB a. F. zugrunde liegenden Gesetzentwurf resultiert unmittelbar, dass es für die Einwilligung in eine Heilbehandlung nicht auf die Geschäftsfähigkeit, sondern auf die natürliche Einsichts- und Urteilsfähigkeit ankomme.80 Der Gesetzgeber bringt damit explizit den Willen zum Ausdruck, eine Einwilligung nicht mit einer rechtsgeschäftlichen Handlung gleichzusetzen. Es mag demnach zwar der individuellen Ansicht mancher Autoren zuwiderlaufen, eine Einwilligung nicht den Regelungen der Willenserklärungen zu unterwerfen, dennoch sollte der Wille des Gesetzgebers respektiert werden, sodass auf den dogmatischen Streit der Rechtsnatur der Einwilligung nicht näher eingegangen wird.81

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Spickhoff, AcP 208 (2008), 345 (385). Kothe, AcP 185 (1985), 105 (152 ff.); Peschel-Gutzeit, in: Staudinger BGB, § 1626 Rn. 92; Rouka, Das Selbstbestimmungsrecht des Minderjährigen, S. 90; Voll, Die Einwilligung im Arztrecht, S. 42. 79 BT-Drs. 17/10488, S. 23. 80 BT-Drs. 11/4528, S. 71. 81 Dennoch kann im Hinblick auf den Streit um die Rechtsnatur einer Einwilligung auf folgende Autoren verwiesen werden: Amelung, ZStW 104 (1992), 525 (526 ff.); Resch, Die Einwilligung des Geschädigten, S. 30 ff.; Voll, Die Einwilligung im Arztrecht, S. 36 ff.; Zimmermann, Die Auswirkungen des Betreuungsrechts in der ärztlichen Praxis, S. 81 ff.; Zitelmann, AcP 99 (1906), 1 (47 ff.). 78

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bb) Wertungen Fraglich bleibt letztendlich, ob den §§ 105 ff. BGB – insbesondere § 107 BGB – trotz der fehlenden (analogen) Anwendbarkeit Wertungen für medizinische Behandlungen entnommen werden können. Wäre es beispielsweise nicht widersprüchlich, wenn ein minderjähriger Privatpatient nicht in die Lage versetzt werden kann, einen Behandlungsvertrag abzuschließen, der Gesetzgeber ihm gleichzeitig das Recht zuspricht, selbstständig in eine ärztliche Maßnahme einzuwilligen? Gleicht es einer Zersplitterung eines einheitlichen Lebensvorganges, wenn der Abschluss eines Behandlungsvertrages von der Einwilligung in eine ärztliche Maßnahme getrennt wird? Wäre das Zugeständnis einer alleinigen Entscheidungshoheit des Minderjährigen über Behandlungen nicht im Hinblick auf §§ 105 ff. BGB ein „Fremdkörper in der Logik des Zivilrechts“82 ? All diesen Fragen muss entgegengehalten werden, dass eine Zersplitterung eines einheitlichen Lebensvorgangs im Bereich des Abschlusses eines Behandlungsvertrags aufgrund der unterschiedlichen Handhabe von minderjährigen Privat- und Kassenpatienten nach der derzeitigen Rechtslage bereits vorliegt. Wertungen könnten §§ 105 ff. BGB ohnehin nur entnommen werden, wenn eine Einwilligung zumindest eine gewisse Verwandtschaft zu einem rechtsgeschäftlichen Handeln aufweist. Ansonsten bliebe es unerklärlich, warum aus einem Rechtsbereich, der keinerlei Parallelen aufzeigt, entscheidende Schlussfolgerungen abgeleitet werden sollten. Gegen die Zulässigkeit von jeglichen Rückschlüssen ist jedoch die fehlende vergleichbare Sachlage einzuwenden.83 Zwar bezweckt § 107 BGB vornehmlich den Schutz von Minderjährigen84, dennoch trägt die Norm gleichzeitig dem Verkehrsschutz Rechnung.85 Starre Altersgrenzen entsprechen schließlich insbesondere dem Interesse der Vertragspartei eines Minderjährigen, da auf eine individuelle Prüfung der Reife verzichtet werden kann.86 Die Regelung vereinfacht damit das Wirtschaftsleben gravierend. Die vertrauensvolle Beziehung eines Arztes zu seinem Patienten ist allerdings eine vollkommen andere als das Vertragsverhältnis bei wirtschaftlichen Massengeschäften, bei denen einem Vertragspartner die individuelle Prüfung der Reife des Kindes nicht zugemutet werden kann.87 Der Versuch, die (fehlende) Einwilligungsfähigkeit Minderjähriger in derartige Eingriffe mit dem Schutz des Rechtsverkehrs zu begründen, würde evident fehlgehen, da das körperliche Selbstbestimmungsrecht eines Jugendlichen nicht hinter den Verkehrsschutz

82 83 84 85 86 87

Lorenz, NZFam 2017, 782 (786). Amelung, ZStW 104 (1992), 525 (527). Motive zu dem Entwurf eines BGB, Band I, S. 131. Gernhuber, FamRZ 1962, 89 (94); Nebendahl, MedR 2009, 197 (199). Diederichsen, in: FS Hirsch, S. 356. Kaeding/Schwenke, MedR 2016, 935 (936).

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zurücktreten darf.88 Dies ist im Wesentlichen darauf zurückzuführen, dass der Grad der grundrechtlichen Relevanz aufgrund eines stärkeren Persönlichkeitsbezuges im Bereich der medizinischen Behandlungen – speziell bei der Zwangsbehandlung – deutlich höher ist. Die Berücksichtigung von Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG fungiert somit als zentrales Argument gegen die Zulässigkeit von Rückschlüssen aus §§ 105 ff. BGB.89 Schon aus den Gesetzentwürfen des BGB geht hervor, dass zum Schutz der Minderjährigen nur so weit gegangen werden darf, wie es mit der materiellen Gerechtigkeit verträglich ist.90 Diesbezüglich erscheint es jedoch unbillig, wenn sich Entscheidungen über die körperliche Unversehrtheit von Kindern und Jugendlichen nach den Vorschriften über rechtsgeschäftliche Willenserklärungen richten, die den Besonderheiten der Materie nicht gerecht werden können. Die Akzeptanz von Einwilligungszuständigkeiten des Minderjährigen ist in der Gesamtschau weniger als ein „Fremdkörper des Zivilrechts“91 anzusehen, sondern vielmehr fließt die Logik des Verfassungsrechts – insbesondere des Selbstbestimmungsrechts eines Minderjährigen – in das Beurteilungsgefüge ein. Schlussendlich ist es jedenfalls aufgrund der fehlenden vergleichbaren Sachlage nicht gerechtfertigt, §§ 105 ff. BGB Wertungen für eine medizinische Behandlung zu entnehmen. 7. Weitere Wertungen aus Teilmündigkeiten Rückschlüsse könnten hingegen aus weiteren Normen gezogen werden, die Minderjährigen ab einem bestimmten Alter höchstpersönliche Entscheidungen selbstständig überlassen.92 Die Religionsmündigkeit tritt beispielsweise gemäß § 5 RKEG ab Vollendung des 14. Lebensjahres ein. Ab dem 16. Lebensjahr kann ein Minderjähriger gemäß § 2229 Abs. 1 BGB ein Testament errichten. Allerdings erscheint es zumindest strittig, diesen Teilmündigkeiten Wertungen für die medizinische Zwangsbehandlung zu entnehmen: Wenn schon nicht aus medizinrechtlichen Gesetzen Ableitungen gezogen werden dürfen, dann erst recht nicht aus Rechtsgebieten, die keinerlei Bezug zu einer allgemeinen Heilbehandlung aufweisen. 8. Gesetzgebungsvorhaben Gegen die generelle Zulässigkeit von Rückschlüssen spricht zudem die Tatsache, dass dem Gesetzgeber die Problematik des rechtlichen Umgangs mit der Heilbehandlung von Kindern und Jugendlichen durchaus bekannt war. Bereits im Jahre 88 Lipp, Freiheit und Fürsorge, S. 30; Reipschläger, Die Einwilligung Minderjähriger in ärztliche Heileingriffe, S. 39. 89 Lenckner, ZStW 72 (1960), 446 (457). 90 Motive zu den Entwürfen eines BGB, Band I, S. 133. 91 Lorenz, NZFam 2017, 782 (786). 92 Eberbach, FamRZ 1982, 450 (452).

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1974 waren die Regierung und drei Jahre später auch die Fraktionen der SPD und FDP bestrebt, durch Implementierung eines § 1626 a BGB die medizinische Heilbehandlung von Minderjährigen zu regeln.93 Die Gesetzentwürfe sprachen Kindern ab Vollendung des 14. Lebensjahres das Recht zu, in eine medizinische Heilbehandlung einzuwilligen, soweit sie fähig sind, Grund und Bedeutung der Maßnahme einzusehen und ihren Willen hiernach zu bestimmen.94 Zwar hätte eine solche Regelung wohl nur einen Teilbereich der medizinischen Zwangsbehandlung – speziell Maßnahmen gegen den Willen eines einsichtsfähigen Kindes – normiert, sie hätte damit jedoch zumindest ein gewisses Maß an Rechtssicherheit geschaffen. Der Bundesrat und ebenso der Rechtsausschuss hegten allerdings Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit – insbesondere an der Vereinbarkeit einer solchen Norm mit dem Elternrecht gemäß Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG – und stimmten gegen den vorgeschlagenen Gesetzentwurf95, sodass das Vorhaben letztendlich scheiterte. Der Gesetzgeber erkannte ebenfalls bei Einführung des Betreuungsrechtes den Regelungsbedarf im Bereich des Kindschaftsrechts: „Es ist auch nicht willkürlich, dass hier Volljährige anders behandelt werden als Minderjährige. […] Ob es sich aus allgemeinen rechtspolitischen Erwägungen empfiehlt, etwa die Genehmigungsbedürftigkeit der Einwilligung in lebensgefährliche oder sonst schwerwiegende Eingriffe auf Minderjährige auszudehnen, kann späteren Erörterungen überlassen bleiben.“96

Bedauerlicherweise fehlt es seit den im Jahre 1989 vollmundig angekündigten „späteren“ Erörterungen an einem Gesetzentwurf zur Regelung der ärztlichen Behandlung gegen den Willen Minderjähriger.97 In Anbetracht der gescheiterten Gesetzesvorhaben erscheint es aber jedenfalls unzulässig, über den Umweg der Interpretation anderer Normen einen den eigenen Wertungen entsprechenden Lösungsweg zu kreieren. Ob eventuell eine Regelung – insbesondere aus verfassungsrechtlichen Aspekten – geboten wäre, betrifft wiederum eine andere Frage, die im Folgenden untersucht wird. Der Gesetzgeber hat die Aufgabe der legislativen Ausgestaltung des Rechtsbereiches der medizinischen Behandlung von Kindern und Jugendlichen zumindest nicht erfüllt. Gesetzgeberische Wertungen können diese Lücke allerdings nicht füllen. Die Scheu des Gesetzgebers vor der Schaffung einer konkreten Regelung ist wohl auf die komplexe Verflechtung von Kindes- und Elterngrundrechten zurückzuführen. Die Anerkennung von Kindesgrundrechten und die Schaffung von Schutzinstrumenten birgt gleichzeitig die Gefahr eines unzulässigen Eingriffes in das Elterngrundrecht. Die Schwierigkeit des Erzielens einer praktischen Konkordanz in Bezug 93

BT-Drs. 7/2060, S. 4; BT-Drs. 8/111, S. 3. Ebenda. 95 BT-Drs. 7/2060, S. 51; BT-Drs. 8/2788, S. 45. 96 BT-Drs. 11/4528, S. 72 97 Lediglich die Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN greift dieses Thema in einer kleinen Anfrage auf: BT- Drs. 18/11487. 94

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auf die widerstreitenden Kindes- und Elterninteressen darf den Gesetzgeber jedoch nicht von seiner Aufgabe – der Ausgestaltung des Eltern-Kind-Verhältnisses – abhalten. Es kann bereits vorweggenommen werden, dass diese durchaus diffizile Herausforderung verfassungsrechtlich zu bewältigen ist.

III. Rechtsprechung Zu erörtern bleibt letztendlich, wie die Rechtsprechung mit der Unvollständigkeit des Gesetzes umgeht und ob wenigstens sie imstande ist, die zuvor aufgeworfenen Lücken, die derzeit im Kindschaftsrecht bestehen, zu schließen. 1. Entscheidung des RG Das Reichsgericht konnte diesbezüglich wenig Licht in das Dunkel der medizinischen Behandlung von Kindern und Jugendlichen bringen. Es beschäftigte sich lediglich mit der Frage, ob die Einwilligung eines Minderjährigen in einen ärztlichen Eingriff wirksam sein kann.98 Das Gericht hat die Ansicht vertreten, dass bei medizinischen Maßnahmen die Einwilligung der gesetzlichen Vertreter unabhängig vom Reifegrad des Kindes erforderlich sei.99 Ob e contrario auch die gesetzlichen Vertreter eine Zwangsbehandlung veranlassen können, ist allerdings nicht explizit erörtert worden. Das geringe Maß an Anerkennung wachsender Selbstständigkeit von Kindern und Jugendlichen spricht jedoch für einen weiten Spielraum der gesetzlichen Vertreter im Hinblick auf die Einleitung einer medizinischen Behandlung gegen den Willen eines Kindes. 2. Entscheidungen des BGH Ähnlich wie schon dem Reichsgericht fiel ebenso dem Bundesgerichtshof die Aufgabe zu, die Anforderungen an eine Einwilligung in eine ärztliche Maßnahme näher zu spezifizieren. a) Urteil vom 5.12.1958 Im Jahre 1958 hat der Gerichtshof entschieden, dass ein Minderjähriger in einen ärztlichen Eingriff wirksam einwilligen könne, sofern er in der Lage sei, nach seiner sittlichen und geistigen Reife die Bedeutung und Tragweite des Eingriffes und seiner Gestattung zu ermessen.100 Aus diesem Grundsatz ergebe sich zumindest die 98

RG, Urt. v. 27.5.1908 – VI. 484/07 = RGZ 68, 431. RG, Urt. v. 27.5.1908 – VI. 484/07 = RGZ 68, 431 (436). 100 BGH, Urt. v. 5.12.1958 – VI ZR 266/57 = BGHZ 29, 33 (36) = NJW 1959, 811 (811). 99

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Wirksamkeit der Einwilligung eines Jugendlichen, wenn die Einholung der elterlichen Zustimmung undurchführbar sei und der Minderjährige kurz vor Vollendung des 21. Lebensjahres stehe.101 Zwar hat sich das Gericht nicht ausdrücklich mit der Frage der Zulässigkeit einer Zwangsbehandlung beschäftigt; wenn allerdings ein Jugendlicher ab einem bestimmten Reifegrad selbstständig in eine Behandlung einwilligen darf, dann kann vermutet werden, dass ein ärztlicher Eingriff ab diesem Zeitpunkt nicht mehr gegen seinen Willen durchgeführt werden kann. In der Gesamtschau stellt das Urteil des Bundesgerichtshofs aufgrund der Anerkennung einer Einwilligungsfähigkeit einen Meilenstein für die Stärkung des Selbstbestimmungsrechts von Jugendlichen dar. b) Urteil vom 16.11.1971 Diese Rechtsklarheit ist jedoch bereits ein Jahrzehnt später diskreditiert worden. Der Bundesgerichtshof hat die zuvor ergangene Entscheidung im Jahre 1971 insofern modifiziert, als nach seiner Ansicht ein Jugendlicher bei wichtigen Maßnahmen grundsätzlich bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres noch der Unterstützung seiner Eltern bedürfe.102 Bei einer nicht irrelevanten und zudem dringlichen Entscheidung über einen ärztlichen Eingriff sei eine Einsichts- und Urteilsfähigkeit einer 16jährigen Patientin in der Regel nicht gegeben.103 Eine minderjährige Patientin dürfe daher nicht wirksam in eine dermatologische Behandlung einwilligen. Damit hat sich der BGH wesentlich von dem im Jahre 1958 formulierten Grundsatz entfernt, nach dem Minderjährige in eine ärztliche Maßnahme einwilligen können, sofern sie die Bedeutung und Tragweite des Eingriffes und seiner Gestattung zu ermessen wissen. Der Bundesgerichtshof hat das zuvor gefasste Urteil zwar nicht explizit revidiert, sondern lediglich festgehalten, dass zwischen Jugendlichen im 21. und solchen im 17. Lebensjahr in Bezug auf die geistige Entwicklung und allgemeine Reife regelmäßig erhebliche Unterschiede bestünden.104 Faktisch hat das Urteil jedoch mangels Möglichkeit eines Jugendlichen, bis zur Vollendung der Volljährigkeit in eine „wichtige“ ärztliche Maßnahme eigenständig einzuwilligen, einen wesentlichen Rückschritt von der zuvor forcierten Stärkung des Selbstbestimmungsrechts Minderjähriger bedeutet. Ungewiss ist zudem geblieben, ob ein Minderjähriger zumindest bei unwichtigen Entscheidungen bei entsprechender Reife eigenständig in eine Behandlung einwilligen kann und wie der Grad der Relevanz von ärztlichen Maßnahmen zu bestimmen ist.

Dies entspricht auch der strafrechtlichen Judikatur: RG, Urt. v. 3.6.1908 – V 420/08 = RGSt 41, 391 (394). 101 Ebenda. 102 BGH, Urt. v. 16.11.1971 – VI ZR 76/70 = NJW 1972, 335 (337). 103 Ebenda. 104 Ebenda.

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Das Urteil des Bundesgerichtshofs lässt viele Fragen offen. Zusätzlich führt es – wie Rehborn und Schäfer zutreffend beobachteten – zu skurrilen Ergebnissen: Verweigern die Eltern beispielsweise wenige Tage vor dem 18. Geburtstag die Einwilligung in eine relevante medizinische Maßnahme, so müsste der Arzt die wenigen Tage bis zur Volljährigkeit warten, um die Behandlung durchführen zu können.105 Kann ein solches Ergebnis tatsächlich sinnvoll sein? Die Antwort scheint auf der Hand zu liegen. c) Urteil vom 10.10.2006 Im Jahre 2006 beschäftigte sich der Bundesgerichtshof erstmals am Rande mit der Zwangsbehandlung von Minderjährigen. Er hat konstatiert, dass in dem der Entscheidung zugrunde liegenden Fall, in der die Entfernung einer Missbildung aufgrund einer Adoleszentenskoliose durch eine Operation bei einer 15-Jährigen veranlasst wurde, die Einwilligungszuständigkeit bei den gesetzlichen Vertretern liege, ohne dies näher zu begründen.106 Einem Jugendlichen sei aber zumindest, sofern er ausreichend urteilsfähig sei, ein Veto-Recht gegen die Fremdbestimmung zuzubilligen, sofern es sich um einen nur relativ indizierten Eingriff mit der Möglichkeit erheblicher Folgen für die künftige Lebensgestaltung handelt.107 Dennoch hat der Bundesgerichtshof ein solches Vetorecht zugleich geschwächt, indem festgehalten wurde, dass ein Arzt im Allgemeinen darauf vertrauen könne, dass die Aufklärung und Einwilligung der Eltern genüge.108 Feste Grundsätze im Umgang mit der Behandlung gegen den Willen von Kindern und Jugendlichen können dem Urteil daher nicht entnommen werden. Dies gilt insbesondere auch deswegen, weil aus der Entscheidung aufgrund der fehlenden Erläuterung des Begriffs der Urteilsfähigkeit nicht deutlich wird, welche Anforderungen an eine solche „Vetofähigkeit“ zu stellen sind. 3. Bewertung „Im Verlauf der letzten sechs Jahrzehnte hat die Rechtsprechung den Einfluss Minderjähriger auf die ihrer Selbstbestimmung dienende Einwilligung durch die Eltern nicht gestärkt, sondern bei Betrachtung der amtlichen Leitsätze sogar deutlich zurückgedrängt.“109

Im Ergebnis lassen sich infolge der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zwei Grundsätze zusammenfassen: Zum einen kann sich bei relativ indizierten Eingriffen das Verbot einer Zwangsbehandlung ergeben. Weiterhin neigt der BGH dazu, die Einwilligungszuständigkeit in den Kompetenzbereich der gesetzlichen 105 106 107 108 109

Rehborn/Schäfer, in: 25 Jahre Arbeitsgemeinschaft, S. 254. BGH, Urt. v. 10.10.2006 – VI ZR 74/05= NJW 2007, 217 (218). Ebenda. Ebenda. Nebe, in: FS Höland, S. 696.

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Vertreter zu legen bzw. diese erst gar nicht in gebotener Ausführlichkeit zu problematisieren. Die Rechtmäßigkeit einer solchen Vorgehensweise muss seit Einführung des § 630 d BGB allerdings bezweifelt werden. Der Erkenntnisgewinn der Entscheidungen des BGH ist für den Bereich der medizinischen Zwangsbehandlung in der Gesamtschau relativ gering. Dies ist nicht nur auf die „formelhaften richterlichen Umschreibungen“110, sondern ebenfalls auf die Besonderheit der Materie zurückzuführen, da das Spektrum an möglichen ärztlichen Behandlungen besonders groß ist. Aus den Gesetzentwürfen zu § 630 d BGB resultiert unmittelbar, dass die Umstände des Einzelfalles bestimmen, ob die Eltern als gesetzliche Vertreter, gegebenenfalls der Minderjährige allein oder der Minderjährige und seine Eltern gemeinsam in eine ärztliche Maßnahme einwilligen müssen.111 Der Bundesgerichtshof hat sich mit drei Einzelfällen beschäftigt. Wie jedoch in anderen Konstellationen entschieden werden würde, bleibt ungewiss. Die Rechtsprechung umreißt demnach lediglich spezifische Fallkonstrukte, aus denen sich kaum allgemeingültige Grundsätze ableiten lassen. Den Wunsch nach der Schaffung einer Schablone, die sich auf jeden beliebigen Sachverhalt übertragen lässt, kann die Rechtsprechung somit nicht erfüllen. Des Weiteren liegt der Schwerpunkt der genannten Urteile auf der Frage der Einwilligungszuständigkeit. Das Problem der Behandlung gegen den Willen eines Kindes erfährt indessen nicht die gebührende Aufmerksamkeit. Zu berücksichtigen ist zudem, dass das jüngste Urteil dem Jahre 2006 entstammt und damit naturgemäß spätere gesellschaftliche Entwicklungen unberücksichtigt lässt. Ob der Bundesgerichtshof auch weiterhin eine äußerst restriktive Auslegung der Einsichts- und Urteilsfähigkeit vornähme und einer 16-Jährigen die selbstständige Einwilligung in eine dermatologische Behandlung verwehren würde, bleibt ungewiss. Die Rechtsprechung des BGH ist auch im Hinblick auf die Folgen für die Praxis unbefriedigend. Es handelt sich bei Fragen rund um die Einwilligung um einen Bereich, der nicht nur für Juristen, sondern ebenso für Ärzte von erheblicher Relevanz ist. Rothärmel, Dippold, Wiethoff, Wolfslast und Fegert beschreiben die Wirkung der BGH-Entscheidungen für die behandelnden Mediziner treffend: „Die Rechtsprechungskasuistik ist schwer auffindbar, intransparent, in sich widersprüchlich und zu den entscheidenden Kriterien der Einwilligungsfähigkeit floskelhaft.“112

110 111 112

Damm, MedR 2015, 231 (233). BT-Drs. 17/10488, S. 23. Rothärmel/Dippold/Wiethoff/Wolfslast/Fegert, Patientenaufklärung, S. 31.

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IV. Literatur Da die Rechtsprechung die Situation eines Arztes kaum zu vereinfachen vermag, könnte zumindest die Auswertung der Literatur einen größeren Erkenntnisgewinn für den Bereich der medizinischen Behandlung von Kindern und Jugendlichen erzeugen. An rechtlichen Lösungsansätzen mangelt es jedenfalls nicht. Teilweise wird in der Literatur eine alleinige Einwilligungszuständigkeit der Eltern und damit wohl auch eine Zwangsbehandlung unter Umständen zum Wohl des Kindes für rechtmäßig erachtet.113 Nur selten wird hingegen vertreten, eine Zwangsbehandlung sei ausnahmslos innerhalb des Fürsorgerechts bis zur Volljährigkeit zulässig, sofern die Eltern die ärztliche Maßnahme billigen.114 Deutlich häufiger sprechen sich Stimmen im strafrechtlichen und zivilrechtlichen Schrifttum dafür aus, dass ein Minderjähriger ab einem bestimmten Reifegrad – namentlich der Einsichtsfähigkeit – über die Einwilligung in eine ärztliche Maßnahme ohne Mitwirkung der Eltern entscheiden kann.115 Eine Behandlung gegen seinen Willen ist dann folglich nicht mehr möglich. 113 Lorenz, NZFam 2017, 782 (787); Lenckner, ZStW 72 (1960), 446 (463); Peschel-Gutzeit, in: Staudinger BGB, § 1626 Rn. 96. Bezogen auf einen Schwangerschaftsabbruch nimmt auch Scherer einen Vorrang der Elternentscheidung vor dem Selbstbestimmungsrecht des Kindes an: FamRZ 1997, 589 (595). 114 Für eine grundsätzliche Alleinzuständigkeit in Sachen der medizinischen Behandlung von Minderjährigen: Knöpfel, FamRZ 1977, 600 (608); Wendtland, in: Bamberger/Roth/Hau/ Poseck, § 107 Rn. 2; Zitelmann, AcP 99 (1906), 1 (62 f.). 115 Im Grundsatz teilen diese Ansicht folgende Autoren: Belling, FuR 1990, 68 (76); Belling/Eberl/Michlik, Das Selbsbestimmungsrecht Minderjähriger bei medizinischen Eingriffen, S. 136; Berger, JZ 2000, 797 (802); Bernard, Der Schwangerschaftsabbruch, S. 106; Bichler, Zwischen Selbstbindung und Bevormundung, S. 83 f; Biermann, in: Ulsenheimer, Arztstrafrecht in der Praxis, Rn. 426; Boiger, Der ärztliche Heileingriff, S. 71; Brückner, Das medizinische Selbstbestimmungsrecht Minderjähriger, S. 103; Coester-Waltjen, Neues elterliches Sorgerecht, S. 80; Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht, Rn. 1128; Döll, in: Erman; § 1626 Rn. 16 a; Füllmich, Der Tod im Krankenhaus, S. 104; Francke/Hart, Charta der Patientenrechte, S. 149; Gleixner-Eberle, Die Einwilligung in die medizinische Behandlung, S. 339; Golbs, Das Vetorecht eines einwilligungsunfähigen Patienten, S. 90; Götz, in: Palandt, § 1626 Rn. 10; dies., in; FS Coester-Waltjen, S. 99; Hartmann-Wargen, Eigenmächtige und fehlerhafte Heilbehandlung, S. 95; Huber, in: Münchener Kommentar BGB, § 1626 Rn. 43; Jung/ Lichtschag-Traut/Ratzel, in: Ratzel/Luxenburger, Handbuch Medizinrecht, Kap. 13 Rn. 245; Kaeding/Schwenke, MedR 2016, 935 (940); Kern, in: Laufs/Kern/Rehborn, Handbuch des Arztrechts, § 65 Rn. 4; ders., FamRZ 1981, 738 (739); ders., NJW 1994, 753 (755); Knauf, Mutmaßliche Einwilligung und Stellvertretung bei ärztlichen Eingriffen, S. 37; Kreße, MedR 2015, 91 (94); Laufs, Fortpflanzungsmedizin und Arztrecht, S. 115; Lenckner, ZStW 72 (1960), 446 (463); Lesch, NJW 1989, 2309 (2310); Lilge, SGB I, § 36 Rn. 35; Lippert, Probleme der Einwilligungsfähigkeit Minderjähriger, S. 141; Muscheler, Familienrecht, § 36 Rn. 624; Odenwald, Die Einwilligungsfähigkeit im Strafrecht, S. 156; Paino-Staber, Gesetzliche Stellvertretung naher Angehöriger, S. 145; Peschel-Gutzeit, NZFam 2014, 433 (435); Rehborn/ Schäfer, in: 25 Jahre Arbeitsgemeinschaft, S. 267; Reichmann/Ufer, JR 2009, 485 (486); Reuter, AcP 192 (1992), 108 (129); Rothärmel. Einwilligung, Veto, Mitbestimmung, S. 140; Rouka, Das Selbstbestimmungsrecht des Minderjährigen, S. 120; Röver, Einflussmöglichkeiten des Patienten, S. 96; Reuter, Der Abschluss des Arztvertrages, S. 260; Schaub, in: Prütting/Wegen/ Weinreich, § 823 Rn. 17; Schmidt-Elsaeßer, Medizinische Forschung an Kindern, S. 224; Schwerdtner, AcP 173 (1973), 227 (246); Seizinger, Der Konflikt, S. 77; Spickhoff, Medizin-

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3. Teil: Zulässigkeit und Grenzen einer Zwangsmaßnahme de lege lata

Einige Stimmen plädieren zudem ausschließlich für ein Veto-Recht des Kindes ab einem bestimmten Reifegrad.116 Teilweise wird weiterhin vertreten, die Entscheidung der Einwilligung gebühre dem gesetzlichen Vertreter und dem Kind gemeinsam, sofern das Kind das Stadium der Einsichtsfähigkeit erreicht hat.117 Auch diese Lösung führt letztendlich zu dem Ergebnis, dass eine Behandlung gegen den Willen des Minderjährigen ab Eintritt der Einsichtsfähigkeit nicht mehr möglich ist, da eine Einwilligung in eine medizinische Maßnahme nur kumulativ von dem gesetzlichen Vertreter und dem minderjährigen Patienten erteilt werden kann. Darüber hinaus werden die Entscheidungsbefugnisse in der Literatur zum Teil von der Schwere des Eingriffes abhängig gemacht.118 All diese Ansätze betreffen allerdings in der Regel nur einen Teilaspekt der medizinischen Zwangsbehandlung: die Behandlung gegen den Willen eines sog. einsichtsfähigen Kindes. Das Spektrum an Ideen zur rechtlichen Ausgestaltung ist hingegen deutlich geringer, wenn es um die rechtlichen Rahmenbedingungen einer Zwangsbehandlung vor dem Eintritt der Einwilligungsfähigkeit geht. Zum Teil wird diese für ausnahmslos zulässig erachtet.119 Andere Autoren gestehen den einrecht, § 630 d BGB Rn. 8; ders., NJW 2000, 2297 (2300); ders., VersR 2013, 267 (275); ders., AcP 208 (2008), 345 (390); ders., FamRZ 2018, 412 (425); Taupitz, Gutachten A zum 63. Deutschen Juristentag, A 66; Trockel, NJW 1972, 1493 (1496); Ulsenheimer, in: Therapieverweigerung bei Kindern und Jugendlichen, S. 85; Voll, Die Einwilligung im Arztrecht, S. 70; Wagner, in: Münchener Kommentar BGB, § 630 d Rn. 41, 42; Wölk, MedR 2001, 80 (84); Zorn, Das Recht der elterlichen Sorge, Rn. 314. Auch bei spezifischen Maßnahmen wie beispielsweise einem Schwangerschaftsabbruch oder der Vornahme einer Beschneidung plädieren viele Autoren für eine Alleinentscheidung des Minderjährigen ab einem gewissen Reifegrad: Beulke, FamRZ 1976, 596 (598); Deutsch, AcP 192 (1992), 161 (175); Link, Schwangerschaftsabbruch bei Minderjährigen, S. 141; Moritz, ZfJ 1999, 92 (99); Rixen, NJW 2013, 257 (260); Schwerdtner, NJW 1999, 1525 (1526); Siedhoff, FamRZ 1998, 8 (10); Zilkens, Zur Rechtfertigung lebensnotwendiger Operationen, S. 157 f. 116 Bergmann, in: Bergmann/Pauge/Steinmeyer, Gesamtes Medizinrecht, § 107 Rn. 4; Lipp, MedR 2008, 289 (293). 117 Bosch, Grundsatzfragen des Beweisrechts, S. 43; ders., FamRZ 1973, 489 (507); Diederichsen, in; FS Hirsch, S. 361; Ellenberger, in: Palandt, Überbl v § 104 Rn. 8; Hauck, NJW 2012, 2398 (2400); Hauser, KH 2012, 1310 (1312); Jäger, Mitspracherechte Jugendlicher, S. 146; Knothe, in: Staudinger BGB, Vorbem zu §§ 104 – 115 Rn. 59; Lüderitz, AcP 178 (1978), 263 (278); Medicus/Petersen, AT, Rn. 201; Nebendahl, MedR 2009, 197 (202); Nebe, in: FS Höland, S. 706; Olzen, in: Münchener Kommentar BGB, § 1666 Rn. 79; Pawlowski, in: FS Hagen, S. 25; ders., JZ 2003, 66 (71); Reipschläger, Die Einwilligung Minderjähriger in ärztliche Heileingriffe, S. 159; Resch, Die Einwilligung des Geschädigten, S. 131; Schwedler, Die ärztliche Therapiebegrenzung, S. 105; Wilhelmi, in: Erman, § 823 Rn. 147; van Els, in: Hoppenz, Familiensachen, § 1626 Rn. 12. Auch bei spezifischen Maßnahmen wie beispielsweise der Humanforschung oder dem Schwangerschaftsabbruch plädieren einige Autoren für eine gemeinsame Entscheidung von Eltern und Kind: Eberbach, FamRZ 1982, 450 (453); Reiserer, FamRZ 1991, 1136 (1141). 118 Coester-Waltjen, MedR 2012, 553 (559); Eberbach, MedR 1986, 14 (15); Hollmann, Aufklärungspflicht des Arztes, S. 69 f.; Wenzel, in: Wenzel, Handbuch des Fachanwaltes Medizinrecht, Kap. 4 Rn. 167. 119 Boiger, Der ärztliche Heileingriff, S. 71.

A. Ambulante Zwangsmaßnahmen

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sichtsunfähigen Kindern unter gewissen Umständen ein Veto-Recht zu.120 Teilweise wird dafür plädiert, eine Zwangsbehandlung sei zumindest bei aufschiebbaren Behandlungen nicht rechtmäßig.121 Andere vertreten wiederum die These, dass eine Zwangsbehandlung bei medizinisch nicht indizierten Maßnahmen nicht möglich sei.122 Im Ergebnis vermag jedoch damit auch die Literatur die Situation eines Arztes angesichts der Bandbreite an unterschiedlichsten Meinungen nicht zu vereinfachen.

V. Fallbeispiele Zur Veranschaulichung der Rechtslage de lege lata dienen nachfolgend fiktive Fallbeispiele.123 Diese heben gleichermaßen die Regelungsbedürfnisse hervor, welche de lege ferenda auszugleichen sein werden. 1. Fall A Ein 8-Jähriger wehrt sich gegen die Vornahme einer Impfung. Nur mithilfe seiner gesetzlichen Vertreter und einem Arzthelfer kann das Kind fixiert werden. Der Arzt nimmt daraufhin die Injektion vor. Ist dieser Eingriff rechtmäßig? 2. Fall B Eine 10-Jährige befindet sich wegen akuter myeloischer Leukämie124 auf der kinderonkologischen Station eines Universitätsklinikums. Der behandelnde Arzt hält eine Chemotherapie für erforderlich. Hierbei besteht allerdings nur eine Heilungswahrscheinlichkeit von 20 %. Der Arzt führt ein Gespräch mit den gesetzlichen Vertretern des Kindes sowie mit dem Kind. Obwohl die gesetzlichen Vertreter die 120

Bernsmann/Geilen, in: Wenzel, Handbuch des Fachanwalts Medizinrecht, Kap. 4 Rn. 431; Biermann, in: Ulsenheimer, Arztstrafrecht in der Praxis, Rn. 426; Böhmker, Die Entscheidungskompetenz des minderjährigen Patienten, S. 196; Coester-Waltjen, MedR 2012, 553 (559); Koch, in: Lexikon Medizin, Ethik, Recht, S. 604; Paino-Staber, Gesetzliche Stellvertretung naher Angehöriger, S. 151 f.; Rothärmel, Einwilligung, Veto, Mitbestimmung, S. 196; Spickhoff, Medizinrecht, § 630 d BGB Rn. 7; Ulsenheimer, in: Therapieverweigerung bei Kindern und Jugendlichen, S. 88. 121 Belling, FuR 1990, 68 (74); Bernsmann/Geilen, in: Wenzel, Medizinrecht, Kap. 4 Rn. 431; Golbs, Das Vetorecht eines einwilligungsunfähigen Patienten, S. 196; Paino-Staber, Gesetzliche Stellvertretung naher Angehöriger, S. 151; Spickhoff, Medizinrecht, § 630 d BGB Rn. 7; Ulsenheimer, in: Therapieverweigerung bei Kindern und Jugendlichen, S. 88. 122 Kern, NJW 1994, 753 (756); Wölk, MedR 2001, 80 (88). 123 Fall A bis C orientieren sich an den Fallbeispielen von Peters: Wenn Kinder anderer Meinung sind, S. 54 ff. 124 Hierbei handelt es sich um eine bösartige Erkrankung des blutbildenden Systems.

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3. Teil: Zulässigkeit und Grenzen einer Zwangsmaßnahme de lege lata

Behandlung befürworten, lehnt das Kind die Therapie kategorisch ab. Der minderjährigen Patientin ist hierbei auch bewusst, dass sie bei fehlender Behandlung sterben wird. Allerdings möchte sie die ihr verbleibende Zeit nicht mehr im Krankenhaus verbringen, sondern sich ihren letzten Wunsch erfüllen und in den Urlaub nach Dänemark fahren. Bei dem voranstehenden Fallbeispiel handelt es sich nicht etwa um ein „rein akademisches Gedankenspiel“,125 sondern um die Veranschaulichung einer in der Praxis durchaus anzutreffenden Konstellation. So berichtet beispielsweise der Onkologe Christoph Tautz von einem Fall, in dem ein an einem bösartigen Lymphknotentumor erkrankter 15-Jähriger trotz guter Heilungschancen von etwa 80 % eine lebensnotwendige Chemotherapie entgegen dem Willen seiner Eltern verweigerte.126 Tautz war davon überzeugt, dass eine Chemotherapie gegen den Willen des Jungen „nahezu unmöglich“ sei. Deckt sich diese aus der Perspektive eines Mediziners getroffene Einschätzung mit der rechtlichen Einordnung? 3. Fall C Ein 12-Jähriger leidet an einem schweren Herzfehler. Aus diesem Grund ist eine Herztransplantation erforderlich. Mit dieser Operation ist der Minderjährige einverstanden. Weil der Minderjährige die Zeit, bis ein passendes Spenderherz gefunden wird, nicht überleben würde, ist eine Kunstherzunterstützung erforderlich. Eine solche Operation lehnt der Jugendliche allerdings aus ästhetischen Gründen ab, weil er fürchtet, dass zu viele Narben zurückbleiben könnten. Muss dieser Wunsch respektiert werden? 4. Rechtliche Einordnung der Fallbeispiele de lege lata Aus der bisherigen Untersuchung ergibt sich, dass die bisherige Gesetzeslage keine eindeutige Antwort auf die Frage geben kann, wie mit den dargestellten oder ähnlichen Fallkonstellationen umgegangen werden muss. Aus § 630 d BGB kann lediglich geschlussfolgert werden, dass eine Behandlung gegen den Willen des minderjährigen Patienten nicht zulässig wäre, sofern der behandelnde Arzt diesen als einwilligungsfähig qualifizieren würde. Ob eine ärztliche Maßnahme jedoch auch gegen den Willen des Minderjährigen vorgenommen werden kann, falls dieser einwilligungsunfähig ist, geht aus dem Gesetz nicht hervor. Für den Fall A, der sich mit der Injektion einer Impfung gegen den Willen eines Kindes befasst, wäre jedoch zu berücksichtigen, dass das Bundeskabinett am 17.7.2019 durch den Entwurf eines Gesetzes für den Schutz vor Masern und zur

125 126

Pauly, Die rechtlichen Rahmenbedingungen der Sterbehilfe, S. 71. Tautz, in: Therapieverweigerung bei Kindern und Jugendlichen, S. 29.

A. Ambulante Zwangsmaßnahmen

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Stärkung der Impfprävention eine Impfpflicht für Masern beschlossen hat.127 Zukünftig muss bei dem Eintritt in eine Gemeinschaftseinrichtung, wie zum Beispiel eine Schule, eine Masern-Schutzimpfung des Kindes nachgewiesen werden.128 Hierbei handelt es sich um eine Pflicht, welche durch das Verwaltungsvollstreckungsrecht und insbesondere durch Zwangsgeld durchsetzbar ist.129 Der Gesetzentwurf geht allerdings nicht auf die Frage ein, unter welchen Voraussetzungen die Durchführung einer Impfung gegen den Willen eines Kindes erlaubt ist. Das Gesetz, welches am 1.3.2020 in Kraft treten soll, führt mithin nicht zu der Zulässigkeit von Zwang zur Durchführung einer Impfung.130 Im Ergebnis hat der Gesetzgeber damit auch für die Injektion einer Impfung gegen den Willen eines Jugendlichen keine Prämissen für deren Zulässigkeit festgesetzt. Es stellt sich aufgrund der gesetzgeberischen Lücken die Frage, wie Ärzte mit den bestehenden Unsicherheiten umgehen. Fest steht hierbei freilich, dass die ärztliche Anwendungspraxis allein keine Schlussfolgerungen für das bestehende Recht zulässt. Gleichwohl interessiert der Blick auf das gängige Vorgehen der Ärzteschaft. Peters hat im Rahmen ihrer Dissertation niedersächsische Kinderärzte befragt, wie sie sich in den dargestellten Fällen (hier: Fall A, B und C) verhalten würden. In Bezug auf Fall A gaben 92,4 % der befragten Kinderärzte an, bereits einen mit der Ablehnung einer Impfung vergleichbaren Fall persönlich erlebt zu haben.131 56,6 % der befragten Mediziner würden die Impfung trotz des entgegenstehenden Wunsches des Kindes durchführen.132 40 % der Ärzte würden eine Impfung in einem solchen Fall nicht verabreichen.133 Hinsichtlich Fall B gaben nur 14,5 % der Kinderärzte an, bereits einen vergleichbaren Fall persönlich erlebt zu haben, in dem ein Kind eine lebenswichtige Chemotherapie ablehnt.134 46,9 % der befragten Kinderärzte würden dem Wunsch der Minderjährigen entsprechen und keine Chemotherapie durchführen.135 Ebenfalls 46,9 % würden die Therapie hingegen nach dem Wunsch der Eltern vornehmen.136 6,2 % der befragten Mediziner enthielten sich einer Stellungnahme.137 Eine mit Fall C vergleichbare Situation haben 11 % der Kinderärzte erlebt. 89 % der Ärzte würden dem Wunsch des Minderjährigen nicht entsprechen und die er127 128 129 130 131 132 133 134 135 136 137

BT-Drs. 19/13452. BT-Drs. 19/13452, S. 30. Ebenda. BT-Drs. 19/13452, S. 2. Peters, Wenn Kinder anderer Meinung sind, S. 82. Peters, Wenn Kinder anderer Meinung sind, S. 83. Ebenda. Peters, Wenn Kinder anderer Meinung sind, S. 59. Peters, Wenn Kinder anderer Meinung sind, S. 60. Ebenda. Ebenda.

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3. Teil: Zulässigkeit und Grenzen einer Zwangsmaßnahme de lege lata

forderliche Operation durchführen. Lediglich 8,3 % der Mediziner würden die Ablehnung der Herztransplantation respektieren. Die Befragung zeigt, dass – ausgenommen von der Herztransplantation in Fall C – kein einheitliches Meinungsbild unter den Medizinern besteht. Die unterschiedlichen Tendenzen der niedersächsischen Kinderärzte machen daher umso mehr deutlich, dass eine gesetzliche Regelung dringend vonnöten ist, um eine möglichst einheitliche Praxis zu garantieren.

VI. Bewertung der Rechtslage „Jedes Gesetz ist dazu bestimmt, die Natur eines Rechtsverhältnisses festzustellen […], wodurch das Dasein jenes Rechtsverhältnisses gegen Irrtum und Willkür gesichert werde.“138

Wenn Gesetze erforderlich sind, um Rechtsverhältnisse vor Irrtum und Willkür zu schützen, erscheint der Bereich der medizinischen Behandlung Minderjähriger zivilrechtlich betrachtet gänzlich sich selbst überlassen. Weder für die behandelnden Ärzte noch für die gesetzlichen Vertreter oder gar die Kinder ist aufgrund der bisherigen Rechtslage erkennbar, welche Befugnisse und Rechte ihnen zukommen. In einem derart sensiblen Rechtsbereich wie der medizinischen Zwangsbehandlung sollte jedoch ein hohes Maß an Rechtsklarheit herrschen. Es ist demzufolge äußerst bedauerlich, dass der Gesetzgeber bisher eine legislative Ausgestaltung im Zivilrecht aufschob. „Bedenkt man die rechtliche Risiken, die der Arzt mit der Behandlung eines Minderjährigen eingeht, erscheint es weniger als Zeichen des fehlenden Mutes zur Verantwortung denn als ein Gebot zur praktischen Vernunft, wenn der Arzt den minderjährigen Patienten einfach für nicht reif genug erklärt und sich am Willen des Vertreters orientiert.“139

In der Tat wurde in der Praxis eine Orientierung der Ärzte an der Entscheidung der Eltern beobachtet.140 Ob sich ein solches Verhalten als praktisch vernünftig darstellt, mag dahinstehen. Die undeutliche Rechtslage provoziert jedoch aufgrund der vorhandenen Rechtsunsicherheit geradezu eine derartige Handhabe und wirkt sich im Ergebnis zu Lasten der behandelten Kinder aus, denen ihre Rechte im Zweifel genommen werden.141

138

Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Kap. IV § 33, S. 212. Seizinger, Der Konflikt, S. 90. 140 Beobachtung von Kölch/Fegert, FPR 2007, 76 (76); Lippert, Probleme der Einwilligungsfähigkeit Minderjähriger, S. 141; so auch die Empfehlung von Dunz, Aktuelle Fragen zum Arzthaftungsrecht, S. 33. 141 Peters, Wenn Kinder anderer Meinung sind, S. 46. 139

A. Ambulante Zwangsmaßnahmen

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In jedem Fall endet die Entscheidungsbefugnis der Eltern dort, wo das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes gemäß § 1666 BGB gefährdet ist,142 wobei diesbezüglich bereits Diskussionsbedarf hinsichtlich der Problematik besteht, inwiefern eine Zwangsbehandlung eine Kindeswohlgefährdung hervorrufen kann. Liegt eine Gefährdung des körperlichen Wohls beispielswiese bei medizinisch nicht indizierten Zwangsbehandlungen vor? Oder gefährdet nicht jede ärztliche Maßnahme gegen den Willen eines Kindes aufgrund des Vorliegens eines Zwangs das seelische Wohl? Über all diese Fragen lässt sich zweifellos ausgiebig streiten, sodass auch § 1666 BGB nicht zu einem höheren Maß an Rechtssicherheit und demnach einem Mehr an Schutz führt. Ein Tätigwerden des Familiengerichts gemäß § 1666 BGB setzt ohnehin voraus, dass es von einer Kindeswohlgefährdung Kenntnis erlangt.143 Damit entwertet sich das von § 1666 BGB geschaffene Schutzinstrument im Medizinrecht zugleich, da eine ärztliche Behandlung gegen den Willen eines Kindes keinerlei familiengerichtliches Verfahren voraussetzt.144 In Anbetracht der nicht besonders großen Entscheidungsdichte bezüglich ärztlicher Maßnahmen gegenüber Kindern muss man laut Rothärmel von einer geringen Inanspruchnahme der Familiengerichte ausgehen.145 Die Waffe des § 1666 BGB ist somit als ein „stumpfes Schwert“ zu qualifizieren.146 Einen ernstzunehmenden Schutz vor Zwangsbehandlung bietet das Gesetz Kindern und Jugendlichen demzufolge nicht, sodass sich die gesetzgeberische Untätigkeit derzeit zu Ungunsten der betroffenen Kinder auswirkt. Für sie und ihre gesetzlichen Vertreter bleibt weiterhin ungewiss, welche Rechte ihnen im Hinblick auf Zwangsbehandlungen zukommen. Während zweifellos Konstellationen denkbar sind, in denen eine medizinische Maßnahme gegen den Willen eines Kindes aus fürsorglichen Aspekten angebracht ist und demnach in das Pflege- und Erziehungsrecht der Eltern fällt, entspringt es zugleich einem freiheitlichen Gedanken, dass eine Zwangsbehandlung eines Minderjährigen ab einer gewissen Selbstbestimmungsfähigkeit aus grundrechtlicher Sicht nicht vollzogen werden darf. Derartige verfassungsrechtliche Grenzen werden jedoch mangels hinreichender Regelung derzeit nicht aufgezeigt. Nicht nur Minderjährige werden ihrem Schicksal überlassen, auch die Haftungsrisiken der Mediziner scheinen den Gesetzgeber gegenwärtig nicht zu einer Änderung der Rechtslage bewegen zu können. Für Ärzte bleibt daher weiterhin unklar, wann sie eine Zwangsbehandlung durchführen dürfen. 142

Gleixner-Eberle, Die Einwilligung in die medizinische Behandlung, S. 309. Götz, in: Zwangsbehandlung bei Selbstgefährdung, S. 80. 144 Ebenda. Ein Arzt ist zwar gem. § 4 Abs. 3 KKG berechtigt, das Jugendamt bei Vorliegen einer Kindeswohlgefährdung zu informieren; dies ist wiederum von seiner eigenen Subsumtion einer Kindeswohlgefährdung abhängig. 145 Rothärmel, Einwilligung, Veto, Mitbestimmung, S. 69. 146 Götz, in: Zwangsbehandlung bei Selbstgefährdung, S. 81. 143

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3. Teil: Zulässigkeit und Grenzen einer Zwangsmaßnahme de lege lata „Dass der Gesetzgeber die vorgeschlagene Vorschrift des § 1626 a BGB, […], nicht in das Gesetz aufgenommen hat, steht der Anerkennung eigener Entscheidungsbefugnisse des Minderjährigen nicht entgegen. Denn die Vorschrift hätte nur konkretisiert, was die Verfassung vorzeichnet.“147

Zwar kann unser Grundgesetz einen bestimmten Lösungsweg zur Ausgestaltung der medizinischen Behandlung von Kindern und Jugendlichen vorgeben, dies befreit den Gesetzgeber indessen nicht von seiner Aufgabe, genau diesen Lösungsweg durch die Schaffung einer konkreten Norm festzuhalten. Aufgrund der Untätigkeit des Gesetzgebers obliegt es derzeit den behandelnden Ärzten, ob und unter welchen Umständen sie eine Zwangsbehandlung nach den Wünschen der Eltern, Vormünder oder Pfleger durchführen. Es ist ihnen allerdings nicht zuzumuten, neben der Gesundheitsfürsorge komplexe verfassungsrechtliche Abwägungen vorzunehmen. Wenn der Gesetzgeber hierzu schon nicht gewillt ist, dann darf diese Aufgabe erst recht nicht auf die Schultern von juristischen Laien gelegt werden. Die Schaffung einer konkreten Regelung ist daher unter keinen Umständen entbehrlich – selbst wenn unsere Verfassung einen bestimmten Lösungsweg andeuten mag. Die Untätigkeit des Gesetzgebers entfachte zumindest die Fantasie der Rechtsprechung und Literatur. Die aktuelle Rechtslage bietet eine Klaviatur an unterschiedlichsten Ansichten. Den Arzt stellt dies wiederum regelmäßig vor die besondere Aufgabe, das Dickicht an Rechtsprechung und Literatur zu erkunden. Wurde dies bewältigt, ist der Erkenntnisgewinn aufgrund der unterschiedlichsten Ansichten relativ gering. Bereits wegen der fehlenden klaren Linie der Rechtsprechung und der vielen Meinungen in der Literatur lohnt sich eine gesetzliche Normierung.

B. Zwangsmaßnahmen im Rahmen einer Unterbringung Nachdem die Lückenhaftigkeit der aktuellen Rechtslage in Bezug auf ambulante Zwangsbehandlungen umrissen wurde, stellt sich die Frage, ob der Rechtsbereich der ärztlichen Behandlung gegen den Willen eines Kindes innerhalb einer Unterbringung ein höheres Maß an rechtlicher Transparenz aufweist. Zu unterscheiden sind diesbezüglich die zivilrechtliche Unterbringung nach § 1631 b BGB und die öffentlich-rechtliche Unterbringung, welche durch die Landesgesetzgeber geregelt ist. Zunächst werden ausschließlich die Konturen der Rechtmäßigkeit einer Zwangsbehandlung im Rahmen einer zivilrechtlichen Unterbringung beleuchtet.

147

Belling, FuR 1990, 68 (74).

B. Zwangsmaßnahmen im Rahmen einer Unterbringung

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I. Zivilrechtliche Unterbringung 1. Ausgangslage a) Regelung des § 1631 b BGB Gemäß § 1631 b Abs. 1 S. 1 BGB bedarf eine Unterbringung, die mit einer Freiheitsentziehung verbunden ist, der Genehmigung des Familiengerichts. Unter einer freiheitsentziehenden Unterbringung ist der umfassende Entzug der Bewegungsfreiheit durch Beschränkung auf einen begrenzten Raum zu verstehen.148 Nach § 1631 b Abs. 2 BGB ist eine familiengerichtliche Genehmigung ebenso erforderlich, wenn dem Kind, das sich in einem Krankenhaus, Heim oder einer sonstigen Einrichtung aufhält, durch mechanische Vorrichtungen, Medikamente oder auf andere Weise über einen längeren Zeitraum oder regelmäßig in nicht altersgerechter Weise die Freiheit entzogen wird. Was unter einem längeren Zeitraum zu verstehen ist, geht zwar aus § 1631 b Abs. 2 BGB nicht hervor; aus dem der Norm zugrunde liegenden Gesetzentwurf ergibt sich jedoch, dass es sich nicht um geringfügige, lediglich im Ausnahmefall erfolgende kurze Beschränkungen der Freiheit handeln darf.149 Als Ansatzpunkt kann ferner eine das Betreuungsrecht betreffende Entscheidung des BGH dienen, nach der das regelmäßige Verschließen der Eingangstür während der Nacht eine unterbringungsähnliche Maßnahme darstellt, wenn es bis zu 30 Minuten andauert, bis eine Pflegekraft die Tür öffnet.150 In der Gesamtschau regelt § 1631 b Abs. 2 BGB immerhin einen Teilbereich der medizinischen Behandlung – die Gabe von Arzneimitteln, die zu einer Sedierung führen und damit die Freiheit eines Menschen einschränken können.151 Diese ist gemäß §§ 1631 b Abs. 2 S. 2, Abs. 1 S. 2 BGB nur zulässig, wenn sie zum Wohl des Kindes, insbesondere zur Abwendung einer erheblichen Selbst- oder Fremdgefährdung, erforderlich ist und der Gefahr nicht auf andere Weise begegnet werden kann. Auf eine Genehmigung des Familiengerichts kann nach §§ 1631 b Abs. 2 S. 2, Abs. 1 S. 3 BGB nur verzichtet werden, wenn mit dem Aufschub eine Gefahr verbunden ist. Der Gesetzgeber hat demgemäß – abgesehen von Notfällen – ein spezifisches Schutzinstrument in Form der familiengerichtlichen Genehmigung geschaffen. Dieser Schutz greift – wie zuvor aufgezeigt – zumindest in einem Teilbereich der 148

Götz, in: Palandt, § 1631 b Rn. 2. BT-Drs. 18/11278, S. 17. 150 BGH, Beschl. v. 7.1.2015 – XII ZB 395/14 = NJW 2015, 865 (866). 151 BT-Drs. 18/11278, S. 14. Eine Überdehnung des Anwendungsbereichs auf eine Zwangsernährung und die Zwangsvergabe von Arzneimitteln, wie sie von der Bundesarbeitsgemeinschaft der Leitenden Klinikärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie in JAmt 2010, 345 (347) vorgeschlagen wurde, erscheint im Hinblick auf den Wortlaut der Norm wenig überzeugend. 149

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3. Teil: Zulässigkeit und Grenzen einer Zwangsmaßnahme de lege lata

medizinischen Zwangsbehandlung – speziell bei der Gabe von Arzneimitteln, die eine sedierende Wirkung hervorrufen. Für diese Konstellation wird daher nicht nur das notwendige Maß an Rechtssicherheit erreicht, sondern gleichzeitig wird in einem aus grundrechtlicher Sicht sensiblen Bereich eine gewisse Kontrolle erzielt. b) Weitergehende Interpretation Teilweise wird der Norm in der Literatur darüber hinaus zugeschrieben, dass jegliche Zwangsbehandlungen an die besonderen Voraussetzungen des § 1631 b Abs. 1 BGB geknüpft sind, sofern der Minderjährige zum Zwecke der medizinischen Behandlung untergebracht ist.152 Diese Ansicht findet jedoch weder im Wortlaut des Gesetzes noch in den Gesetzgebungsmaterialien einen Halt. Die Genehmigungspflicht betrifft ausdrücklich nur die Frage, ob eine freiheitsentziehende Unterbringung mit dem Ziel der Verhinderung einer Selbst- oder Fremdgefährdung vonnöten ist.153 Den Mittelpunkt der Prüfung stellt mithin die Erforderlichkeit der Unterbringung selbst dar. Eine Interpretation über den Wortlaut hinaus würde zudem einen unzulässigen Eingriff in das Elterngrundrecht aus Art. 6 Abs. 2 GG darstellen.154 Nach der vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Wesentlichkeitstheorie dürfen die wesentlichen Entscheidungen der Grundrechtsausübung nicht der Rechtsprechung überlassen werden.155 Ein Eingriff in das Elterngrundrecht ist daher nur durch die Schaffung eines Gesetzes möglich. Problematisch erscheint, dass nach § 1631 b Abs. 1 BGB lediglich der Eingriff in das Aufenthaltsbestimmungsrecht gerechtfertigt ist.156 Eine medizinische Behandlung betrifft hingegen die Gesundheitsfürsorge der Eltern,157 sodass ein Eingriff diesbezüglich erst durch die Schaffung eines speziellen Gesetzes verfassungsgemäß wäre. So groß der Wunsch in der Literatur nach einer spezifischen Ermächtigungsgrundlage für die Zwangsbehandlung von Kindern auch sein mag, § 1631 b BGB kann diesen Wunsch nicht erfüllen.

152

Hoffmann, NZFam 2015, 985 (987). Götz, in: Zwangsbehandlung bei Selbstgefährdung, S. 72; Veit, in: Bamberger/Roth/ Hau/Poseck, BeckOK BGB, § 1631 b Rn. 31. 154 Götz, in: Zwangsbehandlung bei Selbstgefährdung, S. 72. 155 Schnapp/Nolden, in: Schnapp/Wigge, Handbuch des Vertragsarztrechts, § 4 Rn. 18. 156 Veit, in: BeckOK, BGB § 1631 b Rn. 28. 157 Götz, in: Zwangsbehandlung bei Selbstgefährdung, S. 71. 153

B. Zwangsmaßnahmen im Rahmen einer Unterbringung

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2. Analoge Anwendung von betreuungsrechtlichen Vorschriften „Immerhin bleibt ein Bedürfnis nach einem gewissen – Einwilligungskompetenz und ärztlichen Behandlungsimpetus übergreifenden – Schutz des Patienten, wie er sich in § 1904 BGB niedergeschlagen hat […] .“158

Es kann kaum geleugnet werden, dass bereits aus Gründen der Rechtssicherheit eine Norm, welche die Konturen der Rechtmäßigkeit einer medizinischen Behandlung regelt, im Kindschaftsrecht ebenso wünschenswert wäre. Im Betreuungsrecht wurde diesem Ansinnen durch die Schaffung von § 1904 BGB und § 1906 a BGB entsprochen. Nach § 1904 BGB bedarf eine Einwilligung des Betreuers in eine Untersuchung des Gesundheitszustandes, eine Heilbehandlung oder ein ärztlicher Eingriff der Genehmigung des Betreuungsgerichts, wenn die begründete Gefahr besteht, dass der Betreute auf Grund der Maßnahme stirbt oder einen schweren und länger dauernden gesundheitlichen Schaden erleidet. § 1906 a BGB normiert demgegenüber die genauen Voraussetzungen, die an eine Einwilligung des Betreuers in eine Zwangsbehandlung gestellt werden. Möglicherweise ließe sich die vorhandene Lückenhaftigkeit des Kindschaftsrechts mithilfe einer analogen Anwendung dieser betreuungsrechtlichen Vorschriften schließen.159 Dafür spräche, dass eine gewisse Vergleichbarkeit zwischen unter Betreuung stehenden Personen und Minderjährigen kaum bestritten werden kann. Sowohl Betreute als auch Kinder und Jugendliche unterliegen aufgrund ihrer besonderen Schutzbedürftigkeit der Fürsorge. Kann ein höherer Schutzmaßstab im Erwachsenenrecht aufgrund der konkreten Normierung der Befugnisse des Betreuers dennoch gerechtfertigt sein? Die Rechtsprechung votiert insgesamt gegen eine analoge Anwendung von betreuungsrechtlichen Vorschriften.160 Gestützt werden die Entscheidungen bereits darauf, dass ein Eingriff in das Elterngrundrecht nur durch ein Gesetz erfolgen kann.161 Diese Argumentation bezieht sich jedoch nur auf die Ausgestaltung des ElternKind-Verhältnisses. Anders stellt sich hingegen die Rechtslage bei der Vormundschaft oder Pflegschaft dar. Mangels Eingriffs in ein Grundrecht des Vormundes wäre hier grundsätzlich eine entsprechende Anwendung von § 1906 a BGB möglich. Das Vorbild der Vormundschaft und der Pflegschaft stellt allerdings nach dem Willen des 158

Diederichsen, in: Therapieverweigerung bei Kindern und Jugendlichen, S. 102. Befürwortend Kokott-Weidenfeld/Merk, Was Eltern wissen sollten, S. 217. 160 BGH, Beschl. v. 7.8.2013 @ XII ZB 559/11 = NJW 2013, 2969 (2969); OLG Frankfurt/ M. Beschl. v. 19.11.2012 – 5 UF 187/12 = FamRZ 2013, 1225 (1226); OLG Oldenburg, Beschl. v. 26.9.2011 – 14 UF 66/11 = FamRZ 2012, 39 (39); OLG Karlsruhe, Beschl. v. 11.1.2002 – 20 WF 112/01 = FamRZ 2002, 1127 (1128); OLG Brandenburg, Beschl. v. 17.2.2000 – 10 UF 45/ 99 = NJW 2000, 2361 (2362); LG Essen, Beschl. v. 12.3.1993 – 7 T 148/93 = FamRZ 1993, 1347 (1348). 161 Badura, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 6 Rn. 98; von Coelln, in: Sachs, GG, Art. 6 Rn. 76; Epping, Grundrechte, Rn. 526; Hoffmann, NZFam 2015, 985 (987); Kotzur/Vasel, in: Stern/ Becker, GG, Art. 6 Rn. 100. 159

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3. Teil: Zulässigkeit und Grenzen einer Zwangsmaßnahme de lege lata

Gesetzgebers die Eltern-Kind-Beziehung dar.162 Die Zulassung einer analogen Anwendung, welche aufgrund des Grundsatzes des Vorbehaltes des Gesetzes nur im Rahmen der Vormundschaft und Pflegschaft möglich wäre, würde zu einer Durchbrechung dieses Grundprinzips und zu einer Schaffung eines „Sonderkindschaftsrechtes“163 führen, was wiederum von dem Bundesgesetzgeber nicht gewollt sein kann.164 Ohnehin scheint bereits das Vorliegen einer planwidrigen Regelunglücke, welches für eine entsprechende Anwendung erforderlich ist, fernliegend. Der Gesetzgeber war sich bei Einführung des Betreuungsrechts bewusst, dass sich die mit einer Heilbehandlung einhergehenden Probleme ebenso bei Minderjährigen stellen.165 Ausdrücklich wurde konstatiert, dass eine Neuregelung von Vorschriften über die elterliche Sorge oder Vormundschaft und Pflegschaft nicht angestrebt werde.166 Die Annahme einer planwidrigen Regelungslücke erscheint unter Zugrundelegung dieser Aussage nicht überzeugend. Auch die gescheiterten Gesetzgebungsvorhaben, welche die Schaffung einer Regelung zur Einwilligung in eine medizinische Behandlung bezweckten,167 entkräften das Argument, dass derzeitige Regelungslücken planwidrig seien. Ferner überzeugt der Einwand, eine analoge Anwendung entspreche wegen eines Wandels gesellschaftlicher Verhältnisse dem mutmaßlichen Willen des Gesetzgebers,168 nicht. Zwar wurde das Bewusstsein für eine verfassungswidrige Verletzung des Selbstbestimmungsrechts aufgrund der höchstrichterlichen Judikatur bezüglich des Maßregelvollzugs und des Betreuungsrechts gestärkt, der Bundesgesetzgeber verharrte jedoch im Hinblick auf das Kindschaftsrecht in einer ausschließlichen Beobachterrolle. Damit bleibt im Ergebnis zu bekräftigen, dass auch im Bereich der medizinischen Zwangsbehandlung innerhalb einer Unterbringung die gesetzlichen Konturen nur unvollständig normiert worden sind.

162

Schwab, in: Neue Perspektiven im Vormundschafts- und Pflegschaftsrecht, S. 32. Ebenda. 164 Dies wird bereits dadurch deutlich, dass in vielen Vorschriften, z. B. § 1793 Abs. 1 S. 2 BGB und § 1800 BGB, auf die Vorschriften zur Ausgestaltung der Eltern-Kind-Beziehung verwiesen wird. 165 BT-Drs. 11/4528, S. 71. 166 BT-Drs. 11/4528, S. 72. 167 BT-Drs. 7/2060, S. 4; BT-Drs. 8/111, S. 3. 168 So die Argumentation in Bezug auf eine analoge Anwendung von unterbringungsähnlichen Maßnahmen: OLG Oldenburg, Beschl. v. 26.9.2011 – 14 UF 66/11 = FamRZ 2012, 39 (41). 163

B. Zwangsmaßnahmen im Rahmen einer Unterbringung

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3. Fallbeispiele Zur Veranschaulichung der Rechtslage de lege lata dienen auch hier fiktive Beispiele. a) Fall D Eine 16-Jährige leidet an paranoider Schizophrenie. Aufgrund von Wahnvorstellungen versucht die Minderjährige, sich das Leben zu nehmen. Zum Schutz der Minderjährigen wird eine Unterbringung nach § 1631 b BGB angeordnet. Die Jugendliche verweigert allerdings auch im Rahmen der Unterbringung die Einnahme erforderlicher Psychopharmaka. Kann dem Wunsch der Jugendlichen nachgekommen werden? b) Fall E Ein 15-Jähriger leidet an Anorexia nervosa (Magersucht). Als das Gewicht des Minderjährigen weniger als 40 kg beträgt, wird eine Unterbringung nach § 1631 b BGB angeordnet. Mithilfe einer Fixierung soll im Rahmen der Unterbringung eine Zwangsernährung stattfinden, um das Überleben des Minderjährigen zu gewährleisten. Ist diese Vorgehensweise rechtmäßig? c) Rechtliche Einordnung der Fallbeispiele de lege lata Aus der bisherigen Untersuchung ergibt sich, dass die Gesetzeslage de lege lata keine eindeutige Antwort auf die Frage geben kann, wie bei Zwangsbehandlungen im Rahmen einer Unterbringung nach § 1631 b BGB zu verfahren ist. Ob ein Arzt im Fall D und E daher die Wünsche der Kinder in Bezug auf die Ablehnung der ärztlichen Maßnahmen berücksichtigen muss, kann nicht beantwortet werden. Da § 1631 b BGB zumindest die Voraussetzungen für die Durchführung einer Freiheitsentziehung bzw. einer freiheitsentziehenden Maßnahme manifestiert, müsste im Fall E, in der ein Minderjähriger für eine Zwangsernährung fixiert werden soll, zumindest für die Fixierung die Genehmigung des Familiengerichts nach § 1631 b Abs. 2 S. 1 BGB eingeholt werden. Gemäß §§ 1631 b Abs. 2 S. 2, Abs. 1 S. 2 BGB wäre die Fixierung nur zulässig, solange sie zum Wohl des Kindes, insbesondere zur Abwendung einer erheblichen Selbst- oder Fremdgefährdung, erforderlich ist und der Gefahr nicht auf andere Weise begegnet werden kann. Im Fall E soll die Fixierung durchgeführt werden, um die Zwangsernährung zu ermöglichen. Da aufgrund des starken Untergewichts des minderjährigen Patienten und der Verweigerung der Nahrungsaufnahme eine erhebliche Selbstgefährdung besteht, wäre die Fixierung zum Zweck der Zwangsernährung zulässig. Die Gefahr der Selbstgefährdung könnte nur durch andere Weise abgewendet werden, wenn der Versuch der Überzeugung gelingen würde.

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3. Teil: Zulässigkeit und Grenzen einer Zwangsmaßnahme de lege lata

Für die medizinische Zwangsbehandlung fehlt hingegen eine Regelung, die mit § 1631 b Abs. 2 BGB vergleichbar ist. 4. Bewertung der Rechtslage Weder der Bereich der ambulanten Zwangsbehandlung noch der Bereich der Behandlung gegen den Willen eines Kindes im Rahmen einer Unterbringung nach § 1631 b BGB weist derzeit eine Norm auf, die die Rechte und Pflichten von Ärzten, Minderjährigen sowie ihren gesetzlichen Vertretern auf fest umrissene legislative Bahnen lenkt. Dem Gesetzgeber ist zwar durchaus zuzubilligen, dass es sich bei der medizinischen Zwangsbehandlung von Kindern und Jugendlichen insbesondere wegen der Verflechtungen aus Kindes- und Elterngrundrechten um eine komplexe Materie handelt. Es treffen nicht nur grundrechtliche und ethische Abwägungen aufeinander, sondern der Gesetzgeber muss zugleich einen Ausgleich im Hinblick auf die diffizile „Gratwanderung zwischen Autonomie und Fürsorge“169 erzielen. Die Stärkung der Rechte eines Kindes und die Anerkennung von Eigenzuständigkeiten birgt stets die Gefahr eines unzulässigen Eingriffes in das durch Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG geschützte Elternrecht sowie das Risiko der Verletzung von staatlichen Schutzpflichten. Die Diffizilität einer Materie befreit den Gesetzgeber indessen nicht von seiner Aufgabe. Es ist seine Pflicht, die Grenzen zwischen Zulässigkeit und Unzulässigkeit zu manifestieren, damit die behandelnden Mediziner den Rückhalt des Gesetzes genießen. Im Ergebnis handelt es sich de lege lata für alle Betroffenen um eine äußerst unbefriedigende Rechtslage. Eine hinreichend klare und bestimmte Ermächtigungsgrundlage, wie sie sich gemäß § 1906 a BGB im Betreuungsrecht niedergeschlagen hat, ist daher im Kindschaftsrecht ein Desiderat.

II. Unterbringung im Maßregelvollzug Eine Zwangsbehandlung ist darüber hinaus innerhalb des Maßregelvollzuges möglich. Die sog. Maßregeln der Besserung und Sicherung, welche in § 61 StGB normiert sind, stellen schuldunabhängige Reaktionsmittel des Staates dar.170 Sie können erforderlich sein, um die Allgemeinheit vor weiteren Rechtsverletzungen zu schützen.171 Nach § 61 Nr. 1 und 2 StGB stellen unter anderem die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus und in einer Entziehungsanstalt Maßregeln der Besserung und Sicherung dar. Gemäß § 7 Abs. 1 JGG können diese ebenso für Ju169 170 171

Damm, Bundesgesundheitsblatt 2016, 1075 (1075). Van Gemmeren, in: Münchener Kommentar StGB, § 61 Rn. 1. Sinn, in: SK-StGB, § 61 Rn. 2.

B. Zwangsmaßnahmen im Rahmen einer Unterbringung

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gendliche angeordnet werden, sodass die Problematik der Rechtmäßigkeit von Zwangsbehandlungen im Rahmen eines psychiatrischen Krankenhauses oder einer Entziehungsanstalt auch für Jugendliche von Bedeutung ist. Den Vollzug der als Maßregel der Besserung und Sicherung angeordneten Unterbringungen normieren die Maßregelvollzugsgesetze der Länder. 1. Rechtsprechung des BVerfG Wird die Maßregel der Unterbringung vollstreckt, kann im Zweifel während des Vollzugs eine Zwangsbehandlung vonnöten sein. Jahrzehntelang blieb ungewiss, unter welchen Bedingungen eine Behandlung gegen den Willen eines Untergebrachten im Maßregelvollzug aus verfassungsrechtlicher Sicht durchgeführt werden darf. Eine ausführliche Antwort bieten nun jedoch drei Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts aus den Jahren 2011 und 2013. Das Bundesverfassungsgericht musste sich im Jahre 2011 zunächst mit der Verfassungsmäßigkeit von § 6 des rheinland-pfälzischen Landesgesetzes über den Vollzug freiheitsentziehender Maßregeln (RhPfMVollzG) a. F. auseinandersetzen, nachdem ein Patient aus dem Maßregelvollzug Beschwerde gegen eine geplante Zwangsbehandlung einlegte. Der Beschwerdeführer hatte aufgrund einer wahnhaften Störung mit Weinflaschen auf seine Ehefrau und seine Tochter eingeschlagen und versucht, diese zu töten. Nachdem seine Schuldunfähigkeit festgestellt wurde, wurde er im Maßregelvollzug im Pfalzklinikum Klingenmünster untergebracht. Dort wurde er wenige Monate mit einem atypischen Neuroleptikum behandelt. Anschließend verweigerte der Beschwerdeführer die weitere Behandlung wegen der Nebenwirkungen, die das Medikament hervorrief. Fünf Jahre später stellte eine externe Sachverständige im Rahmen der jährlichen Überprüfung der Fortdauer der Unterbringung fest, dass die für die Anlasstat ursächliche paranoide Psychose fortbestehe und dass die einzige Chance, den psychischen Zustand zu verbessern, in einer medikamentösen Behandlung mit Neuroleptika liege. Die Klinik kündigte dem Beschwerdeführer anschließend die Behandlung mit einem geeigneten Neuroleptikum an, das gegebenenfalls auch gegen seinen Willen gespritzt werden sollte. Während der Verabreichung müssten zudem in regelmäßigen Abständen Blutentnahmen durchgeführt werden, da die Medikamente unter Umständen zu Blutbildveränderungen führen oder auch den Stoffwechsel der Leber beeinträchtigen könnten.172 Nach § 6 Abs. 1 RhPfMVollzG a. F. war eine Behandlung des untergebrachten Patienten auch ohne dessen Einwilligung möglich, sofern eine Lebensgefahr, schwerwiegende Gefahr für die Gesundheit des Patienten oder eine Gefahr für andere Personen bestand. Des Weiteren durfte eine ärztliche Maßnahme trotz fehlender Einwilligung des Patienten durchgeführt werden, wenn sie zur Erreichung des Vollzugszieles diente. Können diese Maßgaben, die insbesondere durch ihre in172

BVerfG, Beschl. v. 23.3.2011 @ 2 BvR 882/09 = BVerfGE 128, 282 = NJW 2011, 2113.

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3. Teil: Zulässigkeit und Grenzen einer Zwangsmaßnahme de lege lata

haltliche Kürze auffielen, einen derart schwerwiegenden Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht eines Menschen gemäß Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG rechtfertigen? Das Gericht hat im Rahmen dieser Fragestellung erstmals detailliert die materiellen und verfahrensrechtlichen Voraussetzungen entwickelt, die an eine Zwangsbehandlung im Maßregelvollzug zu stellen sind. Das Bundesverfassungsgericht hat zunächst dargelegt, dass an die Bestimmtheit einer Norm, die eine Behandlung gegen den Willen eines Untergebrachten rechtfertigt, hohe Anforderungen zu stellen seien, da eine Zwangsbehandlung immer mit einem schwerwiegenden Eingriff in das Recht auf körperliche Unversehrtheit und freie Selbstbestimmung gemäß Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG einhergehe.173 Anschließend hat das Gericht die rechtlichen Konturen, die sich im Wesentlichen aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz sowie der Garantie auf Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 GG herleiten lassen, entwickelt, die sich wie folgt zusammenfassen lassen: 1. Die Erreichung des Vollzugszieles und das Freiheitsinteresse des Patienten können einen rechtfertigenden Grund für die Durchführung einer Zwangsbehandlung darstellen.174 2. Da einem Menschen nach gefestigter Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch das Recht auf Erduldung einer Krankheit zusteht, ist eine Zwangsbehandlung im Umkehrschluss nur verfassungsmäßig, wenn der Patient zur Einsicht in die Schwere seiner Krankheit und die Erforderlichkeit von Heilungsmaßnahmen nicht fähig ist.175 3. Vor der Anwendung einer Zwangsbehandlung muss zudem der ernsthafte Überzeugungsversuch des Patienten erfolgen.176 Ein Patient ist diesbezüglich über das „Ob“ und „Wie“ einer Behandlung aufzuklären.177 4. Die Zwangsbehandlung muss eine erfolgversprechende Maßnahme sein, welche lediglich als letztes Mittel fungiert, sofern weniger eingreifende Behandlungen keinen Erfolg versprechen.178 Der Nutzen der Behandlung muss zudem deutlich überwiegen.179 173 BVerfG, Beschl. v. 23.3.2011 @ 2 BvR 882/09 = BVerfGE 128, 282 (300) = NJW 2011, 2113 (2113 f.). 174 BVerfG, Beschl. v. 23.3.2011 @ 2 BvR 882/09 = BVerfGE 128, 282 (304) = NJW 2011, 2113 (2115). 175 BVerfG, Beschl. v. 23.3.2011 @ 2 BvR 882/09 = BVerfGE 128, 282 (304 f.) = NJW 2011, 2113 (2115). 176 BVerfG, Beschl. v. 23.3.2011 @ 2 BvR 882/09 = BVerfGE 128, 282 (309) = NJW 2011, 2113 (2116). 177 BVerfG, Beschl. v. 23.3.2011 @ 2 BvR 882/09 = BVerfGE 128, 282 (310) = NJW 2011, 2113 (2116). 178 BVerfG, Beschl. v. 23.3.2011 @ 2 BvR 882/09 = BVerfGE 128, 282 (309) = NJW 2011, 2113 (2116). 179 BVerfG, Beschl. v. 23.3.2011 @ 2 BvR 882/09 = BVerfGE 128, 282 (310 f.) = NJW 2011, 2113 (2117).

B. Zwangsmaßnahmen im Rahmen einer Unterbringung

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5. Zur Sicherung einer wiederkehrenden umfassenden Prüfung der ärztlichen Maßnahme besteht des Weiteren die Pflicht zum Abbruch der Behandlung, soweit sich diese als nicht mehr verhältnismäßig erweist.180 6. Verfahrensrechtlich ist zu beachten, dass vor der Zwangsbehandlung eine Ankündigung erfolgen muss.181 7. Die Zwangsbehandlung darf nur durch einen Arzt angeordnet werden. Der Arzt muss diese überwachen.182 8. Des Weiteren besteht die Pflicht zur Dokumentation.183 9. Die Rechtmäßigkeit der Maßnahme soll zusätzlich durch Dritte in gesicherter Unabhängigkeit überprüft werden.184 Unter Zugrundelegung dieser Voraussetzungen hat das Bundesverfassungsgericht § 6 Abs. 1 S. 2 RhPfMVollzG a. F. als keine den verfassungsrechtlichen Prämissen entsprechende gesetzliche Grundlage für die Durchführung einer Zwangsbehandlung angesehen.185 Es war daher Aufgabe des rheinland-pfälzischen Landesgesetzgebers, eine Ermächtigungsgrundlage zu schaffen, die die verfassungsrechtlichen Anforderungen erfüllt. Ähnlich sah die Rechtslage in zwei weiteren Bundesländern aus: Das Bundesverfassungsgericht setzte sich wenige Monate nach seinem ersten Beschluss zur Rechtmäßigkeit von Zwangsbehandlungen sowie im Jahr 2013 erneut mit der Verfassungsmäßigkeit von landesrechtlichen Ermächtigungsgrundlagen in BadenWürttemberg und Sachsen – speziell § 8 des baden-württembergischen Gesetz über die Unterbringung psychisch Kranker (BadWürttUBG) a. F. und § 22 des sächsischen Gesetzes über die Hilfen und die Unterbringung bei psychisch Kranken (SächsPsychKG) a. F. – auseinander, die eine ärztliche Maßnahme gegen den Willen eines Patienten im Maßregelvollzug gestatteten.186 Das Bundesverfassungsgericht hat zunächst die Maßstäbe, die es an die Rechtmäßigkeit einer Zwangsbehandlung in seinem Beschluss vom 23.3.2011 festgelegt hatte, bestätigt und sodann konstatiert, 180

BVerfG, Beschl. v. 23.3.2011 @ 2 BvR 882/09 = BVerfGE 128, 282 (312 f.) = NJW 2011, 2113 (2117). 181 BVerfG, Beschl. v. 23.3.2011 @ 2 BvR 882/09 = BVerfGE 128, 282 (311) = NJW 2011, 2113 (2117). 182 BVerfG, Beschl. v. 23.3.2011 @ 2 BvR 882/09 = BVerfGE 128, 282 (313) = NJW 2011, 2113 (2117). 183 BVerfG, Beschl. v. 23.3.2011 @ 2 BvR 882/09 = BVerfGE 128, 282 (313 f.) = NJW 2011, 2113 (2117 f.). 184 BVerfG, Beschl. v. 23.3.2011 @ 2 BvR 882/09 = BVerfGE 128, 282 (315 f.) = NJW 2011, 2113 (2118). 185 BVerfG, Beschl. v. 23.3.2011 @ 2 BvR 882/09 = BVerfGE 128, 282 (318 ff.) = NJW 2011, 2113 (2119). 186 BVerfG, Beschl. v. 12.10.2011 @ 2 BvR 633/11 = BVerfGE 129, 269 = NJW 2011, 3571; BVerfG, Beschl. vom 20.2.2013 – 2 BvR 228/12 = BVerfGE 133, 112 = NJW 2013, 2337.

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3. Teil: Zulässigkeit und Grenzen einer Zwangsmaßnahme de lege lata

dass beide Regelungen die zuvor vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Maßstäbe nicht beachteten.187 Im Ergebnis waren somit auch die Landesgesetzgeber in Baden-Württemberg und Sachsen zu einer Modifikation angehalten. 2. Bewertung a) Rechtliche Würdigung Insgesamt hat das Bundesverfassungsgericht die Bedingungen der Rechtmäßigkeit einer Zwangsbehandlung grundlegend neu justiert. Nahezu alle Bundesländer waren gezwungen, die landesspezifischen Maßregelvollzugsgesetze zu normieren und an die vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Voraussetzungen anzupassen. Die höchstrichterliche Rechtsprechung mag zwar daher aufgrund der Regelungsbedürftigkeit vieler Normen „Trümmer der Unterbringungsgesetze“ zurückgelassen haben188, dies ist jedoch auf die fehlerhafte Vorarbeit der Landesgesetzgeber zurückzuführen. Wie Kammeier zutreffend konstatiert, kamen die Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts bei Weitem nicht „aus heiterem Himmel oder wie ein plötzliches Unwetter bei strahlendem Sonnenschein“, sondern sie hatten ihre Entwicklungsgeschichte.189 Wenn die Bundesländer die zunehmende Stärkung der Autonomie von Personen mit psychischen Krankheiten ignorieren und Grundrechte nicht hinreichend in die legislative Ausgestaltung einbeziehen, dann zeichnet sich die Zukunft der Regelungen zum Umgang mit Zwangsbehandlungen ab und es erscheint vielmehr als eine Frage der Zeit, wann das Bundesverfassungsgericht eine Modifikation postuliert. In Trümmern liegende Unterbringungsgesetze haben die Bundesländer somit selbst geschaffen, das Bundesverfassungsgericht hat lediglich den Impuls gegeben, mit der Beseitigung zu beginnen und neue von festen Vorgaben geprägte Gebilde zum Schutz des Selbstbestimmungsrechts eines Patienten zu schaffen. aa) Vereinbarkeit mit der UN-BRK Doch könnten auch diese Gebilde bald bröckeln? Obwohl die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts einen erheblichen Fortschritt im Hinblick auf die Stärkung der Grundrechte untergebrachter Patienten darstellen, herrscht in der Literatur Uneinigkeit hinsichtlich der grundsätzlichen Vereinbarkeit von Zwang mit der UNBehindertenrechtskonvention (UN-BRK). Die UN-BRK schützt gemäß Art. 1 Abs. 2 der UN-BRK all diejenigen, die unter langfristigen körperlichen, seelischen oder geistigen Sinnesbeeinträchtigungen leiden, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an 187

BVerfG, Beschl. v. 12.10.2011 @ 2 BvR 633/11 = BVerfGE 129, 269 = NJW 2011, 3571; BVerfG, Beschl. vom 20.2.2013 – 2 BvR 228/12 = BVerfGE 133, 112 = NJW 2013, 2337. 188 So der Vorwurf von Schmidt-Recla, MedR 2013, 567 (567). 189 Kammeier, in: Heilung erzwingen, S. 117.

B. Zwangsmaßnahmen im Rahmen einer Unterbringung

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der Gesellschaft hindern können. Da Patienten im Maßregelvollzug häufig psychisch erkrankt sind, werden auch sie vom Schutzbereich der UN-BRK erfasst. Die Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts zur Zulässigkeit von Zwangsbehandlungen stehen im Wesentlichen im Spannungsverhältnis zu Art. 12 UN-BRK. Gemäß Art. 12 Abs. 2 UN-BRK erkennen die Vertragsstaaten an, dass Menschen mit Behinderungen in allen Lebensbereichen gleichberechtigt Rechts- und Handlungsfähigkeit genießen. Diese Handlungsfähigkeit muss sich auf alle Verhaltensweisen beziehen, denen die Rechtsordnung eine rechtliche Bedeutung zuschreibt, sodass eine Einwilligung in eine medizinische Behandlung vom Schutzbereich des Art. 12 Abs. 2 UN-BRK erfasst ist.190 In diesen Schutzbereich greift aber zugleich jede Zwangsbehandlung ein.191 Ein solcher Eingriff könnte jedoch von Art. 12 Abs. 3 UN-BRK erfasst und damit grundsätzlich gerechtfertigt sein. Gemäß Art. 12 Abs. 3 UN-BRK treffen die Vertragsstaaten geeignete Maßnahmen, um Menschen mit Behinderungen Zugang zu der Unterstützung zu verschaffen, die sie bei der Ausübung ihrer Rechts- und Handlungsfähigkeit gegebenenfalls benötigen. Der Streit um die Vereinbarkeit von Zwangsbehandlungen mit der UN-BRK kreist im Wesentlichen um die Frage, ob eine Zwangsbehandlung noch als eine unterstützende Maßnahme qualifiziert werden kann. Nach einer Ansicht endet die Unterstützung dann, wenn die Entscheidung des Betroffenen ersetzt wird, sodass eine Zwangsbehandlung nach dieser Auffassung unter keinen Umständen von Art. 12 Abs. 3 UN-KRK gerechtfertigt werden kann.192 Dies entspricht den Ausführungen des Ausschusses im Allgemeinen Kommentar zu Art. 12 UN-BRK (General Comment), in denen die Vertragsstaaten dazu aufgerufen werden, ersetzende Entscheidungen und demnach Zwangsbehandlungen nicht zuzulassen.193 Nicht nur in den Allgemeinen Bemerkungen, sondern auch im Rahmen vieler Concluding Observations zeigte sich der UN-Behindertenrechtsausschuss beunruhigt über die Anwendung von Zwangsbehandlungen.194 Im Staatenbericht zu 190

Schmahl, in: Zwangsbehandlung bei Selbstgefährdung, S. 45. Kaleck/Hilbrans/Scharmer, Ratifikation der UN Disability Convention vom 30.3.2007 und Auswirkung auf die Gesetze für so genannte psychisch Kranke am Beispiel der Zwangsunterbringung und Zwangsbehandlung nach dem PsychKG Berlin, Gutachterliche Stellungnahme, S. 30, abrufbar unter https://www.die-bpe.de/stellungnahme/stellungnahme.pdf (Letzter Aufruf: 1.7.2020). 192 Kaleck/Hilbrans/Scharmer, Ratifikation der UN Disability Convention vom 30.3.2007 und Auswirkung auf die Gesetze für so genannte psychisch Kranke am Beispiel der Zwangsunterbringung und Zwangsbehandlung nach dem PsychKG Berlin, Gutachterliche Stellungnahme, S. 33, abrufbar unter https://www.die-bpe.de/stellungnahme/stellungnahme.pdf (Letzter Aufruf: 1.7.2020). 193 CRPD, General Comment No. 1, CRPD/C/GC/1, Rn. 41 f. 194 So beispielsweise CRPD, Concluding observations on the initial report of New Zealand, CRPD/C/NZL/CO/1, Rn. 30; CRPD, Concluding observations on the initial report of Turkmenistan, CRPD/C/TKM/CO/1, Rn. 28; CRPD, Concluding observations on the initial report of Croatia, CRPD/C/HRV/CO/1, Rn. 23, 24, 27. 191

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3. Teil: Zulässigkeit und Grenzen einer Zwangsmaßnahme de lege lata

Deutschland postuliert der Ausschuss, sicherzustellen, dass psychiatrische Behandlungen immer mit der Zustimmung des Patienten erfolgen.195 Nach der derzeit wohl überwiegenden Ansicht sind Zwangsbehandlungen trotz der Ausführungen des UN-Behindertenrechtsausschusses hingegen in engen Grenzen zulässig.196 Die erforderliche Unterstützung wird anhand deren Nachhaltigkeit hergeleitet. So könne eine Zwangsbehandlung kurzzeitig eine „Ersetzung“ einer Entscheidung bedeuten, gleichwohl könne sie ebenso nachhaltig betrachtet eine „Unterstützung“ beinhalten, indem sie das Wohlergehen des Patienten fördert oder gar die Einwilligungsfähigkeit wiederherstellt.197 Es könne jedenfalls nach wohl herrschender Ansicht kaum gewollt sein, Schutzmaßnahmen vollständig zu untersagen und geistig Behinderten die Teilnahme am rechtlichen Leben gänzlich zu verwehren.198 Für die Zulässigkeit von Zwangsbehandlungen in besonderen Fällen spreche ferner eine systematische Betrachtung: Art. 12 Abs. 4 UN-BRK manifestiert die Voraussetzungen, unter denen die Handlungsfähigkeit von Menschen mit Behinderungen eingeschränkt werden darf.199 Der gesamte Abs. 4 wäre widersinnig, wenn ein Eingriff gerade nicht möglich wäre.200 Eine solche Lesart ist allerdings keineswegs zwingend: Art. 12 Abs. 4 UN-BRK bezieht sich auf den vorherigen Absatz und konkretisiert diesen, indem auf die Unterstützung selbst sowie auf alle Maßnahmen, die zum Zugang der Unterstützung angewendet werden, Bezug genommen wird.201 Es ist jedoch nicht ohne Weiteres ersichtlich, dass neben dem Modell der unterstützenden Entscheidungsfindung das Modell der ersetzenden Entscheidungsfindung etabliert werden sollte.202

195 CRPD, Concluding observations in the initial report of Germany, CRPD/C/DEU/CO/1, Rn. 38 b. 196 BVerfG, Beschl. v. 23.3.2011 @ 2 BvR 882/09 = BVerfGE 128, 282 (306 f.) = NJW 2011, 2113 (2115); BVerfG, Beschl. v. 26.7.2016 – 1 BvL 8/15 = BVerfGE 142, 313 (345) = NJW 2017, 53 (57); Aichele/v. Bernstorff, BtPrax 2010, 199 (203); v. Bernstorff, in: Heilung erzwingen, S. 32; Henking/Mittag, in: Zwangsbehandlung psychisch kranker Menschen, S. 34; Lachwitz, BtPrax 2008, 143 (148); Masuch/Gmati, NZS 2013, 521 (525 ff.); Marschner, in: Das Menschenrecht, S. 220 f.; ders., R&P 2011, 160 (161); Olzen/Uzunovik, Die Auswirkungen der UN-Behindertenrechtskonvention auf die Unterbringung und Zwangsbehandlung nach § 1906 BGB und §§ 10 ff. PsychKG NRW, Gutachten, 2009, S. 13, abrufbar unter: http://doc player.org/30689964-Die-auswirkungen-der-un-behindertenrechtskonvention-auf-die-unter bringung-und-zwangsbehandlung-nach-1906-bgb-und-10-ff.html (Letzter Aufruf: 1.7.2020); Schmahl, in: Zwangsbehandlung bei Selbstgefährdung, S. 52; dies., BtPrax 2016, 51 (54). 197 Masuch/Gmati, NZS 2013, 521 (525). 198 Schmahl, in: Zwangsbehandlung bei Selbstgefährdung, S. 46 f. 199 Schmahl, BtPrax 2016, 51 (52). 200 Schmahl, BtPrax 2016, 51 (54). 201 Tolmein, in: UN-Behindertenrechtskonvention, Art. 12 Rn. 10. 202 Tolmein, in: UN-Behindertenrechtskonvention, Art. 12 Rn. 11.

B. Zwangsmaßnahmen im Rahmen einer Unterbringung

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(1) Auslegung der UN-BRK Die bisherigen Erörterungen stellen den Rechtsanwender vor ein Dilemma: Weder eine Wortlautauslegung noch eine systematische Auslegung kann eindeutige Ergebnisse nach sich ziehen. Vielmehr lässt sich sowohl für als auch gegen die Zulässigkeit von Zwangsbehandlungen argumentieren. Gemäß Art. 31 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge ist ein völkerrechtlicher Vertrag nach Treu und Glauben in Übereinstimmung mit der gewöhnlichen, seinen Bestimmungen in ihrem Zusammenhang zukommenden Bedeutung und im Lichte seines Zieles und Zweckes auszulegen. Demgemäß kommt dem Gesamtzusammenhang der UN-BRK eine wesentliche Bedeutung zu.203 Die in Grenzen angenommene Zulässigkeit von Zwangsbehandlungen könnte sich aus einer solchen Gesamtbetrachtung der UN-BRK – speziell der Einbeziehung weiterer Rechte – ergeben.204 Diesbezüglich ist zu berücksichtigen, dass eine Menschenrechtsverletzung ebenfalls aus der fehlenden Beachtung von Schutzpflichten resultieren kann.205 Für den Bereich der medizinischen Behandlungen ergeben sich konkrete Schutzpflichten für die Gesundheit und das Leben eines Menschen aus Art. 10 und Art. 17 UN-BRK.206 Die ausschließliche Besinnung auf Art. 12 UNBRK beachtet nicht das Zusammenspiel aus Abwehrrechten und Schutzpflichten.207 Schwab konstatiert daher zutreffend, dass durch den Wegfall von ersetzenden Entscheidungen ein wichtiges Instrument des Erwachsenenschutzes wegfallen würde, bei dem es zweifelhaft wäre, ob dieser Verlust durch unterstützende Maßnahmen aufgewogen werden könnte.208 Alle Rechte der UN-BRK – sowohl in ihrer abwehrrechtlichen als auch in ihrer schutzrechtlichen Dimension – müssen daher in einen schonenden Ausgleich gebracht werden.209 Wenn eine ärztliche Maßnahme gegen den Willen eines Patienten unter keinen Umständen rechtlich zulässig wäre, so würde dies zu einer Verletzung von Art. 10 und Art. 17 UN-BRK führen.210 Die Historie – speziell die vorbereitenden Arbeiten und die Umstände des Vertragsabschlusses –, die gemäß Art. 32 Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge ergänzend herangezogen werden kann, unterstützt ein solches Ergebnis. Bei den Verhandlungen der UN-BRK wurde thematisiert, dass die Nichtbehandlung einwilligungsunfähiger Menschen mit Behinderungen, die dringend medizinische Behandlung brauchen, eine Menschenrechtsverletzung darstelle.211 Damit würde 203

Masuch/Gmati, NZS 2013, 521 (526). Marschner, in: Das Menschenrecht, S. 222. 205 Rothfritz, Die Konvention der Vereinten Nationen, S. 267. 206 Rothfritz, Die Konvention der Vereinten Nationen, S. 268. 207 Schmahl, BtPrax 2016, 51 (54). 208 Schwab, in: Münchener Kommentar BGB, Vorb. 1896 Rn. 35. 209 Henking/Mittag, in: Zwangsbehandlung psychisch kranker Menschen, S. 34. 210 Lachwitz, BtPrax 2008, 143 (148). 211 Degener, Vereinte Nationen 2006, 104 (108); Masuch/Gmati, NZS 2013, 521 (526); Schmahl, in: Zwangsbehandlung bei Selbstgefährdung, S. 52. 204

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3. Teil: Zulässigkeit und Grenzen einer Zwangsmaßnahme de lege lata

auch der Entstehungsprozess die Annahme der Rechtmäßigkeit von Zwangsbehandlungen festigen. (2) Handlungsbedarf für das deutsche Rechtssystem? Auch das Bundesverfassungsgericht hat entgegen den Ausführungen des Ausschusses zur Auslegung der UN-BRK an der Zulässigkeit von Zwangsbehandlungen festgehalten.212 Dies ist insbesondere damit begründet worden, dass sich der Ausschuss nicht explizit auf den Umgang mit Betroffenen bezog, die einen freien Willen nicht bilden können.213 Trotz der Stellungnahmen des UN-Behindertenrechtsausschusses, der eine andere Richtung eingeschlagen hatte, hat das Bundesverfassungsgericht damit nicht zwangsläufig völkerrechtswidrig agiert, da ein nationales Gericht bei Auslegung der UN-BRK nicht an die Ausführungen des Behindertenrechtsausschusses gebunden ist: Dem Ausschuss ist kein Mandat zur verbindlichen Interpretation des Vertragstextes übertragen worden.214 Wie die obigen Ausführungen deutlich machen, ist eine Auslegung, nach der Zwangsbehandlungen unzulässig sein sollen, keineswegs zwingend. Und selbst wenn der Ausschuss tatsächlich annähme, dass eine Zwangsbehandlung unter keinen Umständen mit der UN-BRK vereinbar wäre, so könnte dennoch erwogen werden, ob ein solches Ergebnis wesentlichen Verfassungsprinzipien widerspricht. Zwar präferiert das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich eine völkerrechtsfreundliche Auslegung des Grundgesetzes, die Grenzen einer solchen ergeben sich hingegen aus dem Grundgesetz.215 Die Möglichkeit einer konventionsfreundlichen Auslegung endet dort, wo diese nach den anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung und Verfassungsinterpretation nicht mehr vertretbar erscheint.216 Das ausnahmslose Verbot von Zwangsbehandlungen könnte mit Verweis auf die Schutzpflichtenlehre unvereinbar mit dem Grundgesetz sein und könnte das Bundesverfassungsgericht daher in seinem Vorgehen ermutigen, den Ausführungen des UN-Behindertenrechtsausschusses nicht zu folgen. Dem Bundesverfassungsgericht ist im Ergebnis nicht nur in Bezug auf die vertretbare Auslegung der UN-BRK zuzustimmen, sondern es mag darüber hinaus wohl auch dem ersten Rechtsempfinden entsprechen, auf Zwang zum Schutz von ein212

(57). 213

(58).

BVerfG, Beschl. v. 26.7.2016 – 1 BvL 8/15 = BVerfGE 142, 313 (345) = NJW 2017, 53 BVerfG, Beschl. v. 26.7.2016 – 1 BvL 8/15 = BVerfGE 142, 313 (347) = NJW 2017, 53

214 BVerfG, Beschl. v. 26.7.2016 – 1 BvL 8/15 = BVerfGE 142, 313 (346 f.) = NJW 2017, 53 (58). 215 BVerfG, Beschl.v. 14.10.2004 – 2 BvR 1481/04 = BVerfGE 111, 307 (329); BVerfG, Urt. v. 4.5.2011 @ 2 BvR 2365/09, 740/10, 2333/08, 1152/10, 571/10 = BVerfGE 128, 326 (371); BVerfG, Urt. v. 12.6.2018 – 2 BvR 1738/12, 2 BvR 1395/13, 2 BvR 1068/14, 2 BvR 646/ 15 = EuZW 2018, 637 (642). 216 BVerfG, Urt. v. 12.6.2018 – 2 BvR 1738/12, 2 BvR 1395/13, 2 BvR 1068/14, 2 BvR 646/ 15 = EuZW 2018, 637 (642).

B. Zwangsmaßnahmen im Rahmen einer Unterbringung

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willigungsunfähigen Patienten nicht gänzlich zu verzichten. Aber ist ein solches Empfinden insbesondere im Hinblick auf die UN-BRK noch zeitgemäß? Ist es aufgrund eines Perspektivenwechsels gar Zeit für eine „kopernikanische Wende“? Wäre der Verzicht auf Zwang in der Praxis überhaupt umsetzbar?217 Die Niederlande haben diesen Versuch gewagt und von 1994 bis 2006 auf medizinische Zwangsbehandlungen verzichtet.218 Das Resultat waren besonders häufige Patientenübergriffe und gemessen an einem europäischen Vergleich die längste Dauer von Isolierungen.219 Eine ähnliche Beobachtung wurde ebenfalls 2012 in Baden-Württemberg gemacht: Nachdem das Bundesverfassungsgericht die Regelungen des Maßregelvollzugs für verfassungswidrig erklärt hatte, fehlte es bis zum Inkrafttreten einer neuen Regelung an einer verfassungsgemäßen Grundlage für die Durchführung von Zwangsbehandlungen.220 In dieser Zeit nahmen aggressive Übergriffe von Seiten der Patienten und damit einhergehend freiheitsbeschränkende Zwangsmaßnahmen zu.221 Allerdings betraf dies nur eine relativ geringe Anzahl der Patienten.222 Die Aufgabe von Zwangsmedikation kann mithin zu einer Erhöhung von freiheitsentziehenden Maßnahmen gegen den Willen eines Menschen führen, sodass sich wohl nicht gänzlich auf Zwang verzichten lässt.223 Im Ergebnis sollten die Ausführungen des UN-Behindertenrechtsausschusses zumindest zu einem Umdenken anregen. Auch wenn Zwang in der Psychiatrie wohl nicht gänzlich hinwegzudenken ist, so ist die wesentliche Intention der UN-BRK durch die Manifestation von Art. 12 UN-BRK deutlich geworden: Anstatt Entscheidungen zu ersetzen, sollen Menschen mit Behinderungen vielmehr unterstützt werden. Ihr Wille darf nicht in der Form an Bedeutung verlieren, dass aufgrund einer Behinderung pauschal-typisierend darauf geschlossen wird, rechtlich nicht handeln zu können.224 Die Bemerkungen des Ausschusses sollten die Gesetzgebung sowie die Rechtsanwender demgemäß sensibilisieren: Der Schutz des Menschen muss in Einklang mit seiner Autonomie gebracht werden. Die Zulässigkeit von Zwang sollte daher auf ein Minimum und insbesondere auf Notsituationen wie beispielsweise eine Le217

Hierfür plädieren insbesondere Lehmann/Stastny, in: Statt Psychiatrie, S. 425. Flammer/Steinert, Psychiat Prax 2015, 260 (265). 219 Steinert/Vollmann, in: Ethik in der Psychiatrie, S. 68. 220 Diesbezüglich ist anzumerken, dass vom Bundesverfassungsgericht die Inanspruchnahme einer defizitären Ermächtigungsgrundlage für einen Übergangzeitraum anerkannt ist, wenn ansonsten ein Zustand entstehen würde, der der verfassungsmäßigen Ordnung noch ferner stünde als die vorübergehende Hinnahme materiell rechtfertigungsfähiger, gesetzlich aber nicht ausreichend legitimierter Eingriffe: BVerfG, Beschl. v. 8.11.2012 – 1 BvR 22/12 = DÖV 2013, 198. 221 Flammer/Steinert, Psychiat Prax 2015, 260 (264). 222 Steinert, in: Verantwortung und Zurechnung, S. 184. 223 Steinert/Vollmann, in: Ethik in der Psychiatrie, S. 69; a. A. Lehmann, R&P 2015, 20 (29). 224 Keys, in: Della Fina/Cera/Palmisano, The United Nations Conventions, S. 268. 218

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3. Teil: Zulässigkeit und Grenzen einer Zwangsmaßnahme de lege lata

bensgefahr reduziert werden.225 In diesem Zusammenhang sind aber speziell die Maßregelvollzugsgesetze kritisch zu würdigen, die eine Zwangsbehandlung zur Behandlung der Anlasserkrankung zulassen. Die Alternative sollte keineswegs lauten, auf Heilbehandlungen zu verzichten und die Gesundheit des Patienten seinem Schicksal zu überlassen, sofern dieser eine ärztliche Maßnahme ablehnt. Vielmehr liegt der Gegenvorschlag darin, sich hinreichend mit den Patienten auseinanderzusetzen, um diesen von der notwendigen Behandlung zu überzeugen, und somit nur in Notsituationen Zwang anzuwenden. Der richtige Weg wurde vom Bundesverfassungsgericht bereits beschritten, indem es für die erheblichen Grundrechtseingriffe, die mit einer Zwangsbehandlung korrelieren, sensibilisierte.226 Das Ziel des Wegs wurde jedoch noch nicht erreicht: Zwangsbehandlungen müssen im Sinne eines hinreichenden Grund- und Menschenrechtsschutzes auf ein Minimum reduziert werden, sodass eine stärkere Eingrenzung der rechtfertigenden Gründe stattfinden sollte. bb) Bewertung der Voraussetzungen einer Zwangsbehandlung Die Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts können ferner dahingehend kritisiert werden, dass der Schutz auch in anderen Bereichen noch verstärkt werden könnte. Beispielsweise besteht bei dem Überzeugungsversuch die Gefahr, dass der Patient überredet und nicht überzeugt wird.227 Dieses Risiko könnte durch die Einbeziehung eines Betreuers minimiert werden, da in diesem Fall die „übermächtige Institution“ der Unterbringungseinrichtung nicht mehr einem einzelnen „untüchtigen Patienten“ gegenüber stünde.228 Dadurch gäbe es die Chance, in deutlich mehr Fällen Patienten mit dem gebotenen Zeitaufwand zu überzeugen. Trotz der Kritik sind die zahlreichen materiellen sowie verfahrensrechtlichen Voraussetzungen, die das Bundesverfassungsgericht an die Rechtmäßigkeit einer Zwangsbehandlung knüpft, äußerst begrüßenswert. Man könnte demzufolge meinen, die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts führten zu einem Aufatmen der Ärzteschaft, denn immerhin profitieren sie von der neu geschaffenen rechtlichen Transparenz, die den klaren und bestimmten Leitlinien zu verdanken ist. Dennoch lassen sich überraschender Weise kritische Worte finden: „Der Forensischen Psychiatrie und Psychotherapie wird die Behandlung einer Patientengruppe untersagt, die gerade am meisten davon profitieren könnte, stattdessen wird ihr aufgetragen, nur noch einen Sicherungsauftrag zu erfüllen.“229

225

Marschner, in: Das Menschenrecht, S. 226. Steinert, in: Verantwortung und Zurechnung, S. 189. 227 Volckart/Grünebaum, Maßregelvollzug, III. Teil Rn. 426. 228 Ebenda. 229 Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde vom 16.1.2012. 226

B. Zwangsmaßnahmen im Rahmen einer Unterbringung

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Wer beispielsweise glaubt, das Bundesverfassungsgericht habe die Heilbehandlung untersagt, der hat sich schlichtweg nicht gebührend mit den einschlägigen Beschlüssen auseinandergesetzt. Die Behandlung von untergebrachten Patienten bleibt weiterhin möglich, ihre Zulässigkeit hängt lediglich von spezifischen Prämissen ab. Dies ist dringend erforderlich, um die Grundrechte von psychisch Kranken zu schützen, da mit jeder Zwangsbehandlung zugleich ein erheblicher Eingriff in das Recht auf freie Selbstbestimmung und körperliche Unversehrtheit gemäß Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG einhergeht. Bei einem solch schwerwiegenden Eingriff müssen zum Schutz des Überschreitens verfassungsrechtlicher Schranken hinreichend bestimmte Leitlinien aufgestellt werden. Kritisiert wurde zudem der Umstand, wonach manche der vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten Voraussetzungen – wie beispielsweise das Bemühen um einen Konsens – überflüssig seien: „Außerdem ist die Forderung perplex: Wenn aufgrund sachverständiger Beurteilung feststeht, dass die betroffene Person auf Grund einer psychischen Krankheit oder einer geistigen oder seelischen Behinderung nicht erkennen kann, dass die ärztliche Maßnahme notwendig ist, oder dass sie nicht nach dieser Einsicht handeln kann – […] -, dann muss nicht mehr nach Konsens gestrebt werden.“230

In dieser Aussage vereint sich nicht nur eine fehlende Rücksichtnahme auf verfassungsrechtlich gebotene Grundsätze, sondern darüber hinaus ein mangelnder Respekt vor den Grundrechten eines psychisch kranken Menschen. Die Notwendigkeit des Strebens nach einer Zustimmung des einwilligungsunfähigen Patienten entpuppt sich nicht nur als „schöner Wahn“231, sondern dient der Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Stimmt der Patient der Maßnahme zu, so entfällt der Zwangscharakter. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gebietet demzufolge, die Möglichkeit der weniger eingreifenden Maßnahmen wahrzunehmen. Letztendlich verlangen auch Aspekte der Menschenwürde, die Wünsche eines psychisch kranken Menschen nicht ohne jegliche Kommunikation zu übergehen. Für die betroffenen Patienten stellen die Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts insbesondere aufgrund der Sensibilisierung für den erheblichen Grad des Grundrechtseingriffs in der Gesamtschau einen erheblichen Fortschritt dar.232 Dass der Applaus der Ärzte aus der Psychiatrie und Psychotherapie zum Teil aufgrund des damit einhergehenden erhöhten Aufwandes verhalten ausfällt, erscheint nicht erstaunlich. Dieser Aufwand ist den Medizinern im Hinblick auf die schwerwiegenden Grundrechtseingriffe, die einer Zwangsbehandlung immanent sind, allerdings durchaus zuzumuten.

230 231 232

Schmidt-Recla, MedR 2013, 567 (568). Ebenda. Steinert, in: Verantwortung und Zurechnung, S. 189.

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3. Teil: Zulässigkeit und Grenzen einer Zwangsmaßnahme de lege lata

b) Praktische Würdigung Unabhängig von der rechtlichen Auswertung ruft die praktische Umsetzung der Beschlüsse Schwierigkeiten hervor: So ist bereits die Feststellung der Einwilligungsfähigkeit, die zur Durchführung einer Behandlung gegen den Willen eines Patienten bestehen muss, bei dem Vorliegen von psychischen Krankheiten keineswegs einfach.233 Ferner öffnet der unbestimmte Begriff der Einwilligungsfähigkeit das Einfallstor, um die Zulässigkeit von Zwangsbehandlungen in unerträglichem Maße auszuweiten, indem Menschen mit psychischen Erkrankungen vorschnell als einwilligungsunfähig angesehen werden und ihnen pauschal-typisierend ihre Rechte genommen werden.234 Dies bestätigt eine Studie, nach der mehrere Leiter forensischer Kliniken angaben, die Einwilligungsunfähigkeit zum Teil allein von der fehlenden Einsicht in die Notwendigkeit einer Behandlung abhängig zu machen.235 Es fließt in die Entscheidung mithin nicht ein, dass Patienten auch bei einer Ablehnung von indizierten Maßnahmen durchaus einwilligungsfähig sein können.236 Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts stellt die Erreichung des Vollzugszieles und das Freiheitsinteresse des Patienten einen rechtfertigenden Grund für die Durchführung der Zwangsbehandlung dar.237 Dies ist nicht nur im Hinblick auf die UN-BRK kritisch zu würdigen, sondern dieser Zweck wird mit der Verknüpfung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nicht dem Spezifikum des Maßregelvollzugs gerecht. Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit ist nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts, dass es sich bei der Zwangsbehandlung um eine erfolgversprechende Maßnahme handelt.238 Es kann jedoch bereits bezweifelt werden, ob die Behandlung mit Zwang dazu geeignet sein kann, die Entlassungsfähigkeit eines Untergebrachten herzustellen.239 Diesbezügliche Zweifel sind darauf zurückzuführen, dass die im Maßregelvollzug Untergebrachten meist mehrere Problembereiche aufweisen.240 Sie leiden oft nicht nur unter einer psychischen Erkrankung, sondern darüber hinaus an einer spezifischen Aggressionsproblematik.241 Selbst wenn sich die psychische Störung behandeln lässt und sich verbessert, bleiben oft dissoziale Verhaltensstile zurück.242 Im Fokus der Behandlung im Maßregelvollzug steht daher nicht nur die 233

Lehmann, R&P 2015, 20 (28). Auf die Gefahr der vorschnellen Annahme der Einsichtsunfähigkeit weist ebenso Schmahl hin: Schmahl, in: Zwangsbehandlung bei Selbstgefährdung, S. 53. 235 Jakovljevic´/Wiesemann, Der Nervenarzt 2016, 780 (781). 236 Ebenda. 237 BVerfG, Beschl. v. 23.3.2011 @ 2 BvR 882/09 = BVerfGE 128, 282 (304) = NJW 2011, 2113 (2115). 238 BVerfG, Beschl. v. 23.3.2011 @ 2 BvR 882/09 = BVerfGE 128, 282 (309) = NJW 2011, 2113 (2116). 239 Rinke, NStZ 1988, 10 (11). 240 Wendt, in: Irren ist menschlich, S. 543. 241 Ebenda. 242 Wendt, in: Irren ist menschlich, S. 544. 234

B. Zwangsmaßnahmen im Rahmen einer Unterbringung

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Medikation, sondern auch die Psychotherapie.243 Diese Therapieform ist hingegen auf die Mitarbeit des Patienten angewiesen.244 Die Wirksamkeit der Therapie hängt unter anderem von der Tragfähigkeit der therapeutischen Beziehung und der Verlässlichkeit aller Mitarbeiter ab.245 Das Vertrauensverhältnis wird jedoch durch die Anwendung von Zwang mehr gestört als gestärkt.246 Ob ein Untergebrachter nach einer medikamentösen Zwangsbehandlung die Bereitschaft besitzt, an einer Psychotherapie mitzuwirken, bleibt ungewiss. Es mag wohl eher der Idealvorstellung entsprechen, dass Patienten nach einer Zwangsbehandlung dankbar für diese sind.247 Laut Steinert akzeptiert nur ein Drittel der Patienten eine Zwangsbehandlung im Nachhinein.248 Anders stellt sich hingegen das Rechtsempfinden häufig bei Patienten dar, die unter Schizophrenie leiden und gute Erinnerungen an den erlebten Zwang aufweisen.249 In der Gesamtschau erscheint es folglich fragwürdig, ob die Anwendung von Zwang tatsächlich zu einer Entlassungsfähigkeit des Patienten führen kann. Auch die Wahl des milderen Mittels kann in der Praxis im Hinblick auf die Bestimmung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes Probleme hervorrufen: Vielfach wird in der Literatur zudem unzutreffend vertreten, dass die Anwendung von Fixierungen oder Isolierung ein im Vergleich zur medizinischen Zwangsmaßnahme milderes Mittel darstellt. Welche Maßnahme weniger intensiv ist, empfindet jedoch jeder Patient anders.250 Daher sollte der Fehler vermieden werden, pauschal-typisierend von einer subjektiv geringeren Belastung bei Fixierungen und Isolation auszugehen.251 Es wird stattdessen empfohlen, den Patienten die jeweilige Alternative anzubieten, um diese stärker in den Prozess zu integrieren.252 Die Beschlüsse rufen darüber hinaus in Bezug auf die Voraussetzung der Verhältnismäßigkeit Interpretationsspielräume hervor, die praktische Entscheidungsprobleme nach sich ziehen. Um die Entlassungsfähigkeit eines Patienten zu erreichen, werden bei Zwangsbehandlungen, sofern eine psychische Erkrankung vorliegt, oft Psychopharmaka eingesetzt. Deren Nebenwirkungen sind insbesondere bei einer längeren Einnahme nicht unumstritten. Speziell die Vergabe von Neuroleptika, welche im Maßregelvollzug aufgrund der hohen Anzahl an schizophrenen Patienten oft zum Einsatz kommt,253 gerät seit Jahrzehnten in den Fokus der Kritik. So wird beispielsweise eine Gefahr schädlicher Auswirkungen auf die Hirnstruktur vermu243 244 245 246 247 248 249 250 251 252 253

Wendt, in: Irren ist menschlich, S. 554. Rinke, NStZ 1988, 10 (11). Wendt, in: Irren ist menschlich, S. 556. Steinert, in: Verantwortung und Zurechnung, S. 183. Steinert, in: Verantwortung und Zurechnung, S. 185. Steinert, in: Verantwortung und Zurechnung, S. 186. Steinert, in: Verantwortung und Zurechnung, S. 185. Flammer/Steinert, Psychiat Prax 2015, 260 (265). Ebenda. Steinert/Vollmann, in: Ethik in der Psychiatrie, S. 69 f. Wendt, in: Irren ist menschlich, S. 543.

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3. Teil: Zulässigkeit und Grenzen einer Zwangsmaßnahme de lege lata

tet.254 Auch die sog. atypischen Neuroleptika stehen unter Verdacht, erhebliche Nebenwirkungen wie Herz-Kreislauf-Störungen, Blutbildschäden, Diabetes und Rezeptorenveränderungen, die zu chronischen Psychosen führen können, hervorzurufen.255 Zudem besteht bei längerer Einnahme die Gefahr der Abhängigkeit.256 Lehmann ist daher der Überzeugung, dass man bei strikter Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes für die Verbannung von Neuroleptika aus dem „Arsenal psychiatrischer Zwangsmittel“ plädieren müsse.257 Allerdings kann bezüglich Unsicherheiten in Bezug auf die Auslegung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nicht dem Bundesverfassungsgericht ein Vorwurf gemacht werden:258 Vielmehr ist es Aufgabe von empirischen Untersuchungen, die Intensität von Nebenwirkungen näher zu erforschen, um diese Erkenntnisse in die Bestimmung der Verhältnismäßigkeit einfließen zu lassen. Unabhängig von den Nebenwirkungen von Psychopharmaka sollte erforscht werden, inwiefern diese überhaupt geeignet sind, die Anlasserkrankungen zu heilen.259 In der Praxis sind zahlreiche Fälle zu verzeichnen, in denen Neuroleptika gegen Symptome wie beispielsweise Halluzinationen und Wahn keine Wirkung zeigten.260 Es würde sich als zutiefst unverhältnismäßig erweisen, wenn ein Patient mit Medikamenten behandelt wird, die erhebliche Nebenwirkungen hervorrufen können, und bei der Behandlung nur die vage Aussicht besteht, dass sich diese positiv auf seine Gesundheit auswirken. Ferner wäre es im Hinblick auf die Bestimmung der Verhältnismäßigkeit begrüßenswert gewesen, wenn das Bundesverfassungsgericht hinsichtlich der Güterabwägung auch dafür sensibilisiert hätte, dass sich bereits die Anwendung von Zwang unterschiedlich auf die einzelnen Patienten auswirken kann.261 Im schlimmsten Fall kann diese als höchst traumatisierend empfunden werden. Rufer vergleicht den Traumatisierungsgrad beispielsweise mit dem Grad, der nach Folter und Vergewaltigung entsteht.262 Dies erscheint nicht verwunderlich, wenn man be-

254

Steinert/Vollmann, in: Ethik in der Psychiatrie, S. 66 f. Lehmann/Stastny, in: Statt Psychiatrie, S. 422. Ausführlich zu den Nebenwirkungen: Lehmann, in: Neue Antidepressiva, S. 61 ff. 256 Gonther, in: Irren ist menschlich, S. 272. 257 Lehmann, R&P 2015, 20 (23). 258 Zudem ging das Bundesverfassungsgericht explizit darauf ein, dass es sich bei der Vergabe von Neuroleptika aufgrund der erheblichen Nebenwirkungen um einen besonders schweren Grundrechtseingriff handelt: BVerfG, Beschl. v. 23.3.2011 @ 2 BvR 882/09 = BVerfGE 128, 282 (302 f.) = NJW 2011, 2113 (2114). 259 Die heilende Wirkung ist in der Literatur nicht unumstritten: Lehmann, R&P 2015, 20 (26); Rufer, in: Statt Psychiatrie, S. 404. 260 Gonther, in: Irren ist menschlich, S. 271. 261 Steinert/Vollmann, in: Ethik in der Psychiatrie, S. 69. 262 Rufer, in: Statt Psychiatrie, S. 404. 255

B. Zwangsmaßnahmen im Rahmen einer Unterbringung

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denkt, dass ein physischer Widerstand in der Praxis zum Teil mit mehreren Pflegern gebrochen werden muss, die hierbei erhebliche Gewalt aufwenden.263 Besonders bedenklich ist eine Zwangsbehandlung in der Kombination mit der Verabreichung von Neuroleptika, da die durch Zwang hervorgerufene Traumatisierung aufgrund der durch die Medikamentengabe beeinträchtigten Gefühlswahrnehmung schwerer verarbeitet werden kann.264 Eine solche Verknüpfung von Zwang mit Neuroleptika ist jedoch im Maßregelvollzug nicht selten anzutreffen. Ein Arzt sollte daher – speziell wenn es sich aus der Krankenakte aufgrund bereits vollzogener Zwangsbehandlungen ergibt – bei der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit einbeziehen, wie der jeweilige Patient auf Zwang reagiert und welche psychischen Auswirkungen die Zwangsbehandlung hervorrufen könnte.265 Diesbezüglich sind jedoch auch weitergehende empirische Forschungen erforderlich, die darlegen, wie schwerwiegend sich medizinische Zwangsbehandlungen tatsächlich auf die Psyche des Menschen auswirken. Bereits im Jahr 2013 mahnte das Deutsche Institut für Menschenrechte an, dass Zwangsbehandlungen nicht hinreichend erforscht seien.266 Bei der medizinischen Zwangsbehandlung handelt es sich um ein Musterbeispiel der interdisziplinären Forschung: Man kann nur beurteilen, was rechtlich zulässig sein oder gar vermieden werden soll, wenn bekannt ist, worum es sich hierbei eigentlich handelt. Die rechtliche Zulässigkeit – insbesondere die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes – kann nur bedacht werden, wenn aufgrund ausreichender Studien bekannt ist, wie sich eine Behandlung gegen den Willen eines Patienten auf dessen Gesundheit auswirkt. In der Gesamtschau sind die Beschlüsse insbesondere aufgrund der Sensibilisierung für den erheblichen Grad des Grundrechtseingriffs, der mit einer Zwangsbehandlung einhergeht, durchaus begrüßenswert.267 Und doch lässt die Zulässigkeit von Zwang in einem derart grundrechtlich relevanten Bereich, der noch dazu mit vielen noch nicht hinreichend erforschten Unsicherheiten einhergeht, einen bitteren Beigeschmack zurück. Es ist im Wesentlichen Aufgabe der behandelnden Ärzte aus der Psychiatrie und Psychotherapie, dass die Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts nicht zu leeren Floskeln verkommen, sondern den Grundrechten der betroffenen Patienten durch eine gewissenhafte Umsetzung der vom Bundesverfassungsgericht gefassten Grundsätze Beachtung zu schenken.

263

Rufer, in: Statt Psychiatrie, S. 404. Rufer, in: Statt Psychiatrie, S. 405 f. 265 Marschner, in: Das Menschenrecht, S. 224. 266 Deutsches Institut für Menschenrechte, Empfehlungen der Monitoring-Stelle zur UNBehindertenrechtskonvention anlässlich der Bundestagswahl 2013, S. 5, abrufbar unter: https:// www.institut-fuer-menschenrechte.de/fileadmin/user_upload/PDF-Dateien/Ergebnispapiere_Zu sammenfassungen_Hintergrundpapiere/Hintergrundpapier_Mehr_Mut_mehr_Entschlossen heit_Empfehlungen_zur_BTWahl_2013.pdf (Letzter Aufruf: 1.7.2020). 267 Steinert, in: Verantwortung und Zurechnung, S. 189. 264

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3. Teil: Zulässigkeit und Grenzen einer Zwangsmaßnahme de lege lata

Die Rechtswissenschaft sollte hingegen einen weiteren Diskurs zu der Problematik anstreben, ob durch die Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts ein hinreichender Schutz erreicht worden ist. Nach hier vertretener Auffassung sollten die rechtfertigenden Gründe für die Anwendung von Zwang auf ein Minimum – konkret auf Notsituationen wie beispielsweise eine schwerwiegende Gesundheits- oder Lebensgefahr – reduziert werden. 3. Umsetzung in den Bundesländern Nachdem den Gesetzgebern in Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg und Sachsen der Regelungsbedarf hinsichtlich der jeweiligen Maßregelvollzugsgesetze vor Augen geführt worden ist, stellt sich die Frage, wie andere Bundesländer auf die Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts reagiert haben. Vorweggenommen werden kann bereits die Tatsache, dass die vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten Rahmenbedingungen in vielen Bundesländern punktgenau umgesetzt worden sind.268 a) Zwangsbehandlung zum Schutz Dritter aa) Einzelne Regelungen Einige Bundesländer haben allerdings darüber hinaus die Befugnis eingeführt, eine ärztliche Zwangsbehandlung nicht nur zur Erreichung des Vollzugszieles, sondern daneben bei einer Gefahr für Dritte vorzunehmen.269 Dies könnte zu verfassungsrechtlichen Spannungen führen, weil das Bundesverfassungsgericht 2011 explizit festgestellt hat, dass der Schutz Dritter vor möglichen Straftaten keinen rechtfertigenden Belang darstellt.270 Inwiefern die medizinische Zwangsbehandlung im Rahmen des Maßregelvollzugs zu anderen Zwecken als zur Erreichung des Vollzugsziels zulässig sein kann, hat das Bundesverfassungsgericht 2013 aus-

268 Dies ist beispielsweise in Berlin gemäß § 57 PsychKG Bln, in Sachsen gemäß § 22 SächsPsychKG und in Schleswig-Holstein gemäß § 5 Abs. 6, Abs. 7 MVollzG SH der Fall. Ausgenommen hiervon sind bisher noch Saarland (§ 9 SaarlMRVG) und Sachsen-Anhalt (§ 8 MVollzG LSA). 269 In Baden-Württemberg (§ 20 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 BadWürttPsychKG), Bayern (Art. 6 Abs. 3 Nr. 3 BayMRVG), Bremen (§ 22 Abs. 4 Nr. 1 BremPsychKG), Hamburg (§ 11 Abs. 3 HmbMVollzG), Hessen (§ 7 a Abs. 2 HessMVollzG), Mecklenburg-Vorpommern (§ 26 Abs. 1 Nr. 2 MVPsychKG), Niedersachsen (§ 8 b Abs. 2 Nds. MVollzG), Nordrhein-Westfalen (§ 17 a Abs. 1 S. 1 MRVG NRW), Rheinland-Pfalz (§ 15 Abs. 4 S. 1 Nr. 2 RhPfMVollzG) und Thüringen (§ 29 Abs. 2 Nr. 2 b) ThürMRVG) wird eine Zwangsbehandlung zum Schutz anderer Personen für zulässig erachtet. 270 BVerfG, Beschl. v. 23.3.2011 @ 2 BvR 882/09 = BVerfGE 128, 282 (303 f.) = NJW 2011, 2113 (2115).

B. Zwangsmaßnahmen im Rahmen einer Unterbringung

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drücklich als fraglich angesehen,271 diesbezüglich jedoch keine konkreten Leitgedanken entwickelt. Es ist somit umstritten, ob Regelungen, welche eine Zwangsbehandlung zum Schutz Dritter ermöglichen, den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügen. bb) Verfassungsmäßigkeit Zum Teil wird die Rechtmäßigkeit solcher Normen mit Verweis auf die Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts verneint.272 Allerdings hat das Bundesverfassungsgericht lediglich betont, dass der Schutz Dritter vor möglichen Straftaten, die der Untergebrachte im Falle seiner Entlassung begehen könnte, keinen rechtfertigenden Belang darstellt.273 Dies gebietet das Erfordernis der Verhältnismäßigkeit, da ein solcher Schutz bereits gewährleistet ist, wenn der Untergebrachte unbehandelt im Maßregelvollzug verbleibt.274 Anders könnte die Rechtslage zu bewerten sein, wenn der Gesetzgeber den Schutz von Dritten bezweckt, die sich in der Unterbringung aufhalten.275 Greift ein Untergebrachter beispielsweise einen anderen Patienten oder das Personal an, so kann im Notfall eine medizinische Behandlung in Form einer kurzfristigen Sedierung vonnöten sein, sofern der Versuch einer körperlichen Fixierung scheitert.276 Das pauschale Verbot einer Zwangsbehandlung zum Schutz Dritter wird daher so falsch sein wie eine generalisierende Erlaubnis. Auch eine medizinische Maßnahme gegen den Willen eines Patienten zum Schutz anderer Menschen muss zulässig sein. Dies verlangt bereits die Schutzpflicht des Staates gemäß Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG,277 da dem Staat die Aufgabe obliegt, besonders wichtige Rechtsgüter vor Angriffen Dritter zu schützen.278 Weil der Schutz des Lebens schwerer wiegt als ein Eingriff in die körperliche Unversehrtheit oder das Selbstbestimmungsrecht eines Menschen,

271 BVerfG, Beschl. v. 20.2.2013 – 2 BvR 228/12 = BVerfGE 133, 112 (133) = NJW 2013, 2337 (2338). 272 Dodegge, NJW 2012, 3694 (3697); Stellungnahme des BGT e.V. zum Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Niedersächsischen Gesetzes über Hilfen und Schutzmaßnahmen für psychisch Kranke. 273 BVerfG, Beschl. v. 23.3.2011 @ 2 BvR 882/09 = BVerfGE 128, 282 (303 f.) = NJW 2011, 2113 (2115). 274 Ebenda. 275 Dodegge/Zimmermann, PsychKG NRW, § 18 Rn. 5; Volckart/Grünebaum, Maßregelvollzug, III. Teil Rn. 429. 276 Hierbei wäre allerdings streitig, ob die Medikamentenvergabe zum Zwecke der Ruhigstellung mit der ärztlichen Berufsordnung vereinbar ist: Steinert, in: Verantwortung und Zurechnung, S. 177 f. 277 Zur Herleitung von Schutzpflichten s. 3. Teil B. I. 278 V. Gemmeren, in: Münchener Kommentar StGB, § 61 Rn. 2.

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3. Teil: Zulässigkeit und Grenzen einer Zwangsmaßnahme de lege lata

könnte sich aus einer Güterabwägung die Zulässigkeit von ärztlichen Maßnahmen zum Schutz Dritter ergeben.279 Die Betonung sollte dann aber auf dem Wort „könnte“ liegen. An eine Zwangsbehandlung zum Schutz Dritter sind aufgrund des schwerwiegenden Eingriffs in das Selbstbestimmungsrecht und das Recht auf körperliche Unversehrtheit gemäß Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG hohe Anforderungen zu stellen. Im Wesentlichen kann hierbei auf die vom Bundesverfassungsgericht entwickelten allgemeinen Leitlinien verwiesen werden.280 Lediglich die Einwilligungsunfähigkeit des Patienten muss bei einer Fremdgefährdung nicht vorliegen.281 Zwar steht einem Menschen die „Freiheit zur Krankheit“282 zu, diese Freiheit erfährt allerdings Grenzen, sofern Gefahren für andere Menschen entstehen.283 Im Übrigen gelten hingegen die vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten materiellen und verfahrensrechtlichen Maßstäbe, sofern deren Einhaltung mit keiner Gefahr verbunden ist. Großen Wert hat das Bundesverfassungsgericht hierbei insbesondere auf die Bestimmtheit einer Norm gelegt. Eine Regelung, die eine Behandlung gegen den Willen eines Menschen zum Schutz Dritter zulässt, muss somit eine abschließende Konkretisierung des Zwecks beinhalten. Es ist Aufgabe des landesrechtlichen Gesetzgebers, den Anwendungsbereich einer Vorschrift nicht der Moralvorstellung der behandelnden Ärzte zu überlassen, sondern diesen hinreichend zu bestimmen. Diesen Anforderungen werden die derzeitigen landesrechtlichen Regelungen, die eine Zwangsbehandlung zum Schutz Dritter für zulässig erachten, jedoch nicht gerecht. Der bloße Verweis auf die Möglichkeit einer Zwangsbehandlung bei einer Gefahr für andere Personen genügt mangels hinreichender Bestimmtheit nicht den verfassungsrechtlichen Ansprüchen. Vielmehr ist der Anwendungsbereich derart weit gefasst, dass dieser auch den Schutz vor Straftaten im Falle der Entlassung einbezieht, was wiederum nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts aufgrund

279 Olzen/Uzunovik, Die Auswirkungen der UN-Behindertenrechtskonvention auf die Unterbringung und Zwangsbehandlung nach § 1906 BGB und §§ 10 ff. PsychKG NRW, Gutachten, 2009, S. 12, abrufbar unter: http://docplayer.org/30689964-Die-auswirkungen-der-unbehindertenrechtskonvention-auf-die-unterbringung-und-zwangsbehandlung-nach-1906-bgbund-10-ff.html (Letzter Aufruf: 1.7.2020). 280 BVerfG, Beschl. v. 23.3.2011 @ 2 BvR 882/09 = BVerfGE 128, 282 = NJW 2011, 2113; BVerfG, Beschl. v. 12.10.2011 @ 2 BvR 633/11 = BVerfGE 129, 269 = NJW 2011, 3571. 281 Olzen/Uzunovik, Die Auswirkungen der UN-Behindertenrechtskonvention auf die Unterbringung und Zwangsbehandlung nach § 1906 BGB und §§ 10 ff. PsychKG NRW, Gutachten, 2009, S. 12, abrufbar unter: http://docplayer.org/30689964-Die-auswirkungen-der-unbehindertenrechtskonvention-auf-die-unterbringung-und-zwangsbehandlung-nach-1906-bgbund-10-ff.html (Letzter Aufruf: 1.7.2020). Dies wird hingegen von Schöch kritisch gewürdigt: Schöch, GA 163 (2016), 553 (560). 282 BVerfG, Beschl. v. 7.10.1981 – 2 BvR 1194/80 = BVerfGE 58, 208 (226) = NJW 1982, 691 (693). 283 Mushoff, R&P 2008, 152 (153).

B. Zwangsmaßnahmen im Rahmen einer Unterbringung

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des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes keinen rechtfertigenden Zweck darstellen kann.284 Als wesentliche Konkretisierung wäre daher eine Beschränkung des zu schützenden Personenkreises auf Dritte innerhalb der Unterbringungseinrichtung geboten. Eine solche ist in zahlreichen Bundesländern285 nicht erfolgt. Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe erscheinen die landesrechtlichen Regelungen nicht hinreichend bestimmt, da sie die Zweckrichtung in Bezug auf den Schutz Dritter nicht abschließend konkretisieren. b) Zwangsbehandlung aufgrund einer Lebensgefahr In vielen Bundesländern sind weiterhin Regelungen eingeführt worden, die eine Zwangsbehandlung zur Abwendung einer Lebensgefahr des Patienten erlauben.286 aa) Gesetzgebungskompetenz Die Kompetenz der Länder für die Aufnahme einer solchen Norm ist insbesondere auf das Gefahrenabwehrrecht zurückzuführen.287 Es ist Aufgabe der Länder, die innere Sicherheit auch im Rahmen einer Unterbringung sicherzustellen.288 Hiervon ist ebenso der Schutz des Patienten selbst erfasst.289 Zweifel hinsichtlich der Gesetzgebungskompetenz könnten sich jedoch ergeben, wenn Bundesrecht – speziell § 1906 a BGB – umgangen wird. Das Betreuungsrecht gehört gemäß Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG aufgrund der Verortung im BGB zur konkurrierenden Gesetzgebung.290 Sofern der Bund von seinem Gesetzgebungsrecht Gebrauch macht, wird die Gesetzgebungszuständigkeit der Länder gemäß Art. 72 Abs. 1 GG 284 BVerfG, Beschl. v. 23.3.2011 @ 2 BvR 882/09 = BVerfGE 128, 282 (303 f.) = NJW 2011, 2113 (2115). 285 So beispielsweise Baden-Württemberg (§ 20 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 BadWürttPsychKG), Bremen (§ 22 Abs. 4 Nr. 1 BremPsychKG), Hamburg (§ 11 Abs. 3 S. 1 HmbMVollzG), Hessen (§ 7 a Abs. 2 HessMVollzG), Niedersachsen (§ 8 b Abs. 2 Nds. MVollzG), Nordrhein-Westfalen (§ 17 a Abs. 1 S. 1 MRVG NRW), Rheinland-Pfalz (§ 15 Abs. 4 S. 1 Nr. 2 RhPfMVollzG) und Thüringen (§ 29 Abs. 2 Nr. 2 b ThürMRVG). 286 Z. B. in Baden-Württemberg (§ 20 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 a BadWürttPsychKG), Bayern (Art. 6 Abs. 3 Nr. 2 BayMRVG), Berlin (§ 57 Abs. 3 PsychKG Bln), Brandenburg (§ 18 b BbgPsychKG), Bremen (§ 22 Abs. 4 Nr. 1, Abs. 6 BremPsychKG), Hamburg (§ 11 Abs. 3 HmbMVollzG), Mecklenburg-Vorpommern (§ 26 Abs. 1 Nr. 2 MVPsychKG), Niedersachsen (§ 8 b Abs. 1 Nds. MVollzG), Rheinland-Pfalz (§ 15 Abs. 4 S. 1 Nr. 1 RhPfMVollzG), Sachsen (§ 22 Abs. 2 Nr. 1 b) SächsPsychKG), Schleswig-Holstein (§ 5 Abs. 6 Nr. 2 MVollzG SH), Thüringen (§ 29 Abs. 2 Nr. 2 a) ThürMRVG). 287 Volckart/Grünebaum, Maßregelvollzug, III. Teil Rn. 428. 288 Ebenda. 289 Ebenda. 290 Grünebaum, R&P 2015, 3 (5).

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3. Teil: Zulässigkeit und Grenzen einer Zwangsmaßnahme de lege lata

verdrängt.291 Da gemäß § 1906 a Abs. 1 BGB eine Einwilligung des Betreuers in eine Zwangsbehandlung zum Wohl des Betreuten möglich ist, um einen drohenden erheblichen gesundheitlichen Schaden abzuwenden, erscheint es fraglich, ob die Landesgesetzgeber eine Parallelregelung schaffen dürfen, durch die die spezifischen Voraussetzungen von § 1906 a BGB umgangen werden.292 Die landesrechtlichen Regelungen zur Zulässigkeit von Zwangsbehandlungen greifen allerdings einen anderen Sachverhalt als § 1906 a BGB auf, sodass die Gesetzgebungskompetenz nicht in Zweifel zu ziehen ist. Während § 1906 a BGB die Voraussetzungen der Einwilligung eines Betreuers in eine Zwangsbehandlung normiert, regeln die landesrechtlichen Normen die Anforderungen an eine Zwangsbehandlung in einer öffentlich-rechtlichen Unterbringung, die zur Herstellung der inneren Sicherheit geboten sind. Die Prämissen von § 1906 a BGB werden somit nicht umgangen, da der Bezugspunkt nicht die Rechtmäßigkeit der Einwilligung des Betreuers selbst ist. bb) Formelle und materielle Anforderungen Eine Norm, die eine Zwangsbehandlung bei Vorliegen einer Lebens- oder Gesundheitsgefahr zulässt, muss sich jedoch – ausgenommen von besonders akuten Notsituationen, in denen insbesondere die verfahrensrechtlichen Maßgaben nicht eingehalten werden können, weil ansonsten eine erhebliche Gefahr für die Patienten resultiert – an den Vorgaben der Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts orientieren. Unter Berücksichtigung der materiellen und verfahrensrechtlichen Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts sind einige Regelungen aus den Bundesländern als verfassungswidrig zu qualifizieren: Die Regelungen in Bremen und Hamburg erscheinen insofern verfassungsrechtlich bedenklich, als sie keine krankheitsbedingte Einsichtsunfähigkeit des Patienten voraussetzen. Die Freiheitsgrundrechte schließen jedoch ebenfalls das Recht eines Patienten ein, auf Heilung zielende Eingriffe abzulehnen, selbst wenn diese medizinisch angezeigt sind.293 Dem Menschen steht folglich die „Freiheit zur Krankheit“ zu.294 Eine Ausnahme kann sich nur ergeben, sofern der Patient einwilligungsunfähig und ein Eingreifen des Staates zu seinem Schutz geboten ist. Diesen Grundsatz beachten § 22 Abs. 4 Nr. 1, Abs. 6 BremPsychKG und § 11 Abs. 3 HmbMVollzG mangels Einbeziehung der Einsichtsunfähigkeit nicht.

291

Grünebaum, R&P 2015, 3 (5). Grünebaum, R&P 2015, 3 (5 ff.). 293 BVerfG, Beschl. v. 23.3.2011 @ 2 BvR 882/09 = BVerfGE 128, 282 (304) = NJW 2011, 2113 (2115). 294 BVerfG, Beschl. v. 7.10.1981 – 2 BvR 1194/80 = BVerfGE 58, 208 (226) = NJW 1982, 691 (693). 292

B. Zwangsmaßnahmen im Rahmen einer Unterbringung

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Ferner erfolgt in Bezug auf § 22 Abs. 6 BremPsychKG sowie § 11 Abs. 3 HmbMVollzG auch keine über den abstrakten Verhältnismäßigkeitsgrundsatz hinausgehende Konktretisierung. Dies ist jedoch bei erheblichen Grundrechtseingriffen – wie beispielsweise der Zwangsbehandlung – erforderlich.295 Die Normen sind folglich als verfassungswidrig zu qualifizieren. Schlussendlich bleibt festzuhalten, dass eine Zwangsbehandlung zur Abwendung einer Lebensgefahr oder schwerwiegenden Gesundheitsgefahr verfassungsgemäß sein kann. Hierbei sind aber die Vorgaben der Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts zu berücksichtigen. Derzeit genügen jedoch die landesrechtlichen Regelungen Bremen, Hamburg und Sachsen-Anhalt nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen. 4. Unterbringung in der Sicherungsverwahrung Eine medizinische Zwangsbehandlung ist des Weiteren im Rahmen der Sicherungsverwahrung möglich. Auch die Sicherungsverwahrung stellt gemäß § 61 Nr. 3 StGB eine Maßregel der Besserung und Sicherung dar. Ihre Voraussetzungen sind in § 66 StGB geregelt. Die Anordnung einer primären Sicherungsverwahrung durch den Tatrichter ist gegenüber Jugendlichen unzulässig.296 Gemäß § 7 Abs. 2 JGG besteht lediglich die Möglichkeit, den Vorbehalt der Sicherungsverwahrung anzuordnen. Eine nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung ist unter den Prämissen des § 7 Abs. 4 JGG möglich. Fragen rund um die Zwangsbehandlung im Rahmen der Sicherungsverwahrung können folglich auch im Jugendstrafrecht von Bedeutung sein. a) Grundsätze bzgl. der Zwangsbehandlung innerhalb der Sicherungsverwahrung Für die Zwangsbehandlung im Rahmen der Sicherungsverwahrung müssen dieselben Maßstäbe herangezogen werden, die das Bundesverfassungsgericht zuvor für die Maßregelvollzugsgesetze aufgestellt hat, da es im Hinblick auf den zu gewährleistenden Grundrechtsschutz keinen Unterschied macht, auf welcher Rechtsgrundlage sich der Betroffene in der Unterbringung befindet.297 Unter Zugrundelegung dieser Grundsätze offenbart sich in vielen Bundesländern eine dringende Handlungsnotwendigkeit.

295

BVerfG, Beschl. v. 12.10.2011 @ 2 BvR 633/11 = BVerfGE 129, 269 (283) = NJW 2011, 3571 (3572). 296 Ullenbruch/Drenkhan/Morgenstern, in: Münchener Kommentar StGB, § 66 Rn. 239. 297 BVerfG, Beschl. v. 19.7.2017 – 2 BvR 2003/14 = BVerfGE 146, 294 (314) = NJW 2017, 2982 (2983).

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3. Teil: Zulässigkeit und Grenzen einer Zwangsmaßnahme de lege lata

b) Umsetzung in den einzelnen Bundesländern In zahlreichen Bundesländern298 sind Zwangsbehandlungen zum Schutz Dritter zulässig. Hierbei wird der Anwendungsbereich nicht auf Dritte begrenzt, die sich ebenfalls in der Unterbringung befinden. In anderen Normen findet zudem die Konkretisierung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes keinen Eingang.299 Einige Bundesländer300 haben zudem eine Ermächtigungsgrundlage eingefügt, die den Unterbringungseinrichtungen eine Behandlung ohne Einwilligung des Patienten zur Verhinderung eines Selbsttötungsversuches gestattet. Vom weiten Wortlaut erfasst sind damit ebenso Zwangsbehandlungen. § 72 Abs. 4 S. 1, S. 5 SVVollzG Bln setzt in solchen Fällen lediglich voraus, dass ein Arzt die Maßnahme durchführt und dokumentiert. Der Grund, der die Länder zu einer Aufnahme einer solchen Norm bewegt hat, erscheint mit Verweis auf eine drohende Strafbarkeit im Falle des Untätigkeitsbleibens angesichts der gefestigten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nachvollziehbar. Der Bundesgerichtshof vertritt seit langem die Auffassung, dass ein Arzt selbst bei einem frei verantwortlichen Suizid aufgrund einer Garantenstellung verpflichtet ist, lebensrettende Maßnahmen zu ergreifen.301 Zwar verdient eine derartig pauschale Rechtsprechung aufgrund der Missachtung des Selbstbestimmungsrechts eines Patienten Kritik, nichtsdestotrotz ist die Einführung einer Handlungspflicht der Ärzte zumindest im Rahmen der freiheitsentziehenden Unterbringung sinnvoll, da ein Suizid innerhalb eines Freiheitsentzugs oft auf affektive Verzweiflung oder – speziell im Sicherungsvollzug – auf eine psychische Krankheit zurückzuführen ist.302 Es fehlt dann bereits an der Freiverantwortlichkeit des Selbsttötungsversuchs. Das 298 Baden-Württemberg (§ 72 a Abs. 1 S. 1 Nr. 2 BadWürttJVollzGB V), Bayern (Art. 77 BaySVVollzG i. V. m. Art. 108 Abs. 1 Nr. 2 BayStVollzG), Berlin (§ 72 Abs. 1 S. 2 SVVollzG Bln), Brandenburg (§ 72 Abs. 1 S. 2 BbgSVVollzG), Bremen (§ 73 Abs. 1 Nr. 3 BremSiVVzG), Hamburg (§ 79 Abs. 1 S. 2 HmbSVVollzG), Hessen (§ 25 Abs. 1 Nr. 3 HessSVVollzG), Niedersachsen (§ 97 Abs. 1 S. 2 Nds. SVVollzG), Nordrhein-Westfalen (§ 78 Abs. 1 S. 1 SVVollzG NRW), Rheinland-Pfalz (§ 72 Abs. 1 S. 2 RhPfSVVollzG), Saarland (§ 1 S. 2 SaarlSVVollzG i. V. m. § 72 Abs. 1 S. 2 RhPfSVVollzG), Sachsen (§ 73 Abs. 1 S. 3 SächsSVVollzG), SachsenAnhalt (§ 86 Abs. 1 SVVollzG LSA), Thüringen (§ 25 Abs. 1 Nr. 3 ThürSVVollzG). 299 In Mecklenburg-Vorpommern und in Schleswig-Holstein ist gem. § 72 MVSVVollzG sowie § 76 Abs. 1 SVVollzG SH eine Zwangsbehandlung bei Lebensgefahr, bei schwerwiegender Gefahr für die Gesundheit der Untergebrachten oder bei Gefahr für die Gesundheit anderer Personen zulässig, sofern die Maßnahmen für den Beteiligten zumutbar ist und nicht mit erheblichen Gefahren für Leben oder Gesundheit der Gefangenen verbunden sind. 300 Berlin (§ 72 Abs. 1 S. 1 SVVollzG Bln), Brandenburg (§ 72 Abs. 1 S. 1 BbgSVVollzG), Niedersachsen (§ 97 Abs. 1 S. 1 Nds. SVVollzG), Rheinland-Pfalz (§ 72 Abs. 1 S. 1 RhPfSVollzG), Saarland (§ 1 SaarlSVollzG i. V. m. § 72 Abs. 1 S. 1 RhPfSVollzG) sowie Sachsen (§ 73 Abs. 1 S. 1, 2 SächsSVVollzG). 301 Schneider, in: Münchener Kommentar StGB, Vorbemerkungen zu § 211 Rn. 69. 302 Heide, Medizinische Zwangsbehandlung, S. 113.

B. Zwangsmaßnahmen im Rahmen einer Unterbringung

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Einfügen einer Ermächtigungsgrundlage, die medizinische Maßnahmen zur Verhinderung eines Suizids erlaubt, ist folglich zweckmäßig. Dies gilt besonders im Hinblick darauf, dass in Notsituationen nicht die Zeit verbleibt, zu erforschen, ob ein frei verantwortlicher Suizid vorliegt.303 Gleichwohl erfährt ein solcher Schutzzweck verfassungsrechtliche Grenzen. Diesbezüglich wird erneut auf die vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Leitlinien in Bezug auf die Handhabung von Zwangsbehandlungen verwiesen. Nochmals wird daran erinnert, dass insbesondere an die Bestimmtheit der Norm hohe Anforderungen zu stellen sind. Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe kann bereits vorweggenommen werden, dass es den landesrechtlichen Regelungen an einer hinreichenden Bestimmtheit mangelt. Obwohl das Bundesverfassungsgericht eine über den abstrakten Verhältnismäßigkeitsgrundsatz hinausgehende Konkretisierung postuliert,304 findet nicht einmal dieser abstrakte Verhältnismäßigkeitsgrundsatz vollumfänglich in den jeweiligen Regelungen der Sicherungsvollzugsgesetze Beachtung. Besonders im Hinblick darauf, dass ein Selbsttötungsversuch in der Regel bereits durch freiheitsentziehende Maßnahmen verhindert werden kann, wäre die Aufnahme in die Vorschrift zwingend vonnöten gewesen. Auch die Dauer und die Art der medizinischen Behandlung zur Vermeidung des Suizids werden nicht hinreichend bestimmt. Ein Patient dürfte nach den jeweiligen landesrechtlichen Regelungen zeitlich unbegrenzt sediert werden, um ihn vor der Begehung eines Suizids zu schützen. Dass dies unverhältnismäßig wäre, liegt auf der Hand. Weiterhin fand in den jeweiligen landesrechtlichen Regelungen das Erfordernis einer Überprüfung der Maßnahme durch Dritte in gesicherter Unabhängigkeit keinen Eingang. Auch eine Ankündigung der Zwangsbehandlung muss nach den jeweiligen landesrechtlichen Regelungen nicht erfolgen, was eine Beschneidung der Rechtsschutzmöglichkeiten darstellt. In der Gesamtschau haben sich die jeweiligen Bundesländer, die eine Regelung zur Zwangsbehandlung zur Verhinderung eines Suizids eingeführt haben, mangels hinreichender Bestimmtheit den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts widersetzt. Die Normen überlassen in der Folge den Anwendungsbereich der (möglichen) Willkür der Rechtsanwender und sind bereits aus diesem Grund als verfassungswidrig zu qualifizieren. Sie stellen einen Rückschritt in alte Zeiten dar, in der der Umgang mit Behandlungen gegen den Willen eines Patienten noch nicht eindeutig definiert war. Eine Modifikation der jeweiligen Regelungen ist daher dringend geboten.

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Volckart/Grünebaum, Maßregelvollzug, III. Teil Rn. 214. BVerfG, Beschl. v. 12.10.2011 @ 2 BvR 633/11 = BVerfGE 129, 269 (283) = NJW 2011, 3571 (3572). 304

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3. Teil: Zulässigkeit und Grenzen einer Zwangsmaßnahme de lege lata

5. Ergebnis In der Gesamtschau sind die Leitlinien des Bundesverfassungsgerichts im Hinblick auf eine Behandlung gegen den Willen eines Patienten zum Zweck der Entlassungsfähigkeit ohne Beanstandungen in die jeweiligen landesrechtlichen Gesetze eingefügt worden. Dass den Beschlüssen des Gerichts ebenfalls Grundsatzentscheidungen für jegliche Zwangsbehandlungen zu entnehmen sind, wurden teilweise jedoch verkannt. Die Nachlässigkeit der Landesgesetzgeber ist vor allem mit Blick auf die schwerwiegenden Grundrechtseingriffe, die mit einer Behandlung gegen den Willen des Patienten einhergehen, bedenklich. Ein größeres Maß an Eigeninitiative und Verantwortungsbewusstsein sowie eine ausführliche Auseinandersetzung mit den Beschlüssen des Bundesverfassungsgerichts sind daher unabweislich.

III. Öffentlich-rechtliche Unterbringung Eine medizinische Zwangsbehandlung ist auch im Rahmen der öffentlichrechtlichen Unterbringung möglich. Eine öffentlich-rechtliche Unterbringung kann angeordnet werden, sofern infolge der Krankheit des Patienten dessen Gesundheit oder die Rechtsgüter anderer erheblich gefährdet sind.305 Die Möglichkeit der Anordnung einer landesrechtlichen Unterbringung besteht ebenfalls für Minderjährige und entfaltet somit auch im Kindschaftsrecht Relevanz. Zu beachten ist jedoch, dass eine Unterbringung nach § 1631 b BGB Vorrang genießt.306 Hierfür spricht insbesondere das primäre Sorgerecht der Eltern.307 Während lange Zeit umstritten war, ob eine Genehmigung nach § 1631 b BGB einen vorherigen Antrag der Eltern voraussetzt,308 wurde durch Einführung des

305

Bienwald, in: Staudinger BGB, § 1906 Rn. 19. Zustimmend OLG Dresden, Beschl. v. 21.9.2016 – 18 UF 890/16 = NJW-RR 2017, 201 (201); Beermann, FPR 2011, 535 (538); DIJuF-Rechtsgutachten, JAmt 2018, 88 (90); Hoffmann, JAmt 2009, 473 (479); Rüth, FPR 2011, 554 (557); Salgo, in: Staudinger BGB, § 1631 b Rn. 3; ders., FPR 2011, 546 (546); ders., in: Freiheitsentziehende Maßnahmen in Jugendhilfe und Kinder- und Jugendpsychiatrie, S. 26; Schepker, FPR 2011, 570 (571); Schroeder-Nottelmann, in: Dornis, PsychKG SH, Teil D Rn. 1; Veit, in: BeckOK BGB, § 1631 b Rn. 66; Wille, ZfJ 2002, 85 (85). Eine andere Ansicht vertritt hingegen Vogel, der den Vorrang der besseren Unterbringungsform präferiert: Die familiengerichtliche Genehmigung, S. 49 ff. 307 Wille, ZfJ 2002, 85 (85). 308 Die wohl h. M. erachtete einen Antrag der Eltern für erforderlich: BVerfG, Beschl. v. 14. 6. 2007 – 1 BvR 338/07 = NJW 2007, 3560 (3561); OLG Bremen Beschl. v. 14.1.2013 – 5 UF 1/13 = FamRZ 2013, 2227 (2228); OLG Frankfurt/M., Beschl. v. 20.5.2015 – 4 UF 122/15 = FamRZ 2015, 2070; Hoffmann, JAmt 2009, 473 (473); Huber, in: Münchener Kommentar BGB, § 1631 b Rn. 19. 306

B. Zwangsmaßnahmen im Rahmen einer Unterbringung

93

§ 1631 b Abs. 2 BGB insofern Klarheit geschaffen, als in dem der Norm zugrunde liegenden Gesetzentwurf festgestellt wurde, dass es keines förmlichen Antrags bedarf.309 Der gesetzliche Vertreter muss allerdings zu erkennen geben, dass er die Genehmigung der freiheitsentziehenden Maßnahme wünscht.310 Die Entscheidungsbefugnis liegt demgemäß beim gesetzlichen Vertreter.311 Da somit bei einer Unterbringung nach § 1631 b BGB im Gegensatz zur öffentlich-rechtlichen Unterbringung die Eltern grundsätzlich das „Zepter des Handelns“312 in der Hand halten, weil sie zumindest nur mit dem Willen des Aufenthaltsbestimmungsberechtigten erfolgen kann, gebietet ihr grundrechtlich geschütztes Elternrecht eine vorrangige Unterbringung nach § 1631 b BGB.313 Anders könnte sich die Situation bei der Vormundschaft oder Pflegschaft darstellen, da es hier an einem verfassungsrechtlich geschützten Erziehungsrecht mangelt. Allerdings sprechen im Rahmen der Vormundschaft und Pflegschaft fürsorgliche Aspekte für eine Subsidiarität der öffentlich-rechtlichen Unterbringung, da viele landesrechtliche Regelungen das Kindeswohl nicht in den Vordergrund stellen.314 Art. 37 lit. c der UN-Kinderrechtskonvention verlangt hingegen explizit, dass die Bedürfnisse des Kindes zu beachten sind, sodass unter Einbeziehung der UNKinderrechtskonvention eine Unterbringung nach § 1631 b BGB vorzugswürdig erscheint.315 Die öffentlich-rechtliche Unterbringung ist in der Gesamtschau daher subsidiär. Ihr kommt lediglich ein ergänzender Anwendungsbereich in akuten Gefährdungssituationen zu, in denen die Personenberechtigten keine Unterbringung vornehmen lassen.316 In dieser Konstellation stellt sich jedoch ebenso die Frage, unter welchen Voraussetzungen eine Behandlung gegen den Willen eines Kindes durchgeführt werden darf. Nach anderer Ansicht war ein Antrag hingegen nicht vonnöten: OLG Dresden, Beschluss vom 21.9.2016 – 18 UF 890/16 = NJW-RR 2017, 201 (202); Bienwald, FamRZ 2013, 1228 (1228); Vogel, FamRZ 2015, 1 (2). Eine vermittelnde Auffassung sprach sich dafür aus, dass lediglich ein konkludenter Antrag vorliegen müsse: Zorn, Das Recht der elterlichen Sorge, Rn. 347. 309 Zwar bezieht sich der Gesetzentwurf nur auf freiheitsentziehende Maßnahmen, es geht jedoch daraus auch hervor, dass es für die freiheitsentziehende Unterbringung ebenso wenig eines förmlichen Antrags bedarf: BT-Drs. 18/11278, S. 16. 310 Ebenda. 311 Ebenda. 312 Häßler/Schläfke/Buchmann/Fegert, in: Freiheitsentziehende Maßnahmen in Jugendhilfe und Kinder- und Jugendpsychiatrie, S. 206. 313 Wille, ZfJ 2002, 85 (85). 314 Fegert, in: Freiheitsentziehende Maßnahmen in Jugendhilfe und Kinder- und Jugendpsychiatrie, S. 176. 315 Ebenda. 316 Salgo, FPR 2011, 546 (547); Schroeder-Nottelmann, in: Dornis, PsychKG SH, Teil D Rn. 1.

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3. Teil: Zulässigkeit und Grenzen einer Zwangsmaßnahme de lege lata

1. Beschluss des BVerfG Aufschluss hierüber gibt ein Beschluss des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 2017, in dem dieses explizit festgestellt hat, dass die vom Bundesverfassungsgericht zur Zwangsbehandlung im Maßregelvollzug entwickelten Maßgaben ebenso auf die öffentlich-rechtliche Unterbringung zu übertragen sind.317 Es mache keinen Unterschied, auf welcher Rechtsgrundlage sich der Betroffene in der Unterbringung befinde.318 Der Schutzstandard müsse vielmehr gleich hoch sein.319 Dementsprechend ist im Hinblick auf die Rechtmäßigkeit von Zwangsbehandlungen im Rahmen einer Unterbringung auf die zuvor erfolgten Erörterungen zu verweisen.320 Anlass für den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts gab die verfassungswidrige Umsetzung von § 23 MVPsychKG a. F. in Mecklenburg-Vorpommern. Weil nach den Beschlüssen des Bundesverfassungsgerichts aus den Jahren 2011 und 2013 dennoch nicht in allen Bundesländern eine verfassungskonforme Umsetzung erfolgt ist, drängt sich die Frage auf, wie die Rechtslage hinsichtlich der öffentlich-rechtlichen Unterbringung derzeit zu bewerten ist. 2. Umsetzung Die Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts wurden in nahezu allen Bundesländern in Bezug auf Zwangsbehandlungen zur Erreichung der Entlassungsfähigkeit der Patienten im Grundsatz verfassungskonform umgesetzt.321 a) Allgemeine Mängel In einigen Bundesländern322 hat allerdings die rechtzeitige Ankündigung der Maßnahmen keinen Eingang in die jeweilige Regelung gefunden.323 Eine solche Ankündigung ist infolge des Versuchs der Zustimmung nicht entbehrlich, da ein solcher Versuch dem Patienten nicht hinreichend deutlich macht, dass die Zwangsbehandlung trotz seines Vetos durchgeführt wird. Ebenso wenig reicht es aus, 317

BVerfG, Beschl. v. 19.7.2017 – 2 BvR 2003/14 = BVerfGE 146, 294 (313) = NJW 2017, 2982 (2983). 318 BVerfG, Beschl. v. 19.7.2017 – 2 BvR 2003/14 = BVerfGE 146, 294 (314) = NJW 2017, 2982 (2983). 319 Ebenda. 320 S. hierzu 3. Teil B. II. 321 Ausgenommen hiervon sind Saarland (§ 11 SaarlUBG), Sachsen-Anhalt (§ 17 PsychKG LSA) und Thüringen (§ 12 ThürPsychKG). 322 Z. B. Baden-Württemberg (§ 20 BadWürttPsychKG), Bayern (Art. 20 BayPsychKHG), Berlin (§ 28 BerlPsychK), Bremen (§ 22 BremPsychKG), Hamburg (§ 16 HmbPsychKG) und Thüringen (§ 12 ThürPsychKG). 323 Deutsches Institut für Menschenrechte, BT-Drs. 19/6493, S. 69.

B. Zwangsmaßnahmen im Rahmen einer Unterbringung

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wenn die Zwangsbehandlung in den Behandlungsplan aufgenommen worden ist und mit dem Patienten besprochen wird.324 Das Ankündigungserfordernis bedarf daher der konkreten Normierung.325 Zudem haben einzelne Landesgesetzgeber326 hinsichtlich der Voraussetzung des vorherigen Überzeugungsversuchs nicht explizit geregelt, dass dieser ohne Ausübung unzulässigen Drucks erfolgen muss.327 Allerdings lässt sich diese Prämisse wohl aus der Auslegung der Norm und dem Behandlungsethos eines Arztes entnehmen. Als problematisch ist jedoch zu werten, dass einzelne Bundesländer328 Regelungen eingeführt haben, die eine Zwangsbehandlung zum Schutz Dritter erlauben. Diesbezüglich ist mit Verweis auf die bereits erfolgten Erörterungen festzustellen, dass keine hinreichende Konkretisierung des Schutzzweckes vorliegt.329 Es bedarf der Eingrenzung auf Zwangsbehandlungen zum Schutz untergebrachter Dritter. Auch im Rahmen der öffentlichen-rechtlichen Unterbringung ist somit zum Teil eine verfassungswidrige Umsetzung erfolgt. b) Probleme im Umgang mit Minderjährigen Erhebliche Defizite existieren zudem in Bezug auf die Regelungen der PsychischKranken-Gesetze zum Umgang mit Minderjährigen. Bei genauerer Lektüre wird deutlich, dass viele Normen ausschließlich auf den Umgang mit Volljährigen zugeschnitten sind. So knüpft die Möglichkeit einer Zwangsbehandlung in vielen Bundesländern330 an das Erfordernis der krankheitsbedingten Einsichtsunfähigkeit an. Im Umgang mit 324

Dodegge/Zimmermann, PsychKG NRW, § 18 Rn. 6. Ebenda. 326 Z. B. in Bremen (§ 22 Abs. 3 Nr. 6 BremPsychKG). 327 Deutsches Institut für Menschenrechte, BT-Drs. 19/6493, S. 69. 328 Z. B. in Baden-Württemberg (§ 20 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 BadWürttPsychKG), Bremen (§ 22 Abs. 4 Nr. 1 BremPsychKG), Hamburg (§ 16 Abs. 3 S. 1 Nr. 3 HmbPsychKG), Hessen (§ 20 Abs. 2 HessPsychKHG), Rheinland-Pfalz (§ 20 Abs. 6 S. 1 Nr. 2 RhPfPsychKG) und Thüringen (§ 12 Abs. 3 ThürPsychKG). Besonders fragwürdig ist, dass in Hessen gemäß § 20 Abs. 2 HessPsychKHG auch eine Zwangsernährung bei erheblicher Gefahr für das Leben oder einer gegenwärtigen schwerwiegenden Schädigung der Gesundheit anderer Personen zulässig ist. Inwiefern eine Zwangsernährung eine Gefahr für andere Personen abwenden soll, haben die Landesgesetzgeber unbeantwortet gelassen. 329 S. hierzu 3. Teil B. II. 3. 330 So beispielsweise in Baden-Württemberg (§ 20 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 BadWürttPsychKG), Bayern (Art. 20 Abs. 4 S. 1 Nr. 7 a BayPsychKHG), Berlin (§ 28 Abs. 6 S. 1 BerlPsychKG), Brandenburg (§ 18 a Abs. 1 Nr. 1 BbgPsychKG), Bremen (§ 22 Abs. 3 Nr. 1 BremPsychKG), Hamburg (§ 16 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 HmbPsychKG), Niedersachsen (§ 21 a Abs. 1 Nr. 1 Nds. PsychKG). 325

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3. Teil: Zulässigkeit und Grenzen einer Zwangsmaßnahme de lege lata

Kindern und Jugendlichen ist jedoch zu berücksichtigen, dass die Einwilligungsfähigkeit kumulativ zu psychischen Krankheiten auch altersbedingt verursacht werden kann. Die einschlägigen Normen, die nur an die krankheitsbedingte Einwilligungsunfähigkeit knüpfen, können allerdings demgemäß ausgelegt werden, dass eine Zwangsbehandlung möglich ist, sofern der Patient auch aufgrund einer psychischen Krankheit die Einsicht in die Behandlungsbedürftigkeit der Krankheit oder die Fähigkeit, nach dieser Einsicht zu handeln, fehlt. Kritikwürdig ist allerdings, dass eine Zwangsbehandlung Minderjähriger nach vielen landesrechtlichen Regelungen331 nicht an die Einwilligung der gesetzlichen Vertreter anknüpft. In einigen Bundesländern – so beispielsweise Bremen (§ 22 Abs. 2 S. 2 BremPsychKG) – wird zwar festgehalten, dass bei Minderjährigen die Einwilligung der Personensorgeberechtigten in die ärztliche Behandlung notwendig ist, aufgrund der systematischen Stellung der Regelung ist jedoch davon auszugehen, dass dies nicht für Zwangsbehandlungen gilt: Dem Erfordernis der Einwilligung der gesetzlichen Vertreter ist ein Satz vorangestellt, aus dem hervorgeht, dass vorbehaltlich der Regelungen zur Zwangsbehandlung die Einwilligung des Patienten geboten ist. Der anschließend erfolgte Zusatz, dass bei Minderjährigen die Einwilligung der Eltern erforderlich ist, gibt lediglich wieder, dass der Gesetzgeber Minderjährige entweder pauschal als einwilligungsunfähig eingestuft oder selbst bei Vorliegen der Einwilligungsfähigkeit stets die Notwendigkeit einer kumulativen Einwilligung vorausgesetzt hat.332 Es wird allerdings nicht deutlich, dass von dem Vorbehalt der Zwangsbehandlung eine Ausnahme gemacht werden soll. Selbst wenn der Landesgesetzgeber in Bremen bezweckt hat, auch bei Zwangsbehandlungen die Einwilligung der Eltern einzuholen, so geht dies nicht aus § 22 Abs. 2 S. 2 BremPsychKG hervor. Ohnehin muss erneut in Erinnerung gerufen werden, dass an die Bestimmtheit einer Norm, die eine Behandlung gegen den Willen eines Untergebrachten rechtfertigt, hohe Anforderungen zu stellen sind. Auch in Schleswig-Holstein ergibt die Auslegung von § 14 Abs. 3 PsychKG SH, dass eine Einwilligung der gesetzlichen Vertreter nur bei ärztlichen Eingriffen, die mit Lebensgefahr oder erheblicher Gefahr für die Gesundheit des untergebrachten Menschen verbunden sind, vonnöten ist, da nur für diesen Fall das Einwilligungserfordernis konkret normiert worden ist. In Niedersachsen (§ 21 a Abs. 2 S. 2 NPsychKG) wird ebenfalls keine Einwilligung der gesetzlichen Vertreter vorausgesetzt, sondern nur deren Anhörung. 331

Insbesondere in Baden-Württemberg (§ 20 BadWürttPsychKG), Bremen (§ 22 BremPsychKG), Hamburg (§ 16 und § 17 Abs. 1 HmbPsychKG), Hessen (§ 20 HessPsychKHG), Mecklenburg-Vorpommern (§ 26 MVPsychKG) und Schleswig-Holstein (§ 14 PsychKG SH). 332 Dornis/Filler gehen insofern von einer verunglückten Wortwahl aus, aus der nicht hervorgehen soll, dass Minderjährige stets einwilligungsunfähig sind, sondern dass bei Vorliegen der Einwilligungsfähigkeit auch die Einwilligung der gesetzlichen Vertreter vorliegen muss: Dornis/Filler, in: Dornis, PsychKG SH, Teil B Rn. 6. Eine solche kumulative Einwilligung ist verfassungsrechtlich jedoch durchaus kritisch zu würdigen: s. hierzu 5. Teil B. I. 1.

C. Medizinische Zwangsmaßnahmen im Strafvollzug

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Der Verzicht auf die Einwilligung der gesetzlichen Vertreter gestaltet sich als problematisch: Es handelt sich bei allen o. g. Regelungen in gewisser Weise um einen Doppelzwang, da nicht nur der Wille des Minderjährigen selbst überwunden wird, sondern ebenso ein möglicher entgegenstehender Wille der gesetzlichen Vertreter.333 Dies ist aus grundrechtlicher Sicht durchaus kritisch zu würdigen: Das durch Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG geschützte Elternrecht garantiert den Vorrang elterlicher Entscheidungen.334 Dies gilt auch für den Bereich der Gesundheitsfürsorge, da die Sorge für das physische und psychische Wohl des Kindes in den Bereich der elterlichen Erziehung fällt.335 Ein Eingriff in das Elternrecht ist nur durch das staatliche Wächteramt aus Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG legitimiert.336 Dieses kommt insbesondere bei Kindeswohlgefährdungen in Betracht.337 Eine Gefährdung für das Kindeswohl könnte in der Tat angenommen werden, wenn Eltern eine medizinisch notwendige Behandlung ablehnen.338 Solange allerdings keine Verweigerung vorliegt, kann eine Kindeswohlgefährdung nicht pauschal angenommen werden. Zunächst muss daher eine Kontaktaufnahme zu den Eltern erfolgen und deren Einwilligung erfragt werden. Nur wenn die Eltern nicht rechtzeitig erreichbar sind und insofern „Gefahr im Verzug“ gegeben ist, kann auf die Einwilligung der gesetzlichen Vertreter verzichtet werden.339 Eine Einbeziehung der elterlichen Einwilligung wurde nur in wenigen Bundesländern340 berücksichtigt. Im Übrigen erfolgte eine verfassungswidrige Umsetzung.

C. Medizinische Zwangsmaßnahmen im Strafvollzug Weiterhin ist eine medizinische Zwangsbehandlung von Minderjährigen im Jugendstrafvollzug möglich. Auch diesbezüglich gelten die vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Grundsätze. Nachdem die Mängel der landesrechtlichen Regelungen im Hinblick auf den Maßregelvollzug und die öffentlich-rechtliche Unterbringung aufgeführt wurden, stellt sich insbesondere die Frage, ob die Bun333

Stellungnahme des Deutschen Ethikrates, BT-Drs. 19/6887, S. 52. Antoni, in: Hömig/Wolff, GG, Art. 6 Rn. 13. 335 Antoni, in: Hömig/Wolff, GG, Art. 6 Rn. 15. 336 Stellungnahme des Deutschen Ethikrates, BT-Drs. 19/6887, S. 55. 337 BVerfG, Beschl.v. 29.7.1968 – 1 BvL 20/63, 31/66, 5/67 = BVerfGE 24, 119 (144) = NJW 1968, 2233 (2235). 338 Olzen, in: Münchener Kommentar BGB, § 1666 Rn. 81. 339 Stellungnahme des Deutschen Ethikrates, BT-Drs. 19/6887, S. 91. 340 Bayern (Art. 20 Abs. 5 S. 3 BayPsychKHG), Berlin (§ 28 Abs. 6 Nr. 7 BerlPsychKG), Brandenburg (§ 18 a Abs. 5 S. 2 BbgPsychKG), Nordrhein-Westfalen (§ 18 Abs. 7 S. 1 PsychKG NRW), Rheinland-Pfalz (§ 20 Abs. 5 Nr. 6 RhPfPsychKG) und Sachsen (§ 22 Abs. 3 Nr. 3 SächsPsychKG). In Niedersachsen ist gem. § 21 a Abs. 2 S. 2 Nds. PsychKG zumindest die vorherige Anhörung der Sorgeberechtigten erforderlich. 334

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3. Teil: Zulässigkeit und Grenzen einer Zwangsmaßnahme de lege lata

desländer die tragenden Prinzipien im Umgang mit Zwangsbehandlungen im Jugendstrafvollzug beachtet haben. Auch im Rahmen des Jugendstrafvollzugs lassen sich eklatante Fehler in der Umsetzung feststellen. In vielen Bundesländern341 – so beispielsweise auch in Schleswig-Holstein (§ 33 Abs. 1 JStVollzG SH) – weisen die Normen zur Zulässigkeit von Zwangsbehandlungen erhebliche Mängel in Bezug auf die Bestimmtheit auf.342 Unzulässig sind mangels hinreichender Bestimmtheit ebenfalls Regelungen, welche eine Zwangsbehandlung zum Schutz Dritter erlauben, dies jedoch nicht auf Personen innerhalb der Unterbringung beschränken.343 Hierzu ist auf die bereits genannten Erörterungen zu verweisen.344 Weiterhin sind Zwangsbehandlungen zur Verhinderung eines Selbsttötungsversuchs345 mangels hinreichender Bestimmung der Voraussetzungen verfassungswidrig. Auch dazu ist auf die zuvor erfolgten Ausführungen im Rahmen der Zwangsbehandlung innerhalb des Sicherungsvollzuges zu verweisen.346 Insgesamt ist die Umsetzung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts kritisch zu würdigen. Kaum nachvollziehbar ist, wie acht Jahre nach der ersten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts trotz der an Klarheit kaum zu übertreffenden Beschlüsse eine solch fehlerhafte Umsetzung erfolgen konnte. In einem derart sensiblen Rechtsbereich wie der medizinischen Zwangsbehandlung muss ein 341 Bremen (§ 33 Abs. 1 BremJStVollzG), Mecklenburg-Vorpommern (§ 33 Abs. 1 MVJStVollzG), Saarland (§ 33 Abs. 1 SaarlJStVollzG). 342 Gemäß § 33 Abs. 1 JStVollzG SH sind medizinische Untersuchungen und Behandlungen sowie Ernährung zwangsweise bei Lebensgefahr, bei schwerwiegender Gefahr für die Gesundheit der Gefangenen oder bei Gefahr für die Gesundheit anderer Personen zulässig, sofern die Maßnahmen für die Beteiligten zumutbar und nicht mit erheblicher Gefahr für Leben oder Gesundheit der Gefangenen verbunden sind. Zu kritisieren ist diesbezüglich bereits die fehlende Eingrenzung der Zielrichtung, da ein Einschreiten aufgrund einer Lebens- oder Gesundheitsgefahr des Patienten nicht an die Einwilligungsunfähigkeit anknüpft. Auch eine Zwangsbehandlung zum Schutz Anderer erfährt keine Eingrenzung auf Personen innerhalb der Unterbringung. Weiterhin erfolgt keine hinreichende Konkretisierung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. 343 Betroffen sind diesbezüglich die Regelungen in Bayern (Art. 108 Abs. 1 Nr. 2 BayStVollzG), Berlin (§ 72 Abs. 1 S. 2 JStVollzG Bln), Brandenburg (§ 79 Abs. 1 S. 2 BbgJVollzG), Hamburg (§ 84 Abs. 1 S. 1, 2 HmbJStVollzG), Hessen (§ 25 Abs. 1 Nr. 3 HessJStVollzG), Niedersachsen (§ 93 Abs. 1 S. 2 Nds. JVollzG), Nordrhein-Westfalen (§ 52 Abs. 6 S. 1 JStVollzG NRW i. V. m. § 78 Abs. 1 S. 1 StVollzG NRW), Rheinland-Pfalz (§ 77 Abs. 1 S. 2 RhPf LJVollzG), Sachsen (§ 33 Abs. 1 S. 3 SächsJStVollzG), Sachsen-Anhalt (§ 78 Abs. 1 S. 2 JVollzGB LSA) und Thüringen (§ 78 Abs. 1 Nr. 3 ThürJVollzGB). 344 S. hierzu 3. Teil B. II. 3. a). 345 Regelungen aus Berlin (§ 72 Abs. 1 S. 1 JStVollzG Bln), Brandenburg (§ 79 Abs. 1 S. 1 BbgJVollzG), Niedersachsen (§ 93 Abs. 1 S. 1 Nds. JVollzG), Rheinland-Pfalz (§ 77 Abs. 1 S. 1 RhPf LJVollzG), Sachsen (§ 33 Abs. 1 S. 1, 2 SächsJStVollzG) sowie Sachsen-Anhalt (§ 78 Abs. 1 S. 1 JVollzGB LSA) sind hiervon betroffen. 346 S. hierzu 3. Teil B. II. 4.

D. Schlussbetrachtung der aktuellen Rechtslage

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pflichtbewusstes Handeln der Gesetzgeber erwartet werden. Ein solches von Verantwortungsbewusstsein geprägtes gesetzgeberisches Verhalten wird derzeit jedoch vermisst.

D. Schlussbetrachtung der aktuellen Rechtslage Die medizinische Zwangsbehandlung gleicht noch immer einer Baustelle des Rechts. Insbesondere auf dem Gebiet der landesrechtlichen Regelungen besteht ein deutlicher legislativer Handlungsbedarf. Während das Bundesverfassungsgericht den ersten Schritt ging, um das Fundament einer stabilen Trutzburg zum Schutz des Selbstbestimmungsrechts von untergebrachten Patienten zu schaffen, nahmen sich die Landesgesetzgeber dieser Aufgabe nicht hinreichend an. Zwar gelang die Umsetzung der Beschlüsse im Rahmen der Maßregelvollzugsgesetze in Bezug auf eine Zwangsbehandlung mit dem Ziel der Entlassungsfähigkeit, ein Blick über den Tellerrand hinaus fand dagegen nicht statt. Dass den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts bindende Grundsätze für die medizinische Zwangsbehandlung außerhalb des Maßregelvollzugs sowie für andere Zielrichtungen wie beispielsweise dem Schutz Dritter zu entnehmen sind, wurde somit verkannt. Von dem vom Bundesverfassungsgericht angestrebten Ziel, den Bereich der medizinischen Zwangsbehandlung umfänglich auf Bahnen der Bestimmtheit, geprägt von festen Vorgaben, zu leiten, ist die derzeitige Rechtslage noch weit entfernt. Für die Zukunft bleibt nur zu wünschen, dass sich die Landesgesetzgeber der verantwortungsvollen Aufgabe der Schaffung eines Rechts, welches lückenlos die vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten Grundsätze umsetzt und damit dem Selbstbestimmungsrecht psychisch kranker Patienten Rechnung trägt, stellen und ein höheres Maß an eigener Handlungsinitiative aufzeigen. Dieser Appell richtet sich gleichermaßen an den Bundesgesetzgeber: Während die Baustelle der medizinischen Zwangsbehandlung landesrechtlich betrachtet Mängel erkennen lässt, so wurde die Arbeit im Zivilrecht gar nicht erst begonnen. Noch immer fehlt es an einer Regelung zur Ausgestaltung der Befugnisse Minderjähriger, ihrer gesetzlichen Vertreter und Mediziner im Rahmen einer ärztlichen Maßnahme gegen den Willen eines Kindes. Eingangs wurde die Frage aufgeworfen, wie Ärzte agieren sollten, wenn die gesetzlichen Vertreter eines Kindes oder eines Jugendlichen eine medizinische Zwangsbehandlung wünschen. De lege lata bietet das Bürgerliche Gesetzbuch allerdings keine Antwort. Weder gesetzgeberische Wertungen, die aus verwandten Normen herangezogen werden, noch die Rechtsprechung oder gar die unterschiedlichsten Ansichten in der Literatur können die durch die Untätigkeit des Gesetzgebers hervorgerufene Regelungslücke aufwiegen. Unabhängig davon, dass eine gesetzliche Modifikation bereits aus Gründen der Rechtssicherheit wünschenswert wäre, da weder für die behandelnden Ärzte noch für die gesetzlichen Vertreter oder gar die Kinder aufgrund der bisherigen Rechtslage

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3. Teil: Zulässigkeit und Grenzen einer Zwangsmaßnahme de lege lata

erkennbar ist, welche Befugnisse und Rechte ihnen zukommen, ist der gesetzgeberische Stillstand ebenfalls in Anbetracht der zuvor dargestellten höchstrichterlichen Judikatur erstaunlich. Immerhin könnten die Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts den Nährboden für die Auffassung darstellen, dass eine gesetzliche Regelung zur Ausgestaltung der medizinischen Zwangsbehandlung von Kindern und Jugendlichen ebenfalls im Kindschaftsrecht verfassungsrechtlich geboten ist. Wenn eine Zwangsbehandlung im Rahmen einer öffentlich-rechtlichen Unterbringung einer gesetzlichen Grundlage bedarf, könnte dies zumindest gleichsam für eine Unterbringung nach § 1631 b BGB gelten. Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts macht es schließlich im Hinblick auf den Grundrechtsschutz keinen Unterschied, auf welcher Rechtsgrundlage sich der Betroffene in der Unterbringung befinde.347 Der Schutzstandard müsse vielmehr gleich hoch sein.348 Nachfolgend wird demgemäß die Frage untersucht, inwiefern sich die Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts auf das Kindschaftsrecht auswirken.

347 BVerfG, Beschl. v. 19.7.2017 – 2 BvR 2003/14 = BVerfGE 146, 294 (314) = NJW 2017, 2982 (2983). 348 Ebenda.

4. Teil

Erforderlichkeit einer Regelung A. Ausstrahlungswirkung der Beschlüsse des BVerfG Die Besonderheit der Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts zur Zwangsbehandlung im Maßregelvollzug sowie in der öffentlich-rechtlichen Unterbringung stellt die Tatsache dar, dass sich diese auf öffentlich-rechtliche Normen und somit auf ein staatliches Handeln bezogen. Als wesentliche Grundlage der Argumentation fungiert der schwerwiegende Eingriff in das Recht auf körperliche Unversehrtheit und freie Selbstbestimmung gemäß Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG.1 Während vom Staat vollzogene Grundrechtseingriffe nach der Lehre des Vorbehaltes des Gesetzes einer Ermächtigungsgrundlage bedürfen,2 entfalten Grundrechte im Privatrecht nur eine mittelbare Wirkung. Daher existieren zwischen einer öffentlich-rechtlichen Zwangsbehandlung und einer Behandlung gegen den Willen eines Menschen, die im Rahmen eines privaten Arzt-Patienten-Verhältnisses stattfindet, grundlegende Unterschiede. Können die Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts dennoch eine Ausstrahlungswirkung in das Privatrecht entfalten?

I. Vergleich mit dem Betreuungsrecht 1. Übertragung auf Zwangsbehandlungen im Rahmen einer betreuungsrechtlichen Unterbringung Aufschluss hierüber gibt eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs aus dem Jahre 2012, in der sich dieser schwerpunktmäßig mit der Frage auseinandergesetzt hat, inwiefern die Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts zur Zwangsbehandlung im Maßregelvollzug das Betreuungsrecht beeinflussen.3

1 2 3

Olzen/Metzmacher, BtPrax 2011, 233 (237). Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 Abs. 3 Rn. 75. BGH, Beschl. v. 20.6.2012 @ XII ZB 99/12 = BGHZ 193, 337 = NJW 2012, 2967.

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4. Teil: Erforderlichkeit einer Regelung

a) BGH, Beschluss v. 1.2.2006 Das Betreuungsrecht wies vor dem Jahre 2012 Zeit keine konkrete Regelung auf, die sich mit den Voraussetzungen einer Zwangsbehandlung auseinandersetze. Stattdessen sah der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des Instituts der Betreuung im Jahre 1992 bewusst von einer gesetzlichen Normierung der Befugnisse eines Betreuers in Bezug auf die Anordnung einer medizinischen Zwangsbehandlung ab.4 Dem Betreuer stand kraft der gesetzlichen Vertretungsmacht gemäß § 1902 BGB zwar die grundsätzliche Erlaubnis zu, anstelle eines einsichtsunfähigen Betreuten in ärztliche Eingriffe einzuwilligen, sofern nicht unter den Prämissen des § 1904 BGB hierzu die Genehmigung des Vormundschaftsgerichts zusätzlich erforderlich war, der BGH leitete hieraus jedoch bereits seit einer Entscheidung aus dem Jahr 2006 nicht die Befugnis ab, den einer medizinischen Maßnahme entgegenstehenden Willen des Betreuten durch Zwang zu überwinden.5 Die Möglichkeit einer Zwangsbehandlung ergab sich nach Ansicht des BGH vielmehr aus § 1906 Abs. 1 Nr. 2 BGB.6 Zwar befasst sich die Norm streng nach dem Wortlaut nur mit der Zulässigkeit einer vom Betreuer veranlassten Unterbringung, die zum Wohl des Betreuten vonnöten ist, weil zur Abwendung eines drohenden erheblichen gesundheitlichen Schadens ein ärztlicher Eingriff notwendig ist; die Vorschrift könne nach damaliger Ansicht des BGH allerdings nur dahingehend sinnvoll ausgelegt werden, dass der Betreute die erforderlichen medizinischen Maßnahmen, in die der Betreuer zu seinem Wohl eingewilligt habe und derentwegen der Betreute untergebracht werden dürfe, unabhängig von seinem möglicherweise entgegenstehenden natürlichen Willen während der Unterbringung zu dulden habe.7 Ansonsten würde der Anwendungsbereich des § 1906 Abs. 1 Nr. 2 BGB von vornherein auf die eher geringe Anzahl von Fällen beschränkt werden, in denen der Betreute die Notwendigkeit der medizinischen Maßnahme bejaht bzw. keinen der medizinischen Maßnahme entgegenstehenden natürlichen Willen manifestiert, aber nicht die Notwendigkeit der Unterbringung einsieht.8 Allerdings verstand der BGH die auf § 1906 I Nr. 2 BGB gestützte Zwangsbehandlung des Betreuten – ausweislich des Leitsatzes der Entscheidung – nur als eine Ausnahme, bei der die gerichtliche Genehmigung der Unterbringung nach § 1906 I Nr. 2 BGB die von dem Betreuten zu duldende Behandlung so präzise wie möglich anzugeben habe.9 4

BT- Drs. 11/4528, S. 71, 72, 141. BGH, Beschl. v. 1.2.2006 – XII ZB 236/05 = BGHZ 166, 141 (151) = DNotZ 2006, 626 (627). 6 BGH, Beschl. v. 1.2.2006 – XII ZB 236/05 = BGHZ 166, 141 (152) = DNotZ 2006, 626 (628). 7 Ebenda. 8 Ebenda. 9 BGH, Beschl. v. 1.2.2006 – XII ZB 236/05 = BGHZ 166, 141 (153) = DNotZ 2006, 626 (628). 5

A. Ausstrahlungswirkung der Beschlüsse des BVerfG

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b) BGH, Beschluss v. 20.6.2012 Während der BGH im Jahre 2006 demnach noch die Auffassung vertrat, dass ein Betreuer grundsätzlich befugt sei, in ärztliche Maßnahmen gegen den natürlichen Willen eines einwilligungsunfähigen Betreuten einzuwilligen,10 so hat er seine Meinung anlässlich der neuen Leitentscheidung des Bundesverfassungsgerichts, nach der eine hinreichend bestimmte Ermächtigungsgrundlage bei Zwangsbehandlungen im Maßregelvollzug erforderlich ist, sechs Jahre später revidiert. Der Senat ist zu dem Ergebnis gekommen, dass die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts zur Zwangsbehandlung im Maßregelvollzug im Wesentlichen ebenfalls auf die Behandlung gegen den Willen eines Patienten innerhalb einer betreuungsrechtlichen Unterbringung zu übertragen seien.11 Den hierfür ausschlaggebenden Grund stellte die Annahme dar, dass Grundrechte auch im Rahmen einer betreuungsrechtlichen Unterbringung unmittelbare Anwendung fänden, da der Betreuer neben der zivilrechtlichen Vertretung eine öffentliche Fürsorge ausübe.12 Die staatliche Kontrolle müsse daher den Anforderungen genügen, die das Bundesverfassungsgericht für eine an den Staat adressierte Ermächtigungsgrundlage postuliert.13 „Entgegen einer in Rechtsprechung und Literatur vertretenen Auffassung […] finden die Grundrechte auch bei der im Rahmen einer betreuungsrechtlichen Unterbringung stattfindenden Zwangsbehandlung unmittelbar Anwendung. […] Der Staat könne sich von der Grundrechtsbindung nicht dadurch befreien, dass er eine Privatperson zur Wahrung einer öffentlichen Aufgabe bestelle und ihm die Entscheidung über den Einsatz staatlicher Machtmittel überlasse.“14

Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe fehlte es dem Betreuungsrecht zum damaligen Zeitpunkt an einer den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügenden gesetzlichen Grundlage für eine betreuungsrechtliche Zwangsbehandlung. Dieses Ergebnis ist zwei Jahre später vom Bundesverfassungsgericht bestätigt worden.15 Der Gesetzgeber war mithin aufgerufen, die vom Bundesverfassungsgericht entwickelten materiellen und verfahrensrechtlichen Voraussetzungen zur Zwangsbe-

10

(628). 11

BGH, Beschl. v. 1.2.2006 – XII ZB 236/05 = BGHZ 166, 141 (153) = DNotZ 2006, 626

BGH, Beschl. v. 20.6.2012 @ XII ZB 99/12 = BGHZ 193, 337 (346 f.) = NJW 2012, 2967 (2970). 12 BGH, Beschl. v. 20.6.2012 @ XII ZB 99/12 = BGHZ 193, 337 (347) = NJW 2012, 2967 (2970). 13 BGH, Beschl. v. 20.6.2012 @ XII ZB 99/12 = BGHZ 193, 337 (348) = NJW 2012, 2967 (2970). 14 BGH, Beschl. v. 20. 6.2012 @ XII ZB 99/12 = BGHZ 193, 337 (347) = NJW 2012, 2967 (2970). 15 BVerfG, Beschl. v. 12.8.2014 – 2 BvR 1698/12 = FamRZ 2014, 1775. Auch in der Literatur stößt das Erfordernis einer hinreichenden Ermächtigungsgrundlage auf Zustimmung: Posselt-Wenzel, Medizinische Eingriffe, S. 84; Schweitzer, FamRZ 1996, 1317 (1321).

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4. Teil: Erforderlichkeit einer Regelung

handlung im Maßregelvollzug ebenfalls auf das Betreuungsrecht zu übertragen. Dieser Aufgabe ist er durch die Schaffung von § 1906 a BGB gerecht geworden. 2. Bewertung Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs aus dem Jahr 2012 verdient aufgrund der pauschalen Annahme einer unmittelbaren Grundrechtsgeltung im Betreuungsrecht Kritik.16 a) Grundrechtswirkung im Betreuungsrecht Unmittelbare Anwendung finden Grundrechte nur auf staatliche Handlungen. E contrario müsste der Senat einen Betreuer wenig überzeugend als hoheitliches Organ klassifizieren. Eine solche unmittelbare Grundrechtswirkung darf sich nur auf die Anordnung der Betreuung durch das Gericht beziehen, nicht jedoch auf die Betreuung insgesamt. Hierfür spricht, dass das Betreuungsrecht bewusst vom Gesetzgeber im Privatrecht verortet wurde.17 Es ist demgemäß dogmatisch gesehen wenig plausibel, eine unmittelbare Grundrechtsgeltung auf Beziehungen, die das BGB ausgestaltet, auszuweiten. Dies führt vielmehr zu einem Verwischen der Grenzen des Öffentlichen Rechts und des Privatrechts. Weiterhin erfolgt die Betreuung ausschließlich nach dem Willen und dem Wohl des Betreuten und richtet sich mithin nicht nach öffentlichen Belangen.18 Auch der Sinn und Zweck der Betreuung spricht für einen privatrechtlichen Charakter: Ein Betreuter soll durch den Betreuer als eigenständige Rechtsperson handeln können.19 Hierfür ist es allerdings erforderlich, dass der Betreuer unabhängig vom Staat agieren kann.20 In den meisten Fällen nehmen zudem Familienangehörige die Betreuung wahr, sodass es befremdlich erscheint, eine Person, die ein Familienmitglied betreut, als staatliches Organ zu qualifizieren.21 Als weiteres Argument wird in der Literatur zudem die Haftung des Betreuers angeführt.22 Diesbezüglich ist festgelegt, dass sich eine solche eben nicht nach § 839 BGB richtet, sondern gemäß § 1908i BGB i. V. m. § 1833 BGB nach den Vorschriften des Zivilrechts.23 Insgesamt sprechen daher die 16 Kritisch ebenso: LG Berlin, Beschl. v. 21.5.2012 – 83 T 163/12 = BeckRS 2012, 11237; Grengel/Roth, ZRP 2013, 12 (13); Lipp, FamRZ 2013, 913 (916); Mittag, in: Gewalt und Psyche, S. 43; ders., R&P 2012, 197 (199); Olzen/Metzmacher, BtPrax 2011, 233 (237). 17 Mittag, in: Gewalt und Psyche, S. 43. 18 Grengel/Roth, ZRP 2013, 12 (13). 19 Lipp, Freiheit und Fürsorge, S. 55. 20 Ebenda. 21 Mittag, in: Gewalt und Psyche, S. 43. 22 Grengel/Roth, ZRP 2013, 12 (13). 23 Schwab, in: Münchener Kommentar BGB, § 1908i Rn. 25.

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besseren Argumente für die Annahme eines privatrechtlichen Charakters der Betreuung, sodass Grundrechte keine unmittelbare Wirkung entfalten.24 Demnach fußt der Beschluss des Bundesgerichtshofs bereits auf einer kritikwürdigen Argumentationsgrundlage. Während der Lösungsweg des BGH demnach zu kritisieren ist, erscheint das Ergebnis, dass eine gesetzliche Grundlage für medizinische Zwangsbehandlungen auch im Betreuungsrecht erforderlich ist, überzeugend. Für ein solches Ergebnis streitet jedoch eine andere Argumentationsgrundlage: Denkbar wäre diesbezüglich zunächst ein Rückgriff auf den erweiterten Eingriffsbegriff. Nach der Lehre des Vorbehalts des Gesetzes darf der Staat nur aufgrund eines Gesetzes in ein Grundrecht eingreifen darf.25 Ein (klassischer) Eingriff ist insbesondere durch ein staatliches Handeln charakterisiert, welches unmittelbar und gezielt zu einer Verkürzung grundrechtlich geschützter Interessen führt.26 Ein unmittelbar staatliches Verhalten liegt bei der Einwilligung des Betreuers in eine Zwangsbehandlung jedoch nicht vor, weil der Betreuer, wie bereits erörtert, nicht als staatliches Organ qualifiziert werden kann. Ansatzpunkt könnte stattdessen die vom Staat vollzogene Anordnung der Betreuung sein, die weitere (mittelbare) Eingriffe begründen könnte. Zwar greift die staatliche Anordnung der Betreuung nicht unmittelbar in die Grundrechte auf körperliche Unversehrtheit und Selbstbestimmung gem. Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG ein, welche bei medizinischen Zwangsbehandlungen betroffen sind, dennoch ermöglicht erst die Bestellung des Betreuers aufgrund seiner damit einhergehenden Entscheidungsbefugnisse weitere Grundrechtsbeeinträchtigungen. Nach dem modernen Eingriffsbegriff kann ein (mittelbarer) Eingriff auch bejaht werden, wenn privates Handeln zwischen den Staat und den Betroffenen tritt und wenn das private Verhalten dem Staat zumindest zurechenbar ist.27 Allerdings herrscht seither Uneinigkeit, welche Kriterien an die Zurechenbarkeit gestellt werden müssen.28 Als Mindestvoraussetzung wird zum Teil die Kausalität des staatlichen Handelns angesehen.29 Die Zurechenbarkeit wird ferner bejaht, wenn das Verhalten des Dritten an den staatlichen Akt anknüpft und keine eigenständigen Steuerungsprozesse in Gang gesetzt werden.30 Ein Betreuer trifft jedoch eigenständige Entscheidungen, die er am Willen und am Wohl des Betreuten ausrichtet.

24

Zustimmend auch Grengel/Roth, ZRP 2013, 12 (13); Holzhauer, ZRP 1989, 451 (452 f.); Lipp, Freiheit und Fürsorge, S. 55; ders., JZ 2006, 661 (663); ders., BtPrax 2006, 62 (64); ders., FamRZ 2013, 913 (916); Mittag, in: Gewalt und Psyche, S. 43; ders., R&P 2012, 197 (199); Tietze, Ambulante Zwangsbehandlungen, S. 72; dies., BtPrax 2006, 131 (134). 25 Epping, Grundrechte, Rn. 404. 26 BVerfG, Beschl. v. 15.3.2018 – 2 BvR 1371/13 = NJW 2018, 2312 (2313). 27 Voßkuhle/Kaiser, JuS 2013, 313 (313). 28 Dreier, in: Dreier, GG, vor Art. 1 Rn. 127. 29 Sachs, in: Sachs, GG, Vor Art. 1 Rn. 83. 30 Epping, Grundrechte, Rn. 394.

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4. Teil: Erforderlichkeit einer Regelung

Das Bundesverfassungsgericht hat bisher offen gelassen, ob die Bestellung des Betreuers auch weitere mittelbare Eingriffe begründen kann.31 In einem Beschluss aus dem Jahr 2018 hat das Bundesverfassungsgericht die Kriterien des modernen Eingriffs zumindest erheblich ausgeweitet. Das Bundesverfassungsgericht hielt fest, dass die Vorhersehbarkeit der Grundrechtsbeeinträchtigung als wesentliches Kriterium zur Feststellung des erweiterten Eingriffs fungiert: „Hängt die Beeinträchtigung grundrechtlich geschützter Interessen vom Verhalten anderer Personen ab oder beruht sie auf einem komplexen Geschehensablauf, so setzt die Bejahung eines Eingriffs voraus, dass der Staat diese als für ihn vorhersehbare Folge zumindest in Kauf nimmt.“32 Unter Zugrundelegung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts spricht viel dafür, dass die Anordnung der Betreuung auch weitere Eingriffe begründen kann, da der Staat dem Betreuer nicht nur erhebliche Macht verleiht, sondern dadurch zugleich auch in Kauf nimmt, dass weitere Grundrechtsbeeinträchtigungen durch den Betreuer ermöglicht werden. Im Mittelpunkt steht daher nicht bloß der Schutz vor fremden Verhalten, sondern auch die Verantwortung für eigenes Verhalten. Die Annahme eines erweiterten Eingriffs ist mit Verweis auf die Schutzpflichtenlehre jedoch nicht zwingend erforderlich, weil den Staat aufgrund der Anordnung der Betreuung weitere Pflichten treffen. Nach der ständigen Rechtsprechung des BVerfG entfalten die Grundrechtsnormen nicht nur subjektive Abwehrrechte, sondern sie repräsentieren eine objektive Wertordnung, die für alle Bereiche des Rechts gilt.33 Daraus leitet sich zugleich eine umfassende Schutzpflicht des Staates her.34 Sie verpflichtet den Staat, sich schützend und fördernd vor das Leben und die körperliche Unversehrtheit zu stellen.35 Dies impliziert auch die Pflicht, das Leben und die körperliche Unversehrtheit vor rechtswidrigen Eingriffen anderer zu bewahren.36 Die grenzenlose Vertretungsmacht eines Betreuers, die es erlaubt, ohne jegliche Schranken im Bereich der medizinischen Zwangsbehandlungen zu agieren, wäre mit der Schutzpflicht des Staates nicht vereinbar.37 Die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts konnten in der Gesamtschau nicht ohne Weiteres auf das Betreuungsrecht übertragen werden, da die Akteure diesbezüglich nicht ausschließlich als hoheitlich zu qualifizieren sind. Zwar mag das Ergebnis der Entscheidung des BGH im Hinblick auf die Schaffung einer konkreten Befugnisnorm zur Anordnung von Zwangsbehandlungen überzeugend sein, hierfür hätte dieser jedoch einen anderen dogmatischen Weg – konkret in Form einer Bezugnahme auf die Schutzpflichtenlehre – einschlagen müssen. Das vom Senat ge31 32 33 34 35 36 37

BVerfG Beschl. v. 2.8.2001 – 1 BvR 618/93 = NJW 2002, 206 (207). BVerfG, Beschl. v. 15.3.2018 – 2 BvR 1371/13 = NJW 2018, 2312 (2313). BVerfG, Urt. v. 25.2.1975 – 1 BvF 1 – 6/74 = NJW 1975, 573 (575). Ebenda. Ebenda. Ebenda. Mittag, R&P 2012, 197 (203).

A. Ausstrahlungswirkung der Beschlüsse des BVerfG

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schaffene Konstrukt der unmittelbaren Grundrechtswirkung im Rahmen von privatrechtlichen Verhältnissen stellt sich als überflüssig dar, weil ein Betreuter ohnehin nicht schutzlos gelassen werden darf. Da der Gesetzgeber einen Betreuer ermächtigt, in die Grundrechte der Betroffenen einzugreifen, treffen ihn besondere Schutzpflichten.38 Er muss dem Betreuten daher Schutzmechanismen – beispielsweise in Form von richterlichen Kontrollen – zur Verfügung stellen.39 Dies ist vonnöten, da vom Betreuer veranlasste Maßnahmen ansonsten die Gefahr bergen, über das erforderliche Maß hinauszugehen.40 Ein hinreichender Schutz und die Pflicht zur Schaffung von konkreten gesetzlichen Eingriffsgrundlagen besteht mithin unabhängig davon, ob der Betreuer als staatliches Organ zu qualifizieren ist. b) Rechtsprechung des BVerfG Letztendlich bleibt die Frage, warum der BGH aufgrund der Annahme einer unmittelbaren Grundrechtswirkung einen derart erratischen Kurs einschlug. Dies lässt sich dadurch erklären, dass dieser eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts umzusetzen bezweckte. Das BVerfG beriet im Jahre 1960 über die Problematik, ob das in Art. 104 Abs. 2 S. 1 GG statuierte Recht auch zur Geltung kommt, wenn ein Vormund die Unterbringung in einer geschlossenen Unterbringung veranlasst.41 Umstritten war seit jeher, ob sich Art. 104 Abs. 2 GG unmittelbar nur gegen die öffentliche Gewalt richtet oder ebenfalls bei einer Anstaltsunterbringung durch einen Vormund zur Geltung gelangt.42 Das Bundesverfassungsgericht hat sich im Jahre 1960 für die zweite Alternative entschieden und damit zugleich für eine extensive Auslegung der Vorschrift.43 Die Karlsruher Richter haben insbesondere mit dem Wortlaut der Norm argumentiert, welcher sich nicht auf die öffentliche Gewalt beschränke.44 Weiterhin stehe Art. 104 GG in unmittelbarem Zusammenhang mit Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG.45 Diese Verknüpfung spreche dafür, dass Art. 104 Abs. 2 S. 1 GG an der wertentscheidenden Funktion, die aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG hervorgehe, teilhabe.46 Das Bundesverfassungsgericht hat zwar die Frage offen gelassen, ob Art. 104 Abs. 2 GG infolge der objektiven Wertentscheidung überall dort, wo ein materielles Gesetz die Freiheitsbeschränkung erlaubt, Geltung beansprucht, zumin38

Mittag, in: Gewalt und Psyche, S. 44. Ebenda. 40 Lipp, JZ 2006, 661 (664). 41 BVerfG, Beschl. v. 10.2.1960 – 1 BvR 526/53, 1 BvR 29/58 = BVerfGE 10, 302. 42 Für eine ausschließlich unmittelbare Geltung für die Staatsgewalt und allenfalls eine Drittwirkung im Rahmen der Vormundschaft plädieren insbesondere Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 104 Rn. 8; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 104 Rn. 29; Radtke, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 104 Rn. 5. 43 BVerfG, Beschl. v. 10.2.1960 – 1 BvR 526/53, 1 BvR 29/58 = BVerfGE 10, 302 (317 ff.). 44 BVerfG, Beschl. v. 10.2.1960 – 1 BvR 526/53, 1 BvR 29/58 = BVerfGE 10, 302 (320 ff.). 45 BVerfG, Beschl. v. 10.2.1960 – 1 BvR 526/53, 1 BvR 29/58 = BVerfGE 10, 302 (322 f.). 46 Ebenda. 39

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4. Teil: Erforderlichkeit einer Regelung

dest ist der Anwendungsbereich auf alle Konstellationen ausgeweitet worden, in denen der Freiheitsentzug einen fürsorgerischen Charakter besitzt.47 Eine richterliche Entscheidung nach Art. 104 Abs. 2 Satz 1 u. 2 GG sei daher auch dann erforderlich, wenn ein Vormund das Mündel in einer geschlossenen Anstalt unterbringe.48 Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts ist insofern vom Bundesgerichtshof kritikwürdig ausgelegt worden, als niemals auf eine unmittelbare Grundrechtsgeltung Bezug genommen worden ist. Vielmehr hat das Bundesverfassungsgericht nur den spezifischen Umgang mit Art. 104 Abs. 2 GG erörtert. Obwohl die Vorschrift des Art. 104 Abs. 2 GG fest in der in Art. 2 Abs. 2 GG manifestierten Freiheitsgarantie verwurzelt ist, stellt Art. 104 Abs. 2 GG kein eigenständiges Grundrecht dar.49 Art. 104 Abs. 2 GG präzisiert lediglich den in Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG enthaltenen Gesetzesvorbehalt und bereichert ihn durch weitere Rechtsgarantien – beispielsweise dem Recht auf richterliche Entscheidung.50 Das Bundesverfassungsgericht hat demzufolge gerade nicht darüber beraten, ob Grundrechte unmittelbar im Verhältnis eines Vormundes zu seinem Mündel zur Anwendung kommen, sondern es hat sich ausschließlich mit Art. 104 Abs. 2 GG und dessen Reichweite befasst. Es handelte sich somit bereits um eine andere Ausgangslage. Zudem hat das Bundesverfassungsgericht einen Vormund nicht als staatliches Organ klassifiziert, sondern stattdessen eine „Doppelgleisigkeit der Vormundschaft“ angenommen, weil sie zwar vom Staat bestellt werde, aber eine private Tätigkeit des Vormundes begründe.51 Allerdings spreche die Durchführung der öffentlichen Fürsorge durch private Personen nicht gegen die Geltung des Art. 104 Abs. 2 GG.52 „Auch kann es nicht darauf ankommen, daß die Unterbringung des volljährigen Mündels in einer geschlossenen Anstalt nach geltendem Recht nicht als unmittelbarer Akt der öffentlichen Fürsorge erscheint, […]“53

Der Staat könne sich aus seiner Grundrechtsbindung nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts nicht durch die Bestellung eines Privaten zur Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben befreien.54 Insbesondere führe der Umstand, dass die Unterbringung durch einen Vormund nur durch die potentielle oder tatsächliche Hilfe des Staates ermöglicht werde, dazu, dass die Freiheitsentziehung durch einen Vor-

47 48 49 50 51 52 53 54

BVerfG, Beschl. v. 10.2.1960 – 1 BvR 526/53, 1 BvR 29/58 = BVerfGE 10, 302 (323 f.). BVerfG, Beschl. v. 10.2.1960 – 1 BvR 526/53, 1 BvR 29/58 = BVerfGE 10, 302 (327 f.). Mehde, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 104 Rn. 1. Ebenda. BVerfG, Beschl. v. 10.2.1960 – 1 BvR 526/53, 1 BvR 29/58 = BVerfGE 10, 302 (326). Ebenda. BVerfG, Beschl. v. 10.2.1960 – 1 BvR 526/53, 1 BvR 29/58 = BVerfGE 10, 302 (324). BVerfG, Beschl. v. 10.2.1960 – 1 BvR 526/53, 1 BvR 29/58 = BVerfGE 10, 302 (327).

A. Ausstrahlungswirkung der Beschlüsse des BVerfG

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mund nicht wie eine privatrechtliche Beziehung zwischen Staatsbürgern behandelt werden könne.55 All die vom Bundesverfassungsgericht geäußerten Grundlagen zielen letztendlich nicht auf eine staatliche Klassifizierung des Vormundes ab, sondern beschreiben ausschließlich, welche Folgen der staatliche Akt der Bestellung mit sich bringt.56 Dieser darf im Ergebnis nicht dazu führen, dass der Staat die Grundrechtsbindung umgeht, indem er Privatpersonen zur Wahrung einer öffentlichen Aufgabe bestellt. Wie bereits zuvor erläutert, ist es dem Staat aber ohnehin nicht möglich, sich von der Grundrechtsbindung zu lösen, weil ihn weiterhin besondere Schutzpflichten treffen.57 Dass der Bundesgerichtshof in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts somit den Nährboden für eine unmittelbare Grundrechtsgeltung gesehen hat, bleibt kritisch zu würdigen. Der Beschluss hätte vielmehr Anlass gegeben, der Schutzpflichtenlehre Beachtung zu schenken. Die Tatsache, dass das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss aus dem Jahr 1960 noch nicht explizit die Schutzpflichtenlehre angeführt hat, kann nicht als Argument dienen, diese auch noch im Jahr 2016 außer Acht zu lassen. Es darf nicht in Vergessenheit geraten, dass erst durch das „Lüth-Urteil“58 aus dem Jahr 1958 die Weichenstellung für eine Erweiterung der Grundrechtsdogmatik über das bloße Abwehrrecht hinaus geschaffen worden ist. Erst in den siebziger Jahren fand die Schutzpflichtenlehre Einklang in die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts.59 Es ist daher ohnehin fraglich, ob ein Beschluss aus dem Jahr 1960 auch noch in heutigen Zeiten als Vorbild für wesentliche grundrechtsdogmatische Entscheidungen dienen kann. Zudem hat das Bundesverfassungsgericht auch im Jahre 1960 durch seine Formulierungen die objektive Wertentscheidung aufgegriffen, an der Art. 104 GG aufgrund des unmittelbaren Zusammenhangs mit Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG teilhabe.60 Die Bezugnahme auf die objektive Wertentscheidung wäre überflüssig gewesen, wenn das Bundesverfassungsgericht eine unmittelbare Grundrechtsgeltung angenommen hätte. Die Wortwahl, die das Bundesverfassungsgericht in einem Beschluss aus dem Jahre 2014 wählte, in dem die Notwendigkeit einer betreuungsrechtlichen Ermächtigungsgrundlage für die Anordnung von Zwangsbehandlungen bestätigt worden ist,61 deutet ebenfalls darauf hin, dass ein Betreuer gerade nicht als staatliches Organ qualifiziert wird. Als Begründung für das Erfordernis einer hinreichenden 55

BVerfG, Beschl. v. 10.2.1960 – 1 BvR 526/53, 1 BvR 29/58 = BVerfGE 10, 302 (327). Auch weitere Autoren sehen in der Entscheidung nicht den Nährboden für eine unmittelbare Grundrechtsgeltung: Lipp, BtPrax 2006, 62 (64); Tietze, Ambulante Zwangsbehandlungen, S. 70 f. 57 Mittag, in: Gewalt und Psyche, S. 44. 58 BVerfG, Urt. v. 15.1.1958 – 1 BvR 400/57 = BVerfGE 7, 198 = NJW 1958, 257. 59 S. hierzu beispielsweise BVerfG, Urt. v. 25.2.1975 – 1 BvF 1 – 6/74 = BVerfGE 39, 1 = NJW 1975, 573; BVerfG, Urt. v. 16.10.1977 – 1 BvQ 5/77 = BVerfGE 46, 160 = NJW 1977, 2255; BVerfG, Beschl. v. 1.8.1978 – 2 BvR 1013/77 = BVerfGE 49, 24 = NJW 1978, 2235. 60 BVerfG, Beschl. v. 10.2.1960 – 1 BvR 526/53, 1 BvR 29/58 = BVerfGE 10, 302 (322 f.). 61 BVerfG, Beschl. v. 12.8.2014 – 2 BvR 1698/12 = FamRZ 2014, 1775. 56

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4. Teil: Erforderlichkeit einer Regelung

Gesetzesgrundlage im Betreuungsrecht führt das Gericht lediglich den Verstoß gegen Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG an und lässt die konkrete dogmatische Begründung offen. Diese Wortwahl lässt den sorgfältigen Leser innehalten, denn während in den Beschlüssen zum Maßregelvollzug noch oft der Terminus des „Grundrechtseingriffes“ fiel, lässt sich in der Entscheidung aus dem Jahr 2014 ausschließlich das Wort „Grundrechtsverstoß“ finden. Dass das höchste Gericht seine Wortwahl zufällig wählt, erscheint eher unwahrscheinlich. Deutlich wahrscheinlicher ist eine bewusste Wahl der Begriffe, da Eingriffe nach gefestigter Rechtsprechung nur bei staatlichem Handeln anzunehmen sind.62 Im Umkehrschluss würde das Gericht damit eine Handlung eines Betreuers nicht der öffentlichen Gewalt zurechnen. In der Gesamtschau geben die zuvor dargelegten Beschlüsse des Bundesgerichtshofs keinen Anlass, eine unmittelbare Grundrechtsgeltung im Rahmen der Betreuung anzunehmen. Vielmehr verwischt eine solche Auslegung die Dogmatik des Grundgesetzes.

II. Übertragung auf die Vormundschaft, Pflegschaft Unter Zugrundelegung der aufgeworfenen Kritik ist eine unmittelbare Übertragung der Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts auf die Vormundschaft und Pflegschaft nicht überzeugend. Sofern der Bundesgerichtshof allerdings an seiner Rechtsprechung festhält, wäre in der Konsequenz ebenfalls eine gesetzliche Regelung im Bereich der Vormundschaft und Pflegschaft vonnöten, da auch hier die Bestellung durch einen staatlichen Akt erfolgt und der Staat auch hier nicht vor seiner Grundrechtsbindung fliehen dürfte.63 Gleichwohl würde sich eine solche Regelung an den Besonderheiten des Kindschaftsrechts orientieren müssen, sodass keine pauschale inhaltliche Übertragung der Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts zur Zwangsbehandlung im Maßregelvollzug stattfinden könnte.

III. Übertragung auf die Elternschaft Während bereits eine Übertragung der Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts auf die Vormundschaft aus den zuvor dargelegten Gründen fragwürdig erscheint, so fehlt es in Bezug auf die Elternschaft gänzlich an einer dogmatischen Begründung. Im Gegensatz zur Vormundschaft beruht die elterliche Gewalt nicht auf einem staatlichen Hoheitsakt, sondern auf einem natürlichen Verhältnis der Eltern zu ihren Kindern.64 Die Herleitung einer unmittelbaren Grundrechtsgeltung entzieht 62 Selbst nach dem modernen Eingriffsbegriff muss ein staatliches Handeln vorliegen: Epping, Grundrechte, Rn. 393. 63 Hoffmann, NZFam 2015, 985 (988). 64 BVerfG, Beschl. v. 10.2.1960 – 1 BvR 526/53, 1 BvR 29/58 = BVerfGE 10, 302 (328).

B. Erforderlichkeit aufgrund von Schutzpflichten

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sich in diesem Bereich folglich jeglicher Begründung. Die Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts sprechen für sich genommen somit nicht für das Erfordernis der Ausgestaltung der Eltern-Kind-Beziehung im Hinblick auf medizinische Zwangsbehandlung.

IV. Ergebnis Der Vergleich der Ausstrahlung der Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts auf den Rechtsbereich der Vormundschaft und Pflegschaft sowie der Elternschaft führt zu einem Dilemma: Eine gesetzliche Normierung der Zwangsbehandlung müsste nach Ansicht des Bundesgerichtshofs im Bereich der Vormundschaft und Pflegschaft vorgenommen werden, nicht jedoch zur Ausgestaltung der Beziehung eines Kindes zu seinen Eltern. Dies stellt sich als inkonsequent dar, da das Vorbild der Vormundschaft und Pflegschaft die Elternschaft sein sollte.65 Die Einführung eines „Sonderkindschaftsrechts“66 wurde vom Gesetzgeber offensichtlich nicht bezweckt. Um eine Durchbrechung dieses Gleichlaufs zu verhindern, könnte eine gesetzliche Grundlage ebenso für die Elternschaft geschaffen werden. Gleichwohl wäre sodann die Vorbildfunktion vertauscht, denn die Vormundschaft und Pflegschaft würde als Leitbild für die Elternschaft fungieren. Ohnehin würde sich ein blindes Austauschen der Vorbildfunktion schwierig gestalten, da sich eine zu schaffende Regelung im Eltern-Kind-Verhältnis immerhin an Art. 6 Abs. 2 GG messen lassen muss. Diese dem Gesetz widersprechende Vorgehensweise könnte hingegen vermieden werden, wenn aus anderen Gründen eine gesetzliche Grundlage zur Ausgestaltung der medizinischen Zwangsbehandlung auch für die Eltern-Kind-Beziehung erforderlich wäre. Wie bereits erörtert wäre zur Schaffung einer hinreichenden Rechtssicherheit eine gesetzliche Modifikation wünschenswert.

B. Erforderlichkeit aufgrund von Schutzpflichten Ferner könnte auch die Schutzpflichtenlehre den Staat zur einer verfassungsgemäßen Ausgestaltung der Eltern-Kind-Beziehung in Bezug auf Zwangsbehandlungen veranlassen. Dass den Grundrechten über ein bloßes Abwehrrecht weitere Funktionen – wie zum Beispiel Schutzpflichten – zu entnehmen sind, wird heutzutage kaum bestritten.67 Seit dem „Lüth-Urteil“68 ist eine Erweiterung der Grundrechtswirkungen 65

Dies wird bereits dadurch deutlich, dass in vielen Vorschriften z. B. § 1793 Abs. 1 S. 2 und § 1800 auf die Vorschriften zur Ausgestaltung der Eltern-Kind-Beziehung verwiesen wird. 66 Schwab, in: Neue Perspektiven im Vormundschafts- und Pflegschaftsrecht, S. 32. 67 Stern bezeichnet sie gar als Gemeingut fast des gesamten europäischen Verfassungskreises: Stern, DÖV 2010, 241 (243). 68 BVerfG, Urt. v. 15.1.1958 – 1 BvR 400/57 = BVerfGE 7, 198 = NJW 1958, 257.

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4. Teil: Erforderlichkeit einer Regelung

über das Konstrukt der Grundrechte als Abwehrrechte anerkannt.69 Die Grundrechte schützen den Einzelnen nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts nicht nur vor Eingriffen des Staates, sondern sie stellen ebenfalls eine objektive Werteordnung auf.70 Die Akzeptanz einer objektiven Werteordnung führt dazu, dass Grundrechte in allen Bereichen des Rechts zu beachten sind und zumindest eine mittelbare Grundrechtswirkung entfalten.71 Dies stellt den Gesetzgeber vor die Herausforderung, innerhalb privatrechtlicher Verhältnisse die objektive Werteordnung des Grundgesetzes zu erhalten und somit Grundrechte vor Verstößen Privater zu schützen.72 Er hat umfassend dafür Sorge zu tragen, dass den Grundrechten durch legislative Ausgestaltung auch im Privatrecht Geltung zukommt.73 In dieser Aufgabe zeigt sich zugleich die untrennbare Verknüpfung mit einer staatlichen Schutzpflicht, denn das Gebot, die objektive Werteordnung zu erhalten, birgt gleichzeitig die Handlungspflicht, im Sinne des Schutzes der Grundrechte zu agieren.74 Schutzpflichten sind demgemäß die notwendige Konsequenz der Anerkennung einer objektiven Werteordnung der Grundrechte.75

69

Sie wird mittlerweile gar als fester Bestandteil der heutigen Grundrechtsdogmatik bezeichnet: Stern, Staatsrecht III/1, S. 907. 70 BVerfG, Urt. v. 15.1.1958 – 1 BvR 400/57 = BVerfGE 7, 198 (205) = NJW 1958, 257 (257). 71 Ebenda. 72 Hermes, NJW 1990, 1764 (1765). 73 Epping, Grundrechte, Rn. 351. 74 Für einen solchen Zusammenhang plädieren ebenfalls: Badura, in: FS Molitor, S. 9; Böckenförde, Der Staat 29 (1990), 1 (12); Dolderer, Objektive Grundrechtsgehalte, S. 198; Herdegen, in: Gegenwartsfragen des Öffentlichen Rechts, S. 176; Hermes, NJW 1990, 1764 (1765); Jarass, AÖR 110 (1985), 363 (378 f.); Klein, NJW 1989, 1633 (1640); Lepa, Der Inhalt der Grundrechte, S. 13; Lorenz, in: FS Scholz, S. 331; Pietrzak, JuS 1994, 748 (749); Preu, JZ 1991, 265 (267); Rauschning, VVDStRL 38 (1980), 167 (183); Ruffert, Vorrang der Verfassung, S. 166; ders. in: Grundrechte als Phänomene kollektiver Ordnung, S. 110 f.; Rupp, Die grundrechtliche Schutzpflicht, S. 22; Stern, DÖV 2010, 241 (249); Unruh, Zur Dogmatik der grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 89. Auch das BVerfG betont in einigen Entscheidungen einen konkreten Zusammenhang zwischen der objektiven Wertentscheidung und der Schutzpflichtenlehre: z. B. BVerfG, Beschl. v. 26.7.2016 – 1 BvL 8/15 = BVerfGE 142, 313 (337) = NJW 2017, 53 (55); BVerfG, Beschl. v. 29.10.1987 – 2 BvR 624/83 = BVerfGE 77, 170 (214) = NJW 1988, 1651 (1653); BVerfG, Beschl. v. 20.12.1979 – 1 BvR 385/77 = BVerfGE 53, 30 (57) = NJW 1980, 759 (761). 75 Böckenförde, Der Staat 29 (1990), 1 (12); Streuer, Die positiven Verpflichtungen, S. 52. Es existieren jedoch noch weitere Ansätze zur Herleitung von Schutzpflichten. So wurde in der Literatur beispielsweise auch versucht, über Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG die Schutzpflichtenlehre zu rechtfertigen. Für eine umfassende Darstellung wird auf folgende Autoren verwiesen: Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 410 ff; Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, S. 437 ff.; Canaris, AcP 184 (1984), 201 (225 ff.); Hermes, Das Grundrecht auf Schutz, S. 113 ff.; Lindner, Theorie der Grundrechtsdogmatik, S. 356 ff.; Ruffert, Vorrang der Verfassung, S. 152 ff.; Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, S. 211 ff.; Unruh, Zur Dogmatik der grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 26 ff.

B. Erforderlichkeit aufgrund von Schutzpflichten

113

I. BVerfG, Beschl. v. 26.7.2016 – 1 BvL 8/15 Anstoß für die Erwägung, dass die Schutzpflichtenlehre den Gesetzgeber auch im Bereich der medizinischen Zwangsbehandlung von Kindern zu einer Regelung veranlassen könnte, bietet ein Beschluss des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2016.76 Das Bundesverfassungsgericht hat sich mit der Frage auseinandergesetzt, ob es gegen die Grundsätze der Verfassung verstößt, dass nach damaliger Rechtslage nur einwilligungsunfähige untergebrachte Personen zwangsbehandelt werden durften.77 Sofern ein Patient nicht geschlossen untergebracht war, weil er sich der Behandlung aufgrund von körperlicher Schwäche räumlich nicht entziehen konnte, fehlte es an der Erforderlichkeit einer Unterbringung, sodass auch eine Zwangsbehandlung nicht zulässig war. In dem konkreten Fall, der dem Beschluss zugrunde lag, litt die Betroffene des Ausgangsverfahrens unter einer schizoaffektiven Psychose. Sie stand aus diesem Grund unter Betreuung und wurde kurzzeitig in eine Pflegeeinrichtung aufgenommen. Dort lehnte sie jegliche Medikamenteneinnahme ab. Aus diesem Grund wurde die Betroffene mit richterlicher Genehmigung auf eine geschlossene Demenzstation in einem Klinikum verlegt. Auf dieser Station wurde sie auf der Grundlage mehrerer betreuungsgerichtlicher Beschlüsse im Wege ärztlicher Zwangsmaßnahmen medikamentös behandelt. Zudem wurden dort weitere Untersuchungen hinsichtlich einer vermuteten Krebserkrankung durchgeführt, welche diesen anfänglichen Verdacht bestätigten. Die Betroffene war zu diesem Zeitpunkt körperlich stark geschwächt und konnte sich nur noch mittels eines Rollstuhls fortbewegen. Im Rahmen einer richterlichen Befragung lehnte die Betroffene die erforderliche Chemotherapie jedoch ab. Die Betreuerin beantragte daraufhin, die Unterbringungsgenehmigung für die Betroffene zu verlängern und ärztliche Zwangsmaßnahmen, insbesondere zur Behandlung des Brustkrebses, zu genehmigen. Das zuständige Amtsgericht wies den Antrag auf Unterbringung und Zwangsbehandlung zurück. Zur Begründung wurde angeführt, dass bei der Betroffenen zwar eine psychische Krankheit vorliege, die sie daran hindere, in die erforderlichen ärztlichen Heilbehandlungen einzuwilligen. Eine Unterbringung sei allerdings nicht erforderlich, da die beantragten Heilbehandlungen und ärztlichen Eingriffe auch im Rahmen einer offenen Einrichtung erfolgen könnten. Auch das Landgericht wies die Beschwerde der Betreuerin mit der Begründung zurück, dass eine Freiheitsentziehung nach § 1906 Abs. 1 BGB nicht notwendig und damit nicht erforderlich sei. Eine Freiheitsentziehung sei im Sinne dieser Vorschrift nur dann erforderlich und dürfe deshalb auch nur dann angeordnet werden, wenn sich der Betroffene ohne die die Freiheit einschränkenden Vorkehrungen der Örtlichkeit räumlich entziehen könne. Die Betroffene sei jedoch bettlägerig und nicht in der 76 77

BVerfG, Beschl. v. 26.7.2016 – 1 BvL 8/15 = BVerfGE 142, 313 = NJW 2017, 53. Ebenda.

114

4. Teil: Erforderlichkeit einer Regelung

Lage, sich selbständig aus dem Bett zu bewegen oder zu gehen. Die beantragte Zwangsbehandlung sei vom Gesetzgeber nur im Rahmen der geschlossenen Unterbringung im Sinne von § 1906 Abs. 1 BGB zugelassen worden. Ohne eine genehmigte freiheitsentziehende Unterbringung sei eine Zwangsbehandlung nach § 1906 Abs. 3, 3 a BGB jedoch nicht zulässig.78 Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts stellt die fehlende Möglichkeit der Zwangsbehandlung von nicht unterbringungsfähigen Betreuten einen Verstoß gegen die aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG hergeleitete Schutzpflicht dar.79 Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG verpflichte den Staat, hilfsbedürftigen Menschen, die im Hinblick auf ihre Gesundheitssorge unter Betreuung stehen und bei einem drohenden erheblichen gesundheitlichen Schaden die Notwendigkeit der ärztlichen Maßnahme nicht erkennen oder nicht nach dieser Einsicht handeln können, notfalls gegen ihren natürlichen Willen Schutz durch ärztliche Versorgung zu gewähren.80 Da es auch dem Kindschaftsrecht an einer konkreten Regelung zum Umgang mit medizinischen Zwangsbehandlungen mangelt, könnte gleichermaßen erwogen werden, ob hierin ein Verstoß gegen die Schutzpflichtenlehre zu sehen ist. Allerdings ist zwischen dem Betreuungs- und Minderjährigenrecht ein wesentlicher Unterschied zu verzeichnen: Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts zielte darauf, einwilligungsunfähigen Betreuten Schutz in Form des Ermöglichens von medizinischen Zwangsbehandlungen zu gewähren. Während im Betreuungsrecht eine Zwangsbehandlung nach zuvor dargestellter Ansicht des BGH81, welche später durch das Bundesverfassungsgericht bestätigt worden ist,82 ohne hinreichende gesetzliche Grundlage nicht zulässig ist, so lautet das allgemeine Credo in der juristischen Literatur, dass eine Zwangsbehandlung von zumindest einwilligungsunfähigen Kindern aufgrund der gesetzlichen Vertretungsmacht der Eltern erlaubt ist.83 Im Gegensatz zum Betreuungsrecht kann folglich einwilligungsunfähigen Kindern jedenfalls im Grundsatz trotz fehlender Regelung ein Schutz in Form von Zwangsbehandlungen gewährt werden. Es geht im Kindschaftsrecht daher weniger darum, medizinische Zwangsbehandlungen zu ermöglichen, sondern stattdessen, ihr durch die Normierung konkreter Voraussetzungen Grenzen zu setzen. Trotz dieser unterschiedlichen Zielrichtungen kann der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts als Anstoß gesehen werden, um zu diskutieren, ob nicht auch im Minderjährigenrecht die Schutzpflichtenlehre für eine Modifikation der bisherigen Rechtslage spricht. Schließlich drängt eine aus den Grundrechten hergeleitete 78 79

(59). 80

(55). 81 82 83

BVerfG, Beschl. v. 26.7.2016 – 1 BvL 8/15 = BVerfGE 142, 313 = NJW 2017, 53. BVerfG, Beschl. v. 26.7.2016 – 1 BvL 8/15 = BVerfGE 142, 313 (352) = NJW 2017, 53 BVerfG, Beschl. v. 26.7.2016 – 1 BvL 8/15 = BVerfGE 142, 313 (336) = NJW 2017, 53 BGH, Beschl. v. 1.2.2006 – XII ZB 236/05 = BGHZ 166, 141 = DNotZ 2006, 626. BVerfG, Beschl. v. 12.8.2014 – 2 BvR 1698/12 = FamRZ 2014, 1775. Dodegge/Zimmermann, PsychKG NRW, § 18 Rn. 6.

B. Erforderlichkeit aufgrund von Schutzpflichten

115

Schutzpflicht den Staat nicht nur zu einer bestimmten Handlung. Es wäre demnach möglich, dass aus einer Schutzpflicht der Handlungsauftrag des Staates resultiert, Zwangsbehandlungen unter gewissen Umständen zu ermöglichen, einer solchen ärztlichen Maßnahme aber gleichwohl Schranken zu setzen, da sie in erheblicher Weise das Recht auf Selbstbestimmung tangiert.

II. Schutzpflichten im Rahmen der medizinischen Zwangsbehandlung Eine Schutzpflicht entsteht nur im Hinblick auf solche Interessen, die Grundrechtsschutz genießen.84 Prinzipiell kommen alle Freiheitsgrundrechte als Träger der staatlichen Schutzpflicht in Betracht.85 Zunächst muss demzufolge erörtert werden, ob der Schutzbereich eines Grundrechtes im Rahmen einer Zwangsbehandlung tangiert ist. Weiterhin muss eine gewisse Gefährdungslage hinsichtlich der Verletzung eines Grundrechts bestehen.86 1. Schutzpflicht in Bezug auf das Selbstbestimmungsrecht Jede Behandlung gegen den Willen eines Menschen beeinträchtigt dessen Selbstbestimmungsrecht. Dass ein solches Recht besteht, wird kaum bestritten, über die Herleitung sind sich Rechtsprechung und Literatur indes uneinig. Zum Teil wird das Selbstbestimmungsrecht aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht gemäß Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG hergeleitet.87 Eher selten wird vertreten, dass das Selbstbestimmungsrecht ausschließlich auf Art. 2 Abs. 1 GG zurückzuführen ist.88 Das Bundesverfassungsgericht hat in seinen Beschlüssen zur Zwangsbehandlung im Rahmen des Maßregelvollzugs und der öffentlich-rechtlichen Unterbringung das Selbstbestimmungsrecht ausschließlich auf Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG gestützt.89 Dies erscheint insofern sinnvoll, als das Selbstbestimmungsrecht in der 84

Lindner, Theorie der Grundrechtsdogmatik, S. 364. Erichsen, Jura 1997, 85 (86); Schmitz, Grundrechtliche Schutzpflichten, S. 104; Szczekalla, Die sogenannten grundrechtlichen Schutzpflichten S. 149. 86 Erichsen, Jura 1997, 85 (87); Lorenz, in: FS Scholz, S. 332. 87 Di Fabio, in: Maunz/Dürig GG, Art. 2 Abs. 1 Rn. 204; Ganner, BtPrax 2007, 62 (65); Geißl, Zwangsmaßnahmen, S. 276; Honds, Die Zwangsbehandlung im Betreuungsrecht, S. 36; Nebendahl, MedR 2009, 197 (199); Sachs, Verfassungsrecht II, Kap. 14 Rn. 54; Steenbreker, MedR 2012, 725 (725); Zuck, NJW 1991, 2933 (2933); ders., Grundrechtsschutz und Grundrechtsentfaltung, S. 34. 88 BVerfG, Beschl. v. 25.7.1979 – 2 BvR 878/74 = BVerfGE 52, 131 (168) = NJW 1979, 1925 (1930); BVerfG, Beschl. v. 26.7.2016 – 1 BvL 8/15 = BVerfGE 142, 313 (339) = NJW 2017, 53 (56); Lorenz, NZFam 2017, 782 (785). 89 BVerfG, Beschl. v. 23.3.2011 @ 2 BvR 882/09 = BVerfGE 128, 282 (300) = NJW 2011, 2113 (2114); Beschl. v. 12.10.2011 @ 2 BvR 633/11 = BVerfGE 129, 269 (280) = NJW 2011, 3571 (3571); Beschl. vom 20.2.2013 – 2 BvR 228/12 = BVerfGE 133, 112 (131) = NJW 2013, 85

116

4. Teil: Erforderlichkeit einer Regelung

Medizin zumindest eng mit der körperlichen Unversehrtheit verknüpft ist.90 Gleichwohl muss man sich auch mit der Frage auseinandersetzen, ob ärztliche Zwangsbehandlungen die Menschenwürde tangieren. a) Herleitung über Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG Nach der von Dürig geprägten Objekt-Formel ist die Menschenwürde betroffen, wenn ein Mensch zum Objekt herabgewürdigt wird.91 Für eine medizinische Behandlung ist jedoch in der Regel das persönliche Krankheitsbild des Patienten relevant. Diesbezüglich fungiert der Patient demgemäß nicht als bloßes Objekt, sondern seine Behandlung ist von individuellen Gegebenheiten abhängig.92 Überzeugend erscheint es somit, im Grundsatz im Rahmen von Behandlungen gegen den Willen eines Patienten keine Beeinträchtigung von Art. 1 Abs. 1 GG anzunehmen. Ausnahmen können sich lediglich bei besonders unwürdigen Behandlungsmaßnahmen ergeben. Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG ruft somit keine konkrete Schutzpflicht für den Bereich der medizinischen Zwangsbehandlungen hervor. Zu prüfen bleibt allerdings, ob sich das Selbstbestimmungsrecht und damit zugleich eine Schutzpflicht aus dem Allgemeinen Persönlichkeitsrecht herleiten lässt. b) Herleitung über Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG Das allgemeine Persönlichkeitsrecht, welches sich aus einer Verknüpfung von Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 1 Abs. 1 GG ergibt, schützt umfassend die engere persönliche Lebenssphäre.93 Obwohl das Bestehen des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts anerkannt ist, ergeben sich seither aufgrund der Verbindung zweier Grundrechte Probleme in Bezug auf die Bestimmung des Schutzbereiches. Während sich einige anerkannte Fallgruppen herausgebildet haben, zählt das medizinische Selbstbestimmungsrecht bisher noch nicht dazu.94 Kennzeichnend für alle etablierten Fallgruppen – wie beispielsweise das informationelle Selbstbestimmungsrecht, das 2337 (2337); Beschl. v. 19.7.2017 – 2 BvR 2003/14 = BVerfGE 146, 294 (310) = NJW 2017, 2982 (2982). Diese Vorgehensweise befürworten ebenso: Brückner, Das medizinische Selbstbestimmungsrecht Minderjähriger, S. 27; Francke, Ärztliche Berufsfreiheit und Patientenrechte, S. 102 f.; Henking/Mittag, in: Zwangsbehandlung psychisch kranker Menschen, S. 36; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 1 Rn. 20; Mayer, Medizinische Maßnahmen an Betreuten, S.109; Rehborn/Schäfer, in: 25 Jahre Arbeitsgemeinschaft, S. 266; Rinke, NStZ 1988, 10 (11); Streit, Patientenverfügungen Minderjähriger, S. 45; Tietze, Ambulante Zwangsbehandlungen, S. 58 f. 90 So auch das Sondervotum Hirsch, Niebler, Steinberger: BVerfG, Beschl. v. 25.7.1979 – 2 BvR 878/74 = NJW 1979, 1925 (1931). 91 Herdegen, in: Maunz/Dürig GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 36. 92 Heide, Medizinische Zwangsbehandlung, S. 188. 93 Horn, in: Stern/Becker, GG, Art. 2 Rn. 34. 94 Brückner, Das medizinische Selbstbestimmungsrecht Minderjähriger, S. 27.

B. Erforderlichkeit aufgrund von Schutzpflichten

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Recht am eigenen Bild sowie auf Selbstdarstellung in der Öffentlichkeit95 – ist ein enger Bezug zum Schutz der Privatheit einer Person. Dies spiegelt sich in der sog. Sphärentheorie wider, nach der das Allgemeine Persönlichkeitsrecht die Intimsphäre, die Privatsphäre und Sozialsphäre mit unterschiedlicher Intensität schützt.96 Das medizinische Selbstbestimmungsrecht berührt im Gegensatz zu den etablierten Fallgruppen hingegen weniger die private Lebenssphäre. Stattdessen soll über den eigenen Körper disponiert werden. Das medizinische Selbstbestimmungsrecht betrifft somit nicht Aspekte der Persönlichkeit in ihren sozialen Bezügen, sondern zielt auf die Entscheidungsbefugnis über den eigenen Körper.97 Insofern ist eine Herleitung des medizinischen Selbstbestimmungsrechts über Art. 2 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG unpassend. Dem Allgemeinen Persönlichkeitsrecht kommt ohnehin im Wesentlichen nur die Funktion zu, die speziellen Freiheitsrechte zu komplettieren.98 Auf eine solche Ergänzung kann jedoch verzichtet werden, wenn die übrigen Freiheitsgrundrechte einen hinreichenden Schutz gewährleisten. Diesbezüglich ist anzumerken, dass hinsichtlich der medizinischen Entscheidungen eines Menschen ein deutlich engerer Bezug zu Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG gegeben ist, da die Hoheit des Einzelnen über seinen Körper im Vordergrund steht.99 Aus dem Wortlaut von Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG resultiert zudem keine Beschränkung auf bloß äußerliche Beeinträchtigungen der Körpersphäre.100 Es ist daher durchaus möglich, eine Ausweitung im Hinblick auf den Schutz von Willensbetätigungen vorzunehmen, die sich auf die körperliche Integrität richten.101 Schutzgut ist folglich die umfassende Ungestörtheit der körperlichen Sphäre.102 Da das medizinische Selbstbestimmungsrecht demnach bereits in den Schutzbereich des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG fällt, erscheint die Erweiterung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts um eine weitere Fallgruppe obsolet. c) Herleitung über Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG Das medizinische Selbstbestimmungsrecht lässt sich im Ergebnis aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG herleiten. Aus dem Wortlaut des Art. 2 Abs. 2 GG erwächst im Gegensatz zu anderen Normen wie beispielsweise Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG keine ausdrückliche Schutzpflicht.103 Nach den obigen Ausführungen schützt das Recht auf 95

Sachs, Verfassungsrecht II, Kap. 14 Rn. 54. Lang, in: Epping/Hillgruber, Art. 2 Rn. 35. 97 Francke, Ärztliche Berufsfreiheit und Patientenrechte, S. 104. 98 Hofmann, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, Art. 2 Rn. 14; Horn, in: Stern/ Becker, GG, Art. 2 Rn. 34. 99 Francke, Ärztliche Berufsfreiheit und Patientenrechte, S. 104. 100 Brückner, Das medizinische Selbstbestimmungsrecht Minderjähriger, S. 28. 101 Brückner, Das medizinische Selbstbestimmungsrecht Minderjähriger, S. 27. 102 Lorenz, in: HStR VI (1989), § 128 Rn. 16. 103 Di Fabio, in: Maunz/Dürig GG, Art. 2 Abs. 2 S. 1 Rn. 43. 96

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4. Teil: Erforderlichkeit einer Regelung

körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG den Einzelnen nicht nur als subjektives Abwehrrecht gegen staatliche Eingriffe, sondern es beinhaltet darüber hinaus die staatliche Pflicht, die Rechtsgüter Leben und körperliche Unversehrtheit vor rechtswidrigen Verletzungen von Seiten anderer zu bewahren.104 aa) Schutz Minderjähriger vor Zwangsbehandlungen Zu erörtern bleibt lediglich, ob auch im Umgang mit Minderjährigen eine konkrete Schutzpflicht erwächst. Grundsätzlich sind alle natürlichen Personen – ggf. ebenso juristische Personen gemäß Art. 19 Abs. 3 GG – Begünstigter einer Schutzpflicht.105 Es ergeben sich daher keine Differenzen zu abwehrrechtlichen Fällen.106 Entscheidend ist somit ausschließlich, ob dem jeweiligen Begünstigten eine Grundrechtsträgerschaft zukommt. Die Grundrechtsträgerschaft umfasst die Fähigkeit, Inhaber von den im Grundgesetz manifestierten Grundrechten zu sein.107 Das Grundgesetz differenziert nicht anhand verschiedener Altersstrukturen oder Fähigkeiten108, sodass folglich ebenfalls Kinder grundrechtsberechtigt sind.109 Auch das Bundesverfassungsgericht betonte in der Vergangenheit, dass Grundrechte ihrer Geschichte und ihrem heutigen Inhalt nach insbesondere individuelle Rechte, Menschen- und Bürgerrechte seien, die den Schutz konkreter, besonders gefährdeter Bereiche menschlicher Freiheit zum Gegenstand hätten.110 An diesen Rechten nimmt zweifellos ebenso ein Minderjähriger als „Mensch in seiner werdenden Personalität“ teil.111 Aus diesem Grund erscheint die in der Literatur immer wieder artikulierte Forderung nach der Aufnahme von spezifischen Kindesgrundrechten zwar als positives Zeichen im Hinblick auf die Stärkung von Kinderrechten, gleichzeitig erweist sie sich dennoch als überflüssig.112 Aus verfassungsrechtlicher Sicht stellt es eine Selbstverständlichkeit dar, die Belange des Kindes zu berücksichtigen.113 104

S. hierzu 3. Teil B. I. Szczekalla, Die sogenannten grundrechtlichen Schutzpflichten S. 169. 106 Ebenda. 107 Lepa, Der Inhalt der Grundrechte, S. 27. 108 Es wird lediglich zwischen sog. „Jedermanngrundrechten“ und „Deutschengrundrechten“ unterschieden: Hohm, NJW 1986, 3107 (3108). 109 Brückner, Das medizinische Selbstbestimmungsrecht Minderjähriger, S. 46 f. 110 BVerfG, Beschl. v. 31.10.1984 – 1 BvR 35, 356, 794/82 = BVerfGE 68, 193 (205) = NJW 1985, 1385 (1385). 111 Hohm, NJW 1986, 3107 (3108). 112 Ebenso Rossa, Kinderrechte, S. 125; Westermeyer, Die Herausbildung des Subsidiaritätsverhältnisses, S. 182. Folgende Autoren postulieren jedoch die Aufnahme von Kinderrechten in das Grundgesetz: Benassi, NDV 2012, 97 (100); ders., ZRP 2015, 24 (26); Cremer, Stellungnahme zur Aufnahme von Kinderrechten ins Grundgesetz als Maßnahme zur Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention, abrufbar unter: https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/uploads/tx_commerce/stel lungnahme_aufnahme_v_kinderrechten_ins_grundgesetz_als_ma%C3%9Fnahme_z_umset zung_der_un_kinderrechtskonvention.pdf (Letzter Aufruf: 1.7.2020); Heiß, NZFam 2015, 532 105

B. Erforderlichkeit aufgrund von Schutzpflichten

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Im Ergebnis bleibt daher festzuhalten, dass Kinder und Jugendliche Träger des Rechts auf medizinische Selbstbestimmung sind. Aus diesem Grund resultiert für den Gesetzgeber im Hinblick auf medizinische Zwangsbehandlungen von Minderjährigen eine konkrete Schutzpflicht. In der Literatur114 hat sich allerdings die Ansicht verbreitet, dass über die Grundrechtsträgerschaft hinaus eine Differenzierung am Maßstab der Grundrechtsmündigkeit erforderlich sei.115 Sie bezeichnet die Fähigkeit, Grundrechte selbst auszuüben.116 Unter diesem Gesichtspunkt könnte erwogen werden, die Existenz von Schutzpflichten im Bereich der medizinischen Zwangsbehandlung zumindest für besonders junge Kinder zu verneinen, die zur Selbstbestimmung aufgrund ihres geringen Alters nicht fähig sind. Wer ein Grundrecht schließlich nicht ausüben kann, dessen Recht muss nicht geschützt werden. Diese Überlegung erscheint jedoch aus mehreren Gründen verfehlt. Die Existenz einer Grundrechtsmündigkeit findet bereits keine Stütze im Grundgesetz.117 Abgesehen davon, dass sich das Konstrukt der Grundrechtmündigkeit bereits ohne überzeugende Begründung in der Literatur etabliert hat, führt es zu wesentlichen (537); Hohmann-Dennhardt, FPR 2012, 185 (187); Kuhn/Gerhardt, ZRP 2014, 215 (216) (Interview); Künast, FPR 2008, 478 (481); Maywald, Forum Erziehungshilfen 2009, 245 (245 ff.); Peschel-Gutzeit, RdJB 1994, 491 (497); Wiesner, ZKJ 2008, 225 (227). Auch in der Politik erfährt diese Forderung zunehmend mehr Beachtung: Entwurf der Fraktion DIE LINKE, BT-Drs. 17/10118; Entwurf der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, BT-Drs. 17/11650; Entwurf der Franktion der SPD BT-Drs. 17/13223. 113 Wapler, Kinderrechte und Kindeswohl, S. 498. Da das Grundgesetz den Schutz von Kindern demgemäß bereits garantiert, wäre allenfalls eine stärkere Beachtung von Kinderrechten in der Praxis von Seiten der Judikative, Legislative und Exekutive notwendig, um einen höheren Schutz zu erzielen: Kirchhof, ZRP 2007, 149 (152). 114 Für die Anerkennung der Grundrechtsmündigkeit sprechen sich unter anderem folgende Autoren aus: Fehnemann, Die Innehabung und Wahrnehmung von Grundrechten, S. 32 ff.; Huber, in: Handbuch der Grundrechte II, § 49 Rn. 17 ff.; Kästner, DÖV 1977, 500 (502 f.); Merten, in: Handbuch der Grundrechte III, § 56 Rn. 94 f.; v. Mutius, Jura 1987, 272 (274); Reuter, Kindesgrundrechte und elterliche Gewalt, S. 55 ff.; Schwerdtner, AcP 173 (1973), 227 (229 ff.). Gegen die Anerkennung einer Grundrechtsmündigkeit plädieren insbesondere: Antoni, in: Hömig/Wolff, GG, Vor Art. 1 Rn. 12; Brückner, Das medizinische Selbstbestimmungsrecht Minderjähriger, S. 51 f.; Brüser, Die Bedeutung der Grundrechte im Kindesalter, S. 70; Gleixner-Eberle, Die Einwilligung in die medizinische Behandlung, S. 341; Grabenwarter, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 5 Rn. 26 f.; Herdegen, FamRZ 1993, 374 (376); Hohm, NJW 1986, 3107 (3111); Hönig, Das Umgangsrecht im Spannungsfeld, S. 210; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 19 Rn. 13; Müller-Franken, in: Schmidt/Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, Vorb. Art. 1 Rn. 32; Rehborn/Schäfer, in: 25 Jahre Arbeitsgemeinschaft, S. 264; Reinicke, Der Zugang des Minderjährigen zum Zivilprozeß, S. 50; Roell, Die Geltung der Grundrechte für Minderjährige, S. 32 ff.; Schulze, Elternrecht und Beschneidung, S. 65. 115 Dieser Begriff wurde wesentlich von Krüger geprägt: FamRZ 1956, 329 (329 ff.). 116 Germann, in: Epping/Hillgruber, Art. 4 Rn. 27. 117 Hohm, NJW 1986, 3107 (3110).

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4. Teil: Erforderlichkeit einer Regelung

Abgrenzungsproblemen, da in der Literatur weiterhin Uneinigkeit herrscht, wie genau die Grundrechtsmündigkeit bestimmt werden kann.118 bb) Zusammenfassung Das medizinische Selbstbestimmungsrecht lässt sich im Ergebnis aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG herleiten und gebührt Kindern ebenso wie Erwachsenen. Der Gesetzgeber ist aufgrund der aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG resultierenden Schutzpflicht angehalten, Minderjährige vor Beeinträchtigungen des medizinischen Selbstbestimmungsrechts zu schützen. Dies kann nur in Form einer konkreten Regelung erfolgen, an welcher es derzeit fehlt. 2. Schutzpflicht in Bezug auf die allgemeine Handlungsfreiheit Möglich erscheint ferner, dass neben dem Selbstbestimmungsrecht auch die allgemeine Handlungsfreiheit bei Behandlungen gegen den Willen eines Menschen betroffen ist, welche ebenso eine Schutzpflicht hervorrufen könnte. Die allgemeine Handlungsfreiheit erfasst auch die sog. negative Handlungsfreiheit.119 Dem Menschen steht mithin die Freiheit zu, etwas nicht tun zu müssen. Auch in der Medizin spielt diese Freiheit eine prägende Rolle. Allerdings fungiert Art. 2 Abs. 1 GG als bloßes Auffanggrundrecht und ist gegenüber spezielleren Freiheitsrechten nur subsidiär anzuwenden.120 Wie bereits erörtert, leitet sich das Selbstbestimmungsrecht insbesondere aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG her, sodass auf Art. 2 Abs. 1 GG nicht zurückgegriffen werden muss. 3. Schutzpflicht in Bezug auf das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit „Autonomie und körperliche Gestalt erweisen sich als zwei Seiten derselben Medaille […].“121

Eine medizinische Zwangsmaßnahme betrifft nicht nur das Selbstbestimmungsrecht, welches sich, wie bereits dargestellt, aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG herleitet122, sondern darüber hinaus unmittelbar die in Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG ebenso gewährleistete körperliche Unversehrtheit. Die meisten Behandlungen gegen den Willen eines Patienten bezwecken zwar eine Förderung des Wohlergehens des Pa118 S. hierzu näher Brüser, Die Bedeutung der Grundrechte im Kindesalter, S. 66 f.; Schulze, Elternrecht und Beschneidung, S. 57 f. 119 Lang, in: Epping/Hillgruber; GG, Art. 2 Rn. 7. 120 Antoni, in: Hömig/Wolff, GG, Art. 2 Rn. 3. 121 Francke, Ärztliche Berufsfreiheit und Patientenrechte, S. 105. 122 S. hierzu die Ausführungen im Rahmen des 3. Teils B. II. 2.

B. Erforderlichkeit aufgrund von Schutzpflichten

121

tienten, dies steht dem Schutz durch Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG jedoch nicht entgegen. Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG schützt nicht lediglich die Gesundheit, sondern der Grundrechtsträger soll darüber hinaus vor sämtlichen Einwirkungen auf die körperliche Integrität geschützt werden,123 sodass medizinische Zwangsbehandlungen vom Schutzbereich erfasst sind, da diese in der Regel mit einer Beeinträchtigung des Rechts auf körperliche Unversehrtheit einhergehen. Aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG erwächst folglich in den Fällen von medizinischen Zwangsbehandlungen auch im Hinblick auf die körperliche Unversehrtheit eine konkrete Schutzpflicht. Diese Schutzpflicht kann einerseits zu einer Einschränkung von Behandlungen gegen den Willen eines Menschen führen. Andererseits ist der Staat durch die in Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG enthaltene Schutzpflicht angehalten, hilfsbedürftigen Menschen, die trotz einer erheblichen gesundheitlichen Gefährdung nicht die Notwendigkeit einer ärztlichen Maßnahme erkennen oder nach dieser Einsicht nicht handeln können, notfalls gegen ihren Willen Schutz durch ärztliche Versorgung zu gewähren.124 Der Gesetzgeber ist daher gezwungen, einen schwierigen Spagat zwischen dem Schutz vor Zwangsbehandlungen und dem Schutz durch Zwangsbehandlungen zu vollziehen. 4. Schutzpflicht in Bezug auf die Wächterstellung Eine ausdrückliche Schutzpflicht kann zudem aus der in Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG manifestierten Wächterstellung des Staates hergeleitet werden.125 Gemäß Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG steht den Eltern grundsätzlich das Recht und die Plicht zu, die Pflege und Erziehung nach ihren eigenen Vorstellungen selbstbestimmt auszuüben.126 Gleichwohl ist es dem Staat gemäß Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG möglich, über die Pflege und Erziehung zu wachen. Dieses Wächteramt des Staates fußt auf dem besonderen Schutzbedürfnis des Kindes, dem als Grundrechtsträger eigene Grundrechte zukommen.127 Der wesentliche Maßstab des Handelns des Staates ist demgemäß ausschließlich das Kindeswohl.128 123

Fink, in: Handbuch der Grundrechte IV, § 88 Rn. 34. BVerfG, Beschl. v. 26.7.2016 – 1 BvL 8/15 = BVerfGE 142, 313 (336 f.) = NJW 2017, 53 (55). 125 Brosius-Gersdorf, in: Dreier, GG, Art. 6 Rn. 175; v. Coelln, in: Sachs, GG, Art. 6 Rn. 69; Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 30; Erichsen, Jura 1997, 85 (86); Krings, Grund und Grenzen grundrechtlicher Schutzpflichten, S. 146; Robbers, in: Mangoldt v./Klein/Starck, GG, Art. 6 Rn. 241; Ruffert, Vorrang der Verfassung, S. 153; Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, S. 211; Unruh, Zur Dogmatik der grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 27; Wapler, Kinderrechte und Kindeswohl, S. 176; Wyttenbach, Grund- und Menschenrechtskonflikte, S. 89. 126 Sachs, Verfassungsrecht II, Kap. 18 Rn. 30. 127 BVerfG, Beschl. v. 29.7.1968 – 1 BvL 20/63, 31/66, 1 BvL 5/67 = BVerfGE 24, 119 (144) = NJW 1968, 2233 (2235). 128 Hölbling, Wie viel Staat vertragen Eltern, S. 142. 124

122

4. Teil: Erforderlichkeit einer Regelung

Üblicherweise kann der Staat seinen Schutzpflichten in Bezug auf Kinder und Jugendliche gerecht werden, indem er sie der Erziehung ihrer Eltern unterstellt.129 Diese Vorgehensweise genügt jedoch nicht, wenn Kindeswohlgefährdungen durch die Entscheidungen der Eltern drohen, wie es bei Behandlungen gegen den Willen eines Menschen der Fall sein kann. Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG berechtigt nicht nur zu einem Eingreifen, sofern das Kindeswohl bereits einen Schaden erlitten hat, sondern verlangt auch die Vornahme einer Gefahrenvorsorge.130 Es handelt sich insofern um eine Kontrollnorm.131 Der Staat kann der Gefahrenprävention nur gerecht werden, sofern er das Eltern-KindVerhältnis hinreichend ausformt.132 Eine solche Gestaltung beinhaltet die Auferlegung von rechtlichen Schranken. „Es sprechen viele Gründe dafür, solche Bindungen und Grenzen ihrerseits in Grenzen zu halten, um die Familie und die Eltern-Kind-Beziehung als einen vorwiegend von sittlichmoralischen Normen und Standards determinierten Lebensbereich nicht zu stören; fehlen sie aber, wird der Charakter des Elternrechts als Rechtsbefugnis selbst fraglich. Es bleibt dann die reine, vielleicht sittlich-moralisch, vielleicht aber auch eigennützig-egoistisch geleitete elterliche Bestimmungs- und Erziehungsmacht.“133

Um das Elternrecht auf die Bahnen der Fremdnützigkeit zu leiten, ohne dabei das Risiko von Willkür zu forcieren, ist die Auferlegung von rechtlichen Schranken in Form der Ausgestaltung des Eltern-Kind-Verhältnisses zwingend erforderlich. Besonders in grundrechtlich relevanten Bereichen erscheint eine solche rechtliche Ausformung angezeigt. Da jede Zwangsbehandlung mit einer erheblichen Beeinträchtigung des Selbstbestimmungsrechts und des Rechts auf körperliche Unversehrtheit gemäß Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG einhergeht, muss der Gesetzgeber einen rechtssicheren Zustand gewähren, der für kindeswohlgefährdende Entscheidungen keinen Raum lässt. Welche Maßnahmen im Rahmen von ärztlichen Zwangsbehandlungen letztendlich das Kindeswohl gefährden, bleibt späteren Erörterungen überlassen. Zunächst wird lediglich abstrakt festgestellt, dass der Staat verpflichtet ist, die Rahmenbedingungen einer Zwangsbehandlung festzulegen, um seiner Wächterstellung in einem derart sensiblen Bereich gerecht zu werden. 5. Bewertung Den Gesetzgeber trifft aufgrund der zuvor aufgeführten spezifischen Schutzpflichten die Aufgabe, eine ausführliche Ausgestaltung der Eltern-Kind-Beziehung vorzunehmen, denn ein hinreichender Schutz kann nur gewährleistet werden, wenn 129

Roth, Die Grundrechte Minderjähriger, S. 129. Brosius-Gersdorf, in: Dreier, GG, Art. 6 Rn. 185; Ossenbühl, Das elterliche Erziehungsrecht, S. 75. 131 Jeand’Heur, Verfassungsrechtliche Schutzgebote zum Wohl des Kindes, S. 24. 132 Epping, Grundrechte, Rn. 524. 133 Böckenförde, in: Essener Gespräche, S. 71. 130

B. Erforderlichkeit aufgrund von Schutzpflichten

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die Rechtsverhältnisse eindeutig geregelt sind. Diesbezüglich steht dem Gesetzgeber ein gewisser Gestaltungsspielraum zu.134 Dieser Gestaltungsspielraum findet seine Grenze allerdings im sog. Untermaßverbot, welches immer dann verletzt ist, wenn der Staat einen Mindestschutz grundlegend verfehlt.135 Eine grundlegende Verfehlung eines Mindestschutzes wäre dann gegeben, wenn Schutzvorkehrungen überhaupt nicht getroffen worden sind oder wenn bestimmte Regelungen ungeeignet sind, um einen hinreichenden Schutz zu erzielen.136 Aus Respekt vor dem Handlungsspielraum des Gesetzgebers sollte bei dieser Beurteilung versucht werden, eine Norm, die imstande wäre, einen hinreichenden Schutz zu bieten, zunächst schutzkonform auszulegen.137 In Bezug auf die medizinische Zwangsbehandlung von Kindern und Jugendlichen wurde bereits festgestellt, dass es trotz zahlreicher Auslegungsversuche an einer konkreten Regelung fehlt, da sich die Normen zum Behandlungsvertrag nicht auf medizinische Zwangsbehandlungen beziehen.138 Aus § 630 d Abs. 1 BGB kann zumindest gefolgert werden, dass ab dem Vorliegen der Einwilligungsfähigkeit eine Behandlung gegen den Willen eines Minderjährigen nicht möglich ist. Es existieren jedoch keinerlei Normen, die den konkreten Umgang mit ärztlichen Maßnahmen gegen den Willen eines einsichtsunfähigen Kindes regeln und mithin einen ernsthaften Schutz garantieren könnten. Wie bereits erörtert, gestaltet sich diesbezüglich die Waffe des § 1666 BGB als ein „stumpfes Schwert“.139 Auf der einen Seite ist fraglich, inwiefern eine medizinische Zwangsbehandlung das körperliche oder seelische Wohl des Kindes gefährdet. Auf der anderen Seite ist die Norm zu abstrakt, um im Bereich der medizinischen Zwangsbehandlungen den komplexen Grundrechtsverflechtungen gerecht zu werden. Einen hinreichenden Schutz vor Zwangsbehandlungen bietet die derzeitige Rechtslage daher nicht, sodass eine Verletzung des Untermaßverbotes anzunehmen ist. Hoffmann merkt ferner zutreffend an, dass die Schaffung einer gesetzlichen Regelung zum Umgang mit medizinischen Zwangsbehandlungen im Gegensatz zum Maßnahmenkatalog des § 1666 Abs. 3 BGB einen deutlich milderen Eingriff in das Elternrecht darstellen würde.140 Auch im Hinblick auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz wäre die Normierung der Prämissen einer zulässigen Zwangsbehandlung demgemäß sinnvoll. Zudem gilt ohnehin: Je gefährdeter ein Rechtsgut – beispielsweise infolge des Bestehens von Abhängigkeiten – ist, desto stärker ist das verfassungsrechtliche 134

Hofmann, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, Art. 2 Rn. 60. Lang, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 2 Rn. 76. 136 BVerfG, Beschl. v. 26.7.2016 – 1 BvL 8/15 = BVerfGE 142, 313 (337 f.) = NJW 2017, 53 (55). 137 Preu, JZ 1991, 265 (270). 138 S. hierzu 2. Teil B. I., V., C. I. 139 Götz, in: Zwangsbehandlung bei Selbstgefährdung, S. 81. 140 Hoffmann, NZFam 2015, 985 (989). 135

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4. Teil: Erforderlichkeit einer Regelung

Bedürfnis, die bisherige Gesetzeslage zu modifizieren.141 Das Eltern-Kind-Verhältnis zeichnet sich wesentlich durch ein solches Abhängigkeitsverhältnis des Kindes aus, sodass unter diesem Aspekt eine gesetzliche Normierung zwingend erforderlich ist. Es erscheint bedenklich, dass der Gesetzgeber aufgrund der Komplexität der Materie Fragen rund um Zwangsbehandlungen Minderjähriger bisher auf das Abstellgleis geschoben hat, obwohl er gleichzeitig erkannt hat, dass es sich hierbei um einen grundrechtlich besonders sensiblen Rechtsbereich handelt.142 Es ist daher an der Zeit, sich mit der gebotenen Sorgfalt diesem Thema zu widmen und eine konkrete Normierung der Voraussetzungen einer Zwangsbehandlung vorzunehmen. Wie diese Regelung inhaltlich aussehen muss, betrifft wiederum eine Frage, die im Folgenden erörtert wird.

C. Vorbehalt des Gesetzes Nicht nur die Schutzpflichtenlehre, sondern ebenso die Lehre des Vorbehaltes des Gesetzes, nach der der Staat nur aufgrund eines Gesetzes in ein Grundrecht eingreifen darf,143 könnte für die Notwendigkeit der Schaffung einer Ermächtigungsgrundlage sprechen und den Gesetzgeber somit zu einer Modifikation des Kindschaftsrechts zwingen. Allerdings ist im Kontext der medizinischen Zwangsmaßnahmen von Kindern und Jugendlichen fraglich, ob eine Behandlung gegen den Willen von Minderjährigen als Eingriff qualifiziert werden kann.

I. Eingriff Ein Eingriff ist insbesondere durch ein staatliches Handeln charakterisiert.144 Eine Zwangsbehandlung wird aber in der Regel, sofern sie in keiner staatlichen Einrichtung stattfindet, von einem Arzt vollzogen. Das Arzt-Patienten-Verhältnis fußt im Wesentlichen auf den privatrechtlichen Regelungen der §§ 630 a ff. BGB, sodass ein hoheitliches Verhalten nicht vorliegt, sofern das Verhalten des Arztes als Ansatzpunkt fungiert.145 141

Klein, NJW 1989, 1633 (1640). S. hierzu BT-Drs. 18/11741, S. 31. 143 Epping, Grundrechte, Rn. 404. 144 Auch nach dem modernen Eingriffsbegriff muss ein staatliches Handeln vorliegen: Epping, Grundrechte, Rn. 393. 145 In Bezug auf die Vormundschaft und Pflegschaft wäre es jedoch denkbar, das Vorliegen eines Eingriffs nach dem modernen bzw. erweiterten Eingriffsbegriff auch bei der Einwilligung des Vormundes oder Pflegers in eine Zwangsbehandlung zu bejahen, wenn man der Ansicht folgt, dass die Bestellung eines Vormundes oder Pflegers weitere (mittelbare) Eingriffe be142

C. Vorbehalt des Gesetzes

125

Auch die Regelungen von §§ 630 a ff. BGB stellen keinen Verstoß gegen die Lehre des Vorbehaltes des Gesetzes dar. Zwar befasst sich § 630 d BGB nicht ausdrücklich mit einer Behandlung gegen den Willen eines Menschen, gleichwohl lässt sich der Norm eine entscheidende Wertung entnehmen: Wenn ein Mensch eigenständig in eine ärztliche Maßnahme einwilligen kann, darf eine Behandlung e contrario nicht gegen seinen Willen durchgeführt werden, da gemäß § 630 d Abs. 1 S. 1 BGB eine ärztliche Maßnahme grundsätzlich ohne Einwilligung nicht zulässig ist. Allerdings besteht aufgrund der konkreten Regelung durch § 630 d BGB zugleich – wie von der Lehre des Vorbehalts des Gesetzes gefordert – eine gesetzliche Grundlage für einen möglichen Eingriff in das Elternrecht. Selbst wenn § 630 d Abs. 1 S. 1 BGB demgemäß aufgrund der Schmälerung der Entscheidungsbefugnisse der Eltern einen nicht gerechtfertigten Eingriff in das Elternrecht darstellen würde, so wurde jedenfalls die Lehre des Vorbehalts des Gesetzes aufgrund der gesetzgeberischen Entscheidung nicht unterlaufen. Anders könnte die Rechtslage im Hinblick auf ein vom Bundesgerichtshof gefälltes Urteil aus dem Jahr 2007 zu bewerten sein. Wie bereits erörtert, ist eine Zwangsbehandlung nach Ansicht des BGH bei nur relativ indizierten Maßnahmen mit erheblichen Folgen nicht rechtmäßig.146 Dem Kind stehe, sofern es eine ausreichende Urteilsfähigkeit besitzt, ein Veto-Recht zu, was im Ergebnis zu einer Einschränkung der Entscheidungsbefugnisse der Eltern führt.147 Seit dem LüthUrteil148 könnte ein solches Urteil, welches privatrechtliche Verhältnisse näher ausgestaltet, als unzulässiger Grundrechtseingriff gewertet werden, sofern Grundrechte nicht hinreichend angewendet werden. Damit wäre grundsätzlich die Tür geöffnet, das Urteil des Bundesgerichtshofs als Eingriff in das Elternrecht zu qualifizieren. Erforderlich wäre dann jedoch eine Eröffnung des Schutzbereichs des Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG.

gründen kann. Auf die Frage, ob ein erweiterter Eingriff tatsächlich vorliegt, wird aufgrund der Konturlosigkeit des Begriffs nicht weiter eingegangen. Es ist nicht Gegenstand der vorliegenden Untersuchung, dem erweiterten Eingriffsbegriff neue Konturen zu verleihen. Die Frage, ob ein Eingriff vorliegt, spielt für die Ausarbeitung ohnehin nur eine untergeordnete Rolle, da bereits die Ausführungen zu der Schutzpflichtenlehre ergaben, dass eine konkrete Regelung zur Ausgestaltung der Zwangsbehandlung Minderjähriger erforderlich ist. Für eine Zusammenfassung der Eingriffs-Problematik im Hinblick auf die Betreuung kann auf den 4. Teil A. I. 2. a) verwiesen werden. 146 BGH, Urt. v. 18.4.2007 – IV ZR 279/05 = NJW 2007, 217 (218). 147 Aus der Entscheidung des Bundesgerichtshofs wird aufgrund der Verwendung des Begriffs der Urteilsfähigkeit nicht deutlich, ob der Terminus gleichbedeutend mit der Einwilligungsfähigkeit ist oder ob sich die kindliche Reife lediglich auf eine Vetofähigkeit beziehen muss, die unter der Schwelle der Einwilligungsfähigkeit liegt. Diese begriffliche Ungenauigkeit spielt für die nachfolgende Bewertung nur eine untergeordnete Rolle. 148 BVerfG, Urt. v. 15.1.1958 – 1 BvR 400/57 = BVerfGE 7, 198 = NJW 1958, 257.

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4. Teil: Erforderlichkeit einer Regelung

1. Kindeswohlgefährdende Handlungen Gemäß Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG sind die Pflege und Erziehung der Kinder das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Während die „Pflege“ die allgemeine Sorge für das körperliche Wohl sowie für die geistige und charakterliche Entwicklung des Kindes erfasst, wird die „Erziehung“ als Sorge für die Ausbildung und Bildung durch Entfaltung der Fähigkeiten des Kindes verstanden.149 Da die Pflege die Sorge für das physische Wohl erfasst150, unterfällt grundsätzlich auch die medizinische Behandlung dem Elterngrundrecht. Demgemäß müsste der Schutzbereich des Elternrechts bei einem Verbot von Behandlungen gegen den Willen von urteilsfähigen Minderjährigen eröffnet sein. Zu einem anderen Ergebnis kann man nur gelangen, wenn spezifische Sachverhalte von vornherein nicht in den Schutzbereich des Elternrechts fallen. Nicht vom Schutzbereich erfasst sind nach dem eindeutigen Wortlaut des Gesetzes beispielsweise Verhaltensweisen, die unter keinem vertretbaren Gesichtspunkt der Pflege und Erziehung zugeordnet werden können.151 Hierunter fallen beispielsweise die Verwahrlosung oder erhebliche körperliche Übergriffe.152 In Zweifelsfällen und insbesondere dann, wenn Eltern die Vorstellung haben, ihre Kinder mit potentiell schädlichen Handlungen zu erziehen, sollte der Schutzbereich jedoch als eröffnet angesehen werden.153 Im Rahmen der Rechtfertigung kann dann erörtert werden, ob eine Kindeswohlgefährdung vorliegt.154 In der Literatur wird darüber hinaus vertreten, dass Maßnahmen i. S. v. Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG, die von einem kindeswohlgefährdendem Vorverhalten der Eltern ausgelöst worden sind, keine Eingriffe in das Elternrecht darstellen würden.155 Dies sei auf den Charakter des Elterngrundrechts zurückzuführen, da vom sachlichen Schutzbereich die selbstständige Pflege und Erziehung nur insoweit erfasst sei, als sie dem Kindeswohl diene.156 Unter Zugrundelegung dieser These könnte erwogen werden, dass die Schmälerung der Entscheidungsbefugnisse der Eltern im Bereich der medizinischen Zwangsbehandlung nicht als Eingriff zu qualifizieren ist, sofern dabei der Schutz des Kindeswohls im Vordergrund gestanden hat. Eine solche Auffassung ist allerdings kritisch zu würdigen, da der Ausschluss von kindeswohlgefährdendem Verhalten zu einer erheblichen und zugleich unzulässigen 149

Badura, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 6, Rn. 107. Coester-Waltjen, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 6 Rn. 63. 151 Brüser, Die Bedeutung der Grundrechte im Kindesalter, S. 104; Höfling, in: HStR VII, § 155 Rn. 46. 152 Brüser, Die Bedeutung der Grundrechte im Kindesalter, S. 104. 153 Ebenda. 154 Ebenda. 155 Brosius-Gersdorf, in: Dreier, GG, Art. 6 Rn. 172. 156 Brosius-Gersdorf, in: Dreier, GG, Art. 6 Rn. 172; Jestaedt, in: Alles zum Wohl des Kindes, S. 20; Schulze, Elternrecht und Beschneidung, S. 83. 150

C. Vorbehalt des Gesetzes

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Schmälerung des Schutzbereichs des Elternrechts führt. Dass das Kindeswohl die entscheidende Leitschnur für Art. 6 Abs. 2 GG und damit für den Eingriff in das Elternrecht ist, wird nach hier vertretener Auffassung nicht bestritten. Zwar hat das Kindeswohlprinzip keinen Eingang in den Wortlaut des Art. 6 Abs. 2 GG gefunden, dass diesem aber eine entscheidende Bedeutung zukommen muss, erscheint bereits unter Einbeziehung verfassungsrechtlicher Grundprinzipien sinnvoll. „Das Kind hat eigene Würde und eigene Rechte. Als Grundrechtsträger hat es Anspruch auf den Schutz des Staates und die Gewährleistung seiner grundrechtlich verbürgten Rechte. Eine Verfassung, die die Würde des Menschen in den Mittelpunkt ihres Wertesystems stellt, kann bei der Ordnung zwischenmenschlicher Beziehungen grundsätzlich niemandem Rechte an der Person eines anderen einräumen, die nicht zugleich pflichtgebunden sind und die Menschenwürde des anderen respektieren. Dies gilt auch für die Beziehung zwischen einem Elternteil und seinem Kind.“157

Die Akzeptanz des Kindeswohlprinzips bewahrt Minderjährige davor, als bloßes „Objekt elterlicher Bestimmung“ gesehen zu werden.158 Auch Kinder sind Grundrechtsträger, sodass ihre Interessen und Bedürfnisse zu schützen sind. Ein solcher Schutzauftrag muss sich jedoch nach der Grundrechtsdogmatik primär an den Staat richten und nicht an die Eltern. Demgemäß erscheint es sinnvoll, die tragende Bedeutung des Kindeswohlprinzips nicht im Elternrecht, sondern vorwiegend im staatlichen Wächteramt zu suchen, in dem sich die Schutzpflichten für die Grundrechte des Kindes manifestiert haben.159 Bezweifelt wird nach hier vertretener Auffassung demgemäß ausschließlich, dass jegliche kindeswohlgefährdenden Handlungen von vornherein aus dem Schutzbereich des Elternrechts fallen.160 Bevorzugt wird stattdessen, einen Eingriff in Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG bei einer Gefährdung für das Kindeswohl zu rechtfertigen. Hierfür spricht bereits der weite Wortlaut von Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG. Primär verantwortlich für das Kind sind aufgrund der eindeutigen Formulierung und der darin enthaltenen Bezugnahme auf die „zuvörderste“ Pflicht dessen Eltern.161 Die Schmälerung des Schutzbereichs aufgrund des Ausschlusses von kindeswohlgefährdenden Handlungen findet im Wortlaut der Norm keinen Eingang. Das Wächteramt wäre bei einer Aushöhlung des Schutzbereichs zudem praktisch überflüssig: Wenn kindeswohlgefährdende Behandlungen ohnehin nicht in den Schutzbereich des Elternrechts fallen würden, so bedürfte es der besonderen Eingriffsermächtigung des Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG nicht. Der Staat könnte bei dem Vorliegen einer Gefahr für das Wohl des Kindes mangels Eröffnung des Schutzbe157

(240). 158

BVerfG, Urt. v. 1.4.2008 – 1 BvR 1620/04 = BVerfGE 121, 69 (92) = FPR 2008, 238

Reiserer, Das elterliche Erziehungsrecht, S. 17. v. Coelln, in: Sachs, GG, Art. 6 Rn. 69 160 Ebenso Brüser, Die Bedeutung der Grundrechte im Kindesalter, S. 74; Langenfeld/ Wiesner, in: Verantwortlich handeln, S. 52; Wapler, Kinderrechte und Kindeswohl, S. 126. 161 Wapler, Kinderrechte und Kindeswohl, S. 167. 159

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4. Teil: Erforderlichkeit einer Regelung

reichs nach eigenem Belieben einschreiten. Auch in systematischer Hinsicht ist es daher sinnvoll, kindeswohlgefährdende Handlungen nicht von vornherein vom Schutzbereich auszuschließen. Eine Schmälerung des Schutzbereichs führt darüber hinaus zu einer bedenklichen Umgehung des Vorbehalts des Gesetzes. Der Terminus des Kindeswohls ist derart abstrakt, dass er einer Interpretation zugänglich ist. Jeder Interpretationsspielraum öffnet allerdings die Tür zur Willkür. Würden kindeswohlgefährdende Handlungen nicht unter den Schutzbereich des Elternrechts fallen, so könnte jeder staatliche Hoheitsträger unter dem Deckmantel eines unbestimmten Rechtsbegriffs ohne gesetzliche Grundlage die elterlichen Befugnisse nach eigenem Belieben einschränken und dabei zugleich das Abwehrrecht des Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG mangels Eröffnung des Schutzbereichs leerlaufen lassen. Dass dies nicht den Anforderungen eines Rechtsstaats entspricht, liegt auf der Hand. In einem solch rechtsunsicheren Bereich sollte aus rechtsstaatlicher Sicht nicht die Lehre des Vorbehaltes des Gesetzes entkräftet werden. Vielmehr obliegt es dem Gesetzgeber, in grundrechtlich sensiblen Bereichen die wesentlichen Entscheidungen zu treffen. Die Auslegung des Schutzbereichs des Elternrechts sollte demzufolge im Ergebnis extensiv erfolgen.162 Deshalb erscheint es in der Gesamtschau überzeugender, jegliches Verhalten ohne Rücksichtnahme auf Kindeswohlgefährdungen dem Schutzbereich des Elternrechts zu unterstellen.163 Vom Schutzbereich ausgenommen sind lediglich Verhaltensweisen, die unter keinem Gesichtspunkt als Pflege und Erziehung gewertet werden können.164 Freilich soll diesbezüglich nicht das Missverständnis hervorgerufen werden, dass Eltern nach eigenem Belieben zu kindeswohlgefährdendem Verhalten tendieren dürfen. Nach hier bevorzugter Ansicht sollen lediglich die Konturen des Schutzbereichs und der Rechtfertigung eines Eingriffs geschärft werden. Liegt tatsächlich eine Kindeswohlgefährdung vor, so wäre ein staatlicher Eingriff stets gerechtfertigt. Für die medizinische Zwangsbehandlung von Kindern und Jugendlichen bedeutet die zuvor dargestellte Klassifizierung des elterlichen Schutzbereichs Folgendes: Das vom Bundesgerichtshof anerkannte Veto-Recht von Kindern bei nur relativ indizierten Maßnahmen mit erheblichen Folgen stellt einen Eingriff in das Elternrecht dar. Zwar mag unstreitig der Schutz des Kindeswohls im Vordergrund gestanden haben, dies führt allerdings zu keiner anderen Wertung in Bezug auf die Eingriffsqualität, sondern kann allenfalls eine Rechtfertigung des Eingriffs sein.

162

Höfling, in: HStR VII, § 155 Rn. 47. Langenfeld/Wiesner, in: Verantwortlich handeln, S. 52; Wapler, Kinderrechte und Kindeswohl, S. 126. 164 Höfling, in: HStR VII, § 155 Rn. 46. 163

C. Vorbehalt des Gesetzes

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2. Partielle Mündigkeitsregeln Damit hat sich die Eingriffsprüfung des BGH-Urteils jedoch nicht erledigt. Bedauerlicherweise sind weitere Schutzbereichsbegrenzungen des Elternrechts in der Literatur und Rechtsprechung zu beobachten. Das Bundesverfassungsgericht hielt beispielsweise fest, dass partielle Mündigkeitsregelungen, die an der wachsende Selbstständigkeit des Kindes ausgerichtet und sachlich begründet sind, keine Eingriffe in das Elternrecht darstellten.165 Nach allgemeiner Ansicht der Rechtsprechung166 und der Literatur167 stellt das Elternrecht ein fremdnütziges Recht dar, welches mit zunehmender Emanzipation des Minderjährigen verdrängt wird. Es handele sich insofern nur um eine „geliehene Gewalt“.168 Aufgrund der zeitlichen Begrenztheit des Elternrechts könne es daher ab dem Zeitpunkt der Eigenständigkeit zu keinem Eingriff in das Elterngrundrecht kommen.169 Da der Bundesgerichtshof das Veto-Recht eines Minderjährigen an eine ausreichende Urteilsfähigkeit knüpft und damit der wachsenden Selbstbestimmung des Jugendlichen Beachtung schenkt, dürfte unter Zugrundelegung der Ansicht des Bundesverfassungsgerichts ein Eingriff zu verneinen sein. Ein solches Ergebnis scheint aber aus mehreren Gründen fragwürdig: Bereits die vom Bundesverfassungsgericht vorgenommene Verknüpfung mit einer sachlichen Begründung erfolgt in dogmatisch zweifelhafter Weise, da es keiner Rechtfertigung bedarf, wenn kein Eingriff vorliegt. Es wird vielmehr eine wenig nachvollziehbare Vermischung des Schutzbereichs des Elternrechts mit der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung eines Eingriffs vollzogen. Ferner ist die vom Bundesverfassungsgericht vertretene Ansicht auch im Hinblick auf die Bestimmung des Schutzbereichs nicht überzeugend: Die im Elternrecht wurzelnden Rechtsbefugnisse erlöschen grundsätzlich mit dem Eintritt der Voll165 BVerfG, Urt. v. 9.2.1982 – 1 BvR 845/79 = BVerfGE 59, 360 (382) = NJW 1982, 1375 (1377). So auch Schmitt-Kammler, Elternrecht, S. 22 f.; Schröder, Auskunftsanspruch der Eltern, S. 127. 166 BVerfG, Urt. v. 9.2.1982 – 1 BvR 845/79 = BVerfGE 59, 360 (382) = NJW 1982, 1375 (1377). 167 So beispielsweise Antoni, in: Hömig/Wolff, GG, Art. 6 Rn. 17; Baston-Vogt, Der sachliche Schutzbereich, S. 232; Böckenförde, in: Essener Gespräche, S. 65, 67; BrosiusGersdorf, in: Dreier, GG, Art. 6 Rn. 162; Belling, FuR 1990, 68 (72); v. Coelln, in: Sachs, GG, Art. 6 Rn. 70; Diederichsen, in: FS Hirsch, S. 359; Herdegen, FamRZ 1993, 374 (376); Hölbling, Wie viel Staat vertragen Eltern, S.125; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 6 Rn. 51; Knöpfel, FamRZ 1985, 1211 (1213); Kuhn, Grundrechte und Minderjährigkeit, S. 71; Langenfeld/Wiesner, in: Verantwortlich handeln, S. 51; Moritz, Die (zivil-)rechtliche Stellung der Minderjährigen, S.152; Rouka, Das Selbstbestimmungsrecht des Minderjährigen, S. 120; Seizinger, Der Konflikt, S. 76; Ulsenheimer, in: Therapieverweigerung bei Kindern und Jugendlichen, S. 76; Wiesner, ZKJ 2008, 225 (226); Zorn, Das Recht der elterlichen Sorge, Rn. 304. 168 Diederichsen, in: FS Hirsch, S. 359. 169 Gleixner-Eberle, Die Einwilligung in die medizinische Behandlung, S. 348.

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4. Teil: Erforderlichkeit einer Regelung

jährigkeit.170 Dies ist auf den Grund des Elternrechts zurückzuführen: Seine Berechtigung erfährt Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG durch die besondere Schutzbedürftigkeit eines Kindes.171 Der Eintritt der Volljährigkeit stellt hingegen nach der Vorstellung des Gesetzgebers den Zeitpunkt dar, an dem ein Jugendlicher nicht mehr des Schutzes seiner Eltern bedarf. Selbst wenn ein Minderjähriger jedoch in Teilbereichen selbstbestimmungsfähig ist, so impliziert dies nicht, dass er keinerlei Erziehung bedarf. Ist der Jugendliche partiell selbstbestimmungsfähig, so kann es zwar seinem Wohl entsprechen, Entscheidungsbefugnisse zugewiesen zu bekommen.172 Dies ist allerdings eine Abwägung, die nicht den Schutzbereich des Elternrechts betrifft, sondern die verfassungsrechtliche Rechtfertigung eines möglichen Eingriffs in das Elternrecht. Wie bereits zuvor erörtert, gebührt es nach dem klaren Wortlaut des Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG zunächst den Eltern und nicht dem Staat, die Erziehungsbedürftigkeit des Kindes zu bestimmen.173 Setzen die gesetzlichen Vertreter überzogene Mündigkeitsgrenzen an, so ist ein Eingriff in ihr Elternrecht gerechtfertigt, um das Kindeswohl zu schützen. Gleichwohl fällt die Frage nach der Erziehungsbedürftigkeit noch in den Schutzbereich des Elternrechts.174 Die zeitliche Bestimmung des Schutzbereichs kann es in der Gesamtschau nicht rechtfertigen, partielle Teilmündigkeitsregelungen dem Schutzbereich zu entziehen. Im Ergebnis können daher partielle Mündigkeitsregeln aufgrund der Schmälerung der Entscheidungsbefugnisse einen Eingriff darstellen.175

II. Bewertung Im Ergebnis handelt es sich bei der Zuweisung eines Veto-Rechts eines Kindes bei nur relativ indizierten medizinischen Maßnahmen mit der Möglichkeit erheblicher Folgen um einen Eingriff in das Elterngrundrecht, der nach der Lehre des Vorbehalts des Gesetzes einer ausdrücklichen parlamentarischen Entscheidung bedarf. Will man die Ansicht der Rechtsprechung umsetzen, was – dies kann bereits zu diesem Zeitpunkt angemerkt werden – im Hinblick auf die Rechte eines Kindes durchaus sinnvoll erscheint, so ist unter Zugrundelegung des Vorbehalts des Gesetzes die 170 BVerfG, Urt. v. 9.2.1982 – 1 BvR 845/79 = BVerfGE 59, 360 (382) = NJW 1982, 1375 (1377); BVerfG, Beschl. v. 18.6.1986 – 1 BvR 857/85 = BVerfGE 72, 122 (137) = NJW 1986, 3129 (3130); Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 6 Rn. 44; Sachs, Verfassungsrecht II, Kap. 18 Rn. 32. Ausgenommen von diesem Grundsatz sind nur Fälle, in denen Kinder im besonderen Maße unterstützungsbedürftig sind. Zudem sind Eltern ihren Kindern über die Volljährigkeit hinaus verpflichtet: Robbers, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 6 Rn. 161. 171 Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 6 Rn. 45. 172 Epping, Grundrechte, Rn. 524. 173 Badura, in: FS Lorenz, S. 108. 174 Brüser, Die Bedeutung der Grundrechte im Kindesalter, S. 84. 175 Ebenso wohl auch Sachs, Verfassungsrecht II, Kap. 18 Rn. 40.

D. Erforderlichkeit aufgrund eines Verstoßes gegen Art. 3 Abs. 1 GG

131

Schaffung einer gesetzlichen Grundlage zur Ausgestaltung der Rechtmäßigkeit von Zwangsbehandlungen dringend erforderlich.

D. Erforderlichkeit aufgrund eines Verstoßes gegen Art. 3 Abs. 1 GG Die fehlende Ausgestaltung der medizinischen Zwangsbehandlung von Kindern und Jugendlichen könnte daneben auch einen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG sowie gegen Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG darstellen. Anlass für eine solche Erwägung bietet ein Beschluss des BGH aus dem Jahr 2015. Dieser musste sich mit der Problematik auseinandersetzen, ob eine Verletzung von Art. 3 Abs. 1 GG vorliegt, wenn eine bestimmte Personengruppe nicht von einer begünstigenden Norm profitiert. Konkret stellte sich die Frage, ob eine stationär durchzuführende ärztliche Zwangsmaßnahme auch bei Betroffenen, die sich der Behandlung räumlich nicht entziehen wollen oder hierzu körperlich nicht in der Lage sind, rechtmäßig durchgeführt werden kann.176 Die Ausgangslage war insofern problematisch, als nach damaliger Rechtslage eine Zwangsbehandlung nur von untergebrachten Betreuten möglich war; Betreute in einer stationären Behandlung gleichwohl nicht weniger schutzbedürftig sind. Nach Überzeugung des BGH verstößt es gegen den Gleichheitssatz, dass eine ärztliche Maßnahme gegen den natürlichen Willen des Betroffenen nur möglich sei, wenn der Betroffene zivilrechtlich untergebracht sei, nicht jedoch, wenn eine freiheitsentziehende Unterbringung ausscheide, weil der Betroffene sich der Behandlung räumlich nicht entziehen wolle oder aus körperlichen Gründen nicht könne.177 Aufgrund der angezweifelten Verfassungsmäßigkeit der damaligen Rechtslage entschied sich der BGH für eine Vorlage an das Bundesverfassungsgericht. Das Bundesverfassungsgericht hat wiederum offen gelassen, ob ein Verstoß gegen den Gleichheitssatz vorgelegen hat, da sich nach Ansicht des Gerichts die Gesetzeslage schon deshalb als verfassungswidrig erwiesen habe, weil bereits aufgrund der fehlenden Regelung der medizinischen Zwangsbehandlung von Betreuten, die nicht freiheitsentziehend untergebracht werden können, aber zugleich als hilfsbedürftig einzustufen seien, ein Verstoß gegen die aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG hergeleitete Schutzpflicht vorliege.178 Dass hinsichtlich der fehlenden Ausgestaltung der medizinischen Zwangsbehandlung Minderjähriger eine Schutzpflichtverletzung vorliegt, wurde bereits festgestellt. Die Ausführungen des BGH könnten darüber hinaus den Schluss zulassen, dass die bisherige Regelung von ärztlichen Maßnahmen im Betreuungsrecht einen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG sowie Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG darstellt, weil sie 176 177 178

(59).

BGH, Beschl. v. 1.7.2015 – XII ZB 89/15 = MedR 2016, 44. BGH, Beschl. v. 1.7.2015 – XII ZB 89/15 = MedR 2016, 44 (45). BVerfG, Beschl. v. 26.7.2016 – 1 BvL 8/15 = BVerfGE 142, 313 (352) = NJW 2017, 53

132

4. Teil: Erforderlichkeit einer Regelung

Minderjährige nicht einbezieht. Wie der Bundesgerichtshof zutreffend festgestellt hat, kann die fehlende Berücksichtigung einer Personengruppe im Rahmen einer begünstigenden Norm den in Art. 3 Abs. 1 GG manifestierten Gleichheitssatz verletzen, wenn zur begünstigenden Gruppe keinerlei Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht zu verzeichnen sind, die eine Ungleichbehandlung rechtfertigen könnten.179 § 1906 a BGB stellt insofern eine begünstigende Norm dar, als sie der Einwilligung des Betreuers und zugleich der Vornahme derartiger Zwangsmaßnahmen rechtliche Grenzen setzt. Der Schutzstandard ist folglich aufgrund der konkreten Normierung deutlich höher als im Kindschaftsrecht. Allerdings könnten zwischen dem Betreuungs- und Minderjährigenrecht derartige Unterschiede bestehen, die eine Ungleichbehandlung rechtfertigen könnten. Sowohl Minderjährige als auch Betreute sind in besonderem Maße schutzbedürftig, sodass gewisse Parallelen kaum verneint werden können. Den wesentlichen Grund für eine Ungleichbehandlung stellen jedoch das in Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG manifestierte Elternrecht sowie die besondere Näheverbindung im Eltern-Kind-Verhältnis dar.180 Grundsätzlich verstößt es damit nicht gegen den Gleichheitssatz, dass im Gegensatz zum Betreuungsrecht keine Regelung zum Umgang mit Zwangsbehandlungen existiert, da eine solche Norm im Kindschaftsrecht mit einer anderen Ausgangslage konfrontiert wird.

E. Ergebnis „Während die Durchführung der Gleichberechtigung der Ehefrau im deutschen Familienrecht in ihren Hauptzügen abgeschlossen scheint, taucht am Horizont dieses neue Problem auf: die Emanzipation der Kinder gegenüber ihren Eltern. […] Diese Erkenntnis beginnt sich erst langsam bei den verschiedensten Rechtsfragen durchzusetzen und führt dazu, daß an vielen Stellen des Bürgerlichen Rechts und des Strafrechts bisher nicht angetastete Strukturen zu brökeln [sic] beginnen.“181

Bedauerlicherweise bestehen noch heute im Umgang mit ärztlichen Behandlungen Minderjähriger die von Schwerdtner im Jahre 1973 beobachteten unangetasteten Strukturen. Dies zeigt vor allem der bisherige Umgang des Gesetzgebers mit der medizinischen Behandlung von Kindern und Jugendlichen. Das komplexe Geflecht aus Kindesgrundrechten, Elternrecht und Schutzpflichten scheint auf den Gesetzgeber eine abschreckende Wirkung auszuüben. Die Regelung von ärztlichen Maßnahmen an Minderjährigen – sei es in Bezug auf die Einwilligung oder auf die medizinische Zwangsbehandlung – wurde jahrzehntelang auf das Abstellgleis geschoben. Auch die Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts sowie des Bundesgerichtshofs zur Zwangsbehandlung im Maßregelvollzug und im Betreuungsrecht 179

BGH, Beschl. v. 1.7.2015 – XII ZB 89/15 = MedR 2016, 44 (48). Gleixner-Eberle, Die Einwilligung in die medizinische Behandlung, S. 350; Taupitz, Gutachten A zum 63. Deutschen Juristentag, A 64. 181 Schwerdtner, AcP 173 (1973), 227 (227 f.). 180

E. Ergebnis

133

konnten den Gesetzgeber bisher nicht zu einer Änderung im Kindschaftsrecht anspornen. Dies ist besonders erstaunlich, da – wie Kammeier richtig konstatiert – auch die Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts zur Zwangsbehandlung im Maßregelvollzug bei Weitem nicht „aus heiterem Himmel oder wie ein plötzliches Unwetter bei strahlendem Sonnenschein“ kamen, sondern ihre Entwicklungsgeschichte hatten.182 Das „Ungewitter“ ist jedoch noch lange nicht vorübergezogen. Derzeit türmen sich vielmehr die dunklen Wolken über dem Kindschaftsrecht auf. Allerdings zwingt den Gesetzgeber weniger die Ausstrahlungswirkung der Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts zum Maßregelvollzug und zur öffentlichen Unterbringung zur Ausgestaltung der medizinischen Behandlung gegen den Willen von Kindern und Jugendlichen, sondern stattdessen erfordern die Schutzpflichtenlehre und die Lehre des Vorbehaltes des Gesetzes eine gesetzliche Änderung. Gleichwohl hätten die aktuellen Entwicklungen rund um die Zwangsbehandlung im Maßregelvollzug und im Betreuungsrecht den Gesetzgeber zu einem Umdenken anregen müssen. Es bleibt lediglich abzuwarten, wann das Bundesverfassungsgericht den Bundesgesetzgeber zu einer Modifikation des Minderjährigenrechts aufruft. Wünschenswert wäre, wenn der Gesetzgeber – seinem bisherigen Muster widersprechend – rasch aus seinem Dornröschenschlaf erwachte und diesem Aufruf zuvorkäme. Ein Handeln des Gesetzgebers ist insbesondere aus verfassungsrechtlicher Sicht zwingend angezeigt.183

182

Kammeier, in: Heilung erzwingen, S. 117. Angemerkt werden muss zudem, dass von psychiatrischer Seite seit Jahren auf diese Problematik hingewiesen worden ist: Steinert, in: Verantwortung und Zurechnung, S. 169. 183 Ebenso Hoffmann, NZFam 2015, 985 (989).

5. Teil

Zulässigkeit und Grenzen von Zwangsmaßnahmen de lege ferenda Nachfolgend wird der Problematik nachgegangen, wie eine Regelung zum Umgang mit medizinischen Zwangsbehandlungen von Kindern und Jugendlichen de lege ferenda inhaltlich gestaltet werden könnte. Ist eine Zwangsbehandlung von Minderjährigen ausnahmslos zulässig? Welche Grenzen sollten an ärztliche Maßnahmen gegen den Willen von Kindern und Jugendlichen gestellt werden? Den wichtigsten Ansatzpunkt für die Beantwortung dieser Fragen stellt das Grundgesetz dar.

A. Verfassungsrechtliche Anforderungen Da die Normierung der Grenzen von Zwangsbehandlungen einen Eingriff in das Elternrecht darstellen könnte, muss eine neu zu schaffende Regelung insbesondere mit Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG kompatibel sein. Das Elterngrundrecht kann demgemäß sogar als Leuchtturm bezeichnet werden, der die wesentliche Richtung für eine Norm vorgibt, die die Voraussetzungen einer Zwangsbehandlung manifestiert. Bevor daher konkrete Reformvorschlägen diskutiert werden können, ist es unabdingbar, zunächst das Fundament einer solchen Regelung – das Elternrecht – näher zu betrachten.

I. Spannungsfeld Elternrecht und Wächteramt Gemäß Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG steht den Eltern grundsätzlich das Recht und die Plicht zu, die Pflege und Erziehung nach ihren eigenen Vorstellungen selbstbestimmt auszuüben.1 Es handelt sich bei Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG insofern um ein klassisches Abwehrrecht.2 Die Entscheidungszuständigkeit der Eltern lässt sich mit der allgemeinen Erwägung begründen, dass diese die Interessen des Kindes am besten wahrnehmen können.3 Es wird hierbei sogar die Möglichkeit einer für das Kind nachteiligen Entscheidung der Eltern in Kauf genommen, die im Rahmen einer nach 1 2 3

Sachs, Verfassungsrecht II, Kap. 18 Rn. 30. Jeand’Heur, Verfassungsrechtliche Schutzgebote zum Wohl des Kindes, S. 19. BVerfG, Beschl. v. 29.1.2010 – 1 BvR 374/09 = NJW 2010, 2333 (2334).

A. Verfassungsrechtliche Anforderungen

135

objektiven Maßstäben getroffenen Erziehungsentscheidung verhindert werden könnte.4 Das Elternrecht weist zusätzlich – über die Bedeutung eines klassischen Abwehrrechts hinaus – eine Besonderheit auf: Aus der Formulierung des Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG geht hervor, dass Eltern nicht nur ein Recht auf Pflege und Erziehung des Kindes zusteht, sondern ihnen wird auch die Pflicht zur Erziehung auferlegt. Vom Schutzbereich ausdrücklich ausgenommen sind nach dem eindeutigen Wortlaut des Gesetzes Verhaltensweisen, die nicht der Pflege und Erziehung zugeordnet werden können.5 Das Bundesverfassungsgericht hat diesbezüglich festgestellt, dass die Entscheidungsfreiheit der Eltern endet, wenn selbst bei weitester Anerkennung der Selbstverantwortung der Eltern ein Handeln nicht mehr als Pflege und Erziehung gewertet werden kann.6 Unter diesem Gesichtspunkt könnte erwogen werden, eine Zwangsbehandlung, die medizinisch nicht indiziert ist, vom Schutzbereich des Elternrechts auszunehmen. Während die „Pflege“ die allgemeine Sorge für das körperliche Wohl sowie die geistige und charakterliche Entwicklung des Kindes erfasst, wird die „Erziehung“ als Sorge für die Ausbildung und Bildung durch Entfaltung der Fähigkeiten des Kindes verstanden.7 Zwar kann eine medizinisch nicht indizierte Maßnahme das körperliche Wohl eines Kindes nicht fördern, gleichwohl ließe sich eine solche Konstellation unter den Begriff der charakterlichen Entwicklung subsumieren, wenn sie – beispielsweise wie die Beschneidung – dazu dient, ein Kind an eine Religion heranzuführen. Die bloße Bestimmung des Schutzbereiches ist aus diesem Grund für eine Regelung, die die Voraussetzungen der Zulässigkeit einer Zwangsbehandlung normiert, nicht zielführend. Art. 6 Abs. 2 GG konturiert nicht nur die Weite des Schutzbereichs, sondern zugleich das Verhältnis zum sog. staatlichen Wächteramt. Den Eltern obliegt die „zuvörderste Pflicht“ der Pflege und Erziehung, während das in Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG manifestierte Wächteramt lediglich die Stellung eines „Nothelfers“ einnimmt.8 Es fungiert als zentrale Ermächtigung für Eingriffe des Staates in das Elternrecht, sofern eine Schädigung des Kindes droht.9 Im Zusammenhang mit Fragen rund um die Konturierung des Elternrechts hat sich der Begriff des Kindeswohls im verfassungsrechtlichen Gefüge etabliert. Das Kindeswohl ist nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts in der Beziehung zum Kind 4

BVerfG, Beschl. v. 29.1.2010 – 1 BvR 374/09 = NJW 2010, 2333 (2334). Brüser, Die Bedeutung der Grundrechte im Kindesalter, S. 104. 6 BVerfG, Beschl. v. 29.7.1968 – 1 BvL 20/63, 31/66, 5/67 = BVerfGE 24, 119 (143) = NJW 1968, 2233 (2235). 7 Badura, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 6, Rn. 107. 8 Erichsen, Elternrecht, S. 50. 9 Wapler, Kinderrechte und Kindeswohl, S. 168. 5

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5. Teil: Zulässigkeit und Grenzen von Zwangsmaßnahmen de lege ferenda

die „oberste Richtschnur“ der elterlichen Pflege und Erziehung.10 Überschreiten Eltern die Grenzen eines gewissen Definitionsspielraums im Hinblick auf das Kindeswohl, so kommt das staatliche Wächteramt zum Tragen.11 1. Konturierung des Kindeswohls Problematisch erscheint jedoch die Unbestimmtheit des Kindeswohlbegriffs.12 Der Terminus ist in hohem Maße auslegungsbedürftig,13 sodass er gar als „Leerformel“ bezeichnet wird.14 Dass sich das Kindeswohl nicht präzise und rechtssicher umschreiben lässt, ist evident. Gleichwohl ist diese Unschärfe vonnöten, da die Grundrechte des Kindes eine umfassende, einzelfallbezogene und an den individuellen Belangen des Kindes orientierte Gesamtbetrachtung fordern.15 Die Bandbreite an möglichen kindeswohlgefährdenden Handlungen ist ferner derart weit, dass ein gewisses Maß an Rechtsunsicherheit kaum umgangen werden kann. Dennoch ist es möglich, den Kindeswohlbegriff durch das bestehende Grundrechtsgefüge näher zu bestimmen. a) Grundrechte des Kindes Das Kindeswohl darf aufgrund der Grundrechtsträgerschaft eines Minderjährigen nicht nur rein objektiv beurteilt werden. Es geht mithin nicht ausschließlich um die Frage, ob dem Kind ein Schaden zugefügt werden könnte, weil eine Handlung nicht mehr als Erziehung oder Pflege angesehen werden kann. Vielmehr muss auch den Grundrechten eines Kindes eine maßgebende Bedeutung zukommen. Andernfalls würden Kinder, die sich in einem elterlichen Haushalt befinden, schlechter behandelt werden als Minderjährige, denen ein Vormund oder Pfleger zur Seite steht.16 Nimmt ein Vormund die Sorge für ein Kind wahr, so kann sich dieser nicht auf Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG berufen.17 Dem minderjährigen Schützling stehen hier aber unbestritten Grundrechte aufgrund seiner Eigenschaft als Grundrechtsträger zur Seite.18 Wie Roth zutreffend konstatiert, würde es daher einen „dogmatischen Bruch“ darstellen, wenn nur die Grundrechte von Minderjährigen, die unter elterlicher Erziehung stehen, nicht beachtet würden.19 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19

BVerfG, Beschl. v. 29.1.2010 – 1 BvR 374/09 = NJW 2010, 2333 (2334). Jestaedt, in: Kommentar zum Bonner GG, Art. 6 Rn. 38. Erichsen, Elternrecht, S. 49. Wiesemann, in: Praxisbuch Ethik in der Medizin, S. 313. Erichsen, Elternrecht, S. 49. Wapler, Kinderrechte und Kindeswohl, S. 495. Roth, Die Grundrechte Minderjähriger, S. 127. Ebenda. Ebenda. Ebenda.

A. Verfassungsrechtliche Anforderungen

137

Die bloße Tatsache, dass Kindesgrundrechte den Kindeswohlbegriff beeinflussen, führt jedoch noch nicht zu der erhofften Konkretisierung des Terminus im Rahmen der Bestimmung der Zulässigkeit von medizinischen Zwangsbehandlungen. Dass auch Minderjährige Träger von Grundrechten sind, impliziert nicht, dass sich ihre Grundrechte auch gegen das Erziehungsrecht der Eltern durchsetzen. Es scheint vielmehr auf der Hand zu liegen, dass Kinder und Jugendliche gerade nicht grenzenlos ihre Freiheitsrechte geltend machen können, weil das Erziehungsrecht dann praktisch leerliefe. Es stellt sich daher die Frage, in welchen Fällen sich die Grundrechte eines Minderjährigen gegenüber dem Erziehungsrecht durchsetzen können. aa) Lösungswege nach dem Bundesverfassungsgericht Das Bundesverfassungsgericht hat in mehreren Entscheidungen die Beziehung von Elternrecht und Kindesrechten erörtert,20 wenngleich derartige Ausführungen auch nur am Rande erörtert worden sind. Exemplarisch werden nachfolgend einige Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts analysiert, die sich für die Untersuchung als besonders ertragsreich erweisen. Die erste wegweisende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Verhältnis von Elternrecht und Kindesgrundrechten ist im Jahre 1968 gefallen. Das Gericht hat festgehalten, dass auch das Kind ein Wesen mit eigener Menschenwürde und dem eigenen Recht auf Entfaltung seiner Persönlichkeit im Sinne des Art. 1 Abs. 1 i. V. m. Art. 2 Abs. 1 GG ist.21 Wegweisend ist der Beschluss nicht, weil die – so müsste man meinen – verfassungsrechtliche Selbstverständlichkeit der Grundrechtsträgerschaft eines Kindes hervorgehoben worden ist, sondern weil diese Betonung im Zusammenhang mit dem Elternrecht vollzogen worden ist.22 Damit hat das Bundesverfassungsgericht den Weg geebnet, das „Dreiecksverhältnis zwischen Kind, Eltern und Staat“ näher zu beleuchten.23 Auch in einer weiteren Entscheidung aus dem Jahr 1986 hat das Bundesverfassungsgericht betont, dass elterliche Entscheidungen – im konkreten Fall die Abgabe eines notariellen Schuldanerkenntnisses im Namen des Kindes – das Allgemeine Persönlichkeitsrecht des Minderjährigen berühren könnten.24 Eine Verletzung liege hingegen nicht vor, soweit sich die Fremdbestimmung der Kinder durch ihre Eltern 20 Der Begriff Kindesrechte oder Kindesgrundrechte bezieht sich nachfolgend nicht auf mögliche kindesspezifische Rechte, sondern vielmehr auf die allgemeinen Grundrechte im Kindesalter: Brüser, Die Bedeutung der Grundrechte im Kindesalter, S. 136. 21 BVerfG, Beschl. v. 29.7.1968 – 1 BvL 20/63, 31/66 und 5/67 = BVerfGE 24, 119 (144) = NJW 1968, 2233 (2235). 22 Brüser, Die Bedeutung der Grundrechte im Kindesalter, S. 52. 23 Ebenda. 24 BVerfG, Beschl. v. 13.5.1986 – 1 BvR 1542/84 = BVerfGE 72, 155 (171) = NJW 1986, 1859 (1860).

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5. Teil: Zulässigkeit und Grenzen von Zwangsmaßnahmen de lege ferenda

als Minderjährigenschutz erweise und damit dem Kindeswohl entspreche.25 Das Gericht hat allerdings auch hervorgehoben, dass der Gesetzgeber im Rahmen von § 1629 BGB davon ausgegangen sei, dass eine Selbstbestimmung und Selbstverantwortung minderjähriger Kinder noch nicht möglich sei.26 Dies macht zugleich deutlich, dass vor allem der Schutz des Kindes, aber auch die Selbstbestimmungsfähigkeit, wenngleich diese auch pauschal unterhalb der Volljährigkeitsgrenze abgelehnt worden ist, als wesentliches Kriterium für die Entzerrung von Kindes- und Elternrechten herangezogen werden kann.27 In einer weiteren Entscheidung ist das Bundesverfassungsgericht in Bezug auf die Selbstständigkeit als wesentliches Kriterium noch deutlicher geworden: Die Karlsruher Richter haben dargelegt, dass das Verhältnis des Elternrechts zu Kindesrechten durch die besondere Struktur des Elternrechts geprägt werde.28 Dieses sei wesentlich ein Recht im Interesse des Kindes, wie sich schon aus dem Wortlaut des Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG ergebe, der vom Recht zur Pflege und Erziehung spreche und so schon per definitionem das Kindesinteresse in das Elternrecht einfüge.29 Dem entspreche es, dass mit abnehmender Pflege- und Erziehungsbedürftigkeit sowie zunehmender Selbstbestimmungsfähigkeit des Kindes die im Elternrecht wurzelnden Rechtsbefugnisse zurückgedrängt würden, bis sie schließlich mit der Volljährigkeit des Kindes erlöschen würden.30 Damit hat das Bundesverfassungsgericht erneut – dieses Mal sogar wesentlich ausdrücklicher – unterstrichen, dass auch die Selbstbestimmungsfähigkeit das Spannungsverhältnis von Eltern- und Kindesrechten entzerren kann. Das Gericht hat ferner an der Auffassung festgehalten, dass Kindesgrundrechte in Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG hineinwirken. Dies ist auch stets in den Ausführungen angemerkt worden, die das Bundesverfassungsgericht zu dem Wächteramt aus Art. 6 Abs. 2 S. 2GG vorgebracht hat. Darin hat das Gericht betont, dass der Staat aufgrund seines ihm durch Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG auferlegten Wächteramtes sicherzustellen habe, dass die Wahrnehmung des Elternrechts sich am Kindeswohl ausrichte und dabei die Rechte des Kindes Beachtung finden.31 In der Gesamtschau lassen sich den bisherigen Beschlüssen folgende Wertungen entnehmen: Die Grundrechte des Kindes spielen für das Verhältnis zwischen Eltern, Kindern und dem Staat als Wächter eine wesentliche Rolle. Grundrechtsverletzungen des Kindes rufen das staatliche Wächteramt nicht hervor, soweit die Fremdbestimmung der Kinder durch ihre Eltern dem Minderjährigenschutz dient 25

BVerfG, Beschl. v. 13.5.1986 – 1 BvR 1542/84 = BVerfGE 72, 155 (172) = NJW 1986, 1859 (1860). 26 Ebenda. 27 Brüser, Die Bedeutung der Grundrechte im Kindesalter, S.52. 28 BVerfG, Urt. v. 9.2.1982 – 1 BvR 845/79 = BVerfGE 59, 360 (382) = NJW 1982, 1375 (1377). 29 Ebenda. 30 Ebenda. 31 BVerfG, Urt. v. 1.4.2008 – 1 BvR 1620/04 = BVerfGE 121, 69 (94) = FPR 2008, 238 (240).

A. Verfassungsrechtliche Anforderungen

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und damit zugleich dem Kindeswohl entspricht. Je selbstständiger der Minderjährige ist, desto mehr verdrängt dessen Eigenständigkeit das Elternrecht. bb) Lösungsideen der Literatur Die hergeleiteten Prinzipien des Bundesverfassungsgerichts sind in der Literatur nicht nur auf Zustimmung gestoßen. Zum Teil sind vollkommen neue Lösungsansätze entwickelt worden, teilweise ist der Versuch unternommen worden, die abstrakten Formeln der Karlsruher Richter näher zu konkretisieren. Die Literatur bietet ein buntes Repertoire an Lösungsmöglichkeiten, um einen Grundrechtskonflikt zwischen dem Elternrecht und Kindesrechten zu entzerren.32 Besonders überzeugend erscheint das von Jestaedt entwickelte Modell. Jestaedt differenziert hinsichtlich einer möglichen Grundrechtskollision daher zwischen vier Konstellationen: Sofern gewisse Grundrechte, wie beispielsweise das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit gemäß Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG, keine Freiheit, sondern einen Zustand schützen, sei Eltern ein Interpretationsspielraum hinsichtlich des Kindeswohls entzogen.33 Eine Grundrechtskollision scheide in derart gelagerten Fällen aus, da eine Gefährdung des Lebens oder der körperlichen Unversehrtheit nicht als Pflege oder Erziehung i. S. v. Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG gewertet werden könne, sodass der Schutzbereich nicht eröffnet sei.34 Eine Ausnahme gelte jedoch für ärztliche Heileingriffe.35 Die zweite Gruppe beziehe sich auf eine fehlende Grundrechtsreife des Kindes. Sei ein Kind aufgrund einer fehlenden rational-intellektuellen oder körperlichen Fähigkeit nicht zur Wahrnehmung fähig, so könne es sich auf bestimmte Grundrechtspositionen, die ein Mindestmaß an Reflexion voraussetzen, nicht berufen, sodass eine Grundrechtskollision mit dem Elternrecht erst gar nicht entstehe.36 Sofern ein Minderjähriger hingegen diese Grundrechtsreife besitze, aber noch keine selbstbestimmte und selbstverantwortliche Persönlichkeit erreicht habe, sodass er noch als erziehungsbedürftig einzustufen sei, erfolge keine grundrechtliche

32 So wird beispielsweise angenommen, dass das Konstrukt der Grundrechtsmündigkeit das Spannungsfeld zwischen Eltern- und Kindesrechten auflösen könne: Schmitt-Kammler, Elternrecht, S. 24 f. In der Literatur wird ferner vertreten, dass das Elterngrundrecht und das Selbstbestimmungsrecht eines Minderjährigen für jeden Einzelfall gegeneinander abgewogen werden müssen: Roth, Die Grundrechte Minderjähriger, S. 127. Als weiterer Lösungsvorschlag wird zudem eine Abwägung anhand der Eigenständigkeit eines Kindes vorgeschlagen: Moritz, Die (zivil-)rechtliche Stellung der Minderjährigen, S. 152; Schröder, Auskunftsanspruch der Eltern, S. 73; Schwerdtner, AcP 173 (1973), 227 (242). 33 Jestaedt, in: Kommentar zum Bonner GG, Art. 6 Rn. 136. 34 Ebenda. 35 Ebenda. 36 Jestaedt, in: Kommentar zum Bonner GG, Art. 6 Rn. 137.

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5. Teil: Zulässigkeit und Grenzen von Zwangsmaßnahmen de lege ferenda

Abwägung.37 Vielmehr gebühre dem Elternrecht aufgrund seines Geltungsgrundes, der darin bestehe, das noch schutzbedürftige Kind zur Selbstbestimmung heranzuführen, Vorrang.38 Gleichwohl entziehe sich eine solche Lösung nicht gänzlich einer Abwägung; sie bedürfe vielmehr der schwierigen Abgrenzung der Erziehungsbedürftigkeit und der Urteilsfähigkeit des Kindes.39 Wenn der Jugendliche nicht mehr erziehungsbedürftig sei, weiche die Elternverantwortung i. S. v. Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG zugunsten der Selbstbestimmung des Kindes.40 Dem von Jestaedt entwickelten Modell ist im Grundsatz zuzustimmen. Zu kritisieren ist allerdings, dass sich die erste und zweite Fallvariante im Wesentlichen als überflüssig erweisen: Die erste Konstellation, welche sich auf Grundrechte bezieht, die einen Zustand schützen, ist nicht in jedem Fall objektiv bestimmbar. Sie muss vielmehr Ausnahmen – wie beispielsweise bei ärztlichen Heileingriffen – zugänglich sein. Damit pulverisiert sich zugleich jedoch die Präzision der ursprünglichen Aussage. Die erste Konstellation schafft demnach mehr Unklarheit als valide, allgemeingültige Aussagen. Auch die zweite Fallvariante ist im Ergebnis entbehrlich: Sofern ein Kind noch nicht „grundrechtsreif“ ist, ist es gleichermaßen auch als noch erziehungsbedürftig zu qualifizieren, sodass in diesem Fall die dritte Konstellation einschlägig ist. cc) Eigene Position Das von Jestaedt entwickelte Modell bedarf zudem insofern einer Modifizierung, als auch die Schutzpflichten in eine zu schaffende Konkordanz einzubeziehen sind. Elternrecht und Kindesgrundrechte sind in einem besonderen Maße miteinander verknüpft: Der Schutz der Kindesgrundrechte stellt nicht nur den wesentlichen Geltungsgrund des Elternrechts dar, sondern fungiert auch als Schranke des Elternrechts, die bei Gefährdung von Kinderrechten ein Eingreifen des Staates rechtfertigen kann.41 Nach hier vertretener Ansicht sind Eltern-Kind-Konflikte nach vier Grundsätzen verfassungsrechtlich aufzulösen: 1. Das Elternrecht besteht nicht, sofern Entscheidungen der Eltern in keinem Fall einer Pflege oder Erziehung zugerechnet werden können.42 Der Schutzbereich des Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG ist in solchen Konstellationen nicht eröffnet, sodass eine grundrechtliche Kollision nicht entstehen kann. Kindesgrundrechte setzen sich demnach durch.

37 38 39 40 41 42

Jestaedt, in: Kommentar zum Bonner GG, Art. 6 Rn. 141. Ebenda. Ebenda. Jestaedt, in: Kommentar zum Bonner GG, Art. 6 Rn. 138. Heiß, NZFam 2015, 491 (492). Jestaedt, in: Kommentar zum Bonner GG, Art. 6 Rn. 144.

A. Verfassungsrechtliche Anforderungen

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2. Der zweite und wohl wichtigste Grundsatz betrifft die Einbeziehung der „Erziehungsbedürftigkeit“43 – respektive die Selbstständigkeit eines Jugendlichen. Den wesentlichen Schlüssel zur Entzerrung grundrechtlicher Kollisionen stellt die Selbstbestimmungsfähigkeit des Kindes dar. Das Erziehungsrecht schwächt sich umso mehr ab, je eigenständiger das Kind wird.44 Sofern Minderjährige in Teilbereichen den Zustand der Selbstbestimmungsfähigkeit erreicht haben, wird das Elternrecht verdrängt. Für ein solches Ergebnis spricht der Geltungsgrund des Elternrechts: Das Elternrecht erfährt seine wesentliche Berechtigung aufgrund der erheblichen Schutzbedürftigkeit des Kindes.45 Es handelt sich insofern um eine Sonderform des Schutzes des Menschen vor sich selbst.46 Schwächt sich diese ab, so muss auch das Elternrecht stetig im Rahmen einer Grundrechtskollision zurückweichen. Eine Entzerrung des komplexen Spannungsfeldes nimmt demzufolge im Wesentlichen die Selbstbestimmungsfähigkeit des Kindes vor. 3. Der dritte Grundsatz betrifft eine Einbeziehung der grundrechtlichen Schutzpflichten. Zu beachten ist hierbei, dass nicht nur Elternrecht und Kindesgrundrechte aufeinandertreffen, sondern zudem, dass auch Grundrechte des Kindes aufgrund ihrer abwehrrechtlichen und schutzrechtlichen Wirkung kollidieren.47 In Bezug auf Minderjährige, die sich in der Obhut eines Vormundes oder Pflegers befinden, ergeben sich die Schutzpflichten des Staates aus den jeweiligen Grundrechten. Bei der medizinischen Zwangsbehandlung wäre demnach die Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG ausschlaggebend. Im Eltern-Kind-Verhältnis ist eine konkrete Einbeziehung der Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG hingegen entbehrlich, da das Grundgesetz durch Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG eine ausdrückliche Schutzpflicht des Staates normiert hat. Dreh- und Angelpunkt einer solchen Schutzpflicht sind Kindeswohlgefährdungen. Da die Kindesgrundrechte den Begriff des Kindeswohls wesentlich prägen 43 Dieses Erfordernis wurde wesentlich durch Jestaedt geprägt: Jestaedt, in: Kommentar zum Bonner GG, Art. 6 Rn. 135 ff. 44 Dieser Grundsatz ist in der Literatur nahezu anerkannt: Antoni, in: Hömig/Wolff, GG, Art. 6 Rn. 17; Baston-Vogt, Der sachliche Schutzbereich, S. 232; Böckenförde, in: Essener Gespräche, S. 65, 67; Brosius-Gersdorf, in: Dreier, GG, Art. 6 Rn. 162; Belling, FuR 1990, 68 (72); v. Coelln, in: Sachs, GG, Art. 6 Rn. 70; Diederichsen, in: FS Hirsch, S. 359; Herdegen, FamRZ 1993, 374 (376); Hölbling, Wie viel Staat vertragen Eltern, S.125; Jarass, in: Jarass/ Pieroth, GG, Art. 6 Rn. 51; Knöpfel, FamRZ 1985, 1211 (1213); Kuhn, Grundrechte und Minderjährigkeit, S. 71; Langenfeld/Wiesner, in: Verantwortlich handeln, S. 51; Moritz, Die (zivil-)rechtliche Stellung der Minderjährigen, S.152; Rouka, Das Selbstbestimmungsrecht des Minderjährigen, S. 120; Seizinger, Der Konflikt, S. 76; Ulsenheimer, in: Therapieverweigerung bei Kindern und Jugendlichen, S. 76; Wiesner, ZKJ 2008, 225 (226); Zorn, Das Recht der elterlichen Sorge, Rn. 304. 45 BVerfG, Beschl. v. 12.10.1988 – 1 BvR 818/88 = BverfGE 79, 51 (63 f.) = NJW 1989, 519 (520). 46 Jestaedt, in: Kommentar zum Bonner GG, Art. 6 Rn. 143. 47 Roth, Die Grundrechte Minderjähriger, S. 131.

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5. Teil: Zulässigkeit und Grenzen von Zwangsmaßnahmen de lege ferenda

und der Geltungsgrund des Wächteramts ferner auch der Anspruch des Kindes auf Schutz vor seinen Grundrechten ist,48 erscheint im Eltern-Kind-Verhältnis eine gesonderte Einbeziehung der Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG überflüssig.49 Zwar gebührt dem Elternrecht bei bestehender Erziehungsbedürftigkeit – wie zuvor dargestellt – grundsätzlich Vorrang; allerdings sind dem Vertrauen auf eine kindeswohlorientierte Erziehung auch Grenzen gesetzt. Je schwerwiegender eine elterliche Betätigung für das Kind ist, desto schwerer wiegt die Schutzpflicht des Staates. Sofern eine elterliche Entscheidung beispielsweise besonders bedeutsam ist, desto mehr sollten die Grundrechte des Kindes in den Vordergrund rücken, die die Schutzpflicht des Staates hervorrufen. Dies kann einerseits bedeuten, dass das Erziehungsrecht umso mehr durchgreifen muss, weil das Kind besonders schutzbedürftig ist.50 Andererseits kann die Schutzpflicht das Erfordernis der Schaffung von rechtlicher Transparenz erforderlich machen, da das Erziehungsrecht vor allem in grundrechtlich besonders sensiblen Bereichen in strikte Bahnen der Fremdnützigkeit geführt werden muss. Es könnte erwogen werden, dass auch die Schutzpflichten des Staates mit zunehmender Emanzipation des Minderjährigen abnehmen.51 Dem ist allerdings entgegen zu halten, dass der Jugendliche auch mit stetig wachsender Reife auf den Schutz des Staates angewiesen ist: In diesem Fall ist dieser dafür verantwortlich, die Rechte des Minderjährigen sukzessive zu stärken, damit der Jugendliche seine Eigenständigkeit auch ausleben kann. Der Staat ist somit verpflichtet, durch eine einfachgesetzliche Regelung oder durch Einzelfallentscheidungen der wachsenden Selbstständigkeit eines Kindes Ausdruck zu verleihen.52 Dies kann insbesondere durch partielle Mündigkeitsregelungen geschehen. Ob hierbei allgemeine Altersgrenzen festgesetzt werden können oder die Mündigkeit individuell festgestellt werden muss, richtet sich nach der Bedeutung des betroffenen Rechtsguts und insbesondere nach der Auswirkung auf das Wohl des Minderjährigen. In Bezug auf vermögensrechtliche Aspekte erscheint es vertretbar, pauschale Altersgrenzen einzuführen. Anders könnte es sich bei der medizinischen Zwangsbehandlung verhalten, da hier nicht eine vom Kind bezweckte Handlung verhindert wird, sondern diesem gegen seinen Willen ein Verhalten aufgezwungen wird. In derart grundrechtlich sensiblen Bereichen bietet es sich daher an, die Selbstbestimmungsfähigkeit individuell zu bestimmen. Die Wirkung des Elternrechts lässt sich in der Gesamtschau folgendermaßen zusammenfassen: Das Elternrecht erfasst im Grundsatz den gesamten Bereich der Pflege und Erziehung. Während seine Wirkkraft im Bereich der Erziehungsbedürftigkeit am stärksten zu bewerten ist, schwächt sie mit zunehmender Eigen48 49 50 51 52

Westermeyer, Die Herausbildung des Subsidiaritätsverhältnisses, S. 168. Brüser, Die Bedeutung der Grundrechte im Kindesalter, S. 103. Roth, Die Grundrechte Minderjähriger, S. 129. Westermeyer, Die Herausbildung des Subsidiaritätsverhältnisses, S. 174. Herdegen, FamRZ 1993, 374 (377).

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ständigkeit ab. Schutzpflichten des Staates entfalten in grundrechtlich sensiblen Bereichen eine besondere Wirkung und erfordern ein Handeln des Staates. 4. Bei möglichen Eingriffen in das Elternrecht muss zudem ausnahmslos der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Berücksichtigung finden.53 Kindesgrundrechte, Elternrecht und Schutzpflichten müssen in praktische Konkordanz gebracht werden. Im Ergebnis muss bei einem Eltern-Kind-Konflikt auf verfassungsrechtlicher Ebene nach den jeweiligen Umständen des Einzelfalls eine Abwägung vollzogen werden,54 bei der die o.g. Grundsätze einzubeziehen sind. b) Einfluss des Völkerrechts Dem Gesetzgeber steht ein weiteres Werkzeug zur Verfügung, um die Normen des Grundgesetzes und demnach auch Art. 6 Abs. 2 GG zu präzisieren. Nach anerkannter Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sind die Bestimmungen des Grundgesetzes völkerrechtsfreundlich auszulegen.55 Damit kommt sowohl der UNKinderrechtskonvention56, der UN-Behindertenrechtskonvention57 als auch der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR)58 eine tragende Bedeutung für die Auslegung der Grundrechte zu. Dies sei vor allem auf die Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes und seine inhaltliche Ausrichtung auf die Menschenrechte zurückzuführen.59 Wenn das Völkerrecht als Auslegungshilfe für das Grundgesetz fungieren kann, so kann es ebenso im Bereich des Art. 6 Abs. 2 GG und speziell im Hinblick auf den 53

BVerfG, Beschl. v. 29.7.1968 – 1 BvL 20/63, 31/66, 5/67 = BVerfGE 24, 119 (143) = NJW 1968, 2233 (2235); Brüser, Die Bedeutung der Grundrechte im Kindesalter, S. 112. 54 Brüser, Die Bedeutung der Grundrechte im Kindesalter, S. 112. 55 BVerfG, Urt. v. 12.6.2018 – 2 BvR 1738/12, 2 BvR 1395/132, BvR 1068/14, 2 BvR 646/ 15 = EuZW 2018, 637 (641). 56 BVerfG, Beschl. v. 5.7.2013 – 2 BvR 708/12 = BeckRS 2013, 53752 Rn. 21. Die von Jesteadt aufgestellte These, dass nur die EMRK als Auslegungshilfe des Grundgesetzes fungieren kann, erscheint damit widerlegt: Jestaedt, Alles zum Wohl des Kindes, S. 33 f. 57 BVerfG, Beschl. v. 23.3.2011 @ 2 BvR 882/09 = BVerfGE 128, 282 (306) = NJW 2011, 2113 (2115). 58 Die Bedeutung der EMRK und der Rechtsprechung des EGMR lässt sich insbesondere folgenden Entscheidungen entnehmen: BVerfG, Beschl. v. 26.3.1987 – 2 BvR 589/79 = BVerfGE 74, 358 (370) = NJW 1987, 2427 (2427); BVerfG, Beschl. v. 14.10.2004 – 2 BvR 1481/04 = BVerfGE 111, 307 (317) = NJW 2004, 3407 (3408); BVerfG, Urt. v. 4.5.2011 @ 2 BvR 2365/09, 740/10, 2333/08, 1152/10, 571/10 = BVerfGE 128, 326 (367 f.) = NJW 2011, 1931 (1935); BVerfG, Urt. v. 12.6.2018 – 2 BvR 1738/12, 2 BvR 1395/132, BvR 1068/14, 2 BvR 646/15 = EuZW 2018, 637 (641). 59 BVerfG, Urt. v. 12.6.2018 – 2 BvR 1738/12, 2 BvR 1395/132, BvR 1068/14, 2 BvR 646/ 15 = EuZW 2018, 637 (641).

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5. Teil: Zulässigkeit und Grenzen von Zwangsmaßnahmen de lege ferenda

Kindeswohlbegriff zu einer Konkretisierung führen. Für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit von medizinischen Zwangsbehandlungen von Minderjährigen entfaltet das Völkerrecht daher eine besonders tragende Rolle. 2. Resümee Der Terminus des Kindeswohls kann im Ergebnis insbesondere durch das Geflecht von Kindesgrundrechten und Schutzpflichten näher konturiert werden. Gleichwohl erfordern die o.g. Grundsätze dennoch Abwägungen, um einen konkreten Lösungsvorschlag zum Umgang von medizinischen Zwangsbehandlungen mit Minderjährigen zu extrahieren. Es stellt sich jedoch die Frage, ob aus völkerrechtlichen Normen weitere Vorgaben für die medizinische Zwangsbehandlung abzuleiten sind.

II. Grundrechte von Minderjährigen Zuvor ist jedoch anzumerken, dass eine Auslegung völkerrechtlicher Normen nicht nur geeignet ist, Art. 6 Abs. 2 GG näher zu präzisieren. Obwohl Kindesgrundrechte – wie zuvor erläutert – bereits im Rahmen von Art. 6 Abs. 2 GG eine tragende Rolle spielen, kann sich ein Schutzauftrag für einen Minderjährigen auch unmittelbar aus seinen Grundrechten ergeben.60 Ansonsten würde die grundrechtliche Position von Minderjährigen, die von einem Vormund oder Pfleger vertreten werden, nicht hinreichend beachtet werden.61 Im Gegensatz zu Eltern können sich Vormünder und Pfleger nach heute vorherrschender Ansicht nicht auf Art. 6 Abs. 2 GG berufen.62 Daher muss unabhängig von Art. 6 Abs. 2 GG das Spannungsfeld von Abwehransprüchen und Schutzpflichten im Rahmen von Zwangsbehandlungen präzisiert werden. Einerseits verletzt jede Zwangsbehandlung das Recht auf Selbstbestimmung und körperliche Unversehrtheit gemäß Art. 2 Abs. 2 S.1 GG. Andererseits kann eine Zwangsbehandlung auch zum Schutz des Kindes erforderlich sein, sodass die Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG ein Einschreiten erfordern kann. Der Schutz vor Zwangsbehandlungen streitet somit gegen den Schutz durch Zwangsbehandlungen. Auch in diese Abwägung fließen völkerrechtliche Wertungen hinein.

60 61 62

Langenfeld/Wiesner, in: Verantwortlich handeln, S. 54. Roth, Die Grundrechte Minderjähriger, S. 127. Wapler, Kinderrechte und Kindeswohl, S. 194.

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III. Völkerrechtliche Auslegung Zunächst soll beleuchtet werden, inwiefern die Auslegung der EMRK und die Rechtsprechung des EGMR entscheidende Wertungen für den Bereich der medizinischen Zwangsbehandlung von Kindern und Jugendlichen enthalten. 1. Europäische Menschenrechtskonvention Der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte kommt nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine tragende Bedeutung für die Auslegung der Grundrechte zu.63 Für den Umgang von Behandlungen gegen den Willen eines Kindes könnten Art. 2, 3, 5 und Art. 8 EMRK relevant sein, da alle Konventionsrechte auch Kindern gebühren.64 a) Recht auf Leben Art. 2 Abs. 1 S. 1 EMRK schützt das Recht auf Leben und stellt damit zugleich eines der fundamentalsten Rechte der EMRK dar.65 Aus Art. 2 EMRK folgt nicht nur die Verbindlichkeit, nicht in das Recht auf Leben einzugreifen, sondern die Norm verpflichtet die Konventionsstaaten auch, die zum Schutz des Lebens einer Person notwendigen Maßnahmen zu ergreifen.66 Demnach kann aus Art. 2 EMRK auch die Pflicht hergeleitet werden, Menschen in lebensgefährlichen Notlagen Hilfe zu leisten.67 Hierzu zählt speziell auch die Verhinderung eines Suizids.68 Eine Zwangsbehandlung muss somit zum Schutz eines Patienten prinzipiell möglich sein. Der Staat ist dazu angehalten, die zur Umsetzung erforderlichen Regelungen zu erlassen.69 Einer aus Art. 2 EMRK hergeleiteten Schutzpflicht sind jedoch nach Ansicht des EGMR Grenzen gesetzt, sofern eine lebensgefährliche Entscheidung dem Willen des Betroffenen entspricht. Der Grund dafür ist, dass das Recht einer Person, zu entscheiden, wie und zu welchem Zeitpunkt ihr Leben beendet sein soll, in den 63

BVerfG, Beschl. v. 26.3.1987 – 2 BvR 589/79 = BVerfGE 74, 358 (370) = NJW 1987, 2427 (2427); BVerfG, Beschl. v. 14.10.2004 – 2 BvR 1481/04 = BVerfGE 111, 307 (317) = NJW 2004, 3407 (3408); BVerfG, Urt. v. 4.5.2011 @ 2 BvR 2365/09, 740/10, 2333/08, 1152/10, 571/10 = BVerfGE 128, 326 (367 f.) = NJW 2011, 1931 (1935); BVerfG, Urt. v. 12.6.2018 – 2 BvR 1738/12, 2 BvR 1395/132, BvR 1068/14, 2 BvR 646/15 = EuZW 2018, 637 (641). 64 Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, § 13 Rn. 7. 65 Schabas, The European Convention in Human Rights, S. 122. 66 ECHR 2015/6 Case of Lambert and others v. France, Application no. 46043/14 = NJW 2015, 2715 (2720). 67 Frowein, in: Frowein/Peukert, EMRK, Art. 2 Rn. 8. 68 Schabas, The European Convention in Human Rights, S. 132. 69 Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, § 20 Rn. 26.

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5. Teil: Zulässigkeit und Grenzen von Zwangsmaßnahmen de lege ferenda

Schutzbereich von Art. 8 EMRK fällt.70 Für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit von Schutzmaßnahmen in Form von Zwangsbehandlung ist entscheidend, ob ein freier Wille vorliegt und der Patient erkennt, welche Folgen seine Entscheidung hat.71 Wurde die Entscheidung nicht bei vollem Verständnis der Umstände getroffen, so ist der Staat nach der Rechtsprechung des EGMR dazu verpflichtet, Maßnahmen zum Schutz des Lebens zu ergreifen.72 Es stellt sich dann allerdings die Frage, ob der prinzipiellen Zulässigkeit von Zwangsbehandlungen weitere Schranken gesetzt werden sollen. b) Folter Die Rechtmäßigkeit von Zwangsbehandlungen muss insbesondere an Art. 3 EMRK gemessen werden.73 Gemäß Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden. Unter Folter ist eine vorsätzliche unmenschliche Behandlung zu verstehen, die grausames Leid verursacht.74 Unmenschlich ist eine Maßnahme, wenn sie bei einem anderen Menschen absichtlich schwere physische oder psychische Leiden hervorruft.75 Eine Behandlung ist hingegen als „erniedrigend“ zu qualifizieren, wenn sie in dem Betroffenen Gefühle der Angst, Beklemmung oder Unterlegenheit erweckt sowie geeignet ist, ihn zu demütigen und seinen körperlichen oder moralischen Widerstand zu brechen.76 Nach ständiger Rechtsprechung des EGMR muss eine Misshandlung jedoch ein besonderes hohes Maß an Schwere erreichen, um von Art. 3 EMRK erfasst zu werden.77 Bei der Beurteilung, ob eine Behandlung als „erniedrigend“ i. S. v. Art. 3 EMRK anzusehen ist, stellt der EGMR ferner darauf ab, ob diese den Zweck verfolgt, den Betroffenen herabzusetzen.78 Jede Behandlung ohne Einverständnis des Patienten kann eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellen.79 Eine Maßnahme, die nach anerkannten medizinischen Grundsätzen therapeutisch notwendig sei, könne hingegen nach Ansicht des EGMR grundsätzlich nicht als unmenschlich oder erniedrigend angesehen werden.80 Der 70

ECHR 2011/1 Case of Haas v. Switzerland, Application no. 31322/07 = NJW 2011, 3773 (3775). 71 Schabas, The European Convention in Human Rights, S. 132. 72 Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, § 20 Rn. 26. 73 Marschner, in: Freiheitsentziehung und Unterbringung, A Rn. 21. 74 Bank, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 11 Rn. 29. 75 Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, § 20 Rn. 43. 76 ECHR 2006/6 Case of Jalloh v. Germany, Application no. 54810/00 = NJW 2006, 3117 (3119). 77 Ebenda. 78 Ebenda. 79 Bank, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 11 Rn. 93. 80 ECHR 2006/6 Case of Jalloh v. Germany, Application no. 54810/00 = NJW 2006, 3117 (3120).

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Ausdruck der „Notwendigkeit“ birgt allerdings insbesondere bei psychischen Erkrankungen ein hohes Maß an Rechtsunsicherheit.81 c) Faires Verfahren Art. 5 EMRK spielt für die medizinische Zwangsbehandlung im Rahmen einer Unterbringung eine wesentliche Rolle, weil die Norm die Fortbewegungsfreiheit schützt.82 Gemäß Art. 5 Abs. 1 S. 2 lit. d EMRK darf die Freiheit von Minderjährigen auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise zum Zweck überwachter Erziehung oder zur Vorführung der zuständigen Behörde entzogen werden. Der Begriff der Erziehung ist weit auszulegen und erfasst jede Form von Einflussnahme auf die Entwicklung von Minderjährigen.83 Demnach müsste bereits aufgrund dieser Regelung ein Freiheitsentzug möglich sein, um Krankheiten zu behandeln, da auch in derartigen Konstellationen eine Einflussnahme auf die Entwicklung des Kindes erfolgt. Der Anwendungsbereich des Art. 5 EMRK ist allerdings nicht eröffnet, sofern Eltern die Entscheidung treffen, ihr Kind einweisen zu lassen.84 Eine Einschränkung der Fortbewegungsfreiheit ist ferner auch aus einem anderen in Abs. 1 geregelten Grund möglich.85 Gemäß Art. 5 Abs. 1 S. 2 lit. e EMRK ist beispielsweise auch ein Freiheitsentzug bei psychisch Kranken – und mithin auch bei Minderjährigen, die eine psychische Krankheit aufweisen – möglich. Eine gerichtliche Anordnung ist nicht Voraussetzung für den Freiheitsentzug.86 Entscheidende Wertungen für die Zulässigkeit von medizinischen Zwangsbehandlungen können einem Urteil des EGMR aus dem Jahr 2016 entnommen werden.87 Der EGMR hat sich zwar nicht speziell mit der medizinischen Zwangsbehandlung beschäftigt, sondern allgemein mit der Rechtmäßigkeit von Zwangsmaßnahmen – konkret der Fixierung – bei psychisch Kranken; aus dieser Entscheidung lassen sich gleichwohl wichtige Richtungsvorgaben für den Umgang mit ärztlichen Behandlungen gegen den Willen eines Patienten entnehmen. Nach Ansicht des EGMR seien Zwangsmaßnahmen grundsätzlich zulässig, wenn keine andere Maßnahme das erwünschte Ergebnis erreiche.88 Vorausgesetzt werde hierbei jedoch, dass solche Maßnahmen nur im äußersten Fall zur Anwendung kommen.89 Es müsse sich dann um das einzige Mittel handeln, um eine unmittelbare 81

Bank, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 11 Rn. 93. Elberling, in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art. 5 Rn. 4. 83 Elberling, in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art. 5 Rn. 59. 84 Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, § 21 Rn. 30. 85 Elberling, in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art. 5 Rn. 58. 86 Ebenda. 87 ECHR 2015/2 Case of M.S. v. Croatia, Application no. 75450/12 = NJOZ 2016, 1375. 88 ECHR 2015/2 Case of M.S. v. Croatia, Application no. 75450/12 = NJOZ 2016, 1375 (1378). 89 Ebenda. 82

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5. Teil: Zulässigkeit und Grenzen von Zwangsmaßnahmen de lege ferenda

oder drohende Verletzung des Patienten oder anderer Personen zu verhindern.90 Außerdem dürfe die Anwendung solcher Maßnahmen nur mit angemessenen Garantien gegen Missbrauch sowie ausreichendem Verfahrensschutz einhergehen.91 Zusätzlich müsse ausreichend nachgewiesen werden können, dass sie verhältnismäßig seien und alle anderen vernünftigen Optionen die Gefahr der Verletzung des Patienten oder anderer Personen nicht zufriedenstellend beseitigen könnten.92 Schließlich müsse weiterhin nachgewiesen werden, dass die Zwangsmaßnahme nicht über die Zeit hinaus andauere, die dafür unbedingt notwendig sei.93 Der EGMR hat sich in seiner Entscheidung im Wesentlichen auf die sich aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ergebenden Voraussetzungen der Rechtmäßigkeit einer Zwangsmaßnahme konzentriert. Hierbei entsprechen die Ausführungen des EGMR weitestgehend den Anforderungen, die das Bundesverfassungsgericht an eine medizinische Zwangsbehandlung im Maßregelvollzug stellt.94 Obwohl sich das Urteil des EGMR nicht auf minderjährige Patienten bezog, darf der Schutz im Kindschaftsrecht nicht hinter Erwachsenen zurückstehen. Eine Zwangsbehandlung zum Schutz von Kindern muss daher auch möglich sein, gleichwohl muss sich diese als verhältnismäßig erweisen. d) Achtung des Privat- und Familienlebens Art. 8 Abs. 1 EMRK schützt das Privatleben, das Familienleben, die Wohnung und die Korrespondenz.95 Für die vorliegende Untersuchung ist nicht nur der Schutz des Familienlebens relevant, sondern auch die Achtung des Privatlebens, da der Schutz der privaten Lebensgestaltung umfassend garantiert wird.96 aa) Schutz der Selbstbestimmung Eine medizinische Zwangsbehandlung steht in einem engen Zusammenhang zu Art. 8 EMRK. Nach Art. 8 Abs. 1 EMRK hat jede Person das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung und ihrer Korrespondenz. Die Norm schützt dabei auch die physische und psychische Unversehrtheit.97 Auch vom 90

ECHR 2015/2 Case of M.S. v. Croatia, Application no. 75450/12 = NJOZ 2016, 1375 (1378). 91 Ebenda. 92 ECHR 2015/2 Case of M.S. v. Croatia, Application no. 75450/12 = NJOZ 2016, 1375 (1378 f.). 93 ECHR 2015/2 Case of M.S. v. Croatia, Application no. 75450/12 = NJOZ 2016, 1375 (1379). 94 S. hierzu 3. Teil B. II. 1. 95 Peters/Altwicker, Europäische Menschenrechtskonvention, § 25 Rn. 1. 96 Marauhn/Thorn, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 16 Rn. 16. 97 Pätzold, in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art. 8 Rn. 7.

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Schutz des Art. 8 Abs. 1 EMRK erfasst ist der Schutz der Selbstbestimmung.98 Nach Ansicht des EGMR stellt die Selbstbestimmung des Menschen über den eigenen Körper sogar einen besonders wichtigen Grundsatz des Art. 8 EMKR dar.99 Art. 8 EMRK steht aufgrund des Schutzes der körperlichen Integrität in einem besonderen Näheverhältnis zu Art. 3 EMRK.100 Beide Normen lassen sich nach der Schwere des Eingriffs abgrenzen.101 Nach ständiger Rechtsprechung muss eine Misshandlung ein besonderes Mindestmaß an Schwere erreichen, um von Art. 3 EMRK erfasst zu werden.102 Erreicht eine Maßnahme nicht die von Art. 3 EMRK geforderte Intensität, so kann dennoch der Anwendungsbereich von Art. 8 Abs. 1 EMRK eröffnet sein.103 Jede Behandlung gegen den Willen eines Menschen stellt somit zumindest einen Eingriff in das durch Art. 8 Abs. 1 EMRK geschützte Recht auf Achtung des Privatlebens dar.104 Dies gilt auch für den Umgang mit Kindern und Jugendlichen, da auch diese Träger des Rechts aus Art. 8 Abs. 1 EMRK sind.105 Ein derartiger Eingriff verlangt nach einer Rechtfertigung i. S. v. Art. 8 Abs. 2 EMRK.106 Gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK darf eine Behörde in die Ausübung dieses Rechts nur eingreifen, soweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist für die nationale oder öffentliche Sicherheit, für das wirtschaftliche Wohl des Landes, zur Aufrechterhaltung der Ordnung, zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer. In Bezug auf eine ärztliche Zwangsbehandlung kommt regelmäßig der Schutz der eigenen Gesundheit als rechtfertigender Belang in Betracht, sodass grundsätzlich auf die Zulässigkeit von Zwangsbehandlungen geschlossen werden kann. Dies gilt insbesondere deshalb, weil ein Konflikt zwischen dem Schutz des Lebens und der Gesundheit, zu welcher die EMRK die Staaten verpflichtet, und dem Respekt vor der Autonomie eines Menschen besteht.107 Im Rahmen der Ausführungen zu Art. 2 Abs. 1 EMRK wurde bereits erläutert, wie der EGMR derzeit einen solchen Konflikt löst: Für die Beur98

Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, § 22 Rn. 7. Kilkelly, The Child and the European Convention, S. 149. 100 Schabas, The European Convention in Human Rights, S. 370. 101 Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, § 22 Rn. 7; Peters/Altwicker, Europäische Menschenrechtskonvention, § 26 Rn. 4. 102 ECHR 2006/6 Case of Jalloh v. Germany, Application no. 54810/00 = NJW 2006, 3117 (3119). 103 Schabas, The European Convention in Human Rights, S. 370. 104 ECHR 2005/5 Case of Storck v. Germany, Application no. 61603/00 = NJW-RR 2006, 308 (316 f.). 105 Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, § 22 Rn. 3. 106 Meyer-Ladewig/Nettesheim, in: Meyer-Ladewig/Nettesheim/v. Raumer, EMRK, Art. 8 Rn. 13. 107 Schabas, The European Convention in Human Rights, S. 371. 99

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5. Teil: Zulässigkeit und Grenzen von Zwangsmaßnahmen de lege ferenda

teilung der Rechtmäßigkeit von Schutzmaßnahmen in Form von Zwangsbehandlungen ist es entscheidend, ob ein freier Wille vorliegt und der Patient demzufolge erkennt, welche Folgen seine Entscheidung hat.108 Liegt ein freier Wille nicht vor, so ist der Staat nach der Rechtsprechung des EGMR dazu verpflichtet, Maßnahmen zum Schutz des Lebens zu ergreifen.109 Allerdings setzt Art. 8 Abs. 2 EMRK immer eine ausreichende gesetzliche Grundlage für einen Eingriff in das Recht auf Achtung des Privatlebens voraus.110 Auch wenn die Anforderungen an diese gesetzliche Grundlage nicht als hoch zu qualifizieren sind, weil ein Gesetz im Sinne von Art. 8 Abs. 2 EMRK im materiellen Sinne verstanden wird,111 ist im Hinblick auf die medizinische Zwangsbehandlung von Kindern und Jugendlichen kritisch zu würdigen, dass es an eben dieser vorausgesetzten gesetzlichen Grundlage mangelt. Für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit von Zwangsbehandlungen ist es dabei irrelevant, ob sich diese in einem öffentlichen oder privaten Verhältnis erfolgen, da aus Art. 8 Abs. 1 EMKR konkrete Schutzpflichten erwachsen. Nach ständiger Rechtsprechung des EGMR ist ein Staat für eine Verletzung der in der EMRK garantierten Grundfreiheiten verantwortlich, wenn der Staat seiner Pflicht nach Art. 1 EMRK nicht nachgekommen ist, allen seiner Hoheitsgewalt unterstehenden Personen diese Rechte und Grundfreiheiten in seinem Recht zuzusichern.112 Die aus Art. 8 Abs. 1 EMRK resultierende Schutzpflicht könnte beispielsweise verletzt sein, wenn der Staat nicht alles Erforderliche zum Schutz der Patienten getan hat.113 Insbesondere sind die erforderlichen Rechtsvorschriften zu erlassen.114 Mangels gesetzlicher Grundlage im Hinblick auf den Umgang mit medizinischen Zwangsbehandlungen im Kindschaftsrecht kommt der Gesetzgeber der Bundesrepublik Deutschland seiner aus Art. 8 Abs. 1 EMRK abgeleiteten Schutzpflicht derzeit nicht nach. Auch die EMRK verlangt daher nach einer gesetzlichen Modifizierung.

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Schabas, The European Convention in Human Rights, S. 132. Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, § 20 Rn. 26. 110 Meyer-Ladewig/Nettesheim, in: Meyer-Ladewig/Nettesheim/v. Raumer, EMRK, Art. 8 Rn. 102. 111 Ebenda. 112 ECHR 2005/5 Case of Storck v. Germany, Application no. 61603/00 = NJW-RR 2006, 308 (312). 113 Meyer-Ladewig/Nettesheim, in: Meyer-Ladewig/Nettesheim/v. Raumer, EMRK, Art. 8 Rn. 13. 114 Ebenda. 109

A. Verfassungsrechtliche Anforderungen

151

bb) Eltern-Kind-Verhältnis Art. 8 Abs. 1 EMRK schützt ferner das Familienleben. Wenngleich der Schutz des Eltern-Kind-Verhältnisses im Grundgesetz deutlich umfassender angelegt ist,115 könnte auch die EMRK zur einer Entzerrung von Eltern- und Kindesgrundrechten beitragen. Grundsätzlich sind auch das Erziehungsrecht und damit ebenso weitreichende Entscheidungsbefugnisse der Eltern von Art. 8 EMRK erfasst.116 Die EMRK enthält nicht explizit Kindesrechte, allerdings sind auch Kinder Träger der Konventionsrechte.117 Diese können – wie zuvor dargelegt – auch Schutzpflichten hervorrufen. Die Schutzpflichten wiederum können es ggf. erforderlich machen, in das Erziehungsrecht der Eltern einzugreifen.118 Nach der Rechtsprechung des EGMR ist bei Entscheidungen, die das ElternKind-Verhältnis berühren, ferner das Kindeswohl von entscheidender Bedeutung, obgleich dieses auch nicht ausdrücklich Eingang in den Wortlaut von Art. 8 EMRK gefunden hat.119 Es lässt sich jedoch bereits aus der Schrankenbestimmung des Art. 8 Abs. 2 EMRK herleiten.120 Die Rechtsprechungsdichte zu medizinischen Maßnahmen an Kindern und Jugendlichen ist allerdings gering. Im Hinblick auf medizinische Maßnahmen stellte der EGMR im Fall Glass v. UK fest, dass eine ärztliche Behandlung von urteilsunfähigen Kindern grundsätzlich der Einwilligung der Eltern bedarf.121 In einem weiteren Fall hat der EGMR das Selbstbestimmungsrecht einer Minderjährigen in Bezug auf den Schwangerschaftsabbruch bestätigt.122 Er betonte, dass Eltern aufgrund des Sorgerechts nicht automatisch das Recht haben, deren Wahl für oder gegen ein Kind zu bestimmen. Es scheint zusammenfassend betrachtet, als würde auch der EGMR – ähnlich wie der BGH – die Einbeziehung von Minderjährigen in ihre Behandlung von deren Einwilligungsfähigkeit abhängig machen. Die Ausgangslage ist daher vergleichbar mit dem nationalen grundrechtlichen Spannungsverhältnis, welches bereits dargestellt worden ist.123 Diese Ähnlichkeit kann aber gerade nicht dazu führen, das Grundrechtsgeflecht aus Eltern- und Kindesgrundrechten zu konkretisieren.

115

Marauhn/Thorn, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 16 Rn. 18. Wyttenbach, Grund- und Menschenrechtskonflikte, S. 173. 117 Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, § 13 Rn. 7. 118 Wyttenbach, Grund- und Menschenrechtskonflikte, S. 189. 119 Kogan, Rechtsfragen und Entwicklung, S. 179; Wyttenbach, Grund- und Menschenrechtskonflikte, S. 168. 120 Kogan, Rechtsfragen und Entwicklung, S. 153. 121 ECHR 2004/9 Case of Glass v. The United Kingdom, Application no. 61827/00. 122 ECHR 2012/10 Case of P. and S. v. Poland, Application no. 57375/08 = NJOZ 2014, 709 (713). 123 S. hierzu 5. Teil A. I. 116

152

5. Teil: Zulässigkeit und Grenzen von Zwangsmaßnahmen de lege ferenda

e) Zusammenfassung Da die EMRK aufgrund der weit gefassten Normen in ähnlichem Maße wie das Grundgesetz auf Abwägungen angewiesen ist, kann die EMRK das Verhältnis von Eltern- und Kindesgrundrechten für den Bereich der medizinischen Zwangsbehandlung nicht in dem erhofften Maße konkretisieren. Auch der EGMR hat sich bisher nicht ausdrücklich mit der Zwangsbehandlung von Kindern und Jugendlichen befasst. Darüber hinaus scheint es, als wäre das Problem von Entscheidungsbefugnissen Minderjähriger bislang eher umgangen worden.124 Im Hinblick auf Maßnahmen gegen den Willen eines Volljährigen entspricht die Rechtsprechung des EGMR weitestgehend der des Bundesverfassungsgerichts: Auch der EGMR hat einen wesentlichen Schwerpunkt vor allem auf die Verhältnismäßigkeitsprüfung gelegt. Diese sollte ebenso für den Bereich der Behandlung gegen den Willen eines Kindes übernommen werden. Zudem erhärtet Art. 8 Abs. 2 EMRK zumindest die Forderung nach einer gesetzlichen Grundlage für jegliche medizinische Zwangsbehandlungen. 2. EU-Grundrechtecharta Die EU-Grundrechtecharta entfaltet für die medizinische Zwangsbehandlung keine Relevanz. Den wesentlichen Grund hierfür stellt Art. 51 Abs. 1 S. 1 EUGrundrechtecharta dar, der EU-Stellen und die Mitgliedstaaten nur bei der Durchführung des Unionsrechts bindet. Da ein unionsrechtlicher Zusammenhang im Rahmen von Behandlungen gegen den Willen eines Kindes nicht ersichtlich ist, entfaltet die EU-Grundrechtecharta keine Bindung.125 3. Die UN-Kinderrechtskonvention Allerdings könnte zumindest die UN-Kinderrechtskonvention (UN-KRK) das Verhältnis von Kindes- und Elterngrundrecht konkretisieren, da sie im Gegensatz zu vielen anderen Menschenrechtsverträgen konkrete Kinderrechte manifestiert. Bei der UN-KRK handelt es sich um einen Menschenrechtsvertrag, welcher verschiedene Rechte postuliert, die für alle Kinder und Jugendlichen bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres gelten.126 Die Schaffung der UN-KRK ist ein entscheidender Schritt zur Stärkung der Rechte von Minderjährigen. Zwar werden Kinder auch durch weitere Menschenrechtsverträge geschützt – wie beispielsweise 124

Kilkelly, The Child and the European Convention, S. 117. Die EU-Grundrechtecharta ist nur für Spezialbereiche der medizinischen Zwangsbehandlung von Relevanz – insbesondere bei Transplantationen oder der Arzneimittelforschung. Diesbezüglich hat der Gesetzgeber jedoch präzise Regelungen im Rahmen des AMG und TPG verfasst. 126 Cremer, Anwaltsblatt 2014, 105 (106). 125

A. Verfassungsrechtliche Anforderungen

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den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19. Dezember 1966 (IPbR) –, sodass der UN-KRK insofern auch zum Teil ein duplizierender Charakter zukommt, allerdings sind diese zumeist nicht kinderspezifisch ausgestaltet.127 Die UN-KRK stellt demnach einerseits klar, dass auch Kinder in gleicher Weise wie Erwachsene Rechte haben, und andererseits führt die Konvention zu einer Erweiterung des Schutzes durch spezifische Kinderrechte. Im Ergebnis entsteht aus dieser Verknüpfung ein nahezu umfassender Schutzrechtskatalog.128 a) Bindungswirkung Völkerrechtlich eingegangene Verbindungen verpflichten den Staat, den Vertrag im Ergebnis zu erfüllen; die Art und Weise der Umsetzung steht den Vertragsstaaten hingegen frei.129 In Deutschland bedürfen Verträge, welche die politischen Beziehungen des Bundes regeln oder sich auf Gegenstände der Bundesgesetzgebung beziehen, gemäß Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG der Zustimmung oder der Mitwirkung der jeweils für die Bundesgesetzgebung zuständigen Körperschaften in der Form eines Bundesgesetzes. Ein solches Gesetz wurde im Jahr 1992 für die UN-KRK mit der Zustimmung des Bundesrates vom Bundestag beschlossen.130 Der UN-KRK kommt damit der Rang eines einfachen Bundesgesetzes zu, sodass gemäß Art. 20 Abs. 3 GG die vollziehende Gewalt sowie die Rechtsprechung an die UN-KRK gebunden ist.131 Trotz der Rangzuweisung zum einfachen Bundesrecht können völkerrechtliche Verträge jedoch – wie bereits angesprochen – auch die Auslegung des Grundgesetzes erleichtern.132 Die UN-KRK kann demgemäß als wesentliches Werkzeug zur Entzerrung von Kindes- und Elterngrundrechten dienen. Nachfolgend werden einzelne Rechte der UN-KRK und ihre Bedeutung für die medizinische Zwangsbehandlung näher beleuchtet. b) Diskriminierungsverbot Art. 2 Abs. 1 UN-KRK ist für die vorliegende Untersuchung besonders relevant, da die Norm eines der ersten verbindlichen internationalen Diskriminierungsverbote vorsieht, welches das Merkmal der Behinderung explizit nennt.133 Hinsichtlich der 127

Schmahl, UN-Kinderrechtskonvention, Einleitung, Rn. 15. S. hierzu näher Schmahl, UN-Kinderrechtskonvention, Einleitung, Rn. 15 f. 129 Cremer, Die UN-Kinderrechtskonvention, S. 16. 130 Ebenda. Zur damaligen Zeit machte die Bundesregierung allerdings noch Vorbehalte geltend, von denen sie sich erst im Jahre 2010 löste: Brückner, Archiv für Wissenschaft und Praxis der sozialen Arbeit 2014, 64 (64). 131 Lorz/Sauer, MRM 2011, 5 (6). 132 BVerfG, Urt. v. 12.6.2018 – 2 BvR 1738/12, 2 BvR 1395/132, BvR 1068/14, 2 BvR 646/ 15 = EuZW 2018, 637 (641). 133 Schmahl, UN-Kinderrechtskonvention, Art. 2 Rn. 23. 128

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5. Teil: Zulässigkeit und Grenzen von Zwangsmaßnahmen de lege ferenda

Begriffsbestimmung einer Behinderung kann auf Art. 1 Abs. 2 der UN-Behindertenrechtskonvention verwiesen werden.134 Zu Menschen mit Behinderungen zählen demnach all diejenigen, die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können. Für die medizinische Zwangsbehandlung ist das Diskriminierungsverbot von entscheidender Bedeutung, da Kindern mit Behinderungen nicht bestimmte Rechte genommen werden dürfen. Weil die Rechtsstellung eines Kindes im Rahmen von medizinischen Entscheidungen im Wesentlichen mit der Einwilligungsfähigkeit korrespondiert, dürfen behinderte Kindern nicht voreilig als einwilligungsunfähig eingestuft werden.135 Vielmehr muss die Einwilligungsfähigkeit – wie bei allen anderen Minderjährigen auch – von den jeweiligen Fähigkeiten sowie der Reife abhängig gemacht werden. Der Ausschuss für die Rechte eines Kindes hat zudem explizit betont, dass alle Normen der UN-KRK in gleichem Maße zugunsten von Kindern mit Behinderungen Anwendung finden.136 Im Rahmen der nachfolgenden Ausführungen wird daher nicht zwischen Kindern mit oder ohne Behinderungen differenziert. c) Vorrangige Berücksichtigung des Kindeswohls Art. 3 Abs. 1 UN-KRK enthält die Verpflichtung, das Kindeswohl bei allen Maßnahmen, die Minderjährige betreffen, als vorrangigen Gesichtspunkt zu berücksichtigen.137 Die Vorschriften der UN-KRK definieren zwar nicht den Begriff des Kindeswohls, eine nähere Bestimmung ermöglichen jedoch alle Rechte, die die UN-KRK beinhaltet.138 Der Terminus muss demnach so ausgelegt werden, dass er mit den anderen Konventionsrechten in Einklang gebracht werden kann und ihre Verwirklichung forciert.139 Art. 3 Abs. 1 UN-KRK verlangt nach der Ansicht des Ausschusses für die Rechte eines Kindes zudem eine individuelle Beurteilung des Kindeswohls.140 Bei der Bestimmung des Kindeswohls müssen sämtliche Lebensumstände, Bedürfnisse und die Persönlichkeitsentwicklung eines Kindes beachtet Im Gegensatz zu Art. 2 UN-KRK bezieht sich beispielsweise Art. 24 IPbpR, der auch ein Diskriminierungsverbot von Minderjährigen aufstellt, nicht explizit auf das Merkmal der Behinderung. 134 Schmahl, UN-Kinderrechtskonvention, Art. 2 Rn. 24. 135 Schmahl, BtPrax 2016, 51 (54). 136 CRC, General Comment No. 9, CRC/C/GC/9, Rn. 5. 137 Der Begriff des Kindeswohls stellt hierbei die deutsche Übersetzung dar. In der englischen Fassung ist von „best interests of the child“ die Rede. 138 Cremer, Anwaltsblatt 2014, 105 (109); Wyttenbach, Grund- und Menschenrechtskonflikte, S. 136. 139 Dorsch, Die Konvention der Vereinten Nationen über die Rechte des Kindes, S. 107. 140 CRC, General Comment No. 14, CRC/C/GC/14, Rn. 32.

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werden.141 Die Interessen des Kindes sind allerdings nicht absolut durchzusetzen, sofern sie mit anderen privaten oder öffentlichen Interessen kollidieren.142 Gleichwohl ist dem Kindeswohl stets eine hohe Priorität beizumessen.143 Für die medizinische Zwangsbehandlung von Kindern und Jugendlichen können bereits aus Art. 3 UN-KRK wesentliche Wertungen entnommen werden. Nach Art. 3 Abs. 1 UN-KRK muss das Kindeswohl in allen Bereichen – demzufolge auch bei der medizinischen Zwangsbehandlung – beachtet werden. Eine ärztliche Maßnahme gegen den Willen eines Minderjährigen darf mithin nicht durchgeführt werden, sofern sie dem Wohl des Kindes zuwiderläuft.144 Hieran anknüpfend könnte bereits diskutiert werden, ob medizinisch nicht indizierte Maßnahmen, die gegen den Willen des Kindes vollzogen werden, imstande sind, dem Wohl eines Minderjährigen einen Schaden zuzufügen.145 Schließlich wird hierbei Zwang ausgeübt, ohne dass eine konkrete Indikation besteht, die einen Nutzen für das Kind hervorbringt. Allerdings hätte dies zur Folge, dass religiös motivierte Maßnahmen wie beispielsweise die Beschneidung nicht rechtmäßig wären. Andererseits könnte hierbei im Gegensatz zu anderen medizinisch nicht indizierten Maßnahmen eine konkrete Zweckdienlichkeit darin gesehen werden, dass der Minderjährige zumindest an eine Religion herangeführt und in diesem Sinne erzogen wird. Dass die UN-KRK die Durchführung jeglicher Beschneidungen zu verbieten bezweckt, erscheint im Hinblick auf die Präambel der UN-KRK, die die Bedeutung der Traditionen und kulturellen Werte jedes Volkes hervorhebt, ohnehin eher unwahrscheinlich. Ferner ist der Begriff des Kindeswohls offen für die Interpretation von individuellen Werten.146 Diese Offenheit ist notwendig, da in jeder Kultur unterschiedliche Vorstellungen bestehen, welche konkreten Handlungen das Kindeswohl in Gefahr bringen können.147 Die Herausforderung bei der Bestimmung des Kindeswohls besteht daher darin, verschiedene kulturelle oder religiöse Wertvorstellungen bis zu einem gewissen Grad zu respektieren und gleichzeitig weder die Grundvorstellungen der UN-KRK aufzugeben noch die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes zu gefährden.148 In jedem Fall sind kulturelle Praktiken nicht zu akzeptieren, wenn sie in einem Widerspruch zu anderen Rechten der UN-KRK stehen, die den Kindeswohlbegriff prägen. So warnte der Ausschuss für die Rechte des Kindes beispielsweise ausschließlich vor den Gesundheitsrisiken von medizinisch unsicheren Beschneidungen von Jungen in Südafrika und Lesotho, zweifelte aber nicht per se an der Rechtmäßigkeit einer 141

Cremer, Anwaltsblatt 2014, 105 (109). Schmahl, UN-Kinderrechtskonvention, Art. 3 Rn. 7. 143 CRC, General Comment No. 14, CRC/C/GC/14, Rn. 39. 144 Brückner, Das medizinische Selbstbestimmungsrecht Minderjähriger, S. 38. 145 Bejahend in Bezug auf die Beschneidung: Herzberg, ZIS 2012, 486 (489). 146 Freeman, in: A commentary on the United Nations Convention on the Rights of the Child, Art. 3, S. 28. 147 Alen/Lanotte/Verhellen/Ang/Berghmans/Verheyde, in: Freeman, A commentary on the United Nations Convention on the Rights of the Child, Art. 3, S. 33. 148 Schmahl, UN-Kinderrechtskonvention, Art. 3 Rn. 9, 13. 142

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5. Teil: Zulässigkeit und Grenzen von Zwangsmaßnahmen de lege ferenda

solchen Beschneidung.149 Dies ist wohl darauf zurückzuführen, dass die Zirkumzision bei fachgerechter Durchführung keine gesundheitlichen Schäden nach sich zieht.150 Ferner war der Ausschuss besorgt über die Praxis der Genitalverstümmelung bei Frauen aufgrund ihrer schädlichen Auswirkungen auf die Gesundheit.151 Bezugspunkt für eine Kindeswohlgefährdung bei ärztlichen Behandlungen könnten daher vornehmlich die nachhaltigen Folgen einer medizinischen Maßnahme sein, da sich diese in Widerspruch zum Recht des Kindes auf Gesundheit setzen. Demnach ist die bloße medizinische Indikation nicht entscheidend für die Beurteilung des Kindeswohls. Wenn eine Behandlung jedoch medizinisch nicht indiziert ist und nachhaltige Folgen nach sich zieht, liegt eine Kindeswohlgefährdung vor. Art. 3 UN-KRK lässt sich darüber hinaus eine weitere entscheidende Ableitung für medizinische Zwangsmaßnahmen entnehmen: Das Erfordernis einer individuellen Bestimmung des Kindeswohls verbietet zugleich die Einbeziehung pauschaler Altersgrenzen – beispielsweise für die Bestimmung der Einwilligungsfähigkeit, wie sie in der Literatur152 zum Teil erwogen wird. Weitere Anforderungen lassen sich aus der abstrakten Vorschrift des Art. 3 Abs. 1 UN-KRK nicht herleiten; allerdings kann das Kindeswohlprinzip durch weitere Rechte der UN-KRK präzisiert werden. Damit das Kindeswohlprinzip auch Bedeutung erlangt, haben sich die Vertragsstaaten gemäß Art. 3 Abs. 2 UN-KRK verpflichtet, dem Kind unter Berücksichtigung der Rechte und Pflichten seiner Eltern, seines Vormunds oder anderer für das Kind gesetzlich verantwortlicher Personen den Schutz und die Fürsorge zu gewährleisten, die zu seinem Wohlergehen notwendig sind. Zu diesem Zweck müssen sie nach Art. 3 Abs. 2 UN-KRK alle geeigneten Gesetzgebungs- und Verwaltungsmaßnahmen ergreifen. Damit enthält die UN-KRK eine konkrete und zugleich umfassende Schutzpflicht.153 d) Recht auf Leben Art. 6 UN-KRK stellt zusammen mit Art. 2, Art. 3 und Art. 12 UN-KRK das wesentliche Grundprinzip der Konvention dar.154 Gemäß Art. 6 Abs. 1 UN-KRK erkennen die Vertragsstaaten an, dass jedes Kind ein angeborenes Recht auf Leben hat. Sie gewährleisten gemäß Art. 6 Abs. 2 UN-KRK in größtmöglichem Umfang das Überleben und die Entwicklung des Kindes. Bei Art. 6 UN-KRK handelt es sich 149 CRC, Concluding Observations, South Africa, CRC/C/15/Add.122, Rn 33; CRC, Concluding Observations, Lesotho, CRC/C/15/Add.147 Rn. 43. 150 Zu den Risiken s. jedoch Schulze, Elternrecht und Beschneidung, S. 41 ff. Weibliche Genitalverstümmelungen führen demgegenüber häufig zu erheblichen Gesundheitsschäden sowie dem dauerhaften Verlust des sexuellen Empfindens: Schmahl, UN-Kinderrechtskonvention, Art. 3 Rn. 13. 151 CRC, Concluding Observations, South Africa, CRC/C/15/Add.122, Rn 33. 152 So beispielsweise Rouka, Das Selbstbestimmungsrecht des Minderjährigen, S. 147. 153 Schmahl, UN-Kinderrechtskonvention, Art. 3 Rn. 14. 154 Detrick, Commentary on the United Nations Convention, S. 86.

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nicht nur um das Verbot staatlicher Tötungen von Kindern und damit zugleich um ein Abwehrrecht, sondern die Norm verpflichtet den Staat zudem, das Leben von Kindern zu schützen.155 Wie sich eine solche Schutzpflicht im Verhältnis zu anderen Rechten – beispielsweise dem Selbstbestimmungsrecht von Kindern – auswirkt, ist innerhalb der UN-KRK weitestgehend ungeklärt. Anerkannt ist zumindest, dass das Recht auf Leben nicht absolut zu schützen ist.156 e) Mitspracherechte, Meinungsäußerung Das Kindeswohlprinzip steht insbesondere mit Art. 12 UN-KRK in einem untrennbaren Zusammenhang:157 Gemäß Art. 12 Abs. 1 UN-KRK sichern die Vertragsstaaten dem Kind, das fähig ist, sich eine eigene Meinung zu bilden, das Recht zu, diese Meinung in allen das Kind berührenden Angelegenheiten frei zu äußern. Eine Altersgrenze für das Mitspracherecht wird nicht vorausgesetzt.158 Art. 13 UNKRK komplettiert das Mitspracherecht: Gemäß Art. 13 UN-KRK hat das Kind das Recht auf freie Meinungsäußerung. Dieses Recht schließt ebenso die Freiheit ein, ungeachtet der Staatsgrenzen Informationen und Gedankengut jeder Art in Wort, Schrift oder Druck, durch Kunstwerke oder andere vom Kind gewählte Mittel sich zu beschaffen, zu empfangen und weiterzugeben. Während sich Art. 12 UN-KRK nur auf Angelegenheiten des Kindes bezieht, ist Art. 13 UN-KRK deutlich weiter gefasst und kann daher als lex generalis bezeichnet werden.159 Art. 12 UN-KRK garantiert allerdings insofern einen höheren Schutzstandard, als das Kind seine Meinung nicht nur frei äußern darf, sondern dessen Ansichten ebenfalls gehört werden müssen.160 Eine freie Meinungsäußerung impliziert die vorherige Möglichkeit der Meinungsbildung, für die der Minderjährige mit ausreichenden Informationen versorgt werden muss.161 Ferner setzt die Freiheit der Meinungsäußerung voraus, dass das Kind keinem psychischen Druck ausgesetzt wird.162 Art. 12 Abs. 1 UN-KRK statuiert kein Recht auf Selbstbestimmung, sondern lediglich den Anspruch, diese Meinung in allen das Kind berührenden Angelegenheiten frei zu äußern.163 Der Anwendungsbereich der Vorschrift erfasst aufgrund des 155

S. 22. 156 157 158 159

Rn. 3. 160

Kirchhof, Die UN-Konvention, S. 93 f.; Steindorff-Classen, in: Aktiv für Kinderrechte, Schmahl, UN-Kinderrechtskonvention, Art. 6 Rn. 10. Cremer, Die UN-Kinderrechtskonvention, S. 14. CRC, General Comment No. 12, CRC/C/GC/12, Rn. 21. Kirchhof, Die UN-Konvention, S. 352; Schmahl, UN-Kinderrechtskonvention, Art. 13

Thorburn Stern, Implementing Article 12 of the UN Convention on the Rights of the Child, S. 68. 161 CRC, General Comment No. 12, CRC/C/GC/12, Rn. 25. 162 Schmahl, in: Zwangsbehandlung bei Selbstgefährdung, S. 97. 163 Thorburn Stern, Implementing Article 12 of the UN Convention on the Rights of the Child, S. 62.

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5. Teil: Zulässigkeit und Grenzen von Zwangsmaßnahmen de lege ferenda

weiten Wortlauts alle Lebensbereiche und folglich auch medizinische Maßnahmen.164 Aus Art. 12 Abs. 1 UN-KRK geht somit hervor, dass Kinder in medizinische Maßnahmen einzubeziehen sind. Sie müssen zudem bei jeder Behandlung mit den notwendigen Informationen versorgt werden.165 Der UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes betonte darüber hinaus, dass die Staaten im Grundsatz davon ausgehen sollten, dass jedes Kind in der Lage sei, eine eigene Ansicht zu bilden und diese auszudrücken.166 Menschen würden sich bereits von früher Kindheit an in nonverbalen Kommunikationsformen ausdrücken können.167 Nicht nur der Wille von einsichtsfähigen Jugendlichen muss daher berücksichtigt werden, sondern ebenso muss die Meinung eines einsichtsunfähigen Kindes in die Entscheidung zumindest einfließen. Hierbei ist es aufgrund des Diskriminierungsverbots aus Art. 2 UN-KRK irrelevant, aus welchen Gründen das Kind nicht zur Einwilligung fähig ist. Bei Kindern mit Behinderungen ist jedoch zu berücksichtigen, dass ihnen die erforderliche Hilfe, um ihre Meinung auszudrücken, zu gewähren ist. Sollten diese – beispielsweise aufgrund von Krankheiten – Schwierigkeiten haben, sich Gehör zu verschaffen, so müssen entsprechende Bemühungen erfolgen, um ihren Willen in eine Entscheidung einfließen lassen zu können.168 Pauschale Altersgrenzen sind im Bereich der ärztlichen Behandlungen abzulehnen, da der Grad des Verstehens nicht vom biologischen Alter abhängig ist, sondern vielmehr von der persönlichen Entwicklung.169 Die Verständnisstufen von Kindern sind insbesondere nicht einheitlich zu bestimmen, sondern erfordern eine Einzelfallprüfung.170 Der Ausschuss für die Rechte eines Kindes hat ferner festgestellt, dass Kinder – wenn dies möglich ist – ihre Zustimmung zu einer medizinischen Behandlung geben sollten.171 Dies macht deutlich, dass sich die behandelnden Ärzte vor einer Zwangsbehandlung um das Einverständnis der Kinder bemühen müssen. Die Vertragsstaaten müssen sich darüber hinaus verpflichten, alle möglichen Maßnahmen zu treffen, um sicherzustellen, dass das Recht auf Anhörung ausgeübt werden kann.172 Im Hinblick auf medizinische Zwangsbehandlungen ist dem deutschen Gesetzgeber eine solche Sicherstellung bislang nicht gelungen. Wenn die 164

Cremer, Anwaltsblatt 2014, 105 (112); CRC, General Comment No. 15, CRC/C/GC/15, Rn. 19. Der Ausschuss lehnte bewusst eine Eingrenzung auf spezifische Lebensbereiche ab: CRC, General Comment No. 12, CRC/C/GC/12, Rn. 27. 165 CRC, General Comment No. 14, CRC/C/GC/14, Rn. 77. 166 CRC, General Comment No. 12, CRC/C/GC/12, Rn. 20. 167 Cremer, Anwaltsblatt 2014, 105 (112). 168 CRC, General Comment No. 12, CRC/C/GC/12, Rn. 21. 169 Cremer, Anwaltsblatt 2014, 105 (112). 170 CRC, General Comment No. 12, CRC/C/GC/12, Rn. 29. 171 CRC, General Comment No. 14, CRC/C/GC/14, Rn. 77. 172 CRC, General Comment No. 12, CRC/C/GC/12, Rn. 21.

A. Verfassungsrechtliche Anforderungen

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Anforderungen an die Rechtmäßigkeit einer Zwangsbehandlung im Kindschaftsrecht nicht normiert werden, kann der Gesetzgeber nicht garantieren, dass das Recht auf Anhörung hinreichend durchgesetzt wird. Zwar fordert § 1626 Abs. 2 S. 2 BGB Eltern auf, Fragen der elterlichen Sorge mit dem Kind zu besprechen und ein Einvernehmen anzustreben, die Norm wird jedoch eher als bloßes Leitbild verstanden.173 Ohnehin richtet sich § 1626 Abs. 2 S. 2 BGB nur an die Eltern und nicht an die behandelnden Ärzte. Damit trifft der deutsche Gesetzgeber gerade nicht alle möglichen Maßnahmen. Auch die Regelungen zum Behandlungsvertrag werden dem Recht auf Mitsprache nicht gerecht. Gemäß § 630 c Abs. 1 BGB ist lediglich von einem Zusammenwirken von Patient und Behandelndem die Rede. Ferner gehen aus § 630 c Abs. 2 BGB ausschließlich bloße Informationspflichten hervor. Art. 12 UN-KRK entfaltet im Ergebnis eine wesentliche Schutzwirkung für die medizinische Zwangsbehandlung von Kindern und Jugendlichen. Ausdrücklich wird in der Norm manifestiert, dass Minderjährigen unabhängig von ihrem Reifegrad Mitspracherechte zustehen. Dies muss von den Gesetzgebern der Vertragsstaaten respektiert werden. Es mag zwar Überwindung kosten, sich von möglicherweise noch vorhandenen, althergebrachten Erziehungsbildern zu lösen, die eine solche Mitbestimmung nicht vorsahen. Gleichwohl ist eine solche Distanzierung nicht nur aufgrund veränderter Wertvorstellungen in der Gesellschaft erforderlich, sondern ebenso, weil dem Kind – insbesondere durch die UN-Kinderrechtskonvention – ausdrücklich spezifische Rechte gewährt werden. Obwohl Art. 12 UN-KRK den Kindern Partizipationsrechte zuweist, muss gleichzeitig auch konstatiert werden, dass spezielle Alleinentscheidungsbefugnisse nicht explizit aufgeführt werden.174 Dies hindert die Vertragsstaaten jedoch aufgrund des mindestharmonisierenden Charakters der UN-KRK nicht, einen weitergehenden Schutz in Form von Alleinentscheidungsrechten zu manifestieren.175 f) Religion Entscheidende Wertungen für einen spezifischen Fall der ärztlichen Maßnahme – namentlich für die Beschneidung – können Art. 14 UN-KRK entnommen werden. Gemäß Art. 14 Abs. 1 UN-KRK achten die Vertragsstaaten das Recht des Kindes auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit. Nach Art. 14 Abs. 2 UN-KRK respektieren die Vertragsstaaten ferner die Rechte und Pflichten der Eltern oder des Vormundes, das Kind bei der Ausübung dieses Rechts in einer seiner Entwicklung entsprechenden Weise zu leiten. Die Formulierung des Abs. 2 stellt im Vergleich zu verwandten Regelungen aus anderen Menschenrechtsverträgen – so beispielsweise Art. 18 Abs. 4 IPbpR – in173 174 175

Huber, in: Münchener Kommentar BGB, § 1626 Rn. 62. Brückner, Das medizinische Selbstbestimmungsrecht, S. 101. Ebenda.

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5. Teil: Zulässigkeit und Grenzen von Zwangsmaßnahmen de lege ferenda

sofern eine Besonderheit dar, als den Erziehungsberechtigten kein eigenes Recht zur religiösen Erziehung zur Seite steht, sondern vielmehr ein „akzessorisches Recht“, welches von der Ausübung des Kindes abhängig ist.176 Dies heben insbesondere die Allgemeinen Bemerkungen (General Comment) hervor: „In other words, it is the child who exercises the right to freedom of religion, not the parent, and the parental role necessarily diminishes as the child acquires an increasingly active role in exercising choice throughout adolescence.“177

Die Akzessorietät des Elternrechts könnte zur Rechtswidrigkeit von Beschneidungen führen, sofern das Kind diese ablehnt oder aufgrund eines mangelnden Verständnisses noch nicht in der Lage ist, von seinem Recht auf Religionsfreiheit Gebrauch zu machen. Dies würde vor allem die Zirkumzision von Neugeborenen oder Kleinkindern betreffen. Allerdings könnte sich eine solche Schlussfolgerung in Widerspruch zu Art. 18 Abs. 4 IPbpR setzen. Nach Art. 18 Abs. 4 IPbpR verpflichten sich die Staaten, die Freiheit der Eltern und gegebenenfalls des Vormunds oder Pflegers zu achten und die religiöse und sittliche Erziehung ihrer Kinder in Übereinstimmung mit ihren eigenen Überzeugungen sicherzustellen. Den Erziehungsberechtigten wird demnach ein eigenes Weisungsrecht im Hinblick auf die religiöse Erziehung ihrer Kinder verliehen, während nach Art. 14 Abs. 2 UN-KRK Eltern ihr Kind bei dessen Recht auf Religionsausübung nur leiten dürfen.178 Der Präambel der UN-KRK kann jedoch entnommen werden, dass kein Widerspruch zu internationalen Menschenrechtspakten bezweckt werden sollte.179 Insofern bietet sich die von Dorsch favorisierte Interpretation an: Das in Art. 18 Abs. 4 IPbpR manifestierte Recht besteht nur solange, bis das Kind aufgrund einer zunehmenden Reife in der Lage ist, sein Recht auf Religion auszuüben.180 Ab diesem Zeitpunkt verwandelt sich das eigene Elternrecht aus Art. 18 Abs. 4 IPbpR in das akzessorische Recht des Art. 14 Abs. 2 UN-KRK. Art. 14 Abs. 2 UN-KRK kommt somit lediglich eine Ergänzungsfunktion zu. Dies entspricht auch den Allgemeinen Bemerkungen (General Comment), in denen die Akzessorietät von Art. 14 UN-KRK hervorgehoben worden ist, da sich die Ausführungen vorwiegend auf den Zeitraum der Adoleszenz bezogen haben.181 Sofern der Minderjährige die erforderliche Reife erreicht hat, sodass folglich Art. 14 UN-KRK zur Anwendung kommt, ist eine Zirkumzision gegen seinen Willen nicht erlaubt, da den Erziehungsberechtigten lediglich eine leitende Funktion zukommt, nicht jedoch das Recht, die eigenen religiösen Vorstellungen des Jugend-

176 177 178 179 180 181

Schmahl, UN-Kinderrechtskonvention, Art. 14 Rn. 7. CRC, General Comment No. 20, CRC/C/GC/20, Rn. 43. Schmahl, UN-Kinderrechtskonvention, Art. 14 Rn. 1. Dorsch, Die Konvention der Vereinten Nationen über die Rechte des Kindes, S. 138. Dorsch, Die Konvention der Vereinten Nationen über die Rechte des Kindes, S. 171. CRC, General Comment No. 20, CRC/C/GC/20, Rn. 43.

A. Verfassungsrechtliche Anforderungen

161

lichen zu überwinden. Für den Zeitraum vor einer hinreichenden Selbstständigkeit eines Kindes resultiert ein solches Verbot aus Art. 14 UN-KRK nicht. Damit entspricht § 1631 d BGB den Anforderungen von Art. 14 UN-KRK, da das Recht der Eltern in die Einwilligung einer Zirkumzision nur bei nicht einsichtsund urteilsfähigen Kindern besteht. g) Verbot der Gewaltanwendung und schlechter Behandlung Für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit von medizinischen Zwangsmaßnahmen ist ferner Art. 19 UN-KRK relevant. Gemäß Art. 19 Abs. 1 UN-KRK treffen die Vertragsstaaten alle geeigneten Gesetzgebungs-, Verwaltungs-, Sozial- und Bildungsmaßnahmen, um das Kind unter anderem vor jeder Form körperlicher oder geistiger Gewaltanwendung, Schadenszufügung oder vor schlechter Behandlung zu schützen. Unter Gewalt i. S. v. Art. 19 UN-KRK ist jede Form von körperlicher oder geistiger Gewalt, Verletzung, Missbrauch, Vernachlässigung, fahrlässige Behandlung, Misshandlung oder Ausbeutung einschließlich des sexuellen Missbrauchs zu verstehen.182 Die Motivation, aus der heraus die Gewaltanwendung erfolgt, ist bei der Beurteilung von Art. 19 UN-KRK irrelevant. Eine fehlende Schädigungsabsicht wirkt sich daher nicht auf den Gewaltbegriff aus.183 Dies könnte zugleich dafür sprechen, dass medizinische Zwangsbehandlungen – selbst bei positiver Entwicklung auf die Gesundheit des Kindes – von Art. 19 UN-KRK erfasst sind, da eine Zwangsbehandlung in der Regel mit Gewalt einhergeht. Ein solcher Eindruck wird bei genauerer Lektüre der Allgemeinen Bemerkungen (General Comments) zu Art. 19 UN-KRK jedoch eher widerlegt als bestärkt. So wird beispielsweise betont, dass eine medizinische Vernachlässigung Art. 19 UN-KRK verletzt.184 Es würde zu konträren Ergebnissen führen, wenn eine medizinische Zwangsbehandlung, die einen positiven Einfluss auf die Gesundheit eines Kindes entfaltet, von Art. 19 UNKRK erfasst wäre, die Norm aber gleichzeitig eine medizinische Vernachlässigung zu verhindern bezweckt. Der Schwerpunkt wird darüber hinaus im Rahmen der näheren Erklärung zu Art. 19 UN-KRK eher auf Verletzungen des Kindes gelegt als auf den Bruch des Willens. So warnt der Ausschuss beispielsweise vor den gesundheitlichen Folgen von Gewalt.185 Während die Zwangssterilisation und weibliche Genitalverstümmelung sowie eine Therapie mit Elektroschocks – neuerdings auch als Elektrokrampftherapie (EKT) betitelt186 – ausdrücklich als Form der physischen Gewalt bzw.

182 183 184 185 186

CRC, General Comment No. 13, CRC/C/GC/13, Rn. 4. CRC, General Comment No. 13, CRC/C/GC/13, Rn. 17. CRC, General Comment No. 13, CRC/C/GC/13, Rn. 20 c. CRC, General Comment No. 13, CRC/C/GC/13, Rn. 15 a. Lehmann, in: Neue Antidepressiva, S. 127.

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5. Teil: Zulässigkeit und Grenzen von Zwangsmaßnahmen de lege ferenda

schlechter Behandlung bezeichnet werden, nimmt der Ausschuss auf andere Formen von medizinischen Zwangsbehandlungen nicht Bezug.187 Art. 19 UN-KRK ist zudem nicht zugänglich für eine variable Handhabung, was wiederum dafür spricht, die Norm eher restriktiv auszulegen. So betonte der Ausschuss beispielsweise, dass Gewalt nie zu rechtfertigen ist, sondern stattdessen immer vermeidbar ist.188 Im Hinblick auf medizinische Zwangsbehandlungen erscheint es jedoch wenig tragbar, diese stets zu verbieten, da sie für das Kindeswohl in bestimmten Konstellationen erforderlich sein könnten. Die besseren Argumente sprechen im Ergebnis somit dafür, eine medizinische Zwangsbehandlung vom Schutzbereich des Art. 19 UN-KRK auszuschließen und die Rechtmäßigkeit von ärztlichen Maßnahmen eines Kindes von anderen Normen der UN-KRK abhängig zu machen. h) Fürsorge für Kinder mit Behinderungen Neben dem Diskriminierungsverbot aus Art. 2 UN-KRK wurde durch Art. 23 UNKRK eine weitere Norm zum Schutz von Kindern mit Behinderungen geschaffen. Gemäß Art. 23 Abs. 1 UN-KRK erkennen die Vertragsstaaten an, dass ein geistig oder körperlich behindertes Kind ein erfülltes und menschenwürdiges Leben unter Bedingungen führen soll, welche die Würde des Kindes wahren, seine Selbständigkeit fördern und seine aktive Teilnahme am Leben der Gemeinschaft erleichtern. Es handelt sich hierbei um ein zusätzliches Integrationsgebot.189 Es wird daher erneut deutlich, dass alle Rechte der UN-KRK gleichermaßen für Kinder mit Behinderungen gelten. So betonte der Ausschuss beispielsweise die Relevanz des Mitspracherechts für Kinder mit Behinderungen: Es sei wichtig, dass Kinder mit Behinderungen bei allen Verfahren, die sie betreffen, gehört werden und ihre Ansichten entsprechend ihren sich entwickelnden Fähigkeiten respektiert werden.190 Der Ausschuss hielt darüber hinaus fest, dass insbesondere im Bereich der Gesundheit eine maximale Einbeziehung von Kindern mit Behinderungen zu erzielen sei.191 i) Recht auf Gesundheit Art. 24 UN-KRK normiert einen wichtigen Schutzanspruch Minderjähriger und ist folglich auch für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit von medizinischen Zwangsmaßnahmen von besonderer Relevanz.192 Gemäß Art. 24 Abs. 1 S. 1 UN187 188 189 190 191 192

CRC, General Comment No. 13, CRC/C/GC/13, Rn. 23 a, b, 29 b. CRC, General Comment No. 13, CRC/C/GC/13, Rn. 3 a. Rossa, Kinderrechte, S. 175. CRC, General Comment No. 9, CRC/C/GC/9, Rn. 32. CRC, General Comment No. 9, CRC/C/GC/9, Rn. 11. Schmahl, UN-Kinderrechtskonvention, Art. 24 Rn. 1.

A. Verfassungsrechtliche Anforderungen

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KRK erkennen die Vertragsstaaten das Recht des Kindes auf das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit an sowie auf Inanspruchnahme von Einrichtungen zur Behandlung von Krankheiten und zur Wiederherstellung der Gesundheit. Die Vertragsstaaten bemühen sich ferner gemäß Art. 24 Abs. 1 S. 2 UN-KRK, sicherzustellen, dass keinem Kind das Recht auf Zugang zu derartigen Gesundheitsdiensten vorenthalten wird. aa) Wertungen für die allgemeine medizinische Behandlung Der Ausschuss für die Rechte eines Kindes interpretiert Art. 24 UN-KRK als Recht, das nicht nur auf die rechtzeitige und angemessene Prävention und Gesundheitsförderung ziele, sondern zugleich auf Wachstum und Entwicklung, damit Kindern ein Leben unter Bedingungen ermöglicht werde, unter denen sie ihr volles Potential ausschöpfen können.193 Die Betonung der Bedeutsamkeit einer gesunden Entwicklung des Kindes könnte die Schlussfolgerung zulassen, dass auch Zwangsbehandlungen im Grundsatz erlaubt sind. Eine solch pauschale Vermutung greift jedoch zu kurz. Das Recht des Kindes auf Gesundheit steht im unmittelbaren Zusammenhang mit der Beurteilung des Kindeswohls.194 Der Ausschuss betonte in den Allgemeinen Bemerkungen (General Comments) zu Art. 3 UN-KRK, welche als Auslegungshilfe herangezogen werden können,195 dass bei einer ärztlichen Maßnahme die Vorteile sowie Risiken und Nebenwirkungen von allen Behandlungsmöglichkeiten gegeneinander abgewogen werden müssten und dass die Sicht des Kindes entsprechend seinem Alter und seiner Reife angemessen berücksichtigt werden müsse.196 Daraus wird deutlich, dass der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz sowie die Reife des Kindes bei der Zulässigkeit von ärztlichen Maßnahmen gegen den Willen des minderjährigen Patienten eine wesentliche Rolle spielt. Ferner wird in den Allgemeinen Bemerkungen zu Art. 24 UN-KRK betont, dass das Recht auf Gesundheit auch eine Reihe von Freiheiten – speziell das Recht auf Kontrolle der eigenen Gesundheit sowie von eigenen verantwortungsbewussten Entscheidungen – beinhaltet.197 Diese Freiheiten werden mit der wachsenden Reife des Kindes von zunehmender Bedeutung.198 Sofern es möglich ist, sollen Kinder ihre Einwilligung nach hinreichender Information über die Behandlung daher selbst erteilen.199 Dies entspricht dem allgemeinen Telos der Konvention, nach dem Kinder nicht nur als Schutzobjekte, sondern zugleich als eigenständige Rechtssubjekte wahrgenommen werden.200 193 194 195 196 197 198 199 200

CRC, General Comment No. 15, CRC/C/GC/15, Rn. 2. CRC, General Comment No. 14, CRC/C/GC/14, Rn. 77. Schmahl, UN-Kinderrechtskonvention, Art. 44/45 Rn. 24. CRC, General Comment No. 14, CRC/C/GC/14, Rn. 77. CRC, General Comment No. 15, CRC/C/GC/15, Rn. 24. Ebenda. CRC, General Comment No. 14, CRC/C/GC/14, Rn. 77. Schmahl, in: Zwangsbehandlung bei Selbstgefährdung, S. 96.

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5. Teil: Zulässigkeit und Grenzen von Zwangsmaßnahmen de lege ferenda

Art. 24 UN-KRK können im Ergebnis wesentliche Wertungen für die Rechtmäßigkeit von Zwangsbehandlungen von Kindern und Jugendlichen entnommen werden: Wenn ein Höchstmaß an Gesundheit erzielt werden soll, dann müssen ärztliche Maßnahmen gegen den Willen eines Minderjährigen zu dessen Schutz rechtmäßig sein. Diese Zulässigkeit erfährt jedoch auch ihre Grenzen: Entscheidend ist hierbei nicht nur der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, sondern auch das Alter und die Reife des Patienten. Ab einen gewissen Grad müssen die selbstbestimmten Entscheidungen eines Kindes in Bezug auf dessen Gesundheit respektiert werden. Zwangsbehandlungen sind dann folglich nicht mehr zulässig. bb) Wertungen für die Beschneidung Ferner könnte Art. 24 UN-KRK Wertungen für einen weiteren spezifischen medizinrechtlichen Bereich – konkret die Beschneidung – enthalten. Die Vertragsstaaten treffen gemäß Art. 24 Abs. 3 UN-KRK alle wirksamen und geeigneten Maßnahmen, um überlieferte Bräuche, die für die Gesundheit der Kinder schädlich sind, abzuschaffen. Historisch gesehen zielt die Abschaffung von gefährlichen Bräuchen insbesondere auf eine Verhinderung der Beschneidung von Mädchen.201 Zwar wurde ein solches Vorhaben trotz einer Diskussion nicht explizit in Art. 24 Abs. 3 UN-KRK aufgenommen,202 dies ist aufgrund des allgemeingültigen Charakters der Norm auch nicht notwendig.203 Die Beschneidung von Mädchen muss als schädlicher Brauch zu qualifizieren sein, da sie zu körperlichen Schäden, psychischen Erkrankungen und zu einem Verlust des sexuellen Lustempfindens führen kann, ohne medizinische Vorteile nach sich zu ziehen.204 Dem BGH ist daher darin zuzustimmen, dass es sich bei der Beschneidung von Mädchen um eine „grausame, folgenschwere und durch nichts zu rechtfertigende Misshandlung“ handelt.205 Anders könnte die Rechtslage in Bezug auf Beschneidungen von Jungen zu bewerten sein.206 Zweifelsfrei stellt auch eine Zirkumzision einen überlieferten Brauch

201 Detrick, Commentary on the United Nations Convention, S. 415 ff.; Kirchhof, Die UNKonvention, S. 132; Schmahl, UN-Kinderrechtskonvention, Art. 24 Rn. 21. 202 Dorsch, Die Konvention der Vereinten Nationen über die Rechte des Kindes, S. 171. 203 Der historischen Auslegung kommt ohnehin gemäß Art. 32 der Wiener Vertragsrechtskonvention nur eine ergänzende Funktion zu: Cremer, Die UN-Kinderrechtskonvention, S. 7. 204 Schmahl, UN-Kinderrechtskonvention, Art. 24 Rn. 21. 205 BGH, Beschl. v. 15.12.2004 – XII ZB 166/03 = NJW 2005, 672 (673). 206 Gegen die Vereinbarkeit der Einwilligungsbefugnis der gesetzlichen Vertreter in eine Beschneidung mit Art. 24 Abs. 3 UN-BRK plädieren: Czerner, ZKJ 2012, 433 (434); Herzberg, ZIS 2012, 486 (490); Grams, GesR 2013, 332 (337); Manok, Die medizinisch nicht indizierte Beschneidung, S. 179; Peschel-Gutzeit, in: FS Brudermüller, S. 528; Putzke, in: Strafrecht zwischen System und Telos, S. 704; ders., MedR 2008, 268 (272); Sonnekus, JR 2015, 1 (13).

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dar.207 Fraglich ist jedoch, ob das Merkmal der Schädlichkeit i. S. v. Art. 24 Abs. 3 UN-KRK vorliegt. Hinsichtlich des Begriffs der Schädlichkeit könnte auf die medizinische Maßnahme selbst abgestellt werden oder auf die negativen Folgen, die ein überlieferter Brauch nach sich zieht. Würde nur auf die medizinische Maßnahme an sich abgestellt werden, so müsste die Zirkumzision unter Art. 24 Abs. 3 UN-KRK fallen, da mit der Beschneidung der schmerzhafte und irreversible Verlust von Gewebe einhergeht.208 Zu einem anderen Ergebnis könnte gelangt werden, wenn Art. 24 Abs. 3 UN-KRK vorwiegend die Abschaffung von Bräuchen bezwecken würde, die nachhaltige Folgen verursachen. Medizinisch betrachtet ist die Beurteilung der Schädlichkeit einer Zirkumzision nicht unumstritten: Während teilweise auf die Nebenwirkungen – wie beispielsweise Schwellungen, Blutungen, Infektionen, Meatusstenose sowie die spezifischen Risiken der Anästhetika –209 hingewiesen wird, so kann dem gleichzeitig entgegnet werden, dass die Beeinträchtigungen nicht in dem Maße und der Häufigkeit auftreten, um von einer einschneidenden und nachhaltigen Beeinträchtigung der Gesundheit sprechen zu können.210 In Deutschland ist eine Zirkumzision ohnehin gemäß § 1631 d BGB nur nach den Regeln der ärztlichen Kunst erlaubt, was zu einer deutlichen Senkung der Häufigkeit von Nebenwirkungen führt, da eine chirurgisch durchgeführte Zirkumzision als „komplikationsarm“ gilt.211 Die Komplikationsrate liegt hierbei bei unter 1 %.212 Über die Auswirkungen einer Beschneidung auf das sexuelle Lustempfinden sowie über eine mögliche Traumatisierung herrscht allerdings in der Wissenschaft bisher Uneinigkeit, sodass diesbezüglich keine gefestigten Kenntnisse in die vorliegende Untersuchung eingebracht werden können.213 Neben den Risiken und Nebenwirkungen kann eine Zirkumzision auch positive Effekte hervorrufen: Die WHO und das Joint United Nations Programme on HIV/AIDS (UNAIDS) empfehlen sogar die Förderung der Beschneidung als eine wesentliche Strategie zur Verhinderung der HIV-Infektionen.214 So belegen Studien, dass beschnittene Männer ein deutlich geringeres Risiko aufweisen, Harnwegsinfektionen, HIV-Infektionen, Peniskrebs und Syphilis zu erleiden.215 Zusammenfassend ist zu konstatieren, dass Nebenwirkungen bei einer chirurgisch durchgeführten Zirkumzision relativ selten auftreten. Da eine Zirkumzision zudem A. A. Lack, ZKJ 2012, 336 (342); Rixen, NJW 2013, 257 (259); Salgo, in: Staudinger BGB, § 1631 d Rn. 9; Spickhoff, FamRZ 2013, 337 (338). 207 Manok, Die medizinisch nicht indizierte Beschneidung, S. 179. 208 Ebenda. 209 S. hierzu näher: Schulze, Elternrecht und Beschneidung, S. 38 ff. 210 Steinbach, NVwZ 2013, 550 (551). 211 Schumpelick/Blesse/Mommsen, Kurzlehrbuch Chirurgie, S. 435. 212 Ebenda. 213 BT-Drs.17/11295, S. 9. 214 BT-Drs.17/11295, S. 7. 215 BT-Drs.17/11295, S. 8.

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5. Teil: Zulässigkeit und Grenzen von Zwangsmaßnahmen de lege ferenda

Vorteile nach sich ziehen kann, würde die Beschneidung von Jungen wohl nicht unter Art. 24 Abs. 3 UN-KRK fallen, sofern man auf die nachhaltigen Folgen eines schädlichen Brauchs abstellen würde. Zu einem anderen Ergebnis könnte man nur gelangen, wenn der Diskurs in der Wissenschaft hinsichtlich einer möglichen Traumatisierung zu gefestigteren Ergebnissen führen würde. Damit bleibt als Zwischenfazit festzuhalten, dass eine Zirkumzision von Art. 24 Abs. 3 UN-KRK erfasst wäre, wenn auf die Schädlichkeit der medizinischen Maßnahme selbst abgestellt werden würde, nicht jedoch, wenn die Norm auf die Abschaffung von Bräuchen zielt, die nachhaltige Folgen bewirken. Um sich der Bedeutung des Begriffs der Schädlichkeit zu nähern, könnten die „Concluding Observations“ herangezogen werden.216 Zwar erfolgt eine Auslegung der einzelnen Normen der UN-KRK vorwiegend gemäß Art. 31 Abs. 1 der Wiener Vertragsrechtskonvention nach dem Wortsinn,217 dieser führt bei der zuvor aufgeworfenen Frage, wie bereits erörtert, nicht zu weitergehenden Ergebnissen, da das Merkmal der Schädlichkeit unterschiedlichen Interpretationsmöglichkeiten zugänglich ist. Der Ausschuss für die Rechte des Kindes warnte ausschließlich vor den Gesundheitsrisiken von medizinisch unsicheren Beschneidungen von Jungen in Südafrika und Lesotho, zweifelte aber nicht per se an der Rechtmäßigkeit einer Zirkumzision.218 Dass die UN-KRK die Durchführung jeglicher Beschneidungen zu verbieten bezweckt, erscheint im Hinblick auf die Präambel der UN-KRK, die die Bedeutung der Traditionen und kulturellen Werte jedes Volkes hervorhebt, ohnehin eher unwahrscheinlich. Das pauschale Begehren, die Zirkumzision abzuschaffen, wäre ferner nicht mit der in Art. 14 Abs. 1 UN-KRK geregelten Religionsfreiheit vereinbar, da auch das Kind ein Interesse daran haben kann, den Bräuchen seiner Religion nachzugehen. Zudem kann der historischen Auslegung gemäß Art. 32 der Wiener Vertragsrechtskonvention eine ergänzende Funktion zukommen.219 Diesbezüglich ist zu konstatieren, dass Art. 24 Abs. 3 UN-KRK vorwiegend eine Verhinderung der Beschneidung von jungen Mädchen bezweckte.220 Im Ergebnis fällt die Beschneidung von Jungen daher nicht in den Anwendungsbereich von Art. 24 Abs. 3 UN-KRK. Gleichwohl sind bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer Zirkumzision – ggf. auch gegen den Willen eines Kindes – die bereits erläuterten Wertungen einzubeziehen, die auch im Rahmen einer medizinischen Maßnahme zu beachten sind. Aus dem Recht auf Gesundheit und dem Ver216

Schulze, Elternrecht und Beschneidung, S. 163. Cremer, Die UN-Kinderrechtskonvention, S. 7. 218 CRC, Concluding Observations, South Africa, CRC/C/15/Add.122, Rn 33; CRC, Concluding Observations, Lesotho, CRC/C/15/Add.147 Rn. 43. 219 Cremer, Die UN-Kinderrechtskonvention, S. 7. 220 Salgo, in: Staudinger BGB, § 1631 d Rn. 9. 217

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hältnismäßigkeitsgrundsatz ergibt sich, dass eine Zirkumzision nach den Regeln der ärztlichen Kunst durchgeführt werden muss.221 Entspricht eine Zirkumzision nicht dem Willen des Kindes und ist diese nicht medizinisch indiziert, so wäre eine solche insbesondere im Hinblick auf das Mitspracherecht eines Kindes unverhältnismäßig.222 j) Unterbringung Die Vertragsstaaten erkennen gemäß Art. 25 UN-KRK ferner an, dass ein Kind, das von den zuständigen Behörden wegen einer körperlichen oder geistigen Erkrankung zur Betreuung, zum Schutz der Gesundheit oder zur Behandlung untergebracht worden ist, das Recht auf eine regelmäßige Überprüfung der dem Kind gewährten Behandlung sowie aller anderen Umstände hat, die für seine Unterbringung von Belang sind. Mithin könnte ebenso der Schutz vor medizinischen Zwangsbehandlungen im Rahmen einer Unterbringung von Art. 25 UN-KRK erfasst sein. Dies wäre für den deutschen Gesetzgeber insofern von Bedeutung, als die zivilrechtliche Unterbringung i. S. v. § 1631 b BGB im Gegensatz zur landesrechtlichen Unterbringung nur die Kontrolle in Form einer Genehmigung der Freiheitsentziehung sowie freiheitsentziehender Maßnahmen vorsieht. Sonstige Umstände, die für die Unterbringung von Belang sind, werden somit nicht von § 1631 d BGB erfasst. Ist die Norm daher völkerrechtswidrig? Art. 25 UN-KRK verpflichtet die Vertragsstaaten ausweislich des Wortlauts nur zur regelmäßigen Überprüfung einer etwaigen Unterbringung des Kindes, die von den zuständigen staatlichen Behörden vorgenommen worden ist. Es stellt sich somit die Frage, ob Art. 25 UN-KRK überhaupt eine Regelungswirkung für die zivilrechtliche Unterbringung nach § 1631 b BGB entfaltet, da diese durch die gesetzlichen Vertreter veranlasst werden muss.223 Eine Antwort kann nur eine Auslegung der Vorschrift geben. Hierbei ist erneut zu berücksichtigen, dass sich diese gemäß Art. 31 Abs. 1 der Wiener Vertragsrechtskonvention an Treu und Glauben in Übereinstimmung mit der gewöhnlichen Bedeutung des Vertrags und im Lichte seines Zieles und Zweckes zu orientieren hat. Der historischen Auslegung kommt gemäß Art. 32 der Wiener Vertragsrechtskonvention nur eine ergänzende Funktion zu.224 Eine solche historische Auslegung bliebe vorliegend allerdings ohnehin ergebnislos, da die Weite des Anwendungsbereichs zwar bei der Schaffung von Art. 25 UN-KRK diskutiert worden ist, es wurde jedoch weder ein Vorschlag, der

221 222 223 224

Schmahl, UN-Kinderrechtskonvention, Art. 24 Rn. 21. Salgo, in: Staudinger BGB, § 1631 d Rn. 10. S. hierzu 3. Teil B. IV. Cremer, Die UN-Kinderrechtskonvention, S. 7.

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5. Teil: Zulässigkeit und Grenzen von Zwangsmaßnahmen de lege ferenda

explizit die Unterbringung von privater Seite erfasste, noch die Anregung, eine Unterbringung auf Veranlassung der Eltern explizit auszuschließen, befürwortet.225 Einer Auslegung nach dem Wortlaut226 lässt sich jedenfalls nicht eindeutig entnehmen, dass Art. 25 UN-KRK eine von den Eltern veranlasste Unterbringung nicht erfassen würde.227 In der englischen Fassung heißt es konkret: „States Parties recognize the right of a child who has been placed by the competent authorities for the purposes of care, protection or treatment of his or her physical or mental health, to a periodic review of the treatment provided to the child and all other circumstances relevant to his or her placement.“

In der französischen Fassung lautete Art. 25 UN-KRK: „Les Etats parties reconnaissent à l’enfant qui a été placé par les autorités compétentes pour recevoir des soins, une protection ou un traitement physique ou mental, le droit à un examen périodique dudit traitement et de toute autre circonstance relative à son placement.“

Die Veranlassung und demgemäß jegliches Vorverhalten fand in den Wortlaut des Art. 25 UN-KRK keinen Eingang. Stattdessen umschreiben die Wörter „has been placed“ oder „a été placé“ lediglich die konkrete Handlung der Unterbringung. Diesbezüglich ist zu berücksichtigen, dass hinsichtlich der Unterbringung nach § 1631 b BGB zwar eine Veranlassung der Eltern vorliegen muss, der Staat jedoch durch die Genehmigung konkret an der Unterbringung mitwirkt. Der Sinn und Zweck der Norm spricht ferner deutlich für eine Einbeziehung von Unterbringungen auf Veranlassung der Erziehungsberechtigten, da die Gefahrenlage unabhängig, von wem diese veranlasst wird, identisch ist.228 Durch eine regelmäßige Überprüfung gewährleistet Art. 25 UN-KRK, dass die Rechte des Minderjährigen gewahrt werden.229 In der Gesamtschau ist es daher überzeugender, eine von Erziehungsberechtigten veranlasste Unterbringung dem Anwendungsbereich von Art. 25 UN-KRK zu unterwerfen, sodass sich auch § 1631 b BGB an dessen Vorgaben messen lassen muss. Entgegen der Ansicht Schmahls230 steht § 1631 b dann allerdings derzeit nicht in Einklang mit Art. 25 UN-KRK. Zwar ist insbesondere gemäß § 1631 b BGB die richterliche Genehmigung der Unterbringung sowie gemäß § 166 Abs. 2 FamFG eine regelmäßige Überprüfung von kindesschutzrechtlichen Maßnahmen i. S. v. 225 Detrick, Commentary on the United Nations Convention, S. 437 f.; Schmahl, UNKinderrechtskonvention, Art. 25 Rn. 1. 226 Bei der Wortlautauslegung muss sich auf eine verbindliche Fassung i. S. v. Art. 54 UNKRK wie beispielsweise auf die englische oder französische Fassung bezogen werden. Die deutsche Fassung gilt hingegen nicht als verbindlich: Cremer, Die UN-Kinderrechtskonvention, S. 7. 227 Kirchhof, Die UN-Konvention, S. 303. 228 Schmahl, UN-Kinderrechtskonvention, Art. 25 Rn. 1. 229 Ebenda. 230 Schmahl, UN-Kinderrechtskonvention, Art. 25 Rn. 6.

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§ 1696 Abs. 2 BGB erforderlich, eine solche Überprüfung bezieht sich im Rahmen einer Unterbringung nach § 1631 b BGB hingegen nur auf die Unterbringung selbst,231 da eine medizinische Zwangsbehandlung nicht im Gesetz als kindesschutzrechtliche Maßnahme aufgeführt ist. Weil nach Art. 25 Abs. 1 UN-KRK alle anderen Umstände, die für die Unterbringung von Belang sind, einer regelmäßigen Überprüfung unterzogen werden müssen, muss dies im Hinblick auf den Sinn und Zweck der Vorschrift auch für eine medizinische Behandlung gegen den Willen eines Kindes gelten. Die in Art. 25 UN-KRK manifestierte Regelung soll untergebrachte Kinder nicht nur vor einer zu langen und demnach unverhältnismäßigen Unterbringung schützen, sondern zugleich der Gefahr der Ausübung von Gewalt innerhalb der Einrichtung vorbeugen.232 Weil Kinder in Unterbringungen – fernab von ihren Eltern oder Vormündern – ganz besonders schutzbedürftig sind und somit ihre Rechte und Interessen verletzt werden können,233 bezieht sich die Pflicht zur Überprüfung nicht nur auf die Unterbringung selbst, sondern auch auf weitere Umstände. Jegliche Form von Zwang – sei es ein freiheitsentziehender oder medizinischer – wirkt sich in erheblicher Weise auf das Wohlbefinden des Kindes aus. Von daher ist bereits nicht ersichtlich, warum der deutsche Gesetzgeber freiheitsentziehende Maßnahmen in die Regelung des § 1631 b BGB integrierte, nicht dagegen die medizinische Zwangsbehandlung. Umso erfreulicher ist die Beobachtung, dass zumindest im Rahmen der UN-KRK auch andere für das Kind relevante Umstände in den Schutzbereich Eingang gefunden haben. Dies führt den deutschen Gesetzgeber allerdings zu der Aufgabe, § 1631 b BGB erneut zu modifizieren und um die Einbeziehung der medizinischen Zwangsbehandlung zu erweitern.234 Zwar fordert Art. 25 UN-KRK nicht zwingend eine gerichtliche Überprüfung,235 dies wäre jedoch aufgrund der bestehenden Regelung von § 1631 b BGB stringent. k) Resümee „Insbesondere der Kinderrechtskonvention, […], wird attestiert, dass sie auf eine Änderung des verfassungsrechtlichen Status quo dränge – sei es in Gestalt einer neuen Lesart, sprich: einer veränderten Interpretation des Grundgesetzes, sei es in Gestalt eines verfassungsgesetzgeberischen Neuarrangements, sprich: der Einführung expliziter Kindesrechte in die Verfassung.“236

Wer eine Änderung des status quo des Grundgesetzes fürchtet oder sich gar erhofft, der wird enttäuscht werden, denn die UN-Kinderrechtskonvention schafft lediglich eine Konkretisierung der nach derzeitigem Recht zu bewältigenden Auslegungsaufgabe und drängt die Stimmen in der Literatur, die Kindesgrundrechte in 231 232 233 234 235 236

Salgo, in: Staudinger BGB, § 1631 b Rn. 28 f. Kirchhof, Die UN-Konvention, S. 303 f. Kirchhof, Die UN-Konvention, S. 303. Ebenso Schmahl, in: Zwangsbehandlung bei Selbstgefährdung, S. 104. Kirchhof, Die UN-Konvention, S. 304. Jestaedt, in: Alles zum Wohl des Kindes, S. 16.

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5. Teil: Zulässigkeit und Grenzen von Zwangsmaßnahmen de lege ferenda

den Hintergrund zu verbannen bezwecken, zurück. Um Kinderrechte ernst zu nehmen, müssen Schutz und Anerkennung der Selbstständigkeit eines Minderjährigen gleichermaßen beachtet werden.237 Die Vorschriften der UN-KRK sind bereits deshalb begrüßenswert, weil ihnen ein solcher Spagat zwischen Schutz und Anerkennung der Autonomie gelingt. aa) Wertungen für die medizinische Zwangsbehandlung Im Ergebnis lassen sich aus der UN-KRK für die medizinische Behandlung folgende Grundsätze entnehmen: 1.

Eine medizinische Zwangsbehandlung ist – speziell im Hinblick auf Art. 3 UNKRK i. V. m. Art. 24 UN-KRK – im Grundsatz möglich.

2.

Eine solche Behandlung darf jedoch nicht dem Wohl des Kindes widersprechen. Die ärztliche Zwangsbehandlung muss sich zudem als verhältnismäßig erweisen. Eine Kindeswohlgefährdung kann insbesondere dann angenommen werden, wenn eine Behandlung gegen den Willen des minderjährigen Patienten medizinisch nicht indiziert ist und nachhaltige negative Folgen nach sich zieht.

3.

Das Kindeswohl ist gemäß Art. 3 UN-KRK stets individuell zu bestimmen, sodass pauschale Altersgrenzen im Medizinrecht keinen Eingang in das Gesetz finden dürfen. Dies gilt auch für die Bestimmung der Einwilligungsfähigkeit.

4.

Aus Art. 12 Abs. 1 UN-KRK geht hervor, dass Kinder in die Entscheidung für oder gegen medizinische Maßnahmen einzubeziehen sind. Nicht nur der Wille von einsichtsfähigen Jugendlichen muss berücksichtigt werden, sondern darüber hinaus muss auch die Meinung eines einsichtsunfähigen Kindes in die Entscheidung zumindest einfließen. Dies bedeutet allerdings nicht, dass aus Art. 12 Abs. 1 UN-KRK Alleinentscheidungsbefugnisse des Kindes resultieren. Kinder sollten allerdings – wenn dies möglich ist – ihre Zustimmung zu einer medizinischen Behandlung geben.238 Daraus wird zugleich deutlich, dass sich die behandelnden Ärzte vor einer Zwangsbehandlung um das Einverständnis der Kinder bemühen müssen. Es muss daher vor einer medizinischen Zwangsbehandlung versucht werden, das Kind von der Notwendigkeit der ärztlichen Maßnahme zu überzeugen.

5.

Minderjährige müssen ferner vor jeder Behandlung mit den notwendigen Informationen versorgt werden.239

6.

Zwar wird nicht ausdrücklich in der UN-KRK festgehalten, dass Kindern bei entsprechender Reife, Alleinentscheidungsrechte zukommen müssen. In den Allgemeinen Bemerkungen (General Comments) zu Art. 24 UN-KRK wird 237 238 239

Freeman, in: The Ideologies of Children’s Rights, S. 37. CRC, General Comment No. 14, CRC/C/GC/14, Rn. 77. Ebenda.

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jedoch betont, dass das Recht auf Gesundheit auch eine Reihe von Freiheiten – speziell das Recht auf Kontrolle der eigenen Gesundheit sowie zu eigenen verantwortungsbewussten Entscheidungen – beinhaltet.240 Diese Freiheiten werden mit der wachsenden Reife des Kindes von zunehmender Bedeutung.241 Sofern Kinder dazu in der Lage sind, müssen diese ihre Einwilligung – nach hinreichender Information – über die Behandlung daher selbst erteilen.242 Dies führt gleichzeitig zu der Annahme, dass eine Zwangsbehandlung ab dem Zeitpunkt, in dem das Kind hinreichend selbstständig ist, nicht mehr möglich ist. 7.

Jede Zwangsbehandlung muss sich zudem als verhältnismäßig erweisen.

8.

Eine Beschneidung von einsichtsfähigen Jungen gegen ihren Willen ist gemäß Art. 14 UN-KRK nicht zulässig. Selbiges gilt – wenngleich mit einer anderen Begründung – für einsichtsunfähige Jungen. Entspricht eine Zirkumzision nicht dem Willen des Kindes und ist diese nicht medizinisch indiziert, so wäre eine solche insbesondere in Anbetracht des Mitspracherechts eines Kindes unverhältnismäßig und demnach unzulässig.

9.

Zwangsbehandlungen, die im Rahmen einer Unterbringung durchgeführt werden, müssen zudem regelmäßig überprüft werden.

10. Eine Therapie mit Elektroschocks ist als Form der physischen Gewalt bzw. schlechter Behandlung nicht erlaubt. Diese Ergebnisse sind mit Art. 5 UN-KRK, der die Vorrangstellung der Erziehungsberechtigten bei der Erziehung der Kinder regelt, vereinbar, denn der Vorrang der elterlichen Erziehung endet, sofern das Kindeswohl dies erfordert.243 Da die Konventionsrechte, aus denen sich eine konkrete Eingrenzung der Rechtmäßigkeit von medizinischen Zwangsmaßnahmen herleiten lässt, gerade das Kindeswohl bestimmen, kann eine Kollision mit Art. 5 UN-KRK gar nicht erst entstehen. Bei den zuvor zusammengefassten Ergebnissen ist ferner zu berücksichtigen, dass die UN-KRK lediglich eine Mindestharmonisierung im Hinblick auf den Schutz festlegt.244 Für den deutschen Gesetzgeber ist es daher durchaus möglich, einen höheren Schutzstandard in das BGB zu integrieren. bb) Vereinbarkeit mit Grundgesetz Zwar präferiert das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich eine völkerrechtsfreundliche Auslegung der Grundrechte, die Grenzen einer solchen ergeben sich

240 241 242 243 244

CRC, General Comment No. 15, CRC/C/GC/15, Rn. 24. Ebenda. CRC, General Comment No. 14, CRC/C/GC/14, Rn. 77. Dorsch, Die Konvention der Vereinten Nationen über die Rechte des Kindes, S. 114. Brückner, Das medizinische Selbstbestimmungsrecht Minderjähriger, S. 101.

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5. Teil: Zulässigkeit und Grenzen von Zwangsmaßnahmen de lege ferenda

wiederum aus dem Grundgesetz.245 Die Möglichkeit einer konventionsfreundlichen Auslegung ende dort, wo diese nach den anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung und Verfassungsinterpretation nicht mehr vertretbar erscheint.246 Soweit jedoch im Rahmen geltender methodischer Standards Auslegungs- und Abwägungsspielräume eröffnet sind, besteht die Pflicht, der konventionsgemäßen Auslegung den Vorrang zu geben.247 Speziell in Bezug auf die UN-Kinderrechtskonvention hielt das Bundesverfassungsgericht fest, dass diese keine schematische Parallelisierung der Aussagen des Grundgesetzes mit denen der Kinderrechtskonvention verlange, sondern ein Aufnehmen ihrer Wertungen, soweit dies methodisch vertretbar und mit den Vorgaben des Grundgesetzes vereinbar sei.248 Da der Kindeswohlbegriff aufgrund seiner Unbestimmtheit eine Auslegung geradezu herausfordert, lassen sich keine Zweifel hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit einer solch völkerrechtsfreundlichen Auslegung des Terminus finden. Vielmehr vereinfacht die UN-KRK die Aufgabe der Auslegung aufgrund der Normierung spezifischer Kinderrechte erheblich. cc) Reformbedarf des deutschen Rechts Die derzeitige Rechtslage ist im Hinblick auf die medizinische Zwangsbehandlung von Kindern und Jugendlichen in Ermangelung konkreter Regelungen aus menschenrechtlicher Sicht als defizitär zu bewerten.249 Mangels Normierung der Prämissen, die an eine rechtmäßige Zwangsbehandlung im Kindschaftsrecht zu stellen sind, kann nicht hinreichend sichergestellt werden, dass die in der UN-KRK garantierten Rechte in der Praxis umgesetzt werden. Das derzeitige Normenkonstrukt im Kindschaftsrecht oder im Rahmen des Behandlungsvertrags enthält nicht die soeben aufgeführten umfangreichen Rechte eines Kindes, die sich aus der Auslegung der UN-KRK ergeben haben. Kritikwürdig ist hierbei insbesondere die fehlende Einbeziehung Minderjähriger. Zwar fordert § 1626 Abs. 2 S. 2 BGB Eltern auf, Fragen der elterlichen Sorge mit dem Kind zu besprechen und ein Einvernehmen anzustreben, die Norm fungiert jedoch als bloßes Leitbild.250 Ohnehin richtet sich § 1626 Abs. 2 S. 2 BGB nur an die Eltern und nicht an die behandelnden Ärzte. Damit trifft der deutsche Gesetzgeber gerade nicht alle ihm möglichen Maßnahmen. Auch die Regelungen zum Behandlungsvertrag werden 245 BVerfG, Beschl.v. 14.10.2004 – 2 BvR 1481/04 = BVerfGE 111, 307 (329); BVerfG, Urt. v. 4.5.2011 @ 2 BvR 2365/09, 740/10, 2333/08, 1152/10, 571/10 = BVerfGE 128, 326 (371); BVerfG, Urt. v. 12.6.2018 – 2 BvR 1738/12, 2 BvR 1395/132, BvR 1068/14, 2 BvR 646/ 15 = EuZW 2018, 637 (642). 246 BVerfG, Urt. v. 12.6.2018 – 2 BvR 1738/12, 2 BvR 1395/132, BvR 1068/14, 2 BvR 646/ 15 = EuZW 2018, 637 (642). 247 Ebenda. 248 BVerfG, Beschl. v. 5.7.2013 – 2 BvR 708/12 = BeckRS 2013, 53752 Rn. 21. 249 Ebenso Schmahl, in: Zwangsbehandlung bei Selbstgefährdung, S. 103. 250 Huber, in: Münchener Kommentar BGB, § 1626 Rn. 62.

A. Verfassungsrechtliche Anforderungen

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dem Recht auf Mitsprache nicht gerecht. Gemäß § 630 c Abs. 1BGB ist lediglich von einem Zusammenwirken von Patient und Behandelndem die Rede. Ferner gehen aus § 630 c Abs. 2 BGB bloße Informationspflichten hervor. Auch § 1631 b BGB stellt sich mangels Einbeziehung der medizinischen Zwangsbehandlung als völkerrechtswidrig dar. Anzumerken ist abschließend, dass viele Anforderungen an die Zulässigkeit medizinischer Behandlungen gegen den Willen eines Kindes den Voraussetzungen ähneln, die das Bundesverfassungsgericht in den Beschlüssen zur Zwangsbehandlung im Maßregelvollzug festsetzte. Auch aus diesem Grund wäre es für den deutschen Gesetzgeber lohnenswert gewesen, sich im Hinblick auf das Kindschaftsrecht näher mit den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts auseinanderzusetzen und die Frage nach einem allgemeingültigen Charakter näher zu beleuchten. 4. Die UN-Behindertenrechtskonvention Wertungen für den Umgang mit Zwangsbehandlungen von Kindern mit Behinderungen können zugleich der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) entnommen werden. Diese ist am 26. März 2009 in Deutschland in Kraft getreten.251 Der UN-BRK kommt der Rang eines einfachen Gesetzes zu.252 Zusätzlich kann auch die UN-BRK nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts als Auslegungshilfe für das Grundgesetz herangezogen werden.253 Die UN-BRK ist für die vorliegende Untersuchung insofern relevant, als sich deren Schutzwirkung ebenso auf Kinder mit Behinderungen bezieht.254 Kinder mit Behinderungen werden zwar bereits durch die UN-KRK geschützt; durch das Zusammenspiel beider Menschenrechtsverträge, insbesondere durch die Nutzung von Synergieeffekten,255 kann jedoch ein besonders hoher Schutzstandard erreicht werden. Im Hinblick auf das Konkurrenzverhältnis der beiden Menschenrechtsverträge muss jeweils berücksichtigt werden, welche Konvention für Kinder mit Behinderungen einen höheren Schutz erzielt.256 a) Rechtmäßigkeit von Zwangsbehandlungen Erwachsener Während die zuvor dargestellte Untersuchung der UN-KRK ergeben hat, dass eine Zwangsbehandlung von Minderjährigen unter bestimmten Voraussetzungen 251

Rossa, Kinderrechte, S. 179. Rossa, Kinderrechte, S. 199. 253 BVerfG, Beschl. v. 23.3.2011 @ 2 BvR 882/09 = BVerfGE 128, 282 (306) = NJW 2011, 2113 (2115). 254 Rossa, Kinderrechte, S. 185 f. 255 Schmahl, in: Zwangsbehandlung bei Selbstgefährdung, S. 102. 256 Rossa, Kinderrechte, S. 213 f. 252

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5. Teil: Zulässigkeit und Grenzen von Zwangsmaßnahmen de lege ferenda

zulässig ist, herrscht in der Literatur und Rechtsprechung Uneinigkeit bezüglich der grundsätzlichen Vereinbarkeit von Zwangsbehandlungen von Menschen mit Behinderungen mit den Regelungen der UN-BRK.257 Nach hier vertretener Auffassung ist die Zwangsbehandlung – wie zuvor aufgezeigt – unter engen Grenzen mit der UNBRK vereinbar.258 Selbst wenn man Zwangsbehandlungen von Erwachsenen als unrechtmäßig ansehen würde, so würde dies nicht dazu führen, dass ein derartiges Ergebnis gleichermaßen im Kindschaftsrecht gälte. Der Streit um die Zulässigkeit von Zwangsbehandlungen kreist – wie zuvor dargelegt – um eine Auslegung von Art. 12 UNBRK. Der Schutzbereich des Art. 12 Abs. 2 UN-BRK verlangt jedoch für Kinder mit Behinderungen nach einer Modifizierung, da Minderjährige in nahezu allen Vertragsstaaten aufgrund ihrer besonderen Schutzbedürftigkeit nicht vollumfänglich rechtlich handlungsfähig sind.259 Auch in den Allgemeinen Bemerkungen zu Art. 12 UN-BRK hob der Behindertenrechtsausschuss hervor, dass die Vertragsstaaten ihre Gesetze dahingehend überprüfen müssen, ob der Wille von Kindern mit Behinderungen im gleichen Maße wie der anderer Kinder respektiert wird.260 Es wird folglich nicht verlangt, dass Minderjährige mit Behinderungen vollumfänglich rechtlich handlungsfähig sein müssen, sondern dass sie im gleichen Umfang wie andere Kinder am Rechtsleben teilnehmen dürfen. Es besteht für Minderjährige somit bereits eine andere Ausgangslage als bei der Zwangsbehandlung von Erwachsenen, sodass die Ergebnisse in Bezug auf die Zulässigkeit von Zwangsbehandlungen Erwachsener nicht übertragbar sind. Für ein derartiges Ergebnis spricht ebenfalls Art. 7 UN-BRK. Art. 7 Abs. 2 UN-BRK hebt ferner hervor, dass bei allen Maßnahmen, die Kinder mit Behinderungen betreffen, das Wohl des Kindes den vorrangig zu berücksichtigenden Gesichtspunkt darstellt. 257 Für die grundsätzliche Vereinbarkeit von Zwang mit der UN-BRK: BVerfG, Beschl. v. 23.3.2011 @ 2 BvR 882/09 = BVerfGE 128, 282 (306 f.) = NJW 2011, 2113 (2115); BVerfG, Beschl. v. 26.7.2016 – 1 BvL 8/15 = BVerfGE 142, 313 (345) = NJW 2017, 53 (57); Aichele/v. Bernstorff, BtPrax 2010, 199 (203); v. Bernstorff, in: Heilung erzwingen, S. 32; Henking/Mittag, in: Zwangsbehandlung psychisch kranker Menschen, S. 34; Lachwitz, BtPrax 2008, 143 (148); Masuch/Gmati, NZS 2013, 521 (525 ff.); Marschner, in: Das Menschenrecht, S. 220 f.; ders., R&P 2011, 160 (161); Olzen/Uzunovik, Die Auswirkungen der UN-Behindertenrechtskonvention auf die Unterbringung und Zwangsbehandlung nach § 1906 BGB und §§ 10 ff. PsychKG NRW, Gutachten, 2009, S. 13, abrufbar unter: http://docplayer.org/3 0689964-Die-auswirkungen-der-un-behindertenrechtskonvention-auf-die-unterbringung-undzwangsbehandlung-nach-1906-bgb-und-10-ff.html (Letzter Aufruf: 1.7.2020); Schmahl, in: Zwangsbehandlung bei Selbstgefährdung, S. 52; dies., BtPrax 2016, 51 (54). A. A. Kaleck/Hilbrans/Scharmer, Ratifikation der UN Disability Convention vom 30.3.2007 und Auswirkung auf die Gesetze für so genannte psychisch Kranke am Beispiel der Zwangsunterbringung und Zwangsbehandlung nach dem PsychKG Berlin, Gutachterliche Stellungnahme, S. 33, abrufbar unter https://www.die-bpe.de/stellungnahme/stellungnahme.pdf (Letzter Aufruf: 1.7.2020). 258 S. hierzu näher 3. Teil B. II. 2. a). 259 Rothfritz, Die Konvention der Vereinten Nationen, S. 370. 260 CRPD, General Comment No. 1, CRPD/C/GC/1, Rn. 36.

A. Verfassungsrechtliche Anforderungen

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Das Kindeswohlprinzip findet sich bereits in der UN-KRK wieder. Zur Erinnerung: Im Rahmen der Ausführungen zur UN-KRK ist festgestellt worden, dass der Begriff des Kindeswohls im Wesentlichen durch die weiteren Rechte der UN-KRK konkretisiert werden kann.261 Die Untersuchung der UN-KRK ergab, dass eine medizinische Zwangsbehandlung in Grenzen möglich sein muss. Kinder mit Behinderungen dürfen sowohl gemäß Art. 2 Abs. 1 UN-KRK als auch gemäß Art. 3 lit. b UNBRK nicht diskriminiert und demnach nicht schlechter behandelt werden als Kinder ohne Behinderungen, sodass ihnen im gleichen Maße Schutz durch Zwangsbehandlungen zukommen muss. Dies ist darauf zurückzuführen, dass Kinder im Gegensatz zu Erwachsenen ganz andere Entwicklungskapazitäten besitzen, die es besonders zu schützen gilt.262 Wie Rothärmel zutreffend betont, sei ein Kind, das das Leben noch vor sich habe, in sehr viel stärkerem Maße auf einen funktionstüchtigen Körper angewiesen.263 Für die prinzipielle Zulässigkeit von Zwangsbehandlungen im Kindschaftsrecht sprechen ebenso die „Concluding Observations“, in denen der Behindertenrechtsausschuss wiederholt bestimmte Methoden der Zwangsbehandlung kritisiert hat, nicht jedoch per se an der Zulässigkeit der Anwendung von Zwang gezweifelt hat. In den „Concluding Observations“ zum Staatenbericht von Schweden hat sich der Behindertenrechtsausschuss beispielsweise besorgt über die Methoden der Zwangsbehandlung von behinderten Kindern in Einrichtungen der psychiatrischen Versorgung gezeigt.264 Hierbei ist im Wesentlichen die Verwendung von Gurten sowie Isolationsmaßnahmen kritisch gewürdigt worden.265 Eine unter engen Voraussetzungen zulässige Zwangsbehandlung von Kindern und Jugendlichen steht daher im Einklang mit der UN-BRK, sofern bei Kindern mit Behinderungen nicht andere Maßstäbe angesetzt werden. In den Ausführungen zur UN-KRK wurde bereits festgehalten, dass hinsichtlich der Einbeziehung des Kindeswillens die individuellen Fähigkeiten und die Reife des minderjährigen Patienten entscheidend sind. Eine Diskriminierung kann folglich nicht angenommen werden. b) Anforderungen an die Rechtmäßigkeit von Zwangsbehandlungen Nachfolgend soll die Frage untersucht werden, welche konkreten Grenzen die UN-BRK der Zulässigkeit von medizinischen Maßnahmen gegen den Willen eines Kindes mit Behinderungen setzt.

261 Cremer, Anwaltsblatt 2014, 105 (109); Wyttenbach, Grund- und Menschenrechtskonflikte, S. 136. 262 CRPD, General Comment No. 1, CRPD/C/GC/1, Rn. 36. 263 Rothärmel, Einwilligung, Veto, Mitbestimmung, S. 185. 264 CRPD, Concluding Observations Sweden, CRPD/C/SWE/CO/1, Rn. 39. 265 Ebenda.

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5. Teil: Zulässigkeit und Grenzen von Zwangsmaßnahmen de lege ferenda

aa) Meinungsäußerung Auch Kinder haben gemäß Art. 21 UN-BRK das Recht auf Meinungs- und Informationsfreiheit. Art. 7 Abs. 3 UN-BRK hält darüber hinaus fest, dass Kinder mit Behinderungen das Recht haben, ihre Meinung in allen sie berührenden Angelegenheiten gleichberechtigt mit anderen Kindern frei zu äußern, wobei ihre Ansicht angemessen und entsprechend des Alters und der jeweiligen Reife berücksichtigt werden muss, und behinderungsgerechte sowie altersgemäße Hilfe zu erhalten, damit sie dieses Recht verwirklichen können. Die Regelung ähnelt Art. 3 UN-KRK und Art. 12 UN-KRK. Allerdings impliziert Art. 7 Abs. 3 UN-BRK eine stärkere Schutzwirkung, weil die Vorschrift zusätzlich zu dem Mitspracherecht auf eine behindertengerechte und altersgemäße Hilfe Bezug nimmt.266 Damit ist auch in der UN-BRK festgehalten worden, dass Kindern mit Behinderungen Mitspracherechte zukommen. Dies beinhaltet allerdings nicht den Auftrag an die Staaten, stets dem Kindeswillen zu folgen. Im Rahmen der Allgemeinen Bemerkungen zu Art. 12 UNBRK (General Comment) werden stattdessen ausdrücklich die Entwicklungskapazitäten von Kindern in den Vordergrund gestellt.267 Der Ausschuss konstatiert, dass das Kindeswohl das vorrangige Leitmotiv darstellen muss und dass die Ansichten des Kindes angemessen gewichtet werden müssen.268 Demnach dürfen Kinder mit Behinderungen nicht aus den Entscheidungsprozessen für die sie betreffenden Angelegenheiten ausgegliedert werden. Es entspricht vielmehr dem Wohl eines Kindes, bei allen Maßnahmen informiert und in mögliche Entscheidungsprozesse eingegliedert zu werden.269 Ein derartiges Ergebnis konnte bereits im Rahmen der Darlegungen zu der UNKRK festgehalten werden, da aus dem Diskriminierungsverbot des Art. 2 UN-KRK hervorgeht, dass alle Normen der UN-KRK zugunsten von Kindern mit Behinderungen Anwendung finden müssen.270 bb) Handlungsfähigkeit Gemäß Art. 12 Abs. 2 UN-BRK erkennen die Vertragsstaaten an, dass Menschen mit Behinderungen in allen Lebensbereichen gleichberechtigt mit anderen Rechtsund Handlungsfähigkeit genießen. Die Handlungsfähigkeit muss sich auf alle Verhaltensweisen beziehen, denen die Rechtsordnung eine rechtliche Bedeutung zuschreibt, sodass die Einwilligung vom Schutzbereich des Art. 12 Abs. 2 UN-BRK erfasst ist.271 In diesen Schutzbereich greift zugleich aber jede Zwangsbehandlung 266 267 268 269 270 271

Rossa, Kinderrechte, S. 186. CRPD, General Comment No. 1, CRPD/C/GC/1, Rn. 36. Ebenda. CRPD, General Comment No. 6, CRPD/C/GC/6, Rn. 38. CRC, General Comment No. 9, CRC/C/GC/9, Rn. 5. Schmahl, in: Zwangsbehandlung bei Selbstgefährdung, S. 45.

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ein.272 Es wurde bereits festgehalten, dass eine Auslegung des Schutzbereiches des Art. 12 Abs. 2 UN-BRK für Kinder nach einer Modifizierung verlangt, da Minderjährige in nahezu allen Vertragsstaaten aufgrund ihrer besonderen Schutzbedürftigkeit nicht vollumfänglich rechtlich handlungsfähig sind.273 Auch in den Allgemeinen Bemerkungen zu Art. 12 UN-BRK hob der Behindertenrechtsausschuss hervor, dass die Vertragsstaaten ihre Gesetze dahingehend überprüfen müssten, ob der Wille von Kindern mit Behinderungen im gleichen Maße wie bei anderen Kindern respektiert wird.274 Es wird demnach nicht verlangt, dass Minderjährige mit Behinderungen vollumfänglich rechtlich handlungsfähig sind, sondern dass sie im gleichen Umfang wie Kinder ohne Behinderung am Rechtsleben teilnehmen dürfen. Eine Auslegung der UN-KRK hat ergeben, dass eine Zwangsbehandlung von einwilligungsunfähigen Kindern prinzipiell möglich ist. Die Einwilligungsfähigkeit bestimmt sich hierbei nach dem allgemeinen Kriterium der Entwicklung des Kindes. Minderjährige mit und ohne Behinderungen werden mithin gleichbehandelt, sodass ein Eingriff in den Schutzbereich des Art. 12 Abs. 2 UN-BRK nicht vorliegt. Gleichwohl ist jedoch kaum zu bezweifeln, dass Kinder mit psychischen Erkrankungen in deutlich höherem Maße der Gefahr ausgesetzt sind, dass ihnen typisierend die Einwilligungsfähigkeit abgesprochen wird. Ein Verstoß gegen Art. 12 UN-BRK liegt hingegen nicht vor, sodass nicht die besonderen Rechtfertigungsanforderungen aus Art. 12 Abs. 3 UN-BRK zu berücksichtigen sind. cc) Folter und Gewalt Eine Zwangsbehandlung kann jedoch unter bestimmten Umständen einen Verstoß von Art. 15 UN-BRK und Art. 16 UN-BRK nach sich ziehen. Dies wurde zumindest in den Allgemeinen Bemerkungen (General Comment) festgehalten.275 Gemäß Art. 16 Abs. 1 UN-BRK verpflichten sich die Vertragsstaaten, Menschen mit Behinderungen vor jeder Form von Ausbeutung, Gewalt und Missbrauch zu schützen. Nach Art. 15 Abs. 1 UN-BRK darf niemand der Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe ausgesetzt werden. Unter Folter ist jede Handlung zu verstehen, durch die einer Person absichtlich starke Schmerzen oder Leiden zugefügt wird, um diese zu bestrafen, einzuschüchtern oder 272

Kaleck/Hilbrans/Scharmer, Ratifikation der UN Disability Convention vom 30.3.2007 und Auswirkung auf die Gesetze für so genannte psychisch Kranke am Beispiel der Zwangsunterbringung und Zwangsbehandlung nach dem PsychKG Berlin, Gutachterliche Stellungnahme, S. 30, abrufbar unter https://www.die-bpe.de/stellungnahme/stellungnahme.pdf (Letzter Aufruf: 1.7.2020). 273 Rothfritz, Die Konvention der Vereinten Nationen, S. 370. S. hierzu 5. Teil A. III. 4. b). 274 CRPD, General Comment No. 1, CRPD/C/GC/1, Rn. 36. 275 CRPD, General Comment No. 1, CRPD/C/GC/1, Rn. 42.

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5. Teil: Zulässigkeit und Grenzen von Zwangsmaßnahmen de lege ferenda

zu etwas zu zwingen oder um Informationen oder ein Geständnis einzuholen.276 Erfasst sind ferner Handlungen, die auf einer Diskriminierung basieren und erhebliche Schmerzen oder Leiden verursachen.277 Eine Behandlung gegen den Willen eines Kindes kann nicht pauschal – unabhängig von der Zweckrichtung – unter das Verbot von Art. 15 oder Art. 16 UN-BRK fallen, sofern die ärztliche Maßnahme dem Kindeswohl dient. Stattdessen muss ein angemessener Ausgleich mit anderen Rechten – speziell dem Recht auf Gesundheit – erzielt werden. Dies wiederum führt zu der Annahme, dass Zwangsbehandlungen im Grundsatz zulässig sein können. Lediglich spezielle Fallkonstellationen können unter das Verbot von Art. 15 und Art. 16 UN-BRK fallen. Nach dem eindeutigen Wortlaut des Art. 15 Abs. 2 S. 2 UN-BRK sind beispielsweise medizinische Forschungen ohne die Zustimmung des Patienten verboten.278 Unter das Verbot von Folter fällt darüber hinaus nach Ansicht des UN-Ausschusses die Elektroschocktherapie gegen den Willen eines Patienten.279 Auch der UN-Berichterstatter Juan E. Mendéz forderte die Staaten auf, Elektroschocktherapien zu unterlassen sowie bewusstseinsverändernde Medikamente wie Neuroleptika ohne Einwilligung des Patienten nicht zu verabreichen.280 c) Resümee Auch nach der UN-BRK ist eine medizinische Zwangsbehandlung von Kindern und Jugendlichen grundsätzlich erlaubt. Die Ergebnisse, die bereits im Rahmen der Auslegung der UN-KRK erzielt worden sind, können insofern modifiziert werden, als hinsichtlich des Mitspracherechts eine behindertengerechte und altersgemäße Hilfe angeboten werden muss, um der eigenen Meinung Ausdruck verleihen zu können. Zudem lässt sich auch aus Art. 15 UN-BRK das Verbot der Elektroschocktherapie entnehmen. Zusammenfassend muss erneut konstatiert werden, dass die derzeitige Rechtslage im Hinblick auf die medizinische Zwangsbehandlung von Kindern und Jugendlichen mangels konkreter Regelungen aus menschenrechtlicher Sicht kritisch zu bewerten ist.281 Aufgrund des Fehlens einer Normierung der Prämissen, die an eine rechtmäßige Zwangsbehandlung im Kindschaftsrecht zu stellen sind, kann nicht hinreichend sichergestellt werden, dass die in der UN-BRK garantierten Rechte in der

276

Marchesi, in: Della Fina/Cera/Palmisano, The United Nations Conventions, S. 310. Marchesi, in: Della Fina/Cera/Palmisano, The United Nations Conventions, S. 310 f. 278 Marchesi, in: Della Fina/Cera/Palmisano, The United Nations Conventions, S. 315. 279 CRPD, Concluding observations on the initial report of Sweden, CRPD/C/SWE/CO/1, Rn. 37; Marchesi, in: Della Fina/Cera/Palmisano, The United Nations Conventions, S. 315. 280 Méndez, Report of the Special Rapporteur on torture and other cruel, inhuman or degrading treatment or punishment, A/HRC/22/53, Rn. 89 b. 281 Ebenso Schmahl, in: Zwangsbehandlung bei Selbstgefährdung, S. 103. 277

B. Herleitung eines Reformvorschlags

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Praxis umgesetzt werden. Die Schaffung einer Regelung – beispielsweise in Anlehnung an § 1906 a BGB – ist daher angezeigt.282

IV. Ergebnis „Das Grundgesetz gibt nicht vor, durch welche konkreten einfachgesetzlichen Rechte und Pflichten des Arztes das Persönlichkeitsrecht des Patienten zu schützen ist.“283

Es mag freilich richtig sein, dass das Grundgesetz keine konkreten Regelungen vorgibt; dennoch kann es im Sinne einer Auslegung – insbesondere auch durch die Hilfe völkerrechtlicher Vorgaben – das Verhältnis zwischen Arzt, gesetzlichem Vertreter und minderjährigen Patienten präzisieren. Im Ergebnis können konkrete Voraussetzungen für die Rechtmäßigkeit von Zwangsbehandlungen Minderjähriger anhand von vier wesentlichen Grundsätzen, die sich aus dem Grundgesetz herleiten lassen und somit das Spannungsfeld von Kindes- und Elterngrundrechte entzerren, bestimmt werden. Diese wurden bereits im vorherigen Kapitel dargestellt.284 Hierbei ist nicht nur die Weite des Schutzbereichs des Elternrechts von entscheidender Bedeutung, sondern zusätzlich auch die Schutzpflichtenlehre sowie die Selbstbestimmungsfähigkeit des Kindes. Darüber hinaus führt eine Auslegung der UN-KRK, UN-BRK und der EMRK zu einer wertvollen Konkretisierung dieser Grundsätze. Gleichwohl machen die bisherigen Arbeitsergebnisse eine Abwägung nicht entbehrlich. Erst durch eine tatsächliche Abwägung, die die bisherigen Untersuchungsgrundsätze berücksichtigt, können konkrete Maßgaben für die Zulässigkeit von medizinischen Maßnahmen gegen den Willen von Kindern und Jugendlichen hergeleitet werden. Nachdem die abstrakten Vorgaben des Grundgesetzes und des Völkerrechts erläutert worden sind, bleibt zu erörtern, wie ein Reformvorschlag konkret gestaltet werden könnte.

B. Herleitung eines Reformvorschlags I. Zwangsmaßnahmen an Einwilligungsfähigen 1. Grundsatz Im Rahmen des vorherigen Kapitels ist das Verhältnis von Kindesgrundrechten und Elternrecht erörtert worden. Hierbei wurde festgehalten, dass ein wesentlicher Schlüssel zur Entzerrung grundrechtlicher Kollisionen die Selbstbestimmungsfä282 283 284

Schmahl, in: Zwangsbehandlung bei Selbstgefährdung, S. 104. Rothärmel/Dippold/Wiethoff/Wolfslast/Fegert, Patientenaufklärung, S. 32. S. hierzu 5. Teil A. I. 1. a) cc).

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5. Teil: Zulässigkeit und Grenzen von Zwangsmaßnahmen de lege ferenda

higkeit des Kindes darstellt. Das Erziehungsrecht schwächt sich umso mehr ab, je selbstständiger das Kind ist.285 Sofern Minderjährige in Teilbereichen den Zustand der Selbstbestimmungsfähigkeit erreicht haben, wird das Elternrecht verdrängt. Für den Bereich der medizinischen Zwangsbehandlung bedeutet dies Folgendes: Ist ein minderjähriger Patient selbstbestimmungsfähig, mithin in der Lage, Entscheidungen in Bezug auf seine Gesundheit eigenständig zu treffen, so darf keine ärztliche Maßnahme gegen seinen Willen vollzogen werden.286 Vielmehr schwächt sich das Elternrecht ab dem Zeitpunkt der Selbstbestimmungsfähigkeit ab, sodass minderjährige Patienten eigenständig in eine Behandlung einwilligen können. Das Recht auf medizinische Selbstbestimmung gemäß Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG setzt sich in diesem Fall gegen das Elternrecht durch. Für ein solches Ergebnis streitet zudem die aus Art. 3 Abs. 1 GG resultierende Wertung: Die rechtliche Ungleichbehandlung von Kindern und Erwachsenen ist nur gerechtfertigt, sofern sich ein sachlicher Grund finden lässt. Als sachlicher Grund könnte die besondere Schutzbedürftigkeit von Kindern dienen, die sich auch in Art. 6 Abs. 2 GG widerspiegelt. Sofern Minderjährige allerdings nicht mehr schutzbedürftig sind, ist es im Hinblick auf Art. 3 Abs. 1 GG nicht zu rechtfertigen, deren Handlungsmöglichkeiten einzuschränken. Auch der Schutz des Rechtsverkehrs kann eine Ungleichbehandlung nicht legitimieren, da das Arzt-PatientenVerhältnis keine Außenwirkung entfaltet.287 Verkehrsinteressen haben bei Fragen rund um die Einwilligung folglich im Gegensatz zu rechtsgeschäftlichen Willenserklärungen ein deutlich geringeres Gewicht.288 Der Gleichheitssatz wird demzufolge nur gewahrt, wenn Minderjährige in medizinische Behandlungen ab ihrer Einsichtsfähigkeit einwilligen können und demnach nicht zwangsbehandelt werden können. 285

Dieser Grundsatz ist in der Literatur nahezu anerkannt: Antoni, in: Hömig/Wolff, GG, Art. 6 Rn. 17; Baston-Vogt, Der sachliche Schutzbereich, S. 232; Böckenförde, in: Essener Gespräche, S. 65, 67; Brosius-Gersdorf, in: Dreier, GG, Art. 6 Rn. 162; Belling, FuR 1990, 68 (72); v. Coelln, in: Sachs, GG, Art. 6 Rn. 70; Diederichsen, in: FS Hirsch, S. 359; Herdegen, FamRZ 1993, 374 (376); Hölbling, Wie viel Staat vertragen Eltern, S.125; Jarass, in: Jarass/ Pieroth, GG, Art. 6 Rn. 51; Knöpfel, FamRZ 1985, 1211 (1213); Kuhn, Grundrechte und Minderjährigkeit, S. 71; Langenfeld/Wiesner, in: Verantwortlich handeln, S. 51; Moritz, Die (zivil-)rechtliche Stellung der Minderjährigen, S.152; Rouka, Das Selbstbestimmungsrecht des Minderjährigen, S. 120; Seizinger, Der Konflikt, S. 76; Ulsenheimer, in: Therapieverweigerung bei Kindern und Jugendlichen, S. 76; Wiesner, ZKJ 2008, 225 (226); Zorn, Das Recht der elterlichen Sorge, Rn. 304. 286 Ebenso Belling/Eberl/Michlik, Das Selbsbestimmungsrecht Minderjähriger bei medizinischen Eingriffen, S. 135; Hoffmann, NZFam 2015, 985 (986); Ulsenheimer, in: Therapieverweigerung bei Kindern und Jugendlichen, S. 86; Reiserer, Das elterliche Erziehungsrecht, S. 99; Reuter, Der Abschluss des Arztvertrages, S. 260; Streit, Patientenverfügungen Minderjähriger, S. 73; Wagner, in: Münchener Kommentar BGB, § 630 d Rn. 41; Zilkens, Zur Rechtfertigung lebensnotwendiger Operationen, S. 157. 287 Brückner, Das medizinische Selbstbestimmungsrecht Minderjähriger, S. 187. 288 Amelung, Vetorechte, S. 11.

B. Herleitung eines Reformvorschlags

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Die Unzulässigkeit von medizinischen Behandlungen gegen den Willen eines einwilligungsunfähigen Kindes entspricht ferner den Festsetzungen der UN-KRK, da das Recht auf Gesundheit i. S. v. Art. 24 UN-KRK eine Reihe von Freiheiten – speziell das Recht auf Kontrolle der eigenen Gesundheit sowie von eigenen verantwortungsbewussten Entscheidungen – beinhaltet.289 Es liegt nahe, dass ein solches Ergebnis in der Literatur auch Unbehagen hervorruft: Lorenz vertritt beispielsweise die Ansicht, dass Eltern mit Blick auf die Irreversibilität einer Entscheidung in der Lage sein müssten, einen Eingriff gegen den Willen des einsichtsfähigen Minderjährigen zu seinem Wohl zu veranlassen.290 Auch Nebe hält eine Zwangsbehandlung in äußersten Notfällen für zulässig.291 Lenckner zweifelt die Entscheidungszuständigkeit Minderjähriger an, wenn diese „aus völlig sachfremden Erwägungen eine offensichtliche Fehlentscheidung“ treffen.292 Derartige Einschränkungen höhlen jedoch das Selbstbestimmungsrecht Minderjähriger aus.293 Man mag zwar dazu geneigt sein, die Autonomie von Minderjährigen anzuzweifeln, weil diese irrationale Entscheidungen treffen könnten,294 ein derartiges Denken ist allerdings weder mit den Grundrechten noch den in der UNKRK garantierten Rechten vereinbar. Autonomie von Jugendlichen kann nur erzielt werden, wenn eine Akzeptanz dahingehend besteht, dass diese Fehler und Risiken eingehen dürfen. Diepold konstatiert somit zutreffend, dass man manchmal um der Würde des Kindes willen auf das Machbare verzichten müsse.295 Je wichtiger eine Entscheidung jedoch für die zukünftige Lebensgestaltung ist, desto strenger sollte das Vorliegen der Einwilligungsfähigkeit kontrolliert werden. De lege ferenda ist daher die Einführung eines neuen Paragraphen zu befürworten – beispielsweise § 1631 e BGB. Aus diesem soll zunächst hervorgehen, dass Minderjährige, sofern sie einwilligungsfähig sind, selbst in eine medizinische Behandlung einwilligen können. Aus diesem Grundsatz der Alleinentscheidung ergibt sich e contrario die Unzulässigkeit von Zwangsbehandlungen von einwilligungsfähigen Minderjährigen, ohne dass dies explizit festgehalten werden müsste. Eine solche Normierung stünde im Einklang mit den Regelungen zum Behandlungsvertrag nach §§ 630 a ff. BGB, würde aber gleichzeitig vorhandene Rechtsunsicherheiten in Bezug auf den Umgang von Behandlungen Minderjähriger endgültig aus dem Weg schaffen. Die Schutzpflichten des Staates zwingen den Gesetzgeber, eine konkrete Regelung de lege ferenda zu schaffen, da Minderjährige selbst mit stetig wachsender Reife 289 290 291 292 293 294 295

CRC, General Comment No. 15, CRC/C/GC/15, Rn. 24. Lorenz, NZFam 2017, 782 (787). Nebe, in: FS Höland, S. 708. Lenckner, ZStW 72 (1960), 446 (463). Zilkens, Zur Rechtfertigung lebensnotwendiger Operationen, S. 153. Freeman, in: The Ideologies of Children’s Rights, S. 38. Diepold, in: Therapieverweigerung bei Kindern und Jugendlichen, S. 45.

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5. Teil: Zulässigkeit und Grenzen von Zwangsmaßnahmen de lege ferenda

in dem Sinne auf den Schutz des Staates angewiesen sind, als ihre Rechte stetig zu stärken sind, damit sie ihre Selbstständigkeit ausleben können. 2. Bestimmen der Einwilligungsfähigkeit Das zuvor erarbeitete Ergebnis, nach welchem einsichtsfähige Minderjährige in eine ärztliche Behandlung selbst einwilligen dürfen und demnach nicht zwangsbehandelt werden können, erscheint insbesondere im Hinblick auf das Selbstbestimmungsrecht eines Kindes sinnvoll. In der Literatur wird der Zeitpunkt der Selbstbestimmungsfähigkeit, ab dem Kinder und Jugendliche in eine ärztliche Maßnahme selbst einwilligen können, treffender Weise als Einwilligungsfähigkeit bezeichnet. Es bleibt allerdings die Frage offen, wie die Einwilligungsfähigkeit zu bestimmen ist. Der Gesetzgeber definiert im Rahmen von § 630 d Abs. 1 BGB zwar nicht, wann ein Patient als einwilligungsfähig anzusehen ist, aus den Gesetzgebungsunterlagen geht jedoch hervor, dass hierbei eine Einsichts- und Urteilskraft vorauszusetzen ist.296 Das Einsichtsvermögen und die Urteilskraft eines Patienten müssen demzufolge ausreichen, um die vorherige Aufklärung zu verstehen, den Nutzen einer Behandlung gegen deren Risiken abzuwägen, um schließlich eine eigenverantwortliche Entscheidung zu treffen.297 Bietet diese Definition Ärzten genügend Anhaltspunkte, um die Einwilligungsfähigkeit rechtssicher zu bestimmen? a) Individuelle Bestimmung Dem Gesetzgeber ist zumindest dahingehend zuzustimmen, dass entgegen einigen Stimmen in der Literatur298 die Einwilligungsfähigkeit individuell zu bestimmen ist.299 Zwar würde die Einführung von pauschalen Altersgrenzen aufgrund verlässlicher Kriterien Rechtssicherheit schaffen,300 diese Vorgehensweise wäre allerdings 296

BT-Drs. 17/10488, S. 23. Ebenda. 298 Böhmker, Die Entscheidungskompetenz des minderjährigen Patienten, S. 186; Bosch, FamRZ 1973, 489 (507); Coester-Waltjen, MedR 2012, 553 (558); Rouka, Das Selbstbestimmungsrecht des Minderjährigen, S. 147. 299 Im Ergebnis zustimmend: Stellungnahme des Deutschen Ethikrates, BT-Drs. 19/6887, S. 61; Belling, FuR 1990, 68 (75); Belling/Eberl/Michlik, Das Selbsbestimmungsrecht Minderjähriger bei medizinischen Eingriffen, S. 128; Biermann, in: Ulsenheimer, Arztstrafrecht in der Praxis, Rn. 414; Diederichsen, in: FS Hirsch, S. 362; Ellenberger, in: Palandt, Überbl v § 104 Rn. 8; Hesse, RDG 2011, 258 (259); Kaeding, MedR 2016, 935 (936); Kern, FamRZ 1981, 738 (739); Kreße, MedR 2015, 91 (92); Lenckner, ZStW 72 (1960), 446 (458); PainoStaber, Gesetzliche Stellvertretung naher Angehöriger, S. 140; Preisner, in: Soergel, BGB, § 1626 Rn. 66; Schiemann, in: Staudinger, Eckpfeiler des Zivilrechts, C 13; Schwedler, Die ärztliche Therapiebegrenzung, S. 36; Spickhoff, in: Soergel, BGB, § 823 Rn. 107; ders., FamRZ 2018, 412 (419); Ulsenheimer, in: Therapieverweigerung bei Kindern und Jugendlichen, S. 76; Vollmann, in: Das Kind als Patient, S. 49. 300 Damm, MedR 2015, 775 (780). 297

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bereits nicht mit Art. 3 UN-KRK i. V. m. Art. 12 UN-KRK vereinbar. Ferner führt die individuelle Bestimmung der Einsichtsfähigkeit zu keiner Überforderung der Ärzte, wie es in der Literatur zum Teil befürchtet wird,301 da ein Mediziner ebenfalls bei Erwachsenen mit der Aufgabe des Feststellens der Einwilligungsfähigkeit vertraut ist.302 Das Konzept einer Regelvermutung, nach der die Einwilligungsfähigkeit ab einem bestimmten Alter vermutet wird, die gleichwohl aber auch Ausnahmen zulässt, ist ebenfalls abzulehnen.303 Eine solche Vorgehensweise kommt nur scheinbar dem Bedürfnis nach rechtlicher Transparenz nach, da ein solches Modell eine individuelle Einzelprüfung nicht entbehrlich macht.304 Die Etablierung einer Regelvermutung könnte Ärzte vielmehr dazu verleiten, auf die im Gesetz manifestierte Regelvermutung zu vertrauen und auf die individuelle Überprüfung zu verzichten. Einerseits begrenzt diese die Autonomie von Jugendlichen, die bereits vor einer vom Gesetzgeber zu bestimmenden Altersgrenze einwilligungsfähig sind. Andererseits erhalten Minderjährige, die trotz des Erreichens eines bestimmten Alters noch nicht einwilligungsfähig sind, nicht den gebotenen Schutz, da ihnen bei blindem Vertrauen auf die Einwilligungsfähigkeit eine Entscheidung zugemutet wird, die sie nach ihrer individuellen Reife noch gar nicht treffen können. Es stellt sich daher die Frage, warum diese Risiken eingegangen werden sollten? Zu berücksichtigen ist, dass ein Mediziner ohnehin nicht in unerträglichem Maße Rechtsunsicherheiten und gleichermaßen Haftungsrisiken ausgesetzt ist, weil er bei der falschen Beurteilung der Einsichtsfähigkeit aufgrund eines Erlaubnistatbestandsirrtums strafrechtlich entschuldigt sein könnte.305 Auch im Zivilrecht kann es wegen eines solchen Irrtums am Verschulden fehlen.306 Fixe bzw. vermutete Altersgrenzen werden zudem nicht der Besonderheit des Medizinrechts gerecht: Es ist eine ganze Bandbreite an möglichen Eingriffen zu verzeichnen, die unterschiedlich kompliziert und intensiv sind und demnach ambivalente Fähigkeiten voraussetzen.307 Im Ergebnis führt nur die individuelle Bestimmung der Einwilligungsfähigkeit zu einem Autonomiegewinn; gleichzeitig kann jedoch kaum geleugnet werden, dass dadurch in gleicher Weise Beurteilungsprobleme hervorgerufen werden.308

301

Bosch, FamRZ 1973, 489 (506); Rouka, Das Selbstbestimmungsrecht des Minderjährigen, S. 23. 302 Brückner, Das medizinische Selbstbestimmungsrecht Minderjähriger, S. 76. 303 Ein solches Konzept befürworten insbesondere: Brückner, Das medizinische Selbstbestimmungsrecht Minderjähriger, S. 79 ff.; Gleixner-Eberle, Die Einwilligung in die medizinische Behandlung, S. 292; Knauf, Mutmaßliche Einwilligung und Stellvertretung bei ärztlichen Eingriffen, S. 40. 304 Coester-Waltjen, MedR 2012, 553 (558). 305 Odenwald, Die Einwilligungsfähigkeit im Strafrecht, S. 69. 306 Wagner, in: Münchener Kommentar BGB, § 823 Rn. 73. 307 Belling/Eberl/Michlik, Das Selbsbestimmungsrecht Minderjähriger bei medizinischen Eingriffen, S. 130. 308 Damm, Bundesgesundheitsblatt 2016, 1075 (1079).

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b) Weitergehende Kriterien Um die in den Gesetzgebungsmaterialien dargelegten Ausführungen zur Einwilligungsfähigkeit näher zu präzisieren, eignen sich insbesondere die von Amelung entwickelten Grundsätze.309 Im Wesentlichen muss ein Einwilligungsfähiger nach zutreffender Ansicht des Autors in der Lage sein, eine Nutzen-Kosten-Analyse vorzunehmen.310 Hierzu zählt die Kenntnis der relevanten Fakten, die Anstellung von Prognosen sowie die Kenntnis und Bewertung von Alternativen.311 Ferner setzt eine Nutzen-Kosten-Analyse ein bestehendes Wertesystem voraus. Einen Nutzen zieht eine Entscheidung nur nach sich, wenn sie dem subjektiven Wertesystem des Einwilligenden entspricht.312 Eine bestehende Einwilligungsfähigkeit ist zudem nur zu bejahen, wenn es dem Einwilligenden möglich ist, nach der gewonnenen Einsicht zu handeln.313 Bei Minderjährigen kann sowohl eine Krankheit als auch die fehlende Reife aufgrund eines geringen Alters eine fehlende Einwilligungsfähigkeit implizieren. Allerdings darf die Einwilligungsfähigkeit bei Kindern und Jugendlichen nicht pauschal abgelehnt werden. Kritisch ist daher die Ansicht zu würdigen, die davon ausgeht, dass bei einem Minderjährigen regelmäßig nicht anzunehmen sei, dass er die erforderliche Reife besitze, die Tragweite eines ärztlichen Eingriffs zu überblicken.314 Ebenso unzutreffend ist die Annahme, dass Minderjährige unter 14 Jahren ausnahmslos einwilligungsunfähig seien.315 Empirische Untersuchungen zeigen vielmehr, dass Kinder durchaus (schon ca. ab dem 12. Lebensjahr) dazu in der Lage sind, ein Verständnis für komplexe Funktionszusammenhänge aufzubringen und somit Krankheitszustände zu erkennen.316 Je schwerwiegender der Eingriff jedoch ist, desto strenger und detaillierter sollten die Voraussetzungen der Einwilligungsfähigkeit überprüft werden.317 Letztlich ist es Aufgabe des Arztes, infolge eines persönlichen Gesprächs mit dem Jugendlichen dessen Einwilligungsfähigkeit festzustellen.318 In Zweifelsfällen sollten darüber hinaus Dialoge mit nahestehenden Personen wie beispielsweise den 309 Amelung, Vetorechte, S. 10 f.; ders., ZStW 104 (1992), 525 (544 ff.). Kritisch hierzu: Odenwald, Die Einwilligungsfähigkeit im Strafrecht, S. 60 ff. 310 Amelung, Vetorechte, S. 10. 311 Ebenda. 312 Amelung, Vetorechte, S. 10. 313 Amelung, Vetorechte, S. 11. 314 Lange, in: Herberger/Martinek/Rüßmann/Weth/Würdinger, jurisPK-BGB, § 107 Rn. 9. 315 Wever, in: Bergmann/Pauge/Steinmeyer, Gesamtes Medizinrecht, § 630 d Rn. 5. 316 Alderson, in: Das Kind als Patient, S. 33, 37; Diepold, in: Therapieverweigerung bei Kindern und Jugendlichen, S. 45; Lohaus, in: Kindheit und Jugend, S. 5; Simon, in: Zwangsbehandlung bei Selbstgefährdung, S. 60. 317 Diederichsen, in: FS Hirsch, S. 358; Götz in: FS Coester-Waltjen, S. 95 f.; Klie, in: Wunsch und Wille der Betroffenen, S. 57 f.; Nebendahl, MedR 2009, 197 (202). 318 Diederichsen, in: FS Hirsch, S. 362.

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Eltern oder dem Hausarzt geführt werden, die weitergehende Kenntnisse in Bezug auf den Entwicklungsstand des Jugendlichen liefern können.319 Gegebenenfalls sollte – speziell bei schwerwiegenden Entscheidungen – auch ein Psychologe als Berater hinzugezogen werden.320 c) Gerichtliches Verfahren Die tatsächliche Bestimmung der Urteilsfähigkeit kann den Arzt in der Praxis vor erhebliche Probleme stellen.321 Um die Last des Bestimmens der Einwilligungsfähigkeit nicht gänzlich auf die Schultern der Ärzte zu legen, muss in besonderen Konstellationen die Möglichkeit eines gerichtlichen Verfahrens offen stehen, um festzustellen, ob der Minderjährige tatsächlich einwilligungsfähig ist.322 Zwar besteht bei einem solchen Verfahren der Nachteil der zeitlichen Verzögerung und die Gefahr der Störung des Familienfriedens,323 gleichzeitig wird jedoch ein Schutz vor einer unzutreffenden Einschätzung geschaffen.324 Es ist daher sinnvoll, in strittigen Konstellationen das Vorliegen der Einsichtsfähigkeit gerichtlich klären zu lassen. Besteht hinsichtlich des Vorliegens der Einwilligungsunfähigkeit Uneinigkeit zwischen dem Arzt, dem minderjährigen Patienten oder dem gesetzlichen Vertreter, so kann dem Familiengericht auf Antrag die Entscheidung übertragen werden. Die Möglichkeit der gerichtlichen Entscheidung sollte hierbei, um die Gerichte nicht mit banalen Eingriffen zu überlasten, auf Maßnahmen von erheblicher Bedeutung begrenzt werden. Die gerichtliche Überprüfung ist allerdings freilich nur in den Fällen sinnvoll, in denen keine sofortige Entscheidung aufgrund besonderer Dringlichkeit getroffen werden muss. Ist eine Entscheidung besonders dringlich, so muss auf das Urteil des fachkundigen Arztes vertraut werden. d) Zusammenfassung So elementar das Bedürfnis in unserem Rechtssystem nach festen Vorgaben oder gar einem Raster, das auf jeden Fall übertragbar ist, auch sein mag, dieser Wunsch kann im Bereich der Bestimmung der Einwilligungsfähigkeit kaum erfüllt werden. Dies ist vor allem der Besonderheit der Materie geschuldet: Zu groß ist die Bandbreite an möglichen medizinischen Eingriffen, die aufgrund der jeweiligen Intensität kaum vergleichbar sind. Hinzu kommt die Individualität eines jeden Kindes. Ein 319

Diederichsen, in: FS Hirsch, S. 362. Ebenda. 321 Nebendahl, MedR 2009, 197 (202); Martis/Winkhart, Arzthaftungsrecht, A 1795 b. 322 Belling/Eberl/Michlik, Das Selbsbestimmungsrecht Minderjähriger bei medizinischen Eingriffen, S. 137. 323 Rouka, Das Selbstbestimmungsrecht des Minderjährigen, S. 127. 324 Lorenz, NZFam 2017, 782 (786). 320

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5. Teil: Zulässigkeit und Grenzen von Zwangsmaßnahmen de lege ferenda

Gleichlauf der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen existiert nicht.325 Vielmehr sind Minderjährige – wie Köch/Fegert treffend beschreiben – „in kognitiver und emotionaler Hinsicht eine äußerst inhomogene Klientel“.326 Dies befreit den Gesetzgeber indessen nicht, eine Regelung zu normieren, die zumindest einen Grundsatz festlegt. Wie Damm bereits feststellte, handelt es sich bei der Einwilligungsfähigkeit nicht um ein Detailproblem, sondern um einen grundlegenden und repräsentativen Problembereich des Rechts.327 Auf der Problematik, wann Minderjährige in medizinische Heilbehandlungen einwilligen dürfen, bauen erhebliche Folgefragen auf. Wenn dieses Grundgerüst nicht umrissen wird, kann in anderen Bereichen keine Struktur erreicht werden. Allerdings hat Damm zutreffend festgestellt, dass formelhafte Definitionen und Rechtsgrundsätze noch nicht viel über deren praktische Anwendung besagen.328 Hierbei handelt es sich jedoch um ein Problem, welches die Rechtswissenschaft nicht eigenständig lösen kann. Sie ist vielmehr auf ein Zusammenspiel mit der Medizin sowie der Psychologie angewiesen.329 Ob beispielsweise Tests – wie der Mac Arthur Competence Test330 – als fundierte Methode zur Bemessung der Selbstbestimmungsfähigkeit gelten können, ist eine Frage, die nicht die Rechtswissenschaft zu beurteilen hat.331 Der Gesetzgeber hat zumindest in den Gesetzgebungsmaterialien zu dem Behandlungsvertrag nach §§ 630 a ff. BGB eine Definition geschaffen, deren Offenheit trotz gewisser Rechtsunsicherheiten zu begrüßen ist. Sie lässt nicht nur Raum, um neue empirische Forschungen332 in die Bestimmung der Einwilligungsfähigkeit einfließen zu lassen, sondern auch, um der erheblichen Bandbreite an möglichen medizinischen Eingriffen gerecht zu werden. In der Gesamtschau ermöglicht die auslegungsbedürftige Definition daher eine flexible Handhabung.333 3. Möglichkeit einer Patientenverfügung Um das Selbstbestimmungsrecht eines Minderjährigen gänzlich vor Zwangsbehandlungen zu schützen, muss es einsichtsfähigen Jugendlichen möglich sein, Pa325

Kaeding, MedR 2016, 935 (936). Kölch/Fegert, FPR 2007, 76 (76). 327 Damm, MedR 2015, 775 (775). 328 Damm, MedR 2015, 775 (780). 329 Damm, MedR 2015, 775 (782). 330 Grisso/Appelbaum, Law and Human Behavior 1995, S. 149 ff. 331 Kritisch in Bezug auf die Beurteilung der Einwilligungsfähigkeit durch Tests.: Alderson, in: Das Kind als Patient, S. 31 f.; Rothärmel, Einwilligung, Veto, Mitbestimmung, S. 154 f.; Vollmann, in: Das Kind als Patient, S. 55; ders.: Der Nervenarzt 2000, 709 (710 f.). 332 Zur Erforderlichkeit von empirischem Basiswissen für die Bestimmung der Einwilligungsfähigkeit s. Damm, Bundesgesundheitsblatt 2016, 1075 (1080). 333 Knauf, Mutmaßliche Einwilligung und Stellvertretung bei ärztlichen Eingriffen, S. 29. 326

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tientenverfügungen zu erstellen. Diese gestatten die Entscheidung hinsichtlich der Frage, welche Maßnahmen in der Zukunft veranlasst oder unterlassen werden sollen.334 Eine solche Handhabe bleibt Minderjährigen derzeit jedoch mangels gesetzlicher Regelung verwehrt. Im Jahre 2009 trat das Dritte Gesetz zur Änderung des Betreuungsrechts in Kraft.335 Ziel dieses Gesetzes war es unter anderem, die in der Praxis bestehenden Rechtsunsicherheiten in Bezug auf den Umgang mit Patientenverfügungen abzuschaffen.336 Das Resultat zahlreicher Diskussionen des Bundestags war schließlich die Schaffung von § 1901 a BGB, der die Voraussetzungen einer wirksamen Patientenverfügung festlegt. Gemäß § 1901 a BGB setzt der Erlass einer Patientenverfügung die Volljährigkeit voraus. Folglich können Minderjährige nach dem Willen des Gesetzgebers keine Patientenverfügungen treffen.337 Dieser Umkehrschluss kann insbesondere damit begründet werden, dass ein alternativer Gesetzgebungsvorschlag, der es vorsah, lediglich das Vorliegen der Einwilligungsfähigkeit vorauszusetzen, nicht umgesetzt worden ist.338 Die Tatsache, dass Minderjährige keine Patientenverfügung errichten können, stößt in der Literatur zu Recht auf Kritik.339 Die fehlende Möglichkeit, eine wirksame Patientenverfügung zu errichten, verletzt nicht nur das Selbstbestimmungsrecht eines Minderjährigen, sondern darüber hinaus stellt die derzeitige Rechtslage eine Verletzung von Art. 3 Abs. 1 GG dar, da kein zwingender Grund ersichtlich ist, 334

Brückner, Das medizinische Selbstbestimmungsrecht Minderjähriger, S. 181. Schwab, in: Münchener Kommentar zum BGB, § 1901 a Rn. 1. 336 BT-Drs. 16/8442, S. 3. 337 Damrau/Zimmermann, Betreuungsrecht, § 1901 a Rn. 31; Götz, in: Palandt, § 1901 a Rn. 10. A. A.: Rieger, FamRZ 2010, 1601 (1603). 338 BT-Drs. 16/11493. 339 Albrecht/Albrecht/Böhm/Böhm-Rößler, Die Patientenverfügung, Rn. 173; Beermann, FPR 2010, 252 (253); Berger, JZ 2000, 797 (802); Bichler, Zwischen Selbstbindung und Bevormundung, S. 99; Brückner, Das medizinische Selbstbestimmungsrecht Minderjähriger, S. 192 f.; Coester-Waltjen, MedR 2012, 553 (557); Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht, Rn. 1009; Götz, in: Palandt, § 1901 a Rn. 10; dies., FamRZ 2017, 1289 (1295); Heitmann, in: Kaiser/ Schnitzler/Friederici/Schilling, BGB, § 1901 a Rn. 10; Hoffmann, BtPrax 2009, 7 (8); Höfling/ Engels, in: Prütting, FAKomm Medizinrecht, § 1901 a Rn. 5 a; Jürgens, in: Betreuungsrecht, § 1901 a BGB Rn. 5; Kahlert, in: Bergmann/Pauge/Steinmeyer, Gesamtes Medizinrecht, § 1901 a Rn. 5; Kutzer, Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik 2010, 143 (153); Müller, DNotZ 2010, 169 (182), Müller-Engels, in: Bamberger/Roth/Hau/Poseck, BeckOK BGB, § 1901 a Rn. 20; Renner, ZNotP 2009, 371 (377); Roglmeier/Lenz, ZErb 2009, 236 (239), Schumacher, FPR 2010, 474 (478); Roth, in: Erman, BGB, § 1901 a Rn. 3; Schwab, in: Münchener Kommentar BGB, § 1901 a Rn. 10; Simon, in: Verrel/Simon, Patientenverfügungen, S. 99; Spickhoff, FamRZ 2009, 1949 (1950); ders., Medizinrecht, § 1901 a BGB, Rn. 5; Sternberg-Lieben/ Reichmann, NJW 2012, 257 (260 f.); Wassem, In dubio pro vita, S. 90, 92 f.; Streit, Patientenverfügungen Minderjähriger, S. 75; Taupitz, in: Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik 2010, 155 (161); Tolmein, in: Das neue Patientenverfügungsgesetz, S. 49; Zuck, in: Quaas/Zuck/ Clemens, Medizinrecht, § 68 Rn. 222. 335

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5. Teil: Zulässigkeit und Grenzen von Zwangsmaßnahmen de lege ferenda

einem einsichtsfähigen Minderjährigen die wirksame Errichtung einer Patientenverfügung zu versagen.340 Vielmehr stellt diese fehlende Option aufgrund der Abwendung vom Rechtsinstitut der Einwilligungsfähigkeit einen „dogmatischen Bruch“ dar.341 Die fehlende Option Minderjähriger, eine wirksame Patientenverfügung zu verfassen, ist besonders bedenklich, wenn man beachtet, dass das Volljährigkeitsserfordernis in den Beratungen zur Schaffung von § 1901 a BGB nicht thematisiert worden ist.342 De lege ferenda wird daher befürwortet, eine Regelung zu schaffen, die ausdrücklich festhält, dass einsichtsfähige Minderjährige eine Patientenverfügung erlassen können. Allerdings ruft die Zulässigkeit von Patientenverfügungen Minderjähriger auch erhebliche praktische Probleme im Hinblick auf die Beurteilung der Einwilligungsfähigkeit hervor. Die Feststellung der Einwilligungsfähigkeit ex post birgt im Vergleich zu der Situation, in der sich der Arzt durch ein persönliches Gespräch mit dem minderjährigen Patienten von dessen Urteilsfähigkeit überzeugen kann, ein deutlich höheres Maß an Rechtunsicherheit.343 Sollte diese Problematik dazu führen, dass im Bereich der Patientenverfügung – ähnlich wie für die Testierfähigkeit gemäß § 2229 Abs. 1 BGB – eine Altersgrenze etabliert wird? Dem muss entgegengehalten werden, dass bei der Versagung einer Patientenverfügung und eines Testaments unterschiedliche Rechtsgüter betroffen sind. Der erhebliche Eingriff in das körperliche Selbstbestimmungsrecht eines Menschen gemäß Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG, der mit der Versagung einer Patientenverfügung einhergeht, spricht gegen die Einführung von Altersgrenzen. In diesem Zusammenhang sei auf eine treffende Aussage von Taupitz verwiesen: Dieser geht zu Recht davon aus, dass nicht das Leben, sondern die Autonomie das höchste von der Verfassung geschützte Gut sei.344 Gegen die Einführung von Altersgrenzen spricht ferner, dass die Problematik der ex-post-Bestimmung auch im Betreuungsrecht existiert.345 Die für den Arzt bestehende Rechtsunsicherheit kann allerdings insofern abgemildert werden, als im Hinblick auf die Feststellung der Einwilligungsfähigkeit – wie bereits erörtert – de lege ferenda die Möglichkeit einer gerichtlichen Klärung eröffnet wird. In der Gesamtschau lässt sich festhalten, dass die fehlende gesetzliche Option Jugendlicher, eine Patientenverfügung zu erstellen, eine erhebliche Beeinträchtigung des Selbstbestimmungsrechts darstellt. Der Gesetzgeber ist daher zu einem schnellen Handeln aufgefordert. Dies gilt insbesondere, weil dieser Möglichkeit in der Praxis eine erhebliche Relevanz zukommt. So berichten Jox/Führer/Borasio, dass durchaus 340 341 342 343 344 345

Müller, DNotZ 2010, 169 (182). Albrecht/Albrecht/Böhm/Böhm-Rößler, Die Patientenverfügung, Rn. 173. Müller, DNotZ 2010, 169 (182). Streit, Patientenverfügungen Minderjähriger, S. 87. Taupitz, Gutachten A zum 63. Deutschen Juristentag, A 13. Streit, Patientenverfügungen Minderjähriger, S. 88 f.

B. Herleitung eines Reformvorschlags

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Kinder und Jugendliche ihren Kinderärzten gegenüber den Wunsch mitteilen, eine Patientenverfügung zu errichten.346 4. Ergebnis De lege ferenda wird folgender Vorschlag zur Einführung einer neuen Norm unterbreitet: § 1631e BGB: (1) Die Einwilligung in eine Untersuchung des Gesundheitszustands, eine Heilbehandlung oder in einen ärztlichen Eingriff kann, soweit gesetzlich nichts anderes bestimmt ist, ein Kind selbst erteilen, wenn es fähig ist, Grund und Bedeutung der Heilbehandlung einzusehen und seinen Willen hiernach zu bestimmen (Einwilligungsfähigkeit). Die Regelungen des Behandlungsvertrags nach §§ 630 a ff. BGB bleiben insofern unberührt. (2) Besteht hinsichtlich des Vorliegens der Einwilligungsunfähigkeit Uneinigkeit zwischen dem Arzt, dem minderjährigen Patienten und dem gesetzlichen Vertreter, so kann dem Familiengericht auf Antrag die Entscheidung übertragen werden. (3) Hat ein einwilligungsfähiger Minderjähriger für den Fall einer nachfolgend eintretenden Einwilligungsunfähigkeit schriftlich festgelegt, ob er in bestimmte, zum Zeitpunkt der Festlegung noch nicht unmittelbar bevorstehende Untersuchungen seines Gesundheitszustands, Heilbehandlungen oder ärztliche Eingriffe einwilligt oder sie untersagt (Patientenverfügung), prüft der gesetzliche Vertreter, ob diese Festlegungen auf die aktuelle Lebens- und Behandlungssituation zutreffen. Ist dies der Fall, hat der gesetzliche Vertreter dem Willen des Vertretenen Ausdruck und Geltung zu verschaffen. Eine Patientenverfügung kann jederzeit formlos widerrufen werden.

Eine solche Regelung könnte gleichermaßen in den Vorschriften zum Behandlungsvertrag integriert werden. Dies wäre in systematischer Hinsicht durchaus sinnvoll. Allerdings entspricht eine derartige Vorgehensweise nicht dem Muster des Gesetzgebers, der beispielsweise die Einwilligung des Betreuers in medizinische Zwangsbehandlungen von Betreuten sowie die Patientenverfügung im Betreuungsrecht geregelt hat. Alternativ könnte aber – wie von Reuter vorgeschlagen – die bisherige Regelung des § 630 d BGB um die Definition der Einwilligungsfähigkeit ergänzt werden.347 Aus der Definition der Einwilligungsfähigkeit könnte bereits geschlossen werden, dass auch Minderjährige, sofern sie hinreichend urteilsfähig sind, in eine medizinische Behandlung eigenständig einwilligen können und dementsprechend nicht gegen ihren Willen behandelt werden dürfen.348 Darüber hinaus müsste im Rahmen der Vorschriften zum Behandlungsvertrag eine Regelung in Bezug auf die Errichtung einer Patientenverfügung geschaffen werden.

346 347 348

Jox/Führer/Borasio, Monatsschr Kinderheilkd 2009, 26 (26). Reuter, Der Abschluss des Arztvertrages, S. 331. Ebenda.

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5. Teil: Zulässigkeit und Grenzen von Zwangsmaßnahmen de lege ferenda

II. Zwangsmaßnahmen an Einwilligungsunfähigen Nachdem die Grundsätze zur Zwangsbehandlung von einsichtsfähigen Minderjährigen dargelegt worden sind, stellt sich in einem nächsten Schritt die Frage, wie bei ärztlichen Maßnahmen gegen den Willen eines einsichtsunfähigen Kindes verfahren werden muss. 1. Allgemeine Grundsätze Auch bei der medizinischen Zwangsbehandlung von einwilligungsunfähigen Kindern sind der gesetzlichen Vertretungsmacht Grenzen gesetzt, da diese kein Instrument darstellt, um ausschließlich die eigenen Wünsche umzusetzen.349 Vielmehr müssen sich die gesetzlichen Vertreter am Kindeswohl orientieren. Wie dieses – speziell im Hinblick auf Grundrechtskonflikte – näher konkretisiert werden kann, ist im vorherigen Kapitel festgestellt worden.350 Hierbei sind wesentliche Grundsätze herausgearbeitet worden, denen im Rahmen der Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer Zwangsbehandlung eine zentrale Bedeutung zukommt. Es ist insbesondere dargelegt worden, dass eine neu zu schaffende Regelung auch von den Schutzpflichten sowie von dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz beeinflusst werden muss. Aus den Schutzpflichten aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG sowie aus Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG folgt nicht nur, dass rechtliche Transparenz in grundrechtlichen sensiblen Bereichen und somit auch für die medizinische Zwangsbehandlung erforderlich ist, sondern der Schutz vor Zwangsbehandlungen streitet auch gegen den Schutz durch Zwangsbehandlungen. Schließlich ist festgehalten worden, dass das Verhältnismäßigkeitsprinzip berücksichtigt werden muss. Kindesgrundrechte, Elternrecht und Schutzpflichten müssen demnach in einen verhältnismäßigen Ausgleich gebracht werden. Eine solche Überprüfung ist freilich auch auf Abwägungen angewiesen, die unterschiedliche Ergebnisse hervorrufen können. Zunächst soll beurteilt werden, welche Auffassungen sich diesbezüglich in der Literatur verbreitet haben. a) Vorschläge der Literatur Nach einer Ansicht ist eine Behandlung gegen den Willen eines einsichtsunfähigen Kindes nur denkbar, wenn die unmittelbare Gefahr des Todes bestehe.351 Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Betreuungsrecht sei diesbezüglich zudem übertragbar.352 Allerdings ist der Verweis auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in diesem Zusammenhang nicht ganz überzeugend, da durch die Schwelle der Gefahr des Todes deutlich höhere Anforderungen als im 349 350 351 352

Lenckner, ZStW 72 (1960), 446 (460). S. hierzu 5. Teil I 1 a. Brückner, Das medizinische Selbstbestimmungsrecht Minderjähriger, S. 133. Ebenda.

B. Herleitung eines Reformvorschlags

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Volljährigenrecht – speziell im Maßregelvollzug oder Betreuungsrecht – gesetzt werden würden. Zur Erinnerung: Einen rechtfertigenden Grund für die Durchführung einer Zwangsbehandlung im Maßregelvollzug stellt nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts auch die Erreichung des Vollzugszieles und das Freiheitsinteresse des Patienten dar.353 Im Betreuungsrecht ist eine Zwangsbehandlung gemäß § 1906 a Abs. 1 BGB zum Wohl des Betreuten möglich, um einen drohenden erheblichen gesundheitlichen Schaden abzuwenden. Die Norm schützt demzufolge nicht nur das Leben, sondern ebenso die Gesundheit. Würde der zuvor dargestellte Grundsatz daher umgesetzt werden, so würde das Kindschaftsrecht weit höhere Maßgaben an eine Zwangsbehandlung stellen als das Betreuungsrecht. Dies erscheint jedoch insbesondere im Hinblick auf die Schutzpflichtenlehre wenig tragbar, wenn man bedenkt, dass einwilligungsunfähigen Kindern aufgrund ihres jungen Alters eine gesunde Entwicklung ermöglicht werden muss. Ohnehin existiert im Kindschaftsrecht aufgrund von Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG und der darin wurzelnden Schutzbedürftigkeit eines Kindes eine ganz andere Ausganglage als im Betreuungsrecht.354 Während Erwachsene grundsätzlich vollumfänglich handlungsfähig sind, ist im Kindschaftsrecht eine gänzlich konträre Situation zu verzeichnen, da Minderjährige der Obhut der Sorgeberechtigten unterstehen und bis auf bestimmte Teilmündigkeitsregelungen – wie beispielsweise § 2229 Abs. 1 BGB – gerade nicht handlungsfähig sind.355 Die pauschale Übernahme der Grundsätze des Bundesverfassungsgerichts, die für die Zwangsbehandlung von einwilligungsunfähigen Volljährigen entwickelt wurde, beachtet diesen Unterschied nicht. Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts sollten deshalb das Kindschaftsrecht insofern beeinflussen, als für die erhebliche Grundrechtsbeeinträchtigung, die mit einer Zwangsbehandlung einhergeht, sensibilisiert und eine angemessene Regelung geschaffen wird, die speziell auf die Situation von Kindern und Jugendlichen zugeschnitten ist. Gleichwohl sollte sich kein Trend zur Nivellierung von Minderjährigen und Volljährigen durchsetzen, da ein solcher die wesentlichen Unterschiede verkennen würde. In der Literatur wird darüber hinaus befürwortet, Zwangsbehandlungen für medizinisch nicht indizierte Maßnahmen auszuschließen.356 Dies erscheint unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes sinnvoll: Da eine Behandlung gegen den Willen eines Kindes zu einer erheblichen Belastung und Traumatisierung führen kann, ist es im Sinne des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nicht zweckmäßig, Kinder der Ausübung von Zwang auszusetzen, wenn die ärztliche Maßnahmen keinerlei Nutzen für die Gesundheit des minderjährigen Patienten nach sich zieht.

353 BVerfG, Beschl. v. 23.3.2011 @ 2 BvR 882/09 = BVerfGE 128, 282 (304) = NJW 2011, 2113 (2115). 354 Gleixner-Eberle, Die Einwilligung in die medizinische Behandlung, S. 323. 355 Spickhoff, FamRZ 2018, 412 (420). 356 Kern, NJW 1994, 753 (756); Wölk, MedR 2001, 80 (88).

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5. Teil: Zulässigkeit und Grenzen von Zwangsmaßnahmen de lege ferenda

In der Literatur wird ferner vertreten, dass Zwangsbehandlungen bis auf notstandsähnliche Sachlagen vermieden werden müssten.357 Andere verwenden wiederum den Bezugspunkt der Dringlichkeit als Maßstab für die Unzulässigkeit von ärztlichen Maßnahmen gegen den Willen eines Kindes.358 So wird beispielsweise dafür plädiert, eine Zwangsbehandlung zumindest bei aufschiebbaren Behandlungen zu verbieten.359 Allerdings bergen alle Begriffe – unabhängig von der Sinnhaftigkeit des damit zu erzielenden Zwecks – Rechtsunsicherheit. Was ist beispielsweise eine notstandsähnliche Sachlage und inwiefern grenzt sich diese von dem in der Rechtswissenschaft bekannten Notstand ab? Ab wann würde eine Maßnahme als dringlich eingestuft werden? Auch wenn ein gewisses Maß an Rechtsunsicherheit wohl kaum vermieden werden kann und es sicherlich sinnvoll erscheinen mag, Kinder nicht unnötig mit Zwang zu konfrontieren, stellt sich doch die Frage, ob die hinter den Begriffen stehende Idee nicht präziser beschrieben werden kann. Zu kritisieren ist ferner, dass all die zuvor genannten Vorschläge nicht hinreichend die Grundsätze, die sich aus der Auslegung der UN-KRK und UN-BRK ergeben haben, berücksichtigen. b) Eigene Vorschläge Es wird vorgeschlagen, eine konkrete Regelung zu schaffen, die die Voraussetzungen einer Zwangsmaßnahme normiert. Aus dieser müsste zunächst – ähnlich wie bei § 1906 a BGB – hervorgehen, was unter einer Zwangsbehandlung zu verstehen ist.360 Eine Zwangsmaßnahme liegt immer dann vor, wenn sie dem natürlichen Willen des Kindes widerspricht. Das Kind muss nicht die Bedeutung und Tragweite der Behandlung verstehen,361 sondern es muss ihm zumindest möglich sein, einen Willen zu äußern und willensgetragen handeln zu können.362 Willensäußerungen sind allerdings von spontanen impulsartigen Handlungen, die keinerlei Bezug zu den Überzeugungen eines Kindes haben, abzugrenzen.363 Es muss demnach eine reflektierte, und nicht bloß reflexhafte Willensäußerung erfolgen.364 Dies ist besonders bei kleineren Kindern von Relevanz. 357

Golbs, Das Vetorecht eines einwilligungsunfähigen Patienten, S. 196. Spickhoff, FamRZ 2018, 412 (421). 359 Belling, FuR 1990, 68 (74); Bernsmann/Geilen, in: Wenzel, Medizinrecht, Kap. 4 Rn. 431; Golbs, Das Vetorecht eines einwilligungsunfähigen Patienten, S. 196; Paino-Staber, Gesetzliche Stellvertretung naher Angehöriger, S. 151; Spickhoff, Medizinrecht, § 630 d BGB Rn. 7; Ulsenheimer, in: Therapieverweigerung bei Kindern und Jugendlichen, S. 88. 360 Ausführlich hierzu 2. Teil A. 361 Lipp, in: Gewalt und Psyche, S. 91. 362 Mayer, Medizinische Maßnahmen an Betreuten, S. 57. 363 Stellungnahme des Deutschen Ethikrates, BT-Drs. 19/6887, S. 60. 364 Bauer, in: Prütting/Wegen/Weinreich, BGB, § 1906 a Rn. 14; Engels, in: Prütting, FAKomm Medizinrecht, § 1906 Rn. 18; Grotkopp, BtPrax 2013, 83 (85); Heide, Medizinische Zwangsbehandlung, S. 146; Lipp, FamRZ 2013, 913 (920); ders., in: Gewalt und Psyche, S. 91; Spickhoff, Medizinrecht, § 1906 a BGB Rn. 4. 358

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aa) Einführung des Gefahrenbegriffs Es wird darüber hinaus vorgeschlagen, eine Zwangsmaßnahme nur zum Wohl des Kindes bei einer Gefahr für die Gesundheit oder das Leben des Kindes zu erlauben. Hiervon ausgenommen sind Untersuchungen des Gesundheitszustandes, da diese bei fehlenden Krankheitssymptomen erforderlich sind, um eine mögliche Gefahr überhaupt festzustellen. Damit wäre die Zulässigkeit von Zwangsbehandlungen im Kindschaftsrecht deutlich weiter gefasst als im Betreuungsrecht: Gemäß § 1906 a Abs. 1 BGB ist eine Behandlung von Betreuten gegen ihren Willen nur erlaubt, sofern sie zum Wohl des Betreuten notwendig ist, um einen drohenden erheblichen gesundheitlichen Schaden abzuwenden. Eine solche Erheblichkeitsschwelle ist im Kindschaftsrecht aufgrund der besonderen Entwicklungskapazität eines Minderjährigen nicht Voraussetzung. Dies entspricht den aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG hergeleiteten Schutzpflichten sowie dem Schutzanspruch von Art. 24 UN-KRK, der das Recht eines Kindes auf das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit normiert. Der Verzicht auf eine Erheblichkeitsschwelle schafft einen Ausgleich zwischen Schutzansprüchen in Bezug auf die Gesundheit des Kindes und dem Selbstbestimmungsrecht. Zwar birgt die Einführung eines Gefahrenbegriffs aufgrund unterschiedlicher Beurteilungsmöglichkeiten ein gewisses Maß an Rechtsunsicherheit, der Rechtswissenschaft ist dieser Terminus jedoch keineswegs fremd. Eine Gefahr im Sinne von § 34 StGB ist beispielsweise ein Zustand, in dem aufgrund besonderer Risikofaktoren die ernstzunehmende Möglichkeit eines Schadenseintritts bei einem geschützten Rechtsgut besteht.365 Eine Gefahr ist wiederum ernst zu nehmen, wenn die entscheidende Konstellation von Risikofaktoren eine besonnene Person typischerweise zu akuten Schutz- bzw. Rettungsmaßnahmen veranlasst.366 Nicht entscheidend ist, dass der Eintritt des Schadens „höchstwahrscheinlich“ ist.367 Aufgrund der besonderen Schutzbedürftigkeit von Kindern genügt es, wenn der Schadenseintritt als „nicht ganz unwahrscheinlich“368 zu qualifizieren ist. Auch dem Polizeirecht ist der Terminus der Gefahr nicht unbekannt. Unter der konkreten Gefahr im polizeilichen Sinne ist eine Sachlage zu verstehen, wonach in dem zu beurteilenden konkreten Einzelfall in überschaubarer Zukunft mit dem Schadenseintritt hinreichend wahrscheinlich gerechnet werden kann.369 Die zeitliche Komponente hat hier bereits in die Definition Eingang gefunden, sodass sich eine Orientierung an dem polizeilichen Gefahrenbegriff anbietet. Das Schutzgut bezieht sich allerdings nur auf die Gesundheit und das Leben des Kindes. Der Arzt fungiert insofern als „Ordnungshüter des minderjährigen Patienten“. 365 366 367 368 369

Neumann, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen, StGB, § 34 Rn. 39. Ebenda. Ebenda. Roxin, Strafrecht AT I, § 16 Rn. 14. BVerwG, Urteil vom 3. 7. 2002 – 6 CN 8/01 = NVwZ 2003, 95 (96).

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5. Teil: Zulässigkeit und Grenzen von Zwangsmaßnahmen de lege ferenda

Eine medizinische Zwangsbehandlung ist mithin nur zulässig, sofern eine Gefahr für die Gesundheit oder das Leben eines Kindes besteht. Unter dem Terminus der Gefahr ist im Rahmen von medizinischen Zwangsbehandlungen daher eine Sachlage zu verstehen, in der aufgrund besonderer Risikofaktoren in überschaubarer Zukunft die ernstzunehmende Möglichkeit eines Schadenseintritts für die Gesundheit und das Leben eines Kindes besteht. Die Einführung des Gefahrenbegriffs hat den Vorteil, dass sie mehrere Ideen, die in der Literatur geäußert werden, miteinander verknüpft. So wurde beispielsweise vertreten, Zwangsbehandlung für medizinisch nicht indizierte Maßnahmen auszuschließen.370 Behandlungen, die medizinisch nicht indiziert sind, lassen sich allerdings ohnehin nicht unter die Definition der Gefahr subsumieren. Der Gefahrenbegriff bezieht ebenso die in der Literatur geforderte Unzulässigkeit von Zwangsmaßnahmen bei fehlender Dringlichkeit371 oder Aufschiebbarkeit der Behandlung372 ein, da die zeitliche Komponente der nahen Zukunft Eingang in die Definition der Gefahr findet. Unabhängig von der Praktikabilität des Gefahrenbegriffs aufgrund der Verknüpfung verschiedener Ideen könnte dieser Lösungsvorschlag gleichwohl auf Kritik stoßen. Vertreter des Paternalismus könnten eine zu geringe Schutzintensität beanstanden. Wäre es beispielsweise nicht sinnvoller, Zwangsbehandlungen bei jeder für die Gesundheit förderlichen Maßnahme zuzulassen? Die freiheitsliebenden Rechtswissenschaftler könnten hingegen die Konzentration auf eine bloße Gefahr als zu weit gefasst empfinden. Sollte nicht stattdessen dem Betreuungsrecht gefolgt werden und ein erheblicher gesundheitlicher Schaden vorausgesetzt werden? Beiden Ansichten kann allerdings nicht gefolgt werden: Eine Regelung, die die Grenzen einer Zwangsbehandlung normiert, muss verschiedene grundrechtliche Positionen in Einklang bringen. Der Schutzpflicht in Bezug auf das Selbstbestimmungsrecht eines Kindes wurde bereits teilweise Rechnung getragen, indem festgehalten worden ist, dass eine ärztliche Maßnahme ab dem Zeitpunkt der Einwilligungsfähigkeit nicht gegen den Willen eines Kindes durchgeführt werden darf. Für den Gesetzgeber besteht gleichwohl weiterhin die Aufgabe, das Elternrecht und die Schutzpflicht im Hinblick auf die physische und psychische Gesundheit in Einklang zu bringen. Besteht das Risiko, dass die Integrität eines Kindes einen Schaden nimmt, so ist Schutz in Form von Zwangsbehandlungen zu gewähren. Gleichzeitig kann jede ärztliche Maßnahme gegen den Willen eines Kindes ebenfalls eine Belastung und ein Trauma nach sich ziehen, sodass in gewisser Form ein Schutz vor Zwangsbehandlungen geboten ist. 370

Kern, NJW 1994, 753 (756); Wölk, MedR 2001, 80 (88). Spickhoff, FamRZ 2018, 412 (421). 372 Belling, FuR 1990, 68 (74); Bernsmann/Geilen, in: Wenzel, Medizinrecht, Kap. 4 Rn. 431; Golbs, Das Vetorecht eines einwilligungsunfähigen Patienten, S. 196; Spickhoff, Medizinrecht, § 630 d BGB Rn. 7; Ulsenheimer, in: Therapieverweigerung bei Kindern und Jugendlichen, S. 88. 371

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Die Einführung des Gefahrenbegriffs vereint sowohl den Schutz vor als auch durch Zwangsbehandlung und bringt diese konträren Positionen in Einklang. Die Zulässigkeit von Zwangsbehandlungen bei gesundheitsfördernden Maßnahmen unabhängig von dem Vorliegen einer Gefahr verkennt die erhebliche Intensität der Grundrechtsbeeinträchtigung, die die Anwendung von Zwang verursacht und kann dementsprechend keine verhältnismäßige Regelung hervorbringen. Die Einführung des Erfordernisses einer erheblichen Gefahr wird wiederum nicht dem wesentlichen Unterschied zum Betreuungsrecht gerecht. Im Kindschaftsrecht existiert insbesondere aufgrund von Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG und der darin wurzelnden Schutzbedürftigkeit eines Kindes eine ganz andere Ausgangslage als im Betreuungsrecht.373 Die konkret aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG hergeleitete Schutzpflicht verpflichtet nach der höchstrichterlichen Judikatur den Staat, hilfsbedürftigen Menschen notfalls gegen ihren Willen Schutz durch ärztliche Versorgung zu gewähren.374 Sofern allerdings keine Gefahr für die Gesundheit oder das Leben eines Kindes besteht, ist ein Kind im Hinblick auf die physische Gesundheit nicht hilfsbedürftig. Auch die elterliche Entscheidungsbefugnis sollte in diesem Fall nicht in unerträglichem Maße ausgeweitet werden, da mit der Ausübung von Zwang immerhin eine gewichtige Belastung sowie eine Grundrechtsbeeinträchtigung einhergeht. Das Kind ist bei der Ausübung von Zwang ohne konkrete Indikation vielmehr in dem Sinne hilfsbedürftig, als dessen psychische Gesundheit geschützt werden muss. Der Staat ist daher verpflichtet, dem Kind Schutz in Form der Normierung der Grenzen einer Zwangsbehandlung zu gewähren. Gleichzeitig liegt aufgrund der gesetzlichen Regelung der Voraussetzungen einer Zwangsbehandlung kein erheblicher Eingriff in das Elternrecht vor. Die Einwilligung in eine ärztliche Maßnahme bleibt den gesetzlichen Vertretern möglich. Sofern sie ihre Kinder von der Maßnahme überzeugen, kann die Behandlung durchgeführt werden, da das Zwangselement in diesem Fall fehlt. Gleichwohl birgt diese Vorgehensweise das Risiko, dass das Kind unzulässigem Druck ausgesetzt wird. Eine derartige Gefahr kann jedoch kaum vermieden werden. Der Arzt sollte allerdings in einem persönlichen Gespräch sicherstellen, dass das Kind ohne die Ausübung unzulässigen Drucks überzeugt wurde. bb) Partizipation „Kinder sind allzu oft unwissend, jedoch nicht, weil ihnen die Fähigkeit oder der Wille zur Einsicht fehlen würde, sondern weil sie nicht gründlich genug aufgeklärt werden.“375

373

Gleixner-Eberle, Die Einwilligung in die medizinische Behandlung Minderjähriger, S. 323. 374 BVerfG, Beschl. v. 26.7.2016 – 1 BvL 8/15 = BVerfGE 142, 313 (336 f.) = NJW 2017, 53 (55). 375 Alderson, in: Das Kind als Patient, S. 28.

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5. Teil: Zulässigkeit und Grenzen von Zwangsmaßnahmen de lege ferenda

Neben der Einführung eines Gefahrenbegriffs müssen darüber hinaus die Ergebnisse, die die Auslegung der UN-KRK sowie UN-BRK ergeben haben, in eine neu zu schaffende Norm einfließen. Ein wesentlicher Schwerpunkt liegt hierbei auf der Einführung von Partizipationsrechten. Eine neu zu schaffende Norm müsste die aus Art. 12 UN-BRK resultierenden Partizipationsrechte eines Kindes berücksichtigen. Minderjährige müssen zunächst unabhängig von ihrer Reife bei jeder Behandlung mit den notwendigen Informationen versorgt werden.376 Ihre Ansichten sind zudem anzuhören und zu berücksichtigen. Auch der Wille von Kindern mit Behinderungen ist zu beachten. Sollten diese – beispielsweise aufgrund von Krankheiten – Schwierigkeiten haben, sich Gehör zu verschaffen, müssen entsprechende Bemühungen erfolgen, um ihren Willen in eine Entscheidung einfließen lassen zu können.377 Ferner sollten Kinder – wenn dies möglich ist – ihre Zustimmung zu einer medizinischen Behandlung geben können.378 Es muss daher vor einer medizinischen Zwangsbehandlung versucht werden, das Kind mit dem nötigen Zeitaufwand von der Notwendigkeit der ärztlichen Maßnahme zu überzeugen. Die Bestimmung des erforderlichen Zeitaufwandes ist einzelfallabhängig. Entscheidend ist hierbei, wie viel Zeit den behandelnden Ärzten vor der Realisierung der Gefahr bleibt.379 Das Erfordernis der Partizipation kann zudem implizieren, dass Kinder zwischen alternativen Behandlungsmethoden wählen können, wenn die Risiken sowie die Heilungschancen vergleichbar sind.380 cc) Verhältnismäßigkeit Im Sinne einer weitergehenden Konkretisierung der Voraussetzungen einer Zwangsbehandlung ist es darüber hinaus sinnvoll – ähnlich wie im Betreuungsrecht bei § 1906 a Abs. 1 BGB – den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in die zu schaffende Norm zu integrieren. Die Maßnahme muss daher geeignet sein, einen Schaden für die Gesundheit und das Leben des Kindes abzuwenden, der gesundheitliche Schaden darf durch keine andere den Patienten weniger belastende Maßnahme abgewendet werden können und der zu erwartende Nutzen der ärztlichen Zwangsmaßnahme muss die zu erwartenden Beeinträchtigungen deutlich übersteigen. Die Einführung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes hat den Vorteil, dass die besonderen Nachteile, die durch den Zwang selbst ausgelöst werden, Berücksichtigung finden. Bei einer Abwägung im Sinne des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes sind nicht nur die Risiken des Eingriffs selbst, sondern daneben auch subjektive 376 377 378 379 380

CRC, General Comment No. 14, CRC/C/GC/14, Rn. 77. CRC, General Comment No. 12, CRC/C/GC/12, Rn. 21. CRC, General Comment No. 14, CRC/C/GC/14, Rn. 77. Spickhoff, Medizinrecht, § 1906 a BGB Rn. 9. Rothärmel, Einwilligung, Veto, Mitbestimmung, S. 196.

B. Herleitung eines Reformvorschlags

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Aspekte – wie beispielsweise die mögliche Beeinträchtigung des Behandlungserfolgs durch den Zwang – einzubeziehen.381 Die Anwendung von Zwang wird oft als verletzend und demütigend empfunden.382 Frühe Gewalterfahrungen können zudem nachhaltige Spuren im späteren Leben hinterlassen.383 Insbesondere bei der Zwangsbehandlung von Kindern mit Behinderungen ist zu berücksichtigen, dass diese bei wiederholter Erfahrung zu posttraumatischen Belastungsstörungen mit negativen Folgen für die Persönlichkeitsentwicklung führen kann.384 Allerdings ist derzeit noch ein unzureichendes Wissen über die Folgen von Traumatisierungen durch medizinische Eingriffe bei behinderten Menschen zu beklagen.385 Bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit sind in der Gesamtschau verschiedene Faktoren zu berücksichtigen. Das Risiko einer Traumatisierung ist beispielsweise umso höher, je weniger emotionale Bindungen eines Kindes zu besonderen Bezugspersonen bestehen und je mehr negative Erfahrungen das Kind bereits erlebt hat.386 Im Ergebnis ist es Aufgabe der Ärzte, die Anwendung von Zwang auf ein Minimum zu reduzieren und dem Ultima-ratio-Prinzip Bedeutung zu verleihen. Um die Verhältnismäßigkeit von Zwangsbehandlungen an Kindern und Jugendlichen besser beurteilen zu können, sind die Rechtsanwender jedoch ebenso auf die Forschung angewiesen, da bisher kaum nachgewiesen worden ist, wie Kinder und Jugendliche Gewalt selbst wahrnehmen und zu welchen langfristigen Folgen die Anwendung von Zwang führen kann.387 dd) Beschneidung Aus der Einführung eines Gefahrenbegriffs und des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes resultiert, dass eine Zirkumzision gegen den Willen eines Kindes bei fehlender medizinischer Indikation nicht erlaubt ist. Die Darlegungen zur UN-KRK haben bereits ergeben, dass eine Beschneidung gegen den Willen eines einsichtsunfähigen Jungen nicht zulässig ist. Entspricht eine Zirkumzision nicht dem Willen des Kindes und ist diese nicht medizinisch indiziert, so ist eine solche insbesondere im Hinblick auf das Mitspracherecht eines Kindes aus Art. 12 UN-KRK unverhältnismäßig und demnach unzulässig. Während die Zirkumzision ohnehin zu 381 Simon, in: Zwangsbehandlung bei Selbstgefährdung, S. 61; Wiesemann, in: Praxisbuch Ethik in der Medizin, S. 318. 382 Stellungnahme des Deutschen Ethikrates, BT-Drs. 19/6887, S. 56. 383 Irblich, Geistige Behinderung 2004, 15 (15). 384 Stellungnahme des Deutschen Ethikrates, BT-Drs. 19/6887, S. 7. 385 Irblich, Geistige Behinderung 2004, 15 (21). 386 Irblich, Geistige Behinderung 2004, 15 (20). 387 Stellungnahme des Deutschen Ethikrates, BT-Drs. 19/6887, S. 56, 60.

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5. Teil: Zulässigkeit und Grenzen von Zwangsmaßnahmen de lege ferenda

Komplikationen und zu einem Trauma führen kann,388 so wird ein solches Trauma bei der Anwendung von Zwang noch verstärkt. Ferner berührt die Maßnahme irreversibel die religiöse und sexuelle Selbstbestimmung des Kindes.389 Aus Gründen der Klarstellung sollte § 1631 d BGB um das Verbot von medizinisch nicht indizierten Zwangsbeschneidungen ergänzt werden. Aus den Gesetzgebungsmaterialien geht zwar ohnehin hervor, dass die Zulässigkeit einer Zirkumzision gegen den Willen eines Kindes nicht bezweckt wurde.390 Um hinreichend Rechtssicherheit zu erzielen, sollte sich dieser Gedanke jedoch in der Norm selbst wiederfinden. Nicht Gegenstand der vorliegenden Arbeit ist hingegen die Frage, ob eine Beschneidung, die mit dem Willen des Kindes übereinstimmt, verfassungsrechtlich erlaubt sein kann, da sich die Untersuchung auf medizinische Maßnahmen in Verbindung mit einem Zwangselement bezieht.391 ee) Erläuterung besonderer Konstellationen Es bleibt letztendlich zu erwägen, ob besondere Fallkonstellationen eine Loslösung von den bisherigen Vorschlägen fordern. Hinsichtlich eines Schwangerschaftsabbruches könnte beispielsweise erwogen werden, ob für diesen spezifischen Fall eine gesonderte Regelung geschaffen werden sollte. Sofern eine Schwangerschaft keine Gefahr für das Kind darstellt, wäre ein Schwangerschaftsabbruch gegen den Willen der Schwangeren nach dem vorgeschlagenen Lösungsmodell zumindest in keinem Fall zulässig. (1) Behandlung psychischer Erkrankungen Als problematisch könnte sich die Zwangsbehandlung von psychischen Erkrankungen erweisen. Es könnte erwogen werden, ob es gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstößt, dass eine Zwangsbehandlung im Rahmen einer öffentlich-rechtlichen Unterbringung nach den jeweiligen landesrechtlichen Regelungen zur Behandlung der Anlasserkrankung zulässig ist, eine ambulante Zwangsbehandlung hingegen nach dem dargelegten Vorschlag nur bei dem Vorliegen einer Gefahr für die Gesundheit oder das Leben eines Kindes. Ist eine ärztliche Maßnahme im Rahmen einer öffentlich-rechtlichen Unterbringung somit früher möglich, sodass Kinder innerhalb einer Unterbringung vorzeitigen Schutz in Form einer Zwangsbehandlung erlangen können? 388

Herzberg, ZIS 2012, 486 (488); Jerouschek, NStZ 2008, 313 (316). Brosius-Gersdorf, in: Dreier, GG, Art. 6 Rn. 163. 390 BT-Drs. 17/11295, S. 18. 391 Es kann jedoch auf folgende Autoren verwiesen werden: Brosius-Gersdorf, in: Dreier, GG, Art. 6 Rn. 163; Herzberg, ZIS 2012, 486; Manok, Die medizinisch nicht indizierte Beschneidung; Peschel-Gutzeit, in: FS Brudermüller, S. 517 ff.; Putzke, NJW 2008, 1568; Schulze, Elternrecht und Beschneidung; Walter, JZ 2012, 1110. 389

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Dies ist zu verneinen: Es besteht eine relativ große Schnittmenge zwischen einer Zwangsbehandlung bei Gefahr und zur Behandlung der Anlasserkrankung, da eine psychisch erkrankte Person nur untergebracht werden darf, wenn und solange durch ihr krankheitsbedingtes Verhalten eine gegenwärtige und erhebliche Gefahr für ihr Leben oder ihre Gesundheit oder für besonders bedeutende Rechtsgüter Dritter besteht und diese Gefahr nicht anders abgewendet werden kann. Sofern aufgrund der psychischen Erkrankung die Gefahr einer Selbstschädigung besteht, ist diese Fallkonstellation unproblematisch unter den Terminus der Gefahr für die physische Gesundheit und das Leben eines Kindes zu subsumieren, sodass eine ambulante Zwangsbehandlung möglich ist. Unter den Begriff der Gesundheit fällt zusätzlich nicht nur das körperliche, sondern daneben das seelische Wohlergehen. Unter der psychischen Gesundheit ist nach Ansicht des WHO-Regionalkomitees für Europa ein Zustand des Wohlbefindens zu verstehen, in dem eine Person ihre Fähigkeiten ausschöpfen, die normalen Lebensbelastungen bewältigen, produktiv arbeiten und etwas zu ihrer Gemeinschaft beitragen kann.392 Bei der Durchführung einer Zwangsbehandlung aufgrund einer Gefahr für die psychische Gesundheit ist jedoch der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu beachten, sodass auch die Schwere der Erkrankung zu berücksichtigen ist. Speziell bei psychischen Erkrankungen müssen zudem bestimmte Behandlungsverbote bei der medizinischen Zwangsbehandlung von Kindern und Jugendlichen berücksichtigt werden. So darf beispielsweise die Therapie mit Elektroschocks keine zulässige Behandlungsform darstellen, sofern ein entgegenstehender Wille vorliegt. Diese Therapieform wird speziell bei Depressionen, bipolaren Störungen oder Schizophrenie eingesetzt, wenn die Behandlung mit Psychopharmaka nicht den gewünschten Erfolg erzielte.393 Die Behandlung mit Elektroschocks, die sich in Europa wieder auf dem Vormarsch befindet,394 kann allerdings nicht nur erhebliche Nebenwirkungen – wie beispielsweise Gedächtnisstörungen, epileptische Anfälle oder das irreversible Zerstören von Gehirnzellen – nach sich ziehen,395 sondern wurde vom Ausschuss für Kinderrechte ausdrücklich als Form der physischen Gewalt bzw. schlechter Behandlung aufgeführt.396 Die Normierung eines konkreten Behandlungsverbotes ist allerdings nicht erforderlich. Insofern empfiehlt sich eine Übertragung der vom BGH vorgeschlagenen Auslegung: Von § 1906 a BGB sind nach dem Wortlaut nur notwendige Behandlungen erfasst. Bei der Beurteilung der Notwendigkeit einer Behandlung muss jedoch ein medizinisch-wissenschaftlicher Konsens vorliegen, welcher bei der Elektrokrampftherapie zu verneinen ist.397

392 393 394 395 396 397

https://lexikon.stangl.eu/14319/psychische-gesundheit (Letzter Aufruf: 1.7.2020). Rufer, in: Statt Psychiatrie, S. 414. Lehmann, in: Neue Antidepressiva, S. 128. Lehmann, R&P 2015, 20 (24); Lehmann, in: Neue Antidepressiva, S. 148 f. CRC, General Comment No. 13, CRC/C/GC/13, Rn. 23 b. BGH, Beschl. v. 15.1.2020 – XII ZB 381/19, BeckRS 2020, 1553.

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5. Teil: Zulässigkeit und Grenzen von Zwangsmaßnahmen de lege ferenda

Als problematisch ist ferner die Verabreichung von Psychopharmaka zu qualifizieren. Besonders in Bezug auf die Gabe von Neuroleptika, welche häufig bei Schizophrenie zum Einsatz kommt, wurde bereits auf die Nebenwirkungen hingewiesen.398 Schon eine kurze Dauer der Einnahme von Neuroleptika kann erhebliche Schäden hervorrufen.399 So werden beispielsweise schädliche Auswirkungen auf die Hirnstruktur vermutet.400 Sie können darüber hinaus eine Beeinträchtigung der intellektuellen Leistungsfähigkeit sowie toxische Delirien hervorrufen, die Gefühlswahrnehmung unterdrücken und Depressionen und Suizidalität bewirken.401 Bei Minderjährigen tritt ein weiteres Problem hinzu: Die klinische Wirkung von Psychopharmaka kann im Kindes- und Jugendalter von der des Erwachsenenalters abweichen.402 So treten bei Kindern und Jugendlichen häufig unvorhersehbare unerwünschte Arzneimittelwirkungen auf. Speziell bei Minderjährigen wird zudem befürchtet, dass Psychopharmaka die psychische Entwicklung eines Kindes beeinträchtigen.403 Darüber hinaus wird angezweifelt, inwiefern Neuroleptika oder andere Psychopharmaka überhaupt imstande sind, die Anlasserkrankungen zu heilen.404 Während der therapeutische Nutzen nicht gesichert nachgewiesen worden ist, besteht zumindest Einigkeit hinsichtlich der erheblichen Risiken, die bis hin zu einer tödlichen Wirkung reichen.405 Lehmann konstatiert demzufolge, dass man bei strikter Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes für die Verbannung von Neuroleptika aus dem „Arsenal psychiatrischer Zwangsmittel“ plädieren müsse.406 Es würde in der Tat den wesentlichen Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit widersprechen, wenn ein Arzt einen Patienten mit Medikamenten behandelt, die erhebliche Nebenwirkungen hervorrufen können, und bei der Behandlung nur die vage Aussicht besteht, dass sich diese positiv auf seine Gesundheit auswirken. Die Wissenschaft ist daher aufgefordert, die Wirkdimensionen von Neuroleptika weiter zu erforschen und den Ärzten die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes aufgrund von fundierten Erkenntnissen aus empirischen Untersuchungen zu erleichtern.

398

S. hierzu 3. Teil B. II. 2. Lehmann/Stastny, in: Statt Psychiatrie, S. 422. 400 Steinert/Vollmann, in: Ethik in der Psychiatrie, S. 66 f. 401 Rufer, in: Statt Psychiatrie, S. 405. 402 Gerlach/Egberts/Taurines/Mehler-Wex, in: Neuro-/Psychopharmaka im Kindes- und Jugendalter, S. 73. 403 Stellungnahme des Deutschen Ethikrates, BT-Drs. 19/6887, S. 7. 404 Lehmann, R&P 2015, 20 (26); Rufer, in: Statt Psychiatrie, S. 404. 405 Rufer, in: Statt Psychiatrie, S. 413. 406 Lehmann, R&P 2015, 20 (23). 399

B. Herleitung eines Reformvorschlags

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(2) Primäre Präventionsmaßnahmen (Impfungen) Ferner könnte in Betracht gezogen werden, ob für den spezifischen Fall von Präventionsmaßnahmen, die die Entstehung einer Krankheit vermeiden, eine Modifizierung des bisherigen Vorschlags erforderlich wäre. Nach dem aufgeführten Reformvorschlag ist eine Zwangsbehandlung nur zulässig, sofern eine konkrete Gefahr für die Gesundheit oder das Leben des Kindes besteht. Die Beurteilung der Gefahr weist sich im Falle von primären Präventionsmaßnahmen – wie zum Beispiel einer Impfung – als problematisch. Zwar besteht für das Kind das Risiko, sich an der Krankheit anzustecken, vor der die Impfung schützen soll, allerdings bleibt zweifelhaft, ob sich dieses Risiko im konkreten Fall auch in überschaubarer Zukunft verwirklichen wird. Für die Annahme einer konkreten Gefahr genügt es nicht, wenn sich die Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts – wenn überhaupt – auf einen Zeitpunkt bezieht, der in ferner Zukunft liegt.407 Es empfiehlt sich daher, für primäre Präventionsmaßnahmen von dem Erfordernis einer konkreten Gefahr abzuweichen. Auch die vom Bundeskabinett geplante Impfpflicht könnte für ein solches Ergebnis sprechen. Zwar betrifft das Gesetz für den Schutz vor Masern und zur Stärkung der Impfprävention nicht die Durchführung der Impfung;408 da den gesetzlichen Vertretern jedoch mit Zwangsgeld gedroht werden kann, sofern ein Nachweis der Masern-Impfung nicht erbracht wird, müsste ihnen zumindest die Möglichkeit offenstehen, ihre Kinder auch gegen ihren Willen impfen zu lassen. Gleichwohl sollte diesem Argument nur eine geringe Gewichtung beigemessen werden, da der Gesetzentwurf mangels hinreichender Beachtung der Grundrechte durchaus kritisch gewürdigt werden kann. Die Einführung einer Impfpflicht, die auch dem Willen der Eltern widersprechen könnte, stellt, wie Rixen zutreffend erkennt, keinen „verfassungsrechtlichen Selbstläufer“ dar.409 Insofern erstaunt es, dass die verfassungsrechtliche Ausgangslage im Gesetzentwurf nur am Rande erörtert wurde. So wurde beispielsweise erkannt, dass die Einführung einer Impfpflicht einen mittelbaren Eingriff in das Recht auf körperliche Unversehrtheit gem. Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG darstellt,410 auf die Grundrechtsbeeinträchtigung des Selbstbestimmungsrechts sowie des Elternrechts gem. Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG wurde jedoch nicht eingegangen.411

407

Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, Rn. 79. BT-Drs. 19/13452, S. 2. 409 Rixen, ZRP 2019, 93 (93). 410 BT-Drs. 19/13452, S. 12. 411 Zur Verhältnismäßigkeit einer solchen Impfpflicht s.: Schaks/Krahnert, MedR 2015, 860; Zuck, ZRP 2017, 118. S. hierzu ebenso die Stellungnahme des Deutschen Ethikrates: https://www.ethikrat.org/fileadmin/Publikationen/Stellungnahmen/deutsch/stellungnahme-imp fen-als-pflicht.pdf (Letzter Aufruf: 1.7.2020). 408

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5. Teil: Zulässigkeit und Grenzen von Zwangsmaßnahmen de lege ferenda

Mangels hinreichender Beachtung der Grundrechte differenziert der Gesetzentwurf auch nicht ausreichend zwischen einwilligungsfähigen und einwilligungsunfähigen Minderjährigen. Stattdessen müssen Minderjährige, die sich in einer Gemeinschaftseinrichtung wie beispielsweise der Schule aufhalten, gegen Masern geimpft werden.412 Eine Zwangsimpfung eines einwilligungsfähigen Kindes lässt sich in Anbetracht von § 630 d Abs. 1 BGB nicht durchsetzen, da für jede ärztliche Maßnahme die Einwilligung des einwilligungsfähigen Kindes erforderlich wäre. Für den Nachweis der Masern-Impfung sind jedoch bei minderjährigen Personen nach dem geplanten Gesetzentwurf die Eltern zuständig.413 Es erscheint aber unverhältnismäßig, wenn den gesetzlichen Vertretern ein Zwangsgeld auferlegt werden könnte, wenngleich sie die Entscheidung des Minderjährigen nicht beeinflussen bzw. erzwingen können. Zwar kann die zuständige Behörde nach dem geplanten Gesetzentwurf auch Ausnahmen zulassen,414 im Sinne von rechtlicher Transparenz wäre es jedoch sinnvoller gewesen, wenn diese Ausnahmen auch umschrieben worden wären. Obwohl die mit der geplanten Impfpflicht verbundene Verhängung von Zwangsgeld in gewissen Konstellationen angesichts sich aufdrängender Zweifel an deren Verhältnismäßigkeit durchaus kritisch gewürdigt werden kann, so empfiehlt es sich doch, eine Impfung gegen den Willen eines einwilligungsunfähigen Kindes, aber mit der Einwilligung der gesetzlichen Vertreter zu ermöglichen. Die Begründung fußt hierbei auf den schwerwiegenden Komplikationen, die im Rahmen des Krankheitsverlaufes auftreten können, vor denen die Impfung schützen soll. Eine Masern-Erkrankung kann beispielsweise schwerwiegende Folgen nach sich ziehen: So erleiden ca. 10 von 10.000 an Masern erkrankte Personen eine Gehirnentzündung.415 Von diesen zehn Erkrankten sterben ein bis zwei Personen.416 Bei ca. zwei bis drei Betroffenen bleiben schwere Folgeschäden wie zum Beispiel eine geistige Behinderung oder Lähmungen zurück.417 Auch die Polio-Erkrankung, für die ein Impfstoff erhältlich ist, kann zu schwerwiegenden Komplikationen wie zum Beispiel bleibenden Lähmungen, Muskelschwund, vermindertem Knochenwachstum sowie Gelenkzerstörung führen.418 Die Mumps-Erkrankung weist ebenso eine schwerwiegende Komplikationsrate auf: Fast zehn Prozent der Erkrankten erleiden aufgrund der Infektion eine Hirn412

BT-Drs. 19/13452, S. 11. BT-Drs. 19/13452, S. 12. 414 BT-Drs. 19/13452, S. 11. 415 https://www.impfen-info.de/impfempfehlungen/fuer-kinder-0-12-jahre/masern/ (Letzter Aufruf: 1.7.2020). 416 Ebenda. 417 Ebenda. 418 https://www.impfen-info.de/impfempfehlungen/fuer-kinder-0-12-jahre/polio-kinderlaeh mung/ (Letzter Aufruf: 1.7.2020). 413

B. Herleitung eines Reformvorschlags

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hautentzündung.419 In seltenen Fällen kann auch eine Bauchspeicheldrüsenentzündung sowie eine Entzündung des Hörnervs auftreten, die zu bleibenden Hörschäden führen kann.420 Führt man sich die erheblichen Komplikationen vor Auge, die Krankheiten wie Masern, Polio oder Mumps hervorrufen können, so wird umso deutlicher, dass es sich bei Impfungen um wichtige Maßnahmen handelt, um schwerwiegenden gesundheitlichen Gefahren vorzubeugen.421 Die Entwicklung von Impfstoffen hat durch den erzielten Schutz vor Infektionskrankheiten insbesondere im hohen Maße zur Verringerung der Kindersterblichkeitsrate beigetragen. Aus diesem Grund sollte auch eine Impfung gegen den Willen eines einwilligungsunfähigen Kindes, welches den Nutzen der Impfung noch nicht begreifen kann, mit der Einwilligung der gesetzlichen Vertreter zulässig sein.422 Bei der Beurteilung der Zulässigkeit von Zwang bei präventiven Maßnahmen muss jedoch der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz beachtet werden. Bei einer Impfung wäre insbesondere zu berücksichtigen, welche Nebenwirkungen diese hervorrufen kann. Die zwangsweise Injektion einer Masern-Impfung wäre beispielsweise verhältnismäßig, da diese Schutzimpfung ein günstiges „Nutzen-Risiko-Verhältnis“ aufweist.423 Während Masern schwerwiegende Komplikationen hervorrufen können, sind die Nebenwirkung der Impfung sehr gering.424 Bei etwa 5 von 100 Geimpften treten in den ersten drei Tagen nach der Injektion der Impfung lokale Schwellungen an der Einstichstelle auf oder es treten kurzfristige milde Allgemeinsymptome wie leichte bis mäßige Temperaturerhöhung, Kopfschmerzen, Mattigkeit oder MagenDarm-Beschwerden ein.425 Schwerwiegende Nebenwirkungen sind hingegen selten: Vereinzelt kann es bei Säuglingen und Kleinkindern zu einem Fieberkrampf kommen, der in der Regel keine Folgen verursacht.426 Auch allergische Reaktionen sind ebenso wie länger andauernde Gelenkentzündungen möglich.427 Zum Teil wird als sehr seltene Nebenwirkung auch eine mögliche Gehirnentzündung für möglich gehalten; allerdings kann ein Zusammenhang mit der Masern-Impfung bisher nicht bewiesen werden.428 Um die schwerwiegenden Folgen, die eine Masern-Erkrankung 419 https://www.impfen-info.de/impfempfehlungen/fuer-kinder-0-12-jahre/mumps/ (Letzter Aufruf: 1.7.2020). 420 Ebenda. 421 Stellungnahme des Deutschen Ethikrates zur Impfpflicht, S. 7, abrufbar unter https:// www.ethikrat.org/fileadmin/Publikationen/Stellungnahmen/deutsch/stellungnahme-impfen-alspflicht.pdf (Letzter Aufruf: 1.7.2020). 422 Ebenda. 423 BT-Drs. 19/13452, S. 25. 424 Ebenda. 425 https://www.impfen-info.de/impfempfehlungen/fuer-kinder-0-12-jahre/masern/ (Letzter Aufruf: 1.7.2020). 426 Ebenda. 427 Ebenda. 428 Ebenda.

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5. Teil: Zulässigkeit und Grenzen von Zwangsmaßnahmen de lege ferenda

verursachen kann, zu vermeiden, sollte daher die Impfung gegen den Willen eines einwilligungsunfähigen Kindes im Ergebnis zulässig sein. Bei der Beurteilung der Zulässigkeit von Zwang bei präventiven Maßnahmen sollten ferner die Partizipationsrechte eines Kindes berücksichtigt werden. Die Kinder müssen auch vor der Injektion der Impfung angehört werden. Sofern diese die Impfung ablehnen, muss zuvor ernsthaft, mit dem nötigen Zeitaufwand und ohne Ausübung unzulässigen Drucks versucht werden, das Kind von der Maßnahme zu überzeugen. Da Impfungen in der Regel nicht dringlich sind, erweist sich eine Zwangsbehandlung als unverhältnismäßig, sofern es sich um den ersten Versuch einer Impfung handelt. Vielmehr muss in derartigen Fällen ein neuer Termin vereinbart werden, um den gesetzlichen Vertretern Zeit zu geben, das Kind von der Behandlung zu überzeugen. 2. Veto-Rechte In der Literatur wird zum Teil die Einführung von Veto-Rechten eines Kindes bei bestimmten Behandlungsmaßnahmen empfohlen.429 Ein solches Veto-Recht wird beispielsweise für aufschiebbare Behandlungen befürwortet.430 Amelung schlägt ferner vor, einem Einwilligungsunfähigen ein Widerspruchsrecht zu gewähren, sofern ihm ein gravierender körperlicher Verlust zugefügt werden solle und er in der Lage ist, das Ausmaß dieses Verlustes zu erfassen.431 Eine Ausnahme bestehe jedoch bei einer Lebensgefahr.432 Die Idee eines Veto-Rechts ist nicht zuletzt auf eine Entscheidung des BGH aus dem Jahr 2006 zurückzuführen. Der BGH stellte fest, dass hinsichtlich der Entfernung einer Missbildung aufgrund einer Adoleszentenskoliose durch eine Operation bei einer 15-Jährigen die Einwilligungszuständigkeit bei den gesetzlichen Vertretern liege.433 Einem Jugendlichen sei aber zumindest, wenn er ausreichend urteilsfähig ist, ein Veto-Recht gegen die Fremdbestimmung zuzubilligen, sofern es sich um einen nur relativ indizierten Eingriff mit der Möglichkeit erheblicher Folgen für die künftige Lebensgestaltung handelt.434 Die Entscheidung des BGH wirft allerdings 429 Coester-Waltjen, MedR 2012, 553 (559); Biermann, in: Ulsenheimer, Arztstrafrecht in der Praxis, Rn. 425; Golbs, Das Vetorecht eines einwilligungsunfähigen Patienten, S. 194 ff; Huber, in: Münchener Kommentar BGB, § 1626 Rn. 44; Koch, in: Lexikon Medizin, Ethik, Recht, S. 604; Spickhoff, Medizinrecht, § 630 d BGB Rn. 7; Sternberg-Lieben, in: FS Lenckner, S. 361; Ulsenheimer, in: Therapieverweigerung bei Kindern und Jugendlichen, S. 88; Wölk, MedR 2001, 80 (88). 430 Bernsmann/Geilen, in: Wenzel, Medizinrecht, Kap. 4 Rn. 431; Paino-Staber, Gesetzliche Stellvertretung naher Angehöriger, S. 151; Spickhoff, Medizinrecht, § 630 d BGB Rn. 7; Ulsenheimer, in: Therapieverweigerung bei Kindern und Jugendlichen, S. 88. 431 Amelung, Vetorechte, S. 25, 29. 432 Amelung, Vetorechte, S. 25. 433 BGH, Urt. v. 18.4.2007 – IV ZR 279/05 = NJW 2007, 217 (218). 434 Ebenda.

B. Herleitung eines Reformvorschlags

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mehr Fragen als Erkenntnisse auf, sodass sie nicht als Fundament für die Idee eines Veto-Rechts herangezogen werden sollte. Unklar bleibt aufgrund der fehlenden Erläuterung des Begriffs der Urteilsfähigkeit beispielsweise, welche Anforderungen an eine solche „Vetofähigkeit“ zu stellen sind. Es ist schon nicht ersichtlich, ob der Terminus der Urteilsfähigkeit gleichbedeutend mit der Einwilligungsfähigkeit ist oder ob sich die kindliche Reife lediglich auf eine Vetofähigkeit beziehen muss, die unter der Schwelle der Einwilligungsfähigkeit liegt. Das Problem des Veto-Rechts betrifft spiegelbildlich ohnehin die Frage, wann eine Zwangsbehandlung unzulässig ist. Dies wurde im vorherigen Kapitel bereits beantwortet. Damit wird zugleich deutlich, warum die Einführung von Veto-Rechten überflüssig ist. Es ist sicherlich sinnvoll, Zwangsbehandlungen Grenzen zu setzen, was aus dem vorherigen Kapitel bereits deutlich geworden ist. Allerdings verkompliziert die Einführung von Ablehnungs-Rechten die Materie, da sie auf die Feststellung einer Veto-Fähigkeit angewiesen ist. Ein Veto-Recht ist daher im Ergebnis abzulehnen.435 3. Genehmigungsvorbehalt a) Zwangsmaßnahmen innerhalb einer Unterbringung Wie bereits im vorherigen Kapitel436 festgestellt, erfordert Art. 25 Abs. 1 UNKRK eine regelmäßige Überprüfung von medizinischen Zwangsbehandlungen, die im Rahmen einer Unterbringung stattfinden. Obwohl Art. 25 UN-KRK nicht zwingend eine gerichtliche Überprüfung verlangt,437 würde eine Erweiterung von § 1631 b BGB um das Genehmigungserfordernis bei medizinischen Zwangsbehandlungen einen einheitlichen Lösungsweg ermöglichen, da gemäß § 1631 b BGB eine gerichtliche Genehmigung bereits für die Freiheitsentziehung selbst sowie für freiheitsentziehende Maßnahmen vorliegen muss.438 Darüber hinaus würde die Überprüfung durch eine vom Erziehungsberechtigten und vom Kind unabhängige Person ein hohes Schutzniveau garantieren. Gleichzeitig hätte die Einbeziehung von medizinischen Zwangsmaßnahmen im Rahmen von § 1631 b BGB gemäß § 1696 Abs. 2 BGB i. V. m. § 166 Abs. 2 FamFG eine regelmäßige Überprüfung von 435 Ebenso Gleixner-Eberle, Die Einwilligung in die medizinische Behandlung, S. 322; Rothärmel, Einwilligung, Veto, Mitbestimmung, S. 196; Rothärmel/Dippold/Wiethoff/Wolfslast/Fegert, Patientenaufklärung, S. 33. 436 S. hierzu 5. Teil A. III. 1. 437 Kirchhof, Die UN-Konvention, S. 304. 438 Ein gerichtliches Genehmigungserfordernis für medizinische Zwangsbehandlungen befürworten ebenso: Hoffmann, NZFam 2015, 985 (989); dies., ZRP 2016, 242 (243); Götz, in: Palandt, § 1631 b Rn. 1; dies., FamRZ 2017, 1289 (1294 f.); Keuter, ZKJ 2017, 307 (310). Lorenz plädiert zudem für ein gerichtliches Genehmigungserfordernis für jegliche medizinischen Behandlungen: Lorenz, NZFam 2017, 782 (788). Höfling befürwortet die Einführung eines gerichtlichen Genehmigungsvorbehaltes für medizinisch nicht indizierte Maßnahmen: Höfling, in: HStR VII, § 155 Rn. 82.

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5. Teil: Zulässigkeit und Grenzen von Zwangsmaßnahmen de lege ferenda

länger andauernden ärztlichen Maßnahmen gegen den Willen eines Kindes zur Folge, wodurch der deutsche Gesetzgeber dem Regelungsgehalt von Art. 25 UN-KRK in jeder Hinsicht gerecht werden würde. Die Praxis in der jeweiligen Unterbringung wird als solche sichtbar sowie kontrollierbar gemacht.439 Dies ist insbesondere wichtig, weil die Einwilligung der gesetzlichen Vertreter oft unter Druck erfolgt.440 Ein gerichtliches Genehmigungserfordernis hätte ferner den weiteren Vorteil, dass ein Ort zur Klärung der Einsichtsfähigkeit geschaffen werden würde.441 Dass der Gesetzgeber bisher auf ein Genehmigungserfordernis für medizinische Zwangsbehandlungen verzichtete, erscheint in Bezug auf das bisherige Schutzsystem für Minderjährige ohnehin wenig einleuchtend, da zahlreiche Rechtsgeschäfte, die ein gesetzlicher Vertreter für einen Minderjährigen abzuschließen bezweckt, einem Genehmigungsvorbehalt unterliegen. So bedarf es beispielsweise gemäß § 1643 Abs. 1 BGB i. V. m. § 1821 BGB der Genehmigung für Geschäfte über Grundstücke.442 Des Weiteren ist eine familiengerichtliche Genehmigung gemäß § 1643 Abs. 2 S. 1 BGB für die Ausschlagung einer Erbschaft vonnöten. So begrüßenswert das Vorgehen des Gesetzgebers im Hinblick auf die Sicherung der vermögenswerten Rechte des Kindes ist, desto fragwürdiger ist die Entscheidung, den Bereich der medizinischen Behandlung nahezu ungeregelt zu lassen. Wie Belling bereits feststellte, werde die Existenz des Menschen nicht nur durch die Teilnahme am Rechtsverkehr und durch die Vornahme von Vermögensverfügungen geprägt; von viel größerer Tragweite sei ein Eingriff in die körperliche Integrität oder das Persönlichkeitsrecht.443 Spätestens als der Gesetzgeber ein Genehmigungserfordernis für freiheitsentziehende Maßnahmen in die Norm des § 1631 b BGB integrierte, hätte man sich ebenso über die medizinische Zwangsbehandlung Gedanken machen müssen, da jede vom Bundestag vorgebrachte Argumentation für die Erweiterung von § 1631 b BGB gleichermaßen auf die medizinische Zwangsbehandlung übertragbar ist.444 So ähnelt sich beispielsweise bereits die umschriebene Grundrechtssituation (Beziehung von Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG, Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG zu Art. 6 Abs. 2 GG).445 Ferner wird angeführt, dass freiheitsentziehende Maßnahmen mindestens ebenso schwerwiegend und belastend seien wie eine genehmigungspflichtige Unterbringung.446 Auch medizinische Behandlungen gegen den Willen eines Kindes im Rahmen einer Unterbringung können sich äußerst belastend auf den betroffenen Patienten auswirken, 439

Lorenz, NZFam 2017, 782 (788). Stellungnahme des Deutschen Ethikrates, BT-Drs. 19/6887, S. 7. 441 Lorenz, NZFam 2017, 782 (788). 442 Weitere Genehmigungserfordernisse sind in § 1643 I BGB i. V. m. § 1822 Nr. 1, 3, 5, 8 bis 11 BGB aufgezählt. 443 Belling, Das Selbstbestimmungsrecht Minderjähriger, S. 2. 444 Götz, FamRZ 2017, 1289 (1295). 445 Vgl. BT-Drs. 18/11278, S. 10. 446 Ebenda. 440

B. Herleitung eines Reformvorschlags

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sodass eine vergleichbare Sachlage wie bei einer freiheitsentziehenden Maßnahme vorliegt. Ebenso spricht der befürwortete „Gleichlauf vom Kindesschutz und Erwachsenenschutz“447 für die Ausdehnung von § 1631 b, da das Erwachsenenrecht – speziell das Betreuungsrecht – durch die Einführung von § 1906 a BGB bereits seit einigen Jahren eine gesetzliche Grundlage für die medizinische Zwangsbehandlung aufweist. Die Erweiterung von § 1631 b BGB um einen Genehmigungsvorbehalt für medizinische Zwangsbehandlungen gliedert sich daher bestmöglich in das bisherige Schutzsystem ein. Dass ein Genehmigungserfordernis für ärztliche Maßnahmen gegen den Willen eines Kindes die Abläufe in den Unterbringungseinrichtungen verzögern wird, scheint auf der Hand zu liegen. Gleichwohl erübrigt sich ein Widerstand gegen die Erweiterung von § 1631 b BGB aufgrund der eindeutigen Regelung von Art. 25 UNKRK. Wenn Deutschland als Vertragsstaat der UN-Kinderrechtskonvention einen hinreichenden Mindestschutz von Kindern und Jugendlichen verspricht, so müssen die hierfür erforderlichen Maßnahmen umgehend umgesetzt werden. Zudem gilt ein solches Genehmigungserfordernis nur für medizinische Zwangsbehandlungen, da diese aufgrund der damit einhergehenden psychischen Belastung einen besonders gewichtigen Umstand für den jeweiligen Patienten darstellen. Sofern der minderjährige Patient aufgrund einer ordnungsgemäßen und insbesondere kindgerechten Aufklärung von der Notwendigkeit der Behandlung überzeugt werden kann, erübrigt sich das Genehmigungserfordernis. Neben der gerichtlichen Genehmigung aufgrund einer Erweiterung von § 1631 b BGB sind ferner die zuvor festgestellten allgemeinen Prämissen einer Zwangsbehandlung zu berücksichtigen. b) Ambulante Zwangsmaßnahmen aa) Grundsatz Neben dem Genehmigungsvorbehalt für Zwangsbehandlungen im Rahmen einer Unterbringung könnte in gleicher Weise erwogen werden, einen solchen Vorbehalt für ambulante Behandlungen gegen den Willen eines einsichtsunfähigen Kindes in das BGB zu etablieren. Einer solchen Überlegung muss jedoch im Sinne des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes eine Absage erteilt werden. Das gerichtliche Genehmigungserfordernis für jegliche Zwangsbehandlungen – unabhängig von der Intensität des Eingriffs – erwiese sich nicht nur als unpraktisch, sondern würde ebenfalls zu einer erheblichen Belastung der Gerichte führen. Ein im Grundsatz ausreichender Schutzstandard kann bereits erzielt werden, wenn der Gesetzgeber eine Norm schafft, in der die entwickelten allgemeinen Voraussetzungen der Zulässigkeit von Behandlungen gegen den Willen eines Kindes normiert werden. Ein Genehmigungsvorbehalt für jegliche Zwangsbehandlungen würde aufgrund der 447

BT-Drs. 18/11278, S. 10.

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5. Teil: Zulässigkeit und Grenzen von Zwangsmaßnahmen de lege ferenda

fehlenden Praktikabilität mehr Nachteile als Vorteile nach sich ziehen. Im Gegensatz zu einer ärztlichen Behandlung gegen den Willen eines Kindes im Rahmen einer Unterbringung erweist sich eine ambulante Zwangsbehandlung als weniger psychisch belastend, da sich das Kind nicht dauerhaft in einer fremden Unterkunft befindet, in der insbesondere der Schutz aufgrund der Einflussnahme und Kontrolle durch die gesetzlichen Vertreter nicht in gleicher Weise gegeben ist. Es ist daher durchaus sinnvoll, den Genehmigungsvorbehalt für Zwangsbehandlungen im Rahmen von Unterbringungseinrichtungen einzuführen, nicht hingegen pauschal für ambulante Zwangsbehandlungen. bb) Ambulante Zwangsbehandlung psychisch Kranker Zu erwägen wäre jedoch, ob es gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstößt, dass Kinder im Rahmen von Unterbringungen aufgrund der Einführung eines Genehmigungsvorbehaltes intensiver vor Zwangsbehandlungen geschützt sind als Kinder außerhalb einer Unterbringung. Allerdings rechtfertigt auch hier die höhere Belastungssituation die ungleiche Behandlung. cc) Besondere Schwere des Eingriffs Es könnte in Anlehnung an § 1904 BGB lediglich erwogen werden, einen Genehmigungsvorbehalt für besonders intensive Maßnahmen mit erheblichen Folgen vorzusehen.448 Gemäß § 1904 Abs. 1 BGB bedarf die Einwilligung des Betreuers in eine Untersuchung des Gesundheitszustands, eine Heilbehandlung oder einen ärztlichen Eingriff der Genehmigung des Betreuungsgerichts, wenn die begründete Gefahr besteht, dass der Betreute auf Grund der Maßnahme stirbt oder einen schweren und länger dauernden gesundheitlichen Schaden erleidet. Eine solche Regelung könnte im Sinne des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes derart modifiziert werden, dass nur bei Ausübung von ärztlichem Zwang eine Genehmigung des Familiengerichts vonnöten ist. Befürworten hingegen die gesetzlichen Vertreter und das Kind gemeinsam die risikoreiche Behandlung, so spricht wenig dafür, eine unabhängige Person die Entscheidung erneut bestätigen zu lassen. Problematisch an einer solchen Erwägung ist allerdings, dass selbst bei Routineoperationen die Gefahr des Todes bestehen kann.449 Ein hinreichendes Schutzniveau kann zudem bereits garantiert werden, wenn die Voraussetzungen – inklusive des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes – einer Zwangsbehandlung normiert werden.

448 Höfling bringt diesen Vorschlag für besonders gravierende, nicht bzw. nur schwer revidierbare Interventionen ein: Höfling, in: Die Verbesserung des Menschen, S. 126. 449 Brückner, Das medizinische Selbstbestimmungsrecht Minderjähriger, S. 134.

B. Herleitung eines Reformvorschlags

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4. Ergebnis In der Literatur wird zum Teil die Ansicht vertreten, die Schaffung von speziellen Kinderrechten sei aufgrund von rechtlichen Schutzlücken nicht geboten.450 Dem muss jedoch in aller Deutlichkeit widersprochen werden. Stattdessen ist derzeit mangels konkreter Regelung eine erhebliche Schutzlücke zu verzeichnen. Die Schutzpflichten des Staates aber auch die UN-KRK und UN-BRK verlangen ein Handeln des Gesetzgebers, um diese Lücke zu schließen. Dass die zuvor dargelegten Vorschläge auf Kritik stoßen werden, ist voraussehbar. Insbesondere die Praktikabilität könnte in den Mittelpunkt der Kritik rücken. Argumente der Praktikabilität müssen jedoch in grundrechtlich besonders relevanten Bereichen zurücktreten. Eine neu zu schaffende Regelung würde zudem zu keinem erheblichen Eingriff in das Elternrecht führen. Eltern bleibt die Möglichkeit, Kinder von einer Maßnahme zu überzeugen, anstatt sie gegen ihren Willen durchzusetzen. Das Recht der gesetzlichen Vertreter, in eine medizinische Maßnahme einzuwilligen, sofern das Kind noch nicht die erforderliche Urteilsfähigkeit besitzt, bleibt schließlich unberührt. Kann ein Kind von einer Maßnahme überzeugt werden, so ist die Behandlung möglich. Der Arzt sollte lediglich in einem Gespräch sicherstellen, dass das Kind ohne die Ausübung unzulässigen Drucks überzeugt wurde. Durch die Einführung des Gefahrenbegriffs besteht ebenfalls nicht das Risiko, dass das Kind einen Schaden erleidet. Es bleibt Ärzten daher aufgrund der dargelegten Reformvorschläge keineswegs verwehrt, Kinder im Sinne einer guten Entwicklung zu behandeln. Eine gute Entwicklung impliziert allerdings auch die Vermeidung von Traumata, die durch die Anwendung von Zwang hervorgerufen werden. Die Etablierung höherer Voraussetzungen, die an die Rechtmäßigkeit einer Zwangsbehandlung gestellt werden, kann zudem einen weiteren positiven Nebeneffekt herbeiführen: Statt direkt das früher wohl zulässige Mittel der Zwangsbehandlung zu ergreifen, muss eine hinreichende Auseinandersetzung mit dem Kind stattfinden. Trotz der Zulässigkeit von Zwangsbehandlungen sollte die Anwendung von Zwang in der Praxis auf ein Minimum reduziert werden. „Es darf nicht übersehen werden, daß auch die fürsorglichste Fremdbestimmung durch die gesetzlichen Vertreter immer noch eine Fremdbestimmung ist.“451

Alderson hielt zutreffend fest, dass wahre Fürsorge gewiss nicht mit Zwang operiere.452 Es ist daher die Aufgabe aller Verantwortlichen, zu denen insbesondere auch die Ärzte und gesetzlichen Vertreter zählen, auf die Anwendung von Zwang zu verzichten. Der Schlüssel zur Vermeidung von Zwangsbehandlungen liegt vor allem 450

Brückner, Das medizinische Selbstbestimmungsrecht Minderjähriger, S. 132 f. Wölk, MedR 2001, 80 (88 f.). 451 Wölk, MedR 2001, 80 (84). 452 Alderson, in: Das Kind als Patient, S. 46.

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5. Teil: Zulässigkeit und Grenzen von Zwangsmaßnahmen de lege ferenda

in der Zeit. Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e.V. (DGPPN) konstatierte, dass dem Ausschöpfen aller möglichen kommunikativen und vertrauensbildenden Maßnahmen ein hoher Stellenwert zur Vermeidung von Zwang zukommt.453 Dies gilt nicht nur für Behandlungen gegen den Willen eines Patienten im Rahmen einer Unterbringung, sondern ebenfalls für ambulante Zwangsbehandlungen. Ferner ist es speziell für psychiatrische Einrichtungen notwendig, den erheblichen Handlungsbedarf in Bezug auf strukturierte Schulungen für die beteiligten Berufsgruppen anzubieten.454 Hierbei geht es nicht primär um die Wissensvermittlung, sondern daneben um die Schärfung der moralischen Urteilskraft.455 Studien haben ergeben, dass die Einstellung von Mitarbeitern zum Umgang mit Zwang einen wichtigen Faktor zur Ausgestaltung der Zwangspraxis darstellt.456 Positiv erscheint darüber hinaus die Vorgehensweise in Berlin, Baden-Württemberg, Hamburg und Nordrhein-Westfalen in der öffentlichen Unterbringung, da dort die Nachbesprechung von Zwangsbehandlungen normiert ist, welche das Vertrauensverhältnis wiederherstellen und zukünftige Zwangsbehandlungen damit vermeiden sollen.457 Eine Minderung von Zwang können jedoch nicht nur die behandelnden Ärzte leisten, sondern insbesondere für psychiatrische Einrichtungen muss ebenso die Politik die richtigen Werte vermitteln. Wenn gerade dem Zeitfaktor ein wichtiger Stellenwert zur Verminderung von Zwang zukommt, dürfen die Kosteneffizienzanforderungen nicht angehoben werden.458 Auch der Deutsche Ethikrat postuliert, dass eine Finanzierung von Einrichtungen so beschaffen sein sollte, dass eine an Kinderrechten orientierte Pädagogik ermöglicht werde.459 Begrüßenswert wären zudem klare Leitlinien, die Ärzten den Umgang mit Zwang erleichtern. Es sollte im Interesse aller Akteure liegen, die Anwendung von Zwang – trotz ihrer in Grenzen gehaltenen Zulässigkeit – auf ein Minimum zu reduzieren.

453 454 455 456 457 458 459

DGPPN, Der Nervenarzt 2014, 1419 (1428). Ebenda. DGPPN, Der Nervenarzt 2014, 1419 (1428). Deutsches Institut für Menschenrechte, BT-Drs. 19/6493, S. 80. Deutsches Institut für Menschenrechte, BT-Drs. 19/6493, S. 69. DGPPN, Der Nervenarzt 2014, 1419 (1428). Stellungnahme des Deutschen Ethikrates, BT-Drs. 19/6887, S. 92.

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III. Zusammenfassung Die bisherigen Ergebnisse könnten folgendermaßen legislativ umgesetzt werden: Zum einen wird vorgeschlagen § 1631 b BGB um einen dritten Absatz zu ergänzen: „(3) Die Genehmigung des Familiengerichts ist auch erforderlich, wenn bei dem Kind, das sich in einem Krankenhaus, einem Heim oder einer sonstigen Einrichtung aufhält, eine medizinische Zwangsbehandlung durchgeführt werden soll. Absatz 1 Satz 2 und 3 gilt entsprechend. Die Regelung von § 1631 f BGB bleibt unberührt.“460

§ 1631 d Abs. 1 BGB soll aus Gründen der Klarstellung um das Verbot einer Zirkumzision gegen den Willen des Kindes ergänzt werden: „Die Personensorge umfasst auch das Recht, in eine medizinisch nicht erforderliche Beschneidung des nicht einsichts- und urteilsfähigen männlichen Kindes einzuwilligen, wenn diese nach den Regeln der ärztlichen Kunst durchgeführt werden soll. Dies gilt nicht, wenn durch die Beschneidung unter Berücksichtigung ihres Zwecks das Kindeswohl gefährdet wird oder die Beschneidung dem Willen des Kindes widerspricht.“

Ferner wird die Einführung eines neuen Paragraphen im Kindschaftsrecht – § 1631 e BGB – empfohlen: „(1) Die Einwilligung in eine Untersuchung des Gesundheitszustands, eine Heilbehandlung oder in einen ärztlichen Eingriff kann, soweit gesetzlich nichts anderes bestimmt ist, ein Kind selbst erteilen, wenn es fähig ist, Grund und Bedeutung der Heilbehandlung einzusehen und seinen Willen hiernach zu bestimmen (Einwilligungsfähigkeit). Die Regelungen des Behandlungsvertrags nach §§ 630 a ff. BGB bleiben insofern unberührt. (2) Besteht hinsichtlich des Vorliegens der Einwilligungsunfähigkeit Uneinigkeit zwischen dem Arzt, dem minderjährigen Patienten und dem gesetzlichen Vertreter, so kann dem Familiengericht auf Antrag die Entscheidung übertragen werden, sofern der Entscheidung eine besondere Bedeutung zukommt. (3) Hat ein einwilligungsfähiger Minderjähriger für den Fall einer nachfolgend eintretenden Einwilligungsunfähigkeit schriftlich festgelegt, ob er in bestimmte, zum Zeitpunkt der Festlegung noch nicht unmittelbar bevorstehende Untersuchungen seines Gesundheitszustands, Heilbehandlungen oder ärztliche Eingriffe einwilligt oder sie untersagt (Patientenverfügung), prüft der gesetzliche Vertreter, ob diese Festlegungen auf die aktuelle Lebens- und Behandlungssituation zutreffen. Ist dies der Fall, hat der gesetzliche Vertreter dem Willen des Vertretenen Ausdruck und Geltung zu verschaffen. Eine Patientenverfügung kann jederzeit formlos widerrufen werden.“

Darüber hinaus wird vorgeschlagen § 1631 f BGB einzuführen. Aus dieser Norm soll hervorgehen, unter welchen Voraussetzungen eine Zwangsbehandlung durchgeführt werden kann.

460 Aufgrund der Erweiterung von § 1631 b BGB müssten dann ebenso die verfahrensrechtlichen Vorschriften, insbesondere § 151 Nr. 7 FamFG sowie § 167 Abs. 1 S. 1 FamFG, ergänzt werden.

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5. Teil: Zulässigkeit und Grenzen von Zwangsmaßnahmen de lege ferenda

„(1) Widerspricht eine Heilbehandlung oder ein ärztlicher Eingriff dem natürlichen Willen eines Kindes (ärztliche Zwangsmaßnahme461), so kann der gesetzliche Vertreter in die ärztliche Zwangsmaßnahme nur einwilligen, wenn 1. das Kind einwilligungsunfähig ist, 2. sofern die ärztliche Zwangsmaßnahme zum Wohl des Kindes notwendig ist, um eine Gefahr für die Gesundheit oder das Leben des Kindes abzuwenden, 3. die Maßnahme geeignet ist, um die Gefahr für die Gesundheit oder das Leben des Kindes abzuwenden, 4. die Gefahr nicht durch andere den Patienten weniger belastende Maßnahme abgewendet werden kann und der zu erwartende Nutzen der ärztlichen Zwangsmaßnahme die zu erwartenden Beeinträchtigungen übersteigt, 5. das Kind ggf. durch behindertengerechte oder altersgemäße Hilfe angehört wurde und seine Ansicht im Entscheidungsprozess berücksichtigt wurde, 6. zuvor ernsthaft, mit dem nötigen Zeitaufwand und ohne Ausübung unzulässigen Drucks versucht wurde, den Minderjährigen von der Notwendigkeit der ärztlichen Maßnahme zu überzeugen. Eine wirksame Patientenverfügung ist zu beachten. Die Durchführung von Vorsorgeuntersuchungen und von Untersuchungen zur Krankheitsfrüherkennung bleiben von S. 1 jedoch unberührt. (2) Unter den Voraussetzungen von Abs. 4 Nr. 1 und Nr. 3 – 6 kann der gesetzliche Vertreter in eine ärztliche Zwangsmaßnahme, die dem natürlichen Willen eines Kindes widerspricht, einwilligen, sofern die Maßnahme bezweckt, die Entstehung von Krankheiten zu verhindern (primäre Prävention).“

Diese Regelungsvorschläge würden ebenfalls für die Vormundschaft und Pflegschaft gelten. Ein zusätzlicher Verweis ist im Hinblick auf § 1800 S. 1 BGB und § 1915 Abs. 1 S. 1 BGB jedoch überflüssig.

IV. Rechtliche Einordnung der Fallbeispiele de lege ferenda Im vorherigen Kapitel wurde der Versuch unternommen, die Rechtslage de lege lata durch fiktive Fallbeispiele zu veranschaulichen.462 Das Ergebnis ist ernüchternd, da die bisherige Gesetzeslage keine eindeutige Antwort auf die Frage geben kann, wie mit den dargestellten oder ähnlichen Fallkonstellationen umgegangen werden muss. Aus § 630 d BGB ergibt sich lediglich, dass eine Behandlung gegen den Willen des minderjährigen Patienten nicht zulässig wäre, sofern der behandelnde Arzt diesen als einwilligungsfähig qualifizieren würde. Durch die zuvor aufgeführten Reformvorschläge würde man dem Arzt eindeutige Leitlinien für die medizinische Zwangsbehandlung von einwilligungsunfähigen Kindern zur Hand geben. 461

Es wird bewusst der Terminus der Zwangsmaßnahme gewählt, da in der Literatur umstritten ist, ob eine Zwangsernährung unter den Begriff der Zwangsbehandlung fällt: Steinert, in: Verantwortung und Zurechnung, S. 175. 462 S. hierzu 3. Teil A. V.

B. Herleitung eines Reformvorschlags

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1. Fall A Für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer Impfung gegen den Willen eines Kindes (Fall A) müsste der Arzt zunächst klären, ob der minderjährige Patient einwilligungsfähig ist. Stuft der Mediziner diesen als einwilligungsunfähig ein, so richtet sich die Zulässigkeit einer Zwangsbehandlung nach § 1631 f Abs. 2, Abs. 1 Nr. 1, 3 – 6 BGB. Danach kann der gesetzliche Vertreter in eine ärztliche Zwangsmaßnahme, die dem natürlichen Willen eines Kindes widerspricht, einwilligen, sofern die Maßnahme bezweckt, die Entstehung von Krankheiten zu verhindern. Da eine Impfung die Entstehung von Krankheiten verhindern soll, wäre eine Zwangsbehandlung grundsätzlich rechtmäßig. Es müsste jedoch zuvor ernsthaft, mit dem nötigen Zeitaufwand und ohne Ausübung unzulässigen Drucks versucht werden, den Minderjährigen von der Notwendigkeit der ärztlichen Maßnahme zu überzeugen. Die Intensität des nötigen Zeitaufwandes hängt vom jeweiligen Einzelfall ab. Hierbei ist insbesondere die Dringlichkeit der Behandlung zu berücksichtigen. Entscheidend ist der Zeitraum, der den behandelnden Ärzten vor der Realisierung der Gefahr aus einer erheblichen Selbstschädigung des Patienten bleibt.463 Da mit Impfungen in der Regel keine besondere Dringlichkeit einhergeht, sollte der Arzt zwar versuchen, das Kind zu überzeugen, die Impfung jedoch erst an einem anderen Termin durchführen, wenn der Versuch der Impfung fehl schlägt. 2. Fall B Auch im Fall B, in dem eine Minderjährige eine lebenswichtige Chemotherapie ablehnt, müsste zunächst festgestellt werden, ob die Minderjährige einwilligungsfähig ist. Besteht hinsichtlich des Vorliegens der Einwilligungsunfähigkeit Uneinigkeit zwischen dem Arzt, der minderjährigen Patientin und dem gesetzlichen Vertreter, so könnte gem. § 1631 e Abs. 2 BGB dem Familiengericht auf Antrag die Entscheidung übertragen werden. Gelangt der Mediziner zu dem Ergebnis, dass die Minderjährige einwilligungsunfähig ist, so richtet sich die Rechtmäßigkeit einer Zwangsbehandlung nach § 1631 f Abs. 1 BGB. Die Einwilligung der gesetzlichen Vertreter in eine solche Behandlung wäre nach dieser Norm nur zulässig, sofern eine Gefahr für die Gesundheit oder das Leben eines Kindes besteht und die Maßnahme dem Kindeswohl entspricht, die Maßnahme geeignet ist, um einen Schaden für die Gesundheit oder das Leben des Kindes abzuwenden, der gesundheitliche Schaden nicht durch andere den Patienten weniger belastende Maßnahme abgewendet werden kann und der zu erwartende Nutzen der ärztlichen Zwangsmaßnahme die zu erwartenden Beeinträchtigungen übersteigt. Das Vorliegen einer Gefahr für das Leben der Jugendlichen kann unstreitig bejaht werden. Zu diskutieren wäre jedoch, ob sich die Maßnahme auch als verhältnismäßig erweist. Dies könnte sich als problematisch erweisen, 463

Spickhoff, Medizinrecht, § 1906 a BGB Rn. 9.

214

5. Teil: Zulässigkeit und Grenzen von Zwangsmaßnahmen de lege ferenda

sofern wie vorliegend nur eine Heilungschance von 20 % besteht. Gleichzeitig müsste jedoch auch beachtet werden, dass das Kind ohne eine Behandlung sterben würde. Aufgrund der gesicherten Gefahr des Todes würde sich in diesem Fall eine Zwangsbehandlung als verhältnismäßig erweisen. Sofern die gesetzlichen Vertreter mithin trotz des entgegenstehenden Willens der Minderjährigen in die Vornahme einer Chemotherapie einwilligen, müsste das Kind zuvor gem. § 1631 f Abs. 1 BGB angehört werden. Zudem müsste zuvor ernsthaft, mit dem nötigen Zeitaufwand und ohne Ausübung unzulässigen Drucks versucht werden, den Minderjährigen von der Notwendigkeit der ärztlichen Maßnahme zu überzeugen. Ansonsten wäre die Ausübung von Zwang nicht erforderlich und insofern unverhältnismäßig. 3. Fall C Im Fall C müsste die Einwilligungsfähigkeit des Minderjährigen angezweifelt werden. Zwar ist der Minderjährige bereits 12 Jahre alt. Dieser lehnte die erforderliche Herztransplantation allerdings ausschließlich wegen zu befürchtender Narben ab. Es wäre daher zu bezweifeln, ob der minderjährige Patient die für die Einwilligungsfähigkeit erforderliche Nutzen-Kosten-Analyse vornehmen kann. Sofern der Arzt den Patienten als einwilligungsunfähig einstuft, dürfte nach § 1631 f Abs. 1 BGB eine Zwangsbehandlung vorgenommen werden, nachdem zuvor ernsthaft, mit dem nötigen Zeitaufwand und ohne Ausübung unzulässigen Drucks versucht wurde, den Minderjährigen von der Notwendigkeit der ärztlichen Maßnahme zu überzeugen. Die Zulässigkeit der medizinischen Zwangsbehandlung ist darauf zurückzuführen, dass eine Gefahr für das Leben des Kindes besteht und sich die Behandlung auch als verhältnismäßig erweisen würde, da das Kind ohne Operation versterben würde. 4. Fall D und E Auch im Fall D und E richtet sich die Rechtmäßigkeit der Zwangsbehandlung nach § 1631 f Abs. 1 BGB, sofern die minderjährigen Patienten als einwilligungsunfähig eingestuft werden. In beiden Fällen wäre eine Zwangsbehandlung grundsätzlich rechtmäßig, da eine Gefahr für das Leben der Minderjährigen besteht. Im Fall D besteht aufgrund der Wahnvorstellungen, die durch die paranoide Schizophrenie hervorgerufen werden, eine Suizidgefahr. Und auch im Fall E könnte der Minderjährige aufgrund der Magersucht und des damit einhergehenden erheblichen Gewichtsverlusts sterben. Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit der Zwangsbehandlung ist jedoch auch hier ein zuvor ergangener Überzeugungsversuch. Für die Beurteilung der Intensität des Überzeugungsversuchs wäre ferner zu berücksichtigen, wie dringend der Handlungsbedarf angezeigt ist. Im Fall E würde vermutlich aufgrund des starken Untergewichts ein dringender Handlungsbedarf

B. Herleitung eines Reformvorschlags

215

bestehen als im Fall D, in dem ein gewisser Schutz vor der Begehung eines Suizids bereits durch die Unterbringung erzielt wird. In Anbetracht der Nebenwirkungen von Psychopharmaka und insbesondere aufgrund der Tatsache, dass eine Zwangsbehandlung in der Kombination mit der Verabreichung von Neuroleptika dazu führen kann, dass die durch Zwang hervorgerufene Traumatisierung aufgrund der durch die Medikamentengabe beeinträchtigten Gefühlswahrnehmung schwerer verarbeitet werden kann,464 muss eine hinreichend intensive Auseinandersetzung mit dem Kind stattfinden, denn der Schlüssel zur Verhinderung von Zwang ist die Investition von Zeit.

464

Rufer, in: Statt Psychiatrie, S. 405 f.

6. Teil

Schlussbetrachtung „So droht die Entwicklung der legislativen Rahmenbedingungen der Zwangsbehandlung nicht nur in den Bundesländern, sondern auch im Zivilrecht in eine Art unendlicher Geschichte, wenn auch im Sinne eines Trauerspiels, zu münden.“1

Jahrzehntelang hat das Selbstbestimmungsrecht im Rahmen von medizinischen Zwangsbehandlungen nicht die gebührende Aufmerksamkeit erfahren. Ermächtigungsgrundlagen für die Durchführung von Zwangsbehandlung suchte man entweder vergebens oder sie waren an Unbestimmtheit kaum zu übertreffen. Äußerst begrüßenswert sind daher die Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 2011 und 2013, in denen die Voraussetzungen, die an eine Behandlung gegen den Willen eines Patienten gestellt werden, erstmals festgelegt worden sind. Sie stellen einen wesentlichen Fortschritt dar, wenngleich dennoch weitere Schritte zum Schutz des Selbstbestimmungsrechts notwendig sind. Obwohl bereits einige Maßregelvollzugsgesetze, anschließend das Betreuungsrecht sowie Psychisch-KrankenGesetze vom Bundesverfassungsgericht sowie vom Bundesgerichtshof die Quittung für die fehlende Beachtung von Grundrechten und verfassungsrechtlich gebotenen Grundsätzen erhielten, steht der Gesetzgeber aufgrund eines bestehenden Reformbedarfs noch immer vor vielen Herausforderungen, denn die medizinische Zwangsbehandlung gleicht noch immer einer Baustelle des Rechts. Auf landesrechtlicher Ebene fand bislang keine hinreichende Umsetzung der Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts statt. Vielmehr ist eine Modifikation der Maßregelvollzugsgesetze, Sicherungsvollzugsgesetze, Psychisch-Kranken-Gesetze und Jugendstrafvollzugsgesetze in fast allen Bundesländern erforderlich. Diesbezüglich widersprechen insbesondere die Normen zur Zwangsbehandlung zum Schutz Dritter sowie zur Abwendung eines Suizidversuchs dem Bestimmtheitsgrundsatz. Obwohl die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts einen erheblichen Fortschritt für die Stärkung der Grundrechte der untergebrachten Patienten bedeutet, sind diese in Bezug auf die Vereinbarkeit mit der UN-Behindertenrechtskonvention zu Recht kritisiert worden. Das Bundesverfassungsgericht hat zwar den richtigen Weg eingeschlagen, indem es für die erheblichen Grundrechtseingriffe, die mit einer Zwangsbehandlung einhergehen, sensibilisiert hat. Das wesentliche Ziel des Wegs wurde jedoch noch nicht erreicht: Zwangsbehandlungen sollten im Sinne eines hinreichenden Grund- und Menschenrechtsschutzes auf ein Minimum reduziert werden, sodass eine Behandlung gegen den Willen eines Menschen zur Erreichung 1

Spickhoff, FamRZ 2017, 1633 (1639).

6. Teil: Schlussbetrachtung

217

der Entlassungsfähigkeit im Maßregelvollzug, aber auch in der öffentlich-rechtlichen Unterbringung nicht zulässig sein sollte. Auf landesrechtlicher Ebene wartet daher noch ein erheblicher Regelungsbedarf. Im Bereich des Kindschaftsrechts wurde noch nicht ansatzweise damit begonnen, ein Recht zu schaffen, welches dem Grundrecht auf Selbstbestimmung gemäß Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG Rechnung trägt. Zwar können die Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts nicht unmittelbar auf das Minderjährigenrecht übertragen werden, da sie sich auf ein staatliches Handeln bezogen. Gleichwohl sprechen verfassungsrechtliche Grundsätze – speziell die Schutzpflichtenlehre – dafür, dem Selbstbestimmungsrecht in Form einer spezifischen Regelung Beachtung zu schenken. Die Ausgestaltung der medizinischen Zwangsbehandlung Minderjähriger mag zwar aufgrund der grundrechtlichen Verknüpfungen der Rechte des Kindes und des Elternrechts auf den ersten Blick ein schwieriges Unterfangen darstellen, dem Gesetzgeber stehen jedoch hilfreiche Werkzeuge – besonders das Grundgesetz, welches durch völkerrechtliche Vorgaben präzisiert werden kann – zur Hand, um eine Regelung zur Ausgestaltung der medizinischen Zwangsbehandlung zu schaffen. Die Ausarbeitung hat gezeigt, dass insbesondere die völkerrechtlichen Vorgaben – so beispielsweise die UN-Kinderrechtskonvention, die UN-Behindertenrechtskonvention und die EMRK – die grundrechtlichen Abwägungen erheblich vereinfachen und dem Gesetzgeber bereits sehr genaue Leitlinien zur Seite stellen. Nach der Ansicht von Rousseau liegt die Freiheit eines Menschen nicht darin, dass er tun könne, was er wolle, sondern, dass er nicht tun müsse, was er nicht wolle. Eingangs wurde die Frage aufgeworfen, wann einem Menschen diese Freiheit in der Medizin genommen werden könne. Die im Rahmen der Untersuchung herausgearbeitete Antwort lautet: Die Beeinträchtigung der Freiheit zur Selbstbestimmung ist im Rahmen von medizinischen Entscheidungen nur in Grenzen möglich. Die Voraussetzungen in Bezug auf Volljährige haben bereits das Bundesverfassungsgericht und der Bundesgerichtshof jedenfalls in Teilen festgelegt.2 Die Ausführungen beweisen, dass auch Kindern und Jugendlichen die Freiheit, nicht tun zu müssen, was sie nicht wollen, nur in Grenzen genommen werden kann: 1. Einsichtsfähige Minderjährige dürfen unter keinen Umständen zwangsbehandelt werden. 2. Ihnen muss zudem die Möglichkeit der Erstellung einer Patientenverfügung offenstehen. 3. Einsichtsunfähige Kinder dürfen gegen ihren Willen nur behandelt werden, sofern die Maßnahme dem Kindeswohl entspricht, eine Gefahr für die Gesundheit oder das Leben eines Kindes besteht, das Kind zuvor angehört wurde und der vorherige Versuch erfolgte, das Kind ernsthaft, mit dem nötigen Zeitaufwand und 2 Allerdings ist diesbezüglich die fehlende Ermächtigungsgrundlage für ambulante Zwangsbehandlungen zu kritisieren.

218

6. Teil: Schlussbetrachtung

ohne Ausübung unzulässigen Drucks von der Notwendigkeit der ärztlichen Maßnahme zu überzeugen. Darüber hinaus muss der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gewahrt werden. Die Maßnahme muss mithin geeignet sein, um einen Schaden für die Gesundheit und das Leben des Kindes abzuwenden, der gesundheitliche Schaden darf nicht durch andere, den Patienten weniger belastende Maßnahme abgewendet werden und der zu erwartende Nutzen der ärztlichen Zwangsmaßnahme muss die zu erwartenden Beeinträchtigungen deutlich übersteigen. 4. Für Zwangsbehandlungen im Rahmen einer Unterbringung wird ferner die Einführung eines gerichtlichen Genehmigungsvorbehaltes befürwortet. Es ist Aufgabe des Gesetzgebers, genau diese Grenzen nicht der Fantasie und den jeweiligen Moralvorstellungen der behandelnden Ärzte zu überlassen, sondern sie hinreichend bestimmt zu regeln. Respekt vor den Grundrechten eines Kindes impliziert, diesen Rechten auch Beachtung zu schenken. Das Aufschieben von Entscheidungen im Hinblick auf die Schaffung einer konkreten Regelung lässt einen solchen Respekt derzeit vermissen. Nach Ansicht Rixens sind Grundrechte die Stoppschilder eines politischen Diskurses.3 Dies entspricht jedoch nur der halben Wahrheit: Sie können eine politische Fragestellung nicht nur bremsen, sondern aufgrund der Schutzpflichtenlehre fordern sie es im Gegenzug auch ein, sich mit der gebotenen Schnelligkeit einem grundrechtlich relevanten Thema zu widmen. Aufgrund der schwerwiegenden Grundrechtsverstöße, die mit einer Zwangsbehandlung einhergehen, muss vom Gesetzgeber ein rasches Handeln erwartet werden. Solange dies nicht erfolgt, scheint das Trauerspiel der medizinischen Zwangsbehandlung noch nicht seinen abschließenden Akt gefunden zu haben.

3

Rixen, ZRP 2019, 93 (93).

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Sachwortverzeichnis Ablehnungsmodell 27 Abwehrrecht 106, 128 Achtung des Privat- und Familienlebens 148 Aktuelle Rechtslage 99 Allgemeine Handlungsfreiheit 120 Allgemeine Persönlichkeitsrecht 116 Altersgrenze 182 Ambulante Zwangsmaßnahmen 30, 207 Analoge Anwendung 46, 65 Analogie 46 Anlasserkrankung 78, 82, 198 Arzneimittelgesetz 39 Aufklärung 24 Aufschiebbare Behandlungen 192 Ausschuss für die Rechte eines Kindes 154 Begriff der Zwangsmaßnahme 21 Behandlungsverbote 199 Behandlungsvertrag 44 Beschneidung 37, 164, 197 Betreuungsrecht 65, 102 Betreuungsrechtliche Vorschriften 65 Bluttransfusion 31 Bräuche 164 Bundesgerichtshof 51, 102 Bundesverfassungsgericht 69, 113, 137 De lege ferenda 134 De lege lata 30 Diskriminierung 153 Diskriminierungsverbot

153

Eigenzuständigkeiten 31 Eingriff 124 Einverständnis 24 Einwilligung 46 Einwilligungsfähigkeit 182 Einwilligungszuständigkeit 34 Elektrokrampftherapie 161 Elektroschocktherapie 161, 178

Eltern-Kind-Beziehung 111 Eltern-Kind-Verhältnis 141, 151 Elternrecht 134 Empirische Untersuchungen 184 Entgegenstehender Wille 25 Erlaubnistatbestandsirrtum 35 Ermächtigungsgrundlage 103 Erziehungsbedürftigkeit 141 Erziehungsrecht 137 EU-Grundrechtecharta 152 EU-Richtlinien 40 Europäische Menschenrechtskonvention 145 Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte 147, 151 Faires Verfahren 147 Fallbeispiele 57, 67, 212 Familiengericht 189 Folter 146, 177 Garantenpflicht 35 Gefahrenbegriff 193 Genehmigung 205 Genehmigungsvorbehalt 205 General Comment 160 Gerichtliches Verfahren 185 Geschlossene Unterbringung 113 Gesetzgeberische Wertungen 37 Gewaltanwendung 161 Gewaltfreie Erziehung 43 Gewaltverbot 44 Gleichheitssatz 131 f. Grenzen einer Zwangsmaßnahme 30, 134 Grundrechte des Kindes 136, 144 Grundrechtliche Ausgangslage 27 Grundrechtmündigkeit 119 Grundrechtsträgerschaft 136 Grundrechtswirkung im Betreuungsrecht 104

244

Sachwortverzeichnis

Haftungsrisiko 35 Handlungsfähigkeit 176 Heimliche Medikamentenverabreichung 24 Impfpflicht 201 Impfung 201 Indikation 191, 198 Individuelle Bestimmung der Einwilligungsfähigkeit 182 Jugendstrafvollzug

97

Kassenpatienten 45 Kinder mit Behinderungen 162 Kindeswohl 31, 136, 154 Kindeswohlgefährdende Handlungen 126 Kindeswohlgefährdung 61 Körperliche Unversehrtheit 120 Körperverletzungsdelikte 32 Krankenversicherung 45 Krankheitsbedingte Einsichtsunfähigkeit 95 Mac Arthur Competence Test 186 Masern 202 Maßregelvollzug 68 Maßregelvollzugsgesetze 84 Medizinisches Selbstbestimmungsrecht 117 Medizinproduktgesetz 39 Medizinrechtliche Spezialgesetze 39 Meinungsäußerung 157, 176 Menschenrechtsverträge 152 Menschenwürde 116 Misshandlung 164 Mitspracherechte 157 Mumps 202 Natürlicher Wille 22 Nebenwirkungen – von Impfungen 203 – von Psychopharmaka 81, 200 Neuroleptika 83 Notstand 192 Nutzen-Kosten-Analyse 184

Objektive Werteordnung 106, 112 Offene Zwangsmaßnahmen 24 Öffentlich-rechtliche Unterbringung Organspende 39

92

Partielle Mündigkeitsregeln 129 Partizipation 195 Patientenverfügung 186 Personensorge 30 Pfleger 27, 30 Pflegschaft 30, 110 Primäre Präventionsmaßnahmen 201 Privatpatient 45 Psychisch-Kranken-Gesetz 95 Psychische Erkrankungen 198 Psychopharmaka 200 Recht auf Gesundheit 162 Recht auf Leben 120, 145, 156 Rechtsgeschäftliche Willenserklärungen 44 Rechtslage de lege ferenda 134 Rechtslage de lege lata 30 Rechtsprechung 51 Reformbedarf 172 Reformvorschlag 179 Regelvermutung 183 Reichsgericht 51 Reife 184 Relativ indizierte Maßnahmen 53 Religionsfreiheit 159 Religionsmündigkeit 49 Schadensersatz 32 Schutzbereich 126, 129 Schutzpflichten 111 Schwangerschaft 198 Selbstbestimmung 148 Selbstbestimmungsfähigkeit 138, 141 Selbstbestimmungsrecht 115 Selbsttötung 90, 98 Sicherungsverwahrung 89 Sozialleistungen 41 Spezialgesetze 39 Sterilisation 37 Strafvollzug 97 Suizid 90 f., 145

Sachwortverzeichnis Teilmündigkeit 49 Testierfähigkeit 188 Therapie mit Elektroschocks Tötungsdelikte 32 Transplantationsgesetz 39

171, 199

Überzeugungsversuch 24 Ultima-ratio-Prinzip 197 UN-Behindertenrechtsausschuss 73 UN-Behindertenrechtskonvention 72, 173 UN-Kinderrechtskonvention 152 Ungleichbehandlung 132 Unmittelbare Grundrechtswirkung 107 Unterbringung 62, 167 – im Maßregelvollzug 68 – in der Sicherungsverwahrung 89 – öffentlich-rechtlich 92 Unterbringungsgesetze 72 Urteilskraft 32 Verdeckte Zwangsbehandlung 25 Verfassungsrechtliche Anforderungen 134 Verhältnismäßigkeit 196 Vermutete Altersgrenzen 183 Vertragsverletzung 32 Vertretung 30 Verweigerung von Heilbehandlungen 31 Veto 53 Veto-Recht 53, 129, 204 Vetofähigkeit 53 Völkerrecht 143 Vorbehalt des Gesetzes 124 Vormund 27, 30, 107 Vormundschaft 30, 110

245

Wachsende Fähigkeiten 42 Wächteramt 127, 134 Wächterstellung 121 Wertesystem 184 Willenserklärungen 44 Zirkumzision 161, 165, 197 Zivilrechtliche Unterbringung 63 Zulässigkeit einer Zwangsbehandlung 30, 134 Zustimmungsmodell 26 Zwangsbehandlung – aufgrund einer Lebensgefahr 87 – im Maßregelvollzug 68 – im Strafvollzug 97 – in der öffentlich-rechtlichen Unterbringung 92 – in der Sicherungsverwahrung 89 – von einwilligungsfähigen Kindern 34, 179 – von einwilligungsunfähigen Kindern 36, 190 – von psychischen Erkrankungen 198 – zum Schutz Dritter 84 Zwangsmaßnahmen – an einwilligungsfähigen Kindern 179 – an einwilligungsunfähigen Kindern 190 – aufgrund einer Lebensgefahr 87 – bei psychischen Erkrankungen 198 – im Maßregelvollzug 68 – im Rahmen einer Unterbringung 62, 205 – im Strafvollzug 97 – in der öffentlich-rechtlichen Unterbringung 92 – in der Sicherungsverwahrung 89 – zum Schutz Dritter 84